Die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des öffentlichen Rechts bei Beteiligung eines ausländischen Staates im Rechtsvergleich [1 ed.] 9783428554492, 9783428154494

Sabine Papenbrock untersucht anlässlich der Verfassungsbeschwerde des schwedischen Unternehmens Vattenfall gegen den Ato

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German Pages 328 [329] Year 2019

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Die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des öffentlichen Rechts bei Beteiligung eines ausländischen Staates im Rechtsvergleich [1 ed.]
 9783428554492, 9783428154494

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1399

Die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des öffentlichen Rechts bei Beteiligung eines ausländischen Staates im Rechtsvergleich Von

Sabine Papenbrock

Duncker & Humblot · Berlin

SABINE PAPENBROCK

Die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des öffentlichen Rechts bei Beteiligung eines ausländischen Staates im Rechtsvergleich

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1399

Die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des öffentlichen Rechts bei Beteiligung eines ausländischen Staates im Rechtsvergleich

Von

Sabine Papenbrock

Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristische Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster hat diese Arbeit im Jahr 2017 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

D6 Alle Rechte vorbehalten

© 2019 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-15449-4 (Print) ISBN 978-3-428-55449-2 (E-Book) ISBN 978-3-428-85449-3 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2017 von der Juristischen Fakultät der Universität Münster als Dissertation angenommen. Mein Dank gilt zunächst meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Fabian Wittreck, der mich während der Erstellung der Arbeit stets unterstützt hat. Herrn Prof. Dr. Marcel Krumm danke ich für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Mein weiterer Dank gilt Herrn Dr. Ulrich Karpenstein für die Inspiration zu dieser Arbeit. Ein ganz besonderer Dank gilt meinen Eltern für ihre Unterstützung in allen Lebenslagen. Schließlich möchte ich meinem Mann für seine stetige Unterstützung, vor allem aber auch für seine Ruhe und Beständigkeit, danken. Düsseldorf, im Oktober 2018

Sabine Papenbrock

Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1. Kapitel

Art. 19 Abs. 3 GG und die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des öffentlichen Rechts und gemischt-wirtschaftlicher Unternehmen 

15

A. Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 B. Inländische juristische Personen des Privatrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der Begriff der juristischen Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Juristische Personen des Privatrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zum Merkmal „inländisch“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18 18 20 21

C. Die wesensmäßige Anwendbarkeit der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 I. Ausgangspunkt (personales Substrat versus grundrechtstypische Gefährdungslage) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 1. Der Ansatz vom personalen Substrat („Durchgriffsthese“) . . . . . . . . . 26 2. Der Ansatz vom Erfordernis einer grundrechtstypischen Gefährdungslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 II. Inhaltsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 III. Grundrechtsgleiche Rechte  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 D. Inländische juristische Personen des öffentlichen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . I. Grundsatz der Nichtgeltung der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Ausnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die klassische Ausnahmetrias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Weitere Ausnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Inhaltsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Vom Staat geschaffene juristische Personen des Privatrechts, privatrechtsförmige Handlungs- und Organisationsformen des Staates . . . . . . . 1. Eigengesellschaften und gemischt-öffentliche Unternehmen . . . . . . . . 2. Gemischt-wirtschaftliche Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Partiell staatliche Organisationen in privatrechtlicher Organisationsform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Juristische Personen des Privatrechts mit Sitz im Ausland . . . . . . . . . . . . . . . I. Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Sonderfall: Juristische Personen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Anwendbarkeit einzelner Grundrechte  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39 39 44 45 47 50 51 52 54 60 61 61 65 66

8 Inhalt 2. Kapitel

Juristische Personen mit Beteiligung eines ausländischen Staates 

69

A. Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 B. Aktueller Forschungsstand  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 I. Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 II. Weitere Stimmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 C. Eigene Prüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 I. Rein staatliche Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 1. Wortlaut und Genese des Art. 19 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 2. Wesen und Schutzrichtung der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 a) Nach dem Ansatz vom personalen Substrat  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 b) Nach dem Ansatz von der grundrechtstypischen Gefährdungslage . 82 c) Fazit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 3. Übertragbarkeit der Argumente gegen eine Grundrechtsberechtigung inländischer juristischer Personen des öffentlichen Rechts . . . . . . . . . 88 a) Wesensargument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 b) Konfusionsargument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 c) Lösung der Grundrechtsverpflichtung durch die Wahl der Rechtsform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 d) Fazit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 II. Gemischt-wirtschaftliche Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 1. Wesen und Schutzrichtung der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 a) Personales Substrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 b) Grundrechtstypische Gefährdungslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 2. Übertragbarkeit der Kriterien für ausschließlich inländische gemischtwirtschaftliche Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 a) Kriterium der Beherrschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 b) Wahrnehmung staatlicher / öffentlicher Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . 103 c) Geringeres Schutzniveau aufgrund staatlicher Beteiligung . . . . . . . 107 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 III. Gemischt-staatliche Unternehmen mit deutscher und ausländischer Beteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 D. Ergebnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Weitere Lösungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Völkerrechtliche Verträge, Staatsabkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verbot der Beteiligung ausländischer Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

109 109 110 110 111

Inhalt9 3. Kapitel

Auf europarechtlicher Ebene 

112

A. Die Grundrechte der Grundrechtecharta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Schutzzweck und Zielsetzung der Grundrechte der Charta . . . . . . . . . . . . II. Grundrechtsverpflichtung und Grundrechtsberechtigung . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundrechtsverpflichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Europäische Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Sonstige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grundrechtsberechtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Natürliche Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Juristische Personen des Privatrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Juristische Personen des öffentlichen Rechts  . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Von den Mitgliedstaaten geschaffene juristische Personen des Privatrechts, privatrechtsförmige Handlungs- und Organisationsformen des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Grundrechtsberechtigung für juristische Personen des öffentlichen Rechts, die nicht der EU oder den Mitgliedstaaten angehören . . . . . . . . . 1. Aktuelle Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs . . . . . . . . . . 2. Nach dem Schutzzweck der Charta-Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Übertragbarkeit der Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bewertung und Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

112 113 117 117 117 119 123 124 124 127 129 135

B. Die Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Schutzzweck / Zielsetzung der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Berechtigte und Verpflichtete der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verpflichtete der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Durch die Grundfreiheiten Berechtigte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Natürliche Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Juristische Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Vorliegen einer Gesellschaft im Sinne des Art. 54 AEUV  . . . bb) Zugehörigkeit der juristischen Person zur Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Drittstaatler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Räumlicher Geltungsbereich der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . III. Juristische Personen des öffentlichen Rechts aus Drittstaaten . . . . . . . . . 1. Personenverkehrsfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Produktverkehrsfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vereinbarkeit mit Schutzzweck und weitere Einschränkungen? . . . . . IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

155 156 161 162 164 164 165 167

140 144 144 151 153 155

176 179 182 182 182 183 185 186

C. Die Europäische Menschenrechtskonvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186

10 Inhalt I. Zielsetzung und Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 II. Berechtigte und Verpflichtete der Europäischen Menschenrechtskonvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 1. Verpflichtete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 2. Berechtigte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 a) Personen im Sinne des Art. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 b) Unterworfenheit unter die Hoheitsgewalt einer Vertragspartei . . . . 198 III. Juristische Personen des öffentlichen Rechts aus Drittstaaten . . . . . . . . . 199 1. Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte . 200 2. Bewertung der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 4. Kapitel

Vereinigtes Königreich 

204

A. Einführung in das Verfassungsrecht des Vereinigten Königreichs . . . . . . . . . . I. Grundsätze und Prinzipien des britischen Verfassungsrechts . . . . . . . . . . 1. Keine geschriebene Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Souveränität des Parlamentes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Rule of Law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Abgrenzung zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht . . . . . . . . . II. Rechtsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

204 204 205 207 209 210 212

B. Das nationale Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Grundrechtsverständnis und Grundrechtsfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Grundrechtsverpflichtete  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Legislative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Exekutive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Judikative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Private . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Grundrechtsberechtigte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Natürliche Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Juristische Personen des Privatrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Juristische Personen des öffentlichen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Gemischt-wirtschaftliche Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Juristische Personen eines Drittstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

215 215 219 220 221 223 224 226 226 228 230 235 236 236

C. Das internationale Recht – Die Europäische Menschenrechtskonvention . . . . I. Konventionszweck und Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Konventionsrechtsverpflichtete („Those subject to Convention rights“) . 1. Legislative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Exekutive und Judikative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Private . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

237 241 241 241 242 257

Inhalt11 III. Konventionsrechtsberechtigte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Natürliche Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Juristische Personen des Privatrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Juristische Personen des öffentlichen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Juristische Personen eines Drittstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

260 261 261 262 271 273

D. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 5. Kapitel

Zusammenfassung und Auswertung 

275

A. Grundrechtsberechtigungen – Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 B. Vergleich  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Grundrechtsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verpflichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Berechtigungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Drittwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Weitere Besonderheiten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rundfunkanstalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kirchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

278 279 281 282 284 285 285 285

C. Übertragbarkeit der einzelnen Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Übertragbarkeit der Ergebnisse zu der Grundrechtecharta  . . . . . . . . . . . . II. Übertragbarkeit der Ergebnisse zu den Grundfreiheiten  . . . . . . . . . . . . . III. Übertragbarkeit der Ergebnisse zur Europäischen Menschenrechtskonvention  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Übertragbarkeit der britischen Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

286 286 289 296 300

Ergebnisse der Arbeit in Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327

Einleitung Im Zuge der Energiewende erhob das zu 100 Prozent vom schwedischen Staat gehaltene Unternehmen Vattenfall im Jahr 2012 vor dem Bundesverfassungsgericht eine Verfassungsbeschwerde gegen die 13. Atomgesetz-Novelle, durch die der 2002 festgelegte Atomausstieg als Reaktion auf die Reaktorkatastrophe von Fukushima zum Nachteil der Atomkraftwerksbetreiber modifiziert wurde. Durch dieses – besonders öffentlichkeitswirksame – Verfahren wird die im deutschen Verfassungsrecht traditionell diskutierte Frage nach der Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des öffentlichen Rechts und staatlicher Unternehmen wieder laut. Zudem wird die Diskussion erweitert um die Frage, wie es sich auswirkt, wenn es sich bei dem Staat, zu dem die juristische Person des öffentlichen Rechts gehört, um einen ausländischen handelt. Diese Auswirkungen sollen im Folgenden für das deutsche Recht, das Europarecht und das britische Recht dargestellt und untersucht werden. Bislang hat dieser Forschungsgegenstand allgemein wenig Beachtung gefunden. So hat das Bundesverfassungsgericht diese Fragestellung in seinen bisherigen Verfahren stets offen gelassen und auch die Literatur hat sich bisher zu dieser Fragestellung eher zurückgehalten und sie entweder vollständig ebenfalls offengelassen oder lediglich pauschale Behauptungen aufgestellt, ohne diese näher zu begründen1. Inzwischen hat sich das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Atomausstieg vom 6. Dezember 2016 jedoch positioniert und aufgrund der Besonderheiten dieses Einzelfalles eine Grundrechtsberechtigung für Vattenfall angenommen2. Diese Arbeit widmet sich unter Berücksichtigung der neuesten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der Frage nach den Grundrechtsberechtigungen ausländischer juristischer Personen des öffentlichen Rechts in einem Rechtsvergleich. Besondere Beachtung ist bei der vorzunehmenden Untersuchung zum einen dem Konfusionsargument zuzuwenden, das ein Zusammenfallen von Grundrechtsberechtigten und -verpflichteten verbietet. Zum anderen ist besonderes Augenmerk auf das Wesen der Grundrechte zu legen. Dabei ist insbesondere zwischen einem anthropozentrischen und einem funktionalen Grundrechtsverständnis zu unterscheiden. 1  Vgl.

dazu Kap. 2 B. II. Urt. v. 6.12.2016  – 1 BvR 2821 / 11, 2 BvR 321 / 12, 2 BvR 1456 / 12,

2  BVerfG,

juris.

14 Einleitung

Für die Frage nach der Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des öffentlichen Rechts eines anderen Staates ist auf der Ebene des Europarechts zunächst nach den Rechtsquellen zu unterscheiden, aus denen die juristische Person Rechtsschutz begehrt. In Betracht kommen dabei die Grundrechte der Grundrechtecharta, die Grundfreiheiten und die Grundrechte der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Sowohl das Europäische Gericht erster Instanz als auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte haben sich in den letzten Jahren mit Grundrechtsberechtigungen beziehungsweise Konventionsrechtsberechtigungen ausländischer juristischer Personen des öffentlichen Rechts befasst und diese jeweils unter Ablehnung der Übertragbarkeit des Konfusionsarguments angenommen. Diese Entscheidungen stießen allerdings in der Literatur auf wenige Beachtung. Den Grundfreiheiten kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle zu, da aufgrund ihrer Schutzrichtung ein Berufen auf sie zwar juristischen Personen des öffentlichen Rechts möglich ist, jedoch die Zugehörigkeit zur Europäischen Union voraussetzt. Im britischen Recht waren die Grundrechtsberechtigungen ausländischer juristischer Personen des öffentlichen Rechts – soweit erkennbar – noch nicht Gegenstand von Gerichtsentscheidungen oder wissenschaftlichen Abhandlungen. Hier ist zwischen dem nationalen britischen Recht und dem durch den Human Rights Act inkoorporierten Konventionsrecht der EMRK zu unterscheiden. Beide Rechtskreise bieten interessante Ansätze für den Umgang mit der hier untersuchten Fragestellung. Die Fragestellung nach der Grundrechtrechtsberechtigung juristischer Personen des öffentlichen Rechts eines ausländischen Staates soll dementsprechend zunächst für das deutsche Recht durch eine Auslegung des Art. 19 Abs. 3 GG sowie durch eine Auswertung der bisherigen und der neuesten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu dieser Norm erfolgen. Sodann erfolgt eine Untersuchung auf europarechtlicher Ebene. Hierzu sind zunächst die Grundrechte, die Grundfreiheiten sowie die Rechte der EMRK zu untersuchen. In einem vierten Kapitel werden das nationale Recht Großbritanniens sowie das durch den Human Rights Act inkorporierte Konven­ tionsrecht untersucht. Sodann erfolgt im fünften Kapitel eine Zusammenfassung und Auswertung der gefundenen Ergebnisse. Diese werden im Rahmen dieser Arbeit einander gegenübergestellt. Zudem wird die Übertragbarkeit der einzelnen Ansätze im Wege einer rechtsvergleichenden Auslegung untersucht.

1. Kapitel

Art. 19 Abs. 3 GG und die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des öffentlichen Rechts und gemischt-wirtschaftlicher Unternehmen A. Grundsätzliches Ausgangspunkt für den Umgang mit der in dieser Arbeit zu untersuchenden Fragestellung nach der Grundrechtsberechtigung juristischer Personen mit Beteiligung anderer Staaten ist Art. 19 Abs. 3 GG. Dieser lautet: „Die Grundrechte gelten auch für inländische juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind.“ Art. 19 Abs. 3 GG normiert damit die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen. Unter dem Begriff der Grundrechtsberechtigung ist die Möglichkeit von juristischen und natürlichen Personen, sich auf die Grundrechte zu berufen, zu verstehen. Er wird in der überwiegenden Literatur, aber auch in dieser Arbeit synonym mit den Begriffen der Grundrechtsträgerschaft, der Grundrechtsfähigkeit und der Grundrechtssubjektivität verwendet1. Auch wenn dieser Wortlaut auf den ersten Blick recht klar und unmissverständlich scheint2, ist seine Auslegung in vielen Punkten hoch umstritten: Nach ganz herrschender Meinung verleiht Art. 19 Abs. 3 GG damit juristischen Personen des Privatrechts die Berechtigung, sich auf die Grundrechte zu berufen3. Eine juristische Person ist nach allgemeiner Ansicht dann „privat“, wenn sich die Willensbildung innerhalb, ihr Handeln und ihr Entscheiden inhaltlich ausschließlich auf freiheitsausübende natürliche Personen zurückführen lassen4. Für die Zuordnung einer juristischen Person zum Privatrecht wird aber auch auf die Art der wahrgenommenen Aufgaben abgestellt. So hat das Bundesverfassungsgericht in einigen Entscheidungen die Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen des Privatrechts abgelehnt mit der Be-

1  Ebenso H. Bethge, Grundrechtsberechtigung, S. 25; H. D. Jarass, Art. 19 Abs. 3 Rn. 10; B. Pieroth, Grundrechte, Rn. 118. 2  So etwa auch H. Gersdorf, Öffentliche Unternehmen, S. 63. 3  Statt aller H. D. Jarass, Art.  19 Rn.  17 m. w. N. 4  B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 42.

16

1. Kap.: Art. 19 Abs. 3 GG

gründung, ihre Funktion bestünde in der Wahrnehmung gesetzlich zugewiesener und geregelter öffentlicher Aufgaben5. Bezüglich der wesensmäßigen Anwendbarkeit der Grundrechte auf juristische Personen werden im Wesentlichen zwei Ansätze vertreten. Nach der Lehre vom personalen Substrat rechtfertigt sich „eine Einbeziehung juristischer Personen in den Schutzbereich der Grundrechte nur, wenn ihre Bildung und Betätigung Ausdruck der freien Entfaltung der natürlichen Personen sind, besonders wenn der ‚Durchgriff‘ auf die hinter der juristischen Person stehenden Menschen dies als erforderlich und sinnvoll erscheinen lässt.“6 Diese Ansicht stößt auch in der Literatur auf Zustimmung7. Der andere, ebenfalls verbreitet vertretene Ansatz vom Erfordernis einer grundrechtstypischen Gefährdungslage hingegen sieht die juristische Person durch Art. 19 Abs. 3 GG um ihrer selbst willen geschützt8. Eine Grundrechtsberechtigung für juristische Personen wird nach dieser Ansicht immer dann angenommen, wenn die juristische Person dem Staat wie ein Privater gegenübersteht und sich ähnlich einer Privatperson einem Eingriff in den Schutzbereich eines auf sie anwendbaren Grundrechts gegenübersieht. Dieser Ansatz wird damit begründet, dass die juristische Person als solche zu schützen sei und Art. 19 Abs. 3 GG den Schutz der juristischen Person nicht lediglich als Reflex des Schutzes der hinter ihr stehenden natürlichen Personen normiere9. Unabhängig davon wird für die wesensmäßige Anwendbarkeit der Grundrechte auf eine juristische Person nach den einzelnen Grundrechten differenziert10. Abgelehnt wird die Grundrechtsberechtigung dabei insbesondere für solche Grundrechte, die einen personenrechtlichen Einschlag besitzen (etwa das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG). Problematisch ist dabei außerdem vor allem das Verhältnis von Art. 19 Abs. 3 GG zu Art. 9 Abs. 1 und Abs. 2 GG11. Darüber hinaus gibt es zwei Problemkreise bei der Auslegung des Art. 19 Abs. 3 GG. Fraglich ist zum einen, inwieweit Art. 19 Abs. 3 GG auf ausländische juristische Personen anwendbar ist12. Zur Bestimmung des Kriteriums 5  BVerfG

(K), NJW 1987, 2501 (2502); BVerfG (K), NJW 1996, 584 (584). 21, 362 (369). 7  Etwa P. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 211; B.  Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 35. 8  So etwa W. Rüfner, HStR IX, § 196 Rn. 62; J. Isensee, HStR IX, § 199 Rn. 4; zustimmend H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 33 f. 9  So etwa H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 34. 10  Etwa H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 35 f.; B.  Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 101. 11  B. Remmert, Art.  19 Abs.  3 (2009) Rn.  106 ff. m. w. N. 12  Zum Streitstand vgl. H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 79 ff. 6  BVerfGE



A. Grundsätzliches17

„ausländisch“ wird überwiegend darauf abgestellt, an welchem Ort die juristische Person ihren Sitz hat13. Teilweise wird erwogen, dieses Kriterium um eine Einschränkung des Personenkreises, der die juristische Person zur Grundrechtsbetätigung nutzt, zu ergänzen14. Hier wird insbesondere diskutiert, wie mit juristischen Personen umzugehen ist, deren Mitglieder sowohl Deutsche als auch Ausländer sind15. Unproblematisch hingegen ist die Grundrechtsberechtigung für ausländische juristische Personen mit Sitz im EU-Ausland, da diese nach ganz überwiegender Ansicht auch in der Bundesrepublik Deutschland grundrechtsberechtigt sind16. Außerdem ist umstritten, ob und inwieweit Art. 19 Abs. 3 GG auch auf juristische Personen des öffentlichen Rechts anwendbar ist. Grundsätzlich wird eine Grundrechtsberechtigung für juristische Personen des öffentlichen Rechts – vorwiegend mit dem sogenannten Konfusionsargument17 ‒ abgelehnt18. Danach seien juristische Personen des öffentlichen Rechts als Adressaten der Grundrechte durch diese verpflichtet und könnten so grundsätzlich nicht zugleich durch die Grundrechte berechtigt sein. Allerdings sind in Literatur und Rechtsprechung einige Ausnahmen anerkannt. So ist etwa die Grundrechtsberechtigung von Universitäten, Rundfunkanstalten und Kirchen allgemein anerkannt, da diese einem grundrechtlich geschützten Lebensbereich unmittelbar zuzuordnen sind19. In diesem Kapitel soll eine überblicksartige Darstellung der oben dargestellten Problemkreise erfolgen. Da es in dieser Arbeit lediglich um einen Ausschnitt dieses Problems gehen wird, soll an dieser Stelle eine solche ausreichend sein. Im zweiten Kapitel wird dann erläutert werden, inwieweit sich die Lösungsansätze auf ausländische juristische Personen des öffent­ lichen Rechts, insbesondere ausländische öffentliche Unternehmen und ausländische Mischunternehmen übertragen lässt. Im Übrigen wird zu erläutern sein, inwieweit die hier dargelegten Ansätze mit den im zweiten Kapitel angestellten Überlegungen in Einklang zu bringen sind.

13  Ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, etwa BVerfGE 21, 207 (208 f.); BVerfG (K), NJW 2002, 1485 (1485). 14  B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 83 m. w. N. 15  Vgl. dazu B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 85 ff. 16  BVerfGE 129, 78 (97); H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 83 ff.; zu den Einzelheiten unten unter E. II. 17  So K. A. Bettermann, NJW 1969, 1321 (1323). 18  Ständige Rechtsprechung, vgl. etwa BVerfGE 21, 362 (372  f.); BVerfG (K) NVwZ-RR 2009, 361 (361). 19  Zu den Ausnahmen s. u.; vgl. BVerfGE 21, 362 (373 f.); 31, 314 (322).

18

1. Kap.: Art. 19 Abs. 3 GG

B. Inländische juristische Personen des Privatrechts Nach seinem Wortlaut erstreckt Art. 19 Abs. 3 GG den Grundrechtsschutz auf inländische juristische Personen, soweit die Grundrechte ihrem Wesen nach auf sie anwendbar sind. Aufgrund des weiten Wortlauts des Art. 19 Abs. 3 GG ist zunächst schon problematisch, welche juristischen Personen von dieser Erstreckung des Grundrechtsschutzes erfasst sind. Zum anderen stellt sich die Frage, was unter der wesensmäßigen Anwendbarkeit der Grundrechte zu verstehen ist und für welche Grundrechte sie anzunehmen ist. Diese Wesensklausel wird allgemein als Schlüssel zur Bestimmung des Adressatenkreises des Art. 19 Abs. 3 GG verstanden20.

I. Der Begriff der juristischen Person Art. 19 Abs. 3 GG erstreckt den Grundrechtsschutz natürlicher Personen auch auf juristische Personen. Unter einer juristischen Person ist im allgemeinen juristischen Sprachgebrauch eine Organisationseinheit zu verstehen, deren Handeln und Entscheiden rechtlich keiner anderen, übergeordneten Stelle mehr zugerechnet werden kann21 und die somit selbst Zuordnungsobjekt von Rechten und Pflichten ist22. Nicht erforderlich ist nach herrschender Meinung die Vollrechtsfähigkeit23. Anderenfalls würde die Entscheidung über die Grundrechtsfähigkeit einer juristischen Person in die Hand des Gesetzgebers gelegt, da allein dieser festlegt, unter welchen Voraussetzungen die Vollrechtsfähigkeit eintritt24. Auch lediglich teilrechtsfähige Organisationen des Privatrechts gehören somit zu den juristischen Personen im Sinne des Art. 19 Abs. 3 GG. Außerdem sind auch privatrechtliche Organisationen in Gründung25 und in Liquidation26 juristische Personen im Sinne des Art. 19 Abs. 3 GG, sobald und solange sie Träger von Rechten und Pflichten sind. Für die Annahme des Bestehens einer juristischen Person ist nach überwiegender Auffassung nicht aller K. Stern, Staatsrecht III / 1, S. 1110. Krebs, HStR V, § 108 Rn. 30. 22  H. Bethge, Grundrechtsberechtigung, S. 31; H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 44; B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 37. 23  Vgl. zum Stand der Diskussion B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 37 ff. 24  H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 47. 25  BVerfGE 102, 370 (383); K. Stern, Staatsrecht III / 1, S. 1130; H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 48; M. Sachs, Art. 19 Rn. 64; P. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 244; B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 39. 26  BVerfGE 98, 106 (116); M. Sachs, Art. 19 Rn. 64; B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2007) Rn.  39 m. w. N. 20  Statt 21  W.



B. Inländische juristische Personen des Privatrechts19

erforderlich, dass die juristische Person auf Grundlage des deutschen Rechts organisiert oder gegründet ist27. Auch im Öffentlichen Recht gibt es juristische Personen, konkret Körperschaften, Stiftungen und Anstalten des öffentlichen Rechts. Diese sind ebenfalls als rechtsfähige Organisationseinheiten unter den Begriff der „juristischen Person“ zu subsumieren, so dass die Anwendung der Grundrechte auf sie jedenfalls nicht bereits an diesem Punkt scheitert28. Von vornherein nicht von Art. 19 Abs. 3 GG erfasst sind hingegen sogenannte schlichte Personenmehrheiten, die schon nach einfachem Recht nicht rechtsfähig sind29. Dies betrifft etwa lose Zusammenschlüsse wie ad-hocVersammlungen, private Streichquartette oder Essensrunden30. Dies wird damit begründet, dass sie mangels Rechtsfähigkeit auch nicht das erforderliche Maß an organisatorischer Verfestigung mit sich bringen, das jedoch Voraussetzung für die Zurechenbarkeit von Grundrechtspositionen ist31. Ein solches Abgrenzungskriterium ist auch erforderlich, um eine unbegrenzte Ausdehnung der Grundrechtsberechtigung auf jegliche Personenansammlungen und -gruppen zu vermeiden. Auf dieser Linie liegt die Argumentation, dass ansonsten der Begriff der juristischen Person aufgegeben werde32. In diesem Zusammenhang wird außerdem kritisiert, die Rechtsprechung habe den Kreis der Grundrechtsträger durch eine sehr weite Auslegung des Begriffs der „juristischen Person“ weit über den Wortlaut ausgedehnt und so dieses Merkmal zu einer Erweiterung des Adressatenkreises verwendet33. Im Ergebnis kann eine Gruppe, die in keinerlei Hinsicht rechtsfähig ist, schon nicht Adressat eines staatlichen Aktes sein, der zu einer Freiheitsverkürzung führt34, so dass auch aus diesem Grund eine Einschränkung vorzunehmen ist. Umstritten ist etwa, ob ein Aktionsbündnis grundrechtsberechtigt sein kann.

27  D.

Krausnick, JuS 2008, 869 (871). Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 40. 29  H. Bethge, Grundrechtsberechtigung, S. 31 f.; H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 55; P. J. Tettinger, HGR II, § 51 Rn. 34; K. Stern, Staatsrecht III / 1, S. 1134; F. Schoch, Jura 2001, 201 (202 f.); D. Krausnick, JuS 2008, 869 (870); B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009), Rn. 41; anderer Ansicht M. Feiler, Bonner Grundgesetz, S. 166 ff. 30  Beispiele nach B. Pieroth, Grundrechte, Rn. 162. 31  H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 55; P. J. Tettinger, HGR II, § 51 Rn. 34; B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 41. 32  K. Stern, Staatsrecht III / 1, S. 1134; W. Krebs, Art. 19 Rn. 33. 33  H. Bethge, Grundrechtsberechtigung, S. 32; H. Bethge, AöR 104 (1979), 54 (76 f.); M. Sachs, Art. 19 Rn. 58, 62 ff. 34  P. J. Tettinger, HGR II, § 51 Rn. 34; B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 41. 28  B. Remmert,

20

1. Kap.: Art. 19 Abs. 3 GG

II. Juristische Personen des Privatrechts Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der ganz herrschenden Ansicht in der Lehre bezieht sich die Erstreckung des Grundrechtsschutzes durch Art. 19 Abs. 3 GG jedenfalls und unumstritten auf juristische Personen des Privatrechts35. Eine juristische Person ist dann „privat“, wenn sich die Willensbildung innerhalb, ihr Handeln und ihr Entscheiden inhaltlich ausschließlich auf freiheitsausübende natürliche Personen zurückführen lässt36. Dies wiederum ist dann anzunehmen, wenn die Mitglieder einer mitgliedschaftlich strukturierten Organisation ausschließlich natürliche Personen oder andere private Organisationen sind oder wenn sich alle Anteile der juristischen Person ausschließlich in privater Hand befinden.37 Regelmäßig werden juristische Personen ohnehin durch Private gegründet38, denen nur die Rechtsformen des Privatrechts zur Verfügung stehen39. Diese Privatrechtsform der Organisation der juristischen Person entfaltet eine Indizwirkung für ihren privaten Charakter und damit für ihre Grundrechts­ fähigkeit40. Nicht privat, sondern öffentlich ist nach allgemeiner Ansicht eine juristische Person, die ausschließlich staatliche Zuständigkeiten wahrnimmt41. Problematisch ist jedoch, ob für juristische Personen des Privatrechts, die unter anderem auch öffentliche Aufgaben erfüllen, die Grundrechtsberechtigung abzulehnen ist. Das Bundesverfassungsgericht hat in einigen Entscheidungen entgegen seiner These von der grundsätzlichen Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen des Privatrechts deren Verfassungsbeschwerden als unzulässig zurückgewiesen, weil ihre Funktion in der Wahrnehmung gesetzlich zugewiesener und geregelter öffentlicher Aufgaben bestanden habe und sie von daher keinen Grundrechtsschutz in Anspruch nehmen könnten42. Daraus wird teilweise gefolgert, die Grundrechtsfähigkeit einer juristischen Person hänge von der Art der von ihr wahrgenommenen Aufgaben ab43.

aller M. Sachs, Art.  19 Rn.  48 m. w. N. Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 43. 37  B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 43. 38  B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 43. 39  W. Krebs, Art. 19 Rn. 46. 40  B. Remmert Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 43. 41  BVerfGE 21, 362 (370 f.); 68, 193 (206); J. Burmeister, Grundrechtsverständnis, S. 67; H. Bethge, Grundrechtsberechtigung, S. 64; P. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 250; B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 45. 42  BVerfG (K), NJW 1987, 2501 (2502); BVerfG (K), NJW 1996, 584 (584). 43  F. Schoch, Jura 2001, 201 (206); M. Sachs, Art. 19 Rn. 110 ff.; H. D. Jarass, Art. 19 Rn. 18. 35  Statt

36  B. Remmert,



B. Inländische juristische Personen des Privatrechts21

Nach anderer Ansicht steht es der Grundrechtsfähigkeit einer juristischen Person in Privatrechtsform nicht entgegen, wenn sie (auch) öffentliche Aufgaben wahrnimmt44. Diese Ansicht zweifelt bereits daran, ob die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts tatsächlich so zu verstehen sind, dass ein genereller Ausschluss der Grundrechtsberechtigung bei Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben anzunehmen ist45. Bei einer Differenzierung nach der Art der wahrgenommenen Aufgaben würde übersehen, dass öffentliche Aufgaben im öffentlichen Interesse sowohl von staatlichen als auch von privaten Rechtssubjekten durchgeführt werden könnten. Dies könne aber den Grundrechtsschutz privater juristischer Personen nicht in Abrede stellen46.

III. Zum Merkmal „inländisch“ Art. 19 Abs. 3 GG erstreckt den Schutz der Grundrechte seinem Wortlaut nach ausdrücklich nur auf inländische juristische Personen. Ausländische ­juristische Personen sind daher grundsätzlich nicht Grundrechtsträger nach dem deutschen Grundgesetz47. Aufgrund der Relevanz der Zuordnung als „inländisch“ sind Kriterien erforderlich, um zwischen inländischen und ausländischen juristischen Personen abgrenzen zu können. Da die Verfassung selbst durch die Regelung des Art. 19 Abs. 3 GG für diese Abgrenzung wenig hergebe, wird vertreten, dies lege den Schluss nahe, dass der einfache Gesetzgeber die Staatszugehörigkeit von juristischen Personen zu regeln habe. Dies ergebe sind aus einer Parallele zu Art. 116 Abs. 1 GG, der für die Bestimmung der Deutscheneigenschaft an die einfachgesetzlich geregelte Staatsbürgerschaft knüpfe. Da Art. 19 Abs. 3 GG selbst aber gerade keine dem Art. 116 Abs. 1 GG vergleichbare Regelung enthält, ist eine solche Parallele im Ergebnis abzulehnen48. Der Begriff der inländischen juristischen Person ist somit eigenständig aus Art. 19 Abs. 3 GG zu entwickeln49.

44  B. Remmert,

Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 44. Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 44. 46  D. Merten, Mischunternehmen, S. 2017; B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 44. 47  Ständige Rechtsprechung des BVerfG, vgl. nur BVerfGE 21, 207 (208 f.); 23, 229 (236); BVerfG (K) NVwZ 2008, 670 (670). 48  B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 77. 49  W. W. Schmidt, Grundrechte, S. 147 ff.; K. M. Meessen, JZ 1970, 602 (604 f.); K. Stern, Staatsrecht, III / 1, S. 1140; P. J. Tettinger, HGR II, § 51 Rn. 40; J. Ziekow, Freizügigkeit, S. 528; A. Guckelberger, AöR 129 (2004), 618 (625); B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 77. 45  B. Remmert,

22

1. Kap.: Art. 19 Abs. 3 GG

Dies vor die Klammer gezogen, verwenden Rechtsprechung und Literatur zur Abgrenzung zwischen inländischen und ausländischen Personen ganz überwiegend das Kriterium ihres Sitzes50. Im Konkreten sei auf den effektiven Sitz einer juristischen Person abzustellen51. Maßgeblich ist somit nicht der satzungsmäßige Sitz, sondern der tatsächliche Sitz der Hauptverwaltung der juristischen Person52. Nach dieser Definition ist eine juristische Person dann inländisch, wenn sie den tatsächlichen Mittelpunkt ihrer Tätigkeit im Inland hat53. Der tatsächliche Sitz wiederum wird angenommen für den Ort, an dem die Mehrheit der Entscheidungen über die Geschäftsführung gefällt wird54. Als Inland gilt dabei das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland und mithin der Geltungsbereich des Grundgesetzes55. Als Konsequenz ergibt sich aus dieser „Sitzlehre“, dass einer nach ihrem Sitz inländischen juristischen Person die Grundrechtsberechtigung unabhängig von der Staatsangehörigkeit ihrer Mitglieder zusteht56. So wird auch eine juristische Person mit Sitz im Ausland nicht dadurch grundrechtsberechtigt, dass ihre Mitglieder überwiegend Deutsche sind57. Grundsätzlich unerheblich für die Qualifizierung einer juristischen Person als inländisch ist damit die Staatsangehörigkeit derjenigen natürlichen Personen, die beherrschenden Einfluss auf die juristische Person ausüben beziehungsweise innerhalb dieser den beherrschenden Einfluss ausüben58.

50  BVerfGE 21, 207 (209); BVerfG (K), NVwZ 2008, 670 (670); BGHZ 76, 375 (375, 384); so bereits G. Dürig, Art. 19 Abs. 3 (1977) Rn. 31; W. Rüfner, AöR 89 (1969), 261 (275); J. Isensee, HStR IX, § 199 Rn. 66; A. v. Mutius, Art. 19 Abs. 3 Rn. 54; K. M. Meessen, JZ 1970, 602 (604); H. Quaritsch, HStR V, § 120 Rn. 48; H. Bethge, Grundrechtsberechtigung, S. 45; H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 79; P. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 297 ff.; M. Sachs, Art. 19 Rn. 54; J. Ziekow, Freizügigkeit, S.  528 f.; M. Heintzen, HGR II, § 50 Rn. 10; A. Guckelberger, AöR 129 (2004), 618 (627 f.); B. Pieroth u. a., Grundrechte, Rn. 163; W. Krebs, Art. 19 Rn. 34; H. D. Jarass, Art. 19 Rn. 22; F. Schoch, Jura 2001, 201 (203). 51  BVerfGE 100, 313 (364); BVerfG (K) NJW 2002, 1485 (1485); K. Stern, Staatsrecht III / 1, S. 1143; M. Sachs, Art. 19 Rn. 54. 52  H. Bethge, Grundrechtsberechtigung, S. 45; A. v. Mutius, Art. 19 Abs. 3 Rn. 54; H. Niessen, NJW 1968, 1017 (1018); A. Guckelberger, AöR 129 (2004), 618 (628). 53  K. Stern, Staatsrecht III / 1, S. 1143; M. Sachs, Art. 19 Rn. 54; B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 78. 54  H. Quaritsch, HStR V, § 120 Rn. 48. 55  H. Quaritsch, HStR V, § 120 Rn. 50; W. Krebs, Art. 19 Rn. 34; H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 82. 56  BVerfG (K) NVwZ 2000, 1281 (1281); H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 80; W. W. Schmidt, Grundrechte, S. 158 ff; A. v. Mutius, Art. 19 Abs. 3 Rn. 59 ff.; P. Badura, Staatsrecht, C. Rn. 13. 57  H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 81. 58  BVerfG (K) NVwZ 2000, 1281(1281); NJW 2002, 1485 (1485).



B. Inländische juristische Personen des Privatrechts23

Vereinzelt werden jedoch auch andere Ansätze zur Bestimmung der In­ ländereigenschaft herangezogen: Vor allem von Befürwortern der „Durchgriffsthese“ wird die von den genannten Grundsätzen abweichende Ansicht vertreten, dass von Ausländern beherrschte juristische Personen trotz Inlandssitz nicht Träger der Deutschengrundrechte sein sollen59. Danach sei es für die Qualifikation einer juristischen Person als inländisch maßgeblich, ob sie überwiegend von Inländern kontrolliert wird60. Dies sei insbesondere dann ausschlaggebend, wenn sich eine juristische Person auf ein Deutschengrundrecht berufen wolle61. Ein weiterer Ansatzpunkt liegt darin, für die Inländereigenschaft auf eine Zulassung beziehungsweise Anerkennung der juristischen Person im Inland abzustellen62. Dieser Ansatz konnte sich jedoch in Rechtsprechung und Lehre nicht durchsetzen63. Ebenfalls nicht gefolgt wird der Theorie, nach der eine Gründung nach inländischem Recht für erforderlich gehalten wird64. Die Ablehnung dieser Position wird damit ­ ­begründet, dass sich aus Art. 19 Abs. 3 GG nicht ergebe, dass die Grundrechtsfähigkeit einer juristischen Person die Verwendung einer inländischen Rechtsform erfordere65. Zuzugestehen ist diesen Ansätzen, dass sowohl im Völkerrecht66 als auch im Internationalen Privatrecht vergleichbare Kriterien für die in diesen Gebieten ebenfalls erforderliche Zuordnung von Organisa­ tionen zu Staaten und nationalen Rechtsordnungen diskutiert wurden und werden67. Da die Sitztheorie jedoch eine trennscharfe Abgrenzungsmöglichkeit eröffnet, wird sie auch in dieser Arbeit zugrunde gelegt. Die mit dem Wortlaut des Art. 19 Abs. 3 GG einhergehende Ausgrenzung ausländischer juristischer Personen aus dem Grundrechtsschutz beruht auf der Erwägung, dass die fremdenrechtliche Aktionsfähigkeit der Bundesrepublik im Verhältnis zu ausländischen Staaten hinsichtlich der Behandlung der wechselseitigen juristischen Personen nicht eingeschränkt sein sollte68. Sie 59  In diese Richtung BVerfG (K) NVwZ 2000, 1281 (1281); offen BVerfG (K) NJW 2002, 1485 (1485); so auch P. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 301; H. Quaritsch, HStR V, § 120 Rn. 51 ff.; a. A. K. Stern, Staatsrecht III / 1, S. 1143. 60  K. Stern, Staatsrecht. III / 1, S. 1143; A. Bleckmann / F. Helm, DVBl. 1992, 9 (13). 61  BVerfG (K) NVwZ 2000, 1281 (1281); P. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 301 ff.; zustimmend D. Krausnick, JuS 2008, 869 (871). 62  So etwa K.-H. Mattern, Petitionsrecht, S. 623 (631). 63  Zur Kritik vgl. etwa W. W. Schmidt, Grundrechte, S. 171 ff. 64  Dazu W. W. Schmidt, Grundrechte, S. 92 ff.; M. Feiler, Das Bonner Grundgesetz, S. 53. 65  D. Krausnick, JuS 2008, 869 (871). 66  W. W. Schmidt, Grundrechte, S. 51 ff. 67  B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 79. 68  K. Stern, Staatsrecht III / 1, S. 1136; H. Bethge, Grundrechtsberechtigung, S. 48; A. v. Mutius, Art. 19 Abs. 3 Rn. 50; P. J. Tettinger, HGR II, § 51 Rn. 40; W. Rüfner,

24

1. Kap.: Art. 19 Abs. 3 GG

sichert die Möglichkeit, im Verhältnis zum Ausland das Gegenseitigkeitsprinzip zur Geltung zu bringen, um eigenen inländischen juristischen Personen eine günstige Behandlung im Ausland zu sichern69. Wird aufgrund eines völkerrechtlichen Vertrages eine Gleichbehandlung ausländischer juristischer Personen in grundrechtsrelevanten Bereichen vereinbart und in das innerstaatliche Recht umgesetzt, beschränken sich diese Wirkungen auf die Ebene des einfachen Rechts und haben auf das Fehlen der Grundrechtsträgerschaft zunächst keine Auswirkungen70. Im Ergebnis bedeutet der Ausschluss ausländischer juristischer Personen vom Grundrechtsschutz jedoch keine völlige Schutzlosigkeit dieser. Vielmehr erhalten sie durch die Gesetzmäßigkeit von Verwaltung und Rechtsprechung im Rahmen der allgemeinen Rechtsordnung regelmäßig gleichwertigen Schutz der in den Grundrechtsbestimmungen angesprochenen Belange71. Jedoch sind zu ihrem Nachteil abweichende gesetzliche Regelungen grundsätzlich möglich und zulässig72. Ein Sonderfall besteht ohnehin für juristische Personen mit Sitz im EU-Gebiet73.

C. Die wesensmäßige Anwendbarkeit der Grundrechte I. Ausgangspunkt (personales Substrat versus grundrechtstypische Gefährdungslage) Art. 19 Abs. 3 GG spricht im Wortlaut davon, dass die Grundrechte „ihrem Wesen nach“ auf juristische Personen anwendbar sein müssen, um den Schutz des jeweiligen Grundrechts auf diese zu erstrecken. Damit stellt sich die Frage, wonach sich diese von Art. 19 Abs. 3 GG geforderte wesensmäßige Anwendbarkeit beurteilt. Dies ist in Rechtsprechung und Literatur hoch umstritten74. Um das Kriterium der wesensmäßigen Anwendbarkeit der Grundrechte zu definieren, ist zunächst nach dem Grund für die Erstreckung des Grundrechtsschutzes zu fragen. Dieser kann zum einen darin bestehen, den am InHStR IX, § 196 Rn. 57; H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 79; M. Sachs, Art. 19 Rn. 52; V. Epping, Außenwirtschaftsfreiheit, S. 181; a. A. P. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 295, der zudem eine „verfassungsrechtliche Standortpflege“ annimmt. 69  M. Sachs, Art. 19 Rn. 52. 70  BGHZ 76, 387 (384). 71  M. Sachs, Art. 19 Rn. 51. 72  M. Sachs, Art. 19 Rn. 51. 73  So die ganz h. M., vgl. nur H. Dreier, Art.  19 Abs.  3 Rn.  83 ff. m. w. N.; dazu nachfolgend unter E. II. 74  Gesamtdarstellung bei K. Stern, Staatsrecht III / 1, S. 1110 ff.



C. Die wesensmäßige Anwendbarkeit der Grundrechte25

dividuum orientierten Grundrechtsschutz zu stärken. Zum anderen kann Art. 19 Abs. 3 GG eine neue, zusätzliche Schutzdimension eröffnen und so den juristischen Personen um ihrer selbst willen Grundrechtsschutz gewähren75. Legt man diese beiden Verständnisse des Grundes für die Erstreckung zugrunde, ist weiter zu unterscheiden, wie der Begriff des „Wesens“ der Grundrechte zu verstehen ist76. Entscheidend ist also, ob sich der Verweis auf das Wesen der Grundrechte auf die Bezugnahme auf das jeweils konkret relevante Einzelgrundrecht und den ihm immanenten Schutzgehalt bezieht oder darüber hinaus auf das gemeinsame Wesen der Grundrechte insgesamt abstellt. Als das gemeinsame Wesen der Grundrechte wird dabei das Wesen der Grundrechte in der verfassungsmäßigen Rechtsordnung77 und damit auf das Wesen der Grundrechte generell als objektive Wertentscheidung78 verstanden. Ziehtman das Wesen der Grundrechte ganz allgemein und sieht dieses im Schutz individualer Freiheit und Gleichheit, so ist für die Erstreckung des Grundrechtsschutzes juristischer Personen maßgeblich, dass die hinter dieser stehenden natürlichen Personen geschützt werden sollen79. Stellt man hingegen auf das einzelne Grundrecht und den von ihm sichergestellten Schutzbereich ab und erkennt den Schutz der juristischen Person um ihrer selbst willen an, ist entscheidend, ob sich die juristische Person in einer Situation befindet, in der sie der Staatsgewalt wie eine natürliche Person gegenübersteht und wie eine solche in der Wahrnehmung ihrer Rechte gefährdet wird oder werden kann. Aus diesen Überlegungen ergeben sich zwei Ansätze, um die wesensmäßige Anwendbarkeit der Grundrechte zu bestimmen80. Diese werden allgemein als Lehre vom personalen Substrat und als Lehre von der grundrechts­ typischen Gefährdungslage bezeichnet. Sie schließen sich nach wohl herrschender Meinung gegenseitig nicht aus, sondern können auch in Ergänzung zueinander verstanden werden81. So wird auch vertreten, die konkrete Reichweite und der Gewährleistungsgehalt des Art. 19 Abs. 3 GG ergäben sich erst aus einer Zusammenschau beider Aspekte82.

75  B. Remmert,

Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 26. auch B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 28 Fn. 1. 77  BVerfGE 21, 362 (369). 78  H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 29. 79  B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 28. 80  So auch BVerfGE 21, 362 (369 ff.). 81  P. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 208; zustimmend B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 28. 82  H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 30. 76  So

26

1. Kap.: Art. 19 Abs. 3 GG

1. Der Ansatz vom personalen Substrat („Durchgriffsthese“) Zum einen kann die Bezugnahme auf das Wesen der Grundrechte als umfassend, als Frage nach dem Wesen der Grundrechte in der Rechtsordnung schlechthin, verstanden werden83. Nach diesem anthropozentrischen Verständnis wird das allgemeine Wesen der Grundrechte gemeinhin im Schutze der Individualfreiheit gesehen84. Hierzu wird insbesondere vertreten, dass der Wortlaut des Art. 19 Abs. 3 GG und der systematische Zusammenhang mit Art. 19 Abs. 2 GG von einer einheitlichen Werteorientierung innerhalb des Grundgesetzes ausgingen85. Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Würde des Einzelnen und seine Fähigkeit zu Freiheit und Gleichheit sowei seine staatsbürgerliche Mündigkeit86 seien also auch die zentralen Bezugspunkte für das Verständnis des Art. 19 Abs. 3 GG87. Ein Grundrecht ist nach verbreiteter Ansicht in seinem Wesensgehalt im Sinne von Art. 19 Abs. 2 GG verletzt, wenn dessen Menschenwürdegehalt betroffen ist88. Daraus wird gefolgert, dass die Menschenwürde als zentrales Anliegen des Grundgesetzes89 dazu führe, dass der Schutz des Einzelnen als „Sinnmitte“ der Grundrechte zu verstehen sei90. Für diese Betrachtungsweise wird auch die Entstehungsgeschichte des Art. 19 Abs. 3 GG herangezogen. Denn „vor dem Hintergrund des unisonen Grundtenors in den Beratungen des Parlamentarischen Rates bedarf jede konzeptionelle Abweichung von dieser menschenzentrierten Schutzintention des Art. 19 Abs. 3 GG – und vor allem jede grundrechtliche Umkleidung von Staatsfunktionen – eines qualifizierten Erklärungs- und Begründungsaufwandes, aber umgekehrt der Ausschließlichkeitsanspruch dieser auf Menschen bezogenen Schutzrichtung.“91 Zudem entspreche dieser Ansatz auch der ursprünglichen Zielrichtung der Grundrechte, dem Schutz der natürlichen Person vor staatlichen Eingriffen, am besten92. Die Auslegung des Art. 19 Abs. 3 GG habe sich strikt an dem grundrechtlichen Freiheitsbereich des Einzelnen zu orientieren, denn der Grundrechtsschutz juristischer Personen sei nur dort sinnvoll, wo auch ein 83  BVerfGE

21, 362 (369). 21, 362 (369). 85  P. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 209. 86  P. M. Huber, Jura 1998, 505 (511). 87  H. Gersdorf, Öffentliche Unternehmen, S. 65 ff.; P. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 209; J. Isensee, HStR IX, § 199 Rn. 5; B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 32. 88  B. Remmert, Art. 19 Abs. 2 (2008) Rn. 44 m. w. N. 89  Dies ergibt sich auch aus der systematischen Stellung des Art. 1 GG als Einleitungsnorm des Grundgesetzes. 90  BVerfGE 61, 82 (101); B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 32. 91  H. Gersdorf, Öffentliche Unternehmen, S. 81. 92  H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 32. 84  BVerfGE



C. Die wesensmäßige Anwendbarkeit der Grundrechte27

unmittelbarer Bezug zum Menschen bestünde93. Geht man dementsprechend davon aus, dass Art. 19 Abs. 3 GG auch das Entstehen von Lücken im Grundrechtsschutz vermeiden wolle94 und sein Ziel darin bestehe, den am Individuum orientierten Grundrechtsschutz zu stärken95, so kann diese Norm als „vorgezogene Verteidigungslinie“96 für den Grundrechtsschutz der hinter ihr stehenden natürlichen Personen betrachtet werden. Ein „schutzgutspezifischer Mehrwert“ der Grundrechte könne folglich nur angenommen werden, wenn ein Minimum an originärem Grundrechtsschutz in Form der Grundrechtsbetätigung innerhalb der Organisation bestünde97. Aus diesen Überlegungen wird eine materielle Betrachtungsweise des Art. 19 Abs. 3 GG gefolgert, für die darauf abzustellen sei, inwieweit Bildung und Betätigung der juristischen Person Ausdruck der freien Entfaltung der hinter ihr stehenden natürlichen Personen ist98. Aus dieser materiellen Betrachtungsweise ergebe sich, dass die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte am personalen Substrat der juristischen Person auszurichten sei99. Dies würde dazu führen, dass die Kontrolldichte mit dem Bezug zum personalen Substrat steigt. Die damit einhergehenden Einbußen an Rechtssicherheit seien bei diesem wertungsanhängigen Grundrechtsschutz hinzunehmen100. Dieser Ansatz hält also das personale Substrat einer juristischen Person für den Grund der Erstreckung des Grundrechtsschutzes auf die juristische Person101. Das bedeutet, dass die juristische Person lediglich aufgrund der hinter ihr stehenden natürlichen Personen Grundrechtsschutz erfährt, diese also die Schutzbedürftigkeit der juristischen Person auslösen. Aus diesem Blickwinkel kommt juristischen Personen kein Selbstzweck zu, vielmehr werden sie als Zweckschöpfungen mit dem Ziel verstanden, den hinter ihnen stehenden natürlichen Personen die Wahrnehmung grundrechtlich geschützter Interessen zu ermöglichen102. Daraus wird gefolgert, die Grundrechtsberechtigung 93  H. Bethge,

Grundrechtsberechtigung, S. 67. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 221. 95  B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 34. 96  P. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 221; zustimmend B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 36. 97  P. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 222. 98  P. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 223 f. 99  Für Art. 3 GG: BVerfGE 88, 87 (96); 95, 267 (317); 99, 367 (389); insgesamt zustimmend P. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 224; ähnlich auch H. Bethge, Grundrechtsberechtigung, S 39; zweifelnd J. Isensee, HStR IX, § 199 Rn. 117 f. 100  P. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 225. 101  So im Ergebnis P. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 213; P. Badura, BayVBl. 1989, 1 (2). 102  P. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 210. 94  P.

28

1. Kap.: Art. 19 Abs. 3 GG

juristischer Personen habe lediglich „dienenden Charakter“103. Der Schutz der juristischen Personen erfolge nicht um ihrer selbst willen, sondern allein aufgrund des hinter ihnen stehenden personalen Substrats104. Dementsprechend schütze Art. 19 Abs. 3 GG juristische Personen um der hinter ihr stehenden Menschen willen105. Nach dieser Ansicht ist die Grundrechtsberechtigung einer juristischen Person nur dann gerechtfertigt, „wenn ihre Bildung und Betätigung Ausdruck freier Entfaltung der natürlichen Personen sind, besonders wenn der ‚Durchgriff‘ auf die hinter den juristischen Personen stehenden Menschen dies als sinnvoll und erforderlich erscheinen läßt.“106 Dieser auch als „Durchgriffsthese“ bezeichnete Ansatz wird teilweise als der zentrale Leitgedanke des Art. 19 Abs. 3 GG betrachtet107. In der Folge sind nach der Durchgriffsthese solche juristischen Personen von der Grundrechtserstreckung auszunehmen, denen es am personalen Substrat grundrechtsverwirklichender Freiheitsbetätigung fehlt, oder die nicht die von der Funktion der Grundrechte geforderte Distanz zum grundrechtsverpflichteten Staat besitzen108. Die Bezugnahme auf das „Wesen“ der Grundrechte wird in diesem Zusammenhang als „funktionsorientiert“ beschrieben109. Insbesondere wegen der Annahme einer nur mittelbaren Schutzwirkung für juristische Personen stößt der Ansatz des personalen Substrats vermehrt auf Kritik110: So wird angeführt, die Durchgriffsthese gewähre juristischen Personen nur einen abgeleiteten Schutz111, während Art. 19 Abs. 3 GG doch gerade 103  BVerfGE 75, 192 (195 f.); H. Bethge, AöR 104 (1979), 54 (99 f.); J. Isensee, HStR IX, § 199 Rn. 5; W. Rüfner, Grundzug, S. 56; P. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 210. 104  BVerfGE 75, 192 (196 f.); P. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 210; B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 35; S. Storr, Staat als Unternehmer, S. 205 f. 105  B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 32; P. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 210. 106  Ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, vgl. nur BVerfGE 21, 362 (369). 107  P. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 211. 108  P. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 212. 109  BVerfGE 75, 192 (195, 197); J. Isensee, HStR IX, § 199 Rn. 17; W. Rüfner, Grundzug, S. 56; S. Storr, Staat als Unternehmer, S. 204 f.; P. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 212. 110  Vgl. etwa A. v. Mutius, Art. 19 Abs. 3 Rn. 31 ff.; K. Stern, Staatsrecht III / 1, S. 1117; W. Rüfner, Grundrechtsträger, HStR IX, § 196 Rn. 57 ff.; W. Frenz, Verw­ Arch. 85 (1994), 22 (39); H. Quaritsch, HStR V, § 120 Rn. 52 ff.; P. J. Tettinger, HGR II, § 51 Rn. 61; F. E. Schnapp, DÖV 1990, 826 (827); D. Merten, Mischunternehmen, S. 2011. 111  H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 32.



C. Die wesensmäßige Anwendbarkeit der Grundrechte29

deutlich mache, dass die juristische Person als solche und um ihrer selbst willen zu schützen sei112. Der Verfassunggeber habe mit dem Wortlaut des Art. 19 Abs. 3 GG bereits abschließend entschieden, dass juristische Personen auch als solche grundrechtsberechtigt sein können113. Vielmehr impliziere die Durchgriffsthese ein aus dem Verfassungstext nicht zweifelsfrei abzuleitendes Vorverständnis der Grundrechte114. Die juristische Person sei also nicht nur eine „Treuhänderin“ der Grundrechte der sie bildenden Menschen115 und nicht nur Vehikel für eine aufgrund anderer Grundgesetz-Normen ohnehin mögliche kollektive Grundrechtsausübung116. Zwar stehe hinter allen juristischen Personen immer das Wollen und Handeln konkreter natürlicher Personen. Jedoch schließe dies nicht aus, auch die durch natürliche Personen geformten juristischen Personen um ihrer selbst willen zu schützen117. Auch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts liegt auf dieser Linie, da es auch Stiftungen und Kapitalgesellschaften, die nicht über natürliche Personen als Träger oder Mitglieder verfügen, als grundrechtsberechtigt ansieht und ihnen den Grundrechtsschutz nicht versagt118, obwohl gerade bei diesen Rechtsformen der Bezug zum Individuum gering ist. Diese Rechtsprechung wird als Abkehr von der Durchgriffsthese gewertet, da der Schutz solcher juristischen Personen mit geringem Bezug zum Individuum nicht mit der Prämisse des personalen Substrats vereinbar sei119. Die Linie der Rechtsprechung in der Bundes­ republik wird unter dieser Prämisse als inkonsistent kritisiert120. Auf dieser Linie liegt auch die Kritik, die Durchgriffsthese halte für die Frage nach der Grundrechtsberechtigung großer Kapitalgesellschaften, international verflochtener Konzerne und Stiftungen keine überzeugende Lösung bereit, da hier kein personales Substrat mehr erkennbar sei121. Auch gehe mit der Durchgriffsthese eine Absage des Grundrechtsschutzes für juristische Personen des 112  W.

Rüfner, HStR IX, § 196 Rn. 64; J. Isensee, HStR IX, § 199 Rn. 4. v. Mutius, Art. 19 Abs. 3 Rn. 33; J. Isensee, HStR IX, § 199 Rn. 4; W. Rüfner, HStR IX, § 196 Rn. 57; K. Stern, Staatsrecht III / 1, S. 1105. 114  D. Krausnick, Jus 2008, 965 (966). 115  A. v. Mutius, Art. 19 Abs. 3 Rn. 32; ähnlich K. Stern, Staatsrecht III / 1, S. 117: „Sachwalterin“. 116  A. v. Mutius, Art. 19 Abs. 3 Rn. 29 ff.; W. Rüfner, HStR IX, § 196 Rn. 58; H. Dreier, GG, Art. 19 Abs. 3 Rn. 33. 117  W. Rüfner, HStR IX, § 196 Rn. 62; J. Isensee, HStR IX, § 199 Rn. 4; H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 33. 118  BVerwGE 40, 347 (348 f.). 119  H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 33; B. Pieroth u. a., Grundrechte, Rn. 168. 120  H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 33. 121  BVerfGE 50, 290 (363 f.): In dieser Entscheidung hat das BVerfG bereits die Verflüchtigung des personalen Grundzuges bei Großunternehmen bemerkt, aber keine Konsequenzen für die Anwendung des Art. 19 Abs. 3 GG gezogen; A. v. Mutius, Art. 19 Abs. 3 Rn. 64; H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 33 Fn. 116. 113  A.

30

1. Kap.: Art. 19 Abs. 3 GG

öffentlichen Rechts einher, die gerade dann problematisch sei, wenn diese grundrechtssichernd tätig werden122. 2. Der Ansatz vom Erfordernis einer grundrechtstypischen Gefährdungslage Die Formulierung „soweit“ kann jedoch auch so verstanden werden, dass sich die Erstreckung des Grundrechtsschutzes nur auf das Wesen des einzelnen Grundrechts bezieht und nicht auf die Grundrechtsfähigkeit der juristischen Person im Allgemeinen. Dann ist darauf abzustellen, ob sich die juristische Person in einer für dieses Grundrecht typischen Gefährdungslage befindet123. Das ist der Fall, wenn sie einem Hoheitsträger wie eine natürliche Person als Adressat eines Eingriffs gegenübersteht, „sie der öffentlichen Gewalt […] nicht anders als jeder beliebige Privatmann unterworfen“ ist124. Für diese Fälle eröffnet Art. 19 Abs. 3 GG juristischen Personen dann grundrechtlichen Schutz. Dieser Ansatz geht davon also aus, dass Art. 19 Abs. 3 GG sich nicht auf das „Wesen der Grundrechte“ generell – als solcher – bezieht, sondern vielmehr auch Raum für den Schutz von Organisationen lässt, die keinen Bezug zum individualen Grundrechtsschutz aufweisen125. Dies betrifft in der Anwendung vorrangig rechtlich verselbständigte staatliche Kompetenzträger126, bei denen aufgrund ihrer Organisationsstruktur und der Bindung an den Staat kein personales Substrat zu ermitteln ist. Folgt man dieser Betrachtungsweise, so eröffnet Art. 19 Abs. 3 GG eine weitere, über den Individualschutz hinausgehende Schutzdimension127. Diese Betrachtungsweise schließt juristische Personen des öffentlichen Rechts nicht schon per se vom Grundrechtsschutz aus. Auch eine juristische Person des öffentlichen Rechts könne gegenüber einem (anderen) Hoheitsträger eine Verkürzung ihrer – grundrechtlich gewährleisteten – Rechte erfahren. Denn auch in Fällen der Enteignung einer Gemeinde etwa werde einem Rechtssubjekt durch einen Akt staatlicher Gewalt eine ihm zugeordnete Rechtsposition entzogen128. 122  W.

Frenz, VerwArch. 85 (1994), 22 (29 f.). 45, 63 (79); 61, 82 (102); so im Ergebnis: A. v. Mutius, Art. 19 Abs. 3 Rn. 37; H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 34; R. Dreier, Grundrechtssubjektivität, S. 93, 105; W. Graf Vitzthum, HGR II, § 48 Rn. 18 ff. 124  H. Klein, Teilnahme, S. 234. 125  B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 29. 126  So auch B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 29. 127  B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 29. 128  A. v. Mutius, Art. 19 Abs. 3 Rn. 37, 114. 123  BVerfGE



C. Die wesensmäßige Anwendbarkeit der Grundrechte31

Zur Begründung dieses Ansatzes wird das Erfordernis eines Schutzes der juristischen Person als solcher angeführt. Denn insbesondere das hoch­ komplexe und vielfältig vernetzte Wirtschafts- und Interaktionsgeschehen in der modernen Gesellschaft bedürfe wegen seiner funktionalen Eigengesetz­ lichkeit und Gefährdung durch staatliche Eingriffe des grundrechtlichen Schutzes129. Dieser eigenständige Grundrechtsschutz juristischer Personen finde seine Berechtigung in ihrer organisatorischen Verselbständigung und ihrer Fähigkeit zur eigenständigen Willensbildung130. Außerdem sei er durch Art. 19 Abs. 3 GG und seinen einschränkungslosen Wortlaut von Verfassung wegen festgelegt131. Teilweise wird die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts als ausdrückliche Zustimmung zur Durchgriffsthese und damit als Abkehr vom Erfordernis der grundrechtstypischen Gefährdungslage gewertet132. Dem kann jedoch nicht vorbehaltlos zugestimmt werden, da das Bundesverfassungsgericht zwar im Wesentlichen ein anthropozentrisches Grundrechtsverständnis voraussetzt und eine Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des öffent­ lichen Rechts grundsätzlich ablehnt133. Allerdings korrigiert es seine Ergebnisse auch mit dem Gedanken der grundrechtstypischen Gefährdungslage und verlangt das Vorliegen einer solchen134. Auch bei dem Ansatz von der grundrechtstypischen Gefährdungslage erfolgt die Erstreckung des Grundrechtsschutzes nicht schrankenlos; auch hier wird eine Einschränkung des Adressatenkreises der Grundrechte angenommen. Das Bestehen einer grundrechtstypischen Gefährdungslage sei nämlich nur möglich, wenn die juristische Person dem Staat gegenüber verselbständigt ist und ihm in einer Außenrechtsbeziehung gegenübersteht135. So kann eine staatliche Organisationseinheit von einer anderen derart verselbständigt sein, dass sie sich dennoch aufgrund eines staatlichen Aktes in einer grundrechtstypischen Gefährdungslage befinden kann. Kritisiert wird am Ansatz von der grundrechtstypischen Gefährdungslage, dass er eine über den Individualschutz hinausgehende, weitere Schutzebene 129  H. Dreier,

Art. 19 Abs. 3 Rn. 34. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 219. 131  J. Isensee, HStR IX, § 199 Rn. 4. 132  So etwa P. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 210, insbesondere Fn. 24. 133  BVerfGE 21, 362 (369), 68, 193 (206); 75, 192 (196). 134  BVerfGE 23, 153 (163); 45, 63 (79); so im Ergebnis auch W. Rüfner, HStR IX, § 196 Rn. 63. 135  K. A. Bettermann, NJW 1969, 1321 (1326); A. v. Mutius, Art. 19 Abs. 3 Rn.  114 f.; ders, JuS 1977, 319 (321 f.); ders., Jura 1983, 30 (35); K. Kröger, JuS 1981, 26 (29); H.-U. Erichsen / A. Scherzberg, NVwZ 1990, 8 (11); B. Pieroth, NWVBl. 1992, 85 (88); B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 27. 130  P.

32

1. Kap.: Art. 19 Abs. 3 GG

schaffe. Damit wird er teilweise als „systemsprengend“ bezeichnet136. Außerdem wird angeführt, Art. 19 Abs. 3 GG könne nicht als kompetenzbegründend oder -erweiternd verstanden werden137. Dies ergebe sich insbesondere daraus, dass dem Verfassungssystem eine klare Trennung zwischen organisationsrechtlichen Kompetenzen und grundrechtlichen Freiheiten zugrunde liege, die nicht durch Auslegung des Art. 19 Abs. 3 GG überwunden werden könne138.

II. Inhaltsfragen Für die Bestimmung der wesensmäßigen Anwendbarkeit ist nach ganz herrschender Meinung der Schutzgehalt jedes einzelnen Grundrechts zu untersuchen139. Dementsprechend ist jeweils nach der inhaltlichen Eigenart der einzelnen Grundrechte zu fragen140. Insgesamt lässt sich mit dem Bundesverfassungsgericht der Grundsatz aufstellen, dass ein Grundrecht auf eine juristische Person nicht anwendbar ist, wenn es „an Eigenschaften, Äußerungsformen oder Beziehungen anknüpft, die nur natürlichen Personen wesenseigen sind […].“141 Prinzipiell unanwendbar sind dementsprechend diejenigen Grundrechte, die die physisch-psychische Existenz natürlicher Personen oder solche Merkmale und Qualitäten voraussetzen, die nur ein Mensch aufweisen kann142. Dies schließt die Grundrechte aus Art. 1 GG, Art. 2 GG und Art. 6 GG von vornherein aus143. Aber selbst wenn das Wesen eines Grundrechts seiner Erstreckung auf eine juristische Person grundsätzlich nicht entgegensteht, kann dennoch danach zu differenzieren sein, welcher konkreten juristischen Person es zukommt144. Beispielsweise eröff136  P. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 208; zustimmend B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 26. 137  H. Gersdorf, Öffentliche Unternehmen, S. 85. 138  H. P. Bull, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, S. 97 f.; D. Ehlers, Verwaltung in Privatrechtsform, S. 82 f. 139  BVerfGE 95, 28 (34); G. Dürig, Art. 19 Abs. 3 (1977) Rn. 32; K. Stern, Staatsrecht III / 1, S. 1125; H. Bethge, Grundrechtsberechtigung, S.  36 f.; A. v. Mutius, Art. 19 Abs. 3 Rn. 148; H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 35; P. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 312; W. Krebs, Art. 19 Rn. 32; M. Sachs, Art. 19 Rn. 67; B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 100. 140  H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 35. 141  BVerfGE 95, 220 (242); 106, 28 (42). 142  H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 36; vgl dazu auch BVerfGE 95, 220 (242). 143  B. Pieroth u.  a., Grundrechte, Rn. 167; B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 100. 144  W. Rüfner, HStR IX, § 196 Rn. 70; H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 37; G. Roellecke, Art. 19 Abs. 1–3 Rn. 89; P. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 314; B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 100.



C. Die wesensmäßige Anwendbarkeit der Grundrechte33

net die Berufsfreiheit, die grundsätzlich auch auf juristische Personen anwendbar ist145, Idealvereinen keinen Schutz für gewerbliche Betätigung146. Denn ein Idealverein darf nach bürgerlichem Recht nicht zu jedem Zweck gegründet werden. Das Grundgesetz darf den Grundrechtschutz aber nicht weiter ausdehnen als die sonstige Rechtsfähigkeit des Idealvereins147. Folglich ist bei der Bestimmung der für die juristische Person anwendbaren Grundrechte stets „die Eignung eines konkreten Grundrechts für eine konkrete juristischen Person“ zu prüfen148. Damit ist in jedem Einzelfall eine eigenständige Untersuchung erforderlich. Im Einzelnen ist zu unterscheiden zwischen für juristische Personen unanwendbaren und prinzipiell anwendbaren Grundrechten: Stellt man darauf ab, ob ein Grundrecht die psychische und physische Existenz eines Menschen voraussetzt, sind die Gewährleistung der Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG149, das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 sowie das Recht der Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG nicht auf juristische Personen anwendbar150. Gleiches gilt für das Grundrecht auf Gleichbehandlung aus Art. 3 Abs. 2 GG und die personengebundenen Gleichbehandlungsansprüche aus Art. 3 Abs. 3 GG, wobei hier zu unterscheiden ist zwischen den Kriterien, die Eigenschaften von Menschen wie Geschlecht, Sprache, Abstammung, Rasse oder Behinderung anknüpfen und den Kriterien des Glaubens und der politischen oder religiösen Anschauung151. Letztere beziehen sich auf grundrechtlich geschützte Verhaltensweisen, die auch den Schutz einer juristischen Person ermöglichen152. Problematisch ist in diesem Zusammenhang unter anderem, ob sich eine juristische Person auf die Merkmale „Heimat und Herkunft“ berufen kann, wenn sie aufgrund ihres Sitzes in einem anderen Bundesland ungleich behandelt wird153. Auch die Gewissensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG154, das Recht auf Kriegsdienstver145  P.

M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 322. Rüfner, HStR IX, § 196 Rn. 82; P. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 314; B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 100. 147  W. Rüfner, HStR IX, § 196 Rn. 82; zustimmend B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 100. 148  K. A. Bettermann, NJW 1969, 1321 (1324); G. Roellecke, Art. 19 Abs. 1–3 Rn. 89; zustimmend B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 100. 149  Dazu S. Maser, Geltung, S. 34 f. 150  So auch B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 101. 151  B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 101 Fn. 3. 152  Ganz h. M., vgl. etwa Sachs, Art. 19 Rn. 72; H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 39; B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 101 Fn. 3. 153  H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 39; kritisch B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 101 Fn. 3. 154  BVerfG (K) NJW 1990, 241 (241); BVerwGE 64, 196 (199). 146  W.

34

1. Kap.: Art. 19 Abs. 3 GG

weigerung aus Art. 4 Abs. 3 GG155, der Schutz von Ehe und Familie aus Art. 6 GG156, das elterliche Erziehungsrecht des Art. 7 Abs. 2 GG, das Verbot der Zwangsarbeit aus Art. 12 Abs. 3 GG, das in Art. 14 Abs. 1 GG normierte Grundrecht, etwas zu vererben, der Schutz vor Ausbürgerung und Auslieferung aus Art. 16 GG und das Grundrecht auf Asyl aus Art. 16a GG sind auf juristische Personen ihrem Wesen nach nicht anwendbar157. Anwendbar sind hingegen grundsätzlich das allgemeine Grundrecht auf Gleichbehandlung aus Art. 3 Abs. 1 GG158 und die verhaltensbezogenen Gleichbehandlungsansprüche aus Art. 3 Abs. 3 GG. Jedoch können juristische Personen unter Berufung auf Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 19 Abs. 3 GG nicht die Gleichstellung mit natürlichen Personen verlangen159. Problematisch ist zudem, dass eine Vergleichbarkeit unter juristischen Personen oft nicht gegeben ist160. Darüber hinaus sind anwendbar die Freiheit der Ausübung von Religion und Weltanschauung aus Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG161, die Grundrechte aus Art. 5 Abs. 1 GG162, die Wissenschafts- und die Kunstfreiheit des Art. 5 Abs. 3 GG163 sowie die Privatschulfreiheit aus Art. 7 Abs. 4 Satz 1 GG164. Auch die Versammlungsfreiheit aus Art. 8 GG ist insoweit auf juristische Personen anwendbar, als es um die Organisation, Veranstaltung und Leitung von Versammlungen geht165. Problematisch ist allerdings, ob eine juristische Person auch Teilnehmerin einer Versammlung sein 155  BVerwGE

64, 196 (198). 13, 290 (297 f.). 157  Vgl. den Katalog von B. Remmert Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 101; M. Feiler, Bonner Grundgesetz, S. 72 ff.; S. Maser, Geltung, S. 78 ff. 158  BVerfGE 3, 383 (390); 4, 7 (12); 19, 206 (215); 23, 153 (163); 41, 126 (149); 53, 336 (345); 95, 267 (317); 110, 174 (290). 159  P. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 317; P. J. Tettinger, HGR II, § 51 Rn. 18; B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 102 Fn. 4. 160  W. Rüfner, HStR IX, § 196 Rn. 74; K. Stern, Staatsrecht III / 1, S. 1128 ff.; B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 102 Fn. 4. 161  BVerfGE 19, 129 (132), 24, 236 (246 f.); 42, 312 (322 f.); 46, 73 (83); 70, 138 (160 f.); 99, 100 (118); 105, 279 (292 f.). 162  Pressefreiheit: BVerfGE 20, 162 (171); 21, 271 (277 f.); 66, 116 (130); 80, 124 (131); 95, 28 (34 f.); 113, 63 (75); Meinungsfreiheit BVerfGE 24, 278 (282); 113, 63 (75); Rundfunkfreiheit: BVerfGE 95, 220 (234); 97, 298 (310). 163  Zur Wissenschaftsfreiheit G. Britz, Art. 5 Abs. 3 (W) Rn. 65; Kunstfreiheit: BVerfGE 30, 173; BVerfG (K) NJW 2006, 596 (597). 164  BVerfGE 37, 314 (319); BVerwGE 40, 347 (349); W. Rüfner, AöR 89 (1964), 261 (302); ders., HStR IX, § 196 Rn. 78; K. Stern, Staatsrecht III / 1, S. 1126; M. Sachs, Art. 19 Rn. 75; H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 37; B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 102. 165  BVerwG NVwZ 1999, 991 (991); K. Stern, Staatsrecht III / 1, S. 1128; H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 37; W. Rüfner, HStR IX, § 196 Rn. 79; M. Sachs, Art. 19 Rn. 76; B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 102. 156  BVerfGE



C. Die wesensmäßige Anwendbarkeit der Grundrechte35

kann166. Auch die Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 1 und Abs. 3 GG167, das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis aus Art. 10 GG168, die Freizügigkeit aus Art. 11 Abs. 1 GG169, die Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG170, das Recht auf Eigentum171 und das Recht zu erben aus Art. 14 Abs. 1 GG172 sind dem Grunde nach einschlägig. Ebenso ist das Petitionsrecht des Art. 17 GG auf juristische Personen anwendbar173. Überwiegend wird vertreten, dass auch Art. 13 Abs. 1 GG für juristische Personen anwendbar ist174. Dies setzt aber voraus, dass Art. 13 Abs. 1 GG auch die Unverletzlichkeit von Geschäftsräumen garantiert175. Auch für die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG wird angenommen, dass juristische Personen vom Schutz umfasst sind176. Die Bestimmung des Verhältnisses von Art. 19 Abs. 3 GG zu Art. 9 Abs. 1 und Abs. 2 GG ist besonders problematisch. Ausgangspunkt für die Klärung dieses Verhältnisses ist der Wortlaut des Art. 9 Abs. 1 GG, der allen Deutschen das Recht zur Gründung einer Vereinigung gewährt. Weiter ist an­ erkannt, dass Art. 9 Abs. 1 GG darüber hinaus auch das individuelle Recht zum Eintritt in eine bereits bestehende Vereinigung, zum Austritt aus einer Ver­ einigung und zur individuellen Betätigung innerhalb der Organisation schützt177. Nach herrschender Ansicht ist Art. 9 Abs. 2 GG so zu verstehen, 166  O.

Depenheuer, Art. 8 (2006) Rn. 106 m. w. N. Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 102 m. w. N.; zur Frage, ob Art. 9 Abs. 3 GG ein Doppelgrundrecht darstellt: BVerfGE 4, 96 (101); 92, 365 (392); 103, 293 (304). 168  BVerfGE 100, 313 (356); 106, 28 (43). 169  H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 37; B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 102. 170  BVerfGE 21, 261 (266); 22, 380 (383 f.); 30, 292 (312); 50, 290 (361); 53, 1 (13); 65, 196 (209 f.); 97, 228 (253); 102, 197 (208); 106, 275 (298); 111, 366 (372); 114, 196 (244); 115, 205 (229); 118, 168 (202, 205). 171  BVerfGE 4, 7 (17); 23, 153 (163); 35, 348 (360); 53, 336 (345), 66, 116 (130). 172  BVerfGE 4, 7 (17); 21, 362 (369); 41, 126 (149); 66, 116 (139); P. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 321; B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 102; M. Sachs, Art. 19 Rn. 83; H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 37; H. D. Jarass, Art. 14, Rn. 103. 173  Für inländische juristische Personen ist das nicht umstritten, vgl. B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 102 m. w. N.; für ausländische juristische Personen vgl. unten unter D. 174  BVerfGE 42, 212 (219); 44, 353 (371); 76, 83 (88); 106, 28 (43); BVerfG (K), NVwZ 2007, 1047 (1048); H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 37; P. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 321; M. Sachs, Art. 19 Rn. 82; W. Rüfner, HStR IX, § 196 Rn. 86. 175  Dazu BVerfGE 32, 54 (69 ff.); 42, 212 (219); 44, 353 (371); 76, 83 (88); 97, 228 (265); H.-J. Papier, Art. 13 (2008) Rn. 10; G. Gornig, Art. 13 Abs. 1 Rn. 22. 176  BVerfGE 10, 89 (99); 15, 235 (239); 19, 206 (215); 20, 283 (290); 20, 323 (336); 23, 12 (30); 29, 260 (265 f.); 44, 353 (372); 50, 290 (319); 66, 116 (130). 177  Das ist nicht umstritten. Vgl. statt aller B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn.  106 m. w. N. 167  B. Remmert,

36

1. Kap.: Art. 19 Abs. 3 GG

dass eine Vereinigung nur dann verboten werden darf, wenn einer der dort genannten Gründe vorliegt178. Aus dem Wortlaut von Art. 9 Abs. 2 GG geht nicht hervor, wer von diesem Schutz erfasst ist. Nach herrschender Meinung kann dieser besondere Bestandsschutz jedenfalls von den natürlichen Personen geltend gemacht werden, die in der Organisation ihre Freiheitsrechte ausüben179. Nach dieser Betrachtung ist Art. 9 Abs. 1 GG jedenfalls seinem Wesen nach auf juristische Personen anwendbar im Sinne von Art. 19 Abs. 3 GG. Juristische Personen dürfen also nach Art. 9 Abs. 1 GG Vereinigungen bilden, weitere Organisationen (namentlich Dachverbände) gründen, ihnen beitreten, aus ihnen austreten, ihnen fernbleiben oder sich durch die Übernahme von Ämtern in einer Vereinigung betätigen180. Zudem kann sie sich jedenfalls dann auf Art. 9 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 GG berufen, wenn die von ihr (mit-)gebildete, übergeordnete Vereinigung aus Gründen verboten wird, die nicht von Art. 9 Abs. 2 GG erfasst sind181. Außerdem ist die juristische Person nach Maßgabe des einzelnen einschlägigen Grundrechts in Verbindung mit Art. 19 Abs. 3 GG geschützt. Darüber hinaus geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass Art. 9 Abs. 1 GG nicht nur das individuelle Recht aller Deutschen zur Bildung einer Vereinigung begründet, das nur unter den Voraussetzungen des Art. 9 Abs. 2 GG eingeschränkt werden darf, sondern zusätzlich auch juristischen Personen „das Recht auf Entstehen und Bestehen verleiht.“182 Anfangs ließ das Bundesverfassungsgericht die Rechtweite des Schutzes offen, also „ob er insbesondere über die Existenz und Funktionsfähigkeit des Vereins hinaus auch jede Vereinstätigkeit als Freiheit gemeinsamen, vereinsmäßigen Handelns an sich umfaßt. Jedenfalls schützt Art. 9 Abs. 1 GG vor einem Eingriff in den Kernbereich des Vereinsbestandes und der Vereinstätigkeit […].“183 In einer späteren Entscheidung grenzte das Bundesverfassungsgericht den Schutzbereich ein und führte aus, Art. 9 Abs. 1 GG schütze für die Mitglieder der Vereinigung und unmittelbar für die Vereinigung „die Selbstbestimmung über die eigene Organisation, das Verfahren ihrer Willensbildung und die Führung ihrer Geschäfte“.184 Dieser Ansatz wird als „Lehre vom Doppelgrundrecht“ bezeichnet185. 178  B. Remmert,

Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 106. Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 106; M. Kemper, Art. 9 Abs. 1 Rn. 63. 180  B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 107. 181  B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 107. 182  BVerfGE 13, 174 (175); 80, 244 (253); 84, 372 (378); BVerfG (K), NJW 1980, 1251 (1251); BVerwGE 54, 211 (219); 88, 9 (11). 183  BVerfGE 30, 227 (241). 184  BVerfGE 50, 290 (354); dem folgend BVerfGE 80, 244 (253); BVerfG (K), NVwZ 2003, 855 (855). 185  Etwa P. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 230. 179  B. Remmert,



C. Die wesensmäßige Anwendbarkeit der Grundrechte37

Für einen solchen weitergehenden Schutz wird angeführt, dass eine Vereinigung sich bei dieser Betrachtungsweise aus eigenem Recht gegen solche staatlichen Maßnahmen wehren kann, die sich gegen ihre inneren Strukturen „die Verfahren ihrer Willensbildung, die Führung ihrer Vereinsgeschäfte oder ihre Existenz im Ganzen richten“.186 Es sind dann nicht lediglich ihre Mitglieder grundrechtsberechtigt187, sondern auch die Rechte der Vereinigung selbst geschützt188. Diese Berechtigung bestehe, ohne dass es eines Rückgriffs auf Art. 19 Abs. 3 GG bedürfe189. Danach sei es auch fernliegend, dass das Grundgesetz einerseits durch Art. 9 Abs. 1 GG die Bildung von Vereinigungen schütze und die Tätigkeit der Vereinigung durch Art. 19 Abs. 3 GG schütze, es aber andererseits der Vereinigung verwehre, Grundrechtsverletzungen, die die Mitglieder durch staatliche Maßnahmen gegen die Vereinigung erleiden, auch selbst als Vereinigung abwenden zu können190. Im Ergebnis garantiert Art. 9 Abs. 1 GG nach dieser Betrachtungsweise allen Deutschen ein individuelles Recht zur Gründung von und zur Betätigung in Vereinigungen, die nur verboten werden dürfen, wenn einer der in Art. 9 Abs. 2 GG genannten Gründe vorliegt191. Art. 9 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 3 GG gewähre inländischen privaten juristischen Personen das Recht zur Gründung von und zur Betätigung in übergeordneten Organisationen, die ebenfalls nur nach Art. 9 Abs. 2 GG verboten werden dürfen192. Eine inländische private juristische Person erfahre für ihre Betätigung nach außen über Art. 19 Abs. 3 GG den Schutz derjenigen Grundrechte, die ihrem Wesen nach auf sie und ihre Tätigkeit anwendbar sind193. Sowohl die Mitglieder als auch die Vereinigung selbst seien durch Art. 9 Abs. 1 GG unmittelbar gegen staatliche Maßnahmen geschützt, die die interne Organisationsstruktur, das Verfahren der Willensbildung und die interne Geschäftsführung betreffen194. Bei einem Verbot der Vereinigung ohne Bestehen eines Verbotsgrundes im Sinne des Art. 9 Abs. 2 GG seien also sowohl ihre Mitglieder als auch die Vereinigung als solche aus Art. 9 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 GG geschützt195. 186  B. Remmert,

Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 108. Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 108. 188  M. Sachs, in Stern: Staatsrecht IV / 1, S. 1329; D. Merten, HStR VI, § 144 Rn. 28. 189  M. Sachs, in Stern: Staatsrecht IV / 1, S. 1329; D. Merten, HStR VI, § 144 Rn. 28. 190  B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 108. 191  B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 109. 192  B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 109. 193  B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 109. 194  B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 109. 195  B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 109. 187  B. Remmert,

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1. Kap.: Art. 19 Abs. 3 GG

Diese Auffassung wird in der Literatur grundlegend kritisiert196. Die Kritik wird zum Teil darauf gestützt, dass Art. 19 Abs. 3 GG die Erstreckung der individuellen Grundrechte auf juristische Personen abschließend regele197. Art. 19 Abs. 3 werde gegenstandslos, wenn man die Tätigkeit einer juristischen Person als durch Art. 9 Abs. 1 GG geschützt sehe198. Außerdem verwische diese Ansicht für die Freiheitsausübung innerhalb einer juristischen Person auch die ausdifferenzierten Schutzbereichsregelungen und Gesetzesvorbehalte der anderen Grundrechte199. Dementsprechend schütze Art. 9 Abs. 1 GG ausschließlich das Individualrecht auf die Bildung von Organisationen und die Betätigung innerhalb einer solchen, vermittle aber darüber hinaus kein Grundrecht200. Der Grundrechtsschutz von juristischen Personen richte sich vielmehr nach dem einzelnen einschlägigen Grundrecht201. Der Schutzbereich des Art. 9 Abs. 1 GG sei also für eine juristische Person nur dann eröffnet, wenn eine neue Vereinigung gegründet wird oder es um die Beteiligung an einer solchen geht202.

III. Grundrechtsgleiche Rechte Fraglich ist außerdem, ob Art. 19 Abs. 3 GG nur auf die Grundrechte im engen Sinne anzuwenden ist oder ob er auch Anwendung auf grundrechtsgleiche Rechte findet203. Hauptsächlich betroffen sind hier die grundrechtsgleichen Rechte aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG204 und Art. 103 Abs. 1 GG205. 196  Etwa G. Dürig, Art. 19 Abs. 3 (1977) Rn. 4; J. Isensee, HStR IX, § 199 Rn.  106 ff.; W. W. Schmidt, Vereinigungsfreiheit, S. 233 (241); R. Scholz, Art. 9 (1999) Rn. 25; M. Kemper, Art. 9 Abs. 1 Rn. 61 ff.; J. Heinrich, Vereinigungsfreiheit und Vereinigungsverbot, S.  43 ff.; H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 89 ff.; P. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 230 ff.; W. Höfling, Art. 9 Rn. 25 f.; B. Pieroth u. a., Grundrechte, Rn. 793. 197  J. Isensee, HStR IX, § 199 Rn. 106 ff. 198  J. Isensee, HStR IX, § 199 Rn. 106 ff. 199  J. Isensee, HStR IX, § 199 Rn. 108; so auch P. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn.  238 f. 200  G. Dürig, Art. 19 Abs. 3 (1977) Rn. 4; W. Höfling, Art. 9 Rn. 26; H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 89. 201  G. Dürig, Art. 19 Abs. 3 (1977) Rn. 4; J. Dietlein, in: Stern, Staatsrecht IV / 1, S. 2003; W. Höfling, Art. 9 Rn. 26; H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 89; so aber auch BVerfGE 70, 1 (25). 202  So auch H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 91. 203  Dafür etwa A. v. Mutius, Art. 19 Abs. 3 Rn. 22, 51; K. Stern, Staatsrecht III / 1, S. 1110; W. Krebs, Art. 19 Rn. 32; G. Roellecke, Art. 19 Abs. 1–3 Rn. 103 ff.; W. Rüfner, HStR IX, § 196 Rn. 78; H. D. Jarass, Art. 19 Rn. 15; B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 112. 204  BVerfGE 19, 52 (55 f.). 205  BVerfGE 3, 359 (363); 12, 6 (8); 18, 441 (447); 21, 362 (373); 64, 1 (11); 75, 192 (200).



D. Inländische juristische Personen des öffentlichen Rechts39

Diese gelten nach dem Bundesverfassungsgericht sowohl für deutsche juristische Personen des Privatrechts206 als auch für ausländische207 und sogar staatliche208 juristische Personen. Dies wird damit begründet, dass es sich bei diesen Rechten um zentrale Verfahrensgrundsätze zur Sicherung eines rechtsstaatlichen Verfahrens handele. Aus Gründen der Fairness und Gleichbehandlung müsse sich jeder auf sie berufen können209. Diesbezüglich wird aber vertreten, dass es dann nicht der Anwendung des Art. 19 Abs. 3 GG bedürfe, sondern sich die weite Anwendung dieser Rechte unmittelbar aus ihrer Auslegung ergebe210. Mit dieser Herangehensweise wird die objektive Wertentscheidung des Grundgesetzes dergestalt in den Fokus gerückt, dass sie allein die Anwendbarkeit begründet. Auch die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG ist schließlich nach ganz herrschender Meinung auf juristische Personen des Privatrechts anwendbar211.

D. Inländische juristische Personen des öffentlichen Rechts Hoch umstritten und Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Abhandlungen ist die Erstreckung des Grundrechtsschutzes durch Art. 19 Abs. 3 GG auf juristische Personen des öffentlichen Rechts. Der praktische Grund für diese Diskussion liegt in dem Bestreben einer grundrechtsspezifischen Absicherung öffentlich-rechtlicher Funktionsträger gegenüber einem ihnen übergeordneten Gemeinwesen212. In theoretischer Hinsicht widerstreiten ein an­ thropozentrisches und ein funktionales Grundrechtsverständnis.

I. Grundsatz der Nichtgeltung der Grundrechte Nach seinem Wortlaut eröffnet Art. 19 Abs. 3 GG juristischen Personen Grundrechtsschutz, ohne solche des öffentlichen Rechts auszunehmen. Damit liegt der Schluss nahe, dass diese Erstreckung sämtliche juristische Personen betreffen soll. Auch bei der Entstehung dieser Norm wurde die Grundrechts206  BVerfGE

3, 359 (363). 12, 6 (8); 18, 441 (447); 21, 362 (373); 64, 1 (11); BVerfG (K), NVwZ 2008, 670 (670). 208  BVerfGE 6, 45 (49 f.); 13, 132 (139); 18, 441 (447); 21, 362 (373); 61, 82 (104); 75, 192 (200); zustimmend etwa H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 40; kritisch: P. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 325: „Systembruch“. 209  BVerfGE 12, 6 (8); 61, 82 (104 f.). 210  H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 40. 211  BVerfGE 80, 244 (250); statt aller K. Stern, Staatsrecht III / 1, S. 1110. 212  H. Bethge, Grundrechtsberechtigung, S. 63. 207  BVerfGE

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1. Kap.: Art. 19 Abs. 3 GG

trägerschaft öffentlicher juristischer Personen ausdrücklich mitbedacht213. Mit diesem Befund ist ein genereller Ausschluss juristischer Personen des öffentlichen Rechts aus der Erstreckung des Grundrechtsschutzes des Art. 19 Abs. 3 GG nur schwer zu vereinen214. Daraus kann jedoch nicht auf eine prinzipielle Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des öffentlichen Rechts geschlossen werden215. Eine Einschränkung des Kreises der Grundrechtsträger hat aber nicht über das Merkmal der „juristischen Person“, sondern – wie bereits dargelegt – nur über das Merkmal der wesensmäßigen Anwendbarkeit der Grundrechte zu erfolgen216, auch wenn diese Einschränkung nicht mit dem Ziel eingeführt wurde, den Kreis der Grundrechtsträger einzugrenzen217. Das Bundesverfassungsgericht lehnt in seiner ständigen Rechtsprechung die Grundrechtsträgerschaft juristischer Personen des öffentlichen Rechts grundsätzlich ab218. Dies gilt insbesondere, soweit juristische Personen in der Funktion betroffen sind, ihnen gesetzlich zugewiesene und geregelte öffentliche Aufgaben wahrzunehmen219. Aber auch im Übrigen nimmt es für juristische Personen des öffentlichen Rechts keine Grundrechtsberechtigung an220. Das Bundesverfassungsgericht begründet sein Ergebnis damit, dass die Freiheits- und Gleichheitsrechte ihrer verfassungs- und ideengeschicht­ lichen Herkunft wie auch ihrer funktionalen Eigenart gemäß dem Schutz natürlicher Personen gegenüber der Staatsgewalt dienten221. Die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben durch staatliche Funktionsträger lasse sich zudem nicht als vermittelter Ausdruck der freien Entfaltung natürlicher Personen und damit als Wahrnehmung ursprünglicher Freiheitsrechte begreifen222. Insbesondere sei eine Erstreckung des Grundrechtsschutzes auch mit dem 213  JöR

1 (1951), 177 ff. Art. 19 Abs. 3 Rn. 56; ähnlich R. Dreier, Grundrechtssubjektivität, S. 85; K. Stern, Staatsrecht III / 1, S. 1106. 215  H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 56; anders F. Ossenbühl, Geltung, S. 891 f., der die Grundrechtsberechtigung aller juristischen Personen aus der objektiven Wertentscheidung der Grundrechte ableitet. 216  So auch B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 31. 217  Siehe JöR 1 (1951) 177 ff. 218  Ständige Rechtsprechung: BVerfGE 21, 362 (372); 26, 228 (244); 35, 263 (271); 107, 299 (309 f.); BVerfG, Urt. v. 6.12.2016 – 1 BvR 2821 / 11, 2 BvR 321 / 12, 2 BvR 1456 / 12, juris-Rn. 188. 219  BVerfGE 45, 63 (78 f.); 68, 193 (206); 75, 192 (196). 220  BVerfGE 61, 82 (108); BVerfG (K), NVwZ 2002, 1366 (1366). 221  BVerfGE 21, 362 (377); 77, 340 (344); BVerfG (K), NJW 1995, 582 (583); NJW 1997, 1634 (1634); DVBl. 116, 1 (2001), 63 (63); BVerfG (K), NVwZ 2005, 572 (573); BVerfG (K), NvwZ 2008, 671 (671). 222  „Wesensargument“, BVerfGE 68, 193 (206); 75, 192 (196); BVerfG (K), NVwZ 1994, 262 (262). 214  H. Dreier,



D. Inländische juristische Personen des öffentlichen Rechts41

Sinne der Grundrechte, den Schutz des Einzelnen vor Eingriffen der staatlichen Gewalt zu gewährleisten, nicht zu vereinbaren223. Eine juristische Person des öffentlichen Rechts sei vielmehr Teil der einheitlichen Staatsgewalt und könne nicht zugleich grundrechtsverpflichtet und grundrechtsberechtigt sein224. Diese Ansicht findet auch in der Literatur Zustimmung. Nach ganz herrschender Meinung sind etwa der Staat als solcher, Gemeinden und andere Gebietskörperschaften nicht grundrechtsberechtigt225. Vertreter der Durchgriffsthese stützen die Ablehnung der Grundrechtsberechtigung auf das fehlende personale Substrat. So wird insbesondere angeführt, bei der Auslegung des Art. 19 Abs. 3 GG sei stets die Sinnrichtung der Grundrechte zu beachten, so dass als maßgebliches Wesensmerkmal die Sicherung der Freiheit der natürlichen Person im Vordergrund zu stehen habe226. Der generelle Ausschluss juristischer Personen des öffentlichen Rechts von der Grundrechtsberechtigung gelte daher unabhängig davon, ob sie gesetzlich zugewiesene Aufgaben wahrnehmen oder am Privatrechtsverkehr teilnehmen, und gleichgültig, ob sie mit den Mitteln hoheitlicher Gewalt, mit sonstigen Mitteln des öffentlichen Rechts oder in den Rechtsformen des Privatrechts handeln227. Auch die Tatsache, dass einer staatlichen juristischen Person Eigentum nach dem Zivilrecht zusteht, sie auf eine Handlungsform des Privatrechts zurückgreift oder sie ähnlich einem Privaten am Wettbewerb teilnimmt, ändere nichts daran, dass sie in Wahrnehmung staatlicher Kompetenzen und nicht in Ausübung grundrechtlicher Freiheit tätig werde228. Dies gelte selbst dann, wenn sich die erwerbswirtschaftliche Betätigung einer juristischen Person des öffentlichen Rechts von der Tätigkeit privater Unternehmer faktisch kaum unterscheide229. Da es sich bei juristischen Personen des öffentlichen Rechts zumeist nicht um ein organisatorisches Medium menschlicher Freiheitsbetätigung handele, lasse sich ihr Grundrechtsschutz grundsätzlich nicht mit dem Gedanken eines Durchgriffs auf die die Organisation tragenden Menschen rechtfertigen230. Juristische Personen des öffentlichen Rechts gehörten vielmehr zur Sphäre der organisierten öffentlichen Gewalt und werden gemäß Art. 1 Abs. 3 GG durch die Grundrechte verpflichtet. Sie seien mithin 223  BVerfGE

21, 362 (369 f.); 59, 231 (255). BVerfGE 21, 362 (369 ff.); 68, 193 (206); BVerfG, Urt. v. 6.12.2016 – 1 BvR 2821 / 11, 2 BvR 321 / 12, 2 BvR 1456 / 12, juris-Rn. 192. 225  W. Graf Vitzthum, HGR II, § 48 Rn. 12; W. Rüfner, HStR IX, § 196 Rn. 110. 226  H. Bethge, Grundrechtsberechtigung, S. 65. 227  P. Badura, Staatsrecht, Rn. C14, S. 105 f. 228  B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 7. 229  B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 47. 230  M. Sachs, Art. 19 Rn. 90. 224  „Konfusionsargument“,

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1. Kap.: Art. 19 Abs. 3 GG

nicht Träger, sondern Adressaten der Grundrechte231. Die Grundrechte selbst dienten ausschließlich dem Schutz des Bürgers vor dem Staat, so dass eine Umfunktionierung zu Schutznormen zugunsten des Staates zu einer Umfunktionierung des Wesens und des Sinns der Grundrechte führen würde232. Ausgehend von diesem verfassungsrechtlichen Grundgedanken können juristische Personen des öffentlichen Rechts nach verbreiteter Ansicht aufgrund der Gesamtausrichtung der Grundrechte in der Regel nicht zugleich auch grundrechtsberechtigt sein233. Aus diesem „Konfusionsargument“ heraus wird also eine rechtsformspezifische Vermutung gegen die Grundrechtsberechtigung staatlicher oder kommunaler Verwaltungsträger angenommen234. Aber auch das Konfusionsargument ist nicht unangegriffen geblieben. Zum einen gebe das Grundgesetz keinen Anlass zur Konfusionssorge. Vielmehr gebe es durch Art. 1 Abs. 3 GG eine handlungs- und organorientierte Grundrechtsbindung vor, während Art. 19 Abs. 3 GG für die Grundrechtsberechtigung an die juristische Person als solche knüpfe und lediglich die Wesensklausel zur ­ Einschränkung heranziehe235. Das Grundgesetz selbst trenne nicht zwischen staatlich und privat, es unterscheide lediglich zwischen formalen Grundrechtsadressaten und materieller Grundrechtsberechtigung236. Dementsprechend verknüpfe das Konfusionsargument sachwidrige Fragen miteinander237. Zudem setze das Konfusionsargument die Staatsorganisation als monolithischen Block voraus, was dem differenzierten Verwaltungsgefüge nicht gerecht werde238. Vielmehr sei es nicht unmöglich, dass der Staat gleichzeitig grundrechtsverpflichtet und -berechtigt sein könne, da es auch rechtslogisch nicht ausgeschlossen sei, dass derselbe Rechtsträger in unterschiedlichen Rechtsbeziehungen unterschiedlich gebunden und berechtigt sei239. Die 231  J. Burmeister, Grundrechtsverständnis, S. 79 ff.; A. v. Mutius, Art. 19 Abs. 3 Rn. 94; H. Bethge, Grundrechtskollisionen, S. 56; ders., Grundrechtsträgerschaft, S. 4; H. Dreier, Art 19 Abs. 3 Rn. 57. 232  H. Bethge, Grundrechtsberechtigung, S. 64. 233  BVerfGE 15, 256 (262); 21, 362 (369 f.); BVerfG (K), NVwZ-RR 2009, 361 (361) für das „Konfusionsargument“; in der Literatur etwa; G. Dürig, BayVBl. 1959, 201 (201); H. Bethge, Grundrechtsberechtigung, S. 61 f. 234  H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 57; zustimmend B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 45. 235  M. Goldhammer, JuS 2014, 891 (894). 236  M. Goldhammer, JuS 2014, 891 (894). 237  M. Goldhammer, JuS 2014, 891 (894). 238  H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 59; H. Scholler / S. Broß, DÖV 1978, 238 (244); G. F. Schuppert, Die Erfüllung öffentlicher Aufgaben durch verselbständigte Verwaltungseinheiten, S.  6 ff.; H. Dreier, Verwaltung, S. 86. 239  K. A. Bettermann, NJW 1969, 1321 (1323); in diese Richtung auch R. Dreier, Grundrechtssubjektivität, S. 81 (86 f.); H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 59; J. Burmeister, Grundrechtsverständnis. S. 81; F. E. Schnapp, HGR II, § 52 Rn. 27; F. Schoch,



D. Inländische juristische Personen des öffentlichen Rechts43

strikte Differenzierung zwischen Staat und Gesellschaft sei längst über­ kommen und entspreche mehr dem starren Trennungsgedanken des 19. Jahrhunderts als den Bedürfnissen eines in die Wirtschaft eingreifenden Sozialstaates240. Dies ergebe sich schon daraus, dass überhaupt Zwischenformen wie gemischtwirtschaftliche Unternehmen zugelassen seien241. So gebe es inszwischen zwischen der privaten und der staatlichen Sphäre eine dritte Kategorie des Öffentlichen242. Auch die inzwischen allgemein anerkannte Ausnahmetrias243 zeige, dass dieselbe juristische Person zugleich grundrechtsberechtigt und grundrechtsverpflichtet sein kann244. Mit dieser Begründung wird das Konfusionsargument teilweise sogar als „haltlos“ beschrieben245. Aber auch nach dem Ansatz vom Erfordernis einer grundrechtstypischen Gefährdungslage liegt nach verbreiteter Ansicht die Annahme nahe, es fehle bei juristischen Personen des öffentlichen Rechts grundsätzlich an einer solchen246. Juristische Personen des öffentlichen Rechts werden auch nach diesem Ansatz selbst als Teil der Staatsgewalt angesehen, so dass sie dieser dementsprechend anderes gegenüberstehen als natürliche Personen und juristische Personen des Privatrechts. Beeinträchtigt eine juristische Person des öffentlichen Rechts eine andere unter Einsatz ihrer hoheitlichen Gewalt, wird angenommen, dass es sich um Konflikte innerhalb der staatlichen Sphäre im weitesten Sinne handele. Die beeinträchtigten Interessen stünden dann im Zusammenhang mit Funktionen der öffentlichen Gewalt247. Ein Grundrechtsschutz für Staatsfunktionen sei aber im Rahmen des Grundgesetzes ein Fremdkörper. Konflikte innerhalb der öffentlichen Gewalt könnten nicht über die spezifisch auf das Verhältnis zwischen Staat und Bürger ausgerichteten Grundrechte gelöst werden248. Nach dieser Ansicht handelt es sich dann lediglich um Kompetenzkonflikte, für die kein Grundrechtsschutz erforderlich Jura 2001, 201 (204); D. Krausnick, JuS 2008, 965 (966 f.); dazu kritisch hingegen J. A. Kämmerer, Privatisierung, S. 467, der die Vorstellung gleichzeitiger Grundrechtsinhaberschaft und -verpflichtung als absurd bezeichnet. 240  H. Scholler / S. Broß, DÖV 1978, 238 (243). 241  J. Isensee, in: HStR IX, § 199 Rn. 1. 242  M. Goldhammer, JuS 2014, 891 (894). 243  Siehe dazu unter D. II. 1; weitergehend etwa W. Rüfner, HStR IX, § 196 Rn.  120 ff. 244  H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 59; R. Dreier, Grundrechtssubjektivität, S. 86; M. Goldhammer, JuS 2014, 891 (894). 245  F. Schoch, Jura 2001, 201 (204); ähnlich F. E. Schnapp, HGR II, § 52 Rn. 27; zustimmend D. Krausnick, JuS 2008, 965 (966 f.). 246  M. Sachs, Art.  19 Rn.  91 m. w. N. 247  M. Sachs, Art. 19 Rn. 91. 248  M. Sachs, Art. 19 Rn. 91.

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1. Kap.: Art. 19 Abs. 3 GG

und anwendbar sei. Andere Vertreter der Lehre von der grundrechtstypischen Gefährdungslage differenzieren hingegen, in welchem Verhältnis die betroffene juristische öffentliche Person zu der staatlichen Stelle steht, von welcher der Eingriff vorgenommen wurde. Diese funktionale Betrachtungsweise lässt allerdings Raum für die Annahme von Ausnahmen249.

II. Ausnahmen Unabhängig davon, welchem Ansatz im Übrigen gefolgt wird, sind von dem Grundsatz der prinzipiellen Unanwendbarkeit der Grundrechte auf juristische Personen des öffentlichen Rechts in Rechtsprechung und Literatur Ausnahmen anerkannt. Diese Ausnahmen betreffen Konstellationen, in denen der Rechtsträger als rechtsfähige juristische Person des öffentlichen Rechts einem grundrechtlich geschützten Lebensbereich unmittelbar zugeordnet ist oder ihm kraft seiner Eigenart von vornherein zugehört250 und so als staatsunabhängige oder staatsdistanzierte Einrichtung anzusehen ist251. Dabei soll es nicht auf die rechtliche Organisation der juristischen Person etwa als Anstalt oder Körperschaft des öffentlichen Rechts ankommen, sondern vielmehr auf den materiellen Bezug252. Insbesondere reicht es für eine Anerkennung der Grundrechtsfähigkeit nicht, dass öffentlich-rechtlich organisierte staatliche Institutionen Inhaber von Privateigentum sind253, in privatrechtlicher Handlungsform tätig werden254 oder sich erwerbswirtschaftlich betätigen255. Insbesondere wenn die juristische Person dem Staat gegenüber verselbständigt ist und ihm in einer Außenrechtsbeziehung gegenübersteht, ist das Bestehen einer grundrechtstypischen Gefährdungslage möglich und naheliegend256. M. Sachs, Art. 19 Rn. 92. 75, 192 (196). 251  Ständige Rechtsprechung: BVerfGE 21, 362 (373); 45, 63 (79); 61, 82 (103); 68, 193 (207); 75, 192 (196 f.); BVerfG (K), NVwZ 2005, 572 (574); 2007, 1420 (1420 f.); 2007, 1176 (1176); 2008, 778 (778); BVerfG (K), NVwZ-RR 2009, 361 (361); so auch BayVerfGH BayVBl. 42, 2 (1996), 656 (656); BerlVerfGH NVwZ 2000, 549 (549); SächsVerfGH NJW 1997, 3015 (3015); H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 60. 252  BVerfGE 21, 362 (373); 45, 63 (79); 61, 82 (103); 68, 193 (207); 75, 192 (196 f.); BVerfG (K), NVwZ 2005, 572 (574); 2007, 1420 (1420 f.); 2007, 1176 (1176); 2008, 778 (778 f.); BVerfG (K), NVwZ-RR 2009, 361 (361). 253  BVerfGE 61, 82 (108). 254  H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 69; B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 47; W. Krebs, Art. 19 Rn. 46, 48; H. Bethge, Grundrechtsberechtigung, S. 100; W. Rüfner, HStR IX, § 196 Rn. 113. 255  M. Ronellenfitsch, HStR IV, § 98 Rn. 41; W. Graf Vitzthum, HGR II, § 48 Rn. 27; W. Krebs, Art. 19 Rn. 48; H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 69. 256  K. A. Bettermann, NJW 1969, 1321 (1326); A. v. Mutius, Art. 19 Abs. 3 Rn.  114 f.; ders., JuS 1977, 319 (321 f.); ders., Jura 1983, 30 (35); K. Kröger, JuS 249  Dazu

250  BVerfGE



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1. Die klassische Ausnahmetrias Das Bundesverfassungsgericht hat für drei Sonderfälle – namentlich für Kirchen, Universitäten und Rundfunkanstalten – die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des öffentlichen Rechts anerkannt. Insgesamt betreffen die Ausnahmen öffentlich-rechtlich organisierte Rechtsträger, die einem durch die Grundrechte geschützten Lebensbereich unmittelbar zuzuordnen sind257 und in diesem grundrechtsrelevant tätig werden. Dies wird teilweise als Zustimmung zur Lehre vom personalen Substrat gewertet, da sich zumindest bei Universitäten und Kirchen die Grundrechtsberechtigung aus dem Schutz der natürlichen Personen ergebe, die in ihnen und mit ihnen ihre grundrechtlichen Freiheiten ausüben258. Teilweise wird die Anerkennung dieser Ausnahmen jedoch auch als Zustimmung zu dem Ansatz von der grundrechtstypischen Gefährdungslage verstanden259. Für dieses Verständnis spricht, dass es sich jeweils um Konstellationen handelt, in denen eine juristische Person des öffentlichen Rechts in einem Bereich tätig wird, der einem grundrechtlich geschützten Lebensbereich unmittelbar und typischerweise angehört, und sie dem Staat in diesem Bereich wie ein Privater gegenübersteht und insoweit auch wie ein Privater schutzbedürftig ist. Religionsgesellschaften etwa wurzeln als Ausdruck gemeinsamer Grundrechtsbetätigung im außerstaatlich-gesellschaftlichen Bereich und nehmen diesbezüglich keine staatlichen Aufgaben wahr. Sie sind nicht vom Staat geschaffen und üben keine staatliche Gewalt aus260. Vielmehr verwirklichen sie die durch Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG grundrechtlich geschützten Inte­ ressen ihrer Mitglieder, ihre Tätigkeit beruht auf der Ausübung individueller, grundrechtlich geschützter Freiheit261. Dies gilt auch für öffentlich-rechtlich verfasste Religionsgesellschaften nach Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 5 Satz 1 WRV262. Materiell betrachtet bleiben auch öffentlichrechtliche Religionsgesellschaften trotz ihrer besonderen Rechtsform außerhalb der staatlichen Sphäre, denn auch sie stehen der Staatsgewalt wie pri1981, 26 (29); H.-U. Erichsen / A. Scherzberg, NVwZ 1990, 8 (11); B. Pieroth, NWVBl. 1992, 85 (88); B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 27. 257  Zusammenfassend etwa BVerfGE 21, 362 (373); 31, 314 (322); 75, 192 (216); BVerfG, Urt. v. 6.12.2016  – 1 BvR 2821 / 11, 2 BvR 321 / 12, 2 BvR 1456 / 12, jurisRn. 189. 258  B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 49. 259  H. Bethge, Grundrechtsberechtigung, S. 67. 260  BVerfGE 18, 385 (386 f.); 19, 1 (5); 21, 362 (374); 42, 312 (321); 53, 366 (387). 261  B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 GG (2009) Rn. 50. 262  BVerfGE 30, 112 (119 f.); 42, 312 (321);53, 366 (386 f.); 70, 138 (160 f.); 102, 370 (383).

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1. Kap.: Art. 19 Abs. 3 GG

vatrechtlich organisierte Grundrechtsträger in einer grundrechtstypischen Gefährdungslage gegenüber263. Insoweit wird ihre öffentlich-rechtliche Organisationsform als „atypisch“264, teilweise sogar als „akzidentiell“265 bezeichnet. Umstritten ist allerdings, ob ihre Grundrechtsfähigkeit auf die religionsspezifischen Grundrechte aus Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG begrenzt ist oder sie sich vielmehr auf alle Grundrechte erstreckt, die auch für juristische Personen des Privatrechts Anwendung finden266. Das Bundesverfassungsgericht hat jedenfalls angenommen, dass Religionsgesellschaften Träger des Grundrechts aus Art. 3 Abs. 1 GG sein können267. Soweit öffentlich-recht­ lichen Religionsgemeinschaften Hoheitsaufgaben zur Wahrnehmung übertragen sind, was namentlich bei der Steuererhebung der Fall ist, sind sie diesbezüglich nicht grundrechtsgeschützt268. Dies stellt aber ihre Grundrechtsfähigkeit im Übrigen nicht in Frage269. Die zweite Ausnahme besteht für Universitäten und ähnliche Einrichtungen des Staates und ihre Untergliederungen, die für die in ihnen tätigen Menschen ein Instrument zur Realisierung der Wissenschaftsfreiheit darstellen270. Diese Einrichtungen werden zwar vom Staat getragen und beruhen auch meist auf einem staatlichen Gründungsakt271. Jedoch sind sie in Bezug auf Wissenschaft, Lehre und Forschung unabhängig vom Staat und verteidigen das Grundrecht aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG272. Denn der Staat hat sich mit dem Betrieb von Universitäten eine Aufgabe als Staatsaufgabe zu Eigen gemacht, für die er jedem, der dieses Aufgaben als natürliche Person wahrnimmt, den Schutz aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG garantiert273. Ein Hochschullehrer beispielsweise, der im Rahmen einer staatlichen Universität wissenschaftlich tätig wird, übt zugleich sein Amt und seine Wissenschaftsfreiheit aus274.

263  M.

Sachs, Art.  19 Rn.  94 m. w. N. Art. 19 Abs. 3 GG (2009) Rn. 50. 265  G. Dürig, Art. 19 Abs. 3 (1977), Rn 41; übernommen auch in die Neuauflage B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009), Rn. 50; zustimmend auch H. Bethge, Grundrechtsberechtigung, S. 78. 266  Zum Streitstand: H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 63. 267  BVerfGE 19, 1 (5); 30, 112 (120). 268  BVerfGE 30, 415 (422); BVerfG (K), NVwZ 2002, 1496 (1497); B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 50. 269  M. Sachs, Art. 19 Rn. 94. 270  BVerfGE 15, 256 (262). 271  B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 51. 272  BVerfGE 15, 256 (262). 273  B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 51. 274  B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 51. 264  B. Remmert,



D. Inländische juristische Personen des öffentlichen Rechts47

In Parallele dazu werden auch öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten als Träger des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG anerkannt275. Hier ist eine Begründung durch den Schutz der hinter den Rundfunkanstalten stehenden natürlichen Personen allerdings nicht besonders naheliegend. Denn innerhalb der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt wird kein Organ und kein Mitarbeiter für sich rundfunkintern individualrechtlich aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG berechtigt276. Vielmehr geht es an dieser Stelle von vornherein um einen institutionellen Schutz. Daraus ergibt sich folgende Schutzkonstellation: Der Staat ist durch Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG objektiv-rechtlich verpflichtet, für einen inhaltlich staatsfreien Rundfunk zu sorgen277. Daraus ergibt sich ein „dienender“ Grundrechtsschutz278 für die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, der zur effektiven Durchsetzung der objektiv-rechtlichen Pflichten aus Art. 5 Abs. 1 GG erforderlich ist279. Allerdings können sich öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten nach überwiegender Ansicht grundsätzlich nur auf Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG berufen280. Ungeachtet ihrer öffentlich-rechtlichen Organisationsform stehen diese in ihrem Bedürfnis nach Pressefreiheit dem Staat selbständig gegenüber, um die Freiheit des Rundfunks zu gewährleisten. Auch durch die Zulassung privater Rundfunkanstalten hat sich an der Unabhängigkeit der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten nichts geändert281. Diese Ausnahmen zeigen, dass auch für die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des öffentlichen Rechts grundsätzlich sowohl ein Durchgriff als auch die Annahme einer grundrechtstypischen Gefährdungslage nicht auszuschließen sind. 2. Weitere Ausnahmen Fraglich ist, ob weitere juristische Personen des öffentlichen Rechts grundrechtsberechtigt sein können. Daraus, dass sich die Anerkennung der drei dargestellten Ausnahmen aus einer funktionellen Betrachtungsweise ergibt, die sowohl den Ansatz vom personalen Substrat als auch den von der grund275  BVerfGE

31, 314 (322); 107, 299 (310); 119, 181 (211). Grundrechtskollisionen, S. 176 ff.; so auch B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 52. 277  BVerfGE 57, 295 (320); H. Bethge, Art. 5 Rn. 101. 278  BVerfGE 57, 295 (320); 95, 220 (236); H. Bethge, Art. 5 Rn. 92 f., 106. 279  B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 53. 280  BVerfGE 59, 231 (225); 78, 101 (102 f.); BVerfG, NJW 2007, 3197 (3199); eine Ausnahme hat das Bundesverfassungsgericht für Art. 10 GG gemacht BVerfGE 107, 299 (312); vereinzelt wird vertreten, auch Art. 5 Abs. 1 S. 1und Art. 5 Abs. 1 GG seien anwendbar, vgl. hierzu W. Rüfner, HStR IX, § 196 Rn. 121. 281  M. Sachs, Art. 19 Rn. 97. 276  H. Bethge,

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1. Kap.: Art. 19 Abs. 3 GG

rechtstypischen Gefährdungslage einbezieht, liegt die Annahme weiterer Ausnahmen nahe. Zu diskutieren ist dabei vor allem, ob es weitere öffentlich-rechtlich organisierte, aber dennoch als privat einzuordnende Organisationen gibt282. Dies scheint etwa dann möglich, wenn der Staat einer Organisation – aufgrund historischer Besonderheiten, besonderer Schutzbedürftigkeit oder als Anerkennung für eine gemeinwohlorientierte Aufgabenstellung – eine öffentlichrechtliche Rechtsstellung einräumt, deren Gründung, die individuellen Mitgliedschaften, die Willensbildung und die Tätigkeit im Allgemeinen aber ausschließlich auf der Ausübung individueller Freiheit beruhen283. Eine solche Organisation kann dann trotz ihrer Rechtsform privat sein. Als Beispiel wird etwa das Bayerische Rote Kreuz angeführt284. Dessen Grundrechtsberechtigung ist jedoch abzulehnen, soweit ihm auch die Wahrnehmung staat­ licher Zuständigkeiten übertragen ist. Denn dann ist es jedenfalls hinsichtlich dieser Zuständigkeiten partiell staatlich285. Im Schrifttum wird außerdem vertreten, auch anderen verselbständigten Einrichtungen des Kulturlebens in öffentlicher Trägerschaft die Grundrechtsfähigkeit insbesondere für die Kunstfreiheit anzuerkennen286. Auch hier besteht eine Außenrechtsbeziehung zum Staat als Hoheitsträger, die juristische Person wird unmittelbar in einem grundrechtlich geschützten Lebensbereich tätig und kann dabei aber auch der individuellen Freiheitsausübung der hinter ihr stehenden juristischen Personen dienen. Neuere Entwicklungen bezüglich der Anerkennung einer Grundrechts­ berechtigung für juristische Personen des öffentlichen Rechts zeichnen sich im Bereich der Innungen ab. Inzwischen nimmt das Bundesverfassungsgericht in diesem Bereich die Möglichkeit weiterer Ausnahmen an287. So hat es bereits die Grundrechtsfähigkeit von Orthopädietechniker-Innungen anerkannt288. Begründet hat es diese Annahme mit der Stellung als echte Interessenvertretung der Mitglieder; insoweit nahm es eine Gleichstellung mit pri282  B. Remmert,

Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 54. Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 54. 284  F. Knöpfle, Körperschaften, S. 93 (98); U. Di Fabio, BayVBl. 1999, 449 (449 f.). 285  B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 54. 286  H. Bethge, Art. 5 Rn. 192; W. Rüfner, HStR IX, § 196 Rn. 123; P. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 273; W. Graf Vitzthum, HGR II, § 48 Rn. 29; K. Stern, Staatsrecht IV / 2, S. 667 ff. 287  Das Bundesverfassungsgericht zeigte sich bereits mit BVerfGE 61, 82 (103 f.) offen für Erweiterungen. 288  BVerfGE 70, 1 (15  ff.); anders aber das Bundesverwaltungsgericht für die Handwerksinnung, vgl. BVerwGE 90, 88 (95). 283  B. Remmert,



D. Inländische juristische Personen des öffentlichen Rechts49

vaten Berufsverbänden an289. Nicht grundrechtsfähig seien Innungen allerdings insoweit, als sie ihnen gesetzlich zugewiesene und geregelte öffentliche Aufgaben wahrnehmen290. Maßgebliches Kriterium soll hier allerdings nicht allein die Aufgabenwahrnehmung sein, vielmehr sei auf staatliche Zuständigkeiten abzustellen291. Auch in der Literatur fand diese Entscheidung Zustimmung. So sprächen insbesondere die Entstehungsgeschichte der Innungen, die Möglichkeit ihrer freiwilligen Gründung und der selbständigen Auflösung dafür, die Innungen als private Einrichtungen in atypischer, öffentlich-rechtlicher Organisationsform zu betrachten. Als maßgeblich für die Anerkennung der Grundrechtsberechtigung wird dabei bewertet, ob sich die konkret wahrgenommene Tätigkeit als Wahrnehmung einer staatlichen zugewiesenen Aufgabe darstellt oder ob sie den Mitgliedern bei der Wahrnehmung ihrer grundrechtlichen Freiheiten dient292. Jedoch blieb diese Entscheidung nicht ohne Kritik. Sie schaffe Rechtsunsicherheit und lasse nur schwer eine Prognose zu, inwieweit juristischen Personen des öffentlichen Rechts eine Grundrechtsberechtigung zukünftig zu- oder aberkannt werde293. Im Übrigen ist diese Überlegung zur Ausdehnung der Anerkennung der Grundrechtsberechtigung nur in engen Grenzen der Verallgemeinerung fähig, soweit juristische Personen des öffentlichen Rechts als Organisationsform eingeführt sind, um als echte Interessenvertretung der in ihnen zusammengeschlossenen Grundrechtsträger zu agieren, weil damit die Möglichkeit grundrechtsrelevanter Konflikte mit der Staatsgewalt eröffnet sei294. Nicht ausreichend für die Annahme eines Ausnahmetatbestandes ist jedoch, dass die Aufgabenwahrnehmung einer juristischen Person des öffentlichen Rechts der Verwirklichung der Grundrechte betroffener Bürger förderlich ist. Dies allein macht den Verwaltungsträger nicht zum „grundrechtsgeschützten Sachwalter“ des Einzelnen. Die Aufgabenwahrnehmung bleibt dem Gemeinwohl verpflichtet295. Erst Recht besteht keine Grundrechtsträgerschaft aufgrund einer „Sachwalterstellung“, soweit sich eine juristische Person außerhalb des Bereichs der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben bewegt296. Unabhängig von der Frage nach der Grundrechtsfähigkeit können Träger der öffentlichen Verwaltung Eigentümer im Sinne des Privatrechts sein und ihr Eigentum im Rahmen der Rechtsordnung frei nutzen. Das Bundesverfassungsgericht hat 289  BVerfGE

70, 1 (15 ff.). 68, 193 (208); B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 55. 291  B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 55; C. Möllers, Staat als Argument, S. 333. 292  B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 55. 293  H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 67. 294  M. Sachs, Art. 19 Rn. 100. 295  BVerfGE 61, 82 (103 f.); BVerfG (K) NVwZ 2008, 778 (778). 296  BVerfGE 61, 82 (103). 290  BVerfGE

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1. Kap.: Art. 19 Abs. 3 GG

jedoch die Anwendung von Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG unter dem Vorbehalt ganz besonderes gelagerter Fälle ausgeschlossen, soweit Eigentum der Kommunen lediglich zu einem wirtschaftlichen Zweck genutzt wird, da hier keine grundrechtstypische Gefährdungslage bestehe297. Trotz der restriktiven Haltung des Bundesverfassungsgerichts kann eine Grundrechtsträgerschaft juristischer Personen des öffentlichen Rechts im Ergebnis nicht allgemein ausgeschlossen werden. Vielmehr muss diese Frage mit dem Ziel größtmöglicher Effektivität der Grundrechte bereichsspezifisch mit Rücksicht auf die Eigenart des Rechtsträgers, des betroffenen Grundrechts, die wahrgenommenen Aufgaben und die Beziehungen zu den Mitgliedern und den sonst betroffenen Grundrechtsträgern geprüft werden298. Es ist also auch hier stets eine Betrachtung des Einzelfalls geboten. 3. Inhaltsfragen Unabhängig von den oben dargestellten Aspekten finden nach herrschender Meinung Art. 101 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 1 GG auch zugunsten juristischer Personen des öffentlichen Rechts Anwendung299. Keine Anwendung soll hingegen Art. 19 Abs. 4 GG finden300. Abweichendes gilt nur, soweit eine juristische Person des öffentlichen Rechts Träger verfassungsrechtlich garantierter Grundrechte ist, also ein Ausnahmefall vorliegt301. Problematisch ist zudem die Anwendbarkeit des Art. 17 GG, die im Ergebnis jedoch überwiegend bejaht wird302. Nicht anwendbar ist Art. 3 Abs. 1 GG zugunsten juristischer Personen des öffentlichen Rechts303. Das Willkürverbot hingegen gilt auch innerhalb des hoheitlichen Staatsaufbaus304, dies ergebe sich bereits aus dem Rechtsstaatsprinzip305. 297  BVerfGE

61, 82 (105). auch M. Sachs, Art. 19 Rn. 104. 299  Ständige Rechtsprechung: BVerfGE 13, 132 (140); 75, 192 (200); in der Literatur zustimmend K. A. Bettermann, NJW 1969, 1321(1322); H. Bethge, Grundrechtsberechtigung S. 92 f., der dies mit dem Erfordernis der Waffengleichheit begründet; K. Stern, Staatsrecht III / 1, S. 1155 f., 1468; W. Krebs, Art. 19 Rn. 32; N. Zimmermann, Schutzanspruch, S. 46 f.; kritisch P. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 325. 300  BVerfGE 39, 302 (316); BVerfG (K), NJW 2006, 2907 (2908); NVwZ-RR 2009, 361 (361). 301  BVerfGE 107, 299 (311). 302  Etwa K. Stern, Staatsrecht III / 1, S. 1147; A. v. Mutius, Art. 19 Abs. 3 Rn. 51; H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 42. 303  BVerfG (K), NVwZ 2007, 1420 (1421); 2008, 671 (671). 304  BVerfGE 21, 362 (372). 305  M. Sachs, Art. 19 Rn. 109. 298  So



D. Inländische juristische Personen des öffentlichen Rechts51

III. Vom Staat geschaffene juristische Personen des Privatrechts, privatrechtsförmige Handlungs- und Organisationsformen des Staates Die Rechtsordnung räumt dem Staat ausdrücklich die Möglichkeit ein, sich in Rechtsformen des Privatrechts zu organisieren und in diesen tätig zu werden. Dies wirft die Frage auf, ob diese „atypisch organisierten“306 juristischen Personen des öffentlichen Rechts grundrechtsberechtigt oder ob sie wie andere juristische Personen des öffentlichen Rechts vom Grundrechtsschutz auszunehmen sind. Teilweise wird ihre Grundrechtsberechtigung bejaht mit der Begründung, aus dem selbständigen privatrechtlichen Status der Gesellschaft folge, dass sie auch wie andere juristische Personen des Privatrechts grundrechtsfähig sein müsse307. Die wohl herrschende Ansicht geht jedoch davon aus, dass vom Staat geschaffene juristische Personen des Privatrechts, die Aufgaben und Funktionen der öffentlichen Verwaltung erfüllen, grundsätzlich nicht grundrechtsberechtigt sind308. Ansonsten könnte der Staat durch die Wahl der Rechtsform über seine Grundrechtsbindung und -berechtigung disponieren309. Außerdem ändere allein die Wahl der Rechtsform nichts daran, dass eine staatliche juristische Person in Wahrnehmung ihrer staatlichen Kompetenzen und nicht in Ausübung grundrechtlicher Freiheit tätig wird310. Dementsprechend kommt es nicht darauf an, in welcher Rechtsform ein Träger der öffentlichen Verwaltung tätig wird und ob er unmittelbar oder mittelbar durch eine vom ihm abhängige juristische Person des Privatrechts handelt311. So stellt ein in privater Rechtsform rechtlich verselbständigtes Unternehmen der Daseinsvorsorge, das sich vollständig in der Hand eines Trägers der öffentlichen Verwaltung befindet, nur eine besondere Erscheinungsform einer juristischen Person des öffentlichen Rechts dar, in der öffentliche Verwaltung ausgeübt wird312. für die Formulierung B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 Rn. 57. Püttner, Die öffentlichen Unternehmen, S. 120; B. Pieroth, NWVBl. 1992,

306  Vgl. 307  G.

85 (88). 308  BVerfGE 45, 63 (80); BVerfG, NJW 1980, 1093 (1093); H. Gersdorf, Öffent­ liche Unternehmen, S. 113; M. Sachs, Art. 19 Rn. 110; B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 57; H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 70; W. Krebs, Art. 19 Rn. 48; W. Graf Vitzthum, HGR II, § 48 Rn. 19; P. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 277. 309  BVerfGE 45, 63 (80); H. Bethge, Grundrechtsberechtigung, S. 102; H. Bethge, Grundrechtsträgerschaft, S.  10 f.; P. Selmer, HGR II, § 53 Rn. 28; W. Graf Vitzthum, HGR II, § 48 Rn. 19; H. Gersdorf, Öffentliche Unternehmen, S. 99 f., 104; P. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 276; H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 69; D. Krausnick, JuS 2008, 965 (968); B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 Rn. 57. 310  B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 Rn. 57. 311  M. Sachs, Art. 19 Rn. 110. 312  BVerfGE 45, 63 (80).

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1. Kap.: Art. 19 Abs. 3 GG

Auch wenn ein Teil einer gesetzlich geregelten Organisation durch staat­ lichen Akt Rechtsfähigkeit als juristische Person des Privatrechts erlangt, um in dieser Form durch Gesetz übertragene Aufgaben zu erfüllen, besteht keine Grundrechtsfähigkeit, wenn sich die juristische Person ausschließlich aus öffentlichen Rechtsträgern zusammensetzt313. Dies gilt auch für privatrecht­ liche Hilfsgeschäfte und die erwerbswirtschaftliche Tätigkeit der Verwaltung. Auch hier führen die Teilnahme am Markt und die Unterwerfung unter die Eigengesetzlichkeit ebenso wenig zu einer Befreiung von der Grundrechtsbindung. Der Staat erhält auf diese Weise weder Privatautonomie noch Grundrechtsberechtigung314. Bei Erfüllung öffentlicher Aufgaben unter Inanspruchnahme privatrechtlicher Organisationsformen wird die Grundrechtsberechtigung abgelehnt. Denn auch die in unterschiedlichen Formen realisierbare Verselbständigung könnte keine grundrechtsverschaffende Verwandlung des Verwaltungsträgers bewirken315. Insoweit ist jedoch zwischen Eigengesellschaften und gemischt-öffentlichen Unternehmen einerseits und gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen andererseits unterschieden. 1. Eigengesellschaften und gemischt-öffentliche Unternehmen Die ganz herrschende Meinung lehnt eine Grundrechtsberechtigung jedenfalls dann ab, wenn die öffentliche Hand – wie etwa bei sogenannten Eigengesellschaften – alle Anteile des von ihr gegründeten oder übernommenen Unternehmens selbst hält316. Dies wird damit begründet, dass eine Ausgliederung einzelner privatrechtlicher Organisationen aus dem Verwaltungsbereich nur schwerlich möglich sei317. Auch eine juristische Person des Privatrechts, deren alleiniger Aktionär eine Körperschaft des öffentlichen Rechts ist, kann sich ebenso wenig wie diese auf Individualgrundrechte berufen318. Das Bundesverfassungsgericht stützt dieses Ergebnis auf das Argument, dass ansonsten ein bloßer Wechsel der Rechtsform eine Grundrechtsberechtigung herbeiführen könnte319. Zudem würde in dieser Konstellation auch der erforderliche Bezug zum Frei-

313  BVerfGE

68, 193 (213). Art. 19 Abs. 3 Rn. 69. 315  H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 70. 316  J. Isensee, HStR IX, § 196 Rn. 134; P. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 278; H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 71. 317  B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 Rn. 58. 318  BVerfGE 45, 63 (80). 319  BVerfGE 45, 63 (80). 314  H. Dreier,



D. Inländische juristische Personen des öffentlichen Rechts53

heitsraum natürlicher Personen fehlen320. Ein anderes Ergebnis kommt jedoch zustande, wenn man zur Begründung der Erstreckung des Grundrechtsschutzes die Lehre von der grundrechtstypischen Gefährdungslage heranzieht321. Danach ist die Annahme der Grundrechtsfähigkeit von staatlichen Eigengesellschaften grundsätzlich möglich, wenn diese dem Staat an sich wie ein Privater gegenüberstehen und sich in einer Situation befinden, wie sie typisch ist bei einem Eingriff in das streitgegenständliche Grundrecht. Als Beispiel für eine staatliche Eigengesellschaft ist die Bahn anzuführen, die vollständig im Eigentum des Bundes steht322. Selbst wenn man annimmt, Art. 87e Abs. 3 Satz 1 GG entlasse die staatlichen Bahnunternehmen aus ihrer öffentlichen Zweckbindung323, so dienen sie dennoch nicht der individuellen Freiheitsbetätigung. Dementsprechend ist auch ihre Grundrechtsberechtigung höchst umstritten324. Eine Grundrechtsberechtigung kommt nur in Betracht, wenn man grundsätzlich davon ausgeht, dass Art. 19 Abs. 3 GG auch die rechtlich verselbständigte staatliche Kompetenzausübung schützt325. Dann könnte auch für die Bahnunternehmen wegen ihrer Tätigkeit als private Wirtschaftsunternehmen eine grundrechtstypische Gefährdungslage anzunehmen sein326. Folgt man jedoch der Lehre vom personalen Substrat, so kann eine Grundrechtsberechtigung nicht angenommen werden, da die wirtschaftliche Tätigkeit der Bahnunternehmen nicht die individuellen Freiheitsrechte ihrer Mitarbeiter betrifft327.

320  BVerfGE

75, 192 (196). etwa A. v. Mutius, Art. 19 Abs. 3 Rn. 114 f.: H. Klein, Teilnahme, S.  234 f. 322  Siehe http: /  / www.bundesfinanzministerium.de / Content / DE / Standardartikel /  Themen / Bundesvermoegen / Privati‌sierungs_und_Beteiligungspolitik / Beteiligungspo litik / deutsche-bahn-ag.html (zuletzt am 6.4.2016). 323  Sehr umstritten, vgl. etwa VG Darmstadt, NJW 1998, 771 (771 f.); E. SchmidtAßmann / P. Hommelhoff, ZHR 160 (1996), 521 (535 ff.); H. Gersdorf, Art. 87 Rn. 49; K. Windthorst, Art. 87e, Rn. 47; G. Fromm / K. A. Sellmann, NVwZ 1994, 547 (548); M. Lang, NJW 2004, 3601 (3604); für ein Fortbestehen der Gemeinwohlbindung etwa S. Storr, Der Staat als Unternehmer, S. 146; J. Homeister, Öffentliche Aufgabe, S.  71 ff.; G. Jochum, NVwZ 2005, 779 (781). 324  Gegen eine Grundrechtsberechtigung; B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 Rn. 59; J. Isensee, Sonderbelastung, S. 93 (104 ff.); J. Homeister, Öffentliche Aufgaben, S.  150 ff.; G. Jochum, NVwZ 2005, 779 (781); H. Gersdorf, Art. 87e Rn. 52; E. Gurlit, EurUP 2006, 224 (229); für eine Grundrechtsberechtigung: T. Vesting, Art. 87e Rn. 40; R. Uerpmann, Art. 87e Rn. 10; K. Windthorst, Art. 87e Rn. 49; J. A. Kämmerer, Privatisierung, S. 472; M. Lang, NJW 2004, 3601 (3604); differenzierend M. Möstl, Art. 87e Rn.  100 ff. 325  So auch B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 Rn. 59. 326  B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 Rn. 59. 327  So B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 Rn. 59. 321  Wie

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1. Kap.: Art. 19 Abs. 3 GG

Wie bei staatlichen Eigengesellschaften wird auch für gemischt-öffentliche Unternehmen die Grundrechtsberechtigung ganz überwiegend abgelehnt328. Unter gemischt-öffentlichen Unternehmen sind solche Unternehmen zu verstehen, an denen verschiedene Träger der öffentlichen Verwaltung beteiligt sind329. Die fehlende Grundrechtsberechtigung der einzelnen Beteiligten kann diese nicht durch ihren Zusammenschluss besser stellen und zu einem anderen Ergebnis führen330. Dennoch wird teilweise erwogen, ob man dem Staat das Recht zugestehen sollte, privatrechtliche Einheiten auszuklammern und diese dem Wettbewerb mit anderen Privaten zu öffnen331. Dementsprechend wird – entgegen der herrschenden Meinung – vertreten, dass privatrechtsförmige Eigengesellschaften des Staates grundrechtsberechtigt sein sollten332. 2. Gemischt-wirtschaftliche Unternehmen Schwieriger ist die Frage nach der Grundrechtsberechtigung für gemischtwirtschaftliche Unternehmen zu beantworten. An gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen, die auch als Mischunternehmen bezeichnet werden333, sind neben kommunalen oder staatlichen Verwaltungsträgern auch natürliche oder juristische Personen des Privatrechts beteiligt334. Es handelt sich also um Unternehmen, die in privatrechtlicher Form organisiert sind und an denen mindestens eine kompetenzausübende staatliche Organisation und ein freiheitsausübender Privater beteiligt sind335. Dies führt zu einer Gemengelage von privaten und öffentlichen Anteilseignern336. Teilweise wird sogar davon ausgegangen, dass eine allseits befriedigende Lösung nicht zu finden sei337. Um diesen Interessenkonflikt zu lösen und für alle Beteiligten eine sachgerechte Lösung zu finden, werden verschiedene Ansätze vertreten, die wiederum unterschiedliche Kriterien für die Abgrenzung zwischen der Annahme 328  H. Dreier,

Art. 19 Abs. 3 Rn. 72; B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 Rn. 57. Starck, JuS 1977, 732 (736); H. Gersdorf, Öffentliche Unternehmen, S. 135. 330  BVerfGE 68, 193 (213); H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 72; B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 Rn. 57; P. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 278; W. Krebs, Art. 19 Rn. 48; H. Gersdorf, Öffentliche Unternehmen S. 135. 331  J. A. Kämmerer, Privatisierung, S. 193 f.; B. Pieroth, NWVBl. 1992, 85 (87 f.). 332  J. A. Kämmerer, Privatisierung, S. 464  ff.; M. Möstl, Grundrechtsbindung, S.  146 f.; B. Pieroth, NWVBl. 1992, 85 (87 f.). 333  Etwa D. Merten, Mischunternehmen, S. 2004; P. Selmer, HGR II, § 53 Rn. 5. 334  H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 73. 335  Statt aller B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009), Rn. 65. 336  H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 73; D. Merten, Mischunternehmen, S. 2014. 337  J. Kater, Grundrechtsbindung, S. 43. 329  C.



D. Inländische juristische Personen des öffentlichen Rechts55

und der Ablehnung der Grundrechtsberechtigung des betroffenen Unternehmens für maßgeblich halten: Das Bundesverfassungsgericht fragt im Ausgangspunkt danach, ob ein gemischt-wirtschaftliches Unternehmen staatlich beherrscht wird338. Das soll dann der Fall sein, wenn mehr als die Hälfte der Anteile im Eigentum der öffentlichen Hand stehen339. In diesen Fällen soll das Unternehmen nicht grundrechtsberechtigt sein. In seinem Telekom-Beschluss stellte das Gericht darauf ab, dass ein beherrschender Einfluss des Bundes dort ausgeschlossen sei340. Das Bundesverwaltungsgericht hat für die Telekom AG trotz mehrheitlichen Aktieneigentums des Bundes wegen ihrer privatwirtschaftlichen Tätigkeit und Aufgabenstellung die Grundrechtsfähigkeit ebenfalls bejaht341. Zudem stellt das Bundesverfassungsgericht aber auch auf das Kriterium der Wahrnehmung staatlicher Aufgaben ab. In seinem HEW-Beschluss hat es für gemischt-wirtschaftliche Unternehmen, die mehrheitlich von juristischen Personen des öffentlichen Rechts getragen sind, die Grundrechtsberechtigung und die Beschwerdebefugnis abgelehnt342. Zur Begründung führte es an, dass es sich bei der Energieversorgung um die Wahrnehmung einer dem Staat gesetzlich zugewiesenen Aufgabe der Daseinsvorsorge handele, die eine Grundrechtsberechtigung ausschließe343. Allerdings befand sich das klagende Unternehmen hier wohlgemerkt zu drei Vierteln in der Hand der Freien und Hansestadt Hamburg. Zustimmung erfuhr dieser Beschluss insoweit, als er auf den bestimmenden Einfluss der Freien und Hansestadt Hamburg abstellte344. Jedoch stößt der HEW-Beschluss auch auf Kritik345. Vor allem soweit zur Ablehnung der Grundrechtsberechtigung auf die Aufgabenstellung abgestellt wird, gibt es viele Gegenstimmen in der Literatur. Insbesondere wird angeführt, dass weder die Einordnung als „öffentliche“ Aufgabenwahrnehmung oder als Daseinsvorsorge noch der Tatbestand einer dichten normativen Regulierung zum Verlust der Grundrechtsberechtigung von Privat-

338  BVerfGE 115, 205 (227), 128, 226 (246); BVerfG (K), NJW 1990, 1783 (1783); zustimmend VerfGH Berlin DÖV 2005, 515 (517). 339  BVerfGE 128, 226 (247). 340  BVerfGE 115, 205 (227); BVerfG, Urt. v. 6.12.2016 – 1 BvR 2821 / 11, 2 BvR 321 / 12, 2 BvR 1456 / 12, juris-Rn. 204 f. 341  BVerwGE 114, 160 (189). 342  BVerfG (K), NJW 1990, 1783(1783); bestätigend BVerfG (K), NVwZ 2009, 1282 (1283); BVerfG (K), NJW 2011, 1201 (1203); kritisch etwa M. Sachs, Art. 19 Rn. 112. 343  BVerfG (K), NJW 1990, 1783 (1783). 344  H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 74. 345  H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 74; B. Pieroth, NWVBl. 1992, 85 (87 f.); H.-G. Koppensteiner, NJW 1990, 3105 (3108).

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1. Kap.: Art. 19 Abs. 3 GG

rechtssubjekten führen könnten346. Auch wird angeführt, weder die Privatrechtsform347 noch die Grundrechte der privaten Anteilseigner hinreichend berücksichtigt zu haben348. Dies stelle einen Widerspruch zu der Lehre vom personalen Substrat dar und lasse die abwehrrechtliche Seite der Grundrechte außer Betracht349. Auf dieser Linie lag auch ein Beschluss des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2009350. Es verneinte hier die Grundrechtsberechtigung eines Stromversorgungsunternehmens, das zu 75,2 % staatlich gehalten wurde. Es stellte dazu auch auf die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben ab, die für gemischt-wirtschaftliche Unternehmen ebenfalls als Abgrenzungskriterium heranzuziehen sei351. Das Kriterium der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben wird auch in der Literatur herangezogen352. Dabei wird es aber weder von der Rechtsprechung noch von der Literatur als einziges Abgrenzungskriterium herangezogen, sondern lediglich ergänzend verwendet353. Denn der Begriff der öffentlichen Aufgabe wird insoweit kritisiert, als er keine trennscharfe Abgrenzung zulasse354, da er Zielsetzungen im öffentlichen Interesse beschreibt, die sowohl staatliche als auch private Rechtssubjekte wahrnehmen können355. In seinem „Fraport-Urteil“ hat das Bundesverfassungsgericht wiederum entschieden, dass ein von der öffentlichen Hand beherrschtes gemischt-wirtschaftliches Unternehmen der Grundrechtsbindung unterliege und sich dementsprechend nicht auf die Grundrechte berufen könne, sondern vielmehr an diese gebunden sei356. Das betroffene Unternehmen befand sich während des 346  H. Dreier,

Art. 19 Abs. 3 Rn. 74. Zimmermann, JuS 1991, 294 (299); B. Pieroth, NWVBl. 1992, 85 (87). 348  H.-G. Koppensteiner, NJW 1990, 3105 (3110 f., 3114); G. Kühne, JZ 1990, 335 (336); W. Rüfner, HStR IX, § 196 Rn. 137 ff. 349  Dazu H.-G. Koppensteiner, NJW 1990, 3105 (3114). 350  BVerfG (K), NVwZ 2009, 1282. 351  BVerfG (K), NVwZ 2009, 1282 (1283). 352  P. Selmer, HGR II, § 53 Rn. 26, 51 f.; A. Berger, Staatseigenschaft, S. 81 ff., die diesen Ansatz im Ergebnis beide verwerfen. 353  B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 Rn. 68; P. Selmer, HGR II, § 53 Rn. 26; A. Berger, Staatseigenschaft, S. 82, Fn. 291. 354  Zur fehlenden hinreichenden Definitionsmöglichkeit für den Begriff der öffentlichen Aufgaben: H. Bethge, Grundrechtsberechtigung, S. 67; U. Di Fabio, JZ 1999, 585 (585 f.); D. Ehlers, DVBl. 1983, 422 (425); M. Ruffert, VerwArch. 92 (2001), 27 (41); C. Möllers, Staat als Argument, S. 319 ff.; S. Storr, Staat als Unternehmer, S.  106 ff.; D. Merten, Mischunternehmen, S. 2014 ff.; H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 54; F. Schoch, Jura 2001, 201 (206); H. D. Jarass, Art. 19 Rn. 18; ders., MMR 2009, 223 (226); B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 Rn. 44. 355  A. Berger, Staatseigenschaft, S. 91; B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 Rn. 69. 356  BVerfGE 128, 226 (244 f.). 347  N.



D. Inländische juristische Personen des öffentlichen Rechts57

Ausgangsverfahrens zu 70 % in staatlicher Hand, zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde im Februar 2011 war dieser Anteil auf 52 % gesunken. Hier stellte das Bundesverfassungsgericht wieder auf das Kriterium der Beherrschung ab357. Maßgeblich sei die Gesamtverantwortung des Unternehmens; es sei den Beteiligungsverhältnissen entsprechend zwischen privaten Unternehmen mit staatlicher Beteiligung und staatlichen Unternehmen mit privater Beteiligung zu unterscheiden358. Die mit der fehlenden Grundrechtsberechtigung der privaten Anteilseigner einhergehende Benachteiligung sei auch nicht unberechtigt, da ihre Beteiligung jeweils auf einer freien Entscheidung beruhe359. Das Kriterium der Beherrschung wird auch in der Lehre überwiegend vertreten360 und dort konkreter ausgeformt: Ob eine staatliche Beherrschung innerhalb eines Unternehmens gegeben ist, sei anhand der Höhe des staatlichen Kapitalanteils361, anhand der Existenz staatlicher Zielvorgaben, anhand gesetzlicher oder satzungsrechtlicher Weisungsrechte362 und anhand sonstiger rechtlicher oder faktischer Einflussmöglichkeiten zu beurteilen363. Dennoch stößt dieser Ansatz auch auf Kritik. Insbesondere wird kritisiert, dass das Verhältnis dieser Kriterien zueinander nur schwer festzulegen und ungewiss sei, welches „Staatlichkeitsniveau“ für die staatliche Beherrschung erforderlich sei364. Als Beispiel für dieses Problem wird die Deutsche Post AG angeführt. An der Post ist die Kreditanstalt für Wiederaufbau zu 30,5 % beteiligt, die wiederum von Bund und Ländern gehalten wird. Dementsprechend könnte angenommen werden, dass eine Beherrschung hier ausscheidet. Allerdings lag die durchschnittliche Beteiligung an den Jahreshauptversammlungen in den letzten Jahren bei 67 % bis 74 %, so dass die Bedeutung des Staatsanteils entsprechend stieg365. Teilweise wird das besondere Problem der Annahme oder Ablehnung einer Grundrechtsberechtigung für gemischt-wirtschaftliche Unternehmen darin gesehen, dass die Frage nach der Grundrechtsberechtigung auch für ein solches nur pauschal bejaht oder verneint werden könne, ganz gleich, wie die 357  BVerfGE

128, 226 (244 f.). 128, 226 (245). 359  BVerfGE 128, 226 (247). 360  H. D. Jarass, Art. 19 Rn. 18; ders., MMR 2009, 223 (226); J. Kater, Grundrechtsbindung, S. 44. 361  S. Maser, Geltung, S. 159. 362  T. Mann, Gesellschaft, S. 197 ff. 363  P. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 284; H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 78; T. Koch, Status, S.  153 ff.; M. Habersack, ZGR 25 (1996), 544 (549 ff.); weitergehend T. Mann, Gesellschaft, S.  190 ff. 364  A. Berger, Staatseigenschaft, S. 63 ff; B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 Rn. 68. 365  M. Goldhammer, JuS 2014, 891 (893). 358  BVerfGE

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1. Kap.: Art. 19 Abs. 3 GG

Kapitalverhältnisse und die Anteilsverteilung intern geregelt sind366. Denn eine einzelfallorientierte Zuordnung erscheine praktisch kaum möglich und wäre mit gravierenden Unsicherheiten verbunden367. Somit hätte die abschließende Entscheidung dieser Fragestellung zur Folge, dass entweder die öffentlich-rechtlichen Anteilseigner besser oder die privaten Anteilseigner schlechter gestellt würden, als es normalerweise bei eindeutiger Organisa­ tionsform der Fall wäre368. Folgt man unter diesem Vorzeichen der Lehre von der grundrechtstypischen Gefährdungslage, so könnten sich gemischt-wirtschaftliche Unternehmen unabhängig von ihrer Tätigkeit und ihrer Zusammensetzung grundsätzlich dem Staat gegenüber in einer solchen grundrechtstypischen Gefährdungslage befinden und damit grundrechtsberechtigt sein369. Die Einzelfallentscheidung hängt dann lediglich von dem einschlägigen Grundrecht und dem Vorliegen einer Gefährdungslage ab. Folgt man diesem Ansatzpunkt jedoch nicht und stellt stattdessen das personale Substrat in den Vordergrund, so müssen Kriterien entwickelt werden, die einerseits den grundrechtlichen Schutzinteressen der in und mit dem Unternehmen ihre Freiheit ausübenden Privaten gerecht werden, andererseits aber auch nicht vernachlässigen, dass das Unternehmen auch zur Wahrnehmung staatlicher Aufgaben dient370. Hier ist es deutlich schwieriger, eine einheitliche Lösung zu finden, die auch Rechtssicherheit bieten kann. Eine Ansicht in der Literatur nimmt daher beruhend auf der Prämisse vom personalen Substrat die Grundrechtsfähigkeit von gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen grundsätzlich an und begründet dies vorwiegend mit dem Schutzbedürfnis der privaten Anteilseigner371. Vereinzelt wird dabei auch auf Rechtssicherheit, Rechtsklarheit und Praktikabilität abgestellt372. Angeführt wird weiter, auch hier gelte die Indizwirkung der Privatrechtsform, so dass diese den Zuweisungsgehalt der gemischt366  Sogenannte Ja / Nein-Dichotomie, so H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 73; ebenso D. Krausnick, JuS 2008, 965 (968 f.); J. Kater, Grundrechtsbindung, S. 44. 367  H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 73. 368  Etwa W. Krebs, Art. 19 Rn. 45; H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 73, 77; H. Bethge, Grundrechtsträgerschaft, S.  13 f. 369  Etwa A. v. Mutius, Art. 19 Abs. 3 Rn. 146 f. 370  B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 Rn. 65. 371  W. Rüfner, HStR IX, § 196 Rn. 139; K Stern, Staatsrecht III / 1, S. 1170; D. Ehlers, Verwaltung in Privatrechtsform, S. 85; E. Schmidt-Aßmann, BB 1990 / Beilage 34, 1 (11 f.); ders., Privatrechtsform, S. 383 (395); A. v. Arnauld, DÖV 1998, 437 (450 f.); D. Merten, Mischunternehmen, S. 2021; H.-G. Koppensteiner, NJW 1990, 3105 (3114); C. M. Wirth, Grundrechtsberechtigung, S. 70 f.; S. Barden, Grundrechtsfähigkeit, S. 72; B. Pieroth, NWVBl. 1992, 85 (88). 372  E. Schmidt-Aßmann, Privatrechtsform, S. 383 (392); E. Schmidt-Aßmann, BB 1990 / Beilage 34, 1 (10); B. Pieroth, NWVBl. 1992, 85 (88).



D. Inländische juristische Personen des öffentlichen Rechts59

wirtschaftlichen Unternehmen interessengerecht wiedergebe373. Eine Indizwirkung der Privatrechtsform sei jedoch abzulehnen, wenn die private Beteiligung als Alibi zur Erlangung der Grundrechtsberechtigung gewählt wurde374. Andere Stimmen in der Literatur kritisieren diese Betrachtungsweise als nicht trennscharf und konsequent, da auch privatrechtsförmige Organisationen dem Staat zurechenbar und damit staatlich sein könnten375. Außerdem wird angeführt, die Durchgriffsthese führe gerade für gemischtwirtschaftliche Unternehmen nicht zu einem Erkenntnisgewinn, da sie keine Antwort darauf gebe, ob das Unternehmen konkret der grundrechtsgebundenen staatlichen Gewalt zuzuordnen sei376. Ein anderer Ansatz liegt darin, die Intensität des Grundrechtsschutzes mit steigender staatlicher Beteiligung abnehmen zu lassen377. Danach wird das Schutzniveau an die Beteiligungsverhältnisse angepasst. Im Ergebnis soll dem gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen dann insoweit Grundrechtsschutz gewährt werden, wie es die Rechtsstellung der privaten Anteilseigner erfordert378. Dies wiederum wird als nicht handhabbar kritisiert379. Insbesondere sei es nach diesem Ansatz kaum möglich, Rechtssicherheit herbeizuführen. Eine weitere Ansicht differenziert hier noch weiter und stellt auf die Wahrnehmung staatlicher Zuständigkeiten ab380. Danach nehme ein gemischtwirtschaftliches Unternehmen (auch) staatliche Zuständigkeiten wahr, wenn diese durch einen staatlichen Rechtsakt auf die juristische Person übertragen worden sind381. Dementsprechend liege eine solche Wahrnehmung vor, wenn der juristischen Person durch staatlichen Rechtsakt eine Zuständigkeit zur selbständigen oder unselbständigen Wahrnehmung in den Handlungsformen des öffentlichen oder privaten Rechts zugewiesen ist382. Dieser Ansatz werde als einziger der Lehre vom personalen Substrat und den privaten Anteilseignern gerecht. Entsprechend der Lehre vom personalen Substrat seien ge373  E. Schmidt-Aßmann, Privatrechtsform, S. 383 (393 f.); zustimmend B. Pieroth, NWVBl. 1992, 85 (87); J. Kater, Grundrechtsbindung, S. 44. 374  K. Stern, Staatsrecht III / 1, S. 1170. 375  B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 66. 376  P. Selmer, HGR II, § 53 Rn. 36. 377  H. P. Bull, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, S. 98, Fn. 49; H. Bethge, Grundrechtsberechtigung, S. 39; ders., Grundrechtskollisionen, S.  66, Fn.  142; C. Gusy, JA 1995, 166 (171); S. Storr, Staat als Unternehmer, S. 244 f., 254. 378  A. v. Mutius, Jura 1983, 30 (41); C. Gusy, JA 1995, 166 (171). 379  E. Schmidt-Aßmann, Privatrechtsform, S. 383 (393); P. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 281; ähnlich J. Kater, Grundrechtsbindung, S. 43. 380  B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 69. 381  B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 70. 382  B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 70.

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1. Kap.: Art. 19 Abs. 3 GG

mischt-wirtschaftliche Unternehmen privat und damit grundrechtsberechtigt, wenn sie trotz der staatlichen Beteiligung ausschließlich der Ausübung individueller Freiheit dienen. Nähmen sie hingegen ausschließlich ihnen zugewiesene staatliche Kompetenzen wahr, seien sie nicht grundrechtsberechtigt, auch wenn Private beteiligt sind. Allerdings sei es auch möglich, dass ein gemischt-wirtschaftliches Unternehmen in Teilbereichen der Verwirklichung der individuellen Freiheit dient und in anderen Bereichen ihm zugewiesene staatliche Aufgaben wahrnimmt. Dann soll es teils privat und teils staatlich sein, da auch hier eine Abgrenzung ebenso wie bei anderen juristischen Personen möglich sei383. Weiter stellt sich die Frage nach der Grundrechtsbindung gemischt-­ wirtschaftlicher Unternehmen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Fraport-Entscheidung eine Grundrechtsbindung des staatlichen beherrschten Unternehmens angenommen384. In seinem Nibelungen-Beschluss hat es diese Entscheidung bestätigt385. Danach sei je nach Gewährleistungsinhalt und Fallgestaltung eine mittelbare Grundrechtsbindung Privater denkbar, die einer Grundrechtsbindung des Staates nahe oder auch gleichkommen könnte. Für den Schutz der Kommunikation komme dies insbesondere dann in Betracht, wenn private Unternehmen die Bereitstellung schon der Rahmenbedingungen öffentlicher Kommunikation selbst übernehmen und damit in Funktionen eintreten, die früher in der Praxis allein dem Staat zugewiesen waren386. Die herrschende Lehre lehnt jedoch eine generelle Grundrechtsbindung gemischt-wirtschaftlicher Unternehmen ab387. 3. Partiell staatliche Organisationen in privatrechtlicher Organisationsform Die Frage nach der Grundrechtsberechtigung steht ebenfalls im Raum, wenn sich der Staat privatrechtlicher Organisationen bedient und diese damit als partiell staatlich auftreten. Dies ist etwa bei der Beleihung und der Verwaltungshilfe der Fall. Für die Beleihung wird die Grundrechtsfähigkeit des Beliehenen verneint, soweit er in seiner Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben betroffen ist388. Dazu wird wiederum auf die Aufgabenwahrnehmung des 383  B. Remmert,

Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 69. 128, 226 (244 f.). 385  BVerfG, Beschluss vom 18.7.2015 – 1 BvQ 25 / 15, NJW 2015, 2485. 386  BVerfG, Beschluss  vom 18.7.2015  – 1 BvQ 25 / 15, Rn. 6; BVerfGE 128, 226 (249 f.). 387  M. Ronellenfitsch, HStR IV, § 98 Rn. 47. 388  M. Sachs, Art. 19 Rn. 111; H. D. Jarass, Art. 19 Rn. 18; H. Scholler / S. Broß, DÖV 1978, 238 (241). 384  BVerfGE



E. Juristische Personen des Privatrechts mit Sitz im Ausland 61

Beliehenen abgestellt389. Zudem wird angeführt, dass der Beliehene im Umfang seiner Beleihung staatliche Zuständigkeiten wahrnehme. Insoweit sei er „eigentlich ein Stück juristische Person des öffentlichen Rechts“390. Gleiches gilt für die Verwaltungshilfe. Auch in dieser Konstellation wird auf die Wahrnehmung staatlicher Aufgaben beziehungsweise staatlicher Zuständigkeiten abgestellt und eine Grundrechtsberechtigung abgelehnt und stattdessen eine Grundrechtsbindung angenommen391. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den Technischen Überwachungsanstalten392 und zu einer gemeinnützigen Baugenossenschaft393 wird teilweise so verstanden, dass das Bundesverfassungsgericht nicht danach differenziert, ob private oder öffentliche Aufgaben wahrgenommen werden, sondern darauf abstellt, dass durch die jeweilige privatrechtsförmig organisierte und von Privaten getragene Einheit staatliche Zuständigkeiten wahr­ genommen werden394. An dieser Stelle kann es wiederum zu erheblichen ­Abgrenzungsproblemen kommen395.

E. Juristische Personen des Privatrechts mit Sitz im Ausland I. Grundsätzliches Nach ganz herrschender Meinung sind ausländische juristische Personen – also solche mit Sitz außerhalb der Bundesrepublik – grundsätzlich nicht grundrechtsberechtigt396. Dieses Ergebnis ergibt sich bereits aus dem eindeutigen Wortlaut des Art. 19 Abs. 3 GG. Bei der Beratung der Norm wurde diese Einschränkung damit begründet, dass kein Bedürfnis für die Annahme 389  M.

Sachs, Art. 19 Rn. 111. Krebs, HStR V, § 108 Rn. 45; zustimmend H. Dreier, Hierarchische Verwaltung, S. 250; ders., Art. 19 Abs. 3 Rn. 54; B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 60; dies., Private Dienstleistungen, S. 258. 391  M. Ronellenfitsch, HStR IV, § 98 Rn. 48; B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 62; M. Heintzen, VVDStRL 62, (2003), 220 (241). 392  BVerfG (K), NJW 1987, 2501. 393  BVerfG (K), NJW 1996, 584 (584). 394  B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 63. 395  B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 64. 396  G. Dürig, Art. 19 Abs. 3 (1977) Rn. 30; H. Bethge, Grundrechtsberechtigung, S.  44 ff.; W. W. Schmidt, Grundrechte, S. 168; A. v. Mutius, Art. 19 Abs. 3 Rn. 49 ff.; J. Isensee, HStR IX, § 196 Rn. 92 ff.; W. Krebs, Art. 19 Rn. 35; P. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 294; C. Feldmüller, Rechtsstellung, S. 171 ff.; A. Guckelberger, AöR 129 (2004), 618 (626); M. Sachs, Art. 19 Rn. 51; H. D. Jarass, Art. 19 Rn. 21. 390  W.

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1. Kap.: Art. 19 Abs. 3 GG

der Grundrechtsberechtigung ausländischer juristischer Personen bestehe397. Außerdem seien juristische Personen, die sich zwar im Inland betätigten, aber ihren Sitz im Ausland hätten, der deutschen Staatsgewalt weit weniger unterworfen398. Ferner wird das Argument des „fremdenrechtlichen Aktionsspielraums“ angeführt399. Das Bundesverfassungsgericht ließ diese Frage zunächst offen400, lehnte dann aber die Grundrechtsberechtigung für ausländische juristische Personen ab401, wobei es die Frage nach der Grundrechtsberechtigung juristischer Personen mit Sitz im Inland und Beteiligung eines ausländischen Staates offen ließ402. Dem schlossen sich auch andere Gerichte an403. Dennoch gibt es vereinzelt immer wieder Stimmen, die auch ausländischen juristischen Personen die Grundrechtsberechtigung zuerkennen wollen. Insbesondere wird dabei der Ansatz vertreten, auch ausländische juristische Personen könnten in bestimmten Situationen der deutschen Staatsgewalt auf gleiche Weise unterworfen sein, wie es inländische juristische Personen seien404, was eine analoge Anwendung der Jedermanngrundrechte rechtfertige405. Auch in der Rechtsprechung finden sich Stimmen, die diesen Ansatz vertreten406. Nach dieser Auffassung sei der Ausgangspunkt des Grundgesetzes, dass eine ausländische juristische Person grundsätzlich nicht von der deutschen Staatsgewalt betroffen ist, zwar richtig gewählt. Er übersehe jedoch, dass dies anders sein könne, sobald eine solche grenzüberschreitend im Inland tätig werde. Sie unterliege dann etwa als Eigentümerin eines Grundstückes in Deutschland ebenso der Sozialpflichtigkeit des Eigentums407. Im 397  H. Bethge,

Grundrechtsberechtigung, S. 47 m. w. N. Grundrechtsberechtigung, S. 47. 399  K. Stern, Staatsrecht III / 1, S. 1136; H. Bethge, Grundrechtsberechtigung, S. 48; A. v. Mutius, Art. 19 Abs. 3 Rn. 50; P. J. Tettinger, HGR II, § 51 Rn. 40; W. Rüfner, HStR IX, § 196 Rn. 57; H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 79; M. Sachs, Art. 19 Rn. 52; V. Epping, Außenwirtschaftsfreiheit, S. 181; a. A. P. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 295, der zudem eine „verfassungsrechtliche Standortpflege“ annimmt. 400  BVerfGE 12, 6 (8); 18, 441 (447); 64, 1 (11). 401  BVerfGE 21, 207 (208 f.); 23, 229 (236); 100, 313 (364); BVerfG (K), NVwZ, 2008, 670 (670). 402  BVerfG (K), NJW 2006, 2907; BVerfG (K), NVwZ 2010, 373 (374); BVerfG (K), NJW 2011, 1339. 403  BFH DStR 2001, 616 (616); VGH BW VBlBW 2003, 389. 404  C. Degenhart, EuGRZ, 1981, 161 (163  f.); R. Steinbrück, Grundrechtsschutz, 71; J. Rux, ZAR 1999, 217 (220); W. Rupp-v. Brünneck, Grundrechtsfähigkeit, S. 382; H. Bungert, Das Recht ausländischer Kapitalgesellschaften auf Gleichbehandlung im deutschen und US-amerikanischen Recht, S. 278 ff. 405  E. H. Ritter, NJW 1964, 279 (281 f.), der sich für eine analoge Anwendung der Jedermanngrundrechte auf ausländische juristische Personen ausspricht. 406  OVG NRW NVwZ 1989, 1090 (1090); HessVGH ESVGH 50, 21 (23). 407  C. Degenhart, EuGRZ 1981, 161 (163). 398  H. Bethge,



E. Juristische Personen des Privatrechts mit Sitz im Ausland 63

Umkehrschluss müsse sie in einer solchen Situation auch grundrechtsberechtigt sein408. Gegen diesen Ansatz wird insbesondere der Wortlaut des Art. 19 Abs. 3 GG angeführt. Vertreten werden hier ein Umkehrschluss409 und die Eindeutigkeit410 des Wortlauts, die gegen die Annahme einer Grundrechtsberechtigung ausländischer juristischer Personen sprechen sollen. Jedenfalls aber wird der Wortlaut überwiegend als klares Votum gegen die Grundrechtsberechtigung ausländischer juristischer Personen gewertet411. Es wird jedoch auch vertreten, der Wortlaut sei diesbezüglich nicht eindeutig, da er nicht klarstelle, dass die Grundrechte durch Art. 19 Abs. 3 GG „nur“ auf inländische juristische Personen anwendbar seien, so dass der Grundrechtsschutz ausländischer juristischer Personen nicht schon dem Wortlaut nach ausgeschlossen sei412. Nach dieser Auffassung bleibt also Raum, auch ausländischen juristischen Personen Grundrechtsschutz zu gewähren. Dagegen wird angeführt, aufgrund der eindeutigen Formulierung durch das Wort „inländisch“ sei eine Klarstellung durch das Wort „nur“ nicht mehr erforderlich gewesen413. Auch die Entstehungsgeschichte des Art. 19 Abs. 3 GG wird überwiegend so gedeutet, dass sie gegen eine Grundrechtsberechtigung ausländischer Personen spricht414. In der Tat wurde das Wort „inländisch“ erst nachträglich durch den Grundsatzausschuss und nach der ersten Lesung im Hauptausschuss vom Allgemeinen Redaktionsausschuss aufgenommen415. Diese nachträgliche Änderung wurde damit begründet, dass „kein Anlaß bestehen 408  C.

Degenhart, EuGRZ 1981, 161 (164). 76, 375 (383); W. W. Schmidt, Grundrechte, S. 168; P. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 294; F. Schoch, Jura 2001, 201 (203); V. Epping, Außenwirtschaftsfreiheit, S. 180. 410  BVerfG (K), NVwZ 2008, 670 (670); J. Ziekow, Freizügigkeit, S. 528 f.; A. Guckelberger, AöR 129 (2004), 618 (622 f.); H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 85. 411  W. Krebs, Art. 19 Rn. 35; C. Degenhart, EuGRZ 1981, 161 (162); M. Oechsle, Zur wesensmäßigen Anwendung der Grundrechte auf juristische Personen des Zivilrechts, S. 153. 412  HessVGH, ESVGH 50, 21 (22); A. v. Mutius, Art. 19 Abs. 3 Rn. 49; R. Steinbrück, Grundrechtsschutz, S. 13  ff.; H. Bethge, Grundrechtsberechtigung, S. 46  f.; C. Feldmüller, Rechtsstellung, S. 160 f.; J. Rux, ZAR 1999, 217 (219). 413  A. Guckelberger, AöR 129 (2004), 618 (623); zustimmend B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 89. 414  A. Guckelberger, AöR 129 (2004), 618 (622 f.); A. v. Mutius, Art. 19 Abs. 3 Rn. 85; W. W. Schmidt, Grundrechte, S. 169; H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 86; V. Epping, Außenwirtschaftsfreiheit, S. 181; W. Krebs, Art. 19 Rn. 35; H. Bethge, Grundrechtsberechtigung, S.  47 f.; C. Feldmüller, Rechtsstellung, S. 161; B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 89. 415  Der Parlamentarische Rat, Bd. 5 / II, S. 950. 409  BGHZ

64

1. Kap.: Art. 19 Abs. 3 GG

[dürfte], auch ausländischen Personen den verfassungsmäßigen Schutz der Grundrechte zu gewähren“.416 Jedoch ergibt sich daraus auch nicht, dass durch die Einführung des Wortes „inländisch“ lediglich eine vollständige Gleichstellung vermieden werden sollte417. Allerdings wird auch bezüglich der Entstehungsgeschichte vertreten, sie lasse keinen klaren Rückschluss auf die Fragestellung zu, da die Unterscheidung zwischen inländischen und ausländischen juristischen Personen nur bedeute, dass ihnen kein identischer Grundrechtsschutz zugedacht worden sei418. Andere halten die Genese des Art. 19 Abs. 3 GG gar für unergiebig419. Auch wenn man mit der herrschenden Meinung eine Erstreckung des Grundrechtsschutzes lediglich für inländische juristische Personen annimmt, steht es dem einfachen Gesetzgeber frei, ob er inländische und ausländische juristische Personen gleich behandelt420. Insbesondere ist ihm eine Verpflichtung dazu durch völkerrechtliche Verträge möglich421. Auch wenn dies zum Teil vertreten wird422, bewirken derartige Verträge nicht, dass die von ihnen erfassten ausländischen juristischen Personen durch das Zustimmungsgesetz nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG grundrechtsberechtigt werden423. Ein Zustimmungsgesetz zu einem völkerrechtlichen Vertrag steht nämlich in der Normenhierarchie unter der Verfassung und ist lediglich ein einfaches Gesetz424. Selbst wenn ein völkerrechtlicher Vertrag die Gleichstellung einer ausländischen juristischen Person mit einer inländischen juristischen Person auf ­Verfassungsebene forderte, müsste das Grundgesetz zur Umsetzung dieser Verpflichtung durch ein verfassungsänderndes Gesetz geändert werden425. Eine Verfassungsänderung durch ein einfaches Zustimmungsgesetz zu einem ­völkerrechtlichen Vertrag kommt jedoch nicht in Betracht426. 416  Der

Parlamentarische Rat, Bd. 5 / II, S. 886. Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 89. 418  HessVGH ESVGH 50, 21 (22); J. Rux, ZAR 1999, 217 (219). 419  E. H. Ritter, NJW 1964, 279 (281). 420  W. Krebs, Art. 19 Rn. 35; J. Isensee, HStR IX, § 196 Rn. 98; P. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 303; R. Störmer, AöR 123 (1998), 541 (557); B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 90. 421  So auch B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 90. 422  HessVGH ESVGH 50, 21 (23); S. Maser, Geltung, S. 14; H. Niessen, NJW 1968, 1017 (1019); R. Steinbrück, Grundrechtsschutz, S. 141; C. Degenhart, EuGRZ 1981, 161 (168 f.); J. Rux, ZAR 1999, 217 (220). 423  A. v. Mutius, Art. 19 Abs. 3 Rn. 52; H. Bethge, Grundrechtsberechtigung, S.  52 ff.; C. Feldmüller, Rechtsstellung, S. 176 ff.; P. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 303; B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 90; M. Ludwigs, JZ 2013, 434 (437). 424  B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 90. 425  B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 90. 426  B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 90. 417  B. Remmert,



E. Juristische Personen des Privatrechts mit Sitz im Ausland 65

II. Sonderfall: Juristische Personen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union Von den oben genannten Grundsätzen ist für juristische Personen mit Sitz außerhalb der Bundesrepublik, aber innerhalb eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union eine Ausnahme zu machen. Dementsprechend können sich juristische Personen mit Sitz im Gebiet der Europäischen Union ebenso wie inländische juristische Personen auf Art. 19 Abs. 3 GG berufen. Dies ist inzwischen allgemein anerkannt, jedoch war vor dem Grundsatzbeschluss des Bundesverfassungsgerichts die Herleitung dieses Ergebnisses umstritten. Zwar bestand weitestgehend Einigkeit, dass Art. 19 Abs. 3 GG eine Ungleichbehandlung zwischen juristischen Personen mit Sitz im Inland und solchen mit Sitz in anderen Mitgliedstaaten der EU bewirke427. Diese Ungleichbehandlung wurde nach herrschender Meinung auch als eine Schlechterstellung juristischer Personen anderer EU-Staaten angesehen, so dass ein Verstoß gegen unionsrechtliche Vorgaben angenommen wurde428. Nach anderer Ansicht hing die Annahme einer Schlechterstellung davon ab, ob der potentielle Diskriminierungstatbestand überhaupt in den Geltungsbereich des EU-Vertrags falle429. Weiterhin wurde als maßgeblich angesehen, ob das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV einschlägig sei oder ob speziellere Diskriminierungstatbestände vorrangig seien, so dass deren Voraussetzungen erfüllt sein müssten430. Dabei komme es insbesondere darauf an, ob Art. 18 AEUV auch die Diskriminierung juristischer Personen verbiete431. Als Rechtsfolge eines Verstoßes nahmen einige Stimmen zu nächst an, dass aufgrund des Anwendungsvorranges des Unionsrechts Art. 19 Abs. 3 GG im Kollisionsfall von der verletzten Norm verdrängt werde432. Inzwischen hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass der Anwendungsbereich des Art. 19 Abs. 3 GG in Anbetracht der fortschreitenden europäischen Integration zu erweitern sei433, so dass die Grundrechte des Grundgesetzes in gleicher Weise auch auf ausländische juristische Personen 427  Anders R. Störmer, AöR 123 (1998), 541 (560); R. Wernsmann, Jura 2000, 657 (662), die eine Gleichstellung unmittelbar aus dem europäischen Gleichbehandlungsgebot annahmen und Art. 19 Abs. 3 GG nicht als berührt ansahen. 428  Etwa A. v. Bogdandy u. a., Das Recht der Europäischen Union, Art. 18 AEUV Rn. 48; H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 83; D. Krausnick, JuS 2008, 869 (871). 429  W. Krebs, Art. 19 Rn. 36. 430  W. Krebs, Art. 19 Rn. 36. 431  W. Krebs, Art. 19 Rn. 37. 432  R. Störmer, AöR 123 (1998), 541 (560  f.); R. Wernsmann, Jura 2000, 657 (662); M. Ludwigs, JZ 2013, 441 (434). 433  BVerfGE 129, 78 (94 ff., 99 f.).

66

1. Kap.: Art. 19 Abs. 3 GG

mit Sitz im EU-Ausland anzuwenden seien434. Die Anwendungserweiterung des deutschen Grundrechtsschutzes sei aufgrund der europäischen Verträge geboten, dies ergebe sich insbesondere aus den europäischen Grundfreiheiten und subsidiär aus dem Diskriminierungsverbot435. Könnten sich juristische Personen mit Sitz im EU-Gebiet nicht auf Art. 19 Abs. 3 GG berufen, würden sie schlechter gestellt, weil sie nicht durch Verfassungsbeschwerde Rechtsschutz vor dem Bundesverfassungsgericht ersuchen könnten436. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts führt damit im Ergebnis dazu, dass sich juristische Personen mit Sitz in der Europäischen Union auf Art. 19 Abs. 3 GG und damit auf die Grundrechte des Grundgesetzes berufen können437. Dies sei deshalb möglich, weil die Übertragung von Hoheitsrechten gemäß Art. 23, Art. 24 GG ein materieller Akt sei, der nicht dem Textänderungsgebot des Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG unterliege438. Dieser Ansatz stößt insoweit auf Kritik, als er in der Konsequenz zu einer unzulässigen Verfassungsänderung ohne Änderung des Verfassungstextes führe439. Ferner wird angeführt, die Rechtsfigur der Anwendungserweiterung entbehre jegliche methodologisch tragfähige Begründung und verkenne die Unterschiede zwischen unionsrechtskonformer Rechtsfortbildung und dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts440.

III. Anwendbarkeit einzelner Grundrechte Bei der Frage nach der Anwendbarkeit der Grundrechte auf ausländische juristische Personen wird ebenfalls nach den einzelnen Grundrechten differenziert. So wird etwa für Art. 17 GG vertreten, er sei auf ausländische juristische Personen anwendbar441. Nach ganz herrschender Meinung sind auch die Justizgrundrechte aus Art. 101 Abs. 1, Art. 103, Art. 19 Abs. 4 GG für ausländische juristische Personen anwendbar442. Das Bundesverfassungsge434  H. Dreier,

Art. 19 Abs. 3 Rn. 83, 85; B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 92. 129, 78 (94, 97). 436  BVerfGE 129, 78 (98). 437  So auch H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 22. 438  H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 22. 439  W. Rüfner, HStR IX, § 196 Rn. 49; W. Krebs, Art. 19 Rn. 39; A. Guckelberger, AöR 129 (2004), 618 (634); vgl. auch H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 21 m. w. N. 440  M. Ludwigs, JZ 2013, 441 (439). 441  K.-H. Mattern, Petitionsrecht, S. 623 (631); A. v. Mutius, Art. 19 Abs. 3 Rn. 51. 442  BVerfGE 12, 6 (8); 18, 441 (447); 64, 1 (11); A. v. Mutius, Art. 19 Abs. 3 Rn. 51; K. Stern, Staatsrecht III / 1, S. 1147; J. Isensee, HStR IX, § 199 Rn. 70; W. Rüfner, HStR IX, § 196 Rn. 93 Fn. 220; H. D. Jarass, Art. 19 Rn. 21; H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 42; C. Degenhart, EuGRZ 1981, 161 (161, 163). 435  BVerfGE



E. Juristische Personen des Privatrechts mit Sitz im Ausland 67

richt erkennt ihnen insoweit eine Sonderrolle zu, als sie als objektive Verfahrensgrundsätze der Sicherung eines rechtsstaatlichen Verfahrens dienten443. Im Übrigen finden die Grundrechte aber über Art. 19 Abs. 3 GG keine Anwendung auf ausländische juristische Personen, die ihren Sitz auch nicht im EU-Ausland haben. Dies gilt auch für Art. 9 Abs. 1 GG, der bereits entsprechend seinem Wortlaut keine Anwendung auf ausländische Staatsange­ hörige findet. Auch der Bestandsschutz des Art. 9 Abs. 1 GG ist nach herrschender Meinung nicht auf ausländische Staatsangehörige anwendbar444. Daraus wird gefolgert, dass auch die Organisation selbst keinen Grundrechtsschutz aus Art. 9 Abs. 1 und Abs. 2 GG gegen Maßnahmen, die ihre Interna oder ihren Bestand betreffen, herleiten kann445. Dies widerspricht aber der überwiegenden Ansicht, dass es für die Grundrechtsberechtigung einer juristischen Person nicht auf die Staatsangehörigkeit ihrer Mitglieder ankommt. Jedoch ist der Wortlaut des Art. 9 Abs. 1 GG diesbezüglich eindeutig. Nach überwiegender Ansicht allerdings ist die Betätigung einer von ausländischen Staatsangehörigen genutzten Vereinigung nach Maßgabe des Art. 19 Abs. 3 GG in Verbindung mit dem seinem Wesen nach anwendbaren Grundrecht geschützt wie jede andere juristische Person auch446. Bei strenger Verfolgung der Durchgriffsthese ist dieses Ergebnis abzulehnen. Problematischer ist es hingegen, wenn deutsche und ausländische Staatsangehörige gemeinsam in und mit einer Vereinigung ihre Freiheit ausüben. Jedenfalls ist die Betätigung einer solchen juristischen Person nach außen über Art. 19 Abs. 3 GG in Verbindung mit dem jeweils einschlägigen und seinem Wesen nach anwendbaren Grundrecht geschützt wie andere juristische Personen auch447. Ob sich eine solche „Mischorganisation“ auch auf Art. 9 Abs. 1 und Abs. 2 GG berufen kann, wenn eine staatliche Maßnahme sie in ihren internen Abläufen oder ihrer Existenz betrifft, wird in der Literatur in Anlehnung an § 14 Abs. 1 Satz 1 VereinsG davon abhängig gemacht, ob die Mehrheit der Mitglieder oder der Leiter Deutsche sind448. Wegen der Akzessorietät könne die Freiheit des Kollektivs nicht weiter reichen als die individuelle Freiheit449. Diese Auffassung fand auch Zustimmung des Bun-

443  BVerfGE

21, 363 (373); 61, 82 (104); 63, 332 (337). Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 110. 445  H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 91. 446  B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 110. 447  B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 111. 448  R. Scholz, Art. 9 (2009) Rn. 50; W. Löwer, Art. 9 Rn. 13; H. Bauer, Art. 9 Rn. 33; D. Merten, HStR VI, § 144 Rn. 30; vgl. dazu auch M. Sachs, in: Stern, Staatsrecht IV / 1, S. 1322 ff. 449  D. Merten, HStR VI, § 144 Rn. 30. 444  B. Remmert,

68

1. Kap.: Art. 19 Abs. 3 GG

desverfassungsgerichts450 Allerdings sind auch nach dieser Auffassung kaum trennscharfe Kriterien zu finden, da der Schutz des Art. 9 Abs. 1 und Abs. 2 GG entweder angenommen oder abgelehnt werden muss. Es kommt also wiederum entweder zu einer Schlechterstellung deutscher Mitglieder oder einer Besserstellung ausländischer Mitglieder451.

450  BVerfG

(K), NVwZ 2000, 1281 (1281). Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 111.

451  B. Remmert,

2. Kapitel

Juristische Personen mit Beteiligung eines ausländischen Staates A. Grundsätzliches Aus der Kombination der im zweiten Kapitel dargestellten Problemkreise ergibt sich die hier vornehmlich zu untersuchende Fragestellung, ob sich juristische Personen, die sich in der Hand eines ausländischen Staates befinden, auf die Grundrechte des deutschen Grundgesetzes berufen können. Dazu ist nach allgemeiner Ansicht zunächst danach zu differenzieren, ob sich der Sitz der juristischen Person im Ausland oder im Inland befindet1. Befindet sich auch der Sitz der juristischen Person des öffentlichen Rechts im Ausland, ist diese ausländisch im Sinne von Art. 19 Abs. 3 GG, mit der Folge, dass sie bereits nach dem Wortlaut dieser Norm nicht grundrechtsberechtigt ist2. Solange sich aber der Sitz der betroffenen juristischen Person im Inland befindet, stellt die Beteiligung eines ausländischen Staates ihre Eigenschaft als inländisch nicht in Frage3. Ähnlich liegt es auch, wenn die ausländische juristische Person ihren Sitz in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union hat, da sie dann ebenfalls wie eine inländische juristische Person im Sinne von Art. 19 Abs. 3 GG behandelt werden muss4. Für die Annahme der Grundrechtsberechtigung dieser inländischen juristischen Personen kommt es maßgeblich darauf an, wie sich die Beteiligung des ausländischen Staates auswirkt. In praktischer Hinsicht ist diese Frage insbesondere für Energieversorgungsunternehmen relevant, da infolge der Liberalisierung der Energiemärkte eine Reihe von Energieversorgungsunternehmen, an denen andere Staaten beteiligt sind, auf dem deutschen Markt tätig werden. Dabei handelt es sich zum Teil um Unternehmen, die mittelbar zu 100 % von einem ausländischen 1  Zur

Sitztheorie vgl. 1. Kapitel. dieser Thematik im Schwerpunkt etwa R. R. Steinbrück, Grundrechtsschutz, S.  13 ff.; H. Bungert, Kapitalgesellschaften, S. 243 ff.; C. Feldmüller, Rechtsstellung, S.  194 ff. 3  So auch T. Harks, Grundrechtsberechtigung, S. 119; C. Grabenwarter, Art. 5 Abs. 1 (2013) Rn. 37. 4  Siehe dazu Kapitel 1 unter E. 2  Zu

70 2. Kap.: Juristische Personen mit Beteiligung eines ausländischen Staates

Staat gehalten werden. Beispiel hierfür ist Vattenfall, eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung mit Sitz in Berlin. Die Anteile an ihr werden zu 100 % von der Vattenfall Europe AG gehalten, deren Anteile sich wiederum zu 100 % im Besitz der Vattenfall AB mit Sitz in Stockholm befinden. Letztere befindet sich vollständig im Eigentum des schwedischen Staates5. Zum anderen handelt es sich aber auch um Gesellschaften, deren Anteile teilweise zumindest mittelbar von einem oder mehreren ausländischen Staaten gehalten werden, zum anderen Teil aber auch Private an ihnen beteiligt sind6. Ein Beispiel für ein solches Unternehmen ist die GDF Suez Energie Deutschland AG. Sie ist hervorgegangen aus der Fusion des mehrheitlich in staatlicher Hand befindlichen Gasversorgers Gaz de France (GDF) und des Mischkonzerns Suez im Juli 2008. Nach wie vor befindet sich der Mutterkonzern GDF Suez S. A. zu mehr als 35 % in Hand des französischen Staates7. Ihren deutschen Sitz hat sie in Berlin8. Als weiteres Beispiel ist die Kernkraftwerk Krümmel GmbH & Co. oHG, die das Atomkraftwerk Krümmel betreibt und jeweils zu 50 % von E.ON und Vattenfall gehalten wird. Aufgrund des Gesellschaftsvertrages ist davon auszugehen, dass die Kernkraftwerk Krümmel GmbH & Co. oHG von Vattenfall beherrscht wird9. Die Relevanz der Fragestellung wird am Beispiel der im Sommer 2012 von der Vattenfall Europe AG erhobenen Verfassungsbeschwerde gegen den Atomausstieg besonders deutlich. Auch hier lautet eine der in diesem Verfahren maßgeblichen Fragen, ob sich ein Unternehmen, das vollständig vom schwedischen Staat gehalten wird, in Deutschland auf die Grundrechte berufen kann. Hierzu hat zunächst Bundesrechtsanwaltskammer Stellung genommen und eine ablehnende Haltung vertreten10. Inzwischen hat das Bundesverfassungsgericht in diesem Verfahren entschieden, dass sich auch Vattenfall in diesem Einzelfall ausnahmsweise auf die Grundrechte berufen dürfe11.

5  Siehe http: /  / www.spiegel.de / wirtschaft / unternehmen / atomstreit-schwedens-re gierung-draengt-vattenfall-zu-chefwechsel-a-661160.html (zuletzt 6.4.2016). 6  Vgl. hierzu auch T. Harks, Grundrechtsberechtigung, S. 119. 7  Siehe http: /  / www.finanzen.net / aktien / GDF_SUEZ-Aktie (zuletzt 6.4.2016). 8  Siehe https: /  / www.gdfsuez-energie.de / de / unternehmen / portrat (zuletzt 6.4. 2016). 9  U. Karpenstein, mündliche Verhandlung iS 1 BvR 1456 / 12 am 15.3.2016. 10  Verfassungsausschuss der Bundesrechtsanwaltskammer, Stellungnahme Nr. 58, Dezember 2012. 11  BVerfG, Urt. v. 6.12.2016  – 1 BvR 2821 / 11, 2 BvR 321 / 12, 2 BvR 1456 / 12, juris.



B. Aktueller Forschungsstand71

B. Aktueller Forschungsstand Die aufgeworfene Fragestellung war im Gegensatz zu den im ersten Kapitel behandelten Problemkreisen weitaus seltener Gegenstand von gericht­ lichen Entscheidungen und wissenschaftlichen Abhandlungen. Soweit sie erörtert wurde, blieb es meist bei knappen Feststellungen ohne weitergehende Begründung, sofern die Frage nicht ohnehin offengelassen wurde. Allein in seiner aktuellen Entscheidung hat sich das Bundesverfassungsgericht positioniert.

I. Rechtsprechung Das Bundesverfassungsgericht hat die Frage, ob Unternehmen, die sich überwiegend oder vollständig in der Hand eines ausländischen Staates befinden, grundrechtsberechtigt sind, in seiner bisherigen Rechtsprechung ausdrücklich offen gelassen12. In einer ersten Entscheidung zur Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des ausländischen öffentlichen Rechts vom 29. Juli 1988 ließ das Bundesverfassungsgericht die Frage, ob und inwieweit eine ausländische ­juristische Person des öffentlichen Rechts grundrechtsberechtigt ist, unbeantwortet. Das österreichische Bundesland Vorarlberg hatte Verfassungsbeschwerde gegen einen Erörterungstermin in einem atomrechtlichen Genehmigungsverfahren für die Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf erhoben. Die zweite Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu dieser Fragestellung vom 8. Februar 200613 ließ zunächst vermuten, dass es die mittelbare Beteiligung eines ausländischen Staates als Rechtfertigung für die Ablehnung des Grundrechtsschutzes heranziehen wollte. Beschwerdeführerin war hier die Republik Argentinien, die sich gegen einen Beschluss aus einem Abänderungsverfahren wandte, durch den die Vollstreckung gegen sie nur noch gegen Leistung einer Sicherheit eingestellt blieb. Da die Verfassungsbeschwerde hier schon aus anderen Gründen unzulässig und unbegründet war, kam es nicht auf die Grundrechtsberechtigung der Beschwerdeführerin an. Das Bundesverfassungsgericht führte dennoch aus, dass sich juristische Personen des öffent­ lichen Rechts allgemein nicht auf Art. 19 Abs. 4 GG berufen könnten. Dabei ergäben sich keine Anhaltspunkte für eine Differenzierung zwischen inländischen und ausländischen Personen des öffentlichen Rechts14. 12  BVerfG(K), NJW 2006, 2907; BVerfG (K), NVwZ 2010, 373 (374); BVerfG (K), NJW 2011, 1339. 13  BVerfG (K), NJW 2006, 2907. 14  BVerfG (K), NJW 2006, 2907 (2908).

72 2. Kap.: Juristische Personen mit Beteiligung eines ausländischen Staates

In seinem Beschluss vom 21. Dezember 200915 zu einer ebenfalls von Vattenfall erhobenen Verfassungsbeschwerde gegen die Abschöpfung übergangsbedingter Mehrerlöse im Bereich des Stromnetzzugangs ließ das Bundesverfassungsgericht diesen Punkt abermals offen. Es stellte indes in seinen Vorüberlegungen darauf ab, dass die Grundrechte vorrangig dem Schutz der Freiheitssphäre des einzelnen Menschen als natürlicher Person gegen Eingriffe der staatlichen Gewalt dienten. Außerdem sei eine Einbeziehung juristischer Personen in den Schutzbereich der Grundrechte ohnehin nur dann gerechtfertigt, wenn ihre Bildung und Betätigung Ausdruck der freien Entfaltung der Person ist. Bei juristischen Personen des öffentlichen Rechts sei die Grundrechtsfähigkeit jedenfalls dann zu verneinen, wenn sie öffentliche Aufgaben wahrnehme. Bei der Beschwerdeführerin sei zu beachten, dass sie ihren Sitz zwar im Inland habe, ihre Anteile aber vollständig vom schwedischen Staat gehalten würden. Auch in einem Beschluss vom 7. September 201016 ließ das Bundesverfassungsgericht erneut unbeantwortet, ob die mittelbare Beteiligung ausländischer Staaten an den Beschwerdeführern Bedenken gegen ihre Beschwerdefähigkeit zu rechtfertigen vermag17. Beschwerdeführer waren erneut Energieversorgungsunternehmen, an denen mittelbar der französische beziehungsweise der schwedische Staat beteiligt waren. In der mündlichen Verhandlung zu der Verfassungsbeschwerde von Vattenfall gegen die mündliche Verhandlung vom 15. März 2016 zeigte sich das Bundesverfassungsgericht zunächst hinsichtlich des Plädoyers der Verfahrensbevollmächtigten von Vattenfall, Ulrich Karpenstein, zu deren Grundrechtsberechtigung recht skeptisch. So erklärten die Richter, dass die Annahme einer Grundrechtsberechtigung für ausländische staatliche Unternehmen nicht der Durchgriffsthese entspreche und nicht erkennbar sei, warum ein ausländisches staatliches Unternehmen anders bewertet werden sollte als ein deutsches. Eine staatliche Komponente, die den Gegensatz zur Gesellschaft darstelle, bestehe in beiden Fällen. Die Grundrechte hingegen schützten lediglich privatautonomes Handeln und damit ein Handeln in der gesellschaftlichen Sphäre. Fraglich sei, ob eine Grundrechtsberechtigung dem Schutzzweck der Grundrechte entspreche, da schon zweifelhaft sei, ob ein anderer Staat dem deutschen Staat bei wirtschaftlicher Betätigung innerhalb Deutschlands ausgeliefert sei. Außerdem erklärten die Richter, es sei schon fraglich, ob bei einer Ablehnung der Grundrechtsberechtigung für Vattenfall keine Schutzlücke bestehe, da die Beschwerdeführerin selbst ein internationales Schiedsverfahren vor dem Internationalen Zentrum zur Beilegung von 15  BVerfG

(K), NVwZ 2010, 373. (K), NJW 2011, 1339. 17  BVerfG (K), NJW 2011, 1339 (1339). 16  BVerfG



B. Aktueller Forschungsstand73

Investitionsstreitigkeiten (ICSID) in den USA führe und in diesem auf Schadensersatz klage. Zudem stünden Staaten im Allgemeinen ohnehin weitergehende Rechtsbehelfe als Bürgern zu, etwa durch das Recht auf diplomatischen Schutz18. In seinem Urteil zum Atomausstieg entschied das Bundesverfassungsgericht dann aber doch, dass Vattenfall die Verfassungsbeschwerde unter Berufung auf Art. 14 GG ausnahmsweise offen stehe19. So seien die Erwägungen, die gegen eine Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des öffent­ lichen Rechts sprechen, vorliegend nicht uneingeschränkt übertragbar20. So sei das Konfusionsargument nicht übertragbar, da ein fremder Staat von vornherein nicht verpflichtet sei, die Grundrechte der Menschen in Deutschland zu garantieren und entsprechend zu schützen21. Auch sei eine Schwächung und Gefährdung der geschützten Bürger durch die Annahme einer Grundrechtsberechtigung nicht zu befürchten, da in dieser Konstellation das staatliche Unternehmen nicht aus seiner Grundrechtsbindung entlassen werde, da es von vornherein nicht an die Grundrechte gebunden sei22. Zudem verfüge eine von einem ausländischen Staat gehaltene juristische Person des öffentlichen Rechts weder unmittelbar noch mittelbar über innerstaatliche Machtbefugnisse. Sie sei vielmehr mit anderen rein privatrechtlichen Marktteilnehmern vergleichbar. Jedoch drohe ihr gegenüber anderen Marktteilnehmern die Gefahr, gegenüber staatlichen Eingriffen und wirtschaftslenkenden Maßnahmen, die in Form von Gesetzen ergehen, rechtsschutzlos zu sein23. Allerdings fehle der juristischen Person auch in diesen Fällen das personale Substrat, dessen Schutz jedoch der Sinn der vom Grundgesetz verbürgten Grundrechte sei24. In Anbetracht der besonderen Umstände des Falles sei jedoch eine offene Auslegung des Art. 19 Abs. 3 GG auch mit Blick auf die unionsrechtlich geschützte Niederlassungsfreiheit geboten. Auf diese Weise könnten auch Brüche zwischen der deutschen und der europäischen Rechtsordnung ver18  BVerfG, 19  BVerfG,

juris-Rn. 185. 20  BVerfG, juris-Rn. 191. 21  BVerfG, juris-Rn. 192. 22  BVerfG, juris-Rn. 193. 23  BVerfG, juris-Rn. 194. 24  BVerfG, juris-Rn. 195.

mündliche Verhandlung iS 1 BvR 1456 / 12 am 15.3.2016. Urt. v. 6.12.2016  – 1 BvR 2821 / 11, 2 BvR 321 / 12, 2 BvR 1456 / 12, Urt. v. 6.12.2016  – 1 BvR 2821 / 11, 2 BvR 321 / 12, 2 BvR 1456 / 12, Urt. v. 6.12.2016  – 1 BvR 2821 / 11, 2 BvR 321 / 12, 2 BvR 1456 / 12, Urt. v. 6.12.2016  – 1 BvR 2821 / 11, 2 BvR 321 / 12, 2 BvR 1456 / 12, Urt. v. 6.12.2016  – 1 BvR 2821 / 11, 2 BvR 321 / 12, 2 BvR 1456 / 12, Urt. v. 6.12.2016  – 1 BvR 2821 / 11, 2 BvR 321 / 12, 2 BvR 1456 / 12,

74 2. Kap.: Juristische Personen mit Beteiligung eines ausländischen Staates

mieden werden25. Denn Vattenfall habe bei der Gründung ihrer deutschen Tochterunternehmen von ihrer Niederlassungsfreiheit im Sinne von Art. 54 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 49 Abs. 1 Satz 2 AEUV Gebrauch gemacht26. Die Verwehrung der Verfassungsbeschwerde dürfte zwar für sich genommen nicht schon als Beschränkung der Niederlassungsfreiheit gewertet werden27. Jedoch bedürfte sie der Rechtfertigung vor der Niederlassungsfreiheit28. Zum einen wäre Vattenfall keine Rechtsschutzmöglichkeit gegen die Beeinträchtigungen der 13. AtG-Novelle eröffnet. Zum anderen müsste Vattenfall ansonsten einen spürbaren Wettbewerbsnachteil gegenüber den privaten Marktteilnehmern hinnehmen, da diesen gegen Gesetze die Rechtsschutzmöglichkeit der Verfassungsbeschwerde offen stehe29. Für eine solche Rechtfertigung fehle es jedoch an den Voraussetzungen, insbesondere seien zwingende Gründe des Allgemeinwohls nicht ersichtlich30.

II. Weitere Stimmen In der Literatur wird diese Frage in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts teilweise ebenfalls offen gelassen31. So wird angeführt, es sei unsicher, „ob juristische Personen, die von einem ausländischen Staat beherrscht werden, Grundrechtsträger sind, da ausländische Staaten durch die Grundrechte nicht verpflichtet werden; ev. kann die Beherrschung durch einen ausländischen Staat bei den Grundrechtseinschränkungen berücksichtigt werden.“32 Es wird allerdings ebenso vertreten, dass sich die Beteiligung eines ausländischen Staates an einem Unternehmen ähnlich wie die Beteiligung des deutschen Staates an einem Unternehmen darstelle33. So wird teilweise bei 25  BVerfG, Urt. v. 6.12.2016  – 1 BvR 2821 / 11, 2 BvR 321 / 12, 2 BvR 1456 / 12, juris-Rn. 196. 26  BVerfG, Urt. v. 6.12.2016  – 1 BvR 2821 / 11, 2 BvR 321 / 12, 2 BvR 1456 / 12, juris-Rn. 197. 27  BVerfG, Urt. v. 6.12.2016  – 1 BvR 2821 / 11, 2 BvR 321 / 12, 2 BvR 1456 / 12, juris-Rn. 199. 28  BVerfG, Urt. v. 6.12.2016  – 1 BvR 2821 / 11, 2 BvR 321 / 12, 2 BvR 1456 / 12, juris-Rn. 200. 29  BVerfG, Urt. v. 6.12.2016  – 1 BvR 2821 / 11, 2 BvR 321 / 12, 2 BvR 1456 / 12, juris-Rn. 200. 30  BVerfG, Urt. v. 6.12.2016  – 1 BvR 2821 / 11, 2 BvR 321 / 12, 2 BvR 1456 / 12, juris-Rn. 201. 31  H. D. Jarass, Art. 19 Abs. 3 Rn. 19a; M. Sachs, Art. 19 Rn. 92 Fn. 314 und Rn. 112 Fn. 368. 32  H. D. Jarass, Art. 19 Abs. 3 Rn. 19a. 33  C. Grabenwarter, Art. 5 Abs. 1 (2013) Rn. 37.



B. Aktueller Forschungsstand75

der Prüfung der Grundrechtsberechtigung nicht einmal zwischen der Beteiligung des deutschen Staates und ausländischer Staaten differenziert34. Eine juristische Person, die von einem ausländischen Staat gehalten werde, könne sich mangels personellen Substrats schon nicht auf die Grundrechte berufen35. Zudem entspreche es nicht dem Wesen der Grundrechte, diese einem staatlichen Akteur zur Verfügung zu stellen. Nationale staatliche Stellen könnten sich ihrer Grundrechtsbindung durch den Rückgriff auf ausländische Rechtsformen entziehen36. Auf dieser Linie liegt auch die Bundesrechtsanwaltskammer. Sie ist der Ansicht, dass sich die Vattenfall Europe AG nicht auf die Grundrechte berufen könne und begründet dies zum einen mit dem Konfusionsargument37, zum anderen mit der Abwehrfunktion der Grundrechte38. Andere Stimmen gehen schon im Ansatz davon aus, dass sich die Betei­ ligung eines ausländischen Staates nicht genauso auf die Grundrechtsfähigkeit auswirke wie die Beteiligung des deutschen Staates39. Der schwedische Staat sei nicht an die Grundrechte des Grundgesetzes gebunden, so dass keine Konfusion von Grundrechtsberechtigung und -verpflichtung denkbar sei40. Vom Ausgangspunkt der grundrechtstypischen Gefährdungslage seien die Situationen wohl nur eingeschränkt miteinander vergleichbar. Ein personales Substrat bestehe hingegen bei einer juristischen Person mit Beteiligung eines ausländischen Staates ebenso wenig wie bei einer juristischen Person mit Beteiligung der deutschen öffentlichen Hand41. Einzig Feldmüller42 setzt sich tiefergehend mit der Grundrechtsberechtigung ausländischer juristischer Personen des öffentlichen Rechts auseinander und erörtert, ob die Argumente gegen die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Sitz im Inland auf ausländische juristische Personen übertragbar sind. So könnten die Argumente, die gegen die Grundrechtsfähigkeit von deutschen juristischen Personen des öffent­ 34  A. Wallrabenstein, HFR 2011, 109 (114); D. Bruch / H. Greve, DÖV 2011, 794 (796); M. Ludwigs, NVwZ 2016, 1 (2); J. Schlömer, Kernenergie, S. 98. 35  M. Ludwigs, RW 2014, 254 (264). 36  J. Schlömer, Kernenergie, S. 98. 37  Verfassungsausschuss der Bundesrechtsanwaltskammer, Stellungnahme Nr. 58, Dezember 2012, S. 7 f. 38  Verfassungsausschuss der Bundesrechtsanwaltskammer, Stellungnahme Nr. 58, Dezember 2012, S. 8. 39  T. Harks, Grundrechtsberechtigung, S. 119; ebenso, aber ohne nähere Begründung S. de Witt, UPR 2012, 280 (283). 40  M. Kloepfer, DVBl. 2011, 1437 (1439); so auch J. Schlömer, Kernenergie, S. 98. 41  T. Harks, Grundrechtsberechtigung, S. 119. 42  C. Feldmüller, Rechtsstellung, S. 194.

76 2. Kap.: Juristische Personen mit Beteiligung eines ausländischen Staates

lichen Rechts und gemischtwirtschaftlichen Unternehmen angeführt werden, nicht ohne weiteres auf inländische juristische Personen des Privatrechts mit Beteiligung ausländischer Staaten übertragen werden43. Vielmehr sei hier unter Heranziehung des Ansatzes der grundrechtstypischen Gefährdungslage der betroffenen juristischen Person im Einzelfall zu beurteilen, ob dieser Grundrechtsfähigkeit zukommt44. Im Ergebnis seien diejenigen Argumente, die unmittelbar an die staatsbezogenen Hoheitseigenschaften juristischer Personen des öffentlichen Rechts knüpfen, im Hinblick auf die Grundrechtsberechtigung ausländischer juristischer Personen des öffentlichen Rechts nicht übertragbar45. Zu prüfen bleibt, ob diese Überlegungen auch auf die vorliegend zu untersuchende Fragestellung übertragbar sind. Eine Parallele besteht insoweit, als es in beiden Konstellationen maßgeblich auf die Bedeutung der Beteiligung des anderen Staates ankommt. In der vorliegend zu untersuchenden Konstellation ist die juristische Person aber aufgrund ihres Sitzes als inländisch zu qualifizieren, so dass die Wortlautgrenze des Art. 19 Abs. 3 GG schon nicht überschritten und damit auch nicht durch Auslegung zu überwinden ist.

C. Eigene Prüfung Im Folgenden ist also zu untersuchen, inwieweit die Beteiligung eines ausländischen Staates an einer juristischen Person deren Grundrechtsberechtigung beeinflusst. Zum einen ist dabei zu untersuchen, ob das von Art. 19 Abs. 3 GG normierte Kriterium der wesensmäßigen Anwendbarkeit der Grundrechte einer Grundrechtsberechtigung entgegensteht. Dabei sind insbesondere die beiden unterschiedlichen Ansätze zur wesensmäßigen Anwendbarkeit darauf zu untersuchen, ob und inwieweit sie die Annahme der Grundrechtsberechtigung für juristische Personen mit ausländischer staatlicher Beteiligung ausschließen, beziehungsweise wie eine solche Annahme mit ­ ihnen in Einklang zu bringen sein könnte. Schließlich ist zu erörtern, ob die sich aus diesen Ansätzen ergebende Argumentation zur Ablehnung der Grundrechtsberechtigung für juristische Personen des öffentlichen Rechts, an denen lediglich Inländer beteiligt sind, auch auf die Beteiligung ausländischer Staaten zu übertragen ist. Dabei ist zu unterscheiden zwischen rein staatlichen Unternehmen, also solchen, die sich trotz ihres Sitzes im Inland vollständig in der Hand eines ausländischen Staates befinden, und gemischtwirtschaftlichen Unternehmen, an denen neben privaten Anteilseignern auch ein ausländischer Staat beteiligt ist. 43  C.

Feldmüller, Rechtsstellung, S. 194 ff. Grabenwarter, Art. 5 Abs. 1 (2013) Rn. 37. 45  C. Feldmüller, Rechtsstellung, S. 194. 44  C.



C. Eigene Prüfung77

I. Rein staatliche Unternehmen Zu untersuchen ist zunächst, inwieweit inländische Unternehmen, die zu 100 % von einem ausländischen Staat gehalten werden, nach den im ersten Kapitel dargestellten Ansätzen zur Grundrechtsberechtigung juristischer Personen grundrechtsberechtigt sein können. Dafür maßgeblich sind zunächst das von Art. 19 Abs. 3 GG selbst statuierte Kriterium der wesensmäßigen Anwendbarkeit und die Übertragbarkeit der für juristische Personen des öffentlichen Rechts entwickelten Argumente gegen deren Grundrechtsbe­ rechtigung. 1. Wortlaut und Genese des Art. 19 Abs. 3 GG Wie bereits im ersten Kapitel dargelegt, sind Wortlaut und Genese des Art. 19 Abs. 3 GG nicht ergiebig. Der Wortlaut erfordert für die Erstreckung des Grundrechtsschutzes, dass es sich um eine inländische juristische Person handelt. Diese Voraussetzung ist in der vorliegend zu untersuchenden Konstellation zu bejahen, da sich der Sitz der betroffenen juristischen Person in der Bundesrepublik befindet. Demnach kommt es maßgeblich darauf an, wie die Einschränkung der wesensmäßigen Anwendbarkeit zu verstehen ist46. Aus der Entstehungsgeschichte des Art. 19 Abs. 3 GG ergibt sich, dass eine Anwendbarkeit der Grundrechte auf juristische Personen des öffentlichen Rechts nicht ausdrücklich ausgeschlossen werden sollte, vielmehr wurde sie ausdrücklich mitbedacht47. Nicht mitbedacht wurde allerdings die Frage, wie sich die (ausschließliche) Beteiligung eines ausländischen Staates auf die Grundrechtsberechtigung einer juristischen Person auswirken würde. Diese Frage stellte sich erst in den letzten Jahren und ist insbesondere der fortschreitenden internationalen Verflechtung und der Öffnung der Energiemärkte geschuldet. Der Verfassunggeber konnte diese Entwicklungen noch nicht einbeziehen. Demnach lässt sich auch aus der Entstehungsgeschichte kein Rückschluss herleiten. 2. Wesen und Schutzrichtung der Grundrechte Maßgeblich ist zum einen, inwieweit das Wesen der Grundrechte und ihr Schutzzweck einer Erweiterung des personalen Schutzbereichs über den Schutz natürlicher Personen und juristischer Personen des Privatrechts hinaus

46  Dazu 47  JöR

nachstehend unter 2. 1 (1951), 177 ff.

78 2. Kap.: Juristische Personen mit Beteiligung eines ausländischen Staates

zugänglich sind48. Ausgangspunkt ist hier wiederum das allgemeine Verständnis, nach dem die Grundrechte dem einzelnen Rechtsträger subjektive Rechtspositionen zuordnen und auf diese Weise staatliche Übergriffe abwehren sollen49. Nach dem ursprünglichen Verständnis bilden die Grundrechte gerade eine staatsfreie Sphäre und sollen die Freiheit vom Staat garantieren50. So ist maßgeblich, wie das Wesen der Grundrechte, auf das Art. 19 Abs. 3 GG abstellt, zu verstehen ist. Dabei ist entscheidend, ob auf den Schutzgehalt des Einzelgrundrechts oder auf die objektive Wertentscheidung der Grundrechte, nach der dem Einzelnen der Schutz seiner individualen Freiheit und Gleichheit eingeräumt werden soll, abzustellen ist. Entscheidend ist mithin, ob man ein anthropozentrisches Grundrechtsverständis zugrunde legt, das den Menschen in den Mittelpunkt stellt, oder man einem funktionalen Grundrechtsverständnis den Vorrang gibt. Stellt man auf das Wesen der Grundrechte ganz allgemein ab, kann für die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen, die von einem ausländischen Staat gehalten werden, nichts anderes gelten als für inländische juristische Personen des öffentlichen Rechts. Denn hinter der juristischen Person steht in beiden Fällen ein Staat als Organisationseinheit. Wenn die Grundrechte grundsätzlich dem Schutz des Individuums vor der juristischen Person „Staat“ dienen sollen, mit der Folge, dass eine Grundrechtsberechtigung für jegliche staatliche Organisationsform abzulehnen ist, muss dies für jeden Staat gelten. Insoweit kann angeführt werden, dass das Divergieren von Sitz und Nationalität bei ausschließlich privaten Anteilseignern einer juristischen Person nach der Sitztheorie nicht zu einer Qualifikation als ausländisch im Sinne des Art. 19 Abs. 3 GG führt. Insofern könnte man zu dem Schluss gelangen, dass auch bei juristischen Personen des öffentlichen Rechts nur der Sitz und die Beteiligung (irgend-)eines Staates maßgeblich sein sollen, ohne dass nach der Nationalität des beteiligten Staates zu unterscheiden wäre. Legt man hingegen den Fokus auf das jeweilige Grundrecht, seinen Schutzgehalt und die von ihm vermittelten Rechtspositionen, kommt eine Grundrechtsberechtigung für juristische Personen, die von ausländischen Staaten gehalten werden, grundsätzlich in Betracht. Dann ist maßgeblich, ob sich die juristische Person in einer grundrechtstypischen Gefährdungslage befindet.

48  So auch C. Feldmüller, Rechtsstellung, S. 195 für ausländische juristische Personen des öffentlichen Rechts; schon K. Stern betrachtete das Wesen der Grundrechte als „Schlüssel zum richtigen Verständnis“ von Art. 19 Abs. 3 GG, vgl. K. Stern, Staatsrecht III / 1, S. 1110. 49  G. Dürig, Art. 19 Abs. 3 (1977) Rn. 36; H. U. Erichsen, Staatsrecht, S. 173. 50  Vgl. dazu mit weitergehenden Hinweisen H. H. Rupp, HStR II, § 31 Rn. 4 ff.



C. Eigene Prüfung79

a) Nach dem Ansatz vom personalen Substrat Von dem Ansatz vom personalen Substrat ausgehend ist zu untersuchen, inwieweit die betroffene juristische Person ein solches personales Substrat aufweist. Dabei ist entscheidend, ob und inwieweit ihre Bildung und Betätigung Ausdruck der freien Entfaltung der hinter ihr stehenden natürlichen Personen ist51. Da die betroffene juristische Person in der zunächst zu untersuchenden Konstellation selbst zu 100 % staatlich ist, kann ihre Aktivität schon nicht als freie Entfaltung einer natürlichen Person verstanden werden. Bei ihr ist kein personales Substrat vorhanden52. Vielmehr wird hier ein anderer staatlicher Akteur tätig, der schon vom allgemeinen Grundrechtsverständnis her nicht mit einer natürlichen Person gleichgesetzt werden kann53. Dies zeigt sich bereits in den historischen Wurzeln der heutigen Grundrechtsdogmatik. So wird der Schutzbereich eines Grundrechts als grundsätzlich vorstaatlicher individueller Freiheitsraum betrachtet54. Das Freiheitsprinzip des liberalen Rechtsstaats wird als Antwort auf die elementaren Freiheitsverletzungen der NS-Zeit verstanden55. Unter dieser Prämisse wird ein Grundrechtseingriff als der formalisierte Zugriff des Staates auf Freiheit und Eigentum der Bürger definiert56. Eine solche persönliche Freiheit von staatlicher Tätigkeit, die durch (deutsches) staatliches Handeln verkürzt wird, ist aber für eine staat­ liche juristische Person gerade nicht anzunehmen. Zwischen ihr und dem deutschen Staat besteht gerade kein durch bürgerliche Freiheitssphären bestimmtes Verhältnis, vielmehr ist das Verhältnis zweier Staaten durch das Völkerrecht festgelegt. Dort gilt der Grundsatz der souveränen Gleichheit der Staaten, wonach sich die Staaten gleichberechtigt und gleichverpflichtet gegenüberstehen und übereinander keine Hoheitsgewalt ausüben57. Bei einer zu 100 % von einem ausländischen Staat beherrschten juristischen Person kann unabhängig von ihrer individuellen Organisationsstruktur nicht angenommen werden, dass hinter ihr auch eine natürliche Person steht. Insbesondere die Auswirkungen wirtschaftlicher Tätigkeit eines Staates auf seine Staatsangehörigen reichen nicht für die Annahme der Betroffenheit 51  Dazu

oben unter C. I. 1. zutreffend auch T. Harks, Grundrechtsberechtigung, S. 119; M. Ludwigs, RW 5 (2014), 254 (264). 53  Die normative Grundintention des Grundgesetzes wird in diese Richtung verstanden, vgl. etwa E.-W. Böckenförde, NJW 1974, 1529 (1537). 54  F. Hufen, Staatsrecht II, § 2 Rn. 7. 55  E.-W. Böckenförde, NJW 1974, 1529 (1537). 56  F. Hufen, Staatsrecht II, § 2 Rn. 7. 57  A. v. Arnauld, Völkerrecht, Rn.  312 f. 52  So

80 2. Kap.: Juristische Personen mit Beteiligung eines ausländischen Staates

natürlicher Personen. Zum einen ist diese Betroffenheit der Staatsangehörigen schon nicht als Grundrechtseingriff zu verstehen. Denn ein solcher liegt nur vor, wenn ein staatliches Handeln dem Einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, ganz oder teilweise unmöglich macht58. In der vorliegenden Konstellation ist weder ersichtlich, in welchem Grundrecht die Staatsangehörigen betroffen sein könnten, noch inwieweit ihnen ein grundrechtlich geschütztes Handeln erschwert oder unmöglich gemacht worden sein könnte. Zum anderen sind ausländische Staatsangehörige, die hinter einer juristischen Person stehen, ohnehin bezüglich der Deutschengrundrechte nicht grundrechtsberechtigt. Insofern wird im Rahmen der Durchgriffsthese vertreten, dass auf eine inländische Organisation, in der sich ausländische Staatsangehörige zusammengeschlossen haben, die Deutschengrundrechte ihrem Wesen nach keine Anwendung finden59. Diese Ansicht vertritt auch der Verfassungsrechtsausschuss der Bundesrechtsanwaltskammer für die Vattenfall Europe AG, so dass diese sich nicht auf Art. 12 Abs. 1 GG berufen könne60. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, dass die juristische Person nicht mit dem Adressaten der Grundrechte, dem deutschen Staat, gleichzusetzen ist. Nach der Durchgriffsthese ist allein maßgeblich, inwieweit durch den Grundrechtseingriff auch natürliche Personen als primäre Nutznießer der Grundrechte betroffen sind. Nach der Durchgriffsthese wird also die Betroffenheit der natürlichen Personen in den Vordergrund gestellt; nicht maßgeblich ist, ob die beteiligte juristische Person überhaupt in der Bundesrepublik staatliche Hoheitsgewalt ausüben kann. Nach diesem Ansatz kommt also eine Grundrechtsberechtigung nicht in Betracht. Dieses eindeutige Ergebnis spiegelt das Problem wieder, das mit der Durchgriffsthese einhergeht. Steht hinter der juristischen Person nicht unmittelbar auch eine natürliche Person, so kommt für erstere kein Grundrechtsschutz in Frage. Die juristische Person des öffentlichen Rechts kann sich unabhängig von der Nationalität ihres Rechtsträgers nach dieser Auffassung nicht auf die Grundrechte berufen. Dieses Ergebnis zeigt die Schutzlücke auf, die für ausländische juristische Personen des öffentlichen Rechts entstehen. So besteht für sie keine Rechtsschutzmöglichkeit gegen verfassungswidrige Gesetze61. Dieser Schutzlücke 58  B.

Pieroth u. a., Grundrechte, Rn. 253. HStR V, § 120 Rn. 59; P. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 301; B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009) Rn. 85. 60  Verfassungsausschuss der Bundesrechtsanwaltskammer, Stellungnahme Nr. 58, Dezember 2012, S. 7. 61  So inzwischen auch BVerfG, Urt. v. 6.12.2016  – 1 BvR 2821 / 11, 2 BvR 321 / 12, 2 BvR 1456 / 12, juris-Rn. 200. 59  H. Quaritsch,



C. Eigene Prüfung81

kann für deutsche staatliche Unternehmen mit dem Verweis auf die Möglichkeit der Vornahme von Organstreitverfahren und Art. 28 Abs. 2 GG (ggfls. i. V. m. den Bestimmungen zur kommunalen Verfassungsbeschwerde) begegnet werden62. Eine juristische Person des ausländischen öffentlichen Rechts hingegen ist weder selbst durch die Grundrechte des Grundgesetzes verpflichtet, noch stehen ihr anderweitige Rechtsbehelfe zu. Lediglich auf die Prozessgrundrechte aus Art. 19 Abs. 4 GG63 und Art. 101 und Art. 103 GG kann sie sich berufen64. Ebenfalls nicht übertragbar ist das Argument, dass für juristische Personen des deutschen öffentlichen Rechts keine Schutzlücke entstehe, da der juristischen Person der Verwaltungsrechtsweg und die ordentliche Gerichtsbarkeit offen stünden65. Hier ergibt sich etwa bei Klagen vor den Verwaltungsgerichten das Problem des Erfordernisses einer Klagebefugnis im Sinne des § 42 Abs. 2 VwGO, die nur anzunehmen ist, wenn die Möglichkeit einer Verletzung subjektiver Rechte des Klägers besteht66. Ebenso kommt für ausländische juristische Personen des öffentlichen Rechts keine abstrakte Normenkontrolle in Betracht, so dass ansonsten keine Rechtsschutzmöglichkeit gegen verfassungswidrige Gesetz bestünde. Zwar stehen dem hinter der juristischen Person stehenden Staat grundsätzlich völkerrechtliche Rechtsbehelfe zu. Problematisch ist allerdings, dass es für die Durchsetzung des Völkerrechts an einer obligatorischen Gerichtsbarkeit fehlt. Deswegen wird dem Völkerrecht oft eine Durchsetzungsschwäche attestiert67. Für Mitgliedstaaten der UN ist zwar bei Verstoß gegen das Völkerrecht grundsätzlich eine Klage vor dem Internationalen Gerichtshof denkbar. Jedoch kann dann nur der beteiligte Staat, nicht aber die juristische Person selbst gegen etwaige Grundrechtseingriffe vorgehen, so dass insgesamt von einem weniger intensiven Schutz als bei einer Verfassungsbeschwerde der juristischen Person selbst vor dem Bundesverfassungsgericht auszugehen ist. Ebenso bieten andere Rechtsbehelfe wie etwa ein internationales Schiedsverfahren vor dem Internationalen Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten (ICSID) keinen der Verfassungsbeschwerde vergleichbaren 62  A.

v. Mutius, Art. 19 Abs. 3 Rn. 122. Art. 19 Abs. 3 Rn. 41. 64  Nach allgemeiner Auffassung sind diese Rechte sowohl auf ausländische juristische Personen als auch auf solche des öffentlichen Rechts anwendbar (vgl. dazu 1. Kapitel C. III. und E. III.), so dass sie auch für juristische Personen mit Beteiligung des ausländischen Staates gelten müssen. Dies gilt insbesondere insoweit, als sie als zentrale Verfahrensgrundsätze zur Sicherung eines rechtsstaatlichen Verfahrens und damit als objektive Wertmaßstäbe eingeordnet werden. 65  A. v. Mutius, Art. 19 Abs. 3 Rn. 122. 66  F. O. Kopp / W.-R. Schenke / R. P. Schenke, VwGO, § 42 Rn. 59 m. w. N. 67  Dazu A. v. Arnauld, Völkerrecht, Rn. 434. 63  H. Dreier,

82 2. Kap.: Juristische Personen mit Beteiligung eines ausländischen Staates

Rechtsschutz68. Zum einen kann nur das Bundesverfassungsgericht Gesetze für verfassungswidirg erklären und den Gesetzgeber durch diese Bewertung dazu bringen, Gesetze zu ändern oder zu verwerfen69. Zum anderen ist allein die Verfassungsbeschwerde auf die Abwehr staatlichen Verhaltens der Bundesrepublik Deutschland gerichtet70, während in einem Schiedsverfahren lediglich Schadensersatzansprüche und Kompensationen geregelt werden können. Vielmehr bleibt eine Rechtsschutzlücke, die nicht mit Art. 1 Abs. 3 GG und Art. 19 Abs. 4 GG zu vereinbaren wäre71. Denn könnten ausländischen staatliche Unternehmen und juristische Personen des öffentlichen Rechts in keiner Weise gegen die gemäß Art. 1 Abs. 3 GG gebundene Staatsgewalt vorgehen, könnte diese entgegen ihrer Bindung diesen gegenüber ohne weiteres entgegen der im Grundgesetz getroffenen Wertentscheidungen vor­ gehen. Das Bedürfnis für eine Rechtsschutzmöglichkeit wird auch daran deutlich, dass der Vertreter der Bundesregierung, Christoph Möllers, in der mündlichen Verhandlung über die Verfassungsbeschwerde von Vattenfall gegen den Atomausstieg72 vor dem Bundesverfassungsgericht erklärte, dass die Bundesregierung der Annahme einer Grundrechtsberechtigung für ausländische staatliche Unternehmen zwar grundsätzlich skeptisch gegenüberstehe, sie aber durchaus ein Bedürfnis für eine Klärung sämtlicher in dem Verfahren aufgeworfener Rechtsfragen durch das Bundesverfassungsgericht sehe73. b) Nach dem Ansatz von der grundrechtstypischen Gefährdungslage Die Lehre von der grundrechtstypischen Gefährdungslage hingegen lässt Raum für den Schutz der juristischen Person als solcher, da sie nach diesem Ansatz um ihrer selbst willen geschützt ist74. Danach ist grundsätzlich nicht ausgeschlossen, dass eine juristische Person mit Beteiligung eines ausländischen Staates der deutschen Staatsgewalt wie eine (inländische) natürliche Person unterworfen ist. Dementsprechend besteht bei wirtschaftlicher Betäti68  So auch U. Karpenstein, mündliche Verhandlung iS 1 BvR 1456 / 12 am 15.3. 2016. 69  In diese Richtung auch R. Scholz, mündliche Verhandlung iS 1 BvR 1456 / 12 am 15.3.2016. 70  U. Karpenstein, mündliche Verhandlung iS 1 BvR 1456 / 12 am 15.3.2016. 71  BVerfG, Urt. v. 6.12.2016  – 1 BvR 2821 / 11, 2 BvR 321 / 12, 2 BvR 1456 / 12, juris-Rn. 200. 72  Mündliche Verhandlung iS1 BvR 1456 / 12 am 15.3.2016. 73  C. Möllers, mündliche Verhandlung iS 1 BvR 1456 / 12 am 15.3.2016. 74  Dazu oben C. I. 2.



C. Eigene Prüfung83

gung eines Unternehmens insbesondere die Möglichkeit der Betroffenheit der Grundrechte aus Art. 14 GG und Art. 12 GG. So kann eine juristische Person etwa durch eine Enteignung in ihrer Eigentumsfreiheit betroffen sein wie ein Privater. Auch besteht die Möglichkeit eines Eingriffs in die Berufsfreiheit einer juristischen Person durch Untersagung bestimmter wirtschaft­ licher Tätigkeiten. Für diese Betrachtungsweise spricht vor allem das Verständnis der Grundrechte „als Antworten auf bestimmte, historisch erfahrene Gefährdungslagen menschlicher Freiheit.“75 aa) Das von einigen Stimmen geforderte Außenrechtsverhältnis zwischen Betroffenem und Eingreifendem, das die Annahme einer grundrechtstypischen Gefährdungslage erst ermöglichen soll76, besteht im Verhältnis zu ­juristischen Personen mit Beteiligung eines ausländischen Staates kraft Natur der Sache. Ein solches Außenrechtsverhältnis wird immer dann angenommen, wenn sich die betreffende öffentlich-rechtliche Organisation hinsichtlich des Tätigkeitsbereichs, für den sie Grundrechtsschutz beansprucht, gegenüber dem grundrechtsgefährdenden Staat und seinen Untergliederungen in demselben Außenrechtsverhältnis befindet wie ein Staatsbürger77. Maßgeblich seien dafür die das betreffende Rechtsverhältnis begründenden Rechtsnormen. Gehören diese Normen etwa dem materiellen öffentlichen Recht, dem Verwaltungsverfahrens- oder dem Verwaltungsprozessrecht an, so dass ihr Tatbestand auf der Verpflichtungsseite sowohl durch einen Träger der öffentlichen Gewalt als auch durch eine natürliche Person erfüllt sein kann, liegt eine Außenrechtsbeziehung vor78. Regeln die betroffenen Rechtsnormen jedoch Pflichten und Befugnisse der Staatsorgane und Organwalter zueinander sowie in ihrem Verhältnis zum „Staatsorganismus“, dann gehören sie dem Staatsorganisationsrecht und damit dem Innenrechtsbereich an79. Begründet wird das Erfordernis der Außenrechtsbeziehung und der damit einhergehenden Differenzierung nach Rechtskreisen mit der strukturellen Verschiedenheit mit der prinzipiellen Unterscheidung staatlicher und gesellschaftlicher Sphären80. Dabei sei insbesondere die dem Verfassungssystem immanente Trennungslinie zwischen Grundrechten und dem Staatsorganisa­ 75  BVerfGE 6, 55 (71); 27, 71 (84); H. Bethge, Der Staat 24 (1985), 351 (353); H. Dreier, Vorb. vor Art. 1 Rn. 7; ähnlich G. Dürig, Art. 2 Abs. 1 (1958) Rn. 8, der von bestimmten historischen Gefährdungen der Freiheit spricht. 76  K. A. Bettermann, NJW 1969, 1321 (1326); A. v. Mutius, Art. 19 Abs. 3 Rn.  114 f.; ders., JuS 1977, 319 (321 f.); ders., Jura 1983, 30 (35); K. Kröger, JuS 1981, 26 (29); H.-U. Erichsen / A. Scherzberg, NVwZ 1990, 8 (11); B. Pieroth, NWVBl. 1992, 85 (88); B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009), Rn. 27. 77  K. A. Bettermann, NJW,1969, 1321 (1326); A. v. Mutius, Art. 19 Abs. 3 Rn. 115. 78  H. H. Rupp, Grundfragen, S. 104 ff.; A. v. Mutius, Art. 19 Abs. 3 Rn. 115. 79  H. H. Rupp, Grundfragen, S. 104 ff.; A. v. Mutius, Art. 19 Abs. 3 Rn. 115. 80  A. v. Mutius, Art. 19 Abs. 3 Rn. 117; vgl. dazu auch 1. Kapitel D. II. 1.

84 2. Kap.: Juristische Personen mit Beteiligung eines ausländischen Staates

tionsrecht zu beachten81. Ausnahmen kommen nach diesem Ansatz immer dann in Betracht, wenn die Rechtsordnung selbst das Prinzip der Trennung staatlicher und bürgerlicher Sphären durchbricht. Dies sei dann der Fall, wenn sie öffentlich-rechtliche Funktionsträger denselben Rechtsregeln unterwirft wie die Staatsbürger82. Das Vorliegen einer solchen Außenrechtsbeziehung wird beispielweise dann angenommen, wenn ein rechtlich verselbständigter öffentlicher Funktionsträger als Beteiligter an einem externen Verwaltungs- und Gerichtsverfahren der Entscheidungsgewalt eines Staatsorgans unterliegt83. Gleiches gilt etwa, wenn er enteignet wird84 oder Adressat ordnungsbehördlicher Maßnahmen ist85. Nach dieser Definition betreffen Rechtsbeziehungen zwischen der deutschen Staatsgewalt und juristischen Personen des ausländischen öffentlichen Rechts stets ein Außenrechtsverhältnis. Der ausländische Staat ist nämlich gerade nicht durch die Grundrechte verpflichtet und steht auch nicht derart in Verknüpfung mit der Bundesrepublik, dass von einem Innenrechtsverhältnis – wie etwa innerhalb einer deutschen Behörde – ausgegangen werden könnte. Dies folgt bereits aus dem völkerrechtlichen Grundsatz der souveränen Gleichheit der Staaten und der damit einhergehenden Pflicht zur Achtung der Rechtspersönlichkeit anderer Staaten86. Daraus ergibt sich, dass die einzelnen Staaten souverän nebeneinanderstehen und nicht durch das Innenrecht eines anderen Staates gebunden werden können. Zieht man die Grenze zur Grundrechtsberechtigung mit der Abgrenzung zum Staatsorganisationsrecht, so kommt lediglich die Anwendung der Grundrechte in Betracht. Das Staatsorganisationsrecht ist schon nicht anwendbar, vielmehr richtet sich das Verhältnis der Staaten untereinander nach dem Völkerrecht. Insbesondere können im Falle eines Konfliktes keine Rechtsbehelfe aus dem Staatsorganisa­ tionsrecht herangezogen werden, da es sich gerade nicht um bloße Kompetenzstreitigkeiten handelt. Von diesem Ansatz aus betrachtet, besteht schon keine Vergleichbarkeit zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts mit inländischer und ausländischer staatlicher Beteiligung. Denn ausländische juristische Personen 81  A.

v. Mutius, Art. 19 Abs. 3 Rn. 117. v. Mutius, Art. 19 Abs. 3 Rn. 117. 83  So etwa K. A. Bettermann, NJW 1969, 1321 (1323, 1326 f.). 84  R. Feine, Schutz, S. 62, 76 Fn. 287; K. A. Bettermann, NJW 1969, 1321 (1325 ff.); A. v. Mutius, Art. 19 Abs. 3 Rn. 118. 85  K. A. Bettermann, NJW 1969, 1321 (1327); H.-U. Erichsen, Staatsrecht, S. 159; A. v. Mutius, Art. 19 Abs. 3 Rn. 118. 86  A. v. Arnauld, Völkerrecht, Rn. 312. 82  A.



C. Eigene Prüfung85

des öffentlichen Rechts stehen der deutschen Staatsgewalt als selbständige und weisungsunabhängige Rechtssubjekte gegenüber87. bb) Bezüglich des Bestehens einer Außenrechtsbeziehung wird auch vertreten, diese sei immer dann anzunehmen, „wenn die Kompetenzen juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit besonderen grundrechtlichen Garantien versehen worden sind.“88 Aus diesem Ansatz ergeben sich auch die bereits erläuterten Ausnahmen vom Ausschluss juristischer Personen des öffentlichen Rechts vom Grundrechtsschutz, die allgemein befürwortete Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts immer dann anzunehmen sind, wenn eine juristische Person des öffentlichen Rechts einem grundrechtlich geschützten Lebensbereich unmittelbar zugeordnet ist oder ihm kraft seiner Eigenart von vornherein zugehört89. Selbst wenn die betroffene juristische Person – beziehungsweise der hinter ihr stehende ausländische Staat – nicht mit diesen besonderen grundrecht­ lichen Garantien betraut ist, so lässt sich an dieser Stelle doch eine Parallele zu denjenigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts ziehen, für die das Bundesverfassungsgericht bereits anerkannt hat, dass sie trotz staatlicher Trägerschaft grundrechtsberechtigt sein können90. Auch in dem vorliegend zu untersuchenden Fall wird die juristische Person in einem sonstigen grundrechtsrelevanten Bereich tätig und gehört einem grundrechtlich geschützten Lebensbereich an. Juristische Personen des ausländischen öffentlichen Rechts befinden sich in zudem einer den Ausnahmekonstellationen vergleichbaren Situation, da sie ebenfalls nicht beziehungsweise noch weniger in Zusammenhang mit dem Grundrechtsverpflichteten stehen, also von diesem los­ gelöst sind. Vielmehr stehen sie dem Grundrechtsverpflichteten selbständig gegenüber. Auch besteht ein vergleichbares Schutzbedürfnis, weil sich beide Rechtssubjekte nicht mit kompetenzrechtlichen Streitigkeiten oder durch das Staatsorganisationsrecht verteidigen können. Zudem besteht aber auch die Möglichkeit, dass eine ausländische juristische Person des öffentlichen Rechts in einem als Ausnahmebereich anerkannten grundrechtlich geschützten Lebensbereich tätig wird und diesem unmittelbar zugeordnet ist. In Betracht kommt etwa, dass ein ausländischer staatlicher Fernsehsender, der in einem EU-Land seinen Sitz hat, in Deutschland Filmaufnahmen machen möchte, was ihm aber aufgrund ordnungs­ behördlichen Einschreitens untersagt wird. Ebenso kann eine ausländische Religionsgemeinschaft, die mit einem ausländischen EU-Staat verknüpft ist, 87  C.

Feldmüller, Rechtsstellung, S. 195. Erichsen, Staatsrecht, S. 161; so auch A. Arndt, NJW 1962, 1192 (1194). 89  BVerfGE 75, 192 (196); vgl. dazu Kap. 1 D. II. 90  Siehe dazu Kap. 1 D. II. 88  H.-U.

86 2. Kap.: Juristische Personen mit Beteiligung eines ausländischen Staates

durch Reglementierungen in ihrer Religionsfreiheit betroffen sein. Auch inländische Forschungsprojekte, an denen ausländische Universitäten federführend beteiligt sind, können durch Einschreiten der deutschen Behörden reglementiert oder untersagt werden, was wiederum einen Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit der ausländischen Universitäten darstellen könnte. Es stellt sich damit die Frage, wie mit diesen juristischen Personen zu verfahren ist. Zum einen besteht die Möglichkeit, sie gleich den inländischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts zu behandeln, die unter diese Ausnahmetrias fallen. Zum anderen besteht die Möglichkeit, den Fokus – entgegen der Sitzlehre – auf die Einflussnahme des beteiligten Staates und damit das Kriterium „ausländisch“ zu legen, und so den betroffenen juristischen Personen den Grundrechtsschutz zu versagen. Hat die tätig werdende juristische Person ihren Sitz im Inland oder im EU-Ausland, kann sie grundsätzlich nicht anders behandelt werden als eine inländische juristische Person des öffentlichen Rechts, die in einem grundrechtlich geschützten Bereich tätig wird. Wenn schon die Verknüpfung mit dem eigenen, grundrechtsverpflichteten Staates in diesen anerkannten Fällen nicht gegen die Grundrechtsberechtigung der juristischen Person angeführt werden kann, so muss dies erst Recht für solche juristischen Personen gelten, die mit einem anderen Staat verknüpft sind. cc) Zur Begründung einer Grundrechtsberechtigung wird unter der Prämisse der grundrechtstypischen Gefährdungslage auch das Kriterium der inländergleichen Gewaltunterworfenheit für juristische Personen des ausländischen öffentlichen Rechts herangezogen91. Eine inländergleiche Gewalt­ unterworfenheit sei dann anzunehmen, wenn die juristische Person tatsächlich der innerdeutschen Staatsgewalt und innerstaatlichen Rechtsordnung unterworfen sei und sie sich nicht etwa hinsichtlich ihres hoheitlichen Handelns auf den Grundsatz der Staatenimmunität berufen könne92. Soweit sie sich nämlich der deutschen Staatsgewalt entziehen könne, ist keine grundrechtstypische Gefährdungslage anzunehmen. Besteht hingegen ein solcher Schutzanspruch nicht, etwa weil eine ausländische juristische Person des öffent­ lichen Rechts im Inland privatrechtlich tätig wird, unterscheidet sich das Rechtsverhältnis nicht von dem zwischen dem Staat und einer inländischen juristischen Person des Privatrechts93. Das Bestehen einer solchen inländergleichen Gewaltunterworfenheit sei erforderlich, aber auch ausreichend, um eine grundrechtstypische Gefähr91  C. 92  E.

Feldmüller, Rechtsstellung, S. 199. H. Ritter, NJW 1964, 279 (282 Fn. 27); C. Feldmüller, Rechtsstellung,

S. 199. 93  C. Feldmüller, Rechtsstellung, S. 199.



C. Eigene Prüfung87

dungslage zu begründen. Nicht erforderlich sei hingegen eine existenzielle Gewaltunterworfenheit, durch die die juristische Person in ihrem Bestand von der Staatsgewalt abhängig sein müsse, mithin eine innere Verbindung zur innerstaatlichen Rechtsordnung beinhalte. Notwendig hingegen sei eine Gewaltunterworfenheit in der Weise, dass das ausländische Rechtssubjekt im Hinblick auf seine inländische Aktivität vollständig der deutschen Staatsgewalt unterlegen ist94. Diese Einordnung sei auch hinsichtlich der Systematik von Völkerrecht und nationalem Verfassungsrecht schlüssig, da das Völkerrecht gerade diese Konstellationen nicht erfasse95. Im Ergebnis beginne der Schutz der ausländischen juristischen Person des öffentlichen Rechts mit dem Vorliegen einer grundrechtstypischen Gefährdungslage und ende an der Grenze zum Völkerrecht96. Eine solche grundrechtstypische Gefährdungslage bestehe demnach nicht, wenn die juristische Person in ihrer Eigenart als Grundrechtsverpflichteter betroffen ist, da dann die Regelungen des Völkerrechts anzuwenden seien97. Dieser Ansatz ist auf öffentliche Unternehmen in Hand eines ausländischen Staates insoweit übertragbar, als es auch dort maßgeblich darauf ankommt, inwieweit allein die Beteiligung eines ausländischen Staates an einer juristischen Person zu einem Ausschluss der Grundrechtsberechtigung führen kann. Allerdings liegt der Fokus bei der hier zu untersuchenden Fragestellung nicht auf dem Kriterium ausländisch, da die betroffenen juristischen Personen ohnehin aufgrund ihres Sitzes als inländisch zu qualifizieren sind. Da vorliegend das Kriterium der (ausländischen) Staatsbeteiligung maßgeblich zu untersuchen ist, stellt sich in Anlehnung an das von Feldmüller entwickelte Kriterium die Frage, ob eine privatrechtsähnliche Gewaltunterworfenheit besteht. Maßgeblich ist also, ob die juristische Person der deutschen Staatsgewalt wie ein anderer Hoheitsträger gegenübertritt oder ob sie sich in einer ähnlichen Gewaltunterworfenheit befindet wie eine (inländische) juristische Person des Privatrechts. Eine solche privatrechtsähnliche Gewaltunterworfenheit ist immer dann anzunehmen, wenn die hoheitliche Trägerschaft im Inland keinerlei Auswirkungen auf die Rechtsstellung der juristischen Person hat. Dies wiederum ist immer dann der Fall, wenn ein etwaiger Konflikt auch nicht über das Völkerrecht zu lösen ist und die Grundrechtsverkürzung auch eine juristische Person des Privatrechts auf gleiche Weise treffen könnte. Der juristischen Person dürfen also prozessual betrachtet keine weitergehenden Rechtsbehelfe als 94  C.

Feldmüller, Feldmüller, 96  C. Feldmüller, 97  C. Feldmüller, 95  C.

Rechtsstellung, Rechtsstellung, Rechtsstellung, Rechtsstellung,

S. 200. S. 200 f. S. 201. S. 201.

88 2. Kap.: Juristische Personen mit Beteiligung eines ausländischen Staates

einer juristischen Person des Privatrechts zur Verfügung stehen. Materiell betrachtet darf sie selbst nicht hoheitlich tätig werden. c) Fazit Zusammenfassend kommt die Annahme einer Grundrechtsberechtigung juristischer Personen, die sich gänzlich in Hand eines ausländischen Staates befinden, nur nach dem Ansatz von der grundrechtstypischen Gefährdungslage in Betracht. Diese Ansicht scheint insgesamt vorzugswürdig, da sie dem Verständnis der Grundrechte als Antwort auf spezifische Gefährdungsszenarien besonders gerecht wird. Diesbezüglich kann dann nicht zwischen inländischen juristischen Personen des Privatrechts und solchen des öffentlichen Rechts in Hand eines ausländischen Staates unterschieden werden. Der Pa­ rallele zwischen diesen beiden kann durch das Kriterium der privatrechtsgleichen Gewaltunterworfenheit Rechnung getragen werden. Anhand der hier zu untersuchenden Fragestellung zeigen sich die Schutzlücken, die mit dem Ansatz vom personalen Substrat einhergehen. Dies spricht allgemein dafür, dass mit dem Ansatz von der grundrechtstypischen Gefährdungslage auch in Bezug auf inländische juristische Personen des ­öffentlichen Rechts eine sach- und interessengerechte Lösung zu finden ist. Ob die Emtscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die ebenfalls von dem Erfordernis einer Rechtsschutzmöglichkeit ausgeht, jedoch als Schritt zu einem funktionaleren Grundrechtsverständnis und der Abkehr vom Erfordernis des personalen Substrats angesehen werden kann, wird sich erst mit der Zeit zeigen. Dagegen spricht insbesondere, dass das Bundesverfassungsgericht vermehrt auf die Grundfreiheiten abgestellt hat, die eine offenere Auslegung des Art. 19 Abs. 3 GG erforderten98. Eine Auseinandersetzung mit der Frage nach der wesensmäßigen Anwendbarkeit und dem Wesen der Grundrechte, aus der sich diesbezügliche Tendenzen herleiten lassen könnten, hat das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung zum Atomausstieg gerade nicht vorgenommen. 3. Übertragbarkeit der Argumente gegen eine Grundrechtsberechtigung inländischer juristischer Personen des öffentlichen Rechts Zu untersuchen ist ferner, ob die Argumente, die allgemein gegen eine Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des deutschen öffentlichen

98  Dazu

unten unter Kap. 5 C.



C. Eigene Prüfung89

Rechts angeführt werden, auch auf juristische Personen eines ausländischen Staates mit Sitz im Inland übertragen werden können. a) Wesensargument Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist die Grundrechtsberechtigung für juristische Personen des deutschen öffentlichen Rechts aufgrund des Wesens der Grundrechte abzulehnen. Es begründet dieses sogenannte Wesensargument mit der Verschiedenheit der Wahrnehmung menschlicher Freiheit durch natürliche Personen und der Ausübung staatlicher Kompetenz durch juristische Personen des öffentlichen Rechts99. Dabei steht im Mittelpunkt, dass staatliche Tätigkeit den Zugang zum grundrecht­lichen Schutz per se ausschließt. Unter dem Gesichtspunkt des Wesensarguments gilt dies unabhängig davon, ob der betroffene Staat im konkreten Rechtsverhältnis selbst grundrechtsbeschränkend tätig wird. Das Wesensargument ergibt sich zunächst aus der Trennung von Staat und Gesellschaft und der damit einhergehenden Zweiteilung des Rechts in das öffentliche und das private Recht100. Auch die fortschreitende Verknüpfung von Staat und Gesellschaft vermag an dieser Zweiteilung nichts zu ändern101. Vielmehr definiert sich der Staat nach wie vor über seine Aufgabenwahrnehmung und der mit dieser einhergehenden Letztentscheidungsbefugnis102. Auf dieser Linie liegt es, dass für juristische Personen des ausländischen öffentlichen Rechts und ausländische Staaten teilweise vertreten wird, dass das Wesensargument, mit dem die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des deutschen öffentlichen Rechts abgelehnt wird, grundsätzlich auch auf sie übertragbar sei103. Der Grundrechtsfähigkeit ausländischer juristischer Personen des öffentlichen Rechts stünde insoweit dasselbe Argument entgegen, das auch maßgeblich zur Versagung der Grundrechtsberechtigung inländischer juristischer Personen des öffentlichen Rechts führe104. Begreife man die Grundrechte nämlich als individuelle Rechte des Einzelnen (Menschen) zur Wahrnehmung seiner persönlichen Freiheiten, so sei dies nicht mit der Annahme ihrer Grundrechtsberechtigung vereinbar105.

99  BVerfGE 61, 82 (101); 68, 193 (206); 75, 192 (196); C. Feldmüller, Rechtsstellung, S. 197. 100  In diese Richtung auch D. Ehlers, Verwaltung in Privatrechtsform, S. 42. 101  D. Ehlers, Verwaltung in Privatrechtsform, S. 42 f. 102  D. Ehlers, Verwaltung in Privatrechtsform, S. 43. 103  In diese Richtung C. Grabenwarter, Art. 5 Abs. 1 (2013), Rn. 37. 104  C. Grabenwarter, Art. 5 Abs. 1 (2013), Rn. 37. 105  C. Feldmüller, Rechtsstellung, S. 195.

90 2. Kap.: Juristische Personen mit Beteiligung eines ausländischen Staates

Fraglich ist jedoch, ob dies allein zum Ausschluss ihrer Grundrechtsberechtigung führen kann. Maßgeblich ist dabei, ob das Wesen der Grundrechte dabei tatsächlich das enge Verständnis im Sinne des Erfordernisses eines personalen Substrats voraussetzt106. Dagegen wird angeführt, dass weder der Wortlaut noch die Entstehungsgeschichte oder die Zusammenschau mit anderen verfassungsrechtlichen Normen ein solch enges Verständnis voraussetzen107. Gegen die Übertragung des Wesensargumentes spricht auch, dass dieses besonders auf die Aufgabenwahrnehmung eines staatlichen Funktionsträgers abstellt, die nicht mit der Annahme der Grundrechtsberechtigung in Einklang zu bringen sei108. Ausländische Staaten nehmen aber gerade keine öffent­ lichen Aufgaben in Deutschland wahr109; dies gilt erst Recht, wenn sie durch juristische Personen des Privatrechts handeln. Außerdem wird die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts im Hinblick auf ausländische juristische Personen des öffentlichen Rechts als zu kurz gegriffen bewertet. Die Unterscheidung zwischen der Wahrnehmung von Freiheit und Handeln aufgrund staatlich verliehener Kompetenz ermögliche insbesondere keinen Rückschluss auf die Grundrechtsberechtigung ausländischer juristischer Personen des öffentlichen Rechts. Ihnen komme vielmehr eine Sonderstellung zu, da sie als öffentlich-rechtliche Rechtssubjekte nicht in Wahrnehmung einer aus der Menschenwürde abgeleiteten Freiheit handle, andererseits ihre Kompetenzen auch nicht durch die innerstaatliche Rechtsordnung definiert seien. Vielmehr seien ihre Rechte aus einer anderen Staatsgewalt abgeleitet. Gegenüber der innerstaatlichen Gewalt werden ihnen damit eine Freiheit sui generis zuteil. Im Verhältnis zur inländischen Hoheitsgewalt seien sie in ihrer Stellung der einer natürlichen Person vergleichbar110. Berufen sie sich also auf die Grundrechte, gehe es nicht um die Abgrenzung von Kompetenzen, sondern um die Bewahrung ihrer Rechte111. Diese Argumentation ist insoweit auf die hier zu untersuchende Konstellation übertragbar, da staatlichen Unternehmen in Hand eines ausländischen Staates ebenfalls eine besondere Stellung zuteilwird. Auch sie leiten ihre Rechte aus einer anderen Staatsgewalt ab und sind – wie bereits dargelegt – eher mit juristischen Personen des Privatrechts vergleichbar. auch C. Feldmüller, Rechtsstellung, S. 196 f. K. Stern, Staatsrecht III / 1, S. 1102 f.; A. v. Mutius, Art. 19 Abs. 3 Rn.  89 ff.; N. Zimmermann, Schutzanspruch, S. 79 ff. 108  BVerfGE 68, 193 (206); 75, 192 (196); BVerfG (K), NVwZ 1994, 262 (262). 109  Dazu unten unter II. 2. b. 110  C. Feldmüller, Rechtsstellung, S. 197. 111  C. Feldmüller, Rechtsstellung, S. 198. 106  So

107  Etwa



C. Eigene Prüfung91

Ferner wird angeführt, das individualisierte Grundrechtsverständnis des Bundesverfassungsgerichts schließe den Grundrechtsschutz ausländischer juristischer Personen des öffentlichen Rechts nicht zwingend aus. Denn mit ihrem Schutz gehe gerade keine Gefahr für den Schutz natürlicher Personen einher, da sie keine durch innerstaatliches Recht zugewiesenen und geregelten öffentlichen Aufgaben wahrnehmen. Ihre Funktion führe schon nicht zur Kollision mit den Rechten einzelner112. Auch diese Argumentation ist übertragbar, da die Anerkennung eines Grundrechtsschutzes für eine von einem ausländischen Staat gehaltene juristische Person bedeutet gerade keine Einbuße des Grundrechtsschutzes für natürliche Personen durch die Verstärkung der öffentlichen Gewalt. Es tritt mithin gerade keine Vermischung staatlicher Kompetenzen und dem Grundrechtsschutz ein. b) Konfusionsargument Selbst wenn man davon ausgeht, dass sich Grundrechtsbindung und Grundrechtsträgerschaft in der Regel ausschließen113 und den Ausschluss juristischer Personen des öffentlichen Rechts auf diesen Ansatz stützt, so kann er nicht auf die Grundrechtsberechtigung von einer von einem ausländischen Staat gehaltenen juristischen Person übertragen werden114. Schon nach seiner Definition ist das Konfusionsargument nicht auf juristische Personen, die von einem anderen Staat gehalten werden, anwendbar115. Maßgeblich ist dabei zunächst, dass lediglich die deutsche öffentliche Gewalt Adressatin der Grundrechte ist116, denn Art. 1 Abs. 3 GG bindet ausschließlich die inländische öffentliche Staatsgewalt117. Damit richtet sich auch der negatorische Schutz, den die grundrechtlich garantierten Freiheiten gewähren, gegen die deutsche Staatsgewalt118. Die ausländische Staatsgewalt ist hingegen an die deutschen Grundrechte nicht gebunden119. Wird also ein von einem ausländischen Staat gehaltenes Unternehmen hoheitlich tätig, berührt dies nicht die grundrechtliche Verantwortung der Bundesrepublik. 112  C.

Feldmüller, Rechtsstellung, S. 198. W. Rüfner, HStR IX, § 197 Rn. 12; J. Kater, Grundrechtsbindung, S. 60. 114  So inzwischen auch BVerfG, Urt. v. 6.12.2016  – 1 BvR 2821 / 11, 2 BvR 321 / 12, 2 BvR 1456 / 12, juris-Rn. 192. 115  BVerfG, Urt. v. 6.12.2016 – 1 BvR 2821 / 11, 2 BvR 321 / 12, 2 BvR 1456 / 12, juris- Rn. 192. 116  F. Hufen, Staatsrecht II, § 7 Rn. 7. 117  So auch P. Badura, Territorialprinzip, S. 409. 118  P. Badura, HGR II, § 47 Rn. 18. 119  B. Kempen, HGR II, § 54 Rn. 10; W Rüfner, HStR IX, § 197 Rn. 24. 113  Etwa

92 2. Kap.: Juristische Personen mit Beteiligung eines ausländischen Staates

Dementsprechend kann nur die inländische öffentliche Gewalt innerhalb der Bundesrepublik hoheitlich tätig werden. Ausländische Staaten hingegen werden – etwa durch ihre juristischen Personen – in der Bundesrepublik nicht hoheitlich tätig, da sich ihre Hoheitsmacht aufgrund völkerrechtlicher Begrenzungen regelmäßig nicht über das eigene Staatsgebiet hinaus erstreckt120. Vielmehr wirken ausländisches Recht und ausländische Maßnahmen nur auf dem Staatsgebiet des hoheitlich handelnden Staates121. Dies ergibt sich bereits aus dem Territorialprinzip. Danach ist ein Staat mit seiner hoheitlichen Herrschaft auf einen bestimmten Teil der Erdoberfläche, sein Staatsgebiet, bezogen und begrenzt122. Hoheitsakte kann er regelmäßig nur innerhalb dieses Gebietes vornehmen123. In diesem Gebiet ist der Staat ausschließlich räumlich zuständig und übt dort seine territoriale Souveränität aus124. Diese territoriale Souveränität ist eine durch das Völkerrecht anerkannte und geschützte Kompetenz des Staates125. Aus ihr folgt die Gebietshoheit, also die Befugnis, die Staatsgewalt auf dem Staatsgebiet auszuüben126. Daraus wiederum folgt, dass staatliche Hoheitsakte auf dem Gebiet eines anderen Staates nur mit dessen Zustimmung zulässig sind127. Gebietshoheit kann ein Staat nämlich nur soweit ausüben, als er nicht in die Hoheit anderer Völkerrechtssubjekte eingreift128. Das Territorialprinzip bewirkt ferner eine Begrenzung der Staatsgewalt auf das Staatsgebiet und damit eine Beschränkung der Geltung staatlichen Rechts auf das Staatsgebiet129. Damit ist auch Rechtsschutz gegen das hoheitliche Handeln anderer Staaten vor den deutschen Gerichten ausgeschlossen130. Zulässig ist allein, das Handeln des anderen Staates auf seine Völkerrechtskonformität überprüfen zu lassen131. Etwas anderes ergibt sich nicht aus unionsrechtlichen Vorgaben und dem Grundsatz der Gleichheit der Mitgliedstaaten aus Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV. Vielmehr ist in Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV auch die nationale Identität der Mitgliedstaaten normiert. Diese erfasst auch die Staatseigenschaft der Mit120  So auch M. Sachs, Verfassungsrecht II, A 3 Rn. 5 zur Betätigung deutscher Hoheitsgewalt über die Grenzen der Bundesrepublik hinaus. 121  W. Rüfner, HStR IX, § 197 Rn. 24. 122  P. Badura, Territorialprinzip, S. 403. 123  H. Schneider, Gesetzgebung, Rn. 574; D. Merten, Geltungsbereich, S. 332. 124  P. Badura, Territorialprinzip, S. 403. 125  W. v. Vitzthum, HStR II, § 18 Rn. 4 ff.; P. Badura, Territorialprinzip, S. 403. 126  P. Badura, Territorialprinzip, S. 403. 127  BVerfGE 63, 343 (373); H. D. Jarass, Art. 25 Rn. 9; vgl. weitergehend W. Rüfner, HStR IX, § 197 Rn. 61 ff. 128  W. v. Vitzthum, HStR II, § 18 Rn. 11. 129  P. Badura, Territorialprinzip, S. 403. 130  BVerfGE 117, 141 (153). 131  BVerfGE 95, 96 (129).



C. Eigene Prüfung93

gliedstaaten132, so dass diese ihre Eigenstaatlichkeit und ihre verfassungsrechtliche Grundausrichtung bewahren133. Auch Art. 18 EUV spricht nur von einem Verbot der Diskriminierung aufgrund von Staatsangehörigkeit und fordert nicht die gänzliche Gleichstellung der Mitgliedstaaten gegenüber sämtlichen EU-Bürgern. Daraus folgt, dass die Besonderheiten, die mit dem Status „ausländisch“ einhergehen, in jedem Fall bei der Frage nach der Übertragbarkeit des Konfusionsarguments zu berücksichtigen sind134. Diese Besonderheiten fügen sich nicht in das konventionelle Modell zweiseitiger Rechtsbeziehungen zwischen Individuum und Staat. Nimmt man an, dass eine ausländische natürliche Person mit Aufenthaltsort in der Bundesrepublik zwei öffentlichen Gewalten – der ihres Aufenthaltsstaates und der des Heimatsstaates – unterworfen ist135, so ist für ausländische staatliche Unternehmen ebenfalls von einer zweiseitigen Rechtsbeziehung auszugehen: Im Niederlassungsstaat ist das Unternehmen dessen Staatsgewalt unterworfen, im Heimatsstaat gehört es dessen Staatsgewalt an. Damit ist das von Isensee für natürliche Personen vorgeschlagene dreiseitige Modell der staatsrechtlichen Stellung136 auf ausländische staatliche Unternehmen übertragbar. Neben der Unterwerfung unter die inländische Staatsgewalt und die Zugehörigkeit zur ausländischen Staatsgewalt ist die völkerrechtliche Beziehung der beiden Staaten zu berücksichtigen. Damit ergibt sich aus dem inländischen und dem ausländischen Staatsrecht sowie dem Völkerrecht ein System der Wechselwirkungen137. Für natürliche Personen wird aus diesem Rechtsdreieck gefolgert, dass Ausländer und Inländer nicht gleich zu behandeln seien. Dies gebiete schon die bei einer pauschalen Gleichbehandlung entstehende Möglichkeit von Mehrfachbegünstigungen, Doppelbelastungen und Pflichtenkollisionen, aber auch aufgrund der fehlenden ausschließlichen und nicht unentrinnbaren Gewaltunterworfenheit ausländischer Personen138. Ist nach diesen Grundsätzen für natürliche Personen ausdrücklich zwischen In- und Ausländern zu unterscheiden, muss dies ebenso für juristische Personen des öffentlichen Rechts und ausländische staatliche Unternehmen gelten. Gerade in Bezug auf die Annahme einer Grundrechtsbindung kann aufgrund des Rechtsdreieckes keine Gleichsetzung erfolgen. Vielmehr ist hier unter Berücksichtigung der Rechtsbeziehungen eine unterschiedliche Behandlung geboten. 132  C.

Vedder, Art. 4 EUV Rn. 7. 89, 155 (181). Isensee, Stellung, S. 55. Isensee, Stellung, S. 56. Isensee, Stellung, S. 56. Isensee, Stellung, S. 56. Isensee, Stellung, S. 57.

133  BVerfGE 134  J. 135  J. 136  J. 137  J. 138  J.

94 2. Kap.: Juristische Personen mit Beteiligung eines ausländischen Staates

Der Ansatz von Feldmüller, dass die hinter dem Konfusionsargument stehende Überlegung, dass bereits die Rechtsstellung der betroffenen juristischen Person ihre Grundrechtsberechtigung ausschließt, nicht auf juristische Personen des ausländischen öffentlichen Rechts übertragbar sind139, ist auch auf die Beteiligung ausländischer Staaten an einer juristischen Person mit Sitz im Inland übertragbar. Ebenso wie ausländische juristische Personen des öffentlichen Rechts sind sie schon nicht in den Staatsaufbau der Bundesrepublik eingegliedert, so dass sich ihre Rechtsstellung bereits im Grundsatz von der Rechtsstellung inländischer öffentlich-rechtlicher Rechtssubjekte unterscheidet140. Denn die Niederlassung in der Bundesrepublik führt lediglich dazu, dass sie dort den tatsächlichen Mittelpunkt ihrer Tätigkeit hat und dort das Zentrum ihres Handelns liegt. Jedoch führt das Innehaben eines Sitzes in Deutschland gerade nicht zu einer Verflechtung mit dem deutschen Staat in der Form, dass dies die Zugehörigkeit zum deutschen Staat begründen könnte. Insofern kommen in dieser Konstellation gerade keine Organstreitverfahren und andere staatsorganisationsrechtliche Rechtsbehelfe zur Klärung von Rechtsfragen in Betracht, da es sich nicht lediglich um Kompetenzkonflikte handelt141. Insbesondere kommen ausländischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts anders als inländischen Hoheitsträgern keine verfassungsrechtlichen Sonderrechte zu, die ihre Rechtsstellung über die des einzelnen Bürgers hinaus erhöben142. In der Abgrenzung zwischen den Grundrechten und dem Staatsorganisationsrecht sind Konflikte zwischen juristischen Personen, die von einem ausländischen Staat gehalten werden, und Kompetenzträgern des deutschen Staates gerade nicht dem Staatsorganisationsrecht zuzuordnen, mit der Folge, dass ihnen Grundrechtsschutz zu gewähren ist. Dafür spricht ebenfalls, dass ausländische juristische Personen des öffentlichen Rechts ebenso wie inländische juristische Personen mit ausländischer Staatsbeteiligung nicht durch die Grundrechte gebunden werden. Die Unterworfenheit unter einfachgesetzliche Regelungen reicht für die Annahme einer Grundrechtsbindung gerade nicht aus, insoweit besteht Vergleichbarkeit zu inländischen natürlichen Personen. Somit kommt ein Zusammenfallen von Grundrechtsverpflichtetem und Grundrechtsberechtigten in einer Person nicht in Betracht143. Auch aus Sicht eines Bürgers erscheine eine ausländi139  C.

Feldmüller, Rechtsstellung, S. 194. zu ausländischen juristischen Personen C. Feldmüller, Rechtsstellung, S. 194. 141  C. Feldmüller, Rechtsstellung, S. 194. 142  C. Feldmüller, Rechtsstellung, S. 194. 143  Zutreffend C. Feldmüller, Rechtsstellung, S. 194. 140  Zutreffend



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sche juristische Person des öffentlichen Rechts nicht als Teil der einheit­ lichen – inländischen – Staatsgewalt144. Betrachtet man den Zusammenhang zwischen Staatsgewalt und Gewaltunterworfenheit als elementaren Charakter für das Wesen der Grundrechte, so bedarf es keines grundrechtlichen Schutzes mehr, wenn dieser Zusammenhang fehlt145. Der grundrechtliche Schutz ist nach diesem Ansatz aber immer dann erforderlich, wenn eine natürliche oder juristische Person der Staatsgewalt unterworfen ist. c) Lösung der Grundrechtsverpflichtung durch die Wahl der Rechtsform Für vom deutschen Staat geschaffene juristische Personen in privatrecht­ licher Rechtsform wird angeführt, dass sie trotz ihrer Organisationsform nicht grundrechtsberechtigt sind, da sich der Staat ansonsten durch die Wahl der Rechtsform der Grundrechtsbindung entziehen und so die Grundrechtsberechtigung erlangen könnte146. Fraglich ist, ob dieses Argument gegen eine Grundrechtsberechtigung privatrechtsförmig organisierter juristischer Personen ebenso für solche gilt, die von einem ausländischen Staat gehalten werden. Hier könnte man argumentieren, dass ausländische Staaten sich durch ihre Organisationsform die Grundrechtsberechtigung in Deutschland „erschleichen“ und damit eine Besserstellung gegenüber den im Übrigen geltenden Regeln des Völkerrechts erreichen könnten. Schon nicht übertragbar ist die Befürchtung, die juristische Person könne sich ihrer Grundrechtsbindung entziehen, da eine solche zumindest innerhalb der Bundesrepublik niemals bestand. Auch das Argument, eine Ausgliederung der juristischen Person aus dem Verwaltungsbereich und damit aus der Grundrechtsverpflichtung sei kaum möglich, ist nicht übertragbar. In der vorliegenden Konstellation muss die juristische Person schon nicht aus der Staatsgewalt ausgelagert werden, um nicht mehr dem deutschen Staat zuzugehören und grundrechtsverpflichtet zu sein. Damit kann die für ausschließlich inländische juristische Personen des öffentlichen Rechts umstrittene Frage, ob privatrechtlich organisierte Unternehmen in staatlicher Hand noch eine öffentliche Zweckbindung aufweisen147, hier dahinstehen. Eine solche öffentliche Zweckbindung des betroffe144  C.

Feldmüller, Rechtsstellung, S. 194. Feldmüller, Rechtsstellung, S. 198. 146  Dazu 1. Kapitel D. III. 147  Dazu 1. Kapitel D. III. 1. 145  C.

96 2. Kap.: Juristische Personen mit Beteiligung eines ausländischen Staates

nen Unternehmens hat in diesen Fällen – innerhalb der Bundesrepublik – nie bestanden. Dies gilt insbesondere, da in der vorliegenden Konstellation gerade kein Wechsel der Rechtsform in dem Sinne erfolgt, dass eine juristische Person, die zuvor grundrechtsgebunden war, nun die Grundrechtsberechtigung anstrebt. Vielmehr steht eine von einem ausländischen Staat gehaltene juristische Person, die sich in der Bundesrepublik niederlassen möchte, eher einer juristischen Person des Privatrechts gleich, die sich in der Bundesrepublik gründen oder niederlassen möchte. Denn in beiden Konstellationen bestanden auch in der Vergangenheit keinerlei Verbindungen zum Staat als Grundrechtsverpflichtetem. Ein Erschleichen der Grundrechtsberechtigung liegt eher fern. Diese käme dann ohnehin nicht dem ausländischen Staat, sondern lediglich seiner juristischen Person zugute und dies ohnehin nur dann, wenn diese wie eine juristische Person des Privatrechts wirtschaftlich tätig wird. d) Fazit Festzuhalten bleibt, dass das vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Wesensargument nur teilweise auf die vorliegende Konstellation übertragbar ist. Maßgeblich ist dabei, ob man auf das Wesen der Grundrechte als generellem Schutz vor staatlichem Handeln abstellt oder ob man bereits hier im Sinne eines anthropozentrischen Grundrechtsverständnisses auf die Trennung zwischen staatlicher Grundrechtsverpflichtung und bürgerlicher Grundrechtsberechtigung abstellt und diese als für das Wesen der Grundrechte ausschlaggebend ansieht. Das Konfusionsargument hingegen ist nicht auf die vorliegende Konstellation übertragbar, da der ausländische Staat, der die betroffene juristische Person hält, ohnehin nicht durch die Grundrechte des Grundgesetzes verpflichtet ist und in Deutschland auch nicht hoheitlich tätig wird. Ebenfalls nicht übertragbar ist die Befürchtung, ein Staat könne durch die Wahl seiner Rechtsform die Grundrechtsbindung umgehen, um so grundrechtsberechtigt zu werden. Wo nie eine Grundrechtsbindung bestand, kann diese nicht umgangen werden. 4. Ergebnis Da weder Wortlaut noch Historie des Art. 19 Abs. 3 GG ein eindeutiges Ergebnis nahelegen, liegt der Schlüssel – wie bei deutschen juristischen Personen des öffentlichen Rechts – im Verständnis vom Wesen der Grundrechte. Maßgeblich ist, ob man das Berufen auf grundrechtlichen Schutz als ureige-



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nes Instrument des Bürgers gegen den Staat ansieht oder ob das Wesen der Grundrechte allgemeiner zu verstehen ist. Fraglich ist bereits, ob das allgemeine Wesen der Grundrechte – wie von den Befürwortern des personalen Substrats vertreten – zwingend ein individualistisches Verständnis der Grundrechte voraussetzt oder ob sich aus der objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte nicht auch ein anderes Verständnis ableiten lässt. In Betracht käme etwa, die Grundrechte so zu verstehen, dass sie eine objektive Werteordnung schaffen, die der Staat und seine Organe innerhalb dieser Werte schützen sollen. Dieser Ansatz widerspricht allerdings dem klassischen Grundrechtsverständnis und den herrschenden Grundrechtstheorien. Nach der liberalen Grundrechtstheorie werden die Grundrechte als Sphären natürlicher Freiheit des Einzelnen betrachtet. Dieser Ansatz stellt damit die Abwehrfunktion in den Vordergrund148. Danach ist die grundrechtliche Freiheit dem Staat vorgelagert, der Staat konstituiert sie nicht149. Die institutionelle Grundrechtstheorie hingegen erkennt neben den Einrichtungsgarantien wesensbestimmende Elemente von Lebensbereichen an, in denen dann eine freie Betätigung möglich sein soll150. Danach haben die Grundrechte den Charakter objektiver Ordnungsprinzipien für die von ihnen geschützten Lebensbereiche151. Nach der Werttheorie legen die Grundrechte eine verfassungsrechtliche Grundentscheidung fest und kreieren damit eine objektive Werteordnung152. Die Grundrechte haben nach diesem Ansatz den Charakter objektiver Normen, begründen hingegen keine subjektiven Ansprüche153. Die demokratisch-funktionale Grundrechtstheorie hingegen betrachtet die Grundrechte als Kompetenzen des Einzelnen, die ihm im Interesse des demokratischen Prozesses übertragen wurde. Danach diene die individuelle Freiheit gerade diesem Prozess und bestehe nicht um ihrer selbst willen154. Die sozialstaatliche Theorie stellt das Erfordernis, dass von den grundrechtlich normierten Freiheiten auch tatsächlich Gebrauch gemacht werden kann, in den Vordergrund155. Die rechtlich geschützte und die reale Grundrechtsfreiheit sollen danach vereinheitlicht werden156. So beinhalte etwa die Freiheit der Religionsausübung aus Art. 4 Abs. 2 GG die Pflicht des 148  M.

Sachs, Verfassungsrecht II, A 3 Rn. 21. Böckenförde, NJW 1974, 1529 (1530). 150  E.-W. Böckenförde, NJW 1974, 1529 (1530); M. Sachs, Verfassungsrecht II, A 3 Rn. 22. 151  E.-W. Böckenförde, NJW 1974, 1529 (1532). 152  So auch BVerfGE 7, 198 (205); 35, 79 (114); 39, 1 (41); M. Sachs, Verfassungsrecht II, A 3 Rn. 23. 153  E.-W. Böckenförde, NJW 1974, 1529 (1533). 154  M. Sachs, Verfassungsrecht II, A 3 Rn. 24. 155  M. Sachs, Verfassungsrecht II, A 3 Rn. 25. 156  E.-W. Böckenförde, NJW 1974, 1529 (1536). 149  E.-W.

98 2. Kap.: Juristische Personen mit Beteiligung eines ausländischen Staates

Staates, für die wirtschaftliche Existenzbasis der Religionsgemeinschaften einzustehen157. Diese Theorien stehen jedoch nicht für sich allein genommen, sondern ergänzen sich aufgrund der allgemein anerkannten Multifunktiona­ lität der Grundrechte gegenseitig158. All diesen Ansätzen ist jedoch gleich, dass sie – ausschließlich – den Bürger als schützenswert einordnen und in den Mittelpunkt des Grundrechtsschutzes stellen. Zu einem ähnlichen Schluss führen die auf Jellinek und seiner Statuslehre159 beruhenden und allgemein anerkannten Funktionen der Grundrechte. Danach erfolgt eine klare Trennung zwischen staatlicher und bürgerlicher Ebene. Nach ihrer primären Abwehrfunktion sollen die Grundrechte den Einzelnen vor Eingriffen in seine Freiheitsphäre durch die öffentliche Gewalt schützen160. Die Leistungsfunktion vermittelt dem Einzelnen einen Anspruch auf die Gewährung bestimmter Leistungen, die zur Freiheitsbetätigung erforderlich sind161. Durch die Schutzfunktion wird der Staat verpflichtet, den Einzelnen vor Beeinträchtigungen seiner grundrechtlich garantierten Sphären durch Dritte zu schützen und diesen Bereich zu sichern162. Dennoch ist bei einer funktionalen Betrachtungsweise nicht zu verkennen, dass die Grundrechte ebenfalls eine objektive Werteordnung normieren163. Diese objektive Werthaltigkeit wird so verstanden, dass die Grundrechte über ihre Abwehrfunktion hinaus weitere negative Kompetenznormen für den Staat bilden164. Daraus ergibt sich ebenfalls wieder das Verständnis der Abgrenzung zwischen Staat und Grundrechtsberechtigtem. Gehört aber eine juristische Person nicht dem (einen) grundrechtsverpflichteten Staat an, kann nichts gegen ihre Grundrechtsberechtigung angeführt werden. Dieses individualistische Grundrechtsverständnis führt jedoch nicht zwingend zu dem Schluss, eine von einem ausländischen Staat gehaltene juristische Person vom Grundrechtsschutz auszuschließen. Vielmehr spiegeln das individualistische Grundrechtsverständnis und das damit einhergehende Wesensargument hauptsächlich die Gedanken des Konfusionsarguments wieder, dass zwischen Grundrechtberechtigung und Grundrechtsverpflichtung zu trennen sei. Dieser Überlegung steht aber auch die Anerkennung der Grund-

157  E.-W.

Böckenförde, NJW 1974, 1529 (1536). Sachs, Verfassungsrecht II, A 3 Rn. 26. 159  G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte; dazu weitergehend R. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 229 ff. 160  BVerfGE 7, 198 (205); 35, 79 (114 f.); 39, 1 (42). 161  H. Dreier, Vorb. vor Art. 1 Rn. 89. 162  BVerfGE 92, 26 (46). 163  H. D. Jarass, HGR II, § 38 Rn. 5. 164  H. D. Jarass, HGR II, § 38 Rn. 7. 158  M.



C. Eigene Prüfung99

rechtsberechtigung für juristische Personen, die sich zu 100 % in Hand eines ausländischen Staates befinden, nicht entgegen. Legt man mit dem Ansatz von der grundrechtstypischen Gefährdungslage den Fokus auf den Schutzgehalt des einzelnen Grundrechts, ist die Anerkennung der Grundrechtsberechtigung ohnehin möglich. Für diesen Ansatz spricht, dass es sich bei den Bestimmungen des Grundgesetzes um Sätze des objektiven Rechts handelt165. Diese Objektivität der Grundrechte fordert, dass der Gehalt der einzelnen Grundrechte stets und auch für juristische Personen eines ausländischen Staates gewahrt wird, wenn sie hoheitlicher Tätigkeit wie eine juristische Person des Privatrechts gegenüberstehen. Für diese Betrachtungsweise spricht ebenfalls, dass ein Wandel des Grundrechtsverständnisses ohnehin für verschiedenste Bereiche anerkannt ist166. So sind die Grundrechte – in den Grenzen der Wesensgarantie – Entwicklungen in ihrem Verständnis zugänglich. Das ursprünglich rein individualistische Verständnis der Grundrechte schließt also die Anpassung an mit der neueren Entwicklung einhergehende weitere Gefährdungslagen nicht aus. Die besseren Argumente sprechen mithin dafür, juristischen Personen mit Sitz im Inland, die sich in Hand eines ausländischen Staates befinden, die Grundrechtsberechtigung anzuerkennen, soweit sie sich in einer Gefährdungslage wie eine juristische Person des Privatrechts befinden.

II. Gemischt-wirtschaftliche Unternehmen Nach dem hier vertretenen Ansatz sind gemischt-wirtschaftliche Unternehmen mit Beteiligung eines ausländischen Staates wie die Krümmel GmbH & Co. oHG erst Recht grundrechtsberechtigt, da bereits vollständig von einem ausländischen Staat gehaltene juristische Personen vom Schutz der Grundrechte gemäß Art. 19 Abs. 3 GG erfasst sind167. Geht man – anders als nach dem hier vertretenen Ansatz – nicht von einer Grundrechtsberechtigung für juristische Personen, die ausschließlich von ausländischen Staaten gehalten werden, aus, ist zu untersuchen, inwieweit gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen mit ausländischer staatlicher Beteiligung Grundrechtsschutz zukommen kann. Zu prüfen ist dabei zunächst, ob die Annahme einer Grundrechtsberechtigung mit dem Wesen der Grundrechte im Sinne von Art. 19 Abs. 3 GG vereinbar ist. Dabei kommt es wiederum darauf an, ob sich die Beteili165  H. Dreier,

Vorb. vor Art. 1 Rn. 66, 94 ff. Saladin, Grundrechte im Wandel, 1975, S. 293; H. H. Rupp, AöR 101 (1976), 161 ff.; H. Bethge, Der Staat 24 (1985), 331 (367). 167  So inszwischen auch BVerfG, Urt. v. 6.12.2016  – 1 BvR 2821 / 11, 2 BvR 321 / 12, 2 BvR 1456 / 12, juris-Rn. 205. 166  P.

100 2. Kap.: Juristische Personen mit Beteiligung eines ausländischen Staates

gung eines ausländischen Hoheitsträgers in ähnlicher Weise auswirkt wie die eines inländischen. 1. Wesen und Schutzrichtung der Grundrechte Stellt man mit dem Ansatz vom personalen Substrat auf das Wesen der Grundrechte ganz allgemein ab, kann für die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen, an denen ein ausländischer Staat beteiligt ist, wenig anderes gelten als für juristische Personen, an denen der deutsche Staat beteiligt ist. Denn hinter der juristischen Person stehen in beiden Fällen sowohl ein staatlicher Hoheitsträger als auch natürliche Personen. In diesen Fällen ist eine Abwägung zwischen den Interessen der staatlichen und der privaten Anteilseigner zu treffen. Legt man hingegen mit dem Ansatz von der grundrechtstypischen Gefährdungslage den Fokus auf das einzelne Grundrecht, seinen Schutzgehalt und die von ihm vermittelten Werte, kommt eine Grundrechtsberechtigung für juristische Personen, an denen auch ausländische Staaten oder deren Hoheitsträger beteiligt sind, grundsätzlich in Betracht. Nach diesem Ansatz kann nichts anderes gelten als für ausschließlich öffentliche juristische Personen, da maßgeblich allein das Bestehen der Lage ist. Hingegen kommt es nicht auf die Qualifikation der betroffenen juristischen Person an. Das Wesen und die Schutzrichtung der Grundrechte gebieten also bereits, dass ein gemischt-wirtschaftliches Unternehmen grundsätzlich grundrechtsberechtigt sein kann. a) Personales Substrat Insbesondere nach dem Ansatz vom personalen Substrat ist zu berücksichtigen, dass andere juristische Personen, also solche des Privatrechts, an der betroffenen juristische Person beteiligt sind. Dies wiederum führt dazu, dass hinter der juristischen Person auch solche juristischen Personen stehen, die für sich selbst genommen wegen der hinter ihnen stehenden natürlichen Personen grundrechtsgeschützt wären. Es hat also ebenso wie bei gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen mit lediglich inländischen Anteilseignern eine Abwägung der widerstreitenden Interessen stattzufinden. Für gemischt-wirtschaftliche Unternehmen mit ausschließlich inländischer Beteiligung fordern insbesondere Vertreter der Durchgriffsthese, ein Überwiegen der Interessen der privaten Anteilseigner anzunehmen168. Von diesem Ansatz aus betrachtet kann auch in der vorlie168  W. Rüfner, HStR IX, § 196 Rn. 139; K Stern, Staatsrecht III / 1, S. 1170; D. Ehlers, Verwaltung in Privatrechtsform, S. 85; E. Schmidt-Aßmann, BB 1990 / Beilage



C. Eigene Prüfung101

genden Konstellation nichts anderes gelten. Erkennt man das Schutzbedürfnis der privaten Anteilseigner an, können diese nicht aufgrund der Beteiligung eines ausländischen Hoheitsträgers schlechter gestellt werden. Ansonsten ergäbe sich gerade nach dieser Betrachtungsweise eine Schutzlücke für die privaten Anteilseigner. Dies widerspräche aber gerade dem Ansatz vom personalen Substrat, der die Schutzwürdigkeit des Einzelnen in den Vordergrund stellt. Nach einigen Vertretern des Ansatzes vom personalen Substrat kommt jedoch bei beherrschender Beteiligung von Ausländern innerhalb einer juristischen Person nur der Schutz über Jedermann-Grundrechte in Betracht169. Folgt man diesem Ansatz, wäre er auf die beherrschende Beteiligung eines ausländischen Staates übertragbar. In Betracht kommt zudem der spiegelbildliche Ausgangspunkt, dass eine ausländische juristische Person grundrechtsberechtigt ist, sobald ein Deutscher an ihr beteiligt ist oder sie von Deutschen beherrscht wird170. Diese beiden Ansätze sind jedoch abzulehnen, da auf diese Weise das Kriterium des Sitzes, das eine eindeutige Zuordnung ermöglicht, ausgehöhlt würde und bereits bei der Einordnung als in- oder ausländisch keine Rechtssicherheit bestünde. Auch wenn man davon ausgeht, dass Art. 19 Abs. 3 GG die juristische Person um ihrer Mitglieder willen schützt, muss es klare Kriterien für die Zuordnung geben. Es hinge dann überwiegend von Zufälligkeiten ab, wie sich die Beteiligungsstruktur im Zeitpunkt des „Grundrechtseingriffes“ darstellt. Nach dem Ansatz vom personalen Substrat muss also der juristischen Person mit Sitz im Inland um ihrer Mitglieder willen Grundrechtsschutz zugänglich sein. b) Grundrechtstypische Gefährdungslage Die Möglichkeit des Bestehens einer grundrechtstypischen Gefährdungslage ist im vorliegenden Fall recht unproblematisch zu bejahen. Denn insbesondere besteht – wie bereits dargelegt – keine Bindung des beteiligten Staates an die innerstaatliche Hoheitsgewalt, so dass ein Außenrechtsverhältnis vorliegt. Es ist insbesondere möglich, dass das gemischt-wirtschaftliche 34, 1 (11 f.); ders., Privatrechtsform, S. 383 (395); A. v. Arnauld, DÖV 1998, 437 (450 f.); D. Merten, Mischunternehmen, S. 2021; H.-G. Koppensteiner, NJW 1990, 3105 (3114); C. M. Wirth, Grundrechtsberechtigung, S. 70 f.; S. Barden, Grundrechtsfähigkeit, S. 72; B. Pieroth, NWVBl. 1992, 85 (88). 169  H. Quaritsch, HStR V, § 120 Rn. 59; P. M. Huber, Art. 19 Abs. 3 Rn. 301. 170  K. Stern, Staatsrecht III / 1, S. 1143.

102 2. Kap.: Juristische Personen mit Beteiligung eines ausländischen Staates

Unternehmen der deutschen Staatsgewalt wie eine juristische Person des Privatrechts unterworfen ist. 2. Übertragbarkeit der Kriterien für ausschließlich inländische gemischtwirtschaftliche Unternehmen Nimmt man entgegen der hier vertretenen Ansicht an, dass juristische Personen des öffentlichen Rechts eines anderen Staates nicht grundrechtsberechtigt sein können, ist zu untersuchen, ob sich ihre Beteiligung wie die des deutschen Staates auswirkt und ob die hierzu getroffenen Kriterien übertragbar sind. a) Kriterium der Beherrschung Zu untersuchen ist, ob das von der herrschenden Ansicht verwendete Kriterium der Beherrschung einer juristischen Person durch staatlichen Einfluss ebenfalls anzuwenden ist, wenn der staatliche Einfluss von einem ausländischen Staat ausgeübt wird. Lehnt man die Grundrechtsberechtigung für zu 100 % von einem ausländischen Staat gehaltene juristische Personen gerade aufgrund ihrer Staatlichkeit ab, kann sich dessen Beteiligung an einem gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen nicht anders darstellen als die Beteiligung eines deutschen Hoheitsträgers. Nach diesem Ansatz ist das Kriterium der Beherrschung auf die vorliegend zu untersuchende Konstellation ohne weiteres übertragbar. Damit ist dieses Kriterium allgemein auf seine Tauglichkeit zu untersuchen. Gegen das Beherrschungskriterium wird angeführt, dass es nur schwerlich Rechtssicherheit ermögliche. Insbesondere sei unklar, welcher Beteiligungsgrad erforderlich sei, um keine Grundrechtsberechtigung mehr annehmen zu können171. Setzt man jedoch die Grundrechtsberechtigung bis zu einer bestimmten Beteiligungsstärke fest, ist durchaus eine genaue Abgrenzung möglich172. Nahe liegt insoweit, die Grundrechtsberechtigung zu versagen, sobald die staatliche Beteiligung überwiegt173. Dem ebenfalls vertretenen Ansatz, die Abgrenzung nach dem Beherrschungskriterium übersehe die Interessen privater Anteilseigner in dem Falle, dass der staatlich gehaltene Anteil den privat gehaltenen übersteigt, ist dahin171  A. Berger, Staatseigenschaft, S. 63 ff.; B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 GG (2009), Rn. 68. 172  So auch H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 78 für lediglich inländisch gemischtwirtschaftliche Unternehmen. 173  BVerfGE 128, 226 (247).



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gehend zu begegnen, dass eine Benachteiligung von Interessen bei gemischtwirtschaftlichen Unternehmen unumgänglich ist. So ist es angemessener, eine klare Regelung aufgrund der Beteiligungsstruktur zu treffen, als die konsequente Benachteiligung eines Interesses – entweder der privaten Anteilseigner oder die Inkaufnahme der Grundrechtsberechtigung des Staates – zu akzeptieren. Als weitere Kritik kann angeführt werden, dass die Beteiligungsstrukturen innerhalb eines Unternehmens ständigen Veränderungen unterliegen und sich die Annahme der Grundrechtsberechtigung von einem auf den anderen Tag ändern kann. Dem ist entgegenzuhalten, dass Veränderungen in der Beteiligungsstruktur das allgemeine Unternehmensrisiko betreffen. Auch in anderen Rechtsgebieten kann eine Veränderung der Unternehmensstruktur zu einer Änderung der Rechtslage führen. Dies vermag jedoch die Dynamik innerhalb der Entwicklung eines Unternehmens zu untersagen. Erkennt man einem ausländischen Staat entsprechend der hier vertretenen Ansicht ohnehin die Grundrechtsfähigkeit zu174, so kann die Beteiligung eines ausländischen Staates an einem gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen nicht dazu führen, dass dem gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen die Grundrechtsberechtigung abgesprochen wird, selbst wenn es vom ausländischen Staat beherrscht wird. b) Wahrnehmung staatlicher / öffentlicher Aufgaben Differenziert man für die Grundrechtsberechtigung wie bei nationalen gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen nach der Art der Aufgabenwahrnehmung, kann einem Mischunternehmen mit Beteiligung eines ausländischen Staates die Grundrechtsberechtigung nicht abgesprochen werden. Denn diese können naturgemäß keine öffentlichen oder staatlichen Aufgaben des deutschen Staates wahrnehmen. Problematisch ist in diesem Zusammenhang, dass der Begriff der öffentlichen Aufgabe unbestimmt ist und keine trennscharfe Abgrenzung zulässt175. Problematisch ist hier insbesondere, dass öffentliche Aufgaben sowohl von privaten als auch von öffentlichen Rechtssubjekten wahrgenommen werden können176. Dies ermöglicht gerade für die 174  Dazu

unten unter II. Grundrechtsberechtigung, S. 67; U. Di Fabio, JZ 1999, 585 (585 f.); D. Ehlers, DVBl. 1983, 422 (425); M. Ruffert, VerwArch. 92 (2001), 27 (41); C. Möllers, Staat als Argument, S. 319 ff.; S. Storr, Staat als Unternehmer, S. 106 ff.; D. Merten, Mischunternehmen, S. 2014 ff.; H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 54; F. Schoch, Jura 2001, 201 (206); H. D. Jarass, Art. 19 Rn. 18; ders., MMR 2009, 223 (226); B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009), Rn. 44. 176  H. Peters, Öffentliche und staatliche Aufgaben, S. 878; A. Berger, Staatseigenschaft, S. 91; B. Remmert, Art. 19 Abs. 3 (2009), Rn. 69; a. A. H. H. Klein, DÖV 175  H. Bethge,

104 2. Kap.: Juristische Personen mit Beteiligung eines ausländischen Staates

Abgrenzung zwischen Annahme und Ablehnung der Grundrechtsberechtigung keinen klaren Rückschluss. Geht man davon aus, dass öffentliche Aufgaben diejenigen Tätigkeitsbereiche erfassen, deren Ausübung im öffentlichen Interesse desjenigen Staates liegen, in dem sie wahrgenommen werden177, lässt dies wenig Rückschlüsse darauf zu, durch wen sie wahrgenommen werden können. Für dieses Ergebnis spricht die Annahme, öffentliche Aufgaben seien zu klassifizieren durch ihren Gemeinwohlbezug, nicht hingegen durch ihre Träger178. Nach dieser Definition ist nicht ausgeschlossen, dass staatliche Hoheitsträger in anderen Staaten öffentliche Aufgaben wahrnehmen, dennoch liegt es in praktischer Hinsicht eher fern, dass dies so geschieht. Damit bringt der Begriff der öffentlichen Aufgabe gerade keinen Mehrwert für die hier vorzunehmende Untersuchung, da er keine Rückschlüsse über die Abgrenzung zwischen Staat und Gesellschaft zulässt179. Vielmehr scheint schon fraglich, weshalb bei inländischen gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben zu einer Versagung des Grundrechtsschutzes führen soll, wenn auch Private diese Aufgaben wahrnehmen können, ohne dass dies Auswirkungen auf ihre Grundrechtsberechtigung hätte. Damit liegt es näher, in beiden Fällen nach der Wahrnehmung staatlicher Aufgaben zu differenzieren. Weitaus sinnvoller erscheint die Abgrenzung danach, ob die juristische Person staatliche Aufgaben wahrnimmt. Für Staatsaufgaben wird teilweise vertreten, dass sie einen Unterfall der öffentlichen Aufgaben bilden180. Es handelt sich um solche Aufgaben, für die der Staat nach Maßgabe und in den Grenzen der Verfassung tätig werden darf181. In anderen Worten sind Staatsaufgaben diejenigen Tätigkeitsfelder, die dem Staat von Rechts wegen zugänglich oder zugewiesen sind182. Dabei handelt es sich um Aufgaben, die der Staat auf seinem Hoheitsgebiet und für sein Staatsvolk wahrnimmt. Für Staatsaufgaben ist es grundsätzlich ausgeschlossen, dass sie auf dem Hoheitsgebiet eines Staates von einem anderen Staat wahrgenommen werden. Eine Ausnahme ist hier beim Besatzungsrecht denkbar. Allerdings ist der 1965, 755 (758), der davon ausgeht, dass öffentliche Aufgaben solche sind, die im Interesse des Gemeinwohls ausschließlich von Privaten wahrgenommen werden und sich so von staatlichen Aufgaben unterscheiden sollen. 177  BVerfGE 15, 235 (241); 53, 366 (401); H. H. Klein, DÖV 1965, 755 (758); M. Heintzen, VVDStRL 62 (2003), 220 (227 f., 256); H. P. Bull, Staatsaufgaben, S.  48 f.; J. Isensee, HStR IV, § 73 Rn. 12. 178  J. Isensee, HStR IV, § 73 Rn. 12. 179  Ähnlich H. Peters, Öffentliche und staatliche Aufgaben, S. 879. 180  J. Isensee, HStR IV, § 73 Rn. 13. 181  H. Peters, Öffentliche und staatliche Aufgaben, S. 880. 182  J. Isensee, HStR IV, § 73 Rn. 13.



C. Eigene Prüfung105

Staat grundsätzlich für sein Handeln auf sein Hoheitsgebiet beschränkt, wenn nicht völkerrechtliche Verträge anderweitige Regelungen vorsehen183. Dies ergibt sich auch daraus, dass Staatsaufgaben den Handlungsraum des Staates von dem der Gesellschaft abgrenzen, wobei letzterer durch die Grundrechte gesichert wird. Betrachtet man die Grundrechte als negative Kompetenznormen für den Staat, so lassen sich die Staatsaufgaben als positive Kompetenznormen beschreiben. Damit bestehen bestimmte Handlungsbereiche, die sich ähnlich wie bundesstaatliche Kompetenztitel verhalten. In diesem Zusammenhang ist wiederum die Abgrenzung zwischen den Grundrechten und dem Staatsorganisationsrecht maßgeblich. Allerdings schließen sich Grundrechte und Staatsaufgaben nach allgemeinem Verständnis gegenseitig nicht aus, vielmehr können Grundrechte Staatsaufgaben begründen184. Dies wird immer dort relevant, wo aus den Grundrechten Schutzansprüche der Bürger erwachsen. Als Beispiel für eine Staatsaufgabe und damit für eine öffentliche Aufgabe ist vorrangig die Daseinsvorsorge zu nennen185. Unter dem Begriff der Daseinsvorsorge versteht man die Gesamtheit der Leistungen der Verwaltung zur Befriedigung der Bedürfnisse der Bürger für eine normale, dem jeweiligen Lebensstandard entsprechende Lebensführung186. Sie betrifft Vorhaben, bei denen Staat und Verwaltung gezielt zur Versorgung der Bürger tätig werden, weil diese durch den Markt gerade nicht gewährleistet ist187. Insbesondere Kommunen erbringen die Leistungen der Daseinsvorsorge als klassische Angelegenheiten der örtlichen und überörtlichen Gemeinschaft188. Aber auch der Staat erbringt Leistungen der Daseinsvorsorge, etwa in den Bereichen Post, Telekommunikation, Eisenbahn und Rundfunk189. Die Daseinsvorsorge wird damit als Beschreibung für eine bestimmte Art von Staatsaufgaben umschrieben und als Ausdruck des Sozialstaatsprinzips verstanden190. Diese Definition zeigt, dass Daseinsvorsorge etwas ist, das von dem Staat auf seinem Staatsgebiet für seine Staatsbürger erbracht wird und damit nicht von ausländische Staaten und ihren Hoheitsträgern erbracht werden kann. Denkbar wäre zwar, dass ein Drittstaat Güter der Daseinsvorsorge, etwa 183  Grundsätzlich besteht eine völkerrechtliche Vermutung gegen hoheitliches Handeln auf fremdem Staatsgebiet. 184  J. Isensee, HStR IV, § 73 Rn. 14. 185  W. Rüfner, HStR IV, § 96 Rn. 21. 186  H.-G. Henneke, Daseinsvorsorge, S. 17 (18). 187  W. Rüfner, HStR IV, § 96 Rn. 6; so auch H.-G. Henneke, Daseinsvorsorge, S. 17 (18). 188  H.-G. Henneke, Daseinsvorsorge, S. 17 (18). 189  H.-G. Henneke, Daseinsvorsorge, S. 17 (18). 190  H.-G. Henneke, Daseinsvorsorge, S. 17 (19).

106 2. Kap.: Juristische Personen mit Beteiligung eines ausländischen Staates

Energie, über die Staatsgrenzen hinaus liefert. Jedoch läge die Verantwortung für die Energieversorgung auch in diesem Falle bei dem eigenen Staat und nicht bei dem liefernden Drittstaat. Als Beispiel für die klassische Daseinsvorsorge ist insbesondere die Energieversorgung zu nennen. Dieses Beispiel zeigt, dass die Beteiligung eines ausländischen Staates an einem gemischt-wirtschaftlichen Energieunternehmen den deutschen Staat nicht von seiner Pflicht zur Daseinsvorsorge entbindet. Im Umkehrschluss führt die Beteiligung des ausländischen Staates nicht dazu, dass er eine staatliche Aufgabe innerhalb der Bundesrepublik wahrnimmt. Insbesondere erlangt der ausländische Staat durch seine Beteiligung keine staatliche Hoheitsgewalt in der Bundesrepublik. Nicht maßgeblich ist hingegen, ob es in seinem Heimatstaat staatliche Aufgaben wahrnimmt. Für die Grundrechtsberechtigung von Gas de France in Deutschland kommt es mithin nicht darauf an, ob das Unternehmen in Frankreich staatliche Aufgaben wahrnimmt und so gegenüber dem französischen Bürger der französischen Staatsgewalt zuzuordnen ist. Nichts anderes ergibt sich, wenn auf das gemischt-wirtschaftliche Unternehmen im Wege der Privatisierung ehemals staatliche Aufgaben übertragen werden. Denn Private, die nach erfolgter Privatisierung als Aufgabenträger fungieren, ohne sogleich in die Staatsorganisation eingebunden zu werden, bleiben als Teil der Gesellschaft privat191. Sie entstammen der Wirkzone von Selbstbestimmung und Selbstentfaltung, die von der Wirkzone der Staatlichkeit zu unterscheiden ist192. Sie verfügen nicht über staatliche Kompetenzen, vielmehr bleiben sie grundrechtsberechtigt193. Auch im Bereich der Daseinsvorsorge und insbesondere der Energieversorgung ist Privatisierung möglich194. Durch die Privatisierung verschwindet aber der Staat nicht etwa aus einem Aufgabenfeld, vielmehr übernimmt er eine andere Stufe der Verantwortlichkeit195. Diese Verantwortlichkeit zeigt sich dann in anderen Pflichten, die er aufgrund der Privatisierung übernimmt. Als diese neuen Pflichten kommen etwa Aufsichtspflichten oder die Übernahme von Gewährleistungsverantwortung in Betracht196. Bezüglich dieser neu erworbenen Aufgaben bleibt der Staat an die Grundrechte gebunden. Er wird durch die Privatisierung nicht etwa grundrechtsberechtigt. 191  M.

Burgi, HStR IV, § 75 Rn. 5. Burgi, HStR IV, § 75 Rn. 5; ähnlich M. Heintzen, VVDStRL 62 (2003), 220 (235 f.); weitergehend zur Unterscheidung von Staat und Gesellschaft H. H. Rupp, HStR II, § 31. 193  M. Burgi, HStR IV, § 75 Rn. 5. 194  M. Burgi, HStR IV, § 75 Rn. 11. 195  M. Burgi, HStR IV, § 75 Rn. 28. 196  M. Burgi, HStR IV, § 75 Rn. 4. 192  M.



C. Eigene Prüfung107

Differenziert man weitergehend mit Remmert danach, ob ein gemischtwirtschaftliches Unternehmen staatliche Zuständigkeiten wahrnimmt197, kann eine juristische Person mit Beteiligung eines ausländischen Staates nicht vom Grundrechtsschutz ausgeschlossen sein, da ihr keine solche staatliche Kompetenz durch einen Rechtsakt übertragen wurde. Es fand hier also kein Rechtsakt zur Übertragung oder Verschiebung von Kompetenzen statt, der der Wahrnehmung individueller Freiheit entgegenstehen kann. c) Geringeres Schutzniveau aufgrund staatlicher Beteiligung Wie auch bei inländischen gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen besteht die Möglichkeit, das durch die Grundrechte vermittelte Schutzniveau an den staatlichen Einfluss anzupassen198. Für diese Lösung spricht die Flexibilität, die mit ihr einhergeht. Allerdings ist dieser Ansatz im Ergebnis abzulehnen, da schon schwer nachvollziehbar ist, wie genau Grundrechtsschutz in einer solchen „abgespeckten“ Form aussehen soll. Man könnte vertreten, eine Grundrechtsberechtigung immer und nur dann anzunehmen, wenn eine finale und unmittelbare Grundrechtsverkürzung, also ein Eingriff nach dem klassischen Begriff199 vorliegt. Damit könnte sich die betroffene juristische Person zumindest dann unter Ausschöpfung des Rechtsweges bis zur Verfassungs­ beschwerde wehren, wenn sie zielgerichtet durch staatliches Handeln direkt grundrechtsrelevant belastet wird. Dies hätte zur Folge, dass das Abgrenzungsproblem auf eine andere Ebene verlagert würde. So käme dann der Abgrenzung zwischen einem finalen und einem zufälligen Eingriff beziehungsweise der unmittelbaren und der lediglich mittelbaren Grundrechtsbetroffenheit weitergehende Bedeutung zu, mit der Folge, dass an dieser Stelle Rechtsunsicherheit entstünde. Die Grundrechtslehre nimmt gerade den weiten Eingriffsbegriff an, um den Grundrechtsberechtigten vollumfänglich vor Eingriffen jeder Art zu schützen200. Damit widerspräche die Anpassung des Schutzniveaus aber gerade dem Schutzgedanken des Grundgesetzes.

197  B. Remmert,

Art. 19 Abs. 3 (2009), Rn. 69 f. Bull, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, S. 98, Fn. 49; H. Bethge, Grundrechtsberechtigung, S. 39; ders., Grundrechtskollisionen, S.  66, Fn.  142; C. Gusy, JA 1995, 166 (171); S. Storr, Staat als Unternehmer, S. 244 f., 254. 199  Zum klassischen Eingriffsbegriff vgl. etwa H. Dreier, Vorb. vor Art. 1 Rn. 124. 200  Ähnlich H. Dreier, Vorb. vor Art. 1 Rn. 125. 198  H. P.

108 2. Kap.: Juristische Personen mit Beteiligung eines ausländischen Staates

3. Ergebnis Im Ergebnis ist gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen mit Beteiligung eines ausländischen Staates die Grundrechtsberechtigung erst recht zuzuerkennen, wenn man für juristische Personen, die vollständig von einem ausländischen Staat gehalten werden, die Grundrechtsberechtigung annimmt. Nach der Lehre vom personalen Substrat und dem Ansatz von der grundrechtstypischen Gefährdungslage kann ein gemischt-wirtschaftliches Unternehmen mit Beteiligung eines ausländischen Staates grundrechtsberechtigt sein, wenn die übrigen von diesen Ansätzen aufgestellten Voraussetzungen erfüllt sind. Das ist dann der Fall, wenn die hinter der juristischen Person stehenden natürlichen Personen von dem Grundrechtseingriff ebenfalls betroffen sind, beziehungsweise wenn sich die juristische Person in einer grundrechtstypischen Gefährdungslage befindet. Nimmt man entgegen der hier vertretenen Auffassung an, dass ausländische juristische Personen des öffentlichen Rechts nicht grundrechtsberechtigt sind, ist wie bei lediglich inländischen Mischunternehmen danach zu differenzieren, ob das Mischunternehmen von dem ausländischen Staat beherrscht ist. Dabei ist maßgeblich, wie groß der Einfluss des beteiligten Staates ist. Dieser ist entsprechend des Kapitalanteils zu bewerten. Ab einer Beteiligung von über 50 % ist nach diesem Ansatz die Grundrechtsberechtigung zu versagen. Stellt man hingegen darauf ab, welche Aufgaben das gemischt-wirtschaftliche Unternehmen wahrnimmt, kann ihm der Grundrechtsschutz nicht wegen der Beteiligung eines ausländischen Staates versagt werden. Denn das gemischt-wirtschaftliche Unternehmen nimmt in der Bundesrepublik gerade nicht (inner-)staatliche Aufgaben wahr. An dieser Stelle nach der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben abzugrenzen, scheint aufgrund der fehlenden Greifbarkeit dieses Begriffes wenig erfolgversprechend. Der Ansatz, je nach Beteiligungsgrad ein geringeres Schutzniveau für das gemischt-wirtschaftliche Unternehmen anzunehmen, scheint nicht pragmatisch und birgt die Gefahr der Rechtsunsicherheit.

III. Gemischt-staatliche Unternehmen mit deutscher und ausländischer Beteiligung Erkennt man mit dem hier vertretenen Ansatz eine Grundrechtsberechtigung für ausländische juristische Personen an, stellt sich die Frage, wie mit juristischen Personen zu verfahren ist, an denen sowohl inländische als auch ausländische Hoheitsträger beteiligt sind. Diese Konstellation hat insbeson-



D. Ergebnis 109

dere im Bereich der Energiewirtschaft eine hohe praktische Relevanz. Als Beispiel für ein solches gemischt-staatliches Unternehmen ist die EnBW AG anzuführen. Zunächst hielt das Land Baden-Württemberg etwa 25 % der ­Aktien der EnBW AG. Es verkaufte seine Anteile im September 2000 an das staatliche französische Elektrizitätsunternehmen Électricité de France (EDF)201. Während sich die EnBW AG in Hand der EDF befand, kaufte sie Anteile an den Stadtwerken Düsseldorf202. An diesen waren folglich zeitweise sowohl der französische Staat als auch die Stadt Düsseldorf beteiligt. Inzwischen hat das Land Baden-Württemberg seine Anteile an der EnBW AG in einer durchaus umstrittenen Aktion zurückgekauft203. Für diese Konstellationen liegt es nahe, diese überstaatlichen juristischen Personen des öffentlichen Rechts wie gemischt-wirtschaftliche Unternehmen zu behandeln. Das bedeutet, dass auch bei gemischt-staatlichen Unternehmen – soweit man nicht entgegen der wohl herrschenden Meinung juristischen Personen des deutschen öffentlichen Rechts die Grundrechtsberechtigung zuerkennt – darauf abzustellen ist, ob die beteiligte inländische Person des öffentlichen Rechts einen beherrschenden Einfluss auf das Unternehmen hat. Im Übrigen ist im Einzelfall zu untersuchen, ob das gemischt-staatliche Unternehmen in der Bundesrepublik staatliche Aufgaben wahrnimmt. In diesen Fällen wäre ihm die Grundrechtsberechtigung zu versagen. Einen abgeschwächten Grundrechtsschutz anzunehmen, scheint in dieser Konstellation ebenfalls wenig praktikabel und hätte wiederum Rechtsunsicherheit zur Folge.

D. Ergebnis I. Fazit Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass es für die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen, die von einem ausländischen Staat gehalten werden, maßgeblich ist, ob man ein enges oder weites Verständnis vom ­„Wesen der Grundrechte“ zugrunde legt. Versteht man das Wesen der Grundrechte eng und stellt dabei insbesondere die Gegensätzlichkeit der Rechtssubjekte Staat und Bürger in den Vordergrund, so ist die Grundrechtsberechtigung mit der Theorie vom personalen Substrat abzulehnen. Nach dem Ansatz von der grundrechtstypischen Gefährdungslage hingegen liegt es ­ 201  Siehe http: /  / www.spiegel.de / wirtschaft / unternehmen / stromriese-baden-wuert temberg-will-enbw-uebernehmen-a-733080.html (zuletzt 6.4.2016). 202  Siehe http: /  / www.swd-ag.de / ueber-uns / profil /  (zuletzt 6.4.2016). 203  Siehe www.spiegel.de / wirtschaft / soziales / 0,1518,751317,00.html (zuletzt 6.4. 2016).

110 2. Kap.: Juristische Personen mit Beteiligung eines ausländischen Staates

durchaus nahe, juristischen Personen in der Hand eines ausländischen Staates den Schutz der Grundrechte zuzuerkennen, wenn eben eine solche besteht. Dafür spricht auch, dass die Argumente, die gegen die Grundrechtsberechtigung inländischer juristischer Personen des öffentlichen Rechts angeführt werden, nicht eins zu eins übertragbar sind. Für gemischt-wirtschaftliche Unternehmen mit Beteiligung eines ausländischen Staates kann der Grundrechtsschutz bei Beherrschung durch den beteiligten Staat nur unter Bezugnahme auf ein enges Verständnis vom Wesen der Grundrechte versagt werden. Zieht man hingegen das Kriterium der Aufgabenwahrnehmung heran, kommt eine Versagung der Grundrechtsberechtigung nicht in Betracht, da das gemischt-wirtschaftliche Unternehmen gerade keine staatlichen Aufgaben des deutschen Staates wahrnimmt. Für gemischt-staatliche Unternehmen ist wiederum auf die Kriterien der Beherrschung und der Aufgabenwahrnehmung abzustellen. Insoweit besteht kein Unterschied zu inländischen gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen.

II. Weitere Lösungsansätze 1. Völkerrechtliche Verträge, Staatsabkommen Auf den ersten Blick liegt es nahe, die in diesem Kapitel aufgeworfenen Fragestellungen durch eine Regelung zwischen den Staaten – etwa in Form völkerrechtlicher Verträge – zu lösen. Bisher ist nicht ersichtlich, dass es diesbezüglich schon vertragliche Regelungen zwischen der Bundesrepublik und anderen Staaten gibt. Dementsprechend ist zu untersuchen, ob diese Fragestellung überhaupt der Regelung durch völkerrechtliche Verträge zugänglich ist. Dafür spricht zunächst die im Völkerrecht gleichfalls geltende Vertragsfreiheit. Danach darf sich die Bundesrepublik grundsätzlich mit anderen Völkerrechtssubjekten über alles einigen, was keine offenkundige Verletzung innerstaatlicher Kompetenzvorschriften darstellt (Art. 46 WVRK) und das nicht im Widerspruch zu einer zwingenden Norm des Völkerrechts steht (vgl. Art. 53 WVRK). Soweit angeführt wird, der Ausschluss ausländischer juristischer Personen vom Schutz durch die Grundrechte des Grundgesetzes durch Art. 19 Abs. 3 GG entspreche der Erhaltung eines fremdenrechtlichen Aktionsspielraums und schaffe einen Anreiz für andere Staaten, deutschen juristischen Personen den dortigen Grundrechtsschutz zu gewähren204, spricht dies ebenfalls dafür, 204  Vgl.

H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 86 m. w. N.



D. Ergebnis 111

die Erweiterung des Art. 19 Abs. 3 GG durch völkerrechtliche Verträge zuzulassen. Gegen die Zulässigkeit einer solchen Regelung kann nicht angeführt werden, dass in ihr eine gemäß Art. 79 Abs. 3 GG unzulässige Änderung des Grundgesetzes läge, weil der Wortlaut des Art. 19 Abs. 3 GG überschritten würde. Die hier behandelten Konstellationen betreffen ausschließlich juristische Personen mit Sitz in der Bundesrepublik. Diese sind mithin als inländisch im Sinne des Art. 19 Abs. 3 GG anzusehen. Auch gegen das Wesen der Grundrechte würde nicht verstoßen, da Art. 19 Abs. 3 GG dem Wortlaut nach keine Einschränkung hinsichtlich juristischer Personen des öffentlichen Rechts annimmt. Im Ergebnis wäre die Frage, inwieweit inländischen juristischen Personen mit Beteiligung eines ausländischen Staates in der Bundesrepublik die Grundrechtsberechtigung zuerkannt wird, der Regelung durch völkerrecht­ liche Verträge zugänglich. Eine solche Regelung wäre insbesondere mit Hinblick auf die Rechtssicherheit empfehlenswert. 2. Verbot der Beteiligung ausländischer Staaten Aus dem Ansatz, das Problem der Grundrechtsberechtigung gemischtwirtschaftlicher Personen mit einem Verbot ihrer Existenz zu umgehen205, könnte man folgern, auch die Existenz der Beteiligung ausländische Staaten an inländischen Unternehmen sei zu verbieten. Dieser Ansatz scheint jedoch gerade aufgrund der starken und weiterhin zunehmenden internationalen Verflechtung und der Öffnung der Märkte namentlich im Bereich der Energieversorgung, die in vielen Ländern zur originären staatlichen Tätigkeit zählt, kaum praktikabel. Insbesondere bei einem Vorgehen der betroffenen Unternehmen gegen ein Verbot ihrer Existenz würde sich dann wiederum die Frage stellen, ob sie eine Verfassungsbeschwerde erheben könnten, für die es wiederum auf ihre Grundrechtsfähigkeit ankäme, so dass spätestens an dieser Stelle eine endgültige Klärung durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu erfolgen hätte. Damit scheint dieser Ansatz nicht praktikabel.

205  So

etwa H. Dreier, Art. 19 Abs. 3 Rn. 78; D. Ehlers, Verwaltung, § 3 Rn. 87.

3. Kapitel

Auf europarechtlicher Ebene Für die Frage nach der Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des öffentlichen Rechts eines anderen Staates ist auf der Ebene des Europarechts zunächst nach den Rechtsquellen zu unterscheiden, aus denen die juristische Person Rechtsschutz begehrt. In Betracht kommen dabei die Grundrechte der Grundrechtecharta (A.), die Grundfreiheiten1 (B.) und die Grundrechte der Europäischen Menschenrechtskonvention (C.). Im Folgenden wird für jede dieser Rechtsquellen zunächst untersucht, worin der Schutzzweck und ihre Zielsetzung liegen. Auf dieser Grundlage wird dann untersucht, inwieweit die Rechte der jeweiligen Rechtsquelle für juristische Personen und insbesondere für juristische Personen des öffentlichen Rechts gelten. Dabei ist zu differenzieren, ob es sich bei der juristischen Person des öffentlichen Rechts um die Union selbst und ihre juristischen Personen, um einen Mitgliedstaat und seine juristischen Personen und Unternehmen oder – wie hier vornehmlich zu untersuchen – um eine juristische Person des öffentlichen Rechts eines Drittstaates handelt.

A. Die Grundrechte der Grundrechtecharta Mit dem Vertrag von Lissabon wurde die Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 7. Februar 2007 („Grundrechtecharta“) Bestandteil des Vertragsrechts der Europäischen Union. Die Union erkennt nun gemäß Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 EUV die Rechte, Freiheiten und Grundsätze der Grundrechtecharta als Unionsrecht an. Die Charta und ihre Rechte sind damit den Verträgen der Union rechtlich gleichrangig2. Vor Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon gab es in den Gemeinschaftsverträgen keinen verbindlichen Grundrechtskatalog. Bei Abschluss der Verträge schien dies auch noch nicht erforderlich, da die Gemeinschaftsverträge zunächst als traditionelle völkerrechtliche Verträge eingestuft wurden. Diese Einschätzung veränderte sich allerdings, da sich die Verträge nicht nur an die 1  Zu der umstrittenen Frage, inwieweit die Grundfreiheiten als Grundrechte anzusehen sind, ausführlich etwa J. Gebauer, Grundfreiheiten. 2  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 14 Rn. 4.



A. Die Grundrechte der Grundrechtecharta113

Mitgliedstaaten, sondern auch an Privatpersonen richteten. Außerdem war den Gemeinschaften die weitreichende Kompetenz eingeräumt worden, für und gegen jedermann Recht zu setzen. Dies machte eine Begrenzung der Gemeinschaftsgewalt durch den Einzelnen schützende Grundrechte erforderlich3. Die Verfassungsgerichte der Mitgliedstaaten trieben diese Entwicklung voran4. Sie nahmen in Grundsatzentscheidungen jeweils das Recht für sich in Anspruch, sekundäres Recht der Gemeinschaft in ihrem Land für unanwendbar zu erklären, wenn und soweit es mit nationalen Grundrechten kollidiert5. Dem ist der Europäische Gerichtshof entgegengetreten, da das Gemeinschaftsrecht als supranationale Rechtsordnung Vorrang genieße6. Dieser Konflikt konnte nur durch die Garantie eines umfassenden und effektiven Grundrechtsschutzes auf Gemeinschaftsebene gelöst werden7. Die damals bestehenden, punktuellen Gewährleistungen wie etwa das allgemeine Diskriminierungsverbot, das heute in Art. 18 AEUV normiert ist, reichten dazu nicht aus8. Da aber erst im Zuge des Vertrages von Lissabon die Grundrechte tatsächlich Bestandteil des Vertragsrechts wurden, entwickelte der Europäische Gerichtshof aus seiner Kompetenz zur Wahrung des Rechts (Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV) heraus grundrechtliche Verbürgungen in Gestalt ungeschriebener allgemeiner Rechtsgrundsätze9. Durch die ausdrückliche Anerkennung der Grundrechte haben diese jedoch an Sichtbarkeit und Durchschlagskraft gewonnen10.

I. Schutzzweck und Zielsetzung der Grundrechte der Charta Um Rückschlüsse bezüglich der Grundrechtsberechtigung zu ziehen, ist zunächst zu untersuchen, welche Zielsetzung die Grundrechte der Charta verfolgen. Dabei ist maßgeblich, welche Funktionen ihnen zuerkannt werden. Der Begriff der Funktionen beschreibt in diesem Zusammenhang „den rechtlichen Einfluss der Grundrechte auf das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der öffentlichen Gewalt“11. 3  D. Ehlers,

in: ders., EuGR, § 14 Rn. 3. in: ders., EuGR, § 14 Rn. 4. 5  Corte Constitutionale, EuR 9 (1974), 255 (262) (Frontini); BVerfGE 37, 271 (277 ff.) (Solange I). 6  EuGH Slg. 1964, 1251 (1270 f.) (Costa . / . ENEL.). 7  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 14 Rn. 4. 8  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 14 Rn. 4. 9  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 14 Rn. 4; dazu unter B. 10  D. Thym, JZ 2011, 148 (148); zustimmend D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 14 Rn. 4. 11  T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 51 GRCh Rn. 19; W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 319. 4  D. Ehlers,

114

3. Kap.: Auf europarechtlicher Ebene

Aus der Verwendung der Worte „achten“ und „fördern“ in Art. 1 Satz 2 GRCh wird gefolgert, dass die Unionsrechte als Abwehr- und Leistungsrechte zu klassifizieren sind12. Bei den Grundrechten der Charta steht daher der Schutz des Einzelnen im Vordergrund; im Gegensatz zu den Grundfreiheiten haben sie nicht lediglich eine wirtschaftliche Ausrichtung13. Dementsprechend wird gefolgert, dass es eine „ökonomische Eindimensionalität“ der Gemeinschaft heute nicht mehr gebe14. Zunächst garantieren die Unionsgrundrechte daher dem Einzelnen eine bestimmte Freiheitssphäre15. In der Funktion als Abwehrrechte bezwecken die Grundrechte das Unterlassen staatlicher Eingriffe in diese Freiheitssphären, also die Schutzbereiche der jeweiligen Grundrechte16. Damit bilden sie einen Schutzraum um den Einzelnen, in dem die grundsätzlich unbegrenzte Freiheit einer begrenzten und rechtfertigungsbedürftigen hoheitlichen Eingriffsbefugnis gegenübersteht17. Auch wenn insbesondere die in Art. 6 bis 19 GRCh niedergelegten Grundrechte Abwehrrechte enthalten18, kommt die Abwehrfunktion darüber hinaus immer dann zum Tragen, wenn Grundrechte individuelle Garantien und Handlungsspielräume gegenüber der Hoheitsgewalt verbürgen19. Zudem gewährt die Grundrechtecharta ihren Berechtigten Gleichheitsrechte20. Dabei fungieren die Gleichheitsrechte einerseits wiederum als Abwehrrechte, da sie Ungleichbehandlungen verbieten und dem Einzelnen so einen Anspruch auf Abwehr einer solchen gewähren21. Allerdings liegt die Ausgestaltung dieser Abwehr im Ermessen des Grundrechtsverpflichteten22, es besteht kein Anspruch auf die Vornahme einer bestimmten Maßnahme. Ferner können sich aus den Gleichheitsrechten ebenfalls Leistungsrechte in der Gestalt derivativer Teilhaberechte ergeben23. Aus der in Art. 1 Satz 2 GRCh niedergelegten Verpflichtung, die Grundrechte zu fördern, erwächst außerdem ein Anspruch des Einzelnen auf ho12  T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 51 GRCh Rn. 19; H. D. Jarass, in: ders. GRCh, § 5 Rn. 10. 13  P. Szczekalla, Schutzpflichten, S. 553 ff. 14  P. Szczekalla, Schutzpflichten, S. 557. 15  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 14 Rn. 41. 16  T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 51 GRCh Rn. 20. 17  E.-W. Böckenförde, NJW 1974, 1529 (1537 f.); B. Schlink, EuGRZ 1984, 457 (467); R. Wahl / J. Masing, JZ 1990, 553 (563); T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 51 GRCh Rn. 20. 18  H. D. Jarass, EU-GR, § 5 Rn. 9. 19  T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 51 GRCh Rn. 21. 20  Ganz h. M., vgl. nur D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 14 Rn. 42. 21  W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 323, 345. 22  W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 345. 23  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 14 Rn. 42.



A. Die Grundrechte der Grundrechtecharta115

heitliches Handeln, der als Leistungsrecht kategorisiert wird24. Unter dem Oberbegriff der Leistungsrechte fungiert der verpflichtete Hoheitsträger als Garant der Grundrechte und wird so zu einem positiven Handeln verpflichtet25. Als wichtigste Ausprägung der Leistungsrechte wird die aus den Grundrechten erwachsende Schutzpflicht angesehen26. In dieser Funktion verpflichten die Grundrechte ihre Adressaten, für den Bestand des Schutzgutes aktiv einzutreten. Dies meint einerseits den Schutz vor rechtswidrigen Eingriffen Privater, andererseits hoheitliche Förder- und Bereitstellungspflichten27. Dabei gibt es meist mehrere Möglichkeiten, den grundrechtlich gewährleisteten Schutz zu gewährleisten28. Dies wiederum räumt den zum Schutz verpflichteten Hoheitsträgern eine Einschätzungsprärogative ein, so dass die Schutzpflicht nach überwiegender Ansicht lediglich einen „Wesentlichkeitsschutz“ beinhaltet29. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass sich gemäß Art. 51 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 GRCh aus den Schutzpflichten keine Kompetenztitel ergeben; die Schutzpflichten setzen vielmehr das Bestehen eines solchen voraus30. Zudem ist auch für die Grundrechte der Charta eine Funktion als Teilhaberechte allgemein anerkannt31. Das Teilhaberecht ist auf die gleichberechtigte Beteiligung an bereits bestehenden hoheitlichen Leistungssystemen gerichtet und setzt das Bestehen eines sozialen Substrats voraus32. Originäre Leistungsrechte hingegen bestehen nach der Grundrechtecharta grundsätzlich nicht. Allerdings sind Ausnahmen von diesem Grundsatz denkbar, soweit die Vorenthaltung einer Leistung dieselbe Wirkung wie eine Grundrechtsbeeinträchtigung hat. Dies kann insbesondere der Fall sein, wenn Bürger- oder Verfahrensrechte betroffen sind33.

24  T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 51 GRCh Rn. 21 mit Verweis auf R. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 395 ff.; C. Ladenburger, in: Tettinger / Stern, GRCh, Art. 51 Rn. 18; D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 14 Rn. 43. 25  T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 51 GRCh Rn. 22. 26  C. Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 437 ff. 27  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 14 Rn. 45. 28  T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 51 GRCh Rn. 23. 29  H. D. Jarass, AöR 110 (1985), 363 (395 f.); zustimmend T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 51 GRCh Rn. 23; kritisch C. Calliess, JZ 2006, 321 (325 ff.). 30  T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 51 GRCh Rn. 22, 26; J. F. Lindner, DÖV 2000, 543 (549); I. Pernice, DVBl. 2000, 847 (852); T. Schmitz, JZ 2001, 833 (840); D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 14 Rn. 45. 31  W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 327 ff.; D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 14 Rn. 44. 32  T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 51 Rn. 27. 33  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 14 Rn. 46.

116

3. Kap.: Auf europarechtlicher Ebene

Ferner gewährt die Grundrechtecharta Verfahrensrechte. Diesen wird in der Rechtsordnung der Union eine besonders bedeutsame Rolle eingeräumt. Bei den Verfahrensrechten handelt es sich zum einen um Bürgerrechte und justizielle Rechte im Sinne der Titel V und VI der Grundrechtecharta. Zum anderen können sich aber auch aus den sonstigen Grundrechten der Charta Verfahrensrechte ergeben34. Dabei ist es allgemeine Ansicht, dass gerade die Verfahrensrechte eine besondere objektive Wertentscheidung zum Ausdruck bringen, die über die in ihnen enthaltene subjektiv-rechtliche Komponente hinausgeht. Damit steht die individualrechtliche Ausrichtung der Grundrechtecharta im Vordergrund. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs enthalten die Grundrechte aber auch objektive Wertentscheidungen und Grundsätze35, die auf die Verwirklichung bestimmter normativer Gehalte zielen36. Bei den Grundsätzen der Grundrechtecharta handelt es sich mithin um Grundrechte im weiteren Sinne, nicht aber um eine Zuweisung subjektiver Berechtigungen37. Die objektive Wertentscheidung der Grundrechte gilt zum einen für die Grundsätze, zum anderen aber auch, wenn die Grundrechte unmittelbar einklagbare subjektive Rechte enthalten. Der Gehalt der Unionsgrundrechte muss somit bei der Setzung und dem Vollzug des sekundären Unionsrechts beachtet werden38. Auch eine Auslegung des nationalen und des Unionsrechts muss sich stets an den Grundrechten der Charta orientieren und somit unionsgrundrechtskonform erfolgen39. Darüber hinaus wird die Charta in (unmittelbar einklagbare) Rechte und objektiv wirkende Grundsätze eingeteilt40. Bei diesen Grundsätzen soll es sich lediglich um Grundrechte im weiteren Sinne handeln, die keine subjektiven Berechtigungen enthalten41.

34  D. Ehlers,

in: ders., EuGR, § 14 Rn. 47. Slg, 1993, I-487 Rn. 9 (Veronica Omroep); Slg. 1991, I-4007, Rn. 23 (Collectieve Antennenvoorziening Gouda); H.-W. Rengeling, Grundrechtsschutz, S.  205 ff.; H. Gersdorf, AöR 119 (1994), 400 (402 ff.); D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 14 Rn. 49. 36  H. Gersdorf, AöR 119 (1994), 400 (402). 37  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 14 Rn. 2. 38  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 14 Rn. 49. 39  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 14 Rn. 49. 40  H. D. Jarass, EU-GR, § 5 Rn. 1 ff.; T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert, EUV /  AEUV, Art. 51 GRCh Rn. 19. 41  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 14 Rn. 2. 35  EuGH



A. Die Grundrechte der Grundrechtecharta117

II. Grundrechtsverpflichtung und Grundrechtsberechtigung Auf Grundlage dieser Schutzzwecke stellt sich die Frage, wer durch die Grundrechtecharta verpflichtet wird und wem sie die Berechtigung, sich auf die in ihr festgelegten Grundrechte zu berufen, einräumt. Aufgrund des sowohl im deutschen Verfassungsrecht als auch auf europarechtlicher Ebene vertretenen Konfusionsarguments ist die Frage nach der Grundrechtsverpflichtung insbesondere darauf zu untersuchen, ob sich aus ihr Rückschlüsse für die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des öffentlichen Rechts eines Drittstaates ergeben. 1. Grundrechtsverpflichtung Gemäß Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh gilt die Charta für Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der Union und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Damit definiert Art. 51 GRCh den Anwendungsbereich der Grundrechte und regelt die Frage nach den Verpflichteten der Grundrechtecharta. Auf diese Weise unterscheidet sich die Grundrechtecharta in systematischer Hinsicht von den Verfassungen der Mitgliedstaaten und der EMRK42. Diese Regelung ist erforderlich, da aufgrund der Struktur der Europäischen Union mehrere Grundrechtsverpflichtete in Betracht kommen. a) Europäische Union Die Grundrechtecharta bindet zunächst die Europäische Union selbst als Rechtsperson und ihre gesamte Hoheitsgewalt43. Diese Grundrechtsbindung der Union ist notwendig, um den Vorrang des Unionsrechts vor dem Recht der Mitgliedstaaten zu legitimieren44. Wesentlich für die Annahme einer Bindung ist, dass eine der Union zurechenbare Stelle im Wirkungskreis des Unionsrechts agiert45. Gemäß Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh bindet die Charta insbesondere die „Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union“. Dabei sind die Organe der Europäischen Union abschließend in Art. 13 Abs. 1 UAbs. 2 EUV aufgeführt. Erfasst sind damit das Europäische Parlament, der Europäi­ 42  W.

Frenz, Handbuch IV, Rn. 210. Rengeling / P. Szczekalla, Grundrechte, § 4 Rn. 257; H. D. Jarass, in: ders., GRCh, Art. 51 Rn. 3; M. Borowsky, in: Meyer, GRCh, Art. 51 Rn. 16. 44  T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 51 GRCh Rn. 4; W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 208. 45  W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 216. 43  H.-W.

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3. Kap.: Auf europarechtlicher Ebene

sche Rat, die Europäische Kommission, der Gerichtshof der Europäi­schen Union, die Europäische Zentralbank und der Rechnungshof. Als Einrichtungen und sonstige Stellen sind alle Einheiten der Union zu verstehen, die durch die Verträge oder auf deren Grundlage geschaffen wurden46 und die ihrerseits Grundrechte beeinträchtigen können47. So sind etwa die Ämter der Europäischen Union, die vertraglich verankerten Einrichtungen wie die ­Europäische Zentralbank, die Agenturen und Ausschüsse von diesem Oberbegriff erfasst48. Der Begriff der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen ist vor dem Hintergrund eines möglichst umfänglichen Grundrechtsschutzes weit auszulegen49. Insbesondere der Auffangtatbestand „sonstige Stellen der Union“ verdeutlicht die weite Fassung des Kreises der Verpflichteten50. Dementsprechend ist auch eine genaue Abgrenzung zwischen Einrichtungen und den sonstigen Stellen obsolet51. Gebunden sind damit etwa der Wirtschafts- und Sozialausschuss, Europol, sämtliche Agenturen und sonstigen Ämter52. Ebenso sind Maßnahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sowie der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit an den Grundrechten zu messen53. Eine Grundrechtsverpflichtung besteht für alle Tätigkeitsbereiche und Formen hoheitlichen Handelns54, mithin für Legislative, Exekutive und Judikative55. Dabei sind alle Ausprägungen des Unionsrechts unabhängig von ihrer Rechtsform erfasst56. Eine Bindung wird aber auch bei privatrechtlichem Handeln der Grundrechtsverpflichteten angenommen, da ansonsten eine 46  Charta-Erläuterungen,

ABl 2007 C 303 / 32. Borowsky, in: Meyer, GRCh, Art. 51 Rn. 19. 48  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 14 Rn. 59. 49  M. Borowsky, in: Meyer, GRCh, Art. 51 Rn. 18; J. P. Terhechte, in: v. d. Groeben / Schwarze / Hatje, EU, Art. 51 GRCh Rn. 6. 50  C. Nowak, in: Heselhaus / ders., Hdb. EU-Grundrechte, § 6 Rn. 62; W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 213. 51  M. Borowsky, in: Meyer, GRCh, Art. 51 Rn. 19; W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 213. 52  C. Nowak, in: Heselhaus / ders., Hdb. EU-Grundrechte, § 6 Rn. 29; M. Borowsky, in: Meyer, GRCh, Art. 51 Rn. 19; W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 213. 53  M. Borowsky, in: Meyer, GRCh, Art. 51 Rn. 19; H.-W. Rengeling / P. Szczekalla, Grundrechte, § 4 Rn. 276; a. A. D. H. Scheuing, EuR 40 (2005), 162 (184); W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 220. 54  M. Borowsky, in: Meyer, GRCh, Art. 51 Rn. 16; H. D. Jarass, EU-GR, § 4 Rn. 4; R. Winkler, Grundrechte, S. 117. 55  H.-W. Rengeling / P. Szczekalla, Grundrechte, § 4 Rn. 268; W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 217. 56  W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 217. 47  M.



A. Die Grundrechte der Grundrechtecharta119

Flucht in das Privatrecht die Grundrechtsbindung umgehen würde57. Auch die Übertragung von Aufgaben an private Dritte kann nicht dazu führen, dass sich ein Grundrechtsverpflichteter seiner Bindung entziehen kann58. Damit soll die Bildung grundrechtsfreier Bereiche in der Union verhindert werden59. Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh sieht keine territoriale Beschränkung der Grundrechtsbindung vor. So sind auch Maßnahmen mit exterritorialer Wirkung an den Grundrechten zu messen60. Einschränkungen diesbezüglich können sich nur aus internationalem Recht ergeben61. b) Mitgliedstaaten Gemäß Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh bindet die Grundrechtecharta auch die Mitgliedstaaten, dies allerdings „ausschließlich bei der Ausführung des Rechts der Union“, Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh a. E. Diese Regelung führt aber nicht dazu, dass der Umfang der Grundrechtsbindung eindeutig vertraglich geregelt wäre62. Vielmehr werfen die von Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh aufgestellten Merkmale Unklarheiten bei der Auslegung auf. Als Mitgliedstaaten gelten dabei zunächst nicht nur diese selbst, sondern auch ihre Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen63. Eine Zurechnung staatlichen Handelns erfolgt insbesondere bei staatlicher Kontrolle und dem Bestehen von Sonderbefugnissen64. Unter dem „Recht der Union“ ist in diesem Zusammenhang das gesamte Primär- und Sekundärrecht zu verstehen65. Erforderlich ist, dass dieses in den Mitgliedstaaten gültig und anwendbar ist66. Es muss also formell wirk57  H.-W. Rengeling / P. Szczekalla, Grundrechte, § 4 Rn. 268; D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 14 Rn. 59. 58  W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 216. 59  M. Borowsky, in: Meyer, GRCh, Art. 51 Rn. 21; H. D. Jarass, EU-GR, § 4 Rn. 4; D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 14 Rn. 59. 60  R. Winkler, Grundrechte, S. 118; W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 221. 61  W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 221. 62  W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 223. 63  Charta-Erläuterungen, ABl. 2007 C 303 / 32; H.-W. Rengeling / P. Szczekalla, Grundrechte, § 4 Rn. 330; M. Borowsky, in: Meyer, GRCh, Art. 51 Rn. 25; H. D. Jarass, EU-GR, § 4 Rn. 8; W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 228. 64  EuGH, Slg. 1990, I-3313 Rn. 18 (Foster), NJW 1991, 3086 (3087). 65  M. Borowsky, in: Meyer, GRCh, Art. 51 Rn. 26; A. Hatje, in: Schwarze, EUKommentar, Art. 51 GRCh Rn. 12; J. P. Terhechte, in: v. d. Groeben / Schwarze / Hatje, EU, Art. 51 GRCh Rn. 8; C. Ohler, NVwZ 2013, 1433 (1433). 66  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 14 Rn. 62.

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3. Kap.: Auf europarechtlicher Ebene

sam zustande gekommen sein und materiell mit dem Primärrecht vereinbar sein67. Zum Primärrecht gehören die Gründungsverträge (also der EUV, der AEUV und Euratom), die jeweiligen Änderungsverträge und Protokolle, Art. 51 EUV, sowie gemäß Art. 6 Abs. 1 EUV die Grundrechtecharta selbst68. Das Sekundärrecht erfasst alle Rechtsakte und atypischen Handlungsformen, die vom primären Unionsrecht abgeleitet sind69. Eine Bindungswirkung aus dem Recht der Union besteht jedoch nur insoweit, als das Unionsrecht für das Tun, Dulden oder Unterlassen der Mitgliedstaaten Bindungswirkung entfaltet70. Dabei müssen die Bindungen eine hinreichend spezifische Verknüpfung zu mitgliedstaatlichem Handeln besitzen71. Streitigkeiten wirft insbesondere das Merkmal der Durchführung des Unionsrechts auf. Eine Durchführung im Sinne des Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh wird jedenfalls dann angenommen, wenn die Mitgliedstaaten europarechtlich veranlasst oder determiniert handeln, unabhängig davon, ob ihnen ein Gestaltungs- oder Ermessensspielraum zukommt72. Von einer „Durchführung“ des Unionsrechts ist also auszugehen, wenn ein Sachverhalt dem Unionsrecht unterfällt, das Recht nicht nur die Union selbst bindet und das Handeln der Mitgliedstaaten inhaltlich anleitet73. Dementsprechend kann eine Durchführung in Form unterschiedlicher Maßnahmen geschehen74: Sowohl die Umsetzung als auch der Vollzug des Unionsrechts sind erfasst75. Die Durchführung betrifft dementsprechend sowohl die normative als auch die administrative sowie die judikative Ebene76. Zu unterscheiden sind hier drei Konstellationen77: Die erste betrifft Fälle, in denen die Mitgliedstaaten das Unionsrecht umsetzen oder durchführen müssen78. In diesen Fällen geht es um die Umsetzung von Richtlinien79, die 67  C.

Ohler, NVwZ 2013, 1433 (1433). P. Terhechte, in: v. d. Groeben / Schwarze / Hatje, EU, Art. 51 GRCh Rn. 8. 69  J. P. Terhechte, in: v. d. Groeben / Schwarze / Hatje, EU, Art. 51 GRCh Rn. 8. 70  Ganz h. M., vgl. nur D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 14 Rn. 79; a. A. W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 218. 71  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 14 Rn. 79. 72  M. Borowsky, in: Meyer, GRCh, Art. 51 Rn. 25. 73  C. Ohler, NVwZ 2013, 1433 (1434). 74  W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 243. 75  M. Borowsky, in: Meyer, GRCh, Art. 51 Rn. 26 ff.; H.-W. Rengeling / P. Szczekalla, Grundrechte, § 4 Rn. 305, 310; D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 14 Rn. 73. 76  H. D Jarass, in: ders., GRCh, Art. 51 Rn. 18; zustimmend M. Borowsky, in: Meyer, GRCh, Art. 51 Rn. 26 Fn. 231. 77  F. Wollenschläger, in: Hatje / Müller-Graff, EnzEuR I, § 8 Rn. 18 ff.; J. P. Terhechte, in: v. d. Groeben / Schwarze / Hatje, EU, Art. 51 GRCh Rn. 10. 78  A. Hatje, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 51 GRCh Rn. 16; J. P. Terhechte, in: v. d. Groeben / Schwarze / Hatje, EU, Art. 51 GRCh Rn. 10. 68  J.



A. Die Grundrechte der Grundrechtecharta121

ergänzende Rechtsetzung zu EU-Verordnungen80 und die Auslegung und den Vollzug des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten81. Hier ist unproblematisch von einer Durchführung des Unionsrechts auszugehen82. In der zweiten Konstellation geht es um die Einschränkung der Grundfreiheiten durch die Mitgliedstaaten. Auch hier besteht eine Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten83. Die Grundrechte der Charta dienen in diesem Falle als SchrankenSchranken bei Beschränkungen der Grundfreiheiten durch die Mitgliedstaaten84. Dementsprechend ist auch in diesen Fällen eine Durchführung des Unionsrechts anzunehmen. Problematischer ist hingegen die dritte denkbare Konstellation: Handeln die Mitgliedstaaten im Kontext des Unionsrechts, ohne dass eine eindeutige Umsetzungs- oder Durchführungspflicht besteht, so ist umstritten, ob von einer Durchführung des Unionsrechts gesprochen werden kann85. Maßgeblich ist hier, inwieweit die Formulierung „ausschließlich“ als Eingrenzung der Grundrechtsbindung zu verstehen ist. Teilweise wird dieses Merkmal als bewusste Beschränkung der Grundrechtsbindung betrachtet86. Als Argument wird der Wortlaut des Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh angeführt, der diese Einschränkung gerade vorsehe87. Nach diesem Verständnis sind die Mitgliedstaaten dann nicht an die Grundrechtecharta gebunden, wenn sie lediglich im Kontext des Unionsrechts handeln. Gegen diese Betrachtungsweise wird angeführt, dass eine Eingrenzung des Grundrechtsschutzes gerade nicht bezweckt war, da nach Satz 4 der Präambel der Grundrechtecharta der Grundrechtsschutz gerade gestärkt werden 79  Vgl. dazu EuGH, Urt. v. 12.12.1996  – Rs. C-74 / 95 und C-129 / 95, Slg. 1996, I-6609 Rn.  24 f. 80  Vgl. dazu EuGH, Urt. v. 13.7.1989  – Rs. C.-5 / 88, Slg. 1989, 2609 Rn. 19 (Wach­auf); EuGH, Urt. v. 17.4.1997  – Rs. C-15 / 95, Slg. 1997, I-1961 Rn. 36 (Earl de Kelast). 81  C. Nowak, in: Terhechte, VwR der EU, § 14 Rn. 95 ff.; J. P. Terhechte, in: v. d. Groeben / Schwarze / Hatje, EU, Art. 51 GRCh Rn. 10. 82  J. P. Terhechte, in: v. d. Groeben / Schwarze / Hatje, EU, Art. 51 GRCh Rn. 10. 83  Ständige Rechtsprechung, vgl. nur EuGH, Urt. v. 18.6.1991  – Rs. C-260 / 89Slg. 1991, I-2925 Rn. 43 (ERT); Urt. v. 30.4.2014 – Rs. C-390 / 12, Rn. 35 f. (Pfleger), ABl. EU Nr. C 2014, 281; D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 14 Rn. 75. 84  F. Wollenschläger, in: Hatje / Müller-Graff, EnzEuR I, § 8 Rn. 25 ff.; J. P. Terhechte, in: v. d. Groeben / Schwarze / Hatje, EU, Art. 51 GRCh Rn. 10. 85  F. Wollenschläger, in: Hatje / Müller-Graff, EnzEuR I, § 8 Rn. 29 ff. m. w. N.; J. P. Terhechte, in: v. d. Groeben / Schwarze / Hatje, EU, Art. 51 GRCh Rn. 10. 86  P. M. Huber, NJW 2011, 2385 (2387); M. Borowsky, in: Meyer, GRCh, Art. 51 Rn. 24, 24a; W. Cremer, EuGRZ 2011, 545 (551 f.). 87  C. Ladenburger, in: Tettinger / Stern, GRCh, Art. 51 Rn. 6; P. M. Huber, NJW 2011, 2385 (2387); C. Ohler, NVwZ 2013, 1433 (1433).

122

3. Kap.: Auf europarechtlicher Ebene

sollte88. Aus dem Wortlaut des Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh ergebe sich keine Verkürzung des Grundrechtsschutzes. Die Betonung liege nicht auf dem Begriff der „Durchführung“, sondern auf dem Wort „ausschließlich“, das verdeutliche, dass der sachliche Anwendungsbereich der Charta im Hinblick auf die Mitgliedstaaten eben nicht umfassend sei89. Außerdem bestimmen sich die Gültigkeit und die Auslegung des Unionsrechts ohnehin nach den Unionsgrundrechten, so dass die Mitgliedstaaten ohnehin zur Berücksichtigung des vorrangig geltenden Unionsrechts verpflichtet und damit mittelbar an die Unionsgrundrechte gebunden sind90. Auf dieser Linie liegt auch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache Akerberg Fransson, das einer engen Auslegung des Art. 51 Abs. 1 GRCh eine Absage erteilt91. Hier erklärte der Europäische Gerichtshof die Grundrechtecharta für anwendbar, da die dort streitgegenständlichen steuerrechtlichen Mitteilungspflichten zwar nicht in Umsetzung einer Richtlinie ergangen seien, jedoch dem Schutz finanzieller Interessen der Union aus Art. 325 AEUV dienten92. Dennoch soll nicht jede denkbare Fallkonstellation in den Geltungsbereich der Grundrechtecharta fallen, vielmehr soll eine saubere Trennung der Rechtsebenen möglich bleiben93. So sei es maßgeblich, dass das Handeln der Mitgliedstaaten durch das Unionsrecht geprägt wird94. Eröffnet das Unionsrecht den Mitgliedstaaten Gestaltungsspielräume, handele es sich zwar um einen nichtdeterminierten Bereich95. Aber auch in diesem seien die Spielräume unionsrechtskonform durch die Mitgliedstaaten auszufüllen96. Das bedeutet, dass die EU-Grundrechte dann nicht anwendbar sind, wenn die Mitgliedstaaten ausschließlich im Rahmen ihrer nationalen Kompetenz handeln97. Dementsprechend liegt der Ausgangspunkt für die Bindung der Mitgliedstaaten in der Kompetenz der Union98. Da die Grundrechtecharta jedoch keine Kompetenzen der Union begründet, ist die Kompetenzgrund-

88  D. Ehlers,

in: ders., EuGR, § 14 Rn. 68. Niedobitek, in: HGR IV / 1, § 159 Rn. 110. 90  D. Ehlers, in: ders., EuGR § 14 Rn. 68. 91  EuGH, Rs. C-617 / 10, NJW 2013, 1415 (1415 f.), Rn. 19 ff. (Akerberg Fransson). 92  EuGH, Rs. C-617 / 10, NJW 2013, 1415 (1416), Rn. 26 (Akerberg Fransson). 93  F. Wollenschläger, in: Hatje / Müller-Graff, EnzEuR I, § 8 Rn. 31; J. P. Terhechte, in: v. d. Groeben / Schwarze / Hatje, EU, Art. 51 GRCh Rn. 12. 94  W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 234. 95  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 14 Rn. 74. 96  EuGH, NJW 2013, 1415 (1416), Rn. 29 (Akerberg Fransson); D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 14 Rn. 74. 97  H. D Jarass, EU-GR, § 4 Rn. 11; W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 230. 98  W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 231. 89  M.



A. Die Grundrechte der Grundrechtecharta123

lage im übrigen Unionsrecht zu verorten99. Darüber hinaus setzt die Durchführung von Unionsrecht voraus, dass dieses tatsächlich existiert, also von einer Kompetenzgrundlage Gebrauch gemacht und die mitgliedstaatliche Durchführung veranlasst wurde100. Dementsprechend reicht es nicht aus, dass eine Maßnahme lediglich hypothetisch in Durchführung von Unionsrecht ergehen könnte101. Auch sind die Mitgliedstaaten nicht gebunden, soweit eine Maßnahme der Union nicht so hinreichend konkret und unmittelbar wirkt, dass sie die Mitgliedstaaten im Einzelnen schon nicht verpflichtet, was vor allem für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Fall ist102. Allerdings besteht auch hier die Möglichkeit, dass Maßnahmen getroffen werden, die die Mitgliedstaaten unmittelbar und konkret verpflichten103. In diesen Fällen sind die Mitgliedstaaten insoweit grundrechtsverpflichtet104. c) Sonstige Zu beachten ist, dass einzelne Grundrechte nur einen eingeschränkten Adressatenkreis verpflichten. So binden die Art. 42, Art. 43 und Art. 44 GRCh lediglich die Union und ihre Stellen, nicht aber die Mitgliedstaaten105. Art. 41 Abs. 4 GRCh richtet sich dagegen ausschließlich an die Organe der Union106. Damit korreliert, dass diese Rechte nach herrschender Ansicht auch den Mitgliedstaaten und ihren juristischen Personen des öffentlichen Rechts zustehen. Eine Bindung von Privaten aus der Grundrechtecharta wird überwiegend abgelehnt107. Dies ergibt sich schon daraus, dass der Grundrechts-Konvent keinerlei Kompetenz habe, eine Bindung Privater durch die Unionsgrundrechte festzulegen108. Ausnahmsweise wird eine Grundrechtsbindung einer Privatperson dann angenommen, wenn auf diese Hoheitsbefugnisse übertra99  C. Ladenburger, in: Tettinger / Stern, GRCh, Art. 51 Rn. 34; H. D. Jarass, EUGR, § 4 Rn. 11; W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 230. 100  W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 232. 101  C. Ladenburger, in: Tettinger / Stern, GRCh, Art. 51 Rn. 28; H. D. Jarass, EUGR, § 4 Rn. 14. 102  W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 235. 103  W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 236. 104  W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 238. 105  C. Ladenburger, in: Tettinger / Stern, GRCh, Art. 51 Rn. 3. 106  W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 209. 107  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 14 Rn. 81; T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 51 GRCh Rn. 18; H. D. Jarass, GRCh, Art. 51 Rn. 27; R. Winkler, Grundrechte, S. 162; M. Kober, Grundrechtsschutz, S. 180; A. Hatje, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 51 GRCh Rn. 22. 108  R. Winkler, Grundrechte, S. 162.

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3. Kap.: Auf europarechtlicher Ebene

gen wurden, etwa im Fall der Beleihung109. In Betracht gezogen wird eine Bindung auch in Fällen, in denen Private einseitig über Regelungsmöglichkeiten gegenüber Grundrechtsträgern verfügen110. Im Übrigen wird – wie im deutschen Recht – lediglich eine mittelbare Drittwirkung der Charta-Grundrechte angenommen111. Nicht grundrechtsverpflichtet sind Drittstaaten und deren Organe112, selbst wenn sie in einem Mitgliedstaat tätig sind113. Denn sie üben keine der Union zurechenbare Hoheitsgewalt aus114. Es besteht keine Kompetenz der Union, diese zu verpflichten. Aus diesem Grund sind auch internationale Einrichtungen nicht durch die Grundrechte der Grundrechtecharta verpflichtet115. Hier können sich dennoch grundrechtsrelevante Probleme ergeben, etwa wenn die Mitgliedstaaten Schutz gegen Maßnahmen von Drittstaaten gewähren müssen116. 2. Grundrechtsberechtigung Für die Berechtigung aus den Charta-Grundrechten gibt es in der Grundrechtecharte keine dem Art. 51 Abs. 1 GRCh oder Art. 19 Abs. 3 GG vergleichbare allgemeine Bestimmung. Der Grundrechte-Konvent hat diese Frage bewusst offen gelassen, um sie der Rechtsprechung und der Literatur zu überlassen117. Die Grundrechtsberechtigung ist daher jeweils der betroffenen Einzelnorm zu entnehmen, wobei die von Rechtsprechung und Literatur getroffenen Erkenntnisse zu berücksichtigen sind118. Dennoch können auch hier gewisse Grundsätze aufgestellt werden119. a) Natürliche Personen Grundrechtsberechtigt sind zunächst alle natürlichen Personen. Dass dieser Schutz für alle natürlichen Personen – unabhängig von ihrer Unionsbürger109  H. D.

Jarass, GRCh, Art. 51 Rn. 27. Jarass, GRCh, Art. 51 Rn. 29. 111  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 14 Rn. 81. 112  H. D. Jarass, GRCh, Art. 51 Rn. 34; W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 229. 113  H. D. Jarass, EU-GR, § 4 Rn. 10. 114  H. D. Jarass, EU-GR, § 4 Rn. 10; W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 230. 115  H. D. Jarass, GRCh, Art. 51 Rn. 35. 116  H. D. Jarass, EU-GR, § 4 Rn. 10. 117  C. Ladenburger, in: Tettinger / Stern, GRCh, Art. 51 Rn. 3. 118  H.-W. Rengeling / P. Szczekalla, Grundrechte, § 4 Rn. 345; R. Winkler, Grundrechte, S.  102 f.; W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 283. 119  So auch W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 283. 110  H. D.



A. Die Grundrechte der Grundrechtecharta125

schaft – besteht, ergibt sich aus Art. 1 GRCh, der Rechtserkenntnisquelle des Art. 1 EMRK, den menschenrechtlichen Wurzeln der Unionsgrundrechte120 und der Notwendigkeit, keine grundrechtsfreien Zonen entstehen zu lassen121. Der Zuschnitt auf den Menschen als Grundrechtsträger ergibt sich zudem aus der Funktion der Grundrechte als Individualrechte122. Die Grundrechte sind daher vorrangig auf die natürliche Person als Träger zugeschnitten123. Teilweise wird der Kreis der Berechtigten jedoch eingeschränkt. Für die Reichweite und den Umfang dieses Schutzes ist demnach zu differenzieren zwischen den Menschen- und den Unionsbürgerrechten. Bei den meisten Grundrechten handelt es sich jedoch um Menschenrechte, die allen natürlichen Personen ihren Schutz gewähren124. Dies bekräftigt die Allgemeingültigkeit der Grundrechtecharta125 und deren menschenrechtliche Ausrichtung. Als Unionsbürgerrechte werden demgegenüber Rechte bezeichnet, die ausschließlich Bürgern der Europäischen Union zustehen126. Dabei handelt es sich inhaltlich vorwiegend um politische Rechte127. Außerdem handelt es sich um Rechte, die eine Entsprechung im AEUV haben und dadurch ebenfalls auf Unionsbürger beschränkt sind128. Dies stellt die von Art. 52 Abs. 2 GRCh geforderte Konkordanz sicher129. Zudem gibt es Grundrechte, die auch Drittstaatlern mit Wohnsitz im Gebiet der Europäischen Union zukommen. Diese sind in den Art. 41 ff. GRCh normiert und gewähren in der Union ansässigen Personen, also solchen mit einem rechtmäßigen Wohnsitz innerhalb der Europäischen Union130, das Recht auf eine gute Verwaltung, auf Zugang zu Dokumenten der Union und ihren Stellen, die Befassung der Bürgerbeauftragten sowie das Petitionsrecht und die mögliche Gewährung von Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit131. Zudem werden Drittstaatler mit rechtmäßigem Wohnsitz in Bezug auf das Grundrecht auf soziale Sicherheit aus Art. 34 Abs. 2 GRCh den Unionsbür120  M.

Kober, Grundrechtsschutz, S. 144. in: ders., EuGR, § 14 Rn. 55. 122  C. Nowak, in: Heselhaus / ders., Hdb. EU-Grundrechte, § 6 Rn. 2, 5; H. D. Jarass, EU-GR, § 4 Rn. 22. 123  W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 288. 124  Ganz h. M., vgl. nur C. Ladenburger, in: Tettinger / Stern, GRCh, Art. 51 Rn. 2; H. D. Jarass, GRCh, Art. 51 Rn. 51; T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 52 GRCh Rn. 52. 125  H.-W. Rengeling / P. Szczekalla, Grundrechte, § 4 Rn. 346. 126  H. D. Jarass, GRCh, Art. 51 Rn. 53. 127  R. Winkler, Grundrechte, S. 104. 128  W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 286. 129  W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 286. 130  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 14 Rn. 55. 131  Vgl. W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 287. 121  D. Ehlers,

126

3. Kap.: Auf europarechtlicher Ebene

gern gleichgestellt. Außerdem enthält die Grundrechtecharta in Art. 18 und Art. 19 GRCh spezielle Ausländer-Grundrechte132, die ihnen ein Asylrecht und Schutz bei Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung gewähren. Einen Mindestschutz für natürliche Personen aus Drittstaaten, die sich ohne gültige Ausweispapiere in der EU befinden, gewährt Art. 1 GRCh133. Ein weitergehender Schutz kann auf Grundlage von Verträgen mit Drittstaaten vereinbart werden134. Aber auch unabhängig von einem Wohnsitz oder Aufenthaltsort innerhalb der Europäischen Union können sich Angehörige von Staaten, die nicht Mitglied der Europäischen Union sind, unproblematisch auf die Jedermanngrundrechte der Grundrechtecharta berufen. Soweit die Grundrechtecharta den Gedanken der Menschrechte aufgreift, gilt sie also zumindest für natürliche Personen universell135. Damit ist die Grundrechtsberechtigung eines Drittstaatsangehörigen aus dem jeweiligen Grundrecht selbst herzuleiten136. Zudem wird vertreten, dass sich Drittstaatsangehörige auch auf das aus Art. 20 GRCh folgende allgemeine Prinzip der Gleichheit berufen können137. Eine Grundrechtsberechtigung kann sich ferner ergeben, soweit die Grundrechtecharta einzelne Grundrechte von der Ansässigkeit und nicht von der Staatsangehörigkeit abhängig macht. Weiterhin kann sich ein Grundrechtsschutz für Drittstaatler aus dem Sekundärrecht oder besonderen Europa­ abkommen ergeben138. Im Übrigen können sich Drittstaatler jedoch nicht auf die Grundrechte der Charta berufen139. Dennoch ist die GRCh auf einen weiten Grundrechtsschutz angelegt, da Art. 52 Abs. 3 GRCh insoweit einen Minimalschutz vorgibt140. Darüber hinaus kennt die Grundrechtecharta spe­ zielle Ausländergrundrechte in Art. 18 und Art. 19 GRCh. Zudem gewährt Art. 15 Abs. 3 GRCh Drittstaatsangehörigen einen Anspruch auf Arbeitsbedingungen, die denen der Unionsbürger entsprechen.

132  H.-W.

Rengeling / P. Szczekalla, Grundrechte, § 4 Rn. 366. Rengeling / P. Szczekalla, Grundrechte, § 4 Rn. 366. 134  H.-W. Rengeling / P. Szczekalla, Grundrechte, § 4 Rn. 367. 135  C. Nowak, in: Heselhaus / ders., Hdb. EU-Grundrechte, § 6 Rn. 8; H.-W. Rengeling / P. Szczekalla, Grundrechte, § 4 Rn. 365; H. D. Jarass, EU-GR, § 4 Rn. 24; W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 310; D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 14 Rn. 57. 136  W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 311. 137  D. Kugelmann, in: HGR VI / 1, § 160 Rn. 29. 138  H.-W. Rengeling / P. Szczekalla, Grundrechte, § 4 Rn. 367; W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 310. 139  Ganz h. M. vgl. etwa W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 310. 140  W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 312. 133  H.-W.



A. Die Grundrechte der Grundrechtecharta127

b) Juristische Personen des Privatrechts Auch wenn die Grundrechtecharta nur in einzelnen Artikeln auf juristische Personen Bezug nimmt, ist allgemein anerkannt, dass grundsätzlich auch juristische Personen des Privatrechts durch die Grundrechte der Charta geschützt werden141. Dies gilt unproblematisch für solche juristischen Personen, die ihren Sitz innerhalb der Europäischen Union haben142. Hergeleitet wird ihre Grundrechtsberechtigung aus der Mindestgarantie aus Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh und einem entsprechenden Rückgriff auf die EMRK143. Denn Art. 1 des Zusatzprotokolls zur EMRK etwa berechtigt jede natürliche oder juristische Person144. Einschränkend wird für die Erstreckung des Grundrechtsschutzes auf j­uristische Personen allerdings verlangt, dass das jeweilige einschlägige Grundrecht seinem Wesen nach auf juristische Personen anwendbar ist145. Es muss also im Einzelfall durch eine Auslegung ermittelt werden, ob das jeweilige Grundrecht juristische Personen in seinen Schutzbereich einbezieht146. Einen Anhaltspunkt bildet dabei der Wortlaut des betroffenen Grundrechts; ihm darf nichts Gegenteiliges zu entnehmen sein147. Die wesensmäßige Anwendbarkeit wird darüber hinaus anhand des Wortlauts des jeweils einschlägigen Grundrechts und der Unterscheidung von Menschen und Personen vorgenommen148. Nennt ein Grundrecht den Menschen als Berechtigten, ist eine Grundrechtsberechtigung juristischer Personen abzulehnen. Allerdings bedeutet umgekehrt die Anknüpfung an eine Person nicht

141  Ganz h. M., vgl. nur H. D. Jarass, in: ders., GRCh, Art. 51 Rn. 56; P.-J. Tettinger, HGR II, § 51 Rn. 76; W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 294. 142  C. Nowak, in: Heselhaus / ders., Hdb. EU-Grundrechte, § 6 Rn. 13 f.; W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 294. 143  W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 294. 144  So auch H.-J. Cremer, Eigentumsschutz, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG II, Kap. 22 Rn. 51; C. Nowak, in: Heselhaus / ders., Hdb. EU-Grundrechte, § 6 Rn. 15. 145  H.-W. Rengeling / P. Szczekalla, Grundrechte, § 4 Rn. 350; D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 14 Rn. 56; R. Streinz, in: ders., EUV / AEUV, Art. 51 Rn. 20; T. Kingreen, in Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 52 GRCh Rn. 53; W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 295; R. Winkler, Grundrechte, S. 105; H. D. Jarass, EuGR, § 4 Rn. 30; zum Kriterium der wesensmäßigen Anwendbarkeit im deutschen Recht vgl. Kap. 1 C. 146  R. Streinz, in: ders., EUV / AEUV, Art. 51 Rn. 20; A. Hatje, in: Schwarze, EUKommentar, Art. 51 Rn. 6. 147  EuG, Urt. v. 29.1.2013 – Z-496 / 10 (Mellat), juris; Urt. v. 5.2.2013 – T-494 / 10 (Saderat), juris; Urt. v. 6.9.2013 – T-35 / 10 und T 7 / 11 (Melli Iran), juris. 148  C. Ladenburger, in: Tettinger / Stern, GRCh, Art. 51 Rn. 4; D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 14 Rn. 56; H. D. Jarass, EuGR, § 4 Rn. 30; T. Kingreen, in Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 52 GRCh Rn. 51, 53.

128

3. Kap.: Auf europarechtlicher Ebene

zwingend, dass juristische Personen in den Schutzbereich des Grundrechts einbezogen sind149. Abgelehnt wird eine wesensmäßige Anwendbarkeit der Grundrechte bei den sogenannten höchstpersönlichen Grundrechten, die an die Eigenschaft des Menschseins anknüpfen150, wie etwa die in Art. 1 GRCh geregelte Menschenwürde151. Die Wirtschaftsgrundrechte, wie etwa die Unternehmerfreiheit, die Berufs- und die Eigentumsfreiheit, berechtigen demgegenüber gerade auch juristische Personen. Dies ergibt sich schon aus dem praktischen Bedürfnis nach einem solchen Schutz, da sie typischerweise in Bezug auf juristische Personen relevant werden152. Ist eine hoheitliche Maßnahme jedoch gerade an einzelne Mitglieder adressiert, können sich auch nur diese und nicht die juristische Person als solche auf die Grundrechte berufen153. Zudem stehen juristischen Personen nach allgemeiner Ansicht die Verfahrensgrundrechte und Rechtsschutzgarantien der Grundrechtecharta zu154. Nicht erforderlich für die Grundrechtsberechtigung einer juristischen Person ist hingegen, dass sie – wie von Art. 54 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 62 AEUV gefordert – einen Erwerbszweck verfolgt. Denn der Grundrechtsschutz hängt anders als der Schutz durch die Grundfreiheiten gerade nicht von einer Erwerbstätigkeit der juristischen Persom ab155. Dies ergibt sich bereits aus den unterschiedlichen Schutzzwecken von Grundrechten und Grundfreiheiten. Aus Art. 52 Abs. 3 GRCh folgt, dass eine juristische Person jedenfalls dann grundrechtsberechtigt ist, wenn sich eine Grundrechtsberechtigung aus der EMRK ergibt156. Auch Personenvereinigungen, denen nicht die Stellung einer juristischen Person zukommt, die sich aber als Zusammenschluss mehrerer Personen einer organisatorischen Willensbildung unterworfen haben, sind grundrechtsberechtigt157. Dies wird aus Art. 52 Abs. 3 GRCh in Verbindung mit Art. 34 EMRK gefolgert. Ansonsten könnte der nationale Gesetzgeber über die ­europäische Grundrechtsfähigkeit seiner Personenzusammenschlüsse verfü149  D. Ehlers,

in: ders., EuGR, § 14 Rn. 56. Kingreen, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 52 GRCh Rn. 53; D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 14 Rn. 56. 151  H.-W. Rengeling / P. Szczekalla, Grundrechte, § 11 Rn. 576; H. D. Jarass, in: ders., GRCh, Art. 1 Rn. 7; M. Borowsky, in: Meyer, GRCh, Art. 1 Rn. 36; C. Calliess, in: ders. / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 1 Rn. 8. 152  W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 296. 153  W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 297. 154  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 14 Rn. 56. 155  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 14 Rn. 56. 156  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 14 Rn. 56. 157  I. E. W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 308; H.-W. Rengeling / P. Szczekalla, Grundrechte, § 4 Rn. 355, § 5 Rn. 384; H. D. Jarass, in: ders. GRCh, Art. 51 Rn. 57. 150  T.



A. Die Grundrechte der Grundrechtecharta129

gen158. Im Ergebnis sind damit auch Wirtschaftsunternehmen unabhängig von ihrer Rechtsform grundrechtsberechtigt159. Andere Stimmen gehen davon aus, dass Kollektive, denen weder die Qualität einer juristischen Person noch einer sonstigen Vereinigung zukommt, durch den Grundrechtsschutz ihrer einzelnen Mitglieder hinreichend geschützt seien160. Die Grundrechtecharta knüpft die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen zumeist an deren satzungsmäßigen Sitz innerhalb der Europäischen Union. Dabei wird vertreten, dass in Anlehnung an Art. 54 Abs. 1 AEUV eine Gleichstellung anzunehmen ist, wenn die juristische Person ihre Hauptverwaltung oder Hauptniederlassung innerhalb der Europäischen Union hat161. Daraus kann aber nicht gefolgert werden, dass juristischen Personen im Übrigen der Grundrechtsschutz abzusprechen ist162. c) Juristische Personen des öffentlichen Rechts Weitgehend ungeklärt ist die Frage nach der Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des öffentlichen Rechts. Aus der Grundrechtecharta selbst ist zu dieser Fragestellung nichts zu entnehmen163. Das Europäische Gericht zieht eine Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des öffentlichen Rechts grundsätzlich in Betracht. Es differenziert danach, ob die juristische Person öffentliche Gewalt ausüben kann oder „unter Aufsicht der Behörde für einen im öffentlichen Interesse liegenden Dienst zuständig“ und damit „als verlängerter Arm eines Grundrechtsverpflichteten“ anzusehen ist164. Als maßgeblich werden auch die Rechtsform und die mit ihr verbundenen Rechte sowie die Natur und das Umfeld der ausgeübten Tätigkeiten und die Unabhängigkeit von politischen Instanzen angesehen165. Nicht grundrechtsberechtigt sind demnach Einrichtungen, die der strikten Kontrolle eines Hoheitsträgers unterliegen166 oder selbst Hoheitsgewalt ausüben167. 158  H. D.

Jarass, in: ders., GRCh, Art. 51 Rn. 57; ders., EU-GR, § 4 Rn 28. Jarass, in: ders., GRCh, Art. 51 Rn. 58. 160  H.-W. Rengeling / P. Szczekalla, Grundrechte, § 4 Rn. 383, 385, 388; W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 309. 161  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 14 Rn. 56 Fn. 158. 162  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 14 Rn. 56; M. Kober, Grundrechtsschutz, S. 146; a. A. M. H. Knecht, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union. S. 213. 163  So auch M. Kober, Grundrechtsschutz, S. 149. 164  EuG, Urt. v. 5.2.2013 – Rs. 494 / 10 Rn. 34 (Saderat). 165  So auf Ebene der EMRK: EGMR, Urt. v. 13.12.2007  – 40998 / 98 Rn. 79 f. (Islamic Republic of Iran Shipping Lines . / . Türkei). 166  EGMR, Urt. v. 13.12.2007 – 40998 / 98 Rn. 81 (Islamic Republic of Iran Shipping Lines . / . Türkei). 167  H.-W. Rengeling / P. Szczekalla, Grundrechte, § 4 Rn. 362. 159  H. D.

130

3. Kap.: Auf europarechtlicher Ebene

In der Literatur wird eine Grundrechtsberechtigung für juristische Personen des öffentlichen Rechts – wie im deutschen Recht – überwiegend abgelehnt. So wird angenommen, dass die Union selbst, die Mitgliedstaaten und deren Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen sowie staatliche Organisationen und Personengruppen keine Grundrechtsträger der Grundrechtecharta sind168. Begründet wird dies – wie auch auf Ebene des nationalen Rechts – mit der Grundrechtsbindung dieser juristischen Personen und dem Konfu­ sionsargument169. Dieses solle auf Ebene des europäischen Rechts ebenfalls Geltung finden. Die Tatsache, dass es innerhalb der Union verschiedene Rechtsträger gebe, ändere nichts daran, dass die Gefahr bestehe, dass Grundrechtsberechtigter und Grundrechtsverpflichteter in einer Person zusammenfallen. In dem jeweiligen Ausmaß der Grundrechtsbindung der Organe und Einrichtungen könnten sie jedoch nicht zugleich Berechtigte sein170. Für dieses Ergebnis wird zudem der Charakter der Grundrechte angeführt, die den Einzelnen als Abwehrrechte gegen hoheitliches Handeln schützen sollen171. Da die Grundrechte existierten, um vor Eingriffen von Hoheitsträgern zu schützen, dürften sie diese nicht zugleich ebenfalls schützen172. Insofern unterschieden sich die Grundrechte erheblich von den Grundfreiheiten173. Ansonsten bestünde die Gefahr, dass die Grundrechte „in ihr Gegenteil verkehrt“ werden174. Das Verhältnis von den Mitgliedstaaten und ihren Hoheitsträgern zur Union werde schließlich allein durch die Kompetenzvorschriften und nicht durch die Grundrechte bestimmt175. Bei Streitigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten und der Union handele es sich dementsprechend ausschließlich um Kompetenzkonflikte, nicht aber um eine Frage des 168  Etwa D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 14 Rn. 57; T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 52 GRCh Rn. 54; C. Nowak, in: Heselhaus / ders., Hdb. EU-Grundrechte, § 6 Rn. 23; H.-W. Rengeling / P. Szczekalla, Grundrechte, § 4 Rn. 359; H. D. Jarass, EU-GR, § 4 Rn. 32; W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 298; R. Winkler, Grundrechte, S.  106 ff. 169  H.-W. Rengeling / P. Szczekalla, Grundrechte, § 4 Rn. 359; R. Winkler, Grundrechte, S.  106 ff.; H. D. Jarass, in: ders., GRCh, Art. 51 Rn. 61; W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 299; D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 14 Rn. 57; F. Wollenschläger, in: Hatje / Müller-Graff, EnzEuR I, § 8 Rn. 64. 170  H.-W. Rengeling / P. Szczekalla, Grundrechte, § 4 Rn. 359. 171  A. Hatje, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 51 GRCh Rn. 6; M. H. Knecht, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 212 f. 172  M. Kober, Grundrechtsschutz, S. 149. 173  M. H. Knecht, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 213. 174  BVerfGE 59, 231 (255); ähnlich EuGH, Urt. v. 19.9.2000 – Rs. C-177 / 99 und C-181 / 99, Slg. 2000, I-7013 (7076), Rn. 67 (Ampafrance und Sanofi), wonach die Annahme einer Grundrechtsberechtigung den Schutz von Privatpersonen in Frage stellen würde. 175  M. Kober, Grundrechtsschutz, S. 149.



A. Die Grundrechte der Grundrechtecharta131

Grundrechtsschutzes, wenn sich die Mitgliedstaaten auf die Grundrechte berufen176. Daran ändere auch die etwaige Annahme einer Berechtigung der juristischen Personen des öffentlichen Rechts aus den Grundfreiheiten nichts177. Vielmehr biete die dort ausdrücklich geregelte Gleichstellung eher Anlass, die Berechtigung aus den Grundrechten im Übrigen sorgfältig in jedem Einzelfall zu prüfen178. Danach sind etwa Kommunen nach überwiegender Ansicht selbst dann keine Grundrechtsträger, wenn ihr Handeln „privaten Charakter“ hat179. Die Erstreckung der Grundrechtsberechtigung auf juristische Personen des öffentlichen Rechts kommt hingegen grundsätzlich in Betracht, wenn man lediglich die wesensmäßige Anwendbarkeit des Grundrechts fordert. Danach ist für jedes Grundrecht einzeln zu untersuchen, ob es seinem Wesen nach auf juristische Personen des öffentlichen Rechts anwendbar ist180. Dazu werden unterschiedliche Ansätze vertreten: Zum Teil wird auf das Vorliegen einer grundrechtstypischen Gefährdungslage abgestellt181. Danach können öffentlich-rechtliche Einrichtungen grundrechtsberechtigt sein, wenn sie keine Hoheitsgewalt ausüben und bei der Verfolgung ihrer Ziele unabhängig von Grundrechtsverpflichteten agieren182. Dies wird in Parallele zum deutschen Recht dann angenommen, wenn eine juristische Person des öffent­ lichen Rechts nicht dem staatlichen Bereich, sondern einem durch die Grundrechte geschützten Lebensbereich unmittelbar zuzuordnen ist183. In diesen Fällen bestehe aufgrund der Staatsferne der juristischen Personen eine grundrechtstypische Gefährdungslage.184 Dies wird angenommen für öffentlich-recht­liche Religionsgesellschaften185, für öffentlich-rechtliche H. D. Jarass, in: ders., GRCh, Art. 51 Rn. 61. Rengeling / P. Szczekalla, Grundrechte, § 4 Rn. 360; H.-J. Blanke, in: Tettinger / Stern, GRCh, Art. 16 Rn. 17; zu den Unterschieden zwischen Grundfreiheiten und Grundrechten G. Nicolaysen, EuR 38 (2003), 719 (737). 178  H.-W. Rengeling / P. Szczekalla, Grundrechte, § 4 Rn. 360. 179  H. D. Jarass, in: ders., GRCh, Art. 51 Rn. 62 mit Verweis auf EGMR, Urt. v. 23.10.2010 – Rs. 50108 / 06 (Dösemealti Belediyesi), NVwZ 2011, 479 (479 f.). 180  S. Alber, in: Tettinger / Stern, Europäische Grundrechte-Charta, Art. 47 Rn 11; R. Streinz, in: Streinz, EUV / AEUV, Art. 51 GRCh Rn 20. 181  H.-W. Rengeling / P. Szczekalla, Grundrechte, § 4 Rn. 362; in diese Richtung auch W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 300 ff.; J. Kühling, in: v. Bogdandy / Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 687 f.; a. A. M. Kober, Grundrechtsschutz, S. 149, der eine grundrechtstypische Gefährdungslage mangels personalen Substrats ablehnt. 182  EGMR, Urt. v. 9.12.1994  – 13092 / 87 Rn. 49 (The Holy Monasteries); H. D. Jarass, EU-GR, § 4 Rn. 34; D. Kugelmann, in: HGR VI / 1, § 160 Rn. 29. 183  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 14 Rn 57; M. Kober, Grundrechtsschutz, S. 151. 184  M. Kober, Grundrechtsschutz, S. 151. 185  Eine Ausnahme wird hier teils für echte Staatskirchen gemacht, vgl. H.-W. Rengeling / P. Szczekalla, Grundrechte, § 4 Rn. 362. 176  So

177  H.-W.

132

3. Kap.: Auf europarechtlicher Ebene

Rundfunkanstalten und für öffentlich-rechtliche Wissenschaftseinrichtungen186. Keinen Unterschied kann es machen, ob ein Mitgliedstaat eine solche juristische Person öffentlich-rechtlich verfasst oder eine privatrechtliche Organisation wählt187. Die Grundrechtsberechtigung der aufgezählten juristischen Personen beschränkt sich nach allgemeiner Ansicht nicht auf die entsprechenden Grundrechte188. Zudem wird vertreten, dass eine grundrechts­ typische Gefährdungslage immer dann bestehen könne, wenn die juristische Person des öffentlichen Rechts gegenüber der Union nicht weisungsgebunden ist. Soweit die Mitgliedstaaten nicht in Durchführung des Unionsrechts handelten, komme auch ein Zusammentreffen von Grundrechtsverpflichtung und Grundrechtsberechtigung nicht in Betracht189. Nach diesem Ansatz könnten sich auch die Mitgliedstaaten selbst auf die Grundfreiheiten berufen, sofern sie nicht als grundrechtsverpflichtet in Durchführung des Unionsrechts handeln. Nach dem für die Grundrechtecharta ebenfalls vertretenen Ansatz vom Erfordernis eines personalen Substrats wird die wesensmäßige Anwendbarkeit der Grundrechte abgelehnt, da ein solches bei juristischen Personen des öffentlichen Rechts nicht bestehe190. Zur Begründung dieses Ergebnisses wird zudem Art. 34 EMRK herangezogen, nach dem die Beschwerdebefugnis auf nichtstaatliche Organisationen und Personengruppen beschränkt ist191. Nach beiden Ansätzen ist die wesensmäßige Anwendbarkeit jedenfalls dann abzulehnen, soweit die juristische Person des öffentlichen Rechts von ihrer Hoheitsgewalt Gebrauch macht. Dies gilt unabhängig davon, ob eine wesensmäßige Anwendbarkeit der Grundrechte angenommen wird. So ist in diesem Fall das Vorliegen einer grundrechtstypischen Gefährdungslage abzulehnen, da die juristische Person dann nicht einem (anderen) Hoheitsträger in einem Unterordnungsverhältnis gegenübersteht. Ebenso wenig kann hoheitliches Handeln als Ausübung der Privatautonomie der hinter ihr stehenden natürlichen Personen gewertet werden192. Darüber hinaus gibt es über die wesensmäßige Anwendbarkeit hinausgehende Ansätze: So wird erwogen, eine Sicherungsfunktion juristischer Perso186  H. D.

Jarass, in: ders., GRCh, Art. 51 Rn. 63. Rengeling / P. Szczekalla, Grundrechte, § 4 Rn. 362. 188  EuGH, Urt. v. 26.4.2010  – Rs. C-510 / 10 Rn. 57 (DR und TV2), ABl. EU 2012, Nr. C 174, 8. 189  W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 301. 190  M. Kober, Grundrechtsschutz, S. 149. 191  C. Grabenwarter / K. Pabel, EMRK, § 17 Rn. 5; E. Stieglitz, Grundrechtsverständnis, S. 127; H. D. Jarass, in: ders., GRCh, Art. 51 Rn. 61; M. Kober, Grundrechtsschutz, S. 150; J. Gundel, in: Grabenwarter, EnzEuR II, § 2 Rn. 29. 192  R. Winkler, Grundrechte, S. 109. 187  H.-W.



A. Die Grundrechte der Grundrechtecharta133

nen des öffentlichen Rechts für die Rechte des Einzelnen anzunehmen193. Ausgangspunkt sei dann, inwieweit die juristische Person eine Funktion für die Sicherung individueller Grundrechte wahrnehme194. Auf Ebene des natio­ nalen Rechts wird eine solche Sachwalterstellung abgelehnt, da jeweils nur eigene Rechte geltend gemacht werden könnten195. Diese Überlegung gilt auch für die Grundrechte der Charta. So macht Art. 41 Abs. 1 GRCh deutlich, dass eine Person sich nur bezüglich „ihrer Angelegenheiten“, also ihrer eigenen Belange, auf die Charta berufen kann. Außerdem wird erwogen, eine generelle Ausdehnung der Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des öffentlichen Rechts bezüglich der Wirtschaftsgrundrechte anzunehmen196. Die Europäische Union als Wirtschaftsgemeinschaft lebe von der unternehmerischen Tätigkeit der natürlichen und juristischen Personen im Binnenmarkt. Hier spielten auch öffentliche Unternehmen eine wichtige Rolle, für die dieselben Wettbewerbsvorschriften wie für private Unternehmen anzuwenden seien197. Dies schwäche die Unterscheidungsmerkmale zur Privatwirtschaft, die auf Ebene des deutschen Verfassungsrechts zur Abgrenzung angeführt würden, erheblich ab. So könne hier nicht nach der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben oder der Ausübung von Hoheitsgewalt unterschieden werden198. Die beiden vorgenannten Kriterien seien national aufgeladen und deshalb europaweit nicht einheitlich zu bestimmen, mit der Folge, dass sie nicht auf die auf gleiche Geltung in den Mitgliedstaaten angelegten europäischen Grundrechte übertragbar seien199. Vielmehr bedürfe es autonomer Kriterien, die unabhängig von der Rechtsund Handlungsform bestünden200. Als solches Kriterium wird wiederum das Bestehen einer grundrechtstypischen Gefährdungslage erwogen. Bezüglich der Wirtschaftsgrundrechte sei eine solche für private und öffentliche Unternehmen gleichermaßen denkbar. Der Mitgliedstaat bleibe zwar stets ein Staat und dürfe sich unabhängig von der Art der wahrgenommenen Aufgaben nicht in das Privatrecht flüchten. Jedoch sei er jenseits der Wahrnehmung öffent­ licher Aufgaben wirtschaftlich aktiv, diesbezüglich stehe seine staatliche Hoheitsfunktion gerade nicht im Vordergrund201. 193  W.

Frenz, Handbuch IV, Rn. 303. Frenz, Handbuch IV, Rn. 303. 195  Vgl. dazu Kap. 1 C. 196  W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 304. 197  W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 304. 198  W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 305. 199  W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 305. 200  P. J. Tettinger, in: FS Börner, S. 625 (638); R. Winkler, Grundrechte, S. 107; W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 305. 201  W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 306. 194  W.

134

3. Kap.: Auf europarechtlicher Ebene

Allgemein anerkannt ist, dass die Prozess- und Verfahrensgrundrechte der Charta auf juristische Personen des öffentlichen Rechts anwendbar sind202. Dies ergebe sich schon daraus, dass die Justizgrundrechte umfassendes objektives Recht statuierten203. Dementsprechend könne aus einer Berechtigung bezüglich der Justizgrundrechte kein Rückschluss für die anderen Grundrechte gezogen werden204. Zudem wird in der Literatur auch für die Anwendbarkeit der Justizgrundrechte auf eine grundrechtsgleiche Gefährdungslage abgestellt205. Besondere Bedeutung kommt dem Recht auf ein faires Verfahren zu206. Erfasst sind von dieser Gewährleistung sowohl der Anspruch auf rechtliches Gehör207 als auch derjenigge auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 47 GRCh208. So gewährt Art. 47 Abs. 1 GRCh jeder Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht, nach Maßgabe der in Art. 47 GRCh vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen. Aus der Formulierung „jede Person“ wird zunächst gefolgert, dass das Recht auf wirksamen Rechtsbehelf jeder natürlichen Person zustehe und Art. 47 GRCh unabhängig von der Unionsbürgerschaft oder dem (Wohn-) Sitz einer Person gelte209. So umfasse Art. 47 GRCh über natürliche Personen hinaus auch (teil-)rechtsfähige Gebilde210. Juristische Personen sind ebenfalls vom Schutz des Art. 47 GRCh erfasst, soweit ihnen ein Recht zusteht, das sie durch die Einlegung eines Rechtsbehelfs geltend machen können211. Umstritten ist hingegen, ob auch juristische Personen des öffentlichen Rechts durch Art. 47 GRCh geschützt sind212. Sie sollen jedenfalls 202  EuGH, Urt. v. 12.2.1992 – Rs. C-48 / 90 und C-66 / 90, Slg. 1992, I-565 Rn. 44 (Niederlande . / . Kommission); D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 14 Rn. 57; T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 52 GRCh Rn. 52; C. Ladenburger, in: Tettinger / Stern, GRCh, Art. 51 Rn. 4; M. Kober, Grundrechtsschutz, S. 150 ff.; J. Kühling, in: v. Bogdandy / Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 687 f.; H.-W. Rengeling /  P. Szczekalla, Grundrechte, § 4 Rn. 361; C. Nowak, in: Heselhaus / Nowak, Hdb. EUGrundrechte § 6 Rn. 23. 203  W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 300. 204  W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 300; in diese Richtung auch L. Crones, Schutz, S. 181. 205  W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 300. 206  H.-W. Rengeling / P. Szczekalla, Grundrechte, § 4 Rn. 361. 207  EuGH, Slg. 2002, I-7421 Rn. 52, 62 ff. (Deutschland . / . Kommission). 208  EuGH, Slg. 2002, I-4561 Rn. 20 (Deutschland . / . Parlament und Rat). 209  P. Schonard, in: Lenz / Borchardt, EU-Verträge, 2012, Art. 47 GRCh Rn. 2. 210  P. Schonard, in: Lenz / Borchardt, EU-Verträge, 2012, Art. 47 GRCh Rn. 2. 211  S. Alber, in: Tettinger / Stern, GRCh, Art. 47 Rn. 10; R. Streinz, in: ders., EUV / AEUV, Art. 47 GRCh Rn. 7; H. D. Jarass, in: ders., GRCh, Art 47 Rn. 12. 212  H. D. Jarass, in: ders., GRCh, Art. 47 Rn. 12; ablehnend E. Stieglitz, Grundrechtsverständnis, S.  126 f.



A. Die Grundrechte der Grundrechtecharta135

dann geschützt sein, wenn sie auch Träger eines materiellen Grundrechts sind213. d) Mitgliedstaaten In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob sich die Mitgliedstaaten selbst auf die Grundrechte berufen können. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sind die Mitgliedstaaten jedenfalls bezüglich der Verfahrensgrundrechte grundrechtsberechtigt214. Auf dieser Linie wird vertreten, dass sich die Mitgliedstaaten auf Art. 41 GRCh und das dort normierte Recht auf eine gute Verwaltung berufen können215. Daraus kann jedoch nicht auf eine allgemeine Grundrechtsberechtigung der Mitgliedstaaten geschlossen werden. Den Verfahrensgrundrechten kommt nach allgemeiner Ansicht vielmehr eine Sonderstellung zu216. So gelten sie nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sogar für die Organe der Europäischen Union217. Jedoch lässt sich in der Rechtsprechung im Übrigen keine Stütze für eine weitergehende Grundrechtsberechtigung finden218. Weiter wird vertreten, dass zur Vermeidung der Vermengung der Grundrechtskategorien ein klarer Trennstrich zu ziehen sei219. Die entsprechenden Rechte der Mitgliedstaaten und ihrer juristischen Personen hat der Europäische Gerichtshof als allgemeine Rechtsgrundsätze anerkannt, nicht aber als Grundrechte der Charta ausgewiesen220. Zwar hätten sie als Grundsätze auch weiter neben der Charta Bestand221, Grundrechtscharakter sei ihnen aber nicht zuzusprechen222. 213  H.-J.

Blanke, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 47 GRCh Rn. 5. Urt. v. 10.7.1986  – Rs. 234 / 84, Slg. 1986, 2263 Rn. 27 (Belgien . / . Kommission); Urt. v. 11.11.1987 – Rs. 259 / 85, Slg. 1987, 4393 Rn. 12 (Frankreich . / . Kommission); Urt. v. 12.2.1992  – Rs. C-48 / 90 u. C-66 / 90, Slg. 1992, I-565 Rn. 44 (Niederlande . / . Kommission); Urt. v. 29.3.2012 – Rs. C-505 / 09 P Rn. 99 (Kommission . / . Estland), ABl. EU 2012, Nr. C 151, 2. 215  EuGH, Urt. v. 20.3.2003 – Rs. 3 / 00, Slg. 2003, I-2643 Rn. 46 f. (Dänemark . / . Kommission); H. D. Jarass, in: ders., GRCh, Art. 41 Rn. 11. 216  L. Crones, Schutz, S. 181; J. Gundel, in: Grabenwarter, EnzEuR II, § 2 Rn. 37; R. Winkler, Grundrechte, S. 107. 217  EuGH, Urt. v. 2.12.2009 – Rs. C-89 / 08 P, Slg. 2009, I-11245 Rn. 53 (Kommission . / . Irland u. a.). 218  J. Gundel, in: Grabenwarter, EnzEuR II, § 2 Rn. 37. 219  W. Kahl, DVBl. 127, 1 (2012), 602 (602, Fn. 7); J. Gundel, in: Grabenwarter, EnzEuR II, § 2 Rn. 37. 220  J. Gundel, in: Grabenwarter, EnzEuR II, § 2 Rn. 37. 221  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 14 Rn. 11; M. Schröder, in: FS Stern, 2012, S.  933 (941 f.); J. Gundel, in: Grabenwarter, EnzEuR II, § 2 Rn. 37. 222  J. Gundel, in: Grabenwarter, EnzEuR II, § 2 Rn. 37. 214  EuGH,

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3. Kap.: Auf europarechtlicher Ebene

Gleiches gelte für den Gleichheitssatz: Die Rechtsprechung hatte diesen als allgemeinen Rechtsgrundsatz entwickelt223, auf den sich die Mitgliedstaaten berufen konnten224. Die Mitgliedstaaten sind hingegen bezüglich Art. 20 GRCh nicht grundrechtsberechtigt225. Dies wird als Parallele zum deutschen Recht gewertet, da sich hier juristische Personen des öffentlichen Rechts lediglich auf das Willkürverbot, nicht aber die übrigen Garantien des Art. 3 Abs. 1 GG berufen können226. In der Literatur wird eine Grundrechtsberechtigung der Mitgliedstaaten überwiegend abgelehnt227. Insbesondere wird angeführt, dass es vorrangig Frage des europäischen Organisationsrechts und nicht der Grundrechtecharta sei, in welchem Verhältnis die Europäische Union und die Mitgliedstaaten zueinander stehen228. So stellten die Mitgliedstaaten und ihre Untergliederungen originäre Hoheitsträger dar, deren Verhältnis sich nach der Kompetenzzuordung bestimme. Die Grundrechte der Charta seien schon ihrem Wesen nach nicht auf die Mitgliedstaaten anwendbar. Folgt man diesbezüglich dem Ansatz vom personalen Substrat, ist schon äußerst fraglich, inwieweit die hinter dem Mitgliedstaat stehenden natürlichen Personen unmittelbar von den Maßnahmen der Union betroffen sein können. Hier ist vorrangig eine mittelbare Betroffenheit denkbar, soweit die Bürger durch die Umsetzung von Unionsrecht in ihren Rechten aus der Charta verletzt werden. Aber auch Befürworter des Ansatzes von der grundrechtstypischen Gefährdungslage lehnen eine Berechtigung der Mitgliedstaaten teilweise ab: In dieser Konstellation sei eine grundrechtstypische Gefährdungslage schon nicht denkbar, da ein Hoheitsträger einem anderen nicht wie ein Privater gegenüberstehen könnte. So sei das Verhältnis der Mitgliedstaaten gegenüber der Union mit dem eines Bürgers, der Hoheitsgewalt unterworfen ist, nicht vergleichbar. Die Annahme einer grundrechtstypischen Gefährdungslage stehe im Widerspruch zu der grundrechtlichen Idee, die Rechtssphäre des Individuums vor hoheitlichen Eingriffen zu schützen229. Damit scheide eine Grundrechtsbe-

dazu U. Kischel, EuGRZ 1997, 1 (1) m. w. N. Urt. v. 6.7.1982 – Rs. 188-190 / 80, Slg. 1982, 2545 Rn. 54 (Frankreich, Italien u. Großbritannien . / . Kommission); Urt. v. 19.9.1985 – Rs. 192 / 83, Slg. 1985, 2791 Rn. 28 (Griechenland . / . Kommission). 225  K. Odendahl, in: Heselhaus / Novak, Hdb. EU-Grundrechte § 43 Rn. 15; J. Gundel, in: Grabenwarter, EnzEuR II, § 2 Rn. 38. 226  J. Gundel, in: Grabenwarter, EnzEuR II, § 2 Rn. 38. 227  G. Hirsch, Gemeinschaftsgrundrechte als Gestaltungsaufgabe, in: Kreuzer /  Scheuing / Sieber, Europäischer Grundrechtsschutz, S. 9 (17). 228  J. Gundel, in: Grabenwarter, EnzEuR II, § 2 Rn. 35; a. A. I. Pernice, DVBl. 2000, 847 (857). 229  L. Crones, Schutz, S. 181. 223  Vgl.

224  EuGH,



A. Die Grundrechte der Grundrechtecharta137

rechtigung jedenfalls bei hoheitlicher Tätigkeit aus230. Denn die Annahme einer Grundrechtsberechtigung für hoheitliches Handeln stelle den Schutz von Privatpersonen gegen rechtswidriges staatliches Handeln in Frage231. Teilweise wird vertreten, dass zwar juristische Personen des öffentlichen Rechts der Mitgliedstaaten, nicht aber diese selbst grundrechtsberechtigt sein sollen232. Gegen diesen Ansatz wird angeführt, dass es inkonsequent erscheine, etwa den deutschen Bundesländern als Eigentümern der Landesbanken den Grundrechtsschutz zu verweigern, während sich die Banken selbst auf die Grundrechte berufen könnten233. Andere Stimmen in der Literatur nehmen eine Grundrechtsberechtigung der Mitgliedstaaten unter bestimmten Voraussetzungen an: Hier wird wiederum entsprechend Art. 19 Abs. 3 GG eine Grundrechtsberechtigung angenommen, soweit die Grundrechte ihrem Wesen nach auch auf die Mitgliedstaaten anwendbar sind234. Dies ist insbesondere dann möglich, wenn man von einer wesensmäßigen Anwendbarkeit der Grundrechte ausgeht, soweit eine grundrechtstypische Gefährdungslage besteht. Für diese Betrachtungsweise spricht, dass die Mitgliedstaaten der Hoheitsgewalt der Union in vielen Bereichen gemäß Art. 288 AEUV untergeordnet sind. In diesen Bereichen bestehe häufig ein Über-Unterordnungsverhältnis, das erfordere, den Mitgliedstaaten bestimmte Abwehrrechte einzuräumen, die auch in Grundrechten bestehen könnten235. Für die Annahme einer solchen grundrechtstypischen Gefährdungslage ist wiederum maßgeblich, in welcher Funktion die Mitgliedstaaten durch die Maßnahme der Union betroffen werden236. Nach diesem Ansatz kommt die Annahme einer Grundrechtsberechtigung dann in Betracht, wenn ein Mitgliedstaat nicht hoheitlich handelt, sondern wirtschaftlich tätig wird und so den gemeinschaftsrechtlichen Wettbewerbsvorschriften unterliegt237. Dabei sei eine unternehmerische Tätigkeit eines Mitgliedstaates grundsätzlich möglich, da der Unternehmensbegriff nicht an eine bestimmte Rechtsform gebun230  EuGH, Urt. v. 19.9.2000 – C-177 / 99 und C-181 / 99, Slg. 2000, I-7013 Rn. 67 (Ampafrance und Sanofi). 231  EuGH, Urt. v. 19.9.2000 – C-177 / 99 und C-181 / 99, Slg. 2000, I-7013 Rn. 67 (Ampafrance und Sanofi). 232  A. Guckelberger, DÖV 2003, 829 (832, 835); G. Krings, in: Tettinger / Stern, GRCh, Art. 44 Rn. 6. 233  J. Gundel, in: Grabenwarter, EnzEuR II, § 2 Rn. 35. 234  L. Crones, Schutz, S. 190. 235  A. S. Mohn, Gleichheitssatz, S. 37; I. Pernice, DVBl. 2000, 847 (857); K. Pfeffer, Das Recht auf eine gute Verwaltung, S. 111. 236  L. Crones, Schutz, S. 182. 237  L. Crones, Schutz, S. 182; R. Winkler, Grundrechte, S. 108.

138

3. Kap.: Auf europarechtlicher Ebene

den sei238. Bei einer Teilnahme am Wirtschaftsleben wie ein Unternehmen seien die Mitgliedstaaten wie ein öffentliches Unternehmen zu behandeln, mit der Folge, dass sie sich wie sonstige juristische Personen auf die Gemeinschaftsgrundrechte der Handels- und Eigentumsfreiheit und den Gleichheitssatz berufen könnten239. Dementsprechend bestimme sich die Anwendbarkeit der Grundrechte auf die Mitgliedstaaten danach, ob der Mitgliedstaat im Einzelfall wirtschaftlich oder hoheitlich tätig wird240. Als Kriterien für eine Abgrenzung seien diejenigen Kriterien heranzuziehen, die der Europäische Gerichtshof im Rahmen seiner Rechtsprechung zur Anwendbarkeit der Wettbewerbsregeln entwickelt hat241. Ein Wirtschaftsteilnehmer sei dem Unionsrecht nämlich unterworfen wie ein sonstiges Unternehmen und befinde sich in einer grundrechtstypischen Gefährdungslage242. Von einer wirtschaftlichen Betätigung sei jedenfalls dann auszugehen, wenn die Leistung in potentieller Konkurrenz zu Privaten auf dem Markt angeboten würde243. Im Falle einer hoheitlichen Betätigung der Mitgliedstaaten könnten sich diese lediglich auf die Verfahrens- und Prozessgrundrechte und den Gleichheitssatz in seiner objektiv-rechtlichen Dimension berufen244. Gegen diesen Ansatz wird jedoch angeführt, dass die praktische Relevanz des Bestehens einer Doppelkonstellation aus Berechtigung und Verpflichtung ohnehin nur gering sei. Eine solche sei lediglich im Bereich privatrechtlicher Wirtschaftstätigkeit denkbar. Sofern den Mitgliedstaaten aber keine Privat­ autonomie zukomme, sei das Konfliktpotential – vor allem mit Diskriminierungsverboten – gering. Lediglich bei Aufspaltung der Aufgaben könnten Grundrechtsverpflichtete auch grundrechtsberechtigt sein245. Ähnlich wie im deutschen Recht bestehen auf europäischer Ebene ebenfalls Bestimmungen, die einen gewissen abwehrrechtlichen Gehalt zugunsten der Mitgliedstaaten gegenüber der Europäischen Union aufweisen und als „strukturelle“ Grundrechte der Mitgliedstaaten bezeichnet werden246. Hierbei handelt es sich etwa um Art. 6 Abs. 3 EUV und die Präambel des EUV sowie um Art. 167 AEUV. Diese stellen jedoch keine Grundrechte im eigentlichen

238  J.

Schwarze, EuZW 2000, 613 (614). Bleckmann, Europarecht, Rn. 306; C. Crones, Selbstbindungen, S. 59; L. Crones, Schutz, S. 182. 240  L. Crones, Schutz, S. 182; R. Winkler, Grundrechte, S. 108. 241  L. Crones, Schutz, S. 182. 242  L. Crones, Schutz, S. 182. 243  J. Schwarze, EuZW 2000, 613 (614 ff.). 244  L. Crones, Schutz, S. 183. 245  R. Winkler, Grundrechte, S. 109. 246  I. Pernice, DVBl. 2000, 847 (857); L. Crones, Schutz, S. 179. 239  A.



A. Die Grundrechte der Grundrechtecharta139

Sinne dar247. Vielmehr handelt es sich um Rechtsprinzipien institutioneller und struktureller Art, die das Verhältnis der Hoheitsträger untereinander regeln248. In ihrer Wirkungsweise entsprechen sie den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts249. In materieller Hinsicht handelt es sich hingegen eher um Regelungen, die das Organisationsrecht und Organisationsverhältnis zwischen den Hoheitsträgern als Rechtssubjekte ähnlich dem deutschen Staatsorganisationsrecht oder auf internationaler Ebene dem Völkerrecht regeln. Auch das Völkerrecht kennt Rechte der Staaten, die als Grundrechte bezeichnet werden250. Bei diesen handelt es sich um Rechtsgrundsätze, auf die sich die Staaten aufgrund ihrer Völkerrechtssubjektivität berufen können251. Diese sind aber nicht mit den hier in Rede stehenden Grundrechten vergleichbar, da sie nur den Staaten selbst zukommen, nicht aber deren juristischen Personen. Zudem handelt es sich bei den Staatengrundrechten um solche, die zwischen gleichgeordneten Rechtsträgern Anwendung finden, sodass es an dem typischen Spannungsverhältnis zwischen dem individuellen Rechtsbereich und der übergeordneten Hoheitsgewalt fehlt252. Im Verhältnis zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten besteht jedoch ein solches Subordinationsverhältnis253. Der alleinige Verweis auf die „strukturellen Grundrechte“ würde demnach keinen vollumfänglichen Schutz für die Mitgliedstaaten bieten. Wird die Grundrechtsberechtigung den übrigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts mit dem Konfusionsargument verweigert, könnte man folgern, dass die Mitgliedstaaten immer dann grundrechtsberechtigt sind, wenn sie nicht in Durchführung des Unionsrechts handeln. Ein Zusammenfallen von Grundrechtsberechtigung und Grundrechtsverpflichtung hinsichtlich desselben Sachverhalts kommt in dieser Konstellation gerade nicht in Betracht. Fasst man das Konfusionsargument allerdings weiter und lehnt die Möglichkeit des generellen Zusammenfallens von Grundrechtsberechtigung und Grundrechtsverpflichtung ab, so scheidet die Annahme einer Grundrechtsberechtigung für die Mitgliedstaaten ohnehin aus.

247  G. Hirsch, Gemeinschaftsgrundrechte als Gestaltungsaufgabe, in: Kreuzer /  Scheuing / Sieber, Europäischer Grundrechtsschutz, S. 9 ff.; L. Crones, Schutz, S. 180. 248  L. Crones, Schutz, S. 180. 249  L. Crones, Schutz, S. 180. 250  So etwa L. Crones, Schutz, S. 180; kritisch V. Epping, in: Ipsen, Völkerrecht, § 5 Rn. 248 ff. 251  V. Epping, in: Ipsen, Völkerrecht, § 5 Rn. 248. 252  V. Epping, in: Ipsen, Völkerrecht, § 5 Rn. 249. 253  A. S. Mohn, Gleichheitssatz, S. 35 ff.; zustimmend L. Crones, Schutz, S. 180.

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3. Kap.: Auf europarechtlicher Ebene

e) Von den Mitgliedstaaten geschaffene juristische Personen des Privatrechts, privatrechtsförmige Handlungs- und Organisationsformen des Staates Wie im deutschen Verfassungsrecht ist es auch auf europarechtlicher Ebene umstritten, ob und inwieweit sich von den Mitgliedstaaten geschaffene juristische Personen und solche mit der Beteiligung eines Mitgliedstaates auf die Grundrechte der Charta berufen können. aa) Diese Frage stellt sich insbesondere für öffentliche Unternehmen, also für Eigengesellschaften eines Mitgliedstaates, bei denen sich alle Unternehmensanteile in der Hand eines Mitgliedstaates als Grundrechtsverpflichteten befinden. Teilweise wird ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs aus dem Jahr 2013254 als Entscheidung für die grundlegende Anerkennung der Grundrechtsberechtigung öffentlicher Unternehmen gewertet255. Andere verstehen diese Interpretation als sehr weitgehend, da der Gerichtshof im Ergebnis eine Grundrechtverletzung des dort klagenden Flughafenbetreibers ohne Auseinandersetzung mit der Frage nach seiner Grundrechtsberechtigung verneinte256. In der Literatur wird eine Grundrechtsberechtigung öffentlicher Unternehmen zum Teil kategorisch abgelehnt257. Gegen eine Grundrechtsberechtigung spreche zunächst die Konzeption der Grundrechte als Schutz Privater vor Hoheitsgewalt258. An dieser Stelle wird wieder das Konfusionsargument angeführt, da auch öffentliche Unternehmen durch die Grundrechte gebunden seien259. Zudem wird angeführt, dass sich die Mitgliedstaaten durch die Gewährung von Grundrechten vorrangig selbst begünstigten und dies dem abwehrrechtlichen Charakter der Grundrechte widerspreche260. Auch bestehe keine klare Trennung zwischen der Hoheitsgewalt der Union und der der Mitgliedstaaten, die eine Abgrenzung zwischen den Handlungsformen zulasse261. Allein aufgrund der hohen Regelungsdichte des Europarechts vermöchte eine Trennung gerade im wirtschaftlichen Bereich nicht zu überzeugen. Zudem unterlägen öffentliche Unternehmen im Wettbewerb auch nicht 254  EuGH, Urt. v. 16.10.2003  – Rs. C-363 / 01, Slg. 2003, I-11893 Rn. 55, 59 f. (Flughafen Hannover Langenhagen GmbH). 255  So etwa C. Calliess, et 11 / 2007, 92 (95). 256  J. Gundel, in: Grabenwarter, EnzEuR II, § 2 Rn. 31 Fn. 139. 257  W. Weiß, EuR 38 (2003), 165 (180 ff.); H.-J. Blanke, in: Tettinger / Stern, GRCh, Art. 16 Rn. 16. 258  M. Kober, Grundrechtsschutz, S. 150. 259  M. Kober, Grundrechtsschutz, S. 150; F. Wollenschläger, in: v. d. Groeben /  Schwarze / Hatje, EU I, Art. 17 GRCh Rn. 8. 260  H.-J. Blanke, in: Tettinger / Stern, GRCh, Art. 16 Rn. 16. 261  H.-J. Blanke, in: Tettinger / Stern, GRCh, Art. 16 Rn. 16; so aber N. Wunderlich, Berufsfreiheit, S. 120; P. J. Tettinger, in: FS Börner, S. 625 (639).



A. Die Grundrechte der Grundrechtecharta141

denselben Regelungen wie privatrechtlich organisierte Unternehmen262. So bestehe im Unionsrecht kein Grundsatz, der eine Gleichbehandlung von privaten und öffentlichen Unternehmen gebiete263. Das Wettbewerbsrecht sei nichts anderes als ein Teil der Rechtsordnung, der alle staatlichen Stellen und Einrichtungen sowie juristische Personen, hinter denen Hoheitsgewalt steht, binde. Es sei vielmehr widersprüchlich, aus der Verpflichtung zur Einhaltung der Rechtsordnung eine Grundrechtsberechtigung zu konstruieren264. Insofern sei keine Flucht ins Privatrecht möglich. Auch für öffentliche Unternehmen ergebe sich aus ihrer Berechtigung bezüglich der Grundfreiheiten nichts Gegenteiliges. Hier unterschieden sich der Schutzzweck, die Zielsetzung und die Funktionsweise der Regelungen so sehr, dass eine Parallele oder Gleichsetzung nicht möglich seien265. Während die Grundfreiheiten der Schaffung und Erhaltung des freien Binnenmarktes dienen, schützen die Grundrechte den privaten Freiheitsraum als solchen266. Außerdem bestehe gerade keine dem Art. 49 AEUV vergleichbare Regelung. Vielmehr sei die Wertung aus Art. 36 GRCh zu berücksichtigen, wonach die Union den Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse anerkennt267. Gegen eine Grundrechtsberechtigung aus den Grundrechten der Charta wird zudem Art. 106 AEUV herangezogen. Da Art. 106 Abs. 1 AEUV öffentliche Unternehmen mit Sonderrechten ausstatte, sie so den Mitgliedstaaten zuordne268 und als Adressaten der EU-Gewährleistungen einordne, sei eine Grundrechtsberechtigung abzulehnen269. Andere Stimmen nehmen eine Grundrechtsberechtigung hingegen an270. Eine solche komme immer dann in Betracht, wenn das öffentliche Unternehmen nicht hoheitlich handle271. Dies geschieht insbesondere mit Verweis auf 262  H.-J.

Blanke, in: Tettinger / Stern, GRCh, Art. 16 Rn. 16. Kühling, in: Streinz, EUV / AEUV, Art. 106 AEUV Rn. 33; J. Wolff, DÖV 2011, 721 (726); J. Gundel, in: Grabenwarter, EnzEuR II, § 2 Rn. 32; a. A. L. Crones, Schutz, S. 178. 264  H.-J. Blanke, in: Tettinger / Stern, GRCh, Art. 16 Rn. 16. 265  G. Nicolaysen, EuR 38 (2003), 719 (737 f.); H.-J. Blanke, in: Tettinger / Stern, GRCh, Art. 16 Rn. 17; K. Windthorst, VerwArch. 95 (2004), 377 (384 f.); M. Kober, Grundrechtsschutz, S. 150; J. Gundel, in: Grabenwarter, EnzEuR II, § 2 Rn. 32. 266  M. Kober, Grundrechtsschutz, S. 150. 267  H.-J. Blanke, in: Tettinger / Stern, GRCh, Art. 16 Rn. 17. 268  N. V. Manthey, Bindung, S. 65 ff. 269  J. Gundel, in: Grabenwarter, EnzEuR II, § 2 Rn. 32. 270  H.-W. Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 202; ders., DVBl. 2004, 453 (455); P. J. Tettinger, FS Börner, S. 625 (637 ff.); N. Wunderlich, Berufsfreiheit, S. 121 ff.; N. Bernsdorff, in: Meyer, GRCh, Art. 16 Rn. 16. 271  N. Wunderlich, Berufsfreiheit, S. 120; P. J. Tettinger, in: FS Börner, S. 625 (639). 263  J.

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3. Kap.: Auf europarechtlicher Ebene

die Indizwirkung des Art. 54 Abs. 2 AEUV272. Ferner wird angeführt, dass der Bindung an die Wettbewerbsregeln aus Art. 106 AEUV die Möglichkeit gegenüberstehen müsse, sich auf die Grundfreiheiten zu berufen273. So seien öffentliche Unternehmen denselben Regelungen unterworfen wie rein privatrechtliche274. Zudem wird die Grundrechtsfähigkeit mit Verweis auf eine grundrechtstypische Gefährdungslage angenommen, die lediglich dann abzulehnen sei, wenn die betroffene juristische Person hoheitlich handle275. Für diese Betrachtungsweise wird angeführt, dass die betroffene juristische Person lediglich dem fernen Unionsgesetzgeber und nicht etwa einem Hoheitsträger gegenüberstehe, dessen juristische Person sie darstelle276. Für diesen Ansatz spricht, dass ein öffentliches Unternehmen eines Mitgliedstaates gerade keine europarechtliche Hoheitsgewalt ausübt. Gegen einen Verweis auf die Trennung von Union und öffentlichen Unternehmen wird angeführt, dass sich dies für kommunale Unternehmen gegenüber dem Bundesgesetzgeber auch nicht anders darstelle und es auf diese Trennung also nicht ankomme277. Dieser Einwand vermag jedoch nicht zu überzeugen. Es ist schon nicht ersichtlich, warum ohne Begründung diese Auffassung aus dem deutschen Grundrechtsverständnis herangezogen werden sollte. Außerdem wird nicht deutlich, warum es dogmatisch zutreffend sein sollte, dass sich kommunale Unternehmen gerade nicht auf die Grundrechte berufen können sollten. Konsequenz der Annahme einer Grundrechtsberechtigung für öffentliche Unternehmen wäre, dass diese gegen Entflechtungsvorgaben des UnionsGesetzgebers aus den Grundrechten vorgehen und sich etwa auf die Eigentumsgarantie berufen könnten278. Außerdem könnten sich kommunale Unternehmen gegen gesetzliche Beschränkungen ihrer kommerziellen Betätigung in anderen Mitgliedstaaten durch ihren Heimatstaat auf die unternehmerische Freiheit aus Art. 16 GRCh berufen279. bb) Umstritten ist zudem, ob sich gemischt-wirtschaftliche juristische Personen auf die Grundrechte der Charta berufen können. Nach der wohl herr272  L.

Crones, Schutz, S. 178; N. Wunderlich, Berufsfreiheit, S. 121 ff. Kober, Grundrechtsschutz, S. 150. 274  N. Wunderlich, Berufsfreiheit, S. 121 ff.; P. J. Tettinger, in: FS Börner, S. 625 (638); N. Bernsdorff, in: Meyer, GRCh, Art. 16 Rn. 16; H.-W. Rengeling, DVBl. 119, 1 (2004), 453 (455). 275  N. Bernsdorff, in: Meyer, GRCh, Art. 16 Rn. 16. 276  L. Crones, Schutz, S. 173. 277  J. Gundel, in: Grabenwarter, EnzEuR II, § 2 Rn. 32. 278  Für staatliche Energieversorgungsunternehmen F. Becker, YEL 26 (2007), 255 (273); C. Calliess, et 11 / 2007, 92 (95); kritisch J. Gundel, in: Grabenwarter, EnzEuR II, § 2 Rn. 32. 279  J. Gundel, in: Grabenwarter, EnzEuR II, § 2 Rn. 32. 273  M.



A. Die Grundrechte der Grundrechtecharta143

schenden Auffassung sind sie in Anlehnung an die Grundrechte der EMRK280 dann grundrechtsberechtigt, wenn sie nicht an der Ausübung von Hoheitsgewalt beteiligt sind und keine öffentlichen Aufgaben unter staatlicher Kontrolle wahrnehmen281. Im Übrigen wird darauf abgestellt, ob die gemischtwirtschaftliche juristische Person von einem Grundrechtsverpflichteten beherrscht wird282. Für diese Fälle wird – wie im deutschen Recht283 ‒ die Grundrechtsberechtigung abgelehnt, da ein Grundrechtsverpflichteter als Teil der Hoheitsgewalt den überwiegenden Einfluss auf die juristische Person ausübt284. Teilweise wird vertreten, dass lediglich den privaten Anteilseignern aber die Grundrechtsberechtigung in Bezug auf ihren Anteil an der juristischen Person unbenommen bleiben soll285. Die Schutzbedürftigkeit ­ privater Anteilseigner reiche aber für sich genommen nicht aus, um eine Grundrechtsberechtigung des gemischt-wirtschaftlichen Unternehmens anzunehmen286. Die privaten Anteilseigner könnten und müssten sich darauf einstellen, dass das ohnehin nicht von ihnen beherrschte Unternehmen keinen Grundrechtsschutz genießt287. Außerdem bestünde andernfalls die Gefahr, dass sich die öffentliche Hand durch Beteiligung privater Minderheitenaktionäre die Grundrechtsberechtigung erschleiche288. cc) Nach der ganz herrschenden Meinung sind mitgliedstaatliche Eigen­ gesellschaften und gemischt-wirtschaftliche juristische Personen jedoch ebenfalls bezüglich der Justizgrundrechte der Charta grundrechtsberechtigt289.

280  So für die Grundrechte der EMRK EGMR, Urt. v. 13.12.2007  – 40998 / 98 Rn. 79 f. (Islamic Republic of Iran Shipping Lines . / . Türkei); P. Schäfer, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 34 Rn. 42. 281  J. Gundel, in: Grabenwarter, EnzEuR II, § 2 Rn. 32. 282  H.-W. Rengeling / P. Szczekalla, Grundrechte, § 4 Rn. 363; W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 298; H. D. Jarass, EU-GR, § 4 Rn. 33; D. Ehlers, in: ders., EuGR § 14 Rn. 57. 283  Vgl. dazu Kap. 1 D. III. 2. 284  H.-W. Rengeling / P. Szczekalla, Grundrechte, § 4 Rn. 363; W. Frenz, Handbuch IV, Rn. 298; H. D. Jarass, EU-GR, § 4 Rn. 33. 285  H.-W. Rengeling / P. Szczekalla, Grundrechte, § 4 Rn. 363. 286  J. Gundel, in: Grabenwarter, EnzEuR II, § 2 Rn. 33. 287  J. Gundel, in: Grabenwarter, EnzEuR II, § 2 Rn. 33. 288  J. Gundel, in: Grabenwarter, EnzEuR II, § 2 Rn. 33. 289  EuGH, Urt. v. 12.2.1992 – Rs. C-48 / 90 und C-66 / 90, Slg. 1992, I-565 (638 ff.) Rn.  40 ff.; T. Kingreen, JuS 2000, 857 (861); H.-W. Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 201; D. Ehlers, JURA 2002, 468 (473); M. Kober, Grundrechtsschutz, S. 150.

144

3. Kap.: Auf europarechtlicher Ebene

III. Grundrechtsberechtigung für juristische Personen des öffentlichen Rechts, die nicht der EU oder den Mitgliedstaaten angehören Zu überlegen bleibt, ob Drittstaaten, ihre juristischen Personen des öffentlichen Rechts und ihre öffentlichen beziehungsweise gemischt-wirtschaft­ lichen Unternehmen aus den Grundrechten der Charta berechtigt sein können. Diese Konstellation erreicht in der Praxis aufgrund der fortschreitenden internationalen Verknüpfung immer größere Relevanz. So trifft die Europäische Union häufig aus Gründen der Bekämpfung des Terrorismus Maßnahmen gegen drittstaatliche Unternehmen, vornehmlich betroffen sind dabei (staat­ liche) Banken. So ergingen im Jahr 2013 drei Urteile des Europäischen ­Gerichts zu der Frage der Grundrechtsberechtigung in dieser Konstellation. Diese Urteile sind zunächst zu analysieren. Sodann wird untersucht, wie eine Grundrechtsberechtigung von Drittstaaten mit dem Schutzzweck und der Zielrichtung der Charta-Grundrechte vereinbar wäre. Zudem ist zu prüfen, inwieweit die Argumente, die gegen eine Grundrechtsberechtigung der Mitgliedstaaten und anderer juristischer Personen des öffentlichen Rechts angeführt werden, übertragbar sind. Aus dem im deutschen Verfassungsrecht häufig angeführten Konfusionsargument290 wäre zu folgern, dass sich aus der Grundrechtsbindung der eben genannten juristischen Personen ergebe, dass sie nicht grundrechtsberechtigt sein können. Zu fragen wäre auch hier, ob Drittstaaten und ihre Organe – da sie nicht grundrechtsgebunden sind – grundrechtsberechtigt sind. 1. Aktuelle Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Im Jahr 2013 urteilte das Europäische Gericht erster Instanz in drei Fällen, dass nichteuropäische staatliche Organisationen bezüglich der Grundrechte der Grundrechtcharta grundrechtsberechtigt sein können291. Das Gericht verwendete dabei in sämtlichen Verfahren den Begriff der emanation für diese Organisationen, der in der deutschen Fassung als „Emanation“ übersetzt wird. Diese Begrifflichkeit ist etwas unklar und lässt nicht erkennen, nach welchen Kriterien eine juristische Person einem Staat zugerechnet wird. Der Begriff der Emanation wird im deutschen Sprachgebrauch mit Ausstrahlung oder dem aus etwas Hervorgekommenen übersetzt292. In den Urteilen des

290  Vgl.

dazu Kap. 1 D. I. Urt. v. 29.1.2013 – Z-496 / 10 (Mellat), juris; Urt. v. 5.2.2013 – T-494 / 10 (Saderat), juris; Urt. v. 6.9.2013 – T-35 / 10 und T 7 / 11 (Melli Iran), juris. 292  Duden, Stichwort Emanation. 291  EuG,



A. Die Grundrechte der Grundrechtecharta145

Gerichts hätte es zu mehr Klarheit geführt, wäre die emanation als eine dem Staat zuzurechnende juristische Person übersetzt worden. Klägerin im ersten Verfahren293 war die iranische Bank Mellat, an deren Kapital der iranische Staat in Form einer Minderheitsbeteiligung beteiligt ist. Dabei stand jedoch nicht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Klägerin auch an der Ausübung öffentlicher Gewalt im Iran teilnimmt. Die Klägerin wurde vom Europäischen Rat in die Liste der an der iranischen nuklearen Proliferation beteiligten Einrichtungen in Anhang II des Beschlusses 2010 / 413 / GASP des Rates vom 26.  Juli 2010 über restriktive Maßnahmen gegen Iran und zur Aufhebung des Gemeinsamen Standpunktes 2007 / 140 /  GASP294 aufgenommen. Zudem wurde sie in die Liste des Anhangs V der Verordnung  (EG) Nr. 423 / 2007 des Rates vom 19. April  2007 über restriktive Maßnahmen gegen Iran295 aufgenommen. Die Aufnahme in letztere hatte die Verhängung restriktiver Maßnahmen wie das Einfrieren der Gelder und der wirtschaftlichen Ressourcen der Klägerin zur Folge. Diese Maßnahmen begründete der Rat der Europäischen Union jeweils damit, dass die Verhaltensweise der Bank Mellat das iranische Nuklearprogramm und das iranische Programm für ballistische Flugkörper erleichtere und begünstige. Die Entscheidung des Rates über die Aufnahme in die Liste des Anhangs II des Beschlusses 2010 / 413 / GASP wurde mit Beschluss 2010 / 644 / GASP des Rates vom 25. Oktober 2010 aufrechterhalten, zur Begründung stützte sich der Rat wiederum auf die Begünstigung und Förderung des Nuklearprogramms und des Programms für ballistische Flugkörper. Die Bank Mellat wurde zudem durch die Verordnung  (EU) Nr. 267 / 2012 des Rates vom 23. März 2012 über restriktive Maßnahmen gegen Iran296 mit gleicher Begründung in den Anhang IX dieser Verordnung aufgenommen. Dies führte wiederum dazu, dass ihre Gelder und wirtschaftlichen Ressourcen gemäß Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 267 / 2012 eingefroren wurden. Mit ihrer Klage begehrt die Bank Mellat, Nr. 4 der Tabelle B des Anhangs II des Beschlusses 2010 / 413, Nr. 2 der Tabelle B des Anhangs der Durchführungsverordnung Nr. 668 / 2010, Nr. 4 der Tabelle B in Abschnitt I des Anhangs des Beschlusses 2010 / 644, Nr. 4 der Tabelle B des Anhangs VIII der Verordnung Nr. 961 / 2010, den Beschluss 2011 / 783, die Durchführungsverordnung Nr. 1245 / 2011 und Nr. 4 der Tabelle  B in Abschnitt  I des Anhangs  IX der Verordnung Nr. 267 / 2012 für nichtig zu erklären, soweit diese Rechtsakte sie betreffen.

293  EuG,

Urt. v. 29.1.2013 – Z-496 / 10 (Mellat), juris. L 195, S. 39. 295  ABl. L 195, S. 25. 296  ABl. L 88, S. 1. 294  ABl.

146

3. Kap.: Auf europarechtlicher Ebene

Im zweiten Verfahren297 ging es um die Grundrechtsberechtigung der iranischen Geschäftsbank Saderat. Bei der Bank Saderat ist der iranische Staat nach Überzeugung des Gerichts ebenfalls in Form einer Minderheitenbeteiligung beteiligt. Es sei jedoch wiederum nicht erwiesen, dass sie an der Ausübung von Regierungsgewalt beteiligt oder für einen im öffentlichen Inte­ resse liegenden Dienst zuständig ist298. Die Bank Saderat wurde im Juli 2010 in die Liste der an der nuklearen Proliferation beteiligten Einrichtungen aufgenommen, die sich in Anhang II des Beschlusses 2010 / 413 / GASP des Rates vom 26. Juli 2010 über restriktive Maßnahmen gegen Iran und zur Aufhebung des gemeinsamen Standpunktes 2007 / 140 / GASP299 befindet. Die Bank Saderat wurde durch die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 668 / 2010 des Rates vom 26. Juli 2010 zur Durchführung des Artikels 7 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 423 / 2007300 in die Liste des Anhangs V der Verordnung (EG) Nr. 423 / 2007 des Rates vom 19.  April  2007 über restriktive Maßnahmen gegen Iran301 aufgenommen. Dies führte zu einem Einfrieren von Geldern und wirtschaftlichen Ressourcen. Der Rat begründete dies damit, dass sich Saderat zu 94 % im Eigentum der iranischen Regierung befinde. Sie habe Finanzdienstleistungen für Einrichtungen bereitgestellt, die in der Beschaffung für das iranische Nuklearprogramm und das iranische Programm für ballistische Flugkörper tätig seien. Aus denselben Gründen wurde Saderat in Anhang VIII der Verordnung (EU) Nr. 961 / 2010 des Rates vom 25. Oktober 2010 über restriktive Maßnahmen gegen Iran302 aufgenommen. Gemäß dieser Verordnung wurden die Gelder und wirtschaftlichen Res­ sourcen eingefroren. Der Name der Saderat wurde aus diesen Gründen außerdem in Anhang  IX der Verordnung (EU) Nr. 267 / 2012 des Rates vom 23. März 2012 über restriktive Maßnahmen gegen Iran303 aufgenommen. Gemäß Art. 23 Abs. 2 dieser Verordnung sind die Gelder und Ressourcen eingefroren. Mit ihrer Klage begehrt Saderat, die sie betreffenden Beschlüsse und Verordnungen für nichtig zu erklären. Im dritten Verfahren304 klagte die Bank Melli Iran, eine im Eigentum des iranischen Staates stehende Geschäftsbank. Melli Iran wurde durch den Gemeinsamen Standpunkt 2008 / 479 / GASP des Rates vom 23.  Juni  2008 zur

297  EuG,

Urt. v. 5.2.2013 – T-494 / 10 (Saderat), juris. Urt. v. 5.2.2013 – T-494 / 10 (Saderat), juris-Rn. 43. 299  ABl. L 195, S. 39. 300  ABl. L 195, S. 25. 301  ABl. L 103, S. 1. 302  ABl. L 281, S. 1. 303  ABl. L 88, S. 1. 304  EuG, Urt. v. 6.9.2013 – T-35 / 10 und T 7 / 11 (Melli Iran), juris. 298  EuG,



A. Die Grundrechte der Grundrechtecharta147

Änderung des Gemeinsamen Standpunktes 2007 / 140 / GASP305 in die Liste des Anhangs II des Gemeinsamen Standpunkts 2007 / 140 / GASP des Rates vom 27. Februar 2007 über restriktive Maßnahmen gegen Iran306 aufgenommen. Daraus resultierend wurde Melli Iran durch den Beschluss 2008 / 475 / EG des Rates vom 23. Juni 2008 zur Durchführung von Art. 7 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 423 / 2007 vom 19.  April  2007 über restriktive Maßnahmen gegen Iran307 in die Liste in Anhang V dieser Verordnung aufgenommen, so dass ihre Gelder eingefroren wurden. Die Aufnahme in diese Liste wurde durch die Verordnung (EG) Nr. 1100 / 2009 des Rates vom 17.  November 2009 zur Durchführung von Art. 7 Abs. 2 dieser Verordnung aufrecht­ erhalten. Dies begründete der Rat damit, dass Melli Iran Finanzmittel für Unternehmen bereitstelle, die Güter für Irans Nuklear- und Raketenprogramm beschafften. Ferner wurde Melli Iran in Anhang II des Beschlusses 2010 / 413 / GASP des Rates vom 26.  Juli  2010 über restriktive Maßnahmen gegen Iran und zur Aufhebung des Gemeinsamen Standpunktes 2007 / 140 aufgenommen; dies wurde wie vorgenannt begründet. Aus denselben Gründen wurde Melli Iran in Anhang VIII der Verordnung Nr. 961 / 2010 des Rates vom 25. Oktober 2010 über restriktive Maßnahmen gegen Iran aufgenommen308. Melli Iran wurde zudem in Anhang IX der Verordnung (EU) Nr. 267 / 2012 des Rates vom 23.  März  2012 über restriktive Maßnahmen gegen Iran309 aufgenommen. Sie beantragte, die sie betreffenden Maßnahmen und Beschlüsse für nichtig zu erklären. Das Gericht stellte in diesem Verfahren zunächst fest, dass allein aus einem Tätigwerden für das Funktionieren der Wirtschaft eines Staates nicht die Eigenschaft eines im öffentlichen Interesse liegenden Dienstes gefolgert werden könne310. Die Klägerin handelte nach Überzeugung des Gerichts auch nicht unter Ausübung staatlicher Gewalt, für eine solche Annahme reiche auch die Beteiligung des Staates am Kapital der Klägerin nicht311. Das Gericht stellte im Übrigen in allen drei Verfahren fest, dass das Unionsrecht keine Regel enthalte, die juristischen Personen, die einem Drittstaaten zuzurechnen seien, daran hindert, sich zu ihren Gunsten auf den Schutz und die Gewährleistungen der Grundrechte zu berufen. Die Art. 17, Art. 41 und Art. 47 GRCh gewährleisteten ihrem Wortlaut nach die Grundrechte

305  ABl.

L 163, S. 43. L 61, S. 49. 307  ABl. L 163, S. 29. 308  ABl. L 281, S. 1. 309  Abl. L 88, S. 1. 310  EuG, Urt. v. 6.9.2013 – T-35 / 10 und T 7 / 11 (Melli Iran), juris-Rn. 72. 311  EuG, Urt. v. 6.9.2013 – T-35 / 10 und T 7 / 11 (Melli Iran), juris-Rn. 73 f. 306  ABl.

148

3. Kap.: Auf europarechtlicher Ebene

„jeder Person“, dies schließe juristische Personen mit ein312. Die Rechte aus Art. 17, Art. 41 und Art. 47 GRCh könnten daher von juristischen Personen geltend gemacht werden, soweit sie mit ihrer Eigenschaft als juristische Personen vereinbar sind313. Auch aus Art. 34 EMRK ergebe sich nichts Gegenteiliges. Zum einen sei Art. 34 EMRK eine Verfahrensvorschrift, die in den Verfahren vor den Unionsgerichten nicht anwendbar sei. Zum anderen liege der Zweck des Art. 34 EMRK nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte314 darin, dass ein Staat, der Vertragspartei der EMRK ist, vor dem Gerichtshof nicht gleichzeitig als Beschwerdeführer und Beschwerdegegner auftritt315. Dem stehe auch nicht entgegen, dass ein Staat in seinem Hoheitsgebiet als Garant für die Einhaltung der Grundrechte fungiere. Diese Rechtfertigung für den Ausschluss vom Grundrechtsschutz gelte nur für interne Sachverhalte. Dass ein Staat in seinem eigenen Hoheitsgebiet Garant für die Einhaltung von Grundrechten ist, sei ohne Bedeutung für die Reichweite des Grundrechtsschutzes auf europäischer Ebene316. Zunächst stellt das Gericht zutreffend fest, dass sich aus dem Unionsrecht selbst kein Ausschluss dritter Staaten und ihrer juristischen Personen von der Grundrechtsberechtigung ergibt. Dem ausdrücklichen Wortlaut nach berechtigen sowohl das Eigentumsrecht aus Art. 17 GRCh, das Recht auf eine gute Verwaltung aus Art. 41 GRCh und das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht aus Art. 47 GRCh „jede Person“ und sehen keine weitergehende Einschränkung vor. Dieser klare Wortlaut steht nicht nur am Beginn einer Auslegung, sondern stellt auch deren Grenze dar. Diese Grenze besteht darin, dass die Grundrechtecharta bezüglich der Grundrechtsberechtigung aus diesen Grundrechten keinerlei Einschränkung vorsieht. Zudem geht das Gericht zutreffend davon aus, dass Art. 34 EMRK in der zu untersuchenden Konstellation nicht entsprechend anwendbar ist, da ein 312  EuG, Urt. v. 29.1.2013 – Z-496 / 10 (Mellat), juris-Rn. 36, 41; Urt. v. 5.2.2013 – T-494 / 10 (Saderat), juris-Rn. 34; Urt. v. 6.9.2013 – T-35 / 10 und T 7 / 11 (Melli Iran), juris-Rn. 65. 313  EuG, Urt. v. 29.1.2013  – Z-496 / 10 (Mellat), juris-Leitsatz Nr. 2; Urt. v. 5.2.2013 – T-494 / 10 (Saderat), juris-Leitsatz Nr. 2. 314  So etwa EGMR, Urt. v. 13.12.2007 – Az. 40998 / 98 (Islamic Republic of Iran Shipping Lines . / . Türkei). 315  EuG, Urt. v. 29.1.2013  – Z-496 / 10 (Mellat), juris-Rn. 38.; Urt. v. 5.2.2013  – T-494 / 10 (Saderat), juris-Rn. 36; Urt. v. 6.9.2013 – T-35 / 10 und T 7 / 11 (Melli Iran), juris-Rn. 67. 316  EuG, Urt. v. 29.1.2013 – Z-496 / 10 (Mellat), juris-Rn. 39 f.; Urt. v. 5.2.2013 – T-494 / 10 (Saderat), juris-Rn. 38 f.; Urt. v. 6.9.2013  – T-35 / 10 und T 7 / 11 (Melli Iran), juris-Rn.  68 f.



A. Die Grundrechte der Grundrechtecharta149

prozessuales Zusammenfallen von Grundrechtsberechtigtem und Grundrechtsverpflichtetem nicht möglich ist. Zunächst findet Art. 34 EMRK in Verfahren vor dem Europäischen Gericht keine Anwendung. Vielmehr gibt er dem Einzelnen das Recht, bei dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine Beschwerde zu erheben. Zudem sind Drittstaaten schon nicht aus der Grundrechtecharta grundrechtsverpflichtet, so dass sie in einem Prozess vor dem Europäischen Gericht erster Instanz oder dem Europäischen Gerichtshof nicht als beklagte Partei erscheinen können. Dieses vom Gericht aufgestellte prozessuale Argument greift aber auch in materieller Hinsicht: Sind Drittstaaten auch materiell nicht aus den Grundrechten verpflichtet, kann es ebenso nicht zu einem Zusammenfallen des Grundrechtsberechtigten und Grundrechtsverpflichteten in einer (juristischen) Person kommen. Damit ist das gegen die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des öffent­ lichen Rechts angeführte Konfusionsargument in dieser Konstellation nicht anwendbar. Dies erkennt auch das Gericht in seiner weiteren Argumentation: Die Eigenschaft eines Staates als „Staat“ führt nur innerhalb seines eigenen Hoheitsgebietes zu seiner Funktion als Grundrechtsverpflichteter. Die Eigenschaft „Staat“ steht einer Grundrechtsberechtigung also nicht per se, sondern nur in dem jeweiligen Rahmen seiner Grundrechtsbindung entgegen. Zu differenzieren ist vielmehr – wie es in der Literatur allgemein vertreten wird – danach, ob ein Grundrecht seinem Wesen nach auf juristische Personen anwendbar ist. Diese Einschränkung muss auch in der vorliegend zu untersuchenden Konstellation gelten. Denn auch auf Ebene des europäischen Verfassungsrechts gilt, dass zunächst nicht jedes Grundrecht auf juristische Personen angewendet werden kann. Anschaulichstes Beispiel hierfür ist die Menschenwürdegarantie, die die Eigenschaft einer natürlichen Person als Mensch voraussetzt. Fraglich ist allerdings, wann eine solche wesensmäßige Anwendbarkeit in weniger eindeutig gelagerten Fällen anzunehmen ist. Diese Frage ist auf europarechtlicher Ebene nicht abschließend geklärt, der wissenschaftliche Diskurs ist hier längst nicht so tiefgehend wie auf Ebene des deutschen Verfassungsrechts. So stehen sich hier nicht die beiden Ansätze vom personalen Substrat und der grundrechtstypischen Gefährdungslage in zwei Lagern gegenüber. Vielmehr werden die beiden Ansätze, soweit dieses Problem überhaupt Beachtung findet, ergänzend verwendet317. Es liegt jedoch nahe, das Erfordernis der wesensmäßigen Anwendbarkeit auf juristische Personen des öffentlichen Rechts anzupassen und dies immer dann abzulehnen, wenn die juristische Person der Europäischen Union, dem Mitgliedstaat beziehungsweise dem jeweils handelnden Organ in hoheitlicher Eigenschaft gegenübersteht.

317  So

M. Kober, Grundrechtsschutz, S. 149.

150

3. Kap.: Auf europarechtlicher Ebene

In diese Richtung sind auch die Ausführungen des Gerichts zu verstehen: Das Gericht prüft in allen drei Urteilen, ob die jeweilige Klägerin hoheitlich beziehungsweise in Ausübung staatlicher Gewalt handelt und ob sie im öffentlichen Interesse tätig wird. Diese Abgrenzung ist zutreffend, da nur so eine Differenzierung zwischen durch das Völkerrecht zu lösenden Kompetenzkonflikten und grundrechtlicher Schutzbedürftigkeit zu treffen ist. Maßgeblich dürfte also wiederum sein, ob die betroffene drittstaatliche juristische Person dem handelnden grundrechtsverpflichteten Organ wie eine juristische Person des Privatrechts gegenübersteht. Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass in den hier untersuchten Verfahren nicht rechtskräftig festgestellt wurde, dass es sich bei den Klägern jeweils tatsächlich um eine juristische Person des iranischen Staates handelte318. Vielmehr hat das Gericht seine Rechtsauffassung jeweils zunächst unter der Prämisse gebildet, dass es sich bei den Klägerinnen um solche handele und sich erst im Folgenden auf die fehlende Tatsachengrundlage gestützt. Gleiches gilt für Saderat. In den drei hier untersuchten Urteilen zieht das Gericht die Prüfung, ob sich die klagende Bank auf den Schutz und die Gewährleistungen der Grundrechte berufen kann, vor und beurteilt sie damit jeweils vor der Prüfung der eigentlichen Rechtsverletzungen, ohne dabei eine Eingrenzung der Grundrechte, auf die sich die Klägerin berufen kann, vorzunehmen. Jedoch beurteilt es in materieller Hinsicht nur prozessuale Rechte und lässt die Frage nach dem Eigentumsschutz (dritter Klagegrund) offen319. Fraglich ist demnach, ob dies bedeutet, dass sich Drittstaaten und ihre juristischen Personen nur auf justizielle Grundrechte berufen können. In diesem Sinne könnte die Aussage zu verstehen sein, dass es sich gerade bei der Wahrung der Verteidigungsrechte und dem Recht auf Anhörung um fundamentale Rechte des Unionsrechts handle320. Diese Aussage kann so verstanden werden, dass zu unterscheiden sei zwischen Grundrechten, die auch objektive Grundsätze statuieren, die zugunsten von jedermann zu berücksichtigen wären, und solchen Grundrechten, die lediglich Gewährleistungen in Form subjektiver Rechte enthalten. Gegen diese Betrachtungsweise spricht jedoch die vorgezogene Prüfung der Grundrechtsberechtigung ohne jedwede Einschränkung. In dieser wird sogar das Eigentumsrecht des Art. 17 GRCh ausdrücklich in die Vorprüfung mit einbezogen, so dass von einer umfassenden Grundrechtsberechtigung auszugehen ist. Hätte das Gericht hier eine Einschränkung vor318  EuG,

Urt. v. 29.1.2013 – Z-496 / 10 (Mellat), juris-Rn. 42. Urt. v. 29.1.2013  – Z-496 / 10 (Mellat), juris-Rn. 140; Urt. v. 5.2.2013  – T-494 / 10 (Saderat), juris-Rn. 117. 320  EuG, Urt. v. 29.1.2013  – Z-496 / 10 (Mellat), juris-Rn. 52; Urt. v. 5.2.2013  – T-494 / 10 (Saderat), juris-Rn. 50. 319  EuG,



A. Die Grundrechte der Grundrechtecharta151

nehmen wollen, wäre innerhalb dieser vorgezogenen grundsätzlichen Überlegungen genug Raum für eine solche gewesen, zumal die Klägerinnen sich jeweils auch auf ihr Eigentumsrecht berufen hatten. Für die Erklärung der angegriffenen Maßnahmen als nichtig kam es schlicht nicht mehr darauf an, ob auch ein Eingriff in das Grundrecht auf Eigentum vorlag. In der vorgezogenen grundsätzlichen Prüfung der Grundrechtsberechtigung hätte jedoch eine solche Einschränkung gut erwähnt werden können und auch müssen. Zu beachten ist ferner, dass weder vom Gericht noch in der Literatur eine strikte Unterscheidung zwischen gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen und juristischen Personen des (ausschließlich) öffentlichen Rechts gemacht wird. Das Gericht geht in seinen Ausführungen davon aus, dass es sich bei den Klägern je um juristische Personen handelt, die aus Staaten hervorgehen und ihm zurechenbar sind. Damit trifft es gerade keine Unterscheidung nach der Qualität der staatlichen Beteiligung und geht auch erst nach seinen grundsätzlichen Ausführungen zur Grundrechtsberechtigung auf die tatsächliche Beteiligung des iranischen Staates ein. Daraus ist zu schließen, dass die staatliche Beteiligung unabhängig von ihrer Ausprägung nicht zur Versagung des Grundrechtsschutzes führen kann. Lediglich ein hoheitliches Handeln beziehungsweise die Ausübung staatlicher Gewalt sowie das Tätigwerden im öffentlichen Interesse können nach Ansicht des Gerichts gegen eine Grundrechtsberechtigung angeführt werden321. Damit greift das Gericht den Aspekt heraus, der auch im deutschen Verfassungsrecht gegen eine Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des öffentlichen Rechts angeführt wird. Sobald diese hoheitlich handeln, sind Kompetenzkonflikte betroffen, die durch das Völkerrecht, nicht aber durch Grundrechte zu lösen sind. 2. Nach dem Schutzzweck der Charta-Grundrechte Zu untersuchen bleibt, inwieweit es die Zielsetzung und der Schutzzweck der Grundrechte gebieten, Drittstaaten und ihre juristischen Personen des öffentlichen Rechts in den Schutzbereich der Grundrechte der Charta einzubeziehen. Maßgeblich ist dabei zunächst, welches Grundrechtsverständnis man zugrunde legt. Sieht man den Fokus der Zielsetzung in dem individualrechtlichen Schutz des Einzelnen und stellt die menschenrechtliche Komponente der Grundrechtecharta heraus, spricht dies gegen eine Grundrechtsberechtigung von Drittstaaten. In diesem Fall verhindert allein die Qualifikation als „staatlich“ die Möglichkeit, sich auf die Grundrechte der Charta zu berufen. Stellt man hingegen die objektiv-rechtliche Wertentscheidung in den Vorder321  S. o.

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3. Kap.: Auf europarechtlicher Ebene

grund, so kommt eine Grundrechtsberechtigung in Betracht. In diesem Fall müssen auch für Drittstaaten und ihre juristischen Personen gewisse Standards des Grundrechtsschutzes eingehalten werden, da nur so die von der Charta vorgegebene Werteordnung innerhalb der Europäischen Union eingehalten werden kann. Geht man davon aus, dass die Anwendbarkeit der Grundrechte typischerweise ein Spannungsverhältnis zwischen dem individuellen Rechtsbereich eines Rechtssubjekts und der übergeordneten Rechtsordnung voraussetzen322, ist zunächst zu hinterfragen, inwieweit ein solches Spannungsverhältnis in dieser Konstellation überhaupt bestehen kann. Einerseits ist ein Drittstaat selbst als Hoheitsträger zu klassifizieren. Er steht der Union also nicht untergeordnet gegenüber, sondern ist selbständiger Akteur im völkerrechtlichen Gefüge. Damit ist er der Hoheitsgewalt der Union nicht unmittelbar unterworfen. Streitigkeiten zwischen dem Drittstaat und der Europäischen Union oder ihren Mitgliedstaaten wären dann lediglich einer Lösung über das Völkerrecht zugänglich. Zu beachten ist jedoch, dass der Drittstaat beziehungsweise seine juristische Person durch Aktivität innerhalb des Unionsgebietes der Union gleichwohl unterworfen sein kann. So kann er insbesondere hinsichtlich seiner wirtschaftlichen Tätigkeit Adressat restriktiver Maßnahmen sein. In diesem Falle ist er wiederum in einer – an sich geschützten – wirtschaftlichen Tätigkeit betroffen, der sachliche Schutzbereich der ChartaGrundrechte kann eröffnet sein. Fraglich ist jedoch, zu welchem Rechtsbereich dieser Konflikt zuzuordnen ist. Zu unterscheiden ist hier nach den Funktionen der Rechtsquellen. Die Grundrechte sollen einerseits in einem Über- und Unterordnungsverhältnis Schutz gewähren, das Völkerrecht regelt andererseits das Verhältnis der (internationalen) Hoheitsträger, die nicht zu einer übergeordneten Rechtsgemeinschaft gehören, zueinander. Daraus ergibt sich wiederum, dass die Grundrechte ihrer Zielsetzung nach auch auf Drittstaaten und ihre juristischen Personen anwendbar sein können. Um eine Ausuferung dieses Schutzes zu verhindern und ein den Schutzzwecken entsprechendes Rechtsschutzsystem zu schaffen, müssen zur Einschränkung bestimmte Kriterien gefunden werden. Dazu ist vorrangig erforderlich, dass die Grundrechte im Einzelfall ihrem Wesen nach anwendbar sind. Nach dem in diesem Zusammenhang vertretenen Ansatz vom personalen Substrat kommt eine Grundrechtsberechtigung nicht in Betracht, da ein solches bei einer staatlichen juristischen Person – wenn überhaupt – nur mittelbar bestehen kann. Zudem wäre auch das personale Substrat eines Drittstaates nur unter bestimmten Voraussetzungen und bezüglich bestimmter Grundrechte durch die Grundrechtecharta geschützt. Die Grundrechte mit menschenrechtlichem Einschlag, die einer natürlichen Person unabhängig von ihrer Unions322  So

etwa V. Epping, in: Ipsen, Völkerrecht, § 5 Rn. 249.



A. Die Grundrechte der Grundrechtecharta153

bürgerschaft zustehen, könnte der Drittstaat ohnehin nicht geltend machen, da eine Sachwalterstellung des Drittstaates abzulehnen ist und nur eigene Recht geltend gemacht werden können. Sachgerecht scheint daher auch hier das Kriterium der grundrechtsspezifischen Gefährdungslage. Dazu muss der betroffene Mitgliedstaat beziehungsweise seine juristische Person der Europäischen Union wie eine juristische Person des Privatrechts in einem Über- / Unterordnungsverhältnis gegenüberstehen. Eine solche Situation ist ausgeschlossen, wenn die Mitgliedstaaten und ihre juristischen Personen hoheitlich handeln. Die Zuerkennung von Grundrechtsschutz kommt ausschließlich bei wirtschaftlicher Tätigkeit in Betracht. Allerdings besteht nach dem Völkerrecht ohnehin die Vermutung, dass hoheitliches Handeln eines Staates zunächst auf sein Hoheitsgebiet beschränkt ist. Wird also ein Drittstaat innerhalb der Europäischen Union tätig, was insbesondere bei unternehmerischer Tätigkeit in Betracht kommt, so besteht eine Vermutung, dass er nicht hoheitlich tätig wird. Damit erlangt auch das Abgrenzungsproblem zwischen hoheitlichem und wirtschaftlichem Handeln, welche die Annahme einer Grundrechtsberechtigung für unions­ interne juristische Personen erschwert, nur geringe Relevanz. Insbesondere das Vorliegen unternehmerischer Tätigkeit eines öffentlichen Unternehmens dürfte bestimmbar sein. 3. Übertragbarkeit der Argumente Zu untersuchen ist zudem, inwieweit die Argumente gegen eine Grundrechtsberechtigung der Mitgliedstaaten gegen eine Grundrechtsberechtigung von Drittstaaten sprechen. Der Verweis, dass eine Grundrechtsberechtigung von Hoheitsträgern vom Schutzzweck der Charta nicht vorgesehen sei, gilt – wie oben dargelegt – bei einem menschenrechtlich geprägten Verständnis der Charta auch für die Berechtigung von Drittstaaten. Betrachtet man jedoch das Bestehen eines Subordinationsverhältnisses als Voraussetzung, kann eine Grundrechtsberechtigung insbesondere dann angenommen werden, wenn ein Drittstaat innerhalb der Union wirtschaftlich tätig wird und der Hoheitsgewalt der Union diesbezüglich unterworfen ist. Gleiches gilt für den abwehrrechtlichen Charakter der Grundrechte. Versteht man diesen lediglich als Schutz eines nichtstaat­ lichen Subjekts gegen hoheitliches Handeln, kann auch Drittstaaten und ihren juristischen Personen kein Schutz zukommen. Stellt man hier wiederum auf das Subordinationsverhältnis ab, schließt der abwehrrechtliche Charakter jeden der Hoheitsgewalt unterworfenen Rechtsträger ein. Die Mehrheit der Stimmen verweist in diesem Zusammenhang für unionsinterne Hoheitsträger auf das Konfusionsargument. Die dort angeführte Ge-

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3. Kap.: Auf europarechtlicher Ebene

fahr des Zusammenfallens von Grundrechtsberechtigung und Grundrechtsverpflichtung ist hier nicht übertragbar, da die Grundrechtecharta gerade nicht Drittstaaten bindet. Zudem üben Drittstaaten im Hoheitsbereich der Europäischen Union grundsätzlich keine Hoheitsgewalt aus, die mit einer Grundrechtsberechtigung kollidieren könnte. Insoweit besteht insbesondere bei öffentlichen und gemischtwirtschaftlichen Unternehmen nicht Gefahr, dass diese einem Grundrechtsverpflichteten gegenüber weisungsgebunden sind. Außerdem besteht in dieser Konstellation gerade nicht die Möglichkeit, dass sich ein Staat durch die Einräumung von Grundrechtsschutz für sich und seine Unternehmen selbst begünstigt. Vielmehr würde hier ein Rechtsträger einem weiteren, anderen Rechtsträger Schutz gewähren. Dies geschieht unabhängig von einer Veränderung der Stellung unionsinterner Hoheitsträger. Es besteht nicht die Gefahr, dass das Wesen der Grundrechte in Frage gestellt wird. Durch die Anerkennung eines Grundrechtsschutzes für Drittstaaten sinkt auch die Qualität des Schutzes für natürliche Personen und juristische Personen des Privatrechts nicht. Dieser kann in gleicher Weise effektiv und intensiv gewährt werden. Somit kommt es auch aus Sicht der übrigen Grundrechtsberechtigten – insbesondere der Unionsbürger – nicht zu einer Entwertung der Grundrechte. So ist von einer wesensmäßigen Anwendbarkeit der Grundrechte auszugehen, soweit eine grundrechtstypische Gefährdungslage besteht. Dazu ist erforderlich, dass der Drittstaat beziehungsweise seine juristische Person der Hoheitsgewalt der Europäischen Union oder eines Mitgliedstaates in Durchführung des Unionsrechts wie eine juristische Person des Privatrechts gegenübersteht. Erforderlich ist mithin eine privatrechtsgleiche Gewaltunterworfenheit. Festzuhalten bleibt, dass eine Grundrechtsberechtigung bezüglich der Verfahrensgrundrechte nach allgemeiner Auffassung ohnehin anzunehmen ist, da die Charta durch diese eine objektive Wertentscheidung trifft. Allerdings ist nicht ersichtlich, warum diese ein Mehr an Objektivität beinhalten sollten als die anderen Grundrechte der Charta. Zwar regeln diese ein rechtstaatliches Verfahren und damit einen unionsinternen Vorgang, der zutreffend gewisse Standards erfüllen muss. Jedoch enthalten auch die übrigen Charta-Grundrechte eine solche objektiv-rechtliche Komponente und gehen damit über die ausschließliche Gewährung von Individualschutz hinaus. Ihnen kommt gleichfalls für den Standard der Charta konstituierende Bedeutung zu. Im Ergebnis stehen die Erwägungen, die gegen eine Grundrechtsberechtigung der Mitgliedstaaten und sonstiger unionsinterner juristischer Personen des öffentlichen Rechts angeführt werden, mangels Übertragbarkeit der Annahme einer Grundrechtsberechtigung nicht entgegen.



B. Die Grundfreiheiten155

Lehnt man die Grundrechtsberechtigung von Drittstaaten und ihren juristischen Personen aufgrund eines menschenrechtlich geprägten Verständnisses ab, oder sieht die hier angeführten Argumente gegen die Annahme einer Grundrechtsberechtigung als übertragbar an, stellt sich die Frage nach der Grundrechtsberechtigung öffentlicher und gemischt-wirtschaftlicher Unternehmen. Für öffentliche Unternehmen gelten dann dieselben Überlegungen wie für die Drittstaaten selbst. Ihre Qualifikation als „staatlich“ und die generelle Ausübungsmöglichkeit von Hoheitsgewalt können gegen die Annahme einer Grundrechtsberechtigung angeführt werden. Für gemischtwirtschaftliche Unternehmen jedoch bliebe im Einzelfall zu untersuchen, ob diese von einem Hoheitsträger beherrscht werden. 4. Bewertung und Fazit Im Ergebnis ergibt sich aus den vorstehenden Überlegungen und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichts erster Instanz, dass grundsätzlich eine Grundrechtsträgerschaft von juristischen Personen des öffentlichen Rechts anzunehmen ist, sofern diese Drittstaaten zuzuordnen sind. Dafür spricht zunächst, dass der Annahme einer Grundrechtsberechtigung keine unionsrechtliche Regelung entgegensteht und der Wortlaut der in Rede stehenden Grundrechte ebenfalls für eine weite Fassung des Kreises der Berechtigten spricht. Es ist auch mit dem Schutzzweck der Grundrechte der Charta zu vereinbaren, Drittstaaten und ihren juristischen Personen Grundrechtsschutz zukommen zu lassen, soweit die Grundrechte ihrem Wesen nach im Einzelfall anwendbar sind. Denn insbesondere ein Zusammenfallen von Berechtigten und Verpflichteten kommt nicht in Betracht. Für die Annahme einer wesensmäßigen Anwendbarkeit ist danach zu differenzieren, ob der betroffene Hoheitsträger hoheitlich oder wirtschaftlich handelt. Hier ist eine Abgrenzung nach den vorgenannten Kriterien möglich, wobei eine Vermutung dafür besteht, dass der Drittstaat im Unionsgebiet nicht hoheitlich handelt. Vor allem im Vergleich zu dem für das deutsche Verfassungsrecht vertretenen und hier übertragbaren Ansatz, ein geringeres Schutzniveau für ­juristische Personen des öffentlichen Rechts anzunehmen, bietet die Differenzierung nach der Art des Tätigwerdens mehr Rechtssicherheit.

B. Die Grundfreiheiten Die im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ausdrücklich normierten Grundfreiheiten des Binnenmarktes, das heißt die Freiheit des Warenverkehrs, die Freiheit des Personenverkehrs – die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, die Niederlassungsfreiheit sowie die Dienstleis-

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3. Kap.: Auf europarechtlicher Ebene

tungsfreiheit – und die Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs werden durch Art. 3 Abs. 2 EUV zum verbindlichen Ziel der Union erklärt. Fraglich ist jedoch, inwieweit sich auch juristische Personen – insbesondere solche des öffentlichen Rechts beziehungsweise solche mit Beteiligung einer juristischen Person des öffentlichen Rechts – auf sie berufen können. Dazu ist zunächst zu untersuchen, welchem Ziel die Grundfreiheiten dienen und welchen Schutzzweck sie verfolgen (I.). Danach ist zu prüfen, welche Berechtigten und Verpflichteten sich entsprechend der Schutzrichtung der Grundfreiheiten ergeben (II.). In einem weiteren Schritt ist zu untersuchen, inwieweit die zuvor getroffenen Überlegungen und Ergebnisse auch auf juristische Personen des öffentlichen Rechts von Drittstaaten beziehungsweise auf juristische Personen mit Beteiligung eines Drittstaates übertragbar sind und inwieweit sich hieraus eine Berechtigung, sich auf die Grundfreiheiten zu berufen, ergibt (III.).

I. Schutzzweck / Zielsetzung der Grundfreiheiten Zu berücksichtigen ist zunächst, dass sich die Grundfreiheiten durch ihre Zielsetzung grundlegend von den Gemeinschaftsgrundrechten unterscheiden323. Die Grundfreiheiten sichern vorrangig die Funktionsfähigkeit des Gemeinsamen Marktes324 und beziehen sich auf wirtschaftlich relevante Sachverhalte325. Dementsprechend werden sie auch als „Werkzeuge in den Händen der vertragsschließenden Mitgliedstaaten“ bezeichnet, mit denen sie den Gemeinsamen Markt konstruieren und den Fluss der Wirtschaftsfaktoren innerhalb dieses Marktes auch nach Inbetriebnahme steuern und forcieren können326. Die Grundfreiheiten zielen primär auf die Schaffung und Erhaltung eines transnationalen Binnenmarktes ab, vgl. Art. 26 Abs. 2 AEUV327. Dieser soll mittels Gewährung eines Anspruchs der Marktteilnehmer auf diskriminierungsfreien Zugang zu den EU-ausländischen Märkten und gleichzeitiger Beschränkung der staatlichen Regulierungsmöglichkeiten garantiert werden328. Ziel der Grundfreiheiten ist es, Benachteiligungen infolge von Grenzen und Divergenzen zwischen den Mitgliedstaaten zu beseitigen329. Entsprechend dieser Schutzrichtung richten sich die Grundfreiheiten in erster Linie an die Mitgliedstaaten und verpflichten diese, den freien Binnenmarkt 323  L.

Crones, Schutz, S. 23. in: ders., EuGR, § 7 Rn. 13. 325  W. Frenz, Handbuch I, Rn. 2. 326  J. Gebauer, Grundfreiheiten, S. 25. 327  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7 Rn. 13. 328  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7 Rn. 23. 329  W. Frenz, Handbuch I, Rn. 61. 324  D. Ehlers,



B. Die Grundfreiheiten157

zu gewähren und zu ermöglichen. Vor diesem Hintergrund kommen den Grundfreiheiten somit verschiedene Funktionen zu330: Zunächst lassen sich aus den Grundfreiheiten keine unmittelbaren staatsbürgerlichen oder unionsbürgerlichen Rechte herleiten331. Die Grundfreiheiten werden vielmehr vorrangig als spezielle Diskriminierungsverbote verstanden332, die das allgemeine Diskriminierungsverbot aus Art. 18 AEUV jeweils konkretisieren333. Damit fungieren sie vorrangig als Gleichheitsrechte. Ob eine Diskriminierung vorliegt, lässt sich im Einzelfall anhand eines Vergleichsmaßstabes feststellen334. Allgemein wird eine Diskriminierung angenommen, wenn ein Sachverhalt gegenüber einem anderen ungleich behandelt und so schlechter gestellt wird335. Dies wiederum wird angenommen, wenn unterschiedliche Vorschriften auf gleichartige Situationen oder dieselbe Vorschrift auf andersartige Situationen angewandt werden336. Ob die Grundfreiheiten darüber hinaus auch als Freiheitsrechte vor Eingriffen schützen, ist umstritten. Teilweise wird vertreten, sie seien lediglich gleichheitsrechtlich zu verstehen337. Nach diesem Ansatz wird strikt zwischen Grundrechten einerseits und Grundfreiheiten andererseits differenziert338. Diese Ansicht stützt sich darauf, dass die Grundfreiheiten als transnationale Integrationsnormen dem Abbau von spezifisch grenzüberschreitenden Schutzdefiziten im Binnenmarkt dienen339. Das zentrale Kriterium der Transnationalität lasse sich aber allein durch den Gleichheitssatz abbilden. Denn nur dieser ermögliche die Konzentration auf die maßgebliche Frage, ob eine Maßnahme eine grenzüberschreitende Transaktion spezifisch oder lediglich auch behindere340. Andere hingegen verstehen die Grundfreiheiten nicht nur als Diskriminierungs-, sondern auch als Beschränkungsverbote und somit als klassische Freiheitsrechte341. Unschädlich sei dabei, dass die 330  D. Ehlers,

in: ders., EuGR, § 7 Rn. 23. in: ders., EuGR, § 7 Rn. 23. 332  Ganz h. M., vgl statt aller W. Frenz, Handbuch I, Rn. 113. 333  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7 Rn. 24. 334  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7 Rn. 25. 335  H. D. Jarass, EuR 30 (1995), 202 (216). 336  St. Rspr., vgl. nur EuGH, Slg. 1996, I-3089 Rn. 40 (Asscher). 337  T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 34–36 AEUV Rn. 66 ff. 338  So etwa J. Gebauer, Grundfreiheiten, S. 346 ff.; T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 34–36 AEUV Rn. 66. 339  T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 34–36 AEUV Rn. 66. 340  T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 34–36 AEUV Rn. 69. 341  So W. Frenz, Handbuch I, Rn. 47; D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7 Rn. 31; anders noch H. D. Jarass, EuR 30 (1995), 202 (216 ff.); wie hier aber ders., EuR 35 (2000), 705 (710 ff.). 331  D. Ehlers,

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3. Kap.: Auf europarechtlicher Ebene

Grundfreiheiten schutzgutbezogen formuliert sind342. So seien die Grundfreiheiten von ihrem Schutzgehalt und -programm als „Grundrechte“ im klassischen Sinne zu verstehen343. Für diese Ansicht spricht, dass die Grundfreiheiten einen inhaltlich fest umrissenen Gewährleistungsbereich besitzen, der jeweils mit einem individuellen Recht verbunden ist344. Auch die Grundfreiheiten berechtigen nach dieser Auffassung den Einzelnen, gewährleisten ihm fundamentale Freiräume und gestatten Beeinträchtigungen des Schutzgutes nur, soweit diese verhältnismäßig sind345. Für das Verständnis der Grundfreiheiten als Freiheitsrechte wird außerdem angeführt, dass es ansonsten der Normierung der einzelnen Grundfreiheiten wegen des Diskriminierungsverbotes des Art. 18 AEUV nicht bedurft hätte346. Für dieses Verständnis spricht auch das bestehende Schutzbedürfnis, denn nur soweit sich aus den Grundfreiheiten auch Beschränkungsverbote ableiten lassen, ist ein freier Binnenmarkt erreichbar347. Denn der freie Produkt- und Personenverkehr kann gleichfalls durch unterschiedslos geltende mitgliedstaatliche Regelungen behindert oder unmöglich gemacht werden348; nicht ausschließlich Diskriminierungen können zu Behinderungen führen. Der Europäische Gerichtshof hat den Grundfreiheiten aus diesem Grund auch weitergehende Beschränkungsverbote entnommen. So sah er „jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel mittelbar oder unmittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern“ als Maßnahme gleicher Wirkung im Sinne des Verbotes der mengenmäßigen Einfuhrbeschränkung aus Art. 34 AEUV an349. Es wird vertreten, diese Formel auch auf Ausfuhrbeschränkungen im Sinne des Art. 35 AEUV anzuwenden350. Im Übrigen wird eine Beschränkung der Grundfreiheiten immer dann anzunehmen sein, wenn eine nationale Maßnahme oder eine Maßnahme der Union geeignet ist, die Ausübung der Grundfreiheiten zu behindern oder weniger attraktiv zu machen351. Das Beschränkungsverbot verpflichtet den Sitz- sowie den Aufnahmestaat352. Aus den Beschränkungsverboten ergeben sich wiederum Abwehransprüche, mithin Ansprüche auf Unterlassung und Besei342  W.

Frenz, Handbuch I, Rn. 47. Frenz, Handbuch I, Rn. 60. 344  W. Frenz, Handbuch I, Rn. 48. 345  W. Frenz, Handbuch I, Rn. 60. 346  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7 Rn. 31. 347  In diese Richtung D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7 Rn. 31. 348  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7 Rn. 30. 349  EuGH, Slg. 1974, 837 Rn. 5 (Dassonville). 350  Schlussanträge GA Trstenjak EuGH, BeckRS 2008, 70809, Rn. 41 ff., 49 ff., 65 (Gysbrechts); D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7 Rn. 30. 351  EuGH, Slg. 1995, I-4165 Rn. 37 (Gebhard). 352  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7 Rn. 30. 343  W.



B. Die Grundfreiheiten159

tigung, wenn der verpflichtete Hoheitsträger gegen ein Beschränkungsverbot verstößt353. Zudem gewähren die Grundfreiheiten nach herrschender Ansicht auch Leistungsrechte und zielen damit auf positives hoheitliches Handeln ab354. Als Leistungsrechte räumen sie dem Berechtigten zum einen derivative Teilhaberechte ein. Diese haben ihren Ursprung wiederum im Gleichheitssatz und gewähren demjenigen, der gleichheitswidrig von einer anderen bereits gewährten hoheitlichen Begünstigung ausgeschlossen ist, das Recht auf Teilhabe an dieser Begünstigung355. Zu berücksichtigen ist dabei allerdings, dass aus einem rechtswidrigen Ausschluss von einer Begünstigung nicht zwingend ein Anspruch auf die Leistung selbst erwächst356. Außerdem ist anerkannt, dass die Grundfreiheiten ebenfalls ein Recht auf hoheitlichen Schutz vor rechtswidrigen Eingriffen gewähren357. Das Bedürfnis für diesen Schutzanspruch ergibt sich daraus, dass auch von Privaten Einschränkungen des Binnenmarktes ausgehen können. Die aus den Grundfreiheiten verpflichteten Mitgliedstaaten und die Europäische Union sind in diesen Fällen zu einem Einschreiten verpflichtet, soweit sich das beeinträchtigende Verhalten nicht selbst im Bereich legitimer Grundrechtsausübung bewegt358. Demgegenüber räumen die Grundfreiheiten ihren Berechtigten ein Recht auf originäre Teilhabe nicht ein359. Es besteht also kein Anspruch auf Schaffung einer noch nicht vorhandenen Einrichtung oder auf Gewährung sonstiger, noch nicht gewährter Vergünstigungen360. Zur Begründung dieses Verständnisses wird angeführt, die normativen Grundlagen gäben dies nicht her. Vielmehr würde die Umpolung zu originären Leistungsrechten die Grundfreiheiten überfordern, den Spielraum der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union selbst zu sehr verengen und der Unionsgerichtsbarkeit zu großen Einfluss auf den Unionsgesetzgeber und die anderen Organe der Europäischen Union einräumen361. Es wird allerdings teilweise vertreten, dass in besonders gelagerten Fällen ausnahmsweise ein originärer Leistungsanspruch bestehen könne362. 353  D. Ehlers,

in: ders., EuGR, § 7 Rn. 32. in: ders., EuGR, § 7 Rn. 36. 355  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7 Rn. 37. 356  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7 Rn. 37. 357  EuGH, Slg. 1987, 1227 Rn. 46 (Kommission . / . Deutschland); W. Frenz, Handbuch I, Rn. 198 ff. 358  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7 Rn. 38; M. Burgi, EWS 9 (1999), 327 (330). 359  Ganz h.  M., vgl. nur W. Frenz, Handbuch I, Rn. 213; D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7 Rn. 40; L. Riem, Grundfreiheiten, S. 31 f. 360  D. Ehlers, in ders., EuGR, § 7 Rn. 40. 361  W. Frenz, Handbuch I, Rn. 214; zustimmend D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7 Rn. 40. 362  L. Riem, Grundfreiheiten, S. 193 ff. 354  D. Ehlers,

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3. Kap.: Auf europarechtlicher Ebene

Darüber hinaus ist allgemein anerkannt, dass sich aus den Grundfreiheiten Verfahrensgarantien ergeben363. Dies folgt einerseits daraus, dass schon die Anwendung der Diskriminierungs- und Beschränkungsverbote selbst verfahrensrechtliche Auswirkungen haben kann364. In diesen Fällen bedarf es dann nicht notwendigerweise der Ableitung von Verfahrensrechten aus den Grundfreiheiten, sie ergeben sich vielmehr als Reflex365. Darüber hinaus hat der Europäische Gerichtshof aber auch einen Anspruch des Einzelnen auf effektiven Rechtsschutz aus dem Unionsrecht anerkannt366. Dieser kann den Grundfreiheiten in Verbindung mit dem effet utile unmittelbar entnommen werden. Ebenso wird angenommen, dass die Grundfreiheiten auch eine objektivrechtliche Bedeutung haben367. Danach strahlen sie auf sämtliche Rechtsgebiete der Mitgliedstaaten und das von den Organen der Union erlassene Recht aus, sodass das mitgliedstaatliche Recht und das Sekundärrecht der Europäischen Union im Lichte der Grundrechte auszulegen sind368. Aus diesem Ansatz ergeben sich wiederum die anderen Funktionen der Grundfreiheiten369. Aufgrund des effet utile können den Grundfreiheiten bereits dann Bindungswirkungen zu entnehmen sein, wenn ein Anspruch selbst noch nicht besteht370. Gegen eine objektiv-rechtliche Bedeutung wird angeführt, dass eine unbestimmte objektive Pflicht ohne subjektiv-rechtliche Konsequenzen nur heuristischen Wert hätte371. Unabhängig von dieser Streitfrage wirken die Grundfreiheiten in keinem Fall kompetenzbegründend oder -erweiternd. Will die Europäische Union die Grundfreiheiten konkretisieren, erweitern oder angleichen, muss sie von den jeweiligen Ermächtigungsgrundlagen (Art. 46, 50, 53, 59, 60 AEUV oder Art. 114, 115 AEUV) Gebrauch machen372. 363  D. Ehlers,

in: ders., EuGR, § 7 Rn. 41. in: ders., EuGR, § 7 Rn. 41. 365  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7 Rn. 41. 366  EuGH, Slg. 2002, I-6677, Rn. 39 (Unión de Pequenos Agricultors . / . Rat); Slg. 1992, I-3003 Rn. 15 (Aguirre Borrell); Slg. 1987, 4097 Rn. 14 (Heylens); Slg. 1986, 1651 Rn. 18 f. (Johnston). 367  D. Ehlers, in ders., EuGR, § 7 Rn. 42; W. Frenz, Handbuch I, Rn. 220, 222; a. A. T. Kingreen, Struktur, S. 200. 368  H. D. Jarass, EuR 26 (1991), 211 (222); ders. EuR 30 (1995), 202 (211); D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7 Rn. 42; M. Zuleeg, VVDStRL 53 (1993), 154 (165 ff.). 369  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7 Rn. 42. 370  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7 Rn. 42; K. Hesse, Grundzüge, § 9 Rn. 290; a. A. W. Cremer, Freiheitsgrundrechte. S. 198 ff., der den Grundfreiheiten keine über die Fundamentalprinzipien hinausgehenden Grundwerte zuerkennt. 371  T. Kingreen, Struktur, S. 200. 372  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7 Rn. 42. 364  D. Ehlers,



B. Die Grundfreiheiten161

Einschränkend ist zu berücksichtigen, dass die aus den Grundfreiheiten erwachsenden Diskriminierungsverbote nur auf grenzüberschreitende Sachverhalte Anwendung finden. Dies gilt ebenfalls für die Beschränkungsverbote; auch hier ist eine grenzüberschreitende Beeinträchtigung Voraussetzung für die Anwendbarkeit der Grundfreiheiten373. Ein solcher grenzüberschreitender Bezug liegt vor, wenn jedenfalls ein Element des Sachverhaltes über die Grenzen eines Mitgliedstaates hinausgeht374. Der Grund für dieses Erfordernis ist wiederum dem Schutzzweck der Grundfreiheiten, der Gewährleistung eines freien Binnenmarktes, zu entnehmen. Nur wenn grenzüberschreitende Beeinträchtigungen bestehen, erfordert der freie Binnenmarkt ein Einschreiten. Bestehen hingegen Beeinträchtigungen der nationalen Märkte, ist es Sache der nationalen Gerichte und des nationalen Gesetzgebers, diese zu verhindern oder zu beseitigen. Die Grundfreiheiten gelten als die Stützpfeiler der unionsrechtlichen Wirtschaftsverfassung. Sie gelangen dann zur Anwendung, wenn die Regelungen eines Mitgliedstaates (oder der Union) den grenzüberschreitenden europäischen Wirtschaftsverkehr beeinträchtigen375. Dabei entfalten die Grundfreiheiten nicht nur objektiv-rechtliche Wirkung, sondern dienen gerade auch dem Schutz der einzelnen Wirtschaftsteilnehmer376. Demenstprechend stellen sie subjektive Rechte im Sinne des deutschen Sprachgebrauchs dar377. Sie können mithin vor den Unionsgerichten und den nationalen Gerichten geltend gemacht und eingeklagt werden378. Im Verhältnis zum nationalen Recht besteht ein Anwendungsvorrang der Grundfreiheiten379. Das allgemeine Diskriminierungsverbot ist gegenüber den Grundfreiheiten subsidiär380.

II. Berechtigte und Verpflichtete der Grundfreiheiten Anhand der dargelegten Schutzrichtung ist zu untersuchen, wer durch die Grundfreiheiten verpflichtet wird und wen diese berechtigen.

373  D. Ehlers,

in: ders., EuGR, § 7 Rn. 31. in: ders., EuGR, § 7 Rn. 25. 375  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7 Rn. 1. 376  EuGH, Slg. 1963, 3, 25 (van Gend & Loos). 377  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7 Rn. 10; ders., DVBl. 2004, 1441 (1445 f.). 378  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7 Rn. 11. 379  EuGH, Slg. 1991, I-297 Rn. 19 (Nimz); BVerfGE 75, 223 (244); 85, 191 (204). 380  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7 Rn. 15. 374  D. Ehlers,

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3. Kap.: Auf europarechtlicher Ebene

1. Verpflichtete der Grundfreiheiten Durch die Grundfreiheiten werden in erster Linie die Mitgliedstaaten der Europäischen Union verpflichtet381. Verpflichtet sind dabei sowohl der Mitgliedstaat, in dem der Empfänger der geschützten Leistung sitzt, als auch der Ausgangsstaat382. Der Begriff Mitgliedstaat ist dabei im funktionalen Sinne zu verstehen und erfasst alle Träger von Staatsgewalt383. Unerheblich ist dabei, ob der Mitgliedstaat tatsächlich öffentlich-rechtlich handelt oder ob er sich privatrechtlicher Handlungsformen bedient384. Damit sind Bund, Länder, Kommunen sowie alle anderen juristischen Personen des öffentlichen Rechts sowie die gänzlich unmittelbar oder mittelbar von einer juristischen Person des öffentlichen Rechts getragenen juristischen Personen des Privatrechts erfasst385. Dementsprechend sind alle Einrichtungen, auf die ein Mitgliedstaat einen beherrschenden Einfluss hat, aus den Grundfreiheiten verpflichtet386. Ein beherrschender Einfluss wird angenommen, wenn die Mitglieder einer nicht zur staatlichen Verwaltungsorganisation gehörenden Einrichtung vom Staat ernannt und aus öffentlichen Mitteln finanziert werden387 oder wenn die der staatlichen Aufsicht unterstehende Einrichtung mit Rechten ausgestattet ist, die über das Privatrecht hinausgehen388. Umstritten ist, ob auch die Europäische Union selbst durch die Grundfreiheiten gebunden ist389. Einzelne Stimmen in der Literatur lehnen eine Verpflichtung der Unionsorgane ab390. Begründet wird dies damit, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber ohnehin keine Zugangshindernisse zwischen den nationalen Märkten aufbaue, erst Recht diskriminiere er keine grenzüberschreitenden gegenüber inländischen Sachverhalten391. Wird der Unionsgesetzgeber dennoch diskriminierend tätig, sei die Rechtmäßigkeit dieses Handelns aber nicht Frage der transnationalen Legitimation, sondern der supra381  D. Ehlers,

in: ders., EuGR, § 7 Rn. 13; zustimmend L. Crones, Schutz, S. 23. Slg. 1988, 5483 Rn. 16 f. (Daily Mail); Slg. 1992, I-4265 Rn. 19 (Surinder Singh); H. D. Jarass, EuR 35 (2000), 705 (714). 383  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7 Rn. 52. 384  EuGH, Slg. 1982, 4005 Rn. 28 ff. (Kommission . / . Irland). 385  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7 Rn. 52. 386  EuGH, Slg. 1983, 4083 Rn. 17 (Apple and Pear Development Council); Slg. 1990, I-4625 Rn. 16 f. (Hennen Olie); Slg. 2002, I-9977 Rn. 17 ff. (CMA-Gütesiegel); vgl. Art. 2 lit. b RL 2006 / 111. 387  EuGH, Slg. 1990, I-4625 Rn. 16 ff. (Hennen Olie). 388  EuGH; Slg. 1990, I-3313 Rn. 18 (Foster). 389  Umfassend zum Meinungsstand vgl. J. Zazoff, Unionsgesetzgeber, S. 71 ff. 390  Etwa T. Kingreen, EuGRZ 2004, 570 (576); ders., in: Calliess / Ruffert, EUV /  AEUV, Art. 34–36 AEUV Rn. 110. 391  T. Kingreen, EuGRZ 2004, 570 (576). 382  EuGH,



B. Die Grundfreiheiten163

nationalen Legitimation392. Maßgeblich seien also die Unionsgrundrechte, nicht aber die Grundfreiheiten393. Überwiegend wird jedoch angenommen, dass auch die Europäische Union selbst und ihre Organe durch die Grundfreiheiten verpflichtet sind394. Gegen den vorgenannten Ansatz wird zum einen angeführt, dass die Union jedenfalls diskriminierend tätig werden könne, so dass hier Rechtsschutz möglich sein müsse395. Zudem wird die Bindung der Union zum Teil auf kompetenzrechtliche und verfassungsrechtliche Überlegungen gestützt396. So ergebe sich schon aus dem Grundkonzept der Europäischen Union, dass vor allem die grenzüberschreitende Funktionsfähigkeit des Binnenmarktes garantiert werden solle397. Folgt man diesem Ansatz, ist nicht danach zu unterscheiden, wer Urheber einschränkender Maßnahmen ist, so dass jede juristische Person, die solche treffen kann, gebunden sein müsse398. Für dieses Verständnis spricht, dass auch Art. 51 Abs. 1 GRCh in Bezug auf die Grundrechte der Charta von einer Bindung der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union spricht399. Auch öffentliche Unternehmen sind als Erscheinungsform staatlichen Handelns an die Grundfreiheiten gebunden. Damit dürfen sie durch ihre Handelstätigkeit nicht andere Unternehmen in deren Grundfreiheiten beschränken400. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs verpflichten die Grundfreiheiten unter bestimmten Voraussetzungen auch Privatpersonen. Dabei hat der Europäische Gerichtshof eine unmittelbare Drittwirkung zunächst bezüglich des allgemeinen Diskriminierungsverbotes des Art. 18 AEUV und der Personenverkehrsfreiheiten anerkannt401. Damit sollte verhindert werden, dass den Mitgliedstaaten untersagte Diskriminierungen und Beschränkungen durch Private umgangen werden402. Anknüpfungspunkt ist 392  T.

Kingreen, EuGRZ 2004, 570 (576). Kingreen, EuGRZ 2004, 570 (576). 394  EuGH Slg. 1984, 1229 Rn. 18 (REWE); A. Bleckmann, Europarecht, Rn. 760; H. D. Jarass, EuR 30 (1995), 202 (211); R.-O. Schwemer, Bindung, S. 45; W. Frenz, Handbuch I, Rn. 333; D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7 Rn. 53; J. Zazoff, Unionsgesetzgeber, S.  125 f. 395  J. Zazoff, Unionsgesetzgeber, S. 125. 396  R.-O. Schwemer, Bindung, S.  25 ff. m. w. N. 397  U. Scheffer, Marktfreiheiten, S. 38. 398  U. Scheffer, Marktfreiheiten, S. 38. 399  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7 Rn. 52 Fn. 206. 400  W. Weiß, EuR 38 (2003), 165 (176). 401  EuGH, Slg. 1974, 1405, Rn. 16 ff. (Walrave); Slg. 1976, 1333 Rn. 17 f. (Donà); Slg. 1977, 1091 Rn. 28 (Van Ameyde); Slg. 1995, I-4921 Rn. 82 (Bosman); Slg. 2000, I-2549 Rn. 47 (Deliège); Slg. 2000, I-2681 Rn. 35 (Lehtonen). 402  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7 Rn. 57. 393  T.

164

3. Kap.: Auf europarechtlicher Ebene

hier einmal mehr der effet utile403. Zudem stellte der Europäische Gerichtshof klar, dass sich die Bindung Privater auch auf das Außenverhältnis zu Dritten bezieht404. Inzwischen hat der Europäische Gerichtshof auch eine unmittelbare Drittwirkung der Warenverkehrsfreiheit bejaht405. Noch nicht entschieden hat der Europäische Gerichtshof über eine Bindung Privater aus der Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit. Es steht jedoch zu erwarten, dass das Gericht auch hier eine unmittelbare Drittwirkung konsequent anerkennt406. In einer anderen Entscheidung hat der Gerichtshof anstelle einer unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten jedoch eine Garantenpflicht des betroffenen Mitgliedstaates zum Einschreiten angenommen407. Dies wird zum Teil als Abkehr von der unmittelbaren Drittwirkung verstanden408. Dieser Ansatz des Europäischen Gerichtshofes stößt in der Literatur auf Kritik: So spreche schon der Wortlaut des Art. 34 AEUV („zwischen den Mitgliedstaaten“) dafür, dass ausschließlich an staatliches Handeln anzuknüpfen ist409. Auch die Rechtsfertigungsgründe für Eingriffe in die Grundfreiheiten seien auf staatliches Handeln ausgerichtet410. 2. Durch die Grundfreiheiten Berechtigte a) Natürliche Personen Gemäß Art. 20 Abs. 2 Satz 1 AEUV haben die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger die in den Verträgen vorgesehenen Rechte und Pflichten. Damit berechtigen auch die Grundfreiheiten die Unionsbürger ausdrücklich. Unionsbürger im Sinne des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 AEUV sind die Staatsan­ gehörigen der Mitgliedstaaten. Dabei ist es Sache der Mitgliedstaaten, über Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit zu entscheiden411. Im Übrigen ergibt sich die Grundrechtsberechtigung aus den einzelnen Grundfreiheiten: Für die Personenverkehrsfreiheiten etwa regeln Art. 49 403  EuGH

Slg. 1995, I-4921 Rn. 83 (Bosman). Slg. 2007, I-10779 Rn. 61 (Viking). 405  EuGH, EuZW 2012, 797 (798  f.) (Fra.bo); kritisch H. Schweitzer, EuZW 2012, 765 (768). 406  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7 Rn. 57; in diese Richtung GA Maduro, EuGH, Slg, 2007, I-10784 Rn. 48 (Viking); GA Trstenjak, Schlussanträge vom 28.3.2012, Rs. C-171 / 11, BeckRS 2012, 80688 Rn. 44 (Fra.bo). 407  EuGH, Slg. 1997, I-6959 (Kommission . / . Frankreich). 408  M. Burgi, EWS 1999, 327 (330). 409  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7 Rn. 60; a. A. P. Förster, Drittwirkung, S. 52 f. 410  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7 Rn. 60; W. Kluth, AöR 122 (1997), 557 (568 ff.); a. A. P. Förster, Drittwirkung, S. 52 ff., 213. 411  W. Frenz, Handbuch I, Rn. 227; D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7 Rn. 43. 404  EuGH



B. Die Grundfreiheiten165

Abs. 1 Satz 1 AEUV und Art. 56 Abs. 1 AEUV die Frage nach der Grundrechtsberechtigung. Danach kommt es allein auf die Unionsbürgerschaft an. Art. 49 Abs. 1 Satz 2 AEUV sieht als weitere Voraussetzung für die Errichtung einer sekundären Niederlassung die Ansässigkeit innerhalb der Euro­ päischen Union vor. Hier reicht die Unionsbürgerschaft nicht allein für die Annahme der Berechtigung aus. Für die Produktverkehrsfreiheiten besteht hingegen keine ausdrückliche Regelung bezüglich der durch sie berechtigten Personen. Der Grund hierfür ist die Sachbezogenheit der Produktverkehrsfreiheiten; sie knüpfen ausschließlich an die Eigenschaft der Ware als Unionsware beziehungsweise das Vorliegen eines Kapital- oder Zahlungstransfers an. Die Produktverkehrsfreiheiten sind also unabhängig von der Staatsangehörigkeit der Person, die sich auf sie beruft, anwendbar, so dass auch Drittstaatsangehörige durch sie berechtigt sein können412. b) Juristische Personen Die Grundfreiheiten gelten unproblematisch für juristische Personen. Für die Niederlassungsfreiheit ergibt sich dies unmittelbar aus Art. 54 Abs. 1 AEUV. Danach werden Gesellschaften den natürlichen Personen bezüglich der Niederlassungsfreiheit gleichgestellt. Über Art. 62 AEUV gilt diese Gleichstellung auch für die Dienstleistungsfreiheit der Art. 56 ff. AEUV413. Art. 54 AEUV nimmt dabei eine doppelte Funktion ein. Er eröffnet zunächst den Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit für Gesellschaften. Gleichzeitig nennt er auch die Voraussetzungen für eine diesbezügliche Gleichstellung von natürlichen und juristischen Personen414. Dennoch kann nicht von einer vollumfänglichen Gleichstellung von natürlichen und juristischen Personen ausgegangen werden. Vielmehr handelt es sich um einen „rechtlichen Kunstgriff“; es bedarf bei seiner Anwendung stets einer Prüfung, die auf die Besonderheiten von Gesellschaften Rücksicht nimmt415. Hintergrund des Art. 54 Abs. 1 AEUV ist, dass die Niederlassungsfreiheit eine die Berechtigung von juristischen Personen klarstellende Regelung in besonderem Maße erfordert416. Dies ergibt sich schon aus dem Wortlaut des Art. 49 AEUV: So sieht Art. 49 Abs. 1 Satz 2 AEUV ausdrücklich die Gründung von Tochtergesellschaften vor, Art. 49 Abs. 2 AEUV nennt explizit die Gründung von Unternehmen. Die Ausübung der Niederlassungsfreiheit und 412  W.

Frenz, Handbuch I, Rn. 231. in: ders., EuGR, § 7 Rn. 46. 414  U. Forsthoff, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, EU I, Art. 54 AEUV (2011), Rn. 1. 415  U. Forsthoff, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, EU I, Art. 54 AEUV (2011), Rn. 22. 416  W. Frenz, Handbuch I, Rn. 233. 413  D. Ehlers,

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3. Kap.: Auf europarechtlicher Ebene

die Nutzung gesellschaftsrechtlicher Formen können miteinander einhergehen417. Fraglich ist, ob die Erstreckung der Berechtigung auch auf die anderen Grundfreiheiten übertragbar ist. Wegen der besonderen Ausgestaltung der Niederlassungsfreiheit kann nicht der Rückschluss gezogen werden, dass juristische Personen bezüglich der anderen Grundfreiheiten gerade nicht berechtigt sein sollen418. Vielmehr wird überwiegend angenommen, dass die Erstreckung des Art. 54 Abs. 1 AEUV auch für die übrigen Grundfreiheiten gilt419. Für die Erstreckung auf die Freiheit des Waren- und des Kapital­ verkehrs spricht insbesondere das praktische Erfordernis420. Umstritten ist lediglich der Umfang der Erstreckung: Es wird zum einen vertreten, dass Art. 54 Abs. 1 AEUV soweit erforderlich und angemessen analog im Rahmen der anderen Grundfreiheiten gilt421. Teilweise wird sogar vertreten, Art. 54 Abs. 1 AEUV gelte unmittelbar für die Freiheit des Waren-, Kapital- und Zahlungsverkehrs, da sich der Binnenmarkt im Sinne des Art. 26 Abs. 2 AEUV ansonsten nicht verwirklichen ließe422. Problematisch ist allerdings die Anwendbarkeit des Art. 54 AEUV auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit aus Art. 45 AEUV. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs kann sich auch ein Arbeitgeber als juristische Person auf Art. 45 AEUV berufen, wenn er in dem Mitgliedstaat seiner Niederlassung einen Arbeitnehmer aus einem anderen Mitgliedstaat mangels Wohnsitzes im Inland nicht beschäftigen durfte423. Sieht man auf dieser Linie den Arbeitgeber ebenfalls von der Arbeitnehmerfreizügigkeit geschützt, so ist es nur konsequent, auch hier nicht zwischen natürlichen und juristischen Personen zu differenzieren424. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang die Einschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit in Art. 45 Abs. 4 AEUV, wonach sie nicht auf die Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung anwendbar ist. Für die Erstreckung der Grundfreiheiten auf juristische Personen müssen also in jedem Einzelfall die Voraussetzungen des Art. 54 Abs. 1 AEUV erfüllt sein. Demnach muss es sich um eine Gesellschaft handeln, die der Europäischen Union zugehörig ist. Zudem muss der räumliche Geltungsbereich der Grundfreiheiten betroffen sein: 417  W.

Frenz, Handbuch I, Rn. 233. Frenz, Handbuch I, Rn. 233. 419  W. Frenz, Handbuch I, Rn. 234. 420  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7 Rn. 47; W. Frenz, Handbuch I, Rn. 236. 421  P.-C. Müller-Graff, in: Streinz, EUV / AEUV, Art. 54 AEUV Rn. 1. 422  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7 Rn. 47; A. v. Bogdandy, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, EU I, Art. 18 AEUV (2010), Rn. 29. 423  EuGH, Rs. C-350 / 96, Slg. 1998, 2521 Rn. 19 (Clean Car Autoservice). 424  W. Frenz, Handbuch I, Rn. 239. 418  W.



B. Die Grundfreiheiten167

aa) Vorliegen einer Gesellschaft im Sinne des Art. 54 AEUV (1) Erste Voraussetzung für die Erstreckung der Grundfreiheiten ist, dass die betroffene Organisation als Gesellschaft im Sinne des Art. 54 AEUV qualifiziert werden kann425. Der Begriff der Gesellschaft ist in Art. 54 Abs. 2 AEUV legal definiert und wird als Kürzel für die in Art. 54 Abs. 2 AEUV aufgezählten juristischen Personen verwendet426. Danach sind von der Erstreckung des Art. 54 Abs. 1 AEUV Gesellschaften des bürgerlichen Rechts und des Handelsrechts einschließlich der Genossenschaften und die sonstigen juristischen Personen des öffentlichen und privaten Rechts erfasst. Der Begriff der juristischen Person ist also weit zu verstehen und nicht von der Rechtsfähigkeit der Organisationseinheit abhängig zu machen427. Dahinter steht die Überlegung, dass ansonsten der nationale Gesetzgeber darüber bestimmen könnte, welche Organisationsform sich auf die Grundfreiheiten berufen kann. Dementsprechend ist eine rechtlich vorstrukturierte Organisa­ tionsform ausreichend428, so dass alle rechtlich konfigurierten Marktakteure, die als solche im Rechtsverkehr auftreten, erfasst sind429. Dabei normiert Art. 54 Abs. 1 AEUV jedoch keine selbständigen Kriterien, um feststellen zu können, ob eine Organisation als Gesellschaft zu qualifizieren ist430. Die Qualifikation als Gesellschaft erfolgt durch die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten431. Umstritten ist dabei lediglich der Umfang der Verweisung, also ob neben dem Verweis auf nationales Recht für die Gründung auch bezüglich des Fortbestandes der Gesellschaft allein auf nationales Recht abzustellen ist432. In praktischer Hinsicht spricht für dieses weite Verständnis, dass Zusammenschlüsse ohne volle Rechtspersönlichkeit, etwa die deutsche offene Handelsgesellschaft, die niederländische Venootschap onder Firma oder die ita­ lienische Società Semplice, maßgeblichen Anteil am Wirtschaftsleben inner425  U.

Forsthoff, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, EU I, Art. 54 AEUV (2011), Rn. 9. auch P.-C. Müller-Graff, in: Streinz, EUV / AEUV, Art. 54 AEUV Rn. 1. 427  U. Forsthoff, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, EU I, Art. 54 AEUV (2011), Rn. 3; P.-C. Müller-Graff, in: Streinz, EUV / AEUV, Art. 54 AEUV Rn. 4; H. G. Fischer, in: Lenz / Borchardt, EU-Verträge, Art. 54 AEUV Rn. 2; P. Jung, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 54 AEUV Rn. 2; L. Crones, Schutz, S. 25. 428  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7 Rn. 46. 429  P.-C. Müller-Graff, in: Streinz, EUV / AEUV, Art. 54 AEUV Rn. 2; P. Jung, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 54 AEUV Rn. 2. 430  U. Forsthoff, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, EU I, Art. 54 AEUV (2011), Rn. 9. 431  EuGH, Urt. v. 16.12.2008 – Rs. C-210 / 06, Slg. 2008, I-9641 Rn. 109 f. (Cartesio); E. Brödermann, Gemeinschaftsrecht Rn. 112; U. Forsthoff, EuR 35 (2000), 167 (173); ders., in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, EU I, Art. 54 AEUV (2011), Rn. 9. 432  U. Forsthoff, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, EU I, Art. 54 AEUV (2011), Rn.  9 ff. m. w. N. 426  So

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3. Kap.: Auf europarechtlicher Ebene

halb der EU haben433. Um eine effektive Geltung der Niederlassungsfreiheit zu erreichen, ist es im Hinblick auf die Unterschiedlichkeit der in den jeweiligen nationalen Rechtsordnungen verbreiteten Gesellschaftsformen gerade erforderlich, einen weitreichenden und umfassenden Schutz der am Wirtschaftsleben der Union beteiligten Akteure zu erreichen434. Allein aus der Möglichkeit der hinter der juristischen Person stehenden natürlichen Personen, ihr Recht auf Niederlassungsfreiheit geltend zu machen, lässt sich nicht ableiten, der Schutz der juristischen Person sei obsolet435. Vielmehr kann nur durch die Annahme eines weiten Anwendungsbereichs der Schutz der juristischen Person bei grenzüberschreitender Tätigkeit gewahrt werden436. (2) Art. 54 AEUV sieht als weitere Voraussetzung vor, dass die Gesellschaft einen Erwerbszweck verfolgt. Der weite Begriff der Gesellschaft wird allein durch dieses Kriterium eingeschränkt, es ist maßgeblich für die Anwendbarkeit des Art. 54 AEUV. Ausschlaggebend ist dabei der weite Begriff der Erwerbstätigkeit, der in Parallele zu Art. 49 Abs. 2 AEUV sämtliche wirtschaftliche Tätigkeiten genügen lässt437. Er umfasst dabei jede gegen Entgelt ausgeübte wirtschaftliche Tätigkeit, ohne dass es auf die Absicht ankommt, Gewinne zu erzielen438. Ausreichend ist mithin jede Teilnahme am Wirtschaftsleben mittels Angebot einer entgeltlichen, auf teilweise Kostendeckung abzielenden Tätigkeit439. Ausdrücklich ausgenommen von der Erstreckungsnorm des Art. 54 Abs. 1 AEUV sind im Ergebnis lediglich Gesellschaften, die in keiner Form am Wirtschaftsleben teilnehmen und dementsprechend keinerlei Erwerbszweck verfolgen440. Nicht erfasst sind damit juristische Personen und Personenvereinigungen, die ausschließlich kulturelle, wissenschaftliche, pädagogische, sportliche, karitative, religiöse oder gesellige Zwecke verfolgen441. Dies ist etwa der Fall bei einem Idealverein; dieser kann sich nicht auf die Grundfreiheiten berufen442. 433  W. Müller-Huschke, in: Schwarze, EU-Kommentar, 1.  Aufl. 2000, Art. 48 EGV Rn. 3. 434  L. Crones, Schutz, S. 26. 435  J. Tiedje, in: v. d. Groeben / Schwarze / Hatje, EU, Art. 54 AEUV Rn. 20. 436  L. Crones, Schutz, S. 26. 437  J. Tiedje, in: v. d. Groeben / Schwarze / Hatje, EU, Art. 49 AEUV Rn. 62. 438  H. G. Fischer, in: Lenz / Borchardt, EU-Verträge, Art. 54 AEUV Rn. 2; M. Kotzur, in: Geiger / Khan / Kotzur, EUV / AEUV, Art. 54 AEUV Rn. 2. 439  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7 Rn. 46; Oppermann / Classen / Nettesheim, Europarecht, § 28 Rn. 13; H. G. Fischer, in: Lenz / Borchardt, EU-Verträge, Art. 54 AEUV Rn. 2. 440  EuGH, Rs. C-70 / 95, Slg. 1997, I-3395, Rn. 25 (Sodemare). 441  P. Jung, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 54 AEUV Rn. 7; P.-C. MüllerGraff, in: Streinz, EUV / AEUV, Art. 54 AEUV Rn. 3. 442  J. Bröhmer, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 54 AEUV Rn. 2.



B. Die Grundfreiheiten169

Der Grund hierfür liegt wiederum in dem Schutzzweck der Grundfreiheiten, der auf die Funktionsfähigkeit des Binnenmarktes abzielt. Eine Gesellschaft, die keinem Erwerbszweck nachgeht, wird im Regelfall auch nicht wirtschaftlich auf dem Binnenmarkt tätig, so dass die Grundfreiheiten ohnehin zumeist nicht berührt sind. Zudem sollen Wettbewerbsverzerrungen vermieden werden443. Die Gefahr von Wettbewerbsverzerrungen bestünde etwa dann, wenn Einrichtungen ohne Erwerbszweck mit privatnützigen Marktteilnehmern in der Wirtschaft konkurrieren könnten. Hier bestünde insbesondere die Gefahr, dass diese Einrichtungen aufgrund von Quersubventionierungen ungerechtfertigte Wettbewerbsvorteile erfahren444. (3) Nach dem ausdrücklichen Wortlaut des Art. 54 Abs. 2 AEUV sind von der Niederlassungsfreiheit aus Art. 49 AEUV nicht nur juristische Personen des Privatrechts, sondern ebenfalls solche des öffentlichen Rechts erfasst, soweit sie die Voraussetzungen des Art. 54 Abs. 1 AEUV erfüllen445. Dies ergibt sich ebenfalls aus dem Schutzzweck der Grundfreiheiten, der auf die Schaffung und Ermöglichung eines freien Binnenmarktes gerichtet ist446. Danach können sich die Mitgliedstaaten selbst und ihre Untergliederungen bei wirtschaftlicher Tätigkeit im EU-Ausland durch ihre öffentlichen Unternehmen auf Art. 49 AEUV berufen447. Dies gilt erst Recht für privatrechtlich organisierte Gesellschaften in öffentlicher Hand448. Die Berechtigung, sich auf die Grundfreiheiten zu berufen, hängt folglich nicht von der Rechtsform oder den Anteilseignern einer juristischen Person ab, sondern lediglich von ihrer Funktion, in der sie im Wirtschaftsverkehr wahrnimmt449. Begründet wird dies mit dem Grundsatz der praktischen Wirksamkeit (effet utile)450. Dabei gilt der Grundsatz der Gleichbehandlung von öffentlichen und privaten Unternehmen451. Dennoch wird auch hier eine Eingrenzung der Berechtigung juristischer Personen des öffentlichen Rechts vorgenommen: Nur 443  U.

Forsthoff, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, EU I, Art. 54 AEUV (2011), Rn. 4. Forsthoff, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, EU I, Art. 54 AEUV (2011), Rn. 4. 445  A. Bleckmann, Europarecht, Rn. 454, 756; J. Bröhmer, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 54 AEUV Rn. 3; L. Crones, Schutz, S. 172. 446  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7 Rn. 13. 447  P. Badura, ZGR 26 (1997), 291 (299); H. G. Fischer, in: Lenz / Borchardt, EU-Verträge, Art. 54 AEUV Rn. 2; L. Crones, Schutz, S. 27. 448  W. Frenz, Handbuch I, Rn. 241; im Besonderen zu öffentlichen Unternehmen nachstehend unter dd. 449  L. Crones, Schutz, S. 27. 450  H.-W. Rengeling / P. Szczekalla, Grundrechte, § 4 Rn. 357. 451  P. Badura, ZGR 26 (1997), 291 (299); S. Wernicke, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, EU I, Art. 106 AEUV (2011), Rn. 4: kritisch W. Weiß, EuR 38 (2003), 165 (173). 444  U.

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3. Kap.: Auf europarechtlicher Ebene

soweit mit der öffentlich-rechtlichen Organisationsform nicht die Ausübung von Hoheitsrechten einhergeht, können juristische Personen des öffentlichen Rechts grundrechtsberechtigt sein452. Eine weitere Eingrenzung bezüglich der Anwendbarkeit der Grundfreiheiten für juristische Personen des öffentlichen Rechts findet über das Merkmal des Erwerbszweckes statt. So verfolgen etwa die Mitgliedstaaten selbst, ihre Gliedstaaten und Gemeinden gemeinhin keinen Erwerbszweck bei ihrer Aktivität, so dass für diese eine Berechtigung aus den Grundfreiheiten schon aus diesem Grunde abzulehnen ist453. (4) Zu den von Art. 54 AEUV erfassten juristischen Personen des öffentlichen Rechts zählen vorrangig öffentliche Unternehmen, die im Gegensatz zu den Mitgliedstaaten selbst die Voraussetzungen des Art. 54 Abs. 1 AEUV zumeist erfüllen, da sie überwiegend in der Form einer Gesellschaft organisiert sind, wirtschaftlich tätig sind und einen Erwerbszweck verfolgen454. Damit eröffnet die Erstreckungsnorm des Art. 54 Abs. 2 AEUV gerade öffentlich-rechtlichen Unternehmen die Möglichkeit zur gemeinschaftsweiten Betätigung455. Im AEUV findet sich jedoch keine explizite Definition für den Begriff des öffentlichen Unternehmens. Maßgeblich sei der allgemeine Unternehmensbegriff des europäischen Wettbewerbsrechts. Danach ist allein die Funktion der handelnden Einheit entscheidend, nicht ihre Rechtsform oder ihre nationalrechtliche Qualifikation456. Es kommt mithin darauf an, dass die Einheit wirtschaftlich handelt, unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung457. Ferner muss sie eine gewisse organisatorische Selbständigkeit aufweisen458. Ein Unternehmen wird dann als „öffentlich“ bezeichnet, wenn es sich in staatlicher Hand befindet459. Fraglich ist jedoch, nach welchen Kriterien zu bestimmen ist, ob beziehungsweise wann sich ein Unternehmen in staatlicher Hand befindet. Dazu ist keine 100 %-ige Beteiligung des Staates erforderlich, 452  EuG, Slg. 1996, II-2109, Rn. 58 f. (Air France . / . Kommission); so auch J. Bröhmer, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 54 AEUV Rn. 3; P. Jung, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 54 AEUV Rn. 2, 6. 453  U. Forsthoff, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, EU I, Art. 54 AEUV (2011), Rn. 7. 454  P. Badura, ZGR 26 (1997), 291 (299); M. Burgi, EuR 32 (1997), 261 (287); W. Frenz, Handbuch I, Rn. 244; W. Weiß, EuR 38 (2003), 165 (165). 455  J. Bröhmer, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 54 AEUV Rn. 3. 456  C. Jung, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 106 AEUV Rn. 11. 457  St. Rspr., vgl. nur EuGH Slg. 1991, I-1979 Rn. 21 (Macrotron); zustimmend S. Wernicke, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, EU II, Art. 106 AEUV (2011), Rn. 17. 458  C. Jung, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 106 AEUV Rn. 11. 459  W. Weiß, EuR 38 (2003), 165 (167).



B. Die Grundfreiheiten171

vielmehr genügt eine Mehrheitsbeteiligung, wenn der Staat beherrschend über das Unternehmen und dessen Tätigkeit verfügt460. Nach Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 der Transparenzrichtlinie461 ist ein Unternehmen öffentlich, wenn die öffentliche Hand aufgrund des Eigentums, finanzieller Beteiligung, Satzung oder sonstiger Bestimmungen unmittelbar oder mittelbar bestimmenden Einfluss auf Planung und Geschäftstätigkeit ausübt. Dies wiederum ist zu vermuten, wenn der Staat unmittelbar oder mittelbar die Mehrheit des Kapitals oder der Stimmrechte hat oder aber die Mehrzahl der Mitglieder der Leitungs- oder Aufsichtsorgane bestellt. Die Abgrenzung nach der Transparenzrichtlinie ist in Rechtsprechung und Literatur weitgehend anerkannt462. Maßgebend ist also auch hier das Kriterium der Beherrschung463. Damit können auch Tochtergesellschaften öffentlicher Unternehmen selbst öffentliche Unternehmen sein, soweit auch hier beherrschender Einfluss besteht464. Im Ergebnis ist dann von einem öffentlichen Unternehmen zu sprechen, wenn der Staat es ohne Rückgriff auf hoheitliche Maßnahmen für seine Zwecke steuern kann465. Es wird vertreten, die Grundfreiheitenberechtigung öffentlicher Unternehmen durch eine enge Definition des Begriffs einzuschränken466. Aus den Art. 45 Abs. 4, Art. 51, Art. 62 AEUV wird nach dieser Ansicht gefolgert, dass juristischen Personen dann nicht als öffentliche Unternehmen anzusehen sind, wenn sie Hoheitsgewalt ausüben467. Eine Differenzierung zwischen öffentlichen Unternehmen und der Verwaltung ist nach diesem Ansatz oft schwierig468. Als weiteres Kriterium wird neben der Ausübung von Hoheitsgewalt kumulativ auf die Teilhabe an der Wahrung der allgemeinen Belange 460  M.

Burgi, EuR 32 (1997), 261 (267); W. Weiß, EuR 38 (2003), 165 (168). 80 / 723 / EWG, ABl. EG 1980 Nr. L 195 S. 35, zuletzt geändert mit ABl. EG 2000 Nr. L 193 S. 75. 462  EuGH, Urt. v. 6.7.1982 – Rs. 188 bis 190 / 80, Slg. 1982, 2545 Rn. 25 (Frankreich, Italien, Vereinigtes Königreich . / . Kommission); P. Badura, ZGR 26 (1997), 291 (292); C. Jung, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 106 AEUV Rn. 12; J. A. Kämmerer, Privatisierung, S. 99; W. Weiß, EuR 38 (2003), 165 (168); S. Wernicke, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, EU II, Art. 106 AEUV (2011), Rn. 25; J. Kühling, in: ­Streinz, EUV / AEUV, Art. 106 AEUV Rn. 16; P. Voet van Vormizeele, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 106 AEUV Rn. 17. 463  S. Wernicke, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, EU II, Art. 106 AEUV (2011), Rn. 26. 464  P. Voet van Vormizeele, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 106 AEUV Rn. 19. 465  C. Jung, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 106 AEUV Rn. 13. 466  W. Weiß, EuR 38 (2003), 165 (167). 467  W. Weiß, EuR 38 (2003), 165 (167); in diese Richtung ebenfalls S. Wernicke, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, EU II, Art. 106 AEUV (2011), Rn. 18. 468  M. Burgi, EuR 32 (1997), 261 (265 f.); J. A. Kämmerer, Privatisierung, S. 102; S. Wernicke, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, EU II, Art. 106 AEUV (2011), Rn. 18. 461  RL

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3. Kap.: Auf europarechtlicher Ebene

des Staates abgestellt469. Ferner wird gefragt, ob eine Tätigkeit auch von Privaten erbracht werden kann470. Gerade bei gemischt-wirtschaftlicher Tätigkeit wie etwa dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk gerät die Abgrenzung schwierig. Hier wird zumeist nach der Art der Aufgabenerfüllung differenziert471. Für die Annahme einer Berechtigung öffentlicher Unternehmen bezüglich der Grundfreiheiten spricht zudem, dass sich die erwerbswirtschaftliche Tätigkeit dieser zumeist in demselben Rahmen bewegt, in dem auch private Unternehmen wirtschaftlich tätig werden472. Denn die öffentlichen Unternehmen nehmen in gleicher Weise am allgemeinen Wirtschaftsverkehr teil473. Aus diesem Grund kommt eine Differenzierung aufgrund der Organisationsform des betroffenen Unternehmens grundsätzlich nicht in Betracht. Dennoch kommt gerade öffentlichen Unternehmen bezüglich der Grundfreiheiten eine hohe Bedeutung zu: Sie befinden sich an der Schnittstelle zwischen wirtschaftlicher und hoheitlicher Tätigkeit und nehmen so eine besondere Rolle ein. Aufgrund der besonderen Aufgabenstellung und der anders gelagerten Trägerschaft kann also keine vollständige Kongruenz zu privaten Unternehmen bezüglich der Berechtigung und Verpflichtung aus den Grundfreiheiten gefolgert werden474. Dies führt jedoch nicht dazu, dass eine Berechtigung aus den Grundfreiheiten gänzlich abzulehnen ist: Der besonderen Gefährdung des Wettbewerbs als Element des Binnenmarktes, die durch das unternehmerische Handeln des Staates entsteht, tragen Art. 37 und Art. 106 AEUV Rechnung475. Art. 37 AEUV verpflichtet die Mitgliedstaaten, ihre staatlichen Handelsmonopole derart umzugestalten, dass Diskriminierungen zwischen den Mitgliedstaaten ausgeschlossen werden. Damit ergänzt er die Warenverkehrsfreiheit der Art. 34 bis Art. 36 AEUV476. Art. 106 AEUV ergänzt die Wettbewerbsregeln des AEUV477.

469  Ständige Rechtsprechung des EuGH, vgl. nur Slg. 1988, 2479 Rn. 18 (Bodson); Slg. 2003, I-10391 Rn. 39 (Colegio de Oficiales); W. Brechmann, in Calliess /  Ruffert, EUV / AEUV, Art. 45 AEUV Rn. 103; W. Weiß, Privatisierung, S. 354; ders., EuR 38 (2003), 165 (167). 470  J. A. Kämmerer, Privatisierung, S. 103; W. Weiß, EuR 38 (2003), 165 (167). 471  EuGH, Slg. 1974, 409 Rn. 14 (Sacchi); S. Wernicke, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, EU II, Art. 106 AEUV (2011), Rn. 22. 472  W. Frenz, Handbuch I, Rn. 245. 473  W. Frenz, Handbuch I, Rn. 246. 474  W. Frenz, Handbuch I, Rn. 242; in diese Richtung auch P. Jung, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 54 AEUV Rn. 1, 19. 475  C. Jung, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 106 AEUV Rn. 1. 476  T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 37 AEUV Rn. 4. 477  C. Jung, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 106 AEUV Rn. 1.



B. Die Grundfreiheiten173

Die Sonderstellung öffentlicher Unternehmen wird dabei insbesondere anhand von Art. 106 Abs. 1 AEUV deutlich: Art. 106 Abs. 1 AEUV verbietet den Mitgliedstaaten, Maßnahmen in Bezug auf öffentliche Unternehmen zu treffen, die den Verträgen widersprechen. Der Begriff der Maßnahme ist dabei weit zu verstehen und erfasst jede Form der rechtlichen oder tatsäch­ lichen Einflussnahme der Mitgliedstaaten auf ihre Unternehmen478. Auf die Rechtsform oder Rechtsqualität der Einflussnahme kommt es nicht an479. Auch Realakte sind als Maßnahmen im Sinne des Art. 106 Abs. 1 AEUV denkbar480. Erfasst sind also sowohl ihre Gesetzgebung als auch ihre Verwaltungstätigkeit sowie ihr Verhalten als Unternehmensträger481. Im Widerspruch zu den Verträgen stehen die Maßnahmen dann, wenn sie gegen eine Norm der Verträge verstoßen, unabhängig davon, an wen die betroffene Norm adressiert ist482. Damit ist insbesondere auch ein Verstoß gegen die Grundfreiheiten erfasst483. Durch Art. 106 Abs. 1 AEUV werden die Mitgliedstaaten damit gehindert, ihren Einfluss auf ihre Unternehmen dazu zu missbrauchen, gegen Unionsrecht zu verstoßen484. Sie können sich also auch nicht durch eine Flucht in ein unternehmerisches Handeln aus ihrer Verpflichtung aus dem AEUV entziehen485. Aus dieser Verpflichtung der Mitgliedstaaten aus Art. 106 Abs. 1 AEUV wird zugleich eine Berechtigung der öffentlichen Unternehmen gefolgert. Für dieses Verständnis wird zudem Art. 54 Abs. 2 AEUV angeführt, der öffentliche Unternehmen explizit in den Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit einbezieht486. Dennoch lässt sich daraus kein widersprüchliches Zusammentreffen von Rechten und Pflichten innerhalb einer juristischen Person folgern487. Dies 478  C. Jung, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 106 AEUV Rn. 18; J. Kühling, in: Streinz, EUV / AEUV, Art. 106 AEUV Rn. 16; P. Voet van Vormizeele, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 106 AEUV Rn. 30. 479  R. Klotz, in: v. d. Groeben / Schwarze / Hatje, EU III, Art. 106 AEUV Rn. 42; S. Wernicke, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, EU I, Art. 106 AEUV (2011), Rn. 54; C. Jung, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 106 AEUV Rn. 18. 480  C. Jung, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 106 AEUV Rn. 18. 481  W. Weiß, EuR 38 (2003), 165 (169). 482  M. Burgi, EuR 32 (1997), 261 (280 f.). 483  W. Frenz, Handbuch I, Rn. 247. 484  W. Weiß, EuR 38 (2003), 165 (169). 485  EuGH, Slg. 1997, I-5789 Rn. 41 (Kommission . / . Italien); ähnlich S. Wernicke, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, EU I, Art. 106 AEUV (2011), Rn. 8; W. Weiß, EuR 38 (2003), 165 (169); J. Kühling, in: Streinz, EUV / AEUV, Art. 106 AEUV Rn. 25. 486  W. Weiß, EuR 38 (2003), 165 (171). 487  W. Weiß, EuR 38 (2003), 165 (174); U. Ehricke, Vereinbarkeit, S. 27.

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3. Kap.: Auf europarechtlicher Ebene

ergibt sich schon aus dem eindeutigen Wortlaut des Art. 54 Abs. 2 AEUV488. Ferner sind hier unterschiedliche Rechtsbeziehungen betroffen489: Die Grundfreiheiten berechtigen das öffentliche Unternehmen gegenüber anderen staatlichen Einheiten und Hoheitsträgern. Soweit das öffentliche Unternehmen aus den Grundfreiheiten verpflichtet ist, besteht diese Pflicht jedoch ausschließlich Privaten gegenüber490. Das im deutschen Verfassungsrecht vertretene Konfusionsargument wird aus diesen grundsätzlichen Überlegungen nicht auf öffentliche Unternehmen und die Grundfreiheiten angewendet491. Zu berücksichtigen ist ferner, dass etwa die Niederlassungsfreiheit aufgrund der Regelungen in Art. 45 Abs. 4, Art. 51, Art. 62 AEUV schon nicht für Tätigkeiten gilt, die mit der dauernden oder zeitweisen Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind492. Das Nebeneinander von Rechten und Pflichten wird zudem durch die Regelung des Art. 106 Abs. 2 AEUV belegt. Gemäß Art. 106 Abs. 2 Satz 1 AEUV gelten die Grundfreiheiten gerade ausdrücklich für solche öffentlichen Unternehmen, die Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse wahrnehmen. Daraus wird eine umfassende Verpflichtung der öffentlichen Unternehmen auf den AEUV gefolgert493. Dafür spricht auch das Interesse an der Wirksamkeit des Art. 106 Abs. 1 AEUV494. Art. 106 Abs. 1 AEUV wird dementsprechend auch als Ausdruck einer Zuordnung öffentlicher Unternehmen zum Staat verstanden495. Während Art. 106 Abs. 2 AEUV Verpflichtungen beschreibt, die die Handlungsmöglichkeiten des Unternehmens einschränken, gewährt Art. 106 Abs. 1 AEUV den öffentlichen Unternehmen Schutz vor staatlichen Maßnahmen496. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass dies nur für grenzüberschreitende Sachverhalte und nicht für rein innerstaatliche Tatbestände gilt497. Die Tätigkeit öffentlicher Unternehmen kann daher durch nationale Regelungen wie etwa das Kommunalrecht begrenzt werden. Zu prüfen ist dann, ob diese Regelungen grenzüberschreitenden Charakter haben und in diesen Fällen mit den Grundfreiheiten vereinbar sind498. 488  W.

Weiß, EuR 38 (2003), 165 (174). Weiß, EuR 38 (2003), 165 (174); ders., in: DVBl. 2003, 564 (568). 490  W. Weiß, DVBl. 2003, 564 (568). 491  W. Frenz, Handbuch I, Rn. 248 Fn. 42; W. Weiß, EuR 38 (2003), 165 (174). 492  W. Weiß, EuR 38 (2003), 165 (167). 493  W. Weiß, EuR 38 (2003), 165 (170 f.). 494  EuGH, Urt. v. 6.7.1982 – Rs. 188 bis 190 / 80, Slg. 1982, 2545 Rn. 26 (Frankreich, Italien, Vereinigtes Königreich . / . Kommission); M. Burgi, EuR 32 (1997), 261 (282 ff.); W. Weiß, EuR 38 (2003), 165 (170). 495  W. Weiß, EuR 38 (2003), 165 (170). 496  W. Frenz, Handbuch I, Rn. 248. 497  W. Weiß, EuR 38 (2003), 165 (174). 498  W. Frenz, Handbuch I, Rn. 249. 489  W.



B. Die Grundfreiheiten175

Problematisch ist jedoch, inwieweit sich öffentliche Unternehmen auch gegenüber dem eigenen Staat auf die Grundfreiheiten berufen können. Gegen eine Berechtigung aus den Grundfreiheiten wird angeführt, dass das öffentliche Unternehmen zum Staat stehe wie ein Tochterkonzern zur Konzernmutter, dessen Verhalten durch den Mutterkonzern bestimmt werde499. Maßgeblich sei allerdings auch hier wieder, ob das Unternehmen von dem Staat beherrscht wird500. Grundsätzlich führen die Grundfreiheiten für grenzüberschreitende Sachverhalte jedoch auch gegenüber dem eigenen Mitgliedstaat zu einer Rückwirkung501. Den Mitgliedstaaten ist es untersagt, ihre Angehörigen an der Teilnahme am Binnenmarkt und der Ausübung der Grundfreiheiten zu behindern502. Dies gilt sowohl für den Empfangsstaat als auch für den Herkunftsstaat503. Die Mitgliedstaaten dürfen bezüglich ihrer öffentlichen Unternehmen auch keine den Grundfreiheiten widersprechenden Maßnahmen treffen504. Aus Art. 35 AEUV folgt wiederum, dass die Mitgliedstaaten ihre öffentlichen Unternehmen auch nicht dazu nutzen dürfen, Ausfuhren zu beschränken505. Diese Überlegungen legen es nahe, dass ein Berufen auf die Grundfreiheiten auch gegenüber dem eigenen Staat denkbar ist. Gegen diese Argumentation kann jedoch angeführt werden, dass ein Mitgliedstaat als Unternehmensträger ebenso wie ein privater Unternehmer nicht gezwungen ist, von den Grundfreiheiten Gebrauch zu machen und grenzüberschreitende Geschäfte abzuschließen506. Danach müsste ein öffentliches Unternehmen wie ein privates Unternehmen auch eine Selbstbeschränkung vornehmen können507. Da das öffentliche Unternehmen jedoch von einem Verpflichteten der Grundfreiheiten beherrscht wird, darf der Mitgliedstaat gemäß Art. 106 Abs. 1 AEUV seinen Einfluss nicht durch Beschränkung der Grundfreiheiten ausüben508. Schränkt ein Mitgliedstaat sein öffentliches Unternehmen dennoch bei der Ausübung der Grundfreiheiten ein, betrifft dies nicht die Frage, ob die Grundfreiheiten überhaupt anwendbar sind, sondern die Frage nach der Rechtfertigung der Beschränkung509. 499  S. Wernicke, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, EU II, Art. 106 AEUV (2011), Rn. 30. 500  S. Wernicke, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, EU II, Art. 106 AEUV (2011), Rn. 30. 501  W.

Weiß, EuR 38 (2003), 165 (174). Weiß, EuR 38 (2003), 165 (174). 503  EuGH, Slg. 1988, 5483 Rn. 16 f. (Daily Mail); Slg. 1992, I-4265 Rn. 19 (Surinder Singh). 504  W. Weiß, EuR 38 (2003), 165 (174). 505  W. Weiß, EuR 38 (2003), 165 (174). 506  W. Weiß, EuR 38 (2003), 165 (175). 507  W. Weiß, EuR 38 (2003), 165 (175). 508  W. Weiß, EuR 38 (2003), 165 (175). 509  W. Weiß, EuR 38 (2003), 165 (175). 502  W.

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3. Kap.: Auf europarechtlicher Ebene

Öffentliche Unternehmen können sich also im Ergebnis sogar im Verhältnis zu ihren öffentlich-rechtlichen Trägern auf die Grundfreiheiten berufen510. Die europarechtlichen Freiräume bestehen daher auch gegenüber den kommunalen Eignern eines Unternehmens, so dass auch in der Beziehung zum jeweiligen Träger eine Berechtigung zu grenzüberschreitenden Geschäften besteht511. Insbesondere kommunale erwerbswirtschaftliche Unternehmen können sich demnach ebenfalls auf die Grundfreiheiten berufen512. bb) Zugehörigkeit der juristischen Person zur Europäischen Union Weitere Voraussetzung, damit sich eine juristische Person auf die Grundfreiheiten berufen kann, ist ihre Zugehörigkeit zur Union. Eine Zugehörigkeit ist nach dem Wortlaut des Art. 54 Abs. 1 AEUV dann anzunehmen, wenn die juristische Person nach den Vorschriften eines Mitgliedstaates gegründet wurde und sich ihr satzungsmäßiger Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Union befindet. Damit schließt bereits der Wortlaut des Art. 54 Abs. 1 AEUV drittstaatliche Gesellschaften von den Grundfreiheiten aus. Eine juristische Person ist dann nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates gegründet worden, wenn sich ihre Existenz und ihre Grundstruktur aus dem nationalen Recht eines Mitgliedstaates ergibt513. Um dem weit gefassten Begriff der juristischen Person aus Art. 54 Abs. 1 AEUV zu entsprechen, fallen die unterschiedlichsten Gründungsformen unter dieses Erfordernis514. Eine Einschränkung findet durch dieses Kriterium nicht statt. Außerdem muss die Gesellschaft gemäß Art. 54 Abs. 1 AEUV entweder ihren satzungsmäßigen Sitz oder ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Gemeinschaft haben. Diese Kriterien dienen der Zuordnung der Gesellschaft zu dem Recht eines Mitgliedstaates515. Unter dem satzungsmäßigen Sitz einer juristischen Person ist ihr formeller, in der Satzung festgelegter Sitz zu verstehen516. Die Hauptverwaltung stellt das Zentrum der Willensbildung der juristischen Person durch ihre Organe dar517. 510  W.

Frenz, Handbuch I, Rn. 247. Burgi, EuR 32 (1997), 261 (287 ff.); W. Weiß, EuR 38 (2003), 165 (175); ders., DVBl. 2003, 564 (568 f.); U. Ehricke, Vereinbarkeit, S. 28. 512  W. Frenz, Handbuch I, Rn. 244. 513  J. Bröhmer, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 54 AEUV Rn. 5. 514  L. Crones, Schutz, S. 29. 515  EuGH, Slg. 1993, I-4017, Rn. 13 (Queen . / . Inland Revenue Commissioners); J. Bröhmer, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 4 AEUV Rn. 5. 516  M. Kotzur, in: Geiger / Khan / Kotzur, EUV / AEUV, Art. 54 AEUV Rn. 7. 517  L. Crones, Schutz, S. 29. 511  M.



B. Die Grundfreiheiten177

Unter der Hauptniederlassung hingegen ist der Ort zu verstehen, an dem die juristische Person schwerpunktmäßig ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit nachgeht und wo ihre wesentlichen Betriebsstätten liegen518. Es genügt, wenn eines dieser Merkmale erfüllt ist519. Nicht erforderlich ist daher, dass sich der Sitz, die Hauptverwaltung oder Hauptniederlassung in dem Mitgliedstaat befinden, nach dessen Recht die juristische Person gegründet wurde520. Damit knüpft Art. 54 Abs. 1 AEUV ausdrücklich nicht an den Kontrollansatz und damit nicht an die Nationalität der hinter der juristischen Person stehenden natürlichen Personen an521. So können auch solche juristischen Personen Träger der Niederlassungsfreiheit sein, deren Anteilseigner vollumfänglich Drittstaaten angehören522. Gleiches gilt für Drittstaatler, die als Gesellschafter oder Kapitaleigner an der Niederlassungsfreiheit teilhaben können523. Dennoch knüpft der Europäische Gerichtshof teilweise an die Nationalität der hinter der juristischen Person stehenden Eigentümer an, um das grenzüberschreitende Element eines Sachverhaltes darzulegen524. Dies stößt in der Literatur aus guten Gründen auf Kritik525. Wenn für die Zugehörigkeit einer juristischen Person nicht auf die Staatsangehörigkeit ihrer Mitglieder abgestellt werden darf, kann sich aus dieser auch nicht das grenzüberschreitende Sachverhaltselement ergeben. Art. 49 AEUV knüpft die sekundäre Niederlassungsfreiheit für natürliche Personen an die Ansässigkeit in einem Mitgliedstaat. Das Merkmal der Ansässigkeit erfordert, dass der Berechtigte seinen wirtschaftlichen Schwerpunkt innerhalb der Europäischen Union hält526 und sich tatsächlich und dauerhaft in die Wirtschaft eines Mitgliedstaates integriert hat527. Begründet wird dies damit, dass auf diese Weise vollständig in das Wirtschaftsleben eines Drittstaates integrierte Unionsbürger nicht an der Errichtung von 518  J.

Tiedje, in: v. d. Groeben / Schwarze / Hatje, EU, Art. 49 AEUV Rn. 11. Fischer, in: Lenz / Borchardt, EU-Verträge, Art. 54 AEUV Rn. 3. 520  L. Crones, Schutz, S, 29. 521  EuGH Slg. 1991, I-3905 Rn. 30 (Factortame); Slg. 1999, I-1484 Rn. 17 (Centros); J. Bröhmer, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 54 AEUV Rn. 5. 522  L. Crones, Schutz, S. 30 m. w. N. 523  Oppermann / Classen / Nettesheim, Europarecht, § 28 Rn. 14. 524  EuGH Slg. 2001, I-837 Rn. 16 (Mac Queen); Slg. 2002, I-8923 Rn. 25 (Payroll). 525  U. Forsthoff, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, EU I, Art. 54 AEUV (2011), Rn. 16. 526  U. Eyles, Niederlassungsrecht, S. 43, 103; P.-C. Müller-Graff, in: Streinz, EUV / AEUV, Art. 49 AEUV Rn. 31. 527  Allgemeines Programm zur Aufhebung der Beschränkung der Niederlassungsfreiheit, ABl. 1962 2 / 36; P.-C. Müller-Graff, in: Streinz, EUV / AEUV, Art. 49 AEUV Rn. 31. 519  H. G.

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3. Kap.: Auf europarechtlicher Ebene

Zweigniederlassungen innerhalb der Europäischen Union gehindert werden sollen528. Umstritten ist, ob das Kriterium der Ansässigkeit darüber hinaus auch für juristische Personen anwendbar ist, da Art. 54 AEUV es nicht ausdrücklich erwähnt. Relevant wird dieses Erfordernis lediglich dann, wenn eine Gesellschaft nur ihren satzungsmäßigen Sitz in einem Mitgliedstaat hat. Man könnte anführen, dass die Ansässigkeit ohnehin durch das Kriterium des Sitzes / der Hauptverwaltung / Hauptniederlassung innerhalb der Europäischen Union erfüllt ist. Relevant wird diese Frage jedoch bei der sekundären Niederlassungsfreiheit529, wenn eine juristische Person zwar ihren satzungsmäßigen Sitz innerhalb der Europäischen Union hat, ihre wirtschaftliche Tätigkeit aber überwiegend außerhalb der Union ausübt und sich für ihre Zweigniederlassung auf Art. 49 AEUV berufen will530. Aus der Gleichstellung von natürlichen und juristischen Personen in Art. 54 Abs. 1 AEUV wird jedoch gefolgert, dass auch das Kriterium der Ansässigkeit umfassend gelten müsse531. Dies erfordere bereits das Ziel der Grundfreiheiten, den (tatsächlichen) Akteuren des Binnenmarktes besondere Rechte einzuräumen und so den Binnenmarkt zu stärken. Andernfalls wäre die Kontrollierbarkeit des Unternehmens durch die Europäische Union nicht gewährleistet532. Aus Sicht eines Mitgliedstaates, der der Gründungslehre folgt, könnte es zudem passieren, dass sich eine Gesellschaft nach seinem Recht gründet, ohne dass sie eine Verbindung zu ihm hätte, die über das Bestehen des satzungsmäßigen Sitzes hinausgeht533. Trotz der vollständigen Integration in die Wirtschaft eines Drittstaates könnte sie sich dann innerhalb der Europäischen Union auf die Niederlassungsfreiheit berufen, ohne dass ein tatsächlicher Bezug zur Union bestünde534. Andere Stimmen in der Literatur folgern aus dem Wortlaut des Art. 54 Abs. 1 AEUV, der gerade nicht Bezug auf die Ansässigkeit nimmt, dass dieses Erfordernis ausdrücklich nicht auf juristische Personen übertragbar sein soll535. Dafür wird angeführt, dass der Europäische Gerichtshof in seinen Entscheidungen536 ebenfalls keine 528  M.

Schlag, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 49 AEUV Rn. 29. Müller-Graff, in: Streinz, EUV / AEUV, Art. 49 AEUV Rn. 32. 530  So auch L. Crones, Schutz, S. 30. 531  Etwa J. Tiedje, in: v. d. Groeben / Schwarze / Hatje, EU I, Art. 54 AEUV Rn. 10; P.-C. Müller-Graff, in: Streinz, EUV / AEUV, Art. 49 AEUV Rn. 32; U. Forsthoff, Niederlassungsfreiheit, S. 137 ff.; ders., in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, EU I, Art. 54 AEUV (2011), Rn. 17. 532  M. Schlag, in: Schwarze, EU-Kommenter, Art. 49 AEUV Rn. 29; P.-C. MüllerGraff, in: Streinz, EUV / AEUV, Art. 49 AEUV Rn. 32. 533  U. Forsthoff, Niederlassungsfreiheit, S. 140. 534  U. Forsthoff, Niederlassungsfreiheit, S. 140. 535  J. Bröhmer, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 54 AEUV Rn. 7 m. w. N. 536  EuGH Slg. 1986, 2375 Rn. 16 (Segers); Slg. 1999, I-1459 (Centros). 529  P.-C.



B. Die Grundfreiheiten179

Ansässigkeit der Gesellschaft innerhalb der Europäischen Union gefordert hat, obwohl diese dort nicht gegeben war537. Ob das Kriterium der Ansässigkeit erfüllt ist, kann zumeist schon danach beurteilt werden, ob eine Gesellschaft Berührung zum EU-Ausland hat538. Bestehen keinerlei Berührungspunkte, kann die Gesellschaft ohnehin nur in der Europäischen Union ansässig sein539. c) Drittstaatler Problematisch ist aufgrund des eindeutigen Bezugs zur Unionsbürgerschaft, ob sich auch natürliche Personen mit der Staatsangehörigkeit eines Drittstaates auf die Grundfreiheiten berufen können. Unter bestimmten Vo­ raussetzungen ist dies dennoch möglich540: Dies gilt zum einen für die Produktverkehrsfreiheiten541. So verbietet die Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs aus Art. 63 AEUV ausdrücklich Beschränkungen zwischen den Mitgliedstaaten und Drittstaaten. Diese Regelung bezweckt die Ermöglichung der freien Zirkulation des Kapitals in der Europäischen Union unabhängig von seiner Herkunft542. Damit berechtigt sie auch Drittstaatler, sich auf sie zu berufen543. Der Warenverkehrsfreiheit etwa unterfallen gemäß Art. 28 Abs. 2, Art. 29 AEUV ebenso Waren aus dritten Ländern, die sich im freien Verkehr eines Mitgliedstaates befinden. Daraus wird zum Teil gefolgert, es seien alle mit solchen Waren handelnden Personen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit oder Zugehörigkeit zu einem der Mitgliedstaaten in den Schutz der Warenverkehrsfreiheit einzubeziehen544. Gegen diese Betrachtungsweise wird Art. 217 AEUV angeführt. Danach kann die Warenverkehrsfreiheit auch Gegenstand von Assoziationsabkommen sein545. Diese Regelung liefe leer, könnten sich Drittstaatler ohnehin auf sie berufen. 537  P.-C.

Müller-Graff, in: Streinz, EUV / AEUV, Art. 49 AEUV Rn. 32 Fn. 102. Forsthoff, Niederlassungsfreiheit, S. 137 ff.; ders. in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, EU I, Art. 54 AEUV (2011), Rn. 17. 539  Vgl. EuGH, Slg. 1999, I-1459 (Centros); U. Forsthoff, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, EU I, Art. 54 AEUV (2011), Rn. 18. 540  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7 Rn. 50. 541  W. Frenz, Handbuch I, Rn. 231. 542  T. Schürmann, in: Lenz / Borchardt, EUV / AEUV, Art. 63 AEUV Rn. 18 f.; D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7 Rn. 50. 543  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7 Rn. 50; J. Sedemund, BB 2006, 2781 (2781). 544  W. Frenz, Handbuch I, Rn. 231, 296 ff.; D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7 Rn. 50; H. D. Jarass, EuR 35 (2000), 705 (708); W. Schroeder, in: Streinz, EUV / AEUV, Art. 34 Rn. 24; a. A. T. Kingreen, Struktur, S. 79. 545  T. Kingreen, Struktur, S. 79. 538  U.

180

3. Kap.: Auf europarechtlicher Ebene

Die Freiheiten des Personenverkehrs hingegen schützen grundsätzlich nur Unionsbürger546. Dennoch können sich aus ihnen unter Umständen Rechte für Angehörige eines Drittstaates ergeben547. Nach diesem Ansatz sollen die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Niederlassungsfreiheit auch aus Drittstaaten stammende Familienangehörige der Berechtigten schützen und ihnen einen selbständigen Anspruch auf Einhaltung der Freiheit gewähren548. Auch aus Abkommen zwischen der Europäischen Union und Drittstaaten kann sich eine Gleichstellung mit Unionsbürgern ergeben549. Ferner sieht Art. 56 Abs. 2 AEUV die Möglichkeit vor, dass sich auch Drittstaatler auf die Dienstleistungsfreiheit berufen können, sofern sie in der Europäischen Union ansässig sind. Teilweise wird aber auch eine mittelbare Wirkung sämtlicher Grundfreiheiten für in Drittstaaten ansässige Unternehmen angenommen550. Problematisch ist allerdings, ob das Diskriminierungsverbot aus Art. 18 AEUV auch auf Angehörigen von Drittstaaten anwendbar ist551. Der Europäische Gerichtshof hat diese Frage bisher nicht eindeutig entschieden552. Zwar hat er Diskriminierungen von Drittstaatsangehörigen bereits als gemeinschaftsrechtskonform angesehen553. Dennoch hat er Art. 18 AEUV nie so ausgelegt, dass dieser ausschließlich zugunsten von Unionsbürgern anzuwenden sei554. So verliert ein Angehöriger eines Drittstaates, der aufgrund doppelter Staatsbürgerschaft auch Staatsangehöriger eines Mitgliedstaates ist, den durch Art. 18 AEUV gewährten Schutz auch dann nicht, wenn er seinen Wohnsitz außerhalb der Union einnimmt555. Auch hat das Gericht die Ausdehnung bestimmter Politiken auf Drittstaatler anerkannt556. Demnach scheint ein grundsätzlicher Ausschluss von Drittstaatlern vom Anwen-

546  D. Ehlers,

in: ders., EuGR, § 7 Rn. 50. in: ders., EuGR, § 7 Rn. 50. 548  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7 Rn. 50; vgl. ferner RL 2004 / 38, Art. 12 VO 1612 / 68. 549  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7 Rn. 50. 550  J. Sedemund, BB 2006, 2781 (2785). 551  Ablehnend M. Holoubek, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art.  18 AEUV Rn. 36; zum Meinungsstand C. Hublet, ELJ 15 (2009), 757 (762 f.). 552  A. v. Bogdandy, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, EU I, Art. 18 AEUV (2010), Rn. 30. 553  Etwa EuGH, Slg. 1982, 3949 Rn. 11 (Dorca Marina). 554  A. v. Bogdandy, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, EU I, Art. 18 AEUV (2010), Rn. 31. 555  EuGH, Slg. 1997, I-5325 Rn. 15 (Saldanha); Slg. 2004, I-2703 Rn. 65 ff. (Collins); Slg. 1992, I-4239 Rn. 21 (Micheletti). 556  EuGH, Slg. 1987, 3203 Rn. 16 (Deutschland u. a. . / . Kommission); so auch A. v. Bogdandy, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, EU I, Art. 18 AEUV (2010), Rn. 31. 547  D. Ehlers,



B. Die Grundfreiheiten181

dungsbereich des Art. 18 AEUV eher zweifelhaft557. Seinem Wortlaut nach verbietet Art. 18 AEUV Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit, ohne eine Beschränkung auf die Mitgliedstaaten vorzunehmen. Im Gegensatz dazu knüpfen etwa die Art. 45 Abs. 2, Art. 49 Abs. 1 und Art. 56 AEUV ausdrücklich an die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der Europäischen Union an558. Dennoch kann eine allgemeine Gleichstellung nicht beabsichtigt sein, da dann eine differenzierende Behandlung von Drittstaaten kaum mehr möglich wäre, da mit ihr zumeist die Diskriminierung des Drittstaatsangehörigen einhergeht559. Damit würde jedoch die Zielsetzung der Europäischen Union, die den Mitgliedstaaten und ihren Angehörigen besondere Rechte zukommen lässt, unterlaufen. Die Mitgliedstaaten haben sich jedoch gerade unter der Voraussetzung der Gegenseitigkeit bestimmte Rechte eingeräumt560. Art. 18 AEUV normiert daher keine Verpflichtung, Drittländer beziehungsweise Drittstaatsangehörige untereinander gleich zu behandeln561. Aufgrund dieser Überlegungen wird eine Differenzierung bezüglich der Anwendbarkeit des Art. 18 AEUV auf Drittstaatler erwogen562. Maßgeblich soll hier der Anwendungsbereich des Unionsrechts sein. Dieses regelt die Rechtsstellung von Drittstaatsangehörigen weit weniger umfangreich als diejenige der Unionsangehörigen. Dementsprechend sollen diskriminierende Maßnahmen gegenüber Drittstaatlern dann verboten sein, soweit sie sich in einer unionsrechtlich geregelten Situation befinden563. Bei personenbezogenen Diskriminierungsverboten muss die Diskriminierung den Drittstaatsangehörigen somit in einer durch sekundäres Unionsrecht eingeräumten Position betreffen564. Im Übrigen kommt eine Einbeziehung von Drittstaatlern nur in

557  A. v. Bogdandy, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, EU I, Art. 18 AEUV (2010), Rn. 31. 558  A. v. Bogdandy, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, EU I, Art. 18 AEUV (2010), Rn. 31. 559  A. v. Bogdandy, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, EU I, Art. 18 AEUV (2010), Rn. 31; im Ergebnis zustimmend M. Holoubek, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 18 AEUV Rn. 36. 560  A. v. Bogdandy, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, EU I, Art. 18 AEUV (2010), Rn. 31. 561  M. Holoubek, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 18 AEUV Rn. 36. 562  A. v. Bogdandy, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, EU I, Art. 18 AEUV (2010), Rn. 32. 563  A. v. Bogdandy, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, EU I, Art. 18 AEUV (2010), Rn. 32. 564  M. Holoubek, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 18 AEUV Rn. 37; A. v. Bogdandy, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, EU I, Art. 18 AEUV (2010), Rn. 32.

182

3. Kap.: Auf europarechtlicher Ebene

Betracht, soweit sachbezogene Bestimmungen wie der Warenhandel oder der Kapitalverkehr betroffen sind565. d) Räumlicher Geltungsbereich der Grundfreiheiten Weitere Voraussetzung für die Anwendbarkeit der Grundfreiheiten ist, dass sich der streitgegenständliche Sachverhalt im räumlichen Geltungsbereich der Grundfreiheiten ereignet. Dieser umfasst das Gebiet der Europäischen Union. Dieser räumliche Geltungsbereich wird durch Art. 52 EUV und Art. 355 AEUV genauer festgelegt. Nach diesen Vorschriften besteht das Gebiet der Europäischen Union aus dem Gebiet der Mitgliedstaaten. Der Geltungsbereich bestimmt sich also nach dem Staatsgebiet der Mitgliedstaaten. Damit ist der Teil der Erdoberfläche, des darunter befindlichen Bodens, des Luftraums und der Gewässer erfasst, über den der Mitgliedstaat nach völkerrechtlichen Grundsätzen die Gebietshoheit ausübt566.

III. Juristische Personen des öffentlichen Rechts aus Drittstaaten Auf der Grundlage des Vorstehenden ist nun zu untersuchen, inwieweit sich Drittstaaten und ihre juristischen Personen des öffentlichen Rechts – also insbesondere ihre öffentlichen und gemischtwirtschaftlichen Unternehmen – auf die Grundfreiheiten berufen können. Zu unterscheiden ist hier zunächst zwischen den Personenverkehrsfreiheiten und den Produktfreiheiten. 1. Personenverkehrsfreiheiten Für die Frage nach der Berechtigung aus den Personenverkehrsfreiheiten ist Art. 54 AEUV ohne weiteres anwendbar, sodass zu prüfen ist, ob Drittstaaten und ihre juristischen Personen die von Art. 54 AEUV aufgestellten Voraussetzungen erfüllen können. Damit kommt eine Berechtigung aus den Grundfreiheiten für Drittstaaten selbst grundsätzlich nicht in Betracht. Zwar handelt es sich bei diesen grundsätzlich um Gesellschaften im Sinne des Art. 54 Abs. 1 AEUV, da sie als juristische Personen des öffentlichen Rechts von der Aufzählung in Art. 54 Abs. 2 AEUV erfasst sind. Jedoch ist schon problematisch, ob Drittstaaten selbst einem Erwerbszweck nachgehen. Grundsätzlich wird davon auszuge565  A. v. Bogdandy, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, EU I, Art. 18 AEUV (2010), Rn. 32. 566  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7 Rn. 65.



B. Die Grundfreiheiten183

hen sein, dass ein Staat selbst keiner wirtschaftlichen Tätigkeit nachgeht. Sollte dies jedoch in Ausnahmefällen anders sein, ist eine Berechtigung aus den Grundfreiheiten mangels Zugehörigkeit zur Europäischen Union dennoch abzulehnen. Nach der ausdrücklichen Regelung des Art. 54 Abs. 1 AEUV ist nur solchen Gesellschaften eine Berechtigung einzuräumen, die in einem Zusammenhang mit der Europäischen Union stehen. Ein solcher Bezug ist aber für einen Drittstaat abzulehnen, da er schon aus der Natur der Sache heraus weder einen Sitz noch eine Hauptverwaltung oder Hauptniederlassung innerhalb der Union aufweisen kann. Anders ist die Grundfreiheitenberechtigung für sonstige juristische Personen des öffentlichen Rechts eines Drittstaates – insbesondere für dessen öffentliche und gemischtwirtschaftliche Unternehmen – einzuordnen. Als juristische Personen sind diese grundsätzlich von Art. 54 AEUV erfasst. Einschränkend verlangt wird für die Einbeziehung öffentlicher Unternehmen in den Schutz der Grundfreiheiten, dass diese keine Hoheitsgewalt ausüben. Dieses Erfordernis ist für juristische Personen von Drittstaaten aber erfüllt, da der Drittstaat nach der völkerrechtlichen Vermutung ohnehin nur auf seinem eigenen Staatsgebiet Hoheitsgewalt ausübt. Außerdem verfolgen gerade öffentliche und gemischtwirtschaftliche Unternehmen zumeist unproblematisch einen Erwerbszweck im Sinne des Art. 54 Abs. 2 AEUV. Diese werden zumeist gerade aus wirtschaftlichen Interessen innerhalb der Europäischen Union tätig und handeln damit entgeltlich. Jedenfalls aber besteht für sie die Möglichkeit, erwerbswirtschaftlich tätig zu werden und so in einem für die Grundfreiheiten relevanten Bereich zu agieren. Maßgeblich ist damit, ob die juristische Person das Erfordernis der Zugehörigkeit zur Europäischen Union erfüllt. Dazu muss sie nach dem Recht eines Mitgliedstaates gegründet worden sein und entweder ihren Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Europäischen Union haben. Für die Ausübung der sekundären Niederlassungsfreiheit ist zudem die Ansässigkeit der juristischen Person innerhalb der Europäischen Union erforderlich. Sind diese Voraussetzungen ebenfalls erfüllt, kann sich die juristische Person – das öffentliche oder gemischt-wirtschaftliche Unternehmen – ohne weiteres auf die Personenverkehrsfreiheiten berufen. 2. Produktverkehrsfreiheiten Für die Produktverkehrsfreiheiten ist umstritten, ob sich die Berechtigung ebenfalls an Art. 54 AEUV misst. Grundsätzlich stehen die Produktverkehrsfreiheiten auch Drittstaatlern zu567. Es wird dementsprechend vertreten, dass 567  S. o.

unter II. 2. c.

184

3. Kap.: Auf europarechtlicher Ebene

die Beschränkung aus Art. 54 Abs. 1 AEUV trotz ihrer grundsätzlichen Übertragbarkeit auf die Produktverkehrsfreiheiten hinter diese schutzbereichsimmanente Erweiterung zurücktritt. Die Übertragung des Art. 54 Abs. 1 AEUV dürfe nicht die Konzeption der Produktverkehrsfreiheiten antasten. Der erforderliche Unionsbezug bestehe vielmehr schon dann, wenn Drittstaatler, aber auch Unionsbürger beziehungsweise ihre juristischen Personen an dem jeweiligen Sachverhalt beteiligt sind568. Danach wäre es für die Anwendbarkeit der Warenverkehrsfreiheit ausreichend, wenn eine juristische Person des öffentlichen Rechts eines Drittstaates oder dieser selbst von einer juristischen Person eines Mitgliedstaates etwas erwirbt. Dafür spreche schon der Schutzzweck der Produktverkehrsfreiheiten, da diese Bewegungen auf dem Binnenmarkt schützten, unabhängig davon, ob diese innerhalb oder außerhalb der Union ausgelöst werden. Insofern sei eine teleologische Reduktion des Art. 54 AEUV vorzunehmen, mit der Folge, dass seine Voraussetzungen auf die jeweilige Grundfreiheit angepasst werden569. Teilweise wird aber auch vertreten, die Produktverkehrsfreiheiten seien nicht auf Drittstaatler zu erstrecken, da viele wirtschaftliche Vorgänge gleichzeitig Elemente der Produkt- und der Personenverkehrsfreiheit enthielten. Damit wären sie ohnehin an Art. 54 AEUV zu messen. Ansonsten würde dann auch der Schutzbereich der Personenverkehrsfreiheiten entgegen Art. 54 AEUV erweitert570. Außerdem sei zumeist ohnehin die Niederlassungsfreiheit gleichzeitig betroffen, so dass die beiden Grundfreiheiten aufgrund eines unterschiedlichen räumlichen Anwendungsbereichs nicht zu anderen Berechtigten führen könnten571. Dagegen wird der klare Wortlaut des Art. 63 AEUV angeführt, der Drittstaaten und ihre Angehörigen gerade in den Schutz der Produktverkehrsfreiheiten einbezieht572. Hält man auch für eine Erstreckung des Schutzes aus den Produktverkehrsfreiheiten das Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 54 Abs. 1 AEUV für erforderlich, so können juristische Personen aus Drittstaaten bei Vorliegen dieser Voraussetzungen grundfreiheitenberechtigt sein. Das zu den Personenverkehrsfreiheiten Gesagte gilt dann entsprechend. Verzichtet man allerdings auf eine Erstreckung des Art. 54 AEUV auf juristische Personen aus Drittstaaten, so können sich diese ohne weitere Einschränkungen auf die Produktverkehrsfreiheiten berufen. Für diese Auffassung spricht, dass der AEUV für die Produktverkehrsfreiheiten keine aus568  W.

Frenz, Handbuch I, Rn. 298. Frenz, Handbuch I, Rn. 299. 570  T. Kingreen, Struktur, S. 79. 571  T. Kingreen, Struktur, S. 79. 572  W. Frenz, Handbuch I, Rn. 301. 569  W.



B. Die Grundfreiheiten185

drückliche Einschränkung vorsieht. So schützt Art. 63 Abs. 1, Abs. 2 AEUV ausdrücklich auch den Kapital- und Zahlungsverkehr mit dritten Ländern. Es ist nicht ersichtlich, warum dies eine Einschränkung erfahren sollte, wenn sich juristische Personen auf diese Freiheit berufen. Zudem entspricht ein weites Verständnis des Schutzbereiches der Produktverkehrsfreiheiten auch gerade dem Schutzzweck der Grundfreiheiten. Ein freier Binnenmarkt erhält seine Funktionsfähigkeit gerade dann, wenn er nicht durch die Grenzen der Europäischen Union beschränkt wird und insbesondere der Kapital- und Produktfluss aus Drittstaaten ermöglicht wird. Zudem handelt es sich bei den Produktverkehrsfreiheiten um personenunabhängige Freiheiten, so dass es widersprüchlich scheint, den Schutz dennoch personenbezogen zu begrenzen. 3. Vereinbarkeit mit Schutzzweck und weitere Einschränkungen? Die grundsätzliche Möglichkeit für juristische Personen des öffentlichen Rechts, sich auf die Grundfreiheiten zu berufen, soweit sie einen Erwerbszweck verfolgen und durch die Gründung nach dem Recht eines Mitgliedstaates und das Innehaben ihres Sitzes innerhalb der Union mit dieser verbunden sind, entspricht dem Schutzzweck der Grundfreiheiten. Der Binnenmarkt steht „als zentrales Integrationsziel und -konzept der Europäischen Union“ im Fokus der Grundfreiheiten573. Das zentrale Anliegen des Binnenmarktes im Sinne des Art. 26 AEUV liegt darin, den Unionsbürgern und Marktteilnehmern der Union ökonomisch rationale Entscheidungen unter weitgehendem Ausschluss staatlicher Einflussnahme zu ermöglichen574. Dies steht der Annahme einer Berechtigung nicht entgegen, soweit die agierende juristische Person den notwendigen Bezug zur Europäischen Union aufweist und innerhalb dieser wirtschaftlich tätig wird. Da ohnehin eine Berechtigung juristischer Personen des öffentlichen Rechts angenommen wird, soweit diese sich nicht bezüglich der Ausübung von Hoheitsgewalt auf die Grundfreiheiten berufen, können auch keine sonstigen Argumente gegen die Grundfreiheitenberechtigung herangezogen werden, da die juristischen Personen im Gebiet der Europäischen Union gerade keine Hoheitsgewalt ausüben. Anders als etwa bei den Charta-Grundrechten oder den Grundrechten des Grundgesetzes ist hier keine Entwertung des Schutzniveaus zu befürchten, weil nach der Konzeption der Grundfreiheiten gerade nicht vorrangig natürliche Personen geschützt werden.

573  C.

Tietje, in: Ehlers, EuGR, § 10 Rn. 1. Tietje, in: Ehlers, EuGR, § 10 Rn. 2; J. Bast, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, EUV / AEUV, Art. 26 AEUV (2010), Rn. 12; vgl. auch Art. 120 AEUV. 574  C.

186

3. Kap.: Auf europarechtlicher Ebene

IV. Fazit Die Annahme einer Berechtigung aus den Grundfreiheiten ist für juristische Personen des öffentlichen Rechts eines Drittstaates grundsätzlich möglich, soweit die übrigen von Art. 54 AEUV vorgegebenen Voraussetzungen erfüllt sind. Aufgrund der Ausrichtung der Grundfreiheiten als Ausdruck des freien Binnenmarktes findet bezüglich der Berechtigung eine weitreichende Unterscheidung zwischen juristischen Personen des Privatrechts und solchen des Öffentlichen Rechts nicht statt. Dies spiegelt deutlich den Schutzzweck und die Ausrichtung der Grundfreiheiten wieder. Denn maßgeblich für die Gewährung des grundfreiheitlichen Schutzes ist hier allein die Gewährleistung eines freien Binnenmarktes, es steht nicht der individualrechtliche Schutz im Vordergrund. Denkbar ist darüber hinaus auch eine Erweiterung des Kreises der aus den Grundfreiheiten Berechtigten durch völkerrechtliche Verträge575. Die juristische Person des Drittstaates beziehungsweise dieser selbst könnte sich auf das Bestehen bilateraler Verträge mit der Europäischen Union berufen576. Einen Sonderfall stellen hier Gesellschaften dar, die in den gem. Art. 198 ff. AEUV mit der Europäischen Union assoziierten Überseeischen Ländern und Hoheitsgebieten nach einem dort geltenden off-shore-Gesellschaftsrecht gegründet wurden577. Im Übrigen entspricht es der herrschenden Meinung, dass sich juristische Personen, die selbst nicht zur Europäischen Union gehören, auch nicht auf die Grundfreiheiten berufen können578. Jedoch bleibt es ihnen unbenommen, innerhalb der Europäischen Union und nach dem Recht eines Mitgliedstaates Tochtergesellschaften zu gründen579. Zudem kann sich die juristische Person auf das Recht zum Marktzugang nach den Regeln des internationalen Rechts berufen580.

C. Die Europäische Menschenrechtskonvention Im Unionsrecht kommt zudem der EMRK große Bedeutung bezüglich des Grundrechtsschutzes zu. Gemäß Art. 59 Abs. 1 EMRK ist der Beitritt zur Konvention nur den Mitgliedern des Europarates möglich. Nach der neueren 575  W. 576  P. 577  P. 578  P. 579  P. 580  P.

Frenz, Handbuch I, Rn. 302 ff. Jung, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 54 AEUV Jung, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 54 AEUV Jung, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 54 AEUV Jung, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 54 AEUV Jung, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 54 AEUV

Rn. 18. Rn. 17. Rn. 18. Rn. 18. Rn. 18.



C. Die Europäische Menschenrechtskonvention187

Praxis sind die Staaten, die dem Europarat beitreten, verpflichtet, auch die EMRK zu unterzeichnen581. So sind alle 47 Mitgliedstaaten des Europarates auch Vertragsparteien der Konvention.582 Gemäß Art. 6 Abs. 1 EUV erkennt die Europäische Union die in der Grundrechtecharta garantierten Rechte, Freiheiten und Grundsätze an. Gemäß Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh haben die in der Grundrechtecharta garantierten Rechte denen der EMRK zu entsprechen, so dass die EMRK über den Vertrag über die Europäische Union auf das Unionsrecht einwirkt583. Art. 6 Abs. 2 EUV sieht vor, dass auch die Europäische Union selbst der EMRK beitritt. Das Beitrittsverfahren stagniert derzeit jedoch584. Der Europäische Gerichtshof setzte sich auf Antrag der Kommission in seinem Gutachten vom 18. Dezember 2014585 kritisch mit der Vereinbarkeit des Beitritts zur EMRK mit den Verträgen auseinander und moniert, dass ein Beitritt nicht mit Art. 6 Abs. 2 EUV und dem Protokoll (Nr. 8) zu Art. 6 Abs. 2 des Vertrags über die Europäische Union über den Beitritt der Union zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vereinbar sei586. Insbesondere sei sie geeignet, Merkmale und die Autonomie des Unionsrechts zu beeinträchtigen, da sie nicht sicherstelle, dass Art. 53 EMRK und Art. 53 der Charta aufeinander abgestimmt werden und so keine Vorkehrungen enthalte, um der Gefahr einer Beeinträchtigung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten im Unionsrecht zu begegnen, und keine Regelung des Verhältnisses zwischen dem durch das Protokoll Nr. 16 geschaffenen Mechanismus und dem in Art. 267 AEUV vorgesehenen Vorabentscheidungsverfahren vorsehe. Außerdem sei sie ist geeignet, Art. 344 AEUV zu beeinträchtigen, da sie die Möglichkeit nicht ausschließe, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte mit Rechtsstreitigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten oder zwischen ihnen und der Union zu befassen, die die Anwendung der EMRK im materiellen Anwendungsbereich des Unionsrechts betreffen. Zudem sehe sie keine Modalitäten des Mitbeschwerdegegner-Mechanismus und des Verfahrens der Vorabbefassung des Gerichtshofs vor, die gewährleisten, dass die besonderen Merkmale der Union und des Unionsrechts erhalten bleiben. Schließlich verstoße sie gegen die besonderen Merkmale des Unionsrechts in Bezug auf die gerichtliche Kontrolle der Handlungen, Aktionen oder Unterlassungen der Union im Bereich der 581  M. Wittinger, Der Europarat, S. 315 ff.; F. Arndt / A. Engels, in: Karpenstein /  Mayer, EMRK, Art. 59 (2015), Rn. 1. 582  F. Arndt / A. Engels, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 59 Rn. 1. 583  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 2 Rn. 21. 584  C. Walter, Zum Gutachten des EuGH gegen den Beitritt der Union zur EMRK, S.  145 (157 f.). 585  Gutachten 2 / 13 v. 18.12.2014, ECLI:EU:C:2014:2454 = EuGRZ 2015, 56. 586  Gutachten 2 / 13 v. 18.12.2014, ECLI:EU:C:2014:2454 Rn. 258.

188

3. Kap.: Auf europarechtlicher Ebene

Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, da sie die gerichtliche Kon­ trolle einiger dieser Handlungen, Aktionen oder Unterlassungen ausschließlich einem unionsexternen Organ anvertraue587. Das Gutachten selbst geriet jedoch ebenfalls in die Kritik. Es wird angeführt, der Europäische Gerichtshof wolle das Unionsrecht von äußeren Einflüssen abschirmen und seine eigene institutionelle Stellung schützen588. Dem Beitrittsvorhaben entsprechend öffnet auch Art. 59 Abs. 2 EMRK die Konvention für den Beitritt. Mit dem Beitritt der Europäischen Union würde die EMRK zur Rechtsquelle des Unionsrechts und bliebe nicht lediglich – wie vor dem Beitritt – Rechtserkenntnisquelle589. Die EMRK nimmt gemäß Art. 216 AEUV den Rang zwischen einfachem Recht und Verfassungsrecht ein590. In allen Konventionsstaaten kommt der EMKR innerstaatliche Geltung zu, so dass sie durchweg unmittelbar anwendbar ist591. Die EMRK ist ein multilateraler völkerrechtlicher Vertrag, der erstmalig die Beziehung zwischen Staaten und Individuen zum Gegenstand hat592. Die Individuen sind damit Subjekt der Regelungen und können ihre Rechte durch die Erhebung einer Individualbeschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte durchsetzen. Dies stellt eine Anerkennung der partiellen Völkerrechtssubjektivität von Individuen dar593. Insbesondere aufgrund der menschenrechtlichen Ausrichtung der EMRK stellt sich auch hier die Frage nach der Grundrechtsberechtigung von Drittstaaten und ihren juristischen Personen des öffentlichen Rechts.

I. Zielsetzung und Funktionen Wie schon aus der Bezeichnung als Menschenrechtskonvention hervorgeht, steht die individualrechtliche Prägung der EMRK im Zentrum der in ihr verankerten Rechte. So schützt die EMRK vorrangig die Freiheit des Einzelnen vor dem Staat. Dazu garantiert sie dem Einzelnen durch Abwehrrechte eine bestimmte Freiheitssphäre und räumt ihm einen Anspruch auf 587  Gutachten

2 / 13 v. 18.12.2014, ECLI:EU:C:2014:2454 Rn. 258. Walter, Zum Gutachten des EuGH gegen den Beitritt der Union zur EMRK, S. 145 (158). 589  T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 6 EUV Rn. 22; R. Streinz, Europarecht, Rn. 745. 590  T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 6 EUV Rn. 27. 591  T. Giegerich, Wirkung und Rang der EMRK in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG I, Kap. 2 Rn. 13. 592  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 2 Rn. 7. 593  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 2 Rn. 7. 588  C.



C. Die Europäische Menschenrechtskonvention189

Unterlassung rechtswidriger Eingriffe des Staates sowie auf Beseitigung bereits vollzogener Eingriffe ein594. Die Konvention enthält keinen allgemeinen Gleichheitssatz, doch sie verbietet durch Art. 14 EMRK Diskriminierungen bezüglich der in der Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten595. Es handelt sich mithin um ein akzessorisches Recht596. Zudem enthalten auch die Zusatzprotokolle besondere Gleichheitssätze. Die EMRK kennt zudem auch Leistungsrechte, die auf originäre oder derivative Teilhabe gerichtet sind597. Außerdem leitet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte aus den Konventionsrechten unter bestimmten Voraussetzungen Ansprüche des Einzelnen auf staatlichen Schutz ab598. Dabei kann es sich auch um rechtswidrige Eingriffe Privater in die Konventionsrechte handeln599. Diese Schutzpflichten binden den Staat nicht nur in objektiv-rechtlicher Hinsicht, vielmehr korrespondieren mit ihnen auch subjektive Rechte der Betroffenen600. Die Konvention gewährleistet ferner Verfahrensrechte, denen eine besondere Bedeutung zukommt601. Außerdem werden die Konventionsrechte als Elemente einer objektiven Rechtsordnung verstanden. Dementsprechend muss auch das nationale Recht konventionskonform ausgelegt werden602. Festzuhalten bleibt, dass die Konventionsrechte im Gegensatz zu anderen völkerrechtlichen Abkommen mehr als rein gegenseitige Verpflichtungen zwischen den Vertragsparteien beinhalten603. Aus ihnen folgen über die wechselseitigen bilateralen Verpflichtungen hinausgehend auch objektive Verpflichtungen der Konventionsparteien604.

594  D. Ehlers,

in: ders., EuGR, § 2 Rn. 26; L. Tian, Grundrechtsfunktionen, S. 29. in: ders., EuGR, § 2 Rn. 27. 596  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 2 Rn. 27. 597  W. Martens, VVDStRL 30 (1971), 7 (21 ff.); D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 2 Rn. 28. 598  EGMR, Urt. v. 3.6.2014 – 10280 / 12 (López Guió . / . Slovakei); dazu P. Szczekalla, Schutzpflichten, S.  712 ff. m. w. N.; D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 2 Rn. 31. 599  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 2 Rn. 31. 600  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 2 Rn. 31. 601  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 2 Rn. 37. 602  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 2 Rn. 40. 603  C. Johann, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 1 Rn. 4. 604  EGMR, Urt. v. 18.1.1978 – 5310 / 71 Rn. 239 (Irland . / . Vereinigtes Königreich), EuGRZ 1979, 149 (159); C. Johann, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 1 Rn. 4. 595  D. Ehlers,

190

3. Kap.: Auf europarechtlicher Ebene

II. Berechtigte und Verpflichtete der Europäischen Menschenrechtskonvention Anhand der dargelegten Schutzrichtung ist auch für die EMRK zu untersuchen, wer durch die Grundfreiheiten verpflichtet wird und wen diese berechtigen. 1. Verpflichtete Da Art. 1 EMRK die der Hoheitsgewalt der Vertragsstaaten unterliegenden Personen aus den Konventionsrechten berechtigt, folgt im Umkehrschluss, dass die Konventionsstaaten aus der Konvention verpflichtet werden605. Damit reicht die Verpflichtung der Staaten soweit wie ihre Hoheitsgewalt606. Die Hoheitsgewalt eines Staates bestimmt sich im Wesentlichen territorial und bezieht sich grundsätzlich auf sein Staatsgebiet607. Als Vertragsstaaten gelten alle Staaten des Europarates, die die EMRK und ihre Zusatzprotokolle ratifiziert haben608. Eine direkte völkerrechtliche Bindung der Vertragsstaaten besteht hingegen nicht609. Nach einem Beitritt wäre auch die Europäische Union selbst gebunden. Die Bindung betrifft alle Staatsgewalten und alle Träger von Staatsgewalt, so dass sämtliche staatlichen Institutionen gebunden sind610. Somit sind insbesondere die Bundesländer und Gebietskörperschaften gebunden611. Unerheblich ist, in welcher Rechtsform sie handeln612. Die Verantwortlichkeit für einem Staat zurechenbare Konventionsverletzungen liegt jedoch bei der Konventionspartei, unabhängig davon, welches innerstaatliche Organ für den Verstoß ursächlich war613.

605  V. Röben, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG I, Kap. 5 Rn. 74; C. Johann, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 1 Rn. 10; D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 2 Rn. 46. 606  J. Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 1 Rn. 5. 607  J. Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 1 Rn. 5. 608  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 2 Rn. 46. 609  C. Grabenwarter / K. Pabel, EMRK, § 17 Rn. 6; C. Johann, in: Karpenstein /  Mayer, EMRK, Art. 1 Rn. 10. 610  J. Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 1 Rn. 6. 611  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 2 Rn. 46; a. A. C. Johann, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 1 Rn. 10, der aus der Konvention selbst nicht die Bindung der Staats­ organe herleitet, diese ergebe sich vielmehr aus Art. 20 Abs. 3 GG. 612  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 2 Rn. 46. 613  EGMR, Urt. v. 8.4.2004  – 71503 / 01 Rn. 146 (Assanidze), NJW 2005, 2207 (2210); C. Johann, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 1 Rn. 10.



C. Die Europäische Menschenrechtskonvention191

Die Konventionsstaaten können sich durch die Übertragung von Verpflichtungen auf private Einrichtungen oder Privatpersonen nicht aus ihrer konventionsrechtlichen Bindung entziehen614. Auch Beliehene und Privatrechtssubjekte, hinter denen unmittelbar oder mittelbar allein der Staat steht, sind durch die Konvention gebunden615. Alle Akte von Personen, die in offizieller Eigenschaft tätig werden, sind dem Konventionsstaat zuzurechnen616. Gleiches gilt für vom Staat beherrschte gemischt-wirtschaftliche Unternehmen617. Unbeachtlich ist außerdem, ob der Staat in öffentlich-rechtlicher oder privatrechtlicher Form handelt618. Religionsgemeinschaften und Rundfunkanstalten sind hingegen von der Bindung ausgenommen, soweit sie der Sphäre der Privaten zugeordnet werden können619. Der Staat ist selbst dann für Konventionsverletzungen verantwortlich, wenn er auf die Verletzung keinen Einfluss hatte, etwa wenn ein Amtsträger weisungswidrig gehandelt hat620. Keine Zurechnung erfolgt jedoch, wenn ein Organ eindeutig außerhalb des Amtsauftrages handelt621. Verantwortlich sind die Konventionsstaaten zudem für Handlungen, die mit ihrem aus­ drücklichen oder stillschweigenden Einverständnis in ihrem Hoheitsgebiet von Organen von Drittstaaten wahrgenommen werden622. Außerdem sind sie allgemein verpflichtet, Verletzungen von Konventionsrechten zu verhindern623. Auch Duldungen und Unterlassungen des Staates können zu einer Verletzung der Konvention führen624. Außerdem sollen auch Verstöße der Konventionsstaaten gegen supranationales Recht an der EMRK gemessen wer614  EGMR, Urt. v. 25.3.1993  – 13134 / 87 Rn. 27 (Costello-Roberts); Urt. v. 1.3.2005  – 22860 / 02 Rn. 49 (Wós); Urt. v. 11.10.2005  – 4773 / 02 Rn. 53 (Sychev  – Gläubigerausschuss). 615  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 2 Rn. 46. 616  J. Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 1 Rn. 6. 617  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 2 Rn. 46. 618  C. Grabenwarter / K. Pabel, EMRK §  17 Rn. 7; C. Johann, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 1 Rn. 11. 619  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 2 Rn. 46. 620  EGMR, Urt. v. 18.1.1978  – 5310 / 71 Rn. 150 ff. (Irland . / . Vereinigtes Königreich), EuGRZ 1979, 149 (152 f.). 621  EGMR, Urt. v. 27.5.2010 – 39326 / 02 Rn. 33 (Celik). 622  EGMR, Urt. v. 13.12.2012 (GK)  – 39630 / 09 Rn. 206 (El Masri), NVwZ 2013, 631; Urt. v. 24.7.2014 – 28761 / 11 Rn. 452, 517 (Al Nashiri); Urt. v. 24.7.2014 – 7511 / 13 Rn. 449, 512 (Abu Zubaydah). 623  EGMR, Urt. v. 8.7.2004  – 48787 / 99 Rn. 332 ff. (Ilascu u.a . / . Moldau u. Russland), NJW 2005, 1849 (1851 f.). 624  J. A. Frowein, in: ders. / Peukert, EMRK, Art. 1 Rn. 15; D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 2 Rn. 46.

192

3. Kap.: Auf europarechtlicher Ebene

den625. Ein Staat ist hingegen nicht für die Ausübung hoheitlicher Gewalt auf seinem Territorium verantwortlich, wenn ein anderer Staat diese Hoheitsgewalt ausübt. Die konventionsrechtliche Verantwortlichkeit liegt in diesem Fall bei dem handelnden Staat, sofern dieser auch der Konvention angehört626. Denn nach Maßgabe der EMRK ist der Staat verantwortlich, der die Grenze überschritten hat, die Zurechnung erfolgt nicht aufgrund des Territoriums627. Allerdings unterliegt das extraterritoriale Handeln eines Staates grundsätzlich nicht der Bindung an die EMRK, da der Begriff der Hoheitsgewalt im Sinne des Art. 1 EMRK territorial zu verstehen sei; die EMRK sei grundsätzlich nicht auf das Verhalten von Vertragsstaaten weltweit anzuwenden628. Zudem sind die Organe des Europarates selbst an die Konvention und ihre Zusatzprotokolle gebunden, denn die EMRK wurde auf Grundlage der Satzung des Europarates erlassen629. Der Europarat ist dementsprechend verpflichtet, ausschließlich solche Mitglieder aufzunehmen, die im Prinzip die in der EMRK positivierten Menschenrechte anerkennen630. Weitere internationale und supranationale Organisationen sind nicht unmittelbar an die Konvention gebunden, auch wenn sie im räumlichen Geltungsbereich der Konvention Hoheitsrechte ausüben631. Gemäß Art. 59 Abs. 1 EMRK ist der Beitritt nur den Mitgliedern des Europarates und damit im Einklang mit Art. 4 und Art. 5 der Satzung des Europarates nur Staaten erlaubt. Gemäß Art. 59 Abs. 2 EMRK kann jedoch die Europäische Union der EMRK beitreten. Im Falle eines Beitritts kann auch gegen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs Beschwerde eingelegt werden632. Nicht unmittelbar an die Konvention gebunden sind internationale und supranationale Organisationen. Da eine solche Organisation nicht Vertragspartei ist, ist sie auch dann nicht aus der Konvention für das Handeln ihrer Organe verantwortlich, wenn ihr eine Vertragspartei Hoheitsgewalt übertragen hat633. 625  EGMR, Urt. v. 23.3.1999 – 41358 / 98 (Desmots); Urt. v. 7.9.1999 – 38399 / 97 (Dotta); Urt. v. 16.4.2002 – 36677 / 97 Rn. 49 ff., (S.A. Jacquers Dangeville), EuGRZ 2007, 671 (675 f.); M. Breuer, JZ 2003, 433 (442). 626  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 2 Rn. 47. 627  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 2 Rn. 47. 628  EGMR, Urt. v. 12.12.2001 – 52207 / 99 Rn. 80, NJW 2003, 413 (417) (Bankovic). 629  K. J. Partsch, in: Bettermann / Neumann / Nipperdey, Grundrechte I / 1, S. 235 (299 f.); D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 2 Rn. 50. 630  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 2 Rn. 50. 631  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 2 Rn. 51. 632  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 2 Rn. 51. 633  EGMR, Urt. v. 18.2.1999  – 24833 / 94 Rn. 32 (Matthews), NJW 1999, 3107 (3108); Urt. v. 30.6.2005  – 45036 / 98 Rn. 152 (Bosphorus), NJW 2006, 197 (202); Urt. v. 26.11.2013 – 5809 / 08 Rn. 114 (Al-Dulimi u. Montana Management Inc.).



C. Die Europäische Menschenrechtskonvention193

Problematisch ist hingegen, ob solche Konventionsstaaten, die den nicht gebundenen internationalen oder supranationalen Organisationen beigetreten sind, dann auch nicht mehr für ihr Handeln verantwortlich gemacht werden können634. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat dazu festgestellt, dass ein Konventionsstaat nicht allein aufgrund des Handelns im Rahmen einer solchen Organisation von seiner konventionsrechtlichen Verantwortlichkeit befreit ist635. Die Verpflichtung zur Einhaltung der Konventionsrechte bestehe fort636. So bleibt der Mitgliedstaat verantwortlich für die Einhaltung der Konventionsrechte und muss sicherstellen, dass die internationale oder supranationale Rechtsordnung einen der EMRK mindestens gleichwertigen Standard gewährt637. Damit bleibt auch im Verhältnis zum Europäischen Unionsrecht die Verantwortlichkeit des Staates bestehen638. Für das Unionsrecht wird allgemein angenommen, dass der dort gewährte Grundrechtsschutz gleichwertig ist639. Die Konventionsrechte entfalten keine unmittelbare Drittwirkung gegenüber Privatpersonen640. Dies ergibt sich schon aus Art. 1 EMRK. Art. 33 und Art. 34 EMRK sprechen ebenfalls für diese Auffassung, da sie nur Beschwerden aufgrund einer Konventionsverletzung durch eine Vertragspartei zulassen641. Allerdings strahlen viele Konventionsrechte auf das Privatrecht aus642. Wie bereits dargelegt, besteht auch ein Anspruch Privater auf Schutz vor rechtswidrigen Eingriffen durch andere Private.

634  D. Ehlers,

in: ders., EuGR, § 2 Rn. 52. Urt. v. 11.11.1996 – 17862 / 91 Rn. 30 (Cantoni). 636  EGMR, Urt. v. 18.2.1999 – 28934 / 95 Rn. 57 (Beer u. Regan); Urt. v. 18.2.1999 – 24833 / 94 Rn. 32 (Matthews), NJW 1999, 3107 (3108); Urt. v. 11.6.2013 – 65542 / 12 Rn. 163 (Stichting); C. Grabenwarter / K. Pabel, EMRK, § 17 Rn. 8; C. Johann, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 1 Rn. 13. 637  EGMR, Urt. v. 30.6.2005  – 45036 / 98 Rn. 155 (Bosphorus), NJW 2006, 197 (202); Urt. v. 9.9.2008 – 73250 / 01 (Boivin); Urt. v. 16.6.2009 – 40382 / 04 (Rambus), EuGRZ 2010, 174 (176); Urt. v. 16.6.2009 – 36099 / 06 (Beygo); Urt. v. 21.1.2011 – 30696 / 09 Rn. 338 (M.S.S.), EuGRZ 2011, 243 (249); Urt. v. 9.10.2012  – 33917 / 12 Rn. 76 ff. (Djokabe Lambi Longa). 638  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 2 Rn. 53; weitergehend W. Michl, Überprüfung, S.  47 ff. 639  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 2 Rn. 53. 640  So auch J. A. Frowein, in: ders. / Peukert, EMRK, Art. 1 Rn. 16; C. Grabenwarter / K. Pabel, EMRK § 19 Rn. 8; J. Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 1 Rn. 10; V. Röben, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG I, Kap. 5 Rn. 146; C. Johann, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 1 Rn. 9; P. Szczekalla, Schutzpflichten, S. 900 ff. 641  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 2 Rn. 58. 642  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 2 Rn. 58. 635  EGMR,

194

3. Kap.: Auf europarechtlicher Ebene

2. Berechtigte Nach Art. 1 EMRK sind alle Personen konventionsrechtsberechtigt, die der Hoheitsgewalt eines Vertragsstaates unterstehen. Für die Annahme einer Konventionsrechtsberechtigung muss der Betroffene abstrakt Subjekt der Rechte der EMRK sein können und sich in einem Rechtsverhältnis zu einem durch die EMRK verpflichteten Hoheitsträger befinden643. Auf die Staatsangehörigkeit kommt es dabei entsprechend der Schutzkonzeption der EMRK prinzipiell nicht an644. Vielmehr stehen die Rechte der EMRK allen Personen zu, die im Einzelfall der Staatsgewalt eines Vertragsstaats unterworfen sind645. Damit handelt es sich bei den meisten Konventionsrechten um Menschenrechte im klassischen Sinne. So können sich neben den Angehörigen der Vertragsstaaten auch Angehörige von Drittstaaten und Staatenlose auf die EMRK berufen646. Der am Individuum und seinem überpositiven Würdeanspruch anknüpfende Ansatz der EMRK erfordert diese weite Berechtigung647. Jedoch kann sich aus dem Schutzgehalt der einzelnen Konventionsrechte eine Einschränkung ergeben648. a) Personen im Sinne des Art. 1 EMRK Problematisch ist zunächst, was die EMRK unter einer „Person“ versteht. Dies lässt sich aus Art. 34 EMRK und dem Recht der Individualbeschwerde herleiten649. Danach sind vorrangig natürliche Personen, aber auch nichtstaatliche Organisationen und Personenvereinigungen geschützt650. Für dieses Verständnis spricht auch, dass die EMRK eine klassisch menschenrechtliche Grundkonzeption verfolgt und so vorrangig natürliche Personen schützt651. 643  V.

Röben, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG I, Kap. 5 Rn. 14. Urt. v. 19.1.1989  – 14038 / 88 Rn. 149 (Soering); J. A. Frowein, in: ders. / Peukert, EMRK, Art. 1 Rn. 3; C. Johann, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 1 Rn. 16; D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 2 Rn. 42; J. Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 1 Rn. 16. 645  V. Röben, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG I, Kap. 5 Rn. 23. 646  EGMR, Urt. v. 11.1.1961 – 788 / 60 (Österreich . / . Italien); V. Röben, in: Dörr /  Grote / Marauhn, EMRK / GG I, Kap. 5 Rn. 23; C. Johann, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 1 Rn. 16. 647  E. Stieglitz, Grundrechtsverständis, S. 41; V. Röben, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG I, Kap. 5 Rn. 23. 648  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 2 Rn. 42; C. Johann, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 1 Rn. 16; vgl. etwa Art. 12 EMRK. 649  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 2 Rn. 42. 650  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 2 Rn. 42; C. Johann, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 1 Rn. 17. 651  V. Röben, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG I, Kap. 5 Rn. 15 f. 644  EGMR,



C. Die Europäische Menschenrechtskonvention195

Gemäß Art. 34 Satz 1 EMRK sind auch Organisationen und Personenvereinigungen durch die EMRK geschützt, sofern sie nichtstaatlicher Provenienz sind652. So können sich juristische Personen des Privatrechts, die auch von Privaten getragen sind, auf die Konventionsrechte berufen653. Dies gilt unabhängig davon, ob sie mit Rechtsfähigkeit ausgestattet sind, nach welchem Recht sie organisiert wurden und wo sich ihr Sitz befindet654. Allerdings sind viele Konventionsrechte aufgrund ihrer Schutzbereiche so angelegt, dass sie ihrem Inhalt nach ohnehin nur auf natürliche Personen anwendbar sind655. Dennoch hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das Recht auf Achtung der Wohnung so ausgelegt, dass sich auch juristische Personen da­ rauf berufen können656. Juristische Personen sind hingegen nicht berechtigt, die Rechte ihrer Mitglieder geltend zu machen657. Unter bestimmten Voraussetzungen können sich juristische Personen auch nach ihrer Auflösung auf die Konventionsrechte berufen. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Auflösung Gegenstand oder Folge der behaupteten Verletzung ist658. Bereits aus dem Wortlaut des Art. 34 Satz 1 EMRK folgt, dass Staaten selbst keine Individualbeschwerde erheben und sich somit auch nicht auf die Konventionsrechte berufen können659. Damit stellt sich zunächst die Frage, wann eine Organisation als staatlich beziehungsweise nichtstaatlich anzusehen ist. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist eine Organisation als staatlich anzusehen, wenn diese an der Ausübung von Hoheitsgewalt teilnimmt oder unter staatlicher Kontrolle öffentliche Versorgungsaufgaben wahrnimmt. Dabei kommt es auf den innerstaatlichen Rechtsstatus und die damit verbundenen Befugnisse, sowie die Tätigkeit und deren Zusammenhang und das Maß der Unab­ hängigkeit von politischer Einflussnahme an660. Daraus ergibt sich, dass 652  D. Ehlers,

in: ders., EuGR, § 2 Rn. 44. in: ders., EuGR, § 2 Rn. 44. 654  K. J. Partsch, in: Bettermann / Neumann / Nipperdey, Die Grundrechte, Bd. I / 1, S. 295; G.-H. Gornig, Äußerungsfreiheit, S. 284; D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 2 Rn. 44. 655  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 2 Rn. 44. 656  EGMR, Urt. v. 16.12.1992  – 72 / 1991 / 324 / 396 Rn. 29 ff. (Niemitz), EuGRZ 1993, 65 (66 f.); Urt. v. 28. 4. 2005  – 41604 / 98 Rn. 32 (Buck), NJW 2006, 1495 (1496 f.); Urt. v. 9.4.2009  – 19856 / 04 Rn. 31 ff. (Kolesnichenko), NJW 2010, 2109 (2110 f.). 657  K. Rogge, EuGRZ 1996, 341 (343); W. Peukert, in: Frowein / ders., EMRK, Art. 34 Rn. 18; J. Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 34 Rn. 12. 658  W. Peukert, in: Frowein / ders., EMRK, Art. 34 Rn. 19. 659  K. Rogge, in: IntKomm EMRK, Art. 34 (2004) Rn. 136. 660  EGMR, Urt. v. 23.9.2003  – 53984 / 00 Rn. 26 (Radio France); Urt. v. 7.12.2006  – 35842 / 02 (Österreichischer Rundfunk); Urt. v. 13.12.2007  – 40998 / 98 Rn. 79 (Islamic Republic of Iran Shipping Lines . / . Türkei); Urt. v. 18.12.2008  – 653  D. Ehlers,

196

3. Kap.: Auf europarechtlicher Ebene

ein Staat selbst nicht als Person im Sinne des Art. 34 EMRK anzusehen ist661. Nach allgemeiner (deutscher) Ansicht sind damit auch sämtliche juristische Personen des öffentlichen Rechts als staatliche Organisationen grundsätzlich nicht konventionsrechtsberechtigt662. Für diese Ansicht wird auch das Regelungskonzept der EMRK angeführt, da dieses die individuelle Freiheit des Einzelnen vor dem Staat sichere663. Der Staat sei Verpflichteter und nicht Berechtigter der Konvention664. Dies gelte auch dann, wenn er sich privatrechtlicher Organisations- und Handlungsformen bedient665. Ausnahmen sind allerdings anerkannt für juristische Personen des öffentlichen Rechts, die einen durch die EMRK geschützten Freiheitsbereich ausfüllen, wie etwa Universitäten666, Rundfunkanstalten667 und Kirchen668. Begründet wird diese Ausnahme damit, dass es sich um gesellschaftliche Einrichtungen handle669, die nicht als genuin staatliche Organisationen klassifiziert werden könnten670. Für Gebietskörperschaften hingegen wird eine Konventionsrechtsberechtigung nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte abgelehnt, da es sich nicht um vom Staat unabhängige Einheiten handele671. Unerheblich sei, ob es sich um privaten Grundbesitz einer Körperschaft handele672. Für sonstige juristische Personen des öffentli-

20153 / 04 Rn. 54 (Unédic); Urt. v. 23.10.2010  – 50108 / 06 (Dösemealti Belediyesi), NVwZ 2011, 479 (479 f.); Urt. v. 16.2.2016 – 8895 / 10 Rn. 35. 661  K. Rogge, EuGRZ 1996, 341 (343). 662  E. Stieglitz, Grundrechtsverständnis, S. 39 f.; D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 2 Rn. 45. 663  V. Röben, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG I, Kap. 5 Rn. 48. 664  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 2 Rn. 45; J. Dereje, Staatsnahe Unternehmen, S. 211. 665  EGMR, Urt. v. 7.1.1991  – 15090 / 89 (Stadtverwaltung Madrid); W. Peukert, in: Frowein / ders., EMRK, Art. 34 Rn. 18. 666  P. Schäfer, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 34 Rn. 47; ablehnend U. Fink, EuGRZ 2001, 193 (197 ff.). 667  EGMR, Urt. v. 23.9.2003  – 53984 / 00 Rn. 26 (Radio France ); Urt. v. 7.12.2006 – 35482 / 02 (Österreichischer Rundfunk . / . Österreich); Urt. v. 29.3.2011 – 50084 / 06 (RTBF . / . Belgien); V. Röben, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG I, Kap. 5 Rn. 49; J. Gundel, in: Grabenwarter, EnzEuR II, § 2 Rn. 20. 668  St. Rspr. des EGMR, vgl. nur Urt. v. 5.12.2002  – 53871 / 00 (Islamische Religionsgemeinschaft e. V.); P. Schäfer, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 34 Rn. 45. 669  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 2 Rn. 45. 670  P. Schäfer, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 34 Rn. 45. 671  EGMR, Urt. v. 23.10.2010 ‒ (Dösemealti Belediyesi), NVwZ 2011, 479 (480). 672  EGMR, Urt. v. 18.5.2000  – 48391 / 99 und 48392 / 99 (Hatzitakis . / . Griechenland).



C. Die Europäische Menschenrechtskonvention197

chen Rechts wird nach den oben genannten, vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entwickelten Kriterien abgegrenzt673. Allerdings stellt die überwiegende (deutsche) Literatur bei der Auslegung des Art. 34 EMRK allein auf die amtliche deutsche Übersetzung des Art. 34 EMRK ab674. Jedoch sind die authentische englische (non-governmental organisation) und die authentische französische (organisation non gouvernementale) Sprachfassung von Art. 34 EMRK einer Auslegung vorrangig zugrunde zu legen, da sie die vom Konventionsgeber gewollte Fassung darstellen675. Sowohl der in der englischen Fassung verwendete Begriff nongovernmental als auch die französische Fassung non gouvernementale sind nicht mit dem in der deutschen Sprachfassung verwendeten Begriff „nichtstaatlich“ gleichzusetzen676. Der englische und der französische Begriff begrenzen den Kreis der Grundrechtsberechtigten lediglich auf Rechtssubjekte, die nicht der Regierung, also dem Kernbereich staatlichen Handelns, zuzuordnen sind. Aus der deutschen Sprachfassung hingegen ließe sich folgern, dass jeglicher Bezug zum Staat ausreicht, um einer juristischen Person den Grundrechtsschutz zu versagen. Nach der englischen und der französischen Fassung ist der Ausschluss von der Berechtigung jedoch auf Regierungsorgane zu beschränken. Diese sind dadurch gekennzeichnet, dass sie Hoheitsgewalt ausüben677. Nach diesem Ansatz wären etwa Kirchen, Universitäten und Rundfunkanstalten als Nichtregierungsorganisationen konventionsrechtsberechtigt, ohne dass es des Kunstgriffs der Ausnahmetrias bedürfte678. Ob eine juristische Person als Nichtregierungsorganisation einzuordnen ist, bestimmt sich danach, ob sie Hoheitsmacht ausübt und durch die Regierung kontrolliert wird679. Lediglich als ein Indikator für eine mögliche Kontrolle durch die Regierung sei heranzuziehen, ob die juristische Person dem öffentlichen oder dem privaten Recht zuzuordnen sei680. Dieser Zuordnung komme aber nur sekundäre Bedeutung zu681. Nach diesem zutreffenden Ansatz ist eine Berechtigung juristischer Perso-

673  EGMR, Urt. v. 28.6.1995  – 26114 / 95 ua. (Consejo General); Urt. v. 9.12.1994 – 13092 / 87 Rn. 49 (The Holy Monasteries). 674  So etwa W. Peukert, in: Frowein / ders., EMRK, Art. 34 Rn. 18 f. 675  K. Rogge, in: IntKommEMRK, Art. 34 Rn. 127. 676  So auch K. Rogge, in: IntKommEMRK, Art. 34 (2004), Rn. 127. 677  K. Rogge, in: IntKommEMRK, Art. 34 (2004), Rn. 136. 678  K. Rogge, in: IntKommEMRK, Art. 34 (2004), Rn. 137. 679  S. Barden, Grundrechtsfähigkeit, S. 185 ff.; C. Grabenwarter / K. Pabel, EMRK § 17 Rn. 5; C. Grabenwarter, European Convention on Human Rights, Art. 1 Rn. 5. 680  C. Grabenwarter, European Convention on Human Rights, Art. 1 Rn. 5. 681  C. Grabenwarter, European Convention on Human Rights, Art. 1 Rn. 5.

198

3. Kap.: Auf europarechtlicher Ebene

nen des öffentlichen Rechts etwa dann möglich, wenn diese unabhängig von der Regierung agieren682. Für die Konventionsstaaten besteht die Möglichkeit, nach Art. 33 EMRK eine Staatenbeschwerde zu erheben. Voraussetzung hierfür ist, dass sowohl Beschwerdeführer als auch Beschwerdegegner Vertragspartei der Konvention sind683. Beschwerdegegenstand kann jede behauptete Verletzung der Konvention und der Protokolle dazu sein. Damit ist die Staatenbeschwerde nicht auf die Geltendmachung von Verletzungen von Individualrechten beschränkt684. Art. 33 EMRK verdeutlicht so den objektiven Charakter der Konvention. Bei Privatrechtssubjekten mit staatlichen und privaten Anteilseignern – wie etwa gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen – wird wie im deutschen Recht auf das Beherrschungsverhältnis abgestellt685. Mit Staatsgewalt Beliehenen wird eine Berufung auf die Konvention hingegen versagt, da sie als Träger von Staatsgewalt fungieren, soweit sie Hoheitsrechte ausüben686. Für juristische Personen des Privatrechts eines Drittstaates ist die Konventionsrechtsberechtigung nach der EMRK umstritten. Für die Annahme der Berechtigung wird zumeist der Wortlaut des Art. 1 EMRK angeführt687. Zudem differenzieren weder Art. 1 noch Art. 34 EMRK nach der Staatsangehörigkeit oder Staatszugehörigkeit einer Person. b) Unterworfenheit unter die Hoheitsgewalt einer Vertragspartei Weitere Voraussetzung, um sich auf die EMRK berufen zu können, ist die Unterworfenheit unter die Hoheitsgewalt einer Vertragspartei. Dieses Erfordernis wird als Anwendungsschwelle verstanden688. Es begrenzt die Verpflichtung der Konventionsstaaten aus Art. 1 EMRK auf denjenigen Bereich, in dem sie die Konventionsrechte rechtlich und tatsächlich gewähren können689. Fehlt 682  So auch C. Grabenwarter, European Convention on Human Rights, Art. 1 Rn. 5; K. Rogge, in: IntKommEMRK, Art. 34 (2004), Rn. 136. 683  U. Karpenstein / C. Johann, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 33 Rn. 3. 684  J. A. Frowein, in: ders. / Peukert, EMRK, Art. 33 Rn. 7; U. Karpenstein / C. Johann, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 33 Rn. 4. 685  S. Barden, Grundrechtsfähigkeit, S. 185 ff.; D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 2 Rn. 45. 686  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 2 Rn. 45. 687  V. Röben, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG I, Kap. 5 Rn. 50. 688  EGMR, Urt. v. 7.7.2011  – 55721 / 07 Rn. 130 (Al-Skeini), NJW 2012, 283 (285); Urt. v. 7.7.2011 – 27021 / 08 Rn. 74 (Al-Jedda); Urt. v. 19.10.2012 – 43370 / 04 Rn. 103 (Catan), NVwZ 2014, 203 (204). 689  BGHZ 45, 46 (54); C. Johann, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 1 Rn. 18.



C. Die Europäische Menschenrechtskonvention199

die Jurisdiktion, ist die EMRK mangels personellen Anknüpfungspunkts nicht anwendbar690. Im Staatsgebiet der Vertragsparteien besteht die Vermutung, dass diese stets Hoheitsgewalt ausüben691. In ihrem Hoheitsgebiet kann sich die betroffene Partei mithin grundsätzlich nicht auf die Konventionsrechte berufen. Dennoch ist die Hoheitsgewalt einer Vertragspartei nicht notwendigerweise auf ihr Staatsgebiet beschränkt692. Jedoch besteht eine Vermutung gegen die extraterritoriale Geltung der EMRK, da die Jurisdiktion eines Staates nach den Grundsätzen des Völkerrechts in erster Linie gebietsbezogen ist693. Es sind allerdings einige Ausnahmen anerkannt, wenn außergewöhnliche Umstände vorliegen694. So sieht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte etwa die Tätigkeit von diplomatischem und konsularischem Personal im Ausland als Fall der Ausübung extraterritorialer Hoheitsgewalt an695.

III. Juristische Personen des öffentlichen Rechts aus Drittstaaten Die Konventionsrechtsberechtigung juristischer Personen des öffentlichen Rechts eines Drittstaates ist umstritten. Festzuhalten ist zunächst, dass Drittstaaten und ihren juristischen Personen nicht die Staatenbeschwerde des Art. 33 EMRK offen steht, da sie die dessen Voraussetzungen nicht erfüllen. Eine Konventionsrechtsberechtigung wird teilweise mit Verweis auf den Schutzzweck der EMRK grundsätzlich abgelehnt und nur für die oben genannten Ausnahmefälle angenommen696. Im Übrigen hat sich die Literatur mit dieser Konstellation bisher wenig auseinandergesetzt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hingegen hat zu dieser Frage in seiner Rechtsprechung Stellung genommen. 690  EGMR, Urt. v. 3.3.2005 – 60861 / 00 Rn. 108 (Manoilescu u. Dobrescu); C. Johann, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 1 Rn. 18. 691  St. Rspr. des EGMR, vgl. nur Urt. v. 19.10.2012 – 43370 / 04 Rn. 103 (Catan), NVwZ 2014, 203 (204); ebenso V. Röben, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG I, Kap. 5 Rn. 76; C. Johann, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 1 Rn. 19. 692  EGMR, Urt. v. 16.11.2004  – 31821 / 96 Rn. 68 (Issa); C. Johann, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 1 Rn. 20. 693  EGMR, Urt. v. 12.12.2001  – 52207 / 99 Rn. 59 (Bankovic), NJW 2003, 413 (414); Urt. v. 14.12.2006 – 1398 / 03 Rn. 49 (Markovic), NJOZ 2008, 1086 (1089). 694  EGMR, Urt. v. 7.7.2011  – 55721 / 07 Rn. 130 (Al-Skeini), NJW 2012, 283 (285); Urt. v. 19.10.2012 – 43370 / 04 Rn. 103 (Catan), NVwZ 2014, 203 (204). 695  EGMR, Urt. v. 25.9.1965 – 1611 / 62 (X); Urt. v. 15.12.1977 – 7547 / 76 (X . / . UK); Urt. v. 14.10.1992  – 17392 / 90 (M . / . Dänemark); mit weiteren Beispielen C. Johann, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 1 Rn. 21 ff. 696  V. Röben, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG I, Kap. 5 Rn. 51.

200

3. Kap.: Auf europarechtlicher Ebene

1. Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte So hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte für ein in iranischem Staatsbesitz stehendes Unternehmen die Grundrechtsberechtigung anerkannt und dabei darauf abgestellt, dass die Gesellschaft weder Aufgaben der Daseinsvorsorge erfülle noch bei ihrer kommerziellen Tätigkeit mit besonderen Rechten ausgestattet sei697. Dem lag folgender Sachverhalt zugrunde: Klägerin war die Gesellschaft „Islamic Republic of Iran Shipping Lines“, die sich im Zeitpunkt der klagegegenständlichen Maßnahme vollständig im Eigentum des iranischen Staates befand; auch im Zeitpunkt des Gerichtsverfahrens hielt der iranische Staat die überwiegenden Anteile. Die Klägerin charterte im Oktober 1991 ein Schiff einer zypriotischen Gesellschaft und befuhr mit diesem mit einer Waffenladung an Bord den türkischen Bosporus. In der Annahme, dieses Schiff werde Waffen nach Zypern liefern, die von dort aus in die Türkei geschmuggelt werden könnten, beschlagnahmte die Türkei das Schiff und verhaftete die Besatzung. Das Schiff befand sich insgesamt über ein Jahr in der Beschlagnahme. Die Klägerin erhob gegen diese Maßnahme vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine Individualbeschwerde gemäß Art. 34 EMRK und stützte sich dazu insbesondere auf eine Verletzung ihres Eigentumsrechts aus Art. 1 des ersten Zusatzprotokolls der EMRK. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bejahte entgegen seiner vorherigen Rechtsprechung698 die Beschwerdefähigkeit der Klägerin mit Verweis darauf, dass es sich bei dem Iran nicht um einen Konventionsstaat handele. Das Prinzip, juristischen Personen des öffentlichen Rechts den Schutz zu versagen, solle verhindern, dass die juristische Person gleichzeitig sowohl auf Klägerals auch auf Beklagtenseite stehe. Diese Gefahr bestehe aber vorliegend nicht699. Zudem übe die Klägerin keine Hoheitsgewalt aus, diene nicht der öffentlichen Verwaltung und sei als vom Staat vollkommen unabhängig zu betrachten700. Sie sei nach Gesellschaftsrecht gegründet worden und übe nur die Kompetenzen aus, die ihr zivilrechtlich verliehen seien. Ferner sei sie der ordentlichen Gerichtsbarkeit und nicht der Verwaltungsgerichtsbarkeit unterworfen. Sie betreibe einen gewerblichen Betrieb und es liege kein Hinweis vor, dass Iran selbst mit der Beschwerde zu tun habe701. 697  EGMR, Urt. v. 13.12.2007  – 40998 / 98 (Islamic Republic of Iran Shipping Lines . / . Türkei). 698  EGMR, Urt. v. 23.9.2003 – 53984 / 00 Rn. 26 (Radio France). 699  EGMR, Urt. v. 13.12.2007 – 40998 / 98 Rn. 81 (Islamic Republic of Iran Shipping Lines . / . Türkei). 700  EGMR, Urt. v. 13.12.2007 – 40998 / 98 Rn. 80 (Islamic Republic of Iran Shipping Lines . / . Türkei). 701  EGMR, Urt. v. 13.12.2007 – 40998 / 98 Rn. 81 (Islamic Republic of Iran Shipping Lines . / . Türkei).



C. Die Europäische Menschenrechtskonvention201

2. Bewertung der Rechtsprechung Im Ergebnis ist der Entscheidung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu folgen. Die getroffenen Überlegungen sind zutreffend, obwohl fraglich ist, ob sie die Schutzkonzeption der EMRK hinreichend berücksichtigen. Kritisch zu bewerten ist zunächst, dass sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte vor allem durch die Wahl der privatrechtlichen Rechtsform hat leiten lassen und diese als maßgeblich für die Gewährung des Konventionsschutzes angesehen hat702. Eine vom Staat selbst getroffene Organisationsentscheidung darf aber nicht für den Schutz durch die EMRK maßgeblich sein703. Durch die Wahl der Organisationsform hätte ein Staat es selbst in der Hand, ob er auf dem Konventionsgebiet Schutz durch die Konvention erlangen würde. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass gerade bei juristischen Personen des öffentlichen Rechts eines Drittstaates gerade nicht das Risiko besteht, dass sie sich der Bindung aus der Konvention entziehen. Zutreffend stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte darauf ab, dass der Iran nicht Konventionspartei und ein Zusammenfallen von Berechtigung und Verpflichtung aus den Konventionsrechten nicht möglich ist. Dazu rückte er insbesondere die prozessuale Seite in den Vordergrund. Aber auch in materieller Hinsicht ist ein Zusammenfallen von Berechtigtem und Verpflichtetem ausgeschlossen, wenn sich eine juristische Person des öffentlichen Rechts auf die Konventionsrechte beruft, selbst aber nicht Konven­ tionspartei ist. Zudem hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zutreffende Kriterien entwickelt, unter denen sich juristische Personen des öffentlichen Rechts auf die Konventionsrechte berufen können. Sie dürfen keine Hoheitsgewalt ausüben und auch nicht im Interesse der öffentlichen Verwaltung tätig werden. Diese Kriterien ermöglichen eine sachgerechte Abgrenzung und verhindern, dass die Konventionsrechte entgegen ihrer eigentlichen Schutzrichtung auch auf staatliches Handeln im engeren Sinne ausgeweitet werden. Zutreffend unterscheidet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auch nicht zwischen Prozess- und sonstigen Konven­ tionsrechten. Vielmehr ist hier für sämtliche Konventionsrechte derselbe objektive Geltungsgehalt anzunehmen. Problematisch ist allerdings, ob die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Widerspruch zu der individualrechtlichen Ausrichtung der EMRK, die durch Art. 34 EMRK deutlich wird, steht. Daauch J. Gundel, in: Grabenwarter, EnzEuR II, § 2 Rn. 34. auch E. Stieglitz, Allgemeine Lehren, S. 39 f.; J. Gundel, in: Grabenwarter, EnzEuR II, § 2 Rn. 34. 702  So 703  So

202

3. Kap.: Auf europarechtlicher Ebene

nach sollen gerade staatliche Organisationen vom Schutz der EMRK ausgenommen sein. Art. 34 EMRK unterscheidet dabei auch nicht danach, ob die betroffene Organisation Mitglied der Konvention ist oder es sich um eine Organisation eines Drittstaates handelt. Danach könnte man anführen, dass der Wortlaut des Art. 34 EMRK der Annahme einer Berechtigung grundsätzlich entgegensteht. Auf diese Einschränkung ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil nicht eingegangen und hat statt dessen direkt auf den Schutzzweck des Art. 34 EMRK und die nicht bestehende Möglichkeit einer Konfusion abgestellt. Diese grundsätzlich zutreffende Überlegung lässt jedoch die individualrechtliche Komponente der EMRK außer Betracht. Zudem differenziert die EMRK bezüglich der Berechtigung grundsätzlich nicht nach der Staatsangehörigkeit der sich auf sie berufenden Person. Demnach ist zu berücksichtigen, dass die EMRK nur schutzgutbezogenen Schutz gewährt und gerade nicht an die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Rechtskreis anknüpft. Dies wiederum spricht auch bezüglich der Berechtigung von juristischen Personen dagegen, zwischen der Einordnung als Konventionsstaat oder Drittstaat zu unterscheiden. Gegen diese Argumente spricht jedoch, dass die Entscheidung des Europäi­ schen Gerichtshofs für Menschenrechte dem Willen des Konventionsgebers und dem Wortlaut des Art. 34 EMRK in den authentischen Sprachfassungen entspricht. Nach diesen soll gerade nicht zwischen der allgemeinen Zuordnung einer juristischen Person zum öffentlichen oder privaten Recht unterschieden werden, sondern allein danach, ob eine Organisation beziehungsweise juristische Person der Regierung unmittelbar zuzuordnen ist. Maßgebliches Kriterium für die Gewährung von Konventionsschutz für juristische Personen muss gemäß Art. 34 EMRK allein diese Zuordnung sein, die durch die Ausübung von Hoheitsmacht und die unmittelbare Kontrolle durch die Regierung deutlich wird. Eine drittstaatliche juristische Person des öffent­ lichen Rechts kann aber nie einer Regierung eines Konventionsstaates zugeordnet werden, so dass sie dieses Kriterium gerade nicht erfüllt und damit als Berechtigte der Konvention einzuordnen ist.

IV. Fazit Festzuhalten bleibt, dass eine Konventionsrechtsberechtigung eines Drittstaates selbst grundsätzlich abzulehnen ist. Dies gilt aber nicht generell für seine juristischen Personen des öffentlichen Rechts, soweit diese nicht hoheitlich handeln. Insbesomdere für von einem Staat gehaltene öffentliche Unternehmen ist die Annahme einer Konventionsrechtsberechtigung möglich, da diese zumeist ohnehin nicht wirtschaftlich tätig werden. Nicht maßgeblich sind die Wahl der Rechtsform und die unternehmerische Tätigkeit. Zwar ist die EMRK gerade nicht wirtschaftlich ausgerichtet, sondern stellt den Indivi-



C. Die Europäische Menschenrechtskonvention203

dualschutz in den Vordergrund. Aber der Wortlaut des Art. 34 EMRK und der Sinn und Zweck dieser Regelung geben vor, dass nur juristische Personen, die der Regierung eines Staates unmittelbar zuzuordnen sind, von der Berechtigung auszunehmen sind. Bei gemischtwirtschaftlichen Unternehmen ist danach zu unterscheiden, welchen Einfluss der der Regierung zuzuordnende Teilhaber auf das Unternehmen hat. Bei einem beherrschenden Einfluss ist entsprechend dem Vorgesagten die Annahme einer Konventionsrechtsberechtigung abzulehnen. Ansonsten könnte der an sich nicht berechtigte Staat an seinem öffentlichen Unternehmen einen privaten Anteilseigner zu einem geringen Anteil beteiligen und so die Berechtigung erlangen. Ist das Unternehmen jedoch weder der Regierung zuzuordnen noch hoheitlich tätig, besteht auch hier eine Berechtigung. Im Übrigen besteht die Möglichkeit, durch den Abschluss völkerrecht­ licher Verträge eine weitergehende Klarstellung bezüglich der Berechtigung für Drittstaaten und ihre juristischen Personen in den Konventionsstaaten herbeizuführen.

4. Kapitel

Vereinigtes Königreich1 Es stellt nunmehr sich die Frage, wie andere Staaten mit der Frage nach der Grundrechtsberechtigung ausländischer juristischer Personen des öffentlichen Rechts umgehen. Dies soll am Beispiel des Vereinigten Königreichs von Großbritannien untersucht werden. Dazu ist zunächst ein Überblick über die Systematik des britischen Verfassungsrechts zu geben (A.), sodann ist das (nationale) britische Verfassungsrecht auf die Funktionen der Grundrechte und die Grundrechtsverpflichtungen und Grundrechtsberechtigungen zu untersuchen (B.). In einem dritten Schritt wird der Einfluss der EMRK auf das britische Recht nach der Inkorporierung durch den Human Rights Act 1998 untersucht (C.), sodass in einem vierten Schritt eine Auswertung erfolgen kann (D.).

A. Einführung in das Verfassungsrecht des Vereinigten Königreichs Für die hier zu untersuchende Fragestellung ist zunächst ein Überblick über die Systematik des Verfassungsrechts des Vereinigten Königreichs zu geben, um so ein besseres Verständnis für die Frage der Grundrechtsberechtigung zu erlangen.

I. Grundsätze und Prinzipien des britischen Verfassungsrechts Für das allgemeine Verfassungsverständnis ist zunächst zu berücksichtigen, dass dem britischen Verfassungsrecht nicht die Aufarbeitung oder der Bruch mit einer schrecklichen Vergangenheit zugrunde liegt, wie dies in besonderer Weise etwa in Deutschland der Fall ist2. Die gewährten Rechte und Grundsätze konnten sich stetig und über einen deutlich längeren Zeitraum 1  Unter dem Begriff Vereinigtes Königreich wird im Folgenden das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland verstanden, bestehend aus den unabhängigen Ländern England, Wales, Schottland und Nordirland. 2  S. Kentridge, The Incorporation of the European Convention on Human Rights, in: Constitutional Reform, S. 69.



A. Einführung in das Verfassungsrecht des Vereinigten Königreichs 205

ohne Bruch entwickeln. So brachten auch die Konflikte des 20. Jahrhunderts, die in Kontinetaleuropa zur Neuordnung der Verfassungsordnungen führten, keine Neuordnung des Verfassungsrechts im Vereinigten Königreich mit sich3. Gleichwohl sind sie ebenfalls als Antworten auf Verletzungserfahrungen zu verstehen. So stellte etwa die von 1215 einen Meilenstein in der Geschichte des britischen Regierungssystems dar. Denn sie auferlegte dem König, seine Herrschaft nur durch seinen Rat auszuüben und damit verlieh seinem Handeln offiziellen Charakter mit gewissen formalen Anforderungen4. Im Übrigen sind die anerkannten Recte nach und nach durch einzelne Entscheidungen erkäpft worden5. Dennoch nimmt das britische Verfassungsrecht mangels paralleler Entwicklung zum kontinentaleuropäischen Recht im 20. Jahrhundert eine Sonderrolle ein. 1. Keine geschriebene Verfassung Eine erste Besonderheit besteht darin, dass das Vereinigte Königreich bis zur Inkorporierung der Konventionsrechte durch den Human Rights Act keine geschriebene Verfassung besaß6 und Grundrechte nicht durch die Verankerung allgemeiner Grundsätze gewährleistet waren7. Man spricht von einer geschriebenen beziehungsweise formellen Verfassung, wenn die für den politischen Prozess im wesentlichen maßgebenden Normen in einer einzigen Urkunde zusammengefasst sind, der dann eine erhöhte Bestandsgarantie zukommt, da sie schwerer abzuändern ist als ein einfaches Gesetz8. Nach der Lehre von Dicey gibt es im Vereinigten Königreich kein Bedürfnis für die Verankerung einer Verfassung, da die politische Freiheit durch das common law und ein unabhängiges Parlament gegen Überschreitungen durch die Exe­ kutive geschützt sei9. Die geschriebene Verfassung ist nicht die Quelle, sondern die Konsequenz der Anerkennung von Individualrechten10. Die Indivi-

3  M.

Loughlin, IPE I, § 4 Rn. 5. Loughlin, IPE I, § 4 Rn. 5. 5  M. Loughlin, IPE I, § 4 Rn. 81. 6  D. C. M. Yardley, JöR 13 (1964), 129 (129); zu der Frage der Definition des Verfassungsbegriffs vgl. weitergehend M. H. W. Koch, Einführung, S. 25. 7  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 720; inzwischen wurden aber Teile der EMRK und damit einige in ihr enthaltene Grundrechte in das nationale Recht transferiert, s. u. unter C. 8  W. I. Jennings, The Law and the Constitution, S. 237; K. Loewenstein, Staatsrecht I, S. 43 f.; E. Barendt, Constitutional Law, S. 1. 9  A. V. Dicey, Introduction, S. 121; A. W. Bradley / K. D. Ewing / C. J. S. Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 357 f. 10  A. V. Dicey, Introduction, S. 116 f. 4  M.

206

4. Kap.: Vereinigtes Königreich

dualrechte bestimmen, was die „Verfassung“ ist, nicht die Verfassung bestimmt, was Recht ist11. Allein aus dem Fehlen einer selbständigen und besonderen Regeln unterworfenen Verfassungsrechtsquelle12 wird nicht gefolgert, dass fundamentale Rechte – vergleichbar mit den Grundrechten der Bundesrepublik – nicht existieren13. Vielmehr ist das Bestehen einer Verfassung im materiellen Sinne ganz überwiegend anerkannt14. Eine Verfassung im materiellen Sinne wird definiert als „jene Normen, die sich auf die obersten Organe (Verfassung im engeren Sinne) und […] das Verhältnis der Untertanen zur Staatsgewalt (Verfassung im weiteren Sinne) beziehen.“15 Als Verfassungsrecht gelten „alle Regeln, welche unmittelbar oder mittelbar die Verteilung oder Ausübung souveräner Gewalt im Staat betreffen.“16 Diese Voraussetzungen sind im Vereinigten Königreich erfüllt. Denn eine Vielzahl von Normen und Grundsätzen regeln das Miteinander von Staatsgewalt und Untertanen17. Als Grundrechte werden dabei die durch die allgemeine Rechtsordnung ausgesparten Freiräume verstanden18, deren Durchsetzung gerichtlich erzwingbar ist19. Einige Rechtsquellen werden wegen ihrer historischen Bedeutung als verfassungsrechtlich im weiteren Sinne qualifiziert20. Dabei handelt es sich um die vier großen historischen Dokumente Magna Charta Libertatum (1215), Petition of Rights (1627), Bill of Rights (1689) und Act of Settlement (1701)21. Diese gestehen bestimmten Bevölkerungsgruppen punktuelle Freiheitsbereiche zu, beinhalten jedoch keine allgemeinen und abstrakten Gewährleistungen22. Aus dem Fehlen einer geschriebenen Verfassung folgt, dass kein formelles Verfassungsänderungsverfahren besteht beziehungsweise bestehen kann23. 11  K.

Loewenstein, Staatsrecht II, S. 265. H. W. Koch, Einführung, S. 28. 13  E. Crombach, DVBl. 1973, 561 (564). 14  Statt vieler etwa O. Dixon, ALJ 31 (1957), 240 (241); M. Baum, Schutz, S. 33. 15  H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 252 f. 16  A. V. Dicey, Introduction, S. cxl. 17  E. C. S. Wade / G. G. Phillips, Constitutional and Administrative Law, S. 1 f., 5. 18  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 723. 19  K. Loewenstein, Staatsrecht II, S. 262. 20  K. Gogos, Verwaltungseinheiten, S. 142. 21  K. Gogos, Verwaltungseinheiten, S. 142. 22  A. Geisseler, Reformbestrebungen, S. 21; A. V. Dicey, Introduction, S. 116; D. Feldman, Civil Liberties, S. 70 f.; K. Gogos, Verwaltungseinheiten, S. 142. 23  O. Hood Phillips / P. Jackson / P. Leopold, Constitutional and Administrative Law, S. 36 Rn. 2-034; K. Loewenstein, Staatsrecht I, S. 47. 12  M.



A. Einführung in das Verfassungsrecht des Vereinigten Königreichs 207

Jede Gesetzesnorm kann auf dieselbe Weise abgeändert oder aufgehoben werden, wie sie erlassen wurde, mithin durch ein von den einfachen Mehrheiten angenommenes Parlamentsgesetz24. Jedoch begrenzt die Lehre vom Volksmandat Verfassungsänderungen auf politischer Ebene: Danach darf eine politische Grundentscheidung nur dann von der Regierung eingebracht und vom Parlament angenommen werden, wenn sie der Wählerschaft in den vo­ rausgegangenen Wahlen vorlag, von ihr zum Gegenstand der Wahlmotivation gemacht wurde und durch Bestellung der sie befürwortenden Partei zur Regierungspartei gemacht wurde25. 2. Souveränität des Parlamentes Mangels geschriebener Verfassung besteht im Vereinigten Königreich kein Staatsorganisationsstatut26. Dementsprechend gibt es keine formale Verankerung der Gewaltenteilung27. Als grundlegendes Verfassungsprinzip ist dennoch ein uneingeschränkter Vorrang der gesetzgebenden Gewalt des Parlaments anerkannt28. Die Souveränität des Parlaments stellt den obersten Grundsatz des Verfassungsrechts dar29. Teilweise wird sie sogar als Schlüssel zum Verfassungsrecht, als nicht zu bezweifelndes rechtliches Faktum verstanden30. Danach ist das Parlament berechtigt, jedes Gesetz gleich welchen Inhalts zu verabschieden und zu beseitigen (sogenannte positive und negative Parlamentssouveränität)31. Aufgrund seiner Souveränität gibt es kein gerichtliches Prüfungsrecht der Gerichte für Parlamentsgesetze32. Die im deutschen Verfassungsrecht verankerte Möglichkeit des Bundesverfassungsgerichts, Parlamentsgesetze aufzuheben, wird nach dem britischen Grundrechtsverständnis als problematisch bewertet. So sei es insbesondere fragwürdig, einer Gewalt, die nicht vom Volk gewählt wurde, solch eine weitreichende Befugnis einzuräumen33. Es sei ebenfalls zweifelhaft, warum ein Unterstützer der 24  K.

Loewenstein, Staatsrecht I, S. 47. Loewenstein, Staatsrecht I, S. 47. 26  E. C. S. Wade / G. G. Phillips, Constitutional and Administrative Law, S. 3 f.; M. H. W. Koch, Einführung, S. 31. 27  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 753. 28  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S.  719 m. w. N. 29  A. V. Dicey, Introduction, S. 24; S. de Smith / R. Brazier, Constitutional and Administrative Law, S. 67; M. Loughlin, IPE I, § 4 Rn. 25. 30  A. V. Dicey, Introduction, S. 24 f. 31  H. G. Petersmann, Souveränität des britischen Parlaments, S. 266 f.; M. H. W. Koch, Einführung, S. 31. 32  K. Loewenstein, Staatsrecht I, S. 46. 33  R. J. A. McQuigg, Bills of Rights, S. 3. 25  K.

208

4. Kap.: Vereinigtes Königreich

Demokratie den gewählten Repräsentanten des Volkes die Macht wegnehmen und nicht gewählten Richtern anvertrauen sollte34. In der Konsequenz dieses Verständnisses ist das Parlament im Vereinigten Königreich keiner Rechtsquelle untergeordnet35. Auch Rechtsprechungsakte können jederzeit und ausnahmslos vom Parlament revidiert werden36. Damit ist das System der Parlamentssouveränität durch eine tendenziell schwächere Stellung der Judikative gekennzeichnet37. In der verfassungsrechtlichen Literatur werden jedoch praktische und politische Grenzen der Parlamentssouveränität angeführt38. Da das Parlament bestimmte Gesetze niemals verabschieden würde, sei es nur in rechtlicher, nicht aber in faktischer Hinsicht allmächtig39. So sei das Parlament an die allgemeinen Regeln des Völkerrechts und die Verpflichtung, keine den bestehenden völkerrechtlichen Verträgen widersprechenden Gesetze zu erlassen, gebunden40. Zudem wird denjenigen politischen Mitteln eine Schrankenfunktion eingeräumt, die geeignet sind, das Parlament und seine Mitglieder zu mahnen und dazu anzuhalten, die ihnen zugewiesene Macht im Sinne der Freiheit zu gebrauchen41. Als weitere Schranke werden die öffentliche Meinung und die Wachsamkeit einer starken Opposition als Garanten für den Schutz gegen Machtmissbrauch angesehen42. Insbesondere die Gefahr eines Aufstandes wird hier angeführt43. Die Begrenzung erfolgt also nicht unmittelbar durch das Recht selbst, sondern auf einer vorgelagerten Stufe44. Das festverwurzelte Bewusstsein des traditionellen Bestehens fundamentaler Rechte wird gemeinsam mit der Kontrolle durch die öffent­ liche Meinung und die Opposition als Gewähr für die Sicherheit und den Wesensgehalt der Grundrechte verstanden45. Allerdings wird dieses System 34  J. Allan, in: T. Campbell / K. D. Ewing / A. Tomkins, Sceptical Essays on Human Rights, S. 375 (390); zustimmend R. J. A. McQuigg, Bills of Rights, S. 3. 35  J. A. Jolowicz, The Judicial Protection of Fundamental Rights under English Law, S. 44; K. Gogos, Verwaltungseinheiten, S. 142. 36  J. A. Jolowicz, The Judicial Protection of Fundamental Rights under English Law, S. 44; K. Gogos, Verwaltungseinheiten, S. 142. 37  A. M. Fröhlich, Parlamentssouveränität, S. 31. 38  E. Crombach, DVBl. 1973, 561 (561). 39  A. V. Dicey, Introduction, S. 26. 40  I. W. Jennings, The Law and the Constitution, S. 173; S. de Smith / R. Brazier, Constitutional and Administrative Law, S. 26. 41  A. Lester, Democracy and Individual Rights, S. 3; M. H. W. Koch, Einführung, S. 42. 42  O. Hood Phillips / P. Jackson / P. Leopold, Constitutional and Adminstrative Law, S. 58 Rn. 4-003; K. Loewenstein, Staatsrecht II, S. 267. 43  A. V. Dicey, Introduction, S. 30. 44  M. H. W. Koch, Einführung, S. 43. 45  K. Loewenstein, Staatsrecht II, S.  266  f.; E. Crombach, DVBl. 1973, 561 (563).



A. Einführung in das Verfassungsrecht des Vereinigten Königreichs 209

der Begrenzung von Parlamentsmacht auch im Vereinigten Königreich kritisch bewertet und sogar als gescheitert angesehen46. Weiter geht man davon aus, dass sich das Parlament selbst seiner Rolle und der freiheitlichen Tradition bewusst ist und bei der Gesetzgebung das Bestehen fundamentaler Rechte des Individuums zugrunde legt47. Das Parlament hat diese Einstellung etwa dadurch zum Ausdruck gebracht, dass es Gesetze erlassen hat, die den Bürger vor störenden Eingriffen Dritter schützen48. Diese im Vereinigten Königreich gesetzlich geschützten Bereiche sind in Deutschland als Grundrechte garantiert49. Ein Beispiel für ein solches Gesetz ist der Public Meeting Act von 1908, der den Versuch, die Durchführung von rechtmäßigen Versammlungen zu stören, unter Strafe stellt50. Der Grundsatz der Parlamentssouveränität selbst steht nicht zur Disposition des Parlaments51. Die Grenze der Allmacht besteht mithin in der Unmöglichkeit, diese zu beseitigen52. Daraus wird gefolgert, dass sich das Parlament nicht einmal selbst binden und kein Gesetz dem eigenen Zugriff entziehen kann53. Aus der unbeschränkten Geltung der Superiorität des Parlaments gegenüber allen Gewalten und die Unmöglichkeit der Bindung des Parlaments an höherrangiges Recht wird gefolgert, dass ein Grundrechtskatalog mit formeller Verfassungskraft im Vereinigten Königreich schon nicht denkbar ist54. 3. Die Rule of Law Die von Dicey entwickelte Lehre von der Rule of Law (als Herrschaft des Rechts oder Rechtstaatlichkeit zu übersetzen55) ist ein weiteres grundlegendes Prinzip des britischen Verfassungsrechts56. Sie wird in der Literatur als verfassungsrechtliche Verortung der Garantie bürgerlicher Freiheit verstanden57. Die Rule of Law fordert die Unterwerfung der Exekutive un46  A.

Lester, Democracy and individual rights, S. 4 f. Crombach, DVBl. 1973, 561 (563). 48  E. Crombach, DVBl. 1973, 561 (563). 49  E. Crombach, DVBl. 1973, 561 (563). 50  E. Crombach, DVBl. 1973, 561 (563) Fn. 31. 51  M. H. W. Koch, Einführung, S. 31. 52  M. H. W. Koch, Einführung, S. 31. 53  H. W. R. Wade, CLJ 13 (1955), 172 (186); K. Loewenstein, Staatsrecht I, S. 65 f.; M. H. W. Koch, Einführung, S. 31 f.; S. Schieren, ZParl. 30 (1999), 999 (1001). 54  K. Gogos, Verwaltungseinheiten, S. 142. 55  K. Loewenstein, Staatsrecht I, S. 74. 56  A. V. Dicey, Introduction, S. 107 ff. 57  M. Baum, Schutz, S. 93. 47  E.

210

4. Kap.: Vereinigtes Königreich

ter das Recht58. Danach darf kein Regierungsakt willkürlich (arbitrary) sein59. Die Rule of Law stellt ähnlich wie das deutsche Rechtsstaatsprinzip gewisse qualitative Anforderungen an das Recht. So ergeben sich aus ihr etwa das Gebot der Rechtssicherheit, das Rückwirkungsverbot, aus dem insbesondere das Verbot rückwirkender Strafgesetze folgt, das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit sowie das Erfordernis eines gleichen Zugangs zu den Gerichten60. Allerdings verleiht sie dem Grundrechtsberechtigten aufgrund der Parlamentssouveränität keinen vergleichbaren Schutz der Bürgerrechte, wie ihn das deutsche Rechtsstaatsprinzip vorsieht61. Denn auch nach der Rule of Law gelten die Bürgerrechte nur insoweit, als ihre Ausübung nicht durch das Gesetz eingeschränkt ist62. 4. Abgrenzung zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht Eine weitere Besonderheit ergibt sich daraus, dass im Vereinigten Königreich grundsätzlich nicht oder zumindest nicht mit der in Deutschland üblichen Schärfe zwischen dem Öffentlichen Recht und dem Privatrecht differenziert wird63. Gegen eine Unterscheidung wird angeführt, dass sie ohnehin nicht hilfreich wäre, um gesetzliche und soziale Strukturen zu erläutern. Zudem führe eine Unterscheidung nur zu einer Formalisierung. Außerdem solle bezüglich der Verantwortlichkeit von juristischen Personen nicht zwischen solchen des öffentlichen und solchen des privaten Rechts unterschieden werden, da sie gleichermaßen dem Recht unterworfen seien64. In der neueren Literatur hingegen werden Zweifel an der fehlenden Differenzierung geäußert und ein Bedürfnis für die Trennung zwischen privatem und öffentlichem Recht durchaus anerkannt65. In den letzten Jahrzehnten hat sich daher die Idee einer öffentlichen Gewalt, die eine andere Stellung als sonstige juristische Personen einnimmt, herausgebildet66. Dennoch fällt die Abgrenzung – soweit sie überhaupt vorgenommen wird – zwischen juristi58  A.

V. Dicey, Introduction, S. 114. Loewenstein, Staatsrecht I, S. 75. 60  A. V. Dicey, Introduction, S. 114 f.; M. Baum, Schutz, S. 98. 61  K. Loewenstein, Staatsrecht I, S. 75. 62  K. Loewenstein, Staatsrecht I, S. 75; vgl. zum Verhältnis von Parlamentssou­ veränität und rule of law K. Loewenstein, Staatsrecht I, S. 77 ff. 63  A. V. Dicey, Introduction, S. 114 f. 64  P. Cane, Accountability and the Public / Private Distinction, in Bamforth / Leyland, Public Law, S. 248. 65  S. Palmer, CLJ 66 (2007), 559 (559). 66  A. M. Fröhlich, Parlamentssouveränität, S. 129; M. Baum, Schutz, S. 183 ff. 59  K.



A. Einführung in das Verfassungsrecht des Vereinigten Königreichs 211

schen Personen des öffentlichen Rechts und solchen des Privatrechts schwer67. Insbesondere gibt es kaum Kriterien, die eine trennscharfe Differenzierung ermöglichen68. Als problematisch wird insbesondere angesehen, dass eine Zuordnung der juristischen Person nach ihrer Struktur oder der von ihr wahrgenommenen Aufgaben oft kein eindeutiges Ergebnis erlaube, da auch nicht-staatliche juristische Personen oft soziale, wirtschaftliche oder regulatorische Aufgaben ausübten69. Teilweise wird danach unterschieden, ob sich eine juristische Person in einer öffentlichen oder privaten Sphäre bewegt oder danach, inwieweit sie der Regierung zuzuordnen ist70. Der Europäische Gerichtshof nahm in einer Entscheidung bezüglich eines britischen Energieversorgungsunternehmens eine weite Definition des Begriffs öffentlich an und ordnete dieses als juristische Person des öffentlichen Rechts ein71: Öffentlich seien demnach Organisationen und Einrichtungen, die dem Staat oder dessen Aufsicht unterstehen oder mit besonderen Rechten ausgestattet sind, die über diejenigen hinausgehen, die nach den Vorschriften für die Beziehung zwischen Privatpersonen gelten72. Teilweise wird vermutet, dass diese weite Auslegung auch ehemals vom Staat gehaltene, inzwischen privatisierte Unternehmen erfassen soll73. Ferner wird vertreten, die juristische Person entsprechend ihrer Funktion einzuordnen74. Dies hätte zur Konsequenz, dass ein und dieselbe juristische Person gleichzeitig als öffentlich und privat auftreten könnte. Denn auch die Queen selbst sei eine natürliche Person, die zugleich als Staatsorgan auftrete75. Dagegen wiederum wird angeführt, dass es etwa für die Krone keine Unterscheidung gebe, ob sie hoheitlich oder etwa als (privater) Landbesitzer handle76. Vielmehr sei gerade keine Unterscheidung zwischen den öffentlichen und den privaten Kapazitäten eines Monarchen zu treffen und nicht zu differenzieren, woraus er seine Macht schöpfe77. 67  S. Arrowsmith,

Civil Liability, S. 1. dazu N. Lewis, Regulating Non-Government Bodies: Privatization, Accountability, and the Public-Private Divide, in: J. Jowell / D. Oliver, The Changing Constitution, S.  219 ff. 69  S. Arrowsmith, Civil Liability, S. 3; N. Lewis, Regulating Non-Government Bodies: Privatization, Accountability, and the Public-Private Divide, in: J. Jowell /  D. Oliver, The Changing Constitution, S. 222, 244. 70  S. Arrowsmith, Civil Liability, S. 1 f. 71  EuGH, Slg. 1990, I-3313 Rn. 18, NJW 1991, 3086 (Foster. / . British Gas). 72  EuGH, Slg. 1990, I-3313 Rn. 18, NJW 1991, 3086 (3087) (Foster. / . British Gas). 73  S. Arrowsmith, Civil Liability, S. 3. 74  S. Arrowsmith, Civil Liability, S. 3. 75  S. Arrowsmith, Civil Liability, S. 6 f. 76  S. Arrowsmith, Civil Liability, S. 4. 77  S. Arrowsmith, Civil Liability, S. 6. 68  Vgl.

212

4. Kap.: Vereinigtes Königreich

II. Rechtsquellen Wie bereits erwähnt, weicht das britische Verfassungsrecht in systematischer Hinsicht erheblich vom deutschen Verfassungsrecht ab: Das britische Verfassungsrecht setzt sich mangels geschriebener Verfassung aus verschiedenen Rechtsquellen zusammen, die zusammen eine materielle Verfassungsordnung ergeben78. Als Rechtsquellen des Staats- und Verfassungsrechts gelten dabei die Gesetzgebung, Gerichtsentscheidungen, das Gewohnheitsrecht (common law) und die Lehrmeinungen79. Die Gesetzgebung als Rechtsquelle umfasst Parlamentsgesetze im engen Sinne sowie die umfangreichere abgeleitete Normsetzung, der delegated legis­lation80. Die Verfassungsordnung entstammt also überwiegend den gleichen Quellen wie die anderen Rechtssätze des britischen Rechts81. Die verfassungsrechtlichen Normen heben sich nicht vom übrigen Recht ab82. Aus dieser Konstellation ergibt sich der Nachteil, dass ein Grundrechtsschutz nur durch Gesetzesrecht, nicht aber gegen Gesetzesrecht möglich ist83. Gerade den Parlamentsgesetzen kommt dabei tragende Bedeutung zu, da das Parlamentsgesetz in der Normenhierarchie über allen anderen Rechtsquellen steht und das Parlament sich sogar über richterliche Entscheidungen hinwegsetzen darf84. Das Parlament hat zahlreiche Gesetze geschaffen, die bestimmte Grundrechte definieren und Verfahren zu ihrer Sicherung und Durchsetzung bereitstellen85. Diese Gesetze haben stets nur einzelne, eng begrenzte Grundrechte zum Gegenstand. Sie sind überwiegend aus dem konkreten Anlass politischer Forderungen entstanden86 und können als im Kampf gegen die Staatswillkür schrittweise erzwungene Zugeständnisse persönlicher Freiheit verstanden werden87. Im Vordergrund steht der pragmatische Ansatz, konkrete, unter menschenrechtlichen Aspekten für unbefriedi78  E.

Crombach, DVBl. 1973, 561 (561). Hood Phillips / P. Jackson / P. Leopold, Constitutional and Administrative Law, S. 18, Rn. 2-006; K. Loewenstein, Staatsrecht I, S. 49; ders., Staatsrecht II, S. 265. 80  K. Loewenstein, Staatsrecht I, S. 49. 81  O. Hood Phillips / P. Jackson / P. Leopold, Constitutional and Administrative Law, S. 22, Rn. 2-011; M. H. W. Koch, Einführung, S. 28. 82  E. Crombach, DVBl. 88 (1973), 561 (561). 83  M. H. W. Koch, Einführung, S. 35. 84  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S.  723; s. o. 85  M. H. W. Koch, Einführung, S. 35. 86  M. H. W. Koch, Einführung, S. 35. 87  K. Loewenstein, Staatsrecht II, S. 261 f.; E. Crombach, DVBl. 1973, 561 (562); M. Loughlin, IPE I, § 4 Rn. 81. 79  O.



A. Einführung in das Verfassungsrecht des Vereinigten Königreichs 213

gend gehaltene Gegebenheiten zu beseitigen88. Die einzelnen Rechte sind als im Kampf mit der Obrigkeit erzwungene Zugeständnisse zum Schutz der bürgerlichen Persönlichkeitssphäre zu verstehen. Sie sind daher eher pragmatischen Ursprungs und Inhalts und wurden erst nachträglich zu absoluten Grundrechten der Gesellschaft erklärt89. Ein Bemühen, durch die Positivierung eines Grundrechts eine darüber hinausgehende Regelung und einen festgelegten Schutzbereich zu erschaffen, ist nicht erkennbar90. Ein Beispiel für diese Art der Gesetzgebung ist der Habeas Corpus Act von 167991. Durch dieses Gesetz sollte durch die Möglichkeit einer richterlichen Überprüfung ein Schutz vor willkürlicher Inhaftierung geschaffen werden92. Ein weiteres Beispiel für diese Vorgehensweise stellt der Race Realtions Act von 196593 dar, der zur Bewältigung der Diskriminierungen der farbigen Bürger, Gastarbeiter und Immigranten erlassen wurde94. Zugleich wurden durch ihn ein Race Relations Board eingerichtet, das Beschwerden entgegennehmen und an die Strafverfolgungsbehörden weitergeben sollte95. Da dieses Gesetz nur eine beschränkte Reichweite aufwies, wurde 1968 ein (2.) Race Relations Act96 erlassen, der beinahe sämtliche Bereiche des Lebens einem umfassenden Diskriminierungsverbot unterwarf97. Da sich auch dieses Gesetz als unzureichend erwies, wurde 1976 ein weiterer (3.) Race Relations Act98 erlassen. Allerdings stand auch dieses Gesetz in der Kritik, da gleichzeitig die Freizügigkeit zwischen den Commonwealth-Staaten durch den Commonwealth Immigrants Act von 1962 eingeschränkt wurde99. In dieser Konstellation zeigt sich das Problem des Fehlens abstrakter und vorrangiger Regelungen zur Sicherung fundamentaler Rechte. Das Fehlen einer Verfassung im formellen Sinne führt dazu, dass einzelne parlamentarische Entscheidungen nicht miteinander verknüpft sind und damit auch widersprüchlichen Inhalts sein können100. Der Race Relations Act ist aber auch dahingehend ein typisches Beispiel für den britischen Grundrechtsschutz, als durch ihn nicht nur bestimmte materielle Rechte eingeräumt werden sollten, sondern der Gesetz88  M.

H. W. Koch, Einführung, S. 35. Loewenstein, Staatsrecht II, S. 262. 90  M. H. W. Koch, Einführung, S. 35. 91  1679 c. 2. 92  E. H. Riedel, EuGRZ 1980, 192 (193). 93  1965 c. 73. 94  M. H. W. Koch, Einführung, S. 37. 95  M. H. W. Koch, Einführung, S. 38. 96  1968 c. 71. 97  M. H. W. Koch, Einführung, S. 38. 98  1976 c. 74. 99  M. H. W. Koch, Einführung, S. 38. 100  M. H. W. Koch, Einführung, S. 39 m. w. N. 89  K.

214

4. Kap.: Vereinigtes Königreich

geber gleichzeitig Organe schuf, die mit bestimmten verfahrensrechtlichen Kompetenzen ausgestattet waren und die praktische Umsetzung sicherstellen sollten101. Daneben sind die obergerichtlichen Entscheidungen und die damit einhergehende Rechtsfortbildung das Richterrecht die wichtigste Rechtsquelle102. Denn nach der Lehre vom Präzedenzfall und der bindenden Entscheidung (stare decisis) binden die obergerichtlichen Entscheidungen nicht nur die unteren Gerichte sondern unter bestimmten Voraussetzungen auch die anderen Obergerichte103. Zudem ergeben sich aus dem common law, also dem nationalen Gewohnheitsrecht, Rechtssätze und Rechtsbräuche, auf die sich die Gerichte nur dann stützen können, wenn eine Rechtslücke zu füllen ist104. Allerdings meidet auch die Rechtsprechung die Formulierung von Prinzipien mit genereller Reichweite105. Dennoch haben die Gerichte etwa das Recht auf Freiheit der Person, das Recht auf Eigentum und das Recht auf Anrufung der Gerichte ausdrücklich anerkannt106. Dennoch spielt das common law im öffentlichen Recht kaum noch eine Rolle107. Weit weniger Bedeutung als etwa in Deutschland kommt der Lehrmeinung zu, sie kann lediglich als subsidiäre Rechtsquelle angesehen werden108. Im Ergebnis sind die bürgerlichen Freiheiten im Vereinigten Königreich geschützt durch eine Kombination aus Gesetzen und Richterrecht sowie dem Gewohnheitsrecht109. Rechtstechnisch erfolgt dies durch eine detaillierte Gesetzgebung, die gewisse gesetzliche Vorgaben macht, von denen auf das generelle Recht geschlossen werden kann110. Außerdem haben die Gerichte bedeutend zur Entwicklung der Individualrechte beigetragen und diese als so fundamental eingeordnet, dass die Gesetze in ihrem Licht ausgelegt werden müssen und sie nur aufgrund besonderer Umstände eingeschränkt werden können111. 101  M. 102  P.

H. W. Koch, Einführung, S. 40. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I,

S. 723. 103  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 733. 104  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 731, 733. 105  K. Gogos, Verwaltungseinheiten, S. 144. 106  I. Brownlie, The Law Relating to Public Order, S. 144 f. m. w. N. 107  K. Loewenstein, Staatsrecht I, S. 51. 108  O. Hood Phillips / P. Jackson / P. Leopold, Constitutional and Administrative Law, S. 21, Rn. 2-010; K. Loewenstein, Staatsrecht I, S. 52. 109  S. H. Bailey / D. J. Harris / B. L. Jones, Civil Rights, S. 2. 110  S. H. Bailey / D. J. Harris / B. L. Jones, Civil Rights, S. 2. 111  O. Hood Phillips / P. Jackson / P. Leopold, Constitutional and Administrative Law, S. 467, Rn. 22-002.



B. Das nationale Recht215

So soll dem Recht auf freien Zugang zu den Gerichten auch in einer ungeschriebenen Verfassung der Rang eines Grundrechts zukommen112. Die Gerichte sind dabei ähnlich wie der Gesetzgeber zurückhaltend, wenn es um die Entwicklung des Richterrechts geht113. So treffen sie selten generelle Aussagen und Vorgaben, sondern beziehen sich vorwiegend auf den Einzelfall114. Darüber hinaus kommt dem internationalen Recht, namentlich der EMRK, im britischen Recht inzwischen besondere Bedeutung zu, da sie durch den „Human Rights Act“ von 1998 teilweise in nationales Recht transferiert wurde, vgl. Section 1 HRA. Damit sind die transferierten Konventionsrechte nun auch von den nationalen Gerichten zu beachten115.

B. Das nationale Recht Zu untersuchen ist nun, wie es sich mit Grundrechtsberechtigungen und Grundrechtsverpflichtungen im originären, nationalen Verfassungsrecht des Vereinigten Königreichs verhält.

I. Grundrechtsverständnis und Grundrechtsfunktionen Eine erste Besonderheit im britischen Grundrechtsverständnis ergibt sich – wie bereits dargelegt – aus der Nichtexistenz einer geschriebenen Verfassung116. Daraus ergeben sich Besonderheiten in der Terminologie: Da die Rechte der Bürger stets bezüglich ihres Gegenstands und Inhalts, ihrer Reichweite und Geltendmachung durch einfaches Parlamentsgesetz abgeändert, eingeschränkt oder außer Kraft gesetzt werden können, wird schon die Bezeichnung als „Grundrechte“ in Frage gestellt117. Ihnen fehle der nach dem deutschen Grundrechtsverständnis erforderliche fundamentale und unabänderliche Charakter118. Die civil liberties sind daher ihrer britischen Bezeichnung entsprechend eher als Freiheiten denn als Rechte zu verstehen119. 112  R. v. Secretary of State for Home Department ex parte Leech [1994] Q.B. 198, 210. 113  D. J. Harris, in: F. Matscher, The Implenation of Economic and Social Rights, (1991), S.  201 f.; S. H. Bailey / D. J. Harris / B. L. Jones, Civil Rights, S. 2. 114  S. H. Bailey / D. J. Harris / B. L. Jones, Civil Rights, S. 2. 115  A. W. Bradley / K. D. Ewing / C. J. S. Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 370. 116  K. Loewenstein, Staatsrecht II, S. 264. 117  W. I. Jennings, The Law and the Constitution, S. 242; K. Loewenstein, Staatsrecht II, S. 264 f. 118  K. Loewenstein, Staatsrecht II, S. 264 f. 119  S. H. Bailey / D. J. Harris / B. L. Jones, Civil Rights, S. 2.

216

4. Kap.: Vereinigtes Königreich

Im Vereinigten Königreich besteht dementsprechend in systematischer Hinsicht ein vollkommen anderer Ansatz der Verfassungslehre mit einem abweichenden Grundrechtsverständnis: Die Grundrechte werden als allgemeine Freiheit von jeglichen Einschränkungen verstanden120. Ausgangspunkt ist, dass alles, was nicht ausdrücklich verboten ist, zunächst einmal erlaubt ist121. Nach diesem Verständnis geht es weniger um das Berufen auf (Grund-)Rechte, sondern vielmehr um die Frage, welche Einschränkungen der Rechte überhaupt bestehen beziehungsweise bestehen dürfen122. Die Freiheitsphäre des Einzelnen wird durch diese Einschränkungen negativ definiert und abgegrenzt. Dabei wird sie insbesondere durch Regelungen des Privat- und des Strafrechts geschützt und ausgestaltet123. Überwiegend normiert sind negative Rechte im Sinne von Verboten, die in die Rechte anderer eingreifen. Positive Gewährleistungen – wie etwa die Gewährleistungen im deutschen Grundrechtskatalog – gibt es hingegen kaum124. Damit handelt es sich um eine negative Annäherung an generelle Grundrechtsgehalte125. Nach diesem Verständnis wird es eher als unnatürlich angesehen, dass bestimmte Freiheitsbereiche besonders normiert sein sollen126. Das berühmte Zitat „There is no more a right of free speech than there is a right to tie up my shoe-lace“127 zeigt diese Haltung in besonderer Weise128. So stellen die Grundrechte kein in sich geschlossenes verfassungsrechtliches System dar, vielmehr sind sie als Menschenrechte (human rights) oder als bürgerliche Freiheiten (civil liberties) vorrangig als moralisch-politische Kategorien anzusehen129. Die Rechtsprechung verstärkt diese Rechte nur dann zu konkretisierten Ansprüchen, wenn das allgemeine Recht (law of the land) sie ebenfalls anerkennt130. Dabei haben die Gerichte die Aufgabe, das allgemeine Recht zu finden und anzuwenden131. 120  W.

I. Jennings, The Law and the Constitution, S. 243. Freedom, the Individual and the Law, S. 12; A. W. Bradley / K. D. Ewing / C. J. S. Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 358. 122  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 720. 123  W. I. Jennings, The Law and the Constitution, S. 243. 124  S. H. Bailey / D. J. Harris / B. L. Jones, Civil Liberties, S. 2. 125  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 735. 126  Z. Cowen, Individual Liberty and the Laws, S. 16. 127  W. I. Jennings, The Law and the Constitution, S. 243. 128  So auch K. Gogos, Verwaltungseinheiten, S. 143. 129  C. Palley, The United Kingdom, S. 53; Stevens / Yardley, The protection of Liberty; K. Gogos, Verwaltungseinheiten, S. 144. 130  C. Palley, The United Kingdom, S. 54; P. S. James, Introduction to English Law, S. 157; A. Lester, P.L. 1984, 46 (70). 131  W. v. Simson, Verfassungszweifel, in: FS für Karl Carstens II, S. 853. 121  H. Street,



B. Das nationale Recht217

Das erkennende Gericht prüft dementsprechend lediglich, ob eine Begrenzung der Freiheit vorliegt und ob diese vorliegen darf132. Denn der Gewährleistungsbereich der Grundrechte kann nur durch eine Untersuchung der Beschränkungen bestimmt werden, denen der Einzelne unterliegt133. Negativ formuliert bedeutet dies, dass dem Einzelnen (lediglich) so viel an Freiheit zusteht, wie ihm nicht vom Staat durch Gesetz genommen ist134. Die Freiheitsrechte sind mit anderen Worten der verbleibende Restbestandteil an Freiheit, der von der Wahrnehmung legislativer und exekutiver Kompetenz unberührt gelassen wurde135. Man spricht daher von einem Residualcharakter der Grundrechte136. Die bürgerliche Freiheit wird dabei durch das Erfordernis einer rechtlichen Grundlage geschützt137. Daraus wird ein prinzipieller Vorrang der bürger­ lichen Freiheit abgeleitet138. Problematisch ist bei diesem Ansatz jedoch, dass er zwar die Freiheit anerkennt, alles zu tun, das nicht verboten ist, aber keine Möglichkeit kennt, den Bürger vor neuen Einschränkungen durch neue Gesetze zu schützen139. Viele Einschränkungen der Rechte erfolgen aber gerade durch das common law140. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das ­ System der Freiheitsrechte vorrangig von politisch-moralischen Garantien bestimmt ist; lediglich nachrangige Bedeutung kommt den juristischen Garantien im engeren Sinne zu141. Eben dieses politische Element habe die Freiheit der Briten schon seit Jahrhunderten geschützt142. Bei der näheren Ausgestaltung dieser Freiheitsräume verzichtet die Verfassungstradition vornehmlich auf abstrakte, mit Verfassungsrang ausgestattete 132  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 720. 133  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 720. 134  W. I. Jennings, The Law and the Constitution, S.  243; E. Crombach, DVBl. 1973, 561 (562). 135  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 720. 136  S. de Smith / R. Brazier, Constitutional and Adminstrative Law, S. 429; P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 735; M. Baum, Schutz, S. 101; R. Grote, ZaöRV 58 (1998), 309 (310). 137  M. Baum, Schutz, S. 103. 138  M. Baum, Schutz, S. 103 f. 139  A. W. Bradley / K. D. Ewing / C. J. S. Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 358. 140  A. W. Bradley / K. D. Ewing / C. J. S. Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 358. 141  K. Gogos, Verwaltungseinheiten, S. 143. 142  K. Gogos, Verwaltungseinheiten, S. 143.

218

4. Kap.: Vereinigtes Königreich

Grundrechtsgarantien143. Dementsprechend gibt es beispielsweise auch keinen dem allgemeinen Gleichheitssatz vergleichbaren Grundsatz144. Daraus wird teilweise gefolgert, dass die verfassungsmäßigen Rechte keine objektiv-rechtliche Dimension anerkennen145. Nach dem herrschenden britischen Verfassungsverständnis aber liegt das Wesen einer rechtsstaatlichen Ordnung in dem Schutz, den sie dem Einzelnen als Machtadressaten gegen willkürliche Einwirkungen der Machtträger gegen ihre Persönlichkeitssphäre gewährt146. Die Freiheit von Staatswillkür kann daher als wesentliche Funktion der Rechte verstanden werden und vermittelt eine gewisse objektive Komponente. Eine weitere Besonderheit besteht im (Grund-)Rechtsschutz. Es wird vertreten, dass das britische Rechtssystem eher durch seine Rechtsbehelfe als durch die ihm verliehenen Rechte charakterisiert wird147. Bei Rechtsverletzungen gewähren die gewöhnlichen Rechte dem Individuum Schutz, sie werden vorrangig durch das einfache Straf-, Eigentums- und Deliktsrecht geschützt148. Problematisch ist in diesem Zusammenhang die praktische Umsetzung des Grundrechtsschutzes. Dieser erfolgt vorrangig durch die Gerichte149. Mangels eines formellen Grundrechtskatalogs legen die Gerichte ihren Entscheidungen die Bedeutung und das Konzept der Freiheitsrechte zugrunde und berücksichtigen bei der Auslegung des Rechts die Bewahrung individueller Freiheiten150. Die Gerichte gingen bei der Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Anwendung von Gesetzen von der Vermutung aus, dass das Parlament grundsätzlich nicht beabsichtige, Beschränkungen der persönlichen Freiheit vorzunehmen, wenn nicht der Gesetzeswortlaut eindeutig den Eingriff in den Freiheitsbereich eines Bürgers vorsehen oder die Exekutive zu einem solchen ermächtige151. So konnten sie den von ihnen als fundamental angesehenen Rechten einen erhöhten Schutz zukommen lassen152. Auf143  N. 144  P.

Browne-Wilkinson, PL 1992, 397 (397, 402). Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I,

S. 743. 145  M. Baum, Schutz, S. 20 Rn. 9. 146  K. Loewenstein, Staatsrecht II, S. 261. 147  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 720. 148  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 720. 149  K. Gogos, Verwaltungseinheiten, S. 145. 150  I. Brownlie, The Law Relating to Public Order, S. 145; A. Geisseler, Reformbestrebungen, S. 23; E. Crombach, DVBl. 1973, 561 (562 f.); M. H. W. Koch, Einführung, S. 63. 151  D. L. Keir / F. H. Lawson, Cases in Constitutional Law, S. 11; I. Brownlie, The Law Relating to Public Order, S. 144 f.; E. Crombach, DVBl. 1973, 561 (563). 152  D. L. Keir / F. H. Lawson, Cases in Constitutional Law, S. 11; I. Brownlie, The Law Relating to Public Order, S. 144 f.; E. Crombach, DVBl. 1973, 561 (562).



B. Das nationale Recht219

grund des uneingeschränkten Parlamentsvorbehaltes sind die Gerichte allerdings in ihren Urteilen gebunden, so dass sie sich bei eindeutiger Rechtslage trotz eigener Bedenken entsprechend entscheiden müssen153. Die Gerichte sind lediglich befugt, Parlamentsgesetze auszulegen und diese anzuwenden154. Es besteht kein Rechtsschutz vor der Willkür des Gesetzgebers155. Die gerichtliche Kontrolle wird im Ergebnis auf die Auslegung des zum Handeln ermächtigenden Gesetzes beschränkt156.

II. Grundrechtsverpflichtete Aufgrund der Besonderheiten des britischen Verfassungsrechts stellt sich die Frage, wen die Grundrechte überhaupt binden. Da traditionell keine Unterscheidung zwischen dem öffentlichen Recht und dem Privatrecht erfolgt157, gilt im gesamten Rechtskreis allein das allgemeine Recht (law of the land), das sowohl die öffentliche Verwaltung als auch Private erfasst158 und somit für alle Rechtsträger gleichermaßen gilt. Damit verschwimmen auch die Grenzen zwischen Verpflichtungen und Berechtigungen aus den Grund- beziehungsweise Freiheitsrechten. Denn auch die Befugnisse und Pflichten staatlicher Träger beruhen überwiegend auf gesetzlichen Vorschriften, die selbst nicht zwischen privaten und staatlichen Organisationsformen differenzieren159. Problematisch sei daran insbesondere, dass die staatliche Verantwortlichkeit dementsprechend auch nicht klar geregelt ist160. Mangels strikter Trennung gibt es keinen Vorbehalt von staatlichen Aufgaben oder Befugnissen zugunsten bestimmter Rechtsformen161, der eine Abgrenzung erleichtern könnte. Soweit Grundrechte punktuell anerkannt und geschützt 153  K. 154  P.

Gogos, Verwaltungseinheiten, S. 145. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I,

S. 723. 155  N. Browne-Wilkinson, P.L. 1992,397 (402); K. Gogos, Verwaltungseinheiten, S. 145. 156  K. Gogos, Verwaltungseinheiten, S. 148. 157  A. V. Dicey, Introduction, S. 114 f.; C. Hood, Execution, S. 107; K. Gogos, Verwaltungseinheiten, S. 90; kritisch P. Cane, Accountability and the Public / Private Distinction, in: Bamforth / Leyland, Public Law, S. 247; G. Zellick, P.L. 1985, 283 (296 f.); s. o. 158  A. V. Dicey, Introduction, S. 114 f.; P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 763; E. Glaser, DVBl. 1988, 677 (678); K. Gogos, Verwaltungseinheiten, S. 90. 159  K. Gogos, Verwaltungseinheiten, S. 90. 160  N. Lewis, Regulating Non-Government Bodies: Privatization, Accountability, and the Public-Private Divide, in: J. Jowell / D. Oliver, The Changing Constitution, S.  244 f. 161  K. Gogos, Verwaltungseinheiten, S. 90.

220

4. Kap.: Vereinigtes Königreich

sind, erstreckt sich ihr Anwendungsbereich ebenfalls auf staatliche und private Eingriffe162. Dies führt dazu, dass Hoheitsträger und Private in diesen Fällen gleichermaßen gebunden sind. So ist etwa das Gesetz gegen die Diskriminierung von ethnischen Gruppen (Race Relations Act 1976, Section 75 [1]) nicht nur auf der Krone zurechenbare Akte beschränkt, sondern erfasst auch Rechtsgeschäfte von Privatpersonen163. In diesen Fällen erübrigt sich die problematische Abgrenzung zwischen juristischen Personen des öffent­ lichen Rechts und solchen des Privatrechts164. Zu beachten ist zudem, dass im Vereinigten Königreich keine derart strikte Gewaltenteilung in dem Sinne besteht, dass die Legislative, die Exekutive und die Judikative durch vollkommen unterschiedliche Organe ausgeübt werden, wie es etwa in der Bundesrepublik der Fall ist165. Vielmehr besteht hier eine weitergehende Verknüpfung der Gewalten, was eine genaue Benennung der Grundrechtsverpflichteten erschwert. Im Einzelnen: 1. Legislative Aufgrund der uneingeschränkten parlamentarischen Souveränität und des Fehlens eines höherrangigen (Grund-)Gesetzes besteht keine rechtliche Grundrechtsbindung der Legislative, wie es sie beispielsweise in der Bundesrepublik gibt166. Das Parlament kann auch solche Rechte, die in anderen Ländern als Grundrechte durch einen besonderen Schutzbereich normiert und gesichert sind, jederzeit abändern oder beseitigen167. Seine Gesetzgebungsbefugnis unterliegt keinerlei rechtlichen Schranken168. Sie geht so weit, dass das Parlament zu jeder Frage Gesetze jeglichen – auch grundrechtsbeschränkenden – Inhalts beschließen kann169. Dennoch ist das Handeln des Parlamentes begrenzt durch die bereits dargelegten politischen und sittlichen Schranken. Zu berücksichtigen ist, dass 162  K.

Gogos, Verwaltungseinheiten, S. 144. Gogos, Verwaltungseinheiten, S. 144. 164  Vgl. dazu A. I. 4. 165  O. Hood Phillips / P. Jackson / P. Leopold, Constitutional and Administrative Law, S. 26 Rn. 2-020. 166  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 754. 167  E. C. S. Wade / G. G. Phillips, Constitutional and Administrative Law, S. 60; P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 754. 168  S. H. Bailey / D. J. Harris / B. L. Jones, Civil Liberties, S. 1. 169  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 754. 163  K.



B. Das nationale Recht221

der Schutz der Grundrechte im Vereinigten Königreich auch ohne Grundrechtsbindung des Parlaments über Jahrhunderte möglich und erfolgreich war, ohne dass es besonderer rechtsverbindlicher Garantien bedurft hätte170. Teilweise wird auch die Naturrechtslehre, nach der die treuhänderisch zugewiesenen Machtbefugnisse des Parlaments niemals die Machtvollkommenheit zur Unterdrückung oder zur Verübung von Unrecht verwendet werden können171, als Schranke der Parlamentssouveränität verstanden172. Als tatsächliche Grenze der Parlamentsgewalt wird zudem das Erfordernis von Rechtsgehorsam innerhalb der Bevölkerung gesehen173. Außerdem wird das Erfordernis eines politischen und sozialen Konsenses im Land als Beschränkung gesehen174. 2. Exekutive Mangels einer dem Art. 20 Abs. 3 GG vergleichbaren Regelung ist zudem fraglich, inwieweit die Exekutive an die fundamentalen Rechte des Vereinigten Königreichs gebunden ist. Die Exekutive ist zunächst aufgrund der Parlamentssouveränität an die Gesetzgebung und damit an die gesetzlich normierten Grundrechte gebunden. Dies ergibt sich auch aus der Rule of Law. Aufgrund dieses Statuts bedarf jegliche vollziehende Gewalt einer Rechtsgrundlage175. Mangels geschriebener Verfassung kann sich diese nur aus einem Parlamentsgesetz oder dem Common Law ergeben176. Die Rule of Law geht allerdings nicht davon aus, dass die Grundrechte Teil jener Rechtsordnung wären, durch die die Ausübung der vollziehenden Gewalt geregelt wird177. Dies zeigt sich etwa in der Entscheidung Malone v. Metropolitan Police Commissioner178. Dort streitgegenständlich war eine 170  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte S. 755. 171  H. H. Kames, Equity, Kap. 3, S. 70 ff. 172  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte S. 756. 173  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte S. 756. 174  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte S. 756. 175  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte S. 757. 176  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte S. 757. 177  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte S. 757. 178  Chancery Division, [1979] Ch. 344.

in Europa und den USA I, in Europa und den USA I, in Europa und den USA I, in Europa und den USA I, in Europa und den USA I, in Europa und den USA I, in Europa und den USA I,

222

4. Kap.: Vereinigtes Königreich

Maßnahme zur Telefonüberwachung. Die Klage wurde abgewiesen, weil der Kläger sich auf kein Recht berufen konnte, dass es der Regierung verbot, ihn zu überwachen. Ein solches war schlicht nicht gesetzlich normiert. Die Entscheidung ging von der Annahme aus, dass die Regierung jede Maßnahme ergreifen könne, die nicht durch ein Gesetz verboten sei. Denn auch die Exe­ kutive könne von dem Grundsatz ausgehen, dass ihr alles erlaubt sei, was nicht ausdrücklich verboten ist179. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied in diesem Fall jedoch, dass die Abhörmaßnahmen mangels gesetzlicher Grundlage gegen Art. 8 EMRK verstoßen180. Aus der Rechtsprechung ergibt sich, dass die klassischen Exekutivorgane wie die Ministerien an die Grundrechte gebunden sind. So besteht beispielsweise eine ausdrückliche Bindung des Justizministeriums181. Fraglich ist jedoch, ob sich diese Bindung auch auf sonstige juristische Personen des öffentlichen Rechts erstreckt oder ob nur die Exekutivorgane im engeren Sinne verpflichtet sind. Dazu ist zunächst zu untersuchen, wie solche juristische Personen überhaupt ausgestaltet sind. Es gibt im Vereinigten Königreich verwaltungsnahe Organisationen mit Rechtspersönlichkeit, die als öffentliche Kooperationen (Public Corporations)182 oder als nicht-ministerielle öffent­ liche Träger (Non Departmental Public Bodies) bezeichnet werden183. Meist beruhen sie auf einem Parlamentsgesetz184. Problematisch ist dabei die Kategorisierung dieser Verwaltungseinheiten, da es kaum Merkmale gibt, die den Verwaltungsträgern gemein sind185. Sie werden dennoch in drei didaktisch motivierte Kategorien eingeteilt: Zum ­einen gibt es Verwaltungseinheiten der Leistungsverwaltung, ferner Träger mit regulatorischen oder exekutiven Aufgaben und nationalisierte Indus­ trien186. Den Begriff der gemischtwirtschaftlichen Unternehmen hingegen kennt das britische Verwaltungsrecht nicht187. Zwar bestehen Beteiligungen der britischen Verwaltung an privaten Unternehmen, dennoch ist weder eine besondere Behandlung dieser Unternehmen in der Praxis noch ein besonderer wissenschaftlicher Diskurs darüber erkennbar188. Darüber hinaus gibt es 179  Chancery

Division, [1979] Ch. 344 (355). EuGRZ 1985, 17 (23). 181  Vgl. nur M. A. & Anor v The Minister for Justice, [2007] 3 I.R. 421. 182  So etwa N. Johnson, Public Admin. 57 (1979), 379 (389); M. Hilf, Organisationsstruktur, S. 285. 183  So etwa Cabinet Office, Report on Non-Departmental Public Bodies, 2015. 184  M. Hilf, Organisationseinheiten, S. 285. 185  K. Gogos, Verwaltungseinheiten, S. 96. 186  C. Hood, Execution, S. 104; K. Gogos, Verwaltungseinheiten, S. 97. 187  K. Gogos, Verwaltungseinheiten, S. 102. 188  K. Gogos, Verwaltungseinheiten, S. 102. 180  EGMR,



B. Das nationale Recht223

eine Vielzahl von nichtrechtsfähigen Organisationseinheiten, die als quasigovernmental bodies bezeichnet werden189. Die Organisationskompetenz wird hier teilweise unmittelbar vom Parlament, teilweise von der Regierung und teilweise von den einzelnen Ministerien wahrgenommen190. Public boards (öffentliche Gremien) sind keine Behörden im engeren Sinne, aber dennoch öffentlich-rechtlich organisiert191. Sie sind dem Gesetz und der gerichtlichen Kontrolle unterworfen wie juristische Personen des Privatrechts192. Die Übertragung von hoheitlichen Aufgaben auf rein privatrecht­liche Rechtssubjekte kommt nur in unbedeutenden Ausnahmen vor193. Unabhängig von der genauen Kategorisierung der juristischen Personen des öffentlichen Rechts lässt sich zu ihren Verpflichtungen aus Grundrechten in Rechtsprechung und Literatur wenig finden. Gleich wie eine juristische Person des öffentlichen Rechts kategorisiert wird, ist sie aber stets an Parlamentsgesetze und deren Vorgaben gebunden. 3. Judikative Die Rolle der Judikative ist aufgrund der Parlamentssouveränität stark eingegrenzt194. Sie beschränkt sich auf die Auslegung und Anwendung der Gesetze und des Gemeinen Rechts195. Die Aufgabe der Gerichte liegt mithin darin, den Willen des Gesetzgebers zu erforschen; dabei haben sie sich an der traditionellen Gesetzesauslegung zu orientieren, die vom Wortlaut ausgeht und weltanschauliche, soziale und wirtschaftliche Aspekte außer Acht lässt196. Damit sind die Gerichte jedenfalls an die gesetzlich normierten Grundrechte und den Schutz der durch sie statuierten Freiheitssphären gebunden. Eine weitergehende Bindung, etwa an materielle Grundrechtsgehalte, besteht darüber hinaus nicht. Die Gerichte sind nicht befugt, ein Parlamentsgesetz wegen einer Grundrechtsverletzung oder aus sonst einer Erwägung he­

189  M.

Hilf, Organisationseinheiten, S. 284. Hilf, Organisationseinheiten, S. 285. 191  E. C. S. Wade / G. G. Phillips, Constitutional and Administrative Law, S. 280. 192  E. C. S. Wade / G. G. Phillips, Constitutional and Administrative Law, S. 287. 193  M. Hilf, Organisationseinheiten, S. 285. 194  A. Lester, P.L. 1984, 46 (66 f.); P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 760 f. 195  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 761. 196  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 761. 190  M.

224

4. Kap.: Vereinigtes Königreich

raus für verfassungswidrig oder nichtig zu erklären197. Zudem kann das Parlament jedwede Gerichtsentscheidung aufheben198. Rechtsnormen hingegen, die im Rang unter den Parlamentsgesetzen stehen, etwa Rechtsverordnungen und Ausführungsverordnungen, unterliegen der gerichtlichen Überprüfung199. Eine Bindung der Gerichte ergibt sich ferner aus dem Präjudizsystem. Danach müssen Entscheidungen eines Obergerichtes von einem untergeordneten Gericht oder einem Gericht gleicher Instanz berücksichtigt werden. Dies gilt auch, wenn die obergerichtliche Entscheidung grundrechtsrelevante Bereiche betrifft oder diese ausformt. Werden Präjudizen nicht berücksichtigt, liegt ein Rechtsmittelgrund vor200. Dies gilt nicht für Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes beziehungsweise des Oberhauses – als es noch rechtsprechende Tätigkeit ausübte201 – selbst. Für diese besteht beziehungsweise bestand die Möglichkeit, von früheren Entscheidungen abzuweichen, wenn dies aus Gründen der Sachgerechtigkeit notwendig erscheint202. Der Oberste Gerichtshof ist also in seinen grundrechtsrelevanten Entscheidungen freier als die einfachen Gerichte, unterliegt aber wiederum der Parlamentssouveränität. 4. Private Für das in Deutschland als „Drittwirkung der Grundrechte“ diskutierte Problem fand sich bis zum Inkrafttreten des Human Rights Acts im Vereinigten Königreich keine Entsprechung gleicher Intensität203. Dies liegt schon daran, dass die Frage nach der Bindung Privater aufgrund des allgemeinen Rechtsverständnisses von vergleichsweise untergeordneter Bedeutung ist204. Die Gleichheit aller Rechtspersonen gilt auch bezüglich der Grundrechtsbin197  House of Lords, Pickin v. British Railway Board [1974] A. C. 765; P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 761. 198  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 761. 199  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 762. 200  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 761. 201  Das House of Lords übt seit 2009 keine Rechtsprechung mehr aus (L. BlomCooper / B. Dickson / G. Drewry, The Judicial House of Lords, S. xxi ff. m. w. N.). 202  Etwa in Conway v. Rimmer [1968] A. C. 910 (930). 203  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 762; C. Mak, Fundamental Rights in European Contract Law, S. 132 f. 204  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 763.



B. Das nationale Recht225

dung. Unerheblich ist also, ob die juristische Person öffentlich-rechtlich organisiert oder dem Privatrecht zuzuordnen ist. Sie ist dem Gesetz und den Schutzrechten des Individuums gegen privaten oder öffentlichen Rechtsmissbrauch in gleicher Weise unterworfen205. Die Rule of Law wird dahingehend verstanden, dass sie „die Gleichheit vor dem Gesetz oder die gleiche Rechtsunterworfenheit aller Klassen unter das allgemeine und von den ordentlichen Gerichten angewandte Landesrecht“ beinhalte206. Danach kann sich niemand seiner rechtlichen Bindungen entziehen. Sowohl die Bürger als auch die Träger öffentlicher Gewalt unterliegen der gemeinsamen Pflicht, dem gleichen Recht Folge zu leisten207. Für die Erforderlichkeit der Annahme einer Drittwirkung wird zudem angeführt, dass eine Gefahr des Machtmissbrauchs zu diskriminierenden Zwecken gleichfalls bei Privaten bestünde. Ihnen dürfte es ebenso wenig wie dem Staat erlaubt sein, willkürlich und diskriminierend zu handeln208. Allerdings hindert diese gleiche Rechtsunterworfenheit das Parlament nicht, zwischen verschiedenen Personenkategorien unter wirtschaft­ lichen, sozialen oder rechtlichen Aspekten zu unterscheiden209. Die Gleichsetzung von Privaten und öffentlichen Stellen wird insbesondere auch an der Gesetzgebung deutlich, die stets auf Einzelfälle reagierte und durch den Schutz bestimmter Gruppen sowohl die öffentlichen Stellen als auch Private zur Einhaltung gewisser Freiheitsbereiche zwang. Ein Beispiel hierfür bildet der Race Relations Act von 1965210. Ein weiteres Beispiel für den typischen Fall der Drittwirkung von Grundrechten ist der 1975 in Kraft getretene „Equal Pay Act 1970“. Er gab Frauen das Recht, denselben Lohn wie männliche Arbeitnehmer zu verlangen. Ein Verstoß war im Wege der Arbeitsgerichtsbarkeit geltend zu machen211. Damit wurden auch private Arbeitgeber zu einer fundamentalen Gleichbehandlung verpflichtet. Damit kann für Private vom Bestehen einer grundsätzlichen Bindung an die Grund- und Freiheitsrechte ausgegangen werden.

205  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 763. 206  A. V. Dicey, S. 114. 207  E. C. S. Wade / G. G. Phillips, Constitutional and Administrative Law, S. 87. 208  A. Lester, Democracy and individual right, S. 20 f. 209  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 763. 210  1965 c. 73. 211  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 763.

226

4. Kap.: Vereinigtes Königreich

III. Grundrechtsberechtigte Spiegelbildlich zu der gleichartigen Grundrechtsbindung der Rechtssubjekte erfolgt im britischen Recht ebenso für die Grundrechtsberechtigung keine Differenzierung nach der Organisationsform der in Frage kommenden Grundrechtsberechtigten. Dennoch unterscheidet auch das britische Recht zwischen Freiheiten (liberties) auf der einen Seite und bürgerlichen Freiheiten (civil liberties) und Menschenrechten (human rights) auf der anderen Seite212, die wiederum zu einer unterschiedlichen Berechtigung führen können. Unter Freiheit ist dabei die politische Komponente zu verstehen, das Freisein von Zwängen und die Möglichkeit, selbstbestimmt zu handeln. Bürgerliche Freiheiten hingegen knüpfen an die Staatsangehörigkeit einer Person und regeln das Verhältnis zwischen ihr und dem Staat213. Sie erlegen dem Staat die Pflicht auf, seine Staatsangehörigen bei der Ausübung ihrer Freiheiten zu unterstützen214. In systematischer Hinsicht kann bei den ausgestalteten Freiheiten unterschieden werden zwischen Bürgerrechten und politischen Rechten einerseits sowie sozialen, kulturellen oder wirtschaft­ lichen Rechten andererseits215. Menschenrechte ergeben sich demgegenüber aus der Tatsache, dass eine Person der menschlichen Spezies angehört216. 1. Natürliche Personen Nach dem allgemeinen Grundrechtsverständnis können sich natürliche Personen unproblematisch auf die Menschenrechte sowie sämtliche Freiheiten berufen. Fraglich ist jedoch, ob für ein Berufen auf die Grundrechte die britische Staatsangehörigkeit erforderlich ist. Insgesamt wird im britischen Recht unterschieden zwischen den British ­ ationals, die Staatsangehörige des Vereinigten Königreichs sind, den AngeN hörigen des Common Wealth (British Subject oder Citizen) und Ausländern ­(Aliens), die in keinerlei Verbindung zum britischen Rechtskreis stehen217. Dabei ist zu beachten, dass EU-Ausländer nach dem Europarecht ohnehin wie Briten behandelt werden müssen218. Im Allgemeinen genießen all diese Personen im Vereinigten Königreich denselben rechtlichen Schutz. So sind Auslän212  D.

Feldman, Civil Liberties, S. 3 ff. Feldman, Civil Liberties, S. 4. 214  D. Feldman, Civil Liberties, S. 5. 215  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 735. 216  D. Feldman, Civil Liberties, S. 5. 217  K. Loewenstein, Staatsrecht II, S. 252. 218  E. C. S. Wade / G. G. Phillips, Constitutional and Administrative Law, S. 431 f. 213  D.



B. Das nationale Recht227

der in Friedenszeiten den britischen Staatsangehörigen in allen bürgerlichen Rechten gleichgestellt219. Seit dem Status of Aliens Act von 1914220 stehen Ausländer den Inländern insbesondere eigentumsrechtlich weitestgehend gleich (sie können lediglich nicht Eigentümer eines Schiffes sein)221. Allerdings räumte der Aliens Restriction Act von 1914 der Regierung weitgehende Rechte zur Kontrolle von Ausländern im Kriegs- und Notstandsfall ein. Auf dieser Linie liegt es, dass ein Ausländer während des Kriegszustandes vor keinem Gericht innerhalb Großbritanniens Klage erheben kann222. Damit sind auch seine justiziellen Grundrechte, denen etwa in der Bundesrepublik besondere Bedeutung zukommt und die dort sogar von juristischen Personen des öffentlichen Rechts geltend gemacht werden können, stark eingeschränkt. Der nachfolgende Aliens Restrictions (Amendment) Act von 1919 ermöglichte es zudem, unerwünschten Ausländern die Einreise zu verweigern223. Weitere Einschränkungen bestehen bei den politischen Rechten. So können Ausländer nicht einen Parlamentssitz einnehmen224 und auch kein öffentliches Amt innehaben225. Ferner besitzen sie kein Wahlrecht zum Parlament oder zu den Lokalvertretungen und können nicht im Regierungsdienst beschäftigt werden. Alle Ausländer, die sich im Vereinigten Königreich befinden, stehen in einem Treueverhältnis zur Krone und sind den allgemeinen zivilen und strafrechtlichen Bestimmungen wie ein Staatsangehöriger unterworfen226. Zusammengefasst besteht im Vereinigten Königreich grundsätzlich eine Gleichstellung von Staatsangehörigen und Ausländern, so dass diese sich gleichermaßen auf Rechte und Freiheiten berufen können. Dies ergibt sich bereits aus dem verfassungsrechtlichen Ansatz, dass grundsätzlich alles erlaubt ist, was nicht gesetzlich verboten ist. Mangels ausdrücklicher Einschränkungen muss dieser Ansatz auch für Ausländer gelten. Wenn ihnen Unrecht geschieht, müssen sie sich also ebenso auf die Grundrechte berufen können. Eine Besonderheit gilt allein im Kriegsfalle für den so genannten feindlichen Ausländer. Dieser befindet sich während des Kriegszustandes in einer Lage verminderter Rechtsgleichheit227 und ist nur beschränkt grundrechtsberechtigt. 219  K.

Loewenstein, Staatsrecht II, S. 252 f. c. 17. 221  K. Loewenstein, Staatsrecht II, S. 252. 222  K. Loewenstein, Staatsrecht II, S. 256. 223  K. Loewenstein, Staatsrecht II, S. 252. 224  Act of Settlement, 1700 c. 2; K. Loewenstein, Staatsrecht II, S. 253. 225  1914 c. 12; K. Loewenstein, Staatsrecht II, S. 253. 226  K. Loewenstein, Staatsrecht II, S. 253. 227  K. Loewenstein, Staatsrecht II, S. 256. 220  1914

228

4. Kap.: Vereinigtes Königreich

2. Juristische Personen des Privatrechts Grundsätzlich besteht auch im britischen Recht eine Grundrechtsberechtigung juristischer Personen. Diese können sich ebenso wie natürliche Personen auf ihre Freiheiten und Rechte berufen und werden durch die gesetzlich geschaffenen Freiheitsphären geschützt228. So ist auch die Vereinigungsfreiheit im Britischen Recht geschützt und umfasst sowohl das Recht des Einzelnen, einer Vereinigung beizutreten oder eine solche zu gründen, als auch die Rechte der Mitglieder der Vereinigung229. Problematisch ist jedoch, ob sich die Grundrechtsberechtigung von juristischen Personen lediglich als Kumulation der Rechte ihrer Mitglieder darstellt oder ob sich die juristische Person selbst auf diese Rechte berufen kann230. Für letztere Auffassung spricht, dass einige Grundrechte ausschließlich der Gruppe als solcher zukommen können und im Übrigen leer liefen231. Lediglich aus der Ausgestaltung des einzelnen Rechts beziehungsweise der einzelnen Freiheit kann sich Gegenteiliges ergeben. So können einige Rechte schon aufgrund ihres Inhalts nicht auf juristische Personen übertragen werden232. Als Beispiel ist hier das Recht auf Leben zu nennen233. Auch bestimmte gesetzlich geschützte Freiheitsbereiche sind so ausgestaltet, dass sie nur natürlichen Personen zugutekommen. Dies gilt etwa für den Habeas Corpus Act von 1679234, der lediglich natürlichen Personen Schutz vor willkürlicher Inhaftierung gewährt235. Besonderheiten bestehen im schottischen Recht: Für inländische juristische Personen ergeben sich die wichtigsten Voraussetzungen einer Grundrechtsberechtigung aus den Merkmalen, die für die häufigste Form einer juristischen Person, nämlich für Corporations gefordert werden236. Sie werden definiert als „juristische Personen oder Rechtsgebilde, die zu existieren in der Lage sind, Träger von Rechten und Pflichten sein können, verklagt werden und 228  P. Craig, Access to Mechanism of Administrative Law, in: Feldman, English Public Law, Rn. 17.55. 229  A. W. Bradley / K. D. Ewing / C. J. S. Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 479. 230  C. Palley, The United Kingdom, S. 132. 231  C. Palley, The United Kingdom, S. 132. 232  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 837. 233  Dazu P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 737. 234  1679 c. 2. 235  E. H. Riedel, EuGRZ 1980, 192 (193). 236  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 837.



B. Das nationale Recht229

klagen können und deren Bestand in jeder Hinsicht unabhängig ist von der Zugehörigkeit einzelner oder mehrerer zu der Vereinigung“.237. Das schottische Recht knüpft also die Grundrechtsberechtigung an die Parteifähigkeit einer juristischen Person. Werden Vereinigungen von der Rechtsordnung nicht als Rechtspersönlichkeit anerkannt, können sie sich nur über ihre Mitglieder auf Rechte berufen238. Eine Ausnahme besteht allerdings dann, wenn sie als Gesellschaft (Company) verfasst sind239. Dann ist ein Berufen auf die Rechte und Freiheiten möglich. Juristische Personen des Privatrechts werden meist durch einen Registrierungsakt gemäß dem Gesetz über Handelsgesellschaften (Companies Act) errichtet, möglich ist aber auch die Gründung durch ein staatliches Gesetz240. Die Handlungsvollmachten einer juristischen Person ergeben sich dementsprechend aus dem Gründungsvertrag oder dem jeweiligen Gesetz241. Diese sind deliktisch verantwortlich und können auch aus Delikt klagen, wenn ihnen selbst, ihren Rechten und ihrem Eigentum Schaden zugefügt wurde242. Dementsprechend ist davon auszugehen, dass sie auch grundrechtsberechtigt sind. Die schottischen partnerships, also Zusammenschlüsse, die der deutschen Personengesellschaft entsprechen würden, werden in Schottland als quasijuristische Personen behandelt243. Das bedeutet, dass sie durch Vertrag gegründet werden und ihr Bestand unabhängig von den Gesellschaftern ist244. Obwohl ihnen somit in gewisser Hinsicht Rechtspersönlichkeit zukommt, stehen ihnen nicht alle rechtlichen Privilegien zu245. Eine Grundrechtsberechtigung ist aber nicht auszuschließen; hier sind die Parteifähigkeit sowie die Gesetzeslage bezüglich der geschützten Freiheit im Einzelfall maßgeblich. 237  D. M. Walker, Principles of Scottish Private Law, S. 421; zustimmend P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 837. 238  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 839. 239  St. Johnstone F.C. vs. Scottish Football Association Ltd., 1965 S.L.T. 171 (174). 240  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 838. 241  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 838. 242  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S.  838 m. w. N. 243  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 839. 244  House of Lords, Mair v. Wood, [1948] S.C. 83 (93). 245  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 839.

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4. Kap.: Vereinigtes Königreich

3. Juristische Personen des öffentlichen Rechts Zunächst ist festzuhalten, dass es einer Grundrechtsberechtigung für das ohnehin souveräne Parlament nicht bedarf, da dieses zum einen nicht in seiner Gesetzgebungshoheit eingeschränkt werden kann und zum anderen Einschränkungen unmittelbar durch Gesetz aufheben könnte. Grundsätzlich ist eine Grundrechtsberechtigung aller sonstigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts denkbar. Der Ausgangspunkt, dass alles, was nicht ausdrücklich verboten ist, zunächst einmal erlaubt ist, soll sogar für die Regierung gelten246. Zunächst lässt sich keine Regelung finden, die juristischen Personen des öffentlichen Rechts versagt, sich auf die Grundrechte und -freiheiten des britischen Rechts zu berufen. Folgerichtig müssten sich auch alle sonstigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts auf die Rechte und Freiheiten des britischen Rechts berufen können. Für diese Auffassung spricht auch, dass das britische Recht – wie bereits dargelegt – keine strikte Trennung zwischen dem privaten und dem öffentlichen Recht kennt und es insbesondere auch keine Trennung zwischen dem Verwaltungsrecht und dem Zivilrecht gibt247. Für die Annahme dieser weiten Grundrechtsberechtigung ist anzuführen, dass seit jeher staats- und privatwirtschaftliche Betriebe nebeneinander bestehen, die denselben rechtlichen Rechten und Pflichten unterliegen248. Nach dieser Auffassung sollen sie auch vor dem Gesetz gleich sein249. Dennoch wurde die Frage nach der Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des öffentlichen Rechts in der Rechtsprechung und der Literatur soweit ersichtlich wenig diskutiert, thematisiert wurde lediglich die Verantwortlichkeit für ihr Handeln250. Allein Supperstone und Coppel nehmen sich dieser Fragestellung an und gehen ebenfalls davon aus, dass eine Grundrechtsberechtigung sämtlicher juristischer Personen grundsätzlich möglich ist und führen dazu Order 53 der Rules of the Supremecourt an, wonach lediglich ein ausreichendes Interesse (sufficient interest) erforderlich ist, um Rechte geltend zu machen251. Für eine weite Auslegung der Annahme einer Berechtigung aus den Grundrechten und Freiheiten spricht zudem, dass, soweit öffentlich-rechtliche 246  A. W. Bradley / K. D. Ewing / C. J. S. Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 358. 247  D. L. Keir / F. H. Lawson, Cases in Constitutional Law, S. 288 f. 248  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 748. 249  P. Cane, Accountability and the Public / Private Distinction, in Bamforth / Leyland, Public Law, S. 248. 250  Vgl. etwa D. L. Keir / F. H. Lawson, Cases in Constitutional Law, S. 285 ff. 251  M. Supperstone / J. Coppel, EHRLR 1999, 301 (306 f.).



B. Das nationale Recht231

­ örperschaften unerlaubte Handlungen begehen, gesetzliche VerfahrensvorK schriften missachten oder besondere gesetzliche Pflichten nicht erfüllen, sie der richterlichen Entscheidungsgewalt wie ein Privater unterliegen252. Anders als etwa im deutschen Recht gibt es bei anderen juristischen Personen des öffentlichen Rechts als der Krone kein dem Staatshaftungsrecht vergleichbares Rechtsinstitut. Daraus kann gefolgert werden, dass sie auch in Aktivprozessen ihre Rechte grundsätzlich geltend machen können wie Privatpersonen. Problematisch ist, dass es eine Vielzahl unterschiedlicher juristischer Personen gibt, die unterschiedlich stark öffentlich geprägt sind. Aufgrund zahlreicher Regelungen insbesondere im Sozial- und Wohlfahrtsbereich gibt es eine große Zahl von öffentlichen Ämtern und Stellen, die schon nicht als Behörden im engeren Sinne klassifiziert werden können253. So gibt es eine Vielzahl von public corporations, den öffentlich-rechtlichen Körperschaften, die neben den zentralen Regierungsstellen, die der direkten Aufsicht der Minister unterstehen, weitere Verwaltungsaufgaben wahrnehmen. Auf sie wurden zahlreiche Verwaltungsaufgaben ausgelagert254. Zu den public corporations zählen etwa das National Coal Board, das Britisch Railways Board, die Bank of England, das Post Office oder die British Steel Corporation255, aber auch die British Broadcasting Corporation oder die Water Authorities256. Außerdem gibt es regulierende und beratende Körperschaften, wie etwa die Civil Aviation Authority, Director General of Fair Traiding und die Health and Safety at Work Commission and Executive257. Problematisch ist die rechtliche Einordnung dieser public corporations: Maßgeblich ist dafür zunächst, wie die juristische Person gegründet wurde und inwieweit sie der Kontrolle durch das jeweilige Ministerium untersteht258. Dabei ist zu unterscheiden, ob die juristische Körperschaft durch die Krone beauftragt oder angestellt wurde259. Eine Grundrechtsberechtigung ist jedoch auch unabhän252  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 749. 253  E. C. S. Wade / G. G. Phillips, Constitutional and Administrative Law, S. 280; P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 748. 254  O. Hood Phillips / P. Jackson / P. Leopold, Constitutional and Administrative Law, S. 651, Rn. 28-001. 255  O. Hood Phillips / P. Jackson / P. Leopold, Constitutional and Administrative Law, S. 652, Rn. 28-002. 256  O. Hood Phillips / P. Jackson / P. Leopold, Constitutional and Administrative Law, S. 653, Rn. 28-003. 257  O. Hood Phillips / P. Jackson / P. Leopold, Constitutional and Administrative Law, S. 654, Rn. 28-004. 258  O. Hood Phillips / P. Jackson / P. Leopold, Constitutional and Administrative Law, S. 657, Rn. 28-008. 259  O. Hood Phillips / P. Jackson / P. Leopold, Constitutional and Administrative Law, S. 657 f., Rn. 28-009.

232

4. Kap.: Vereinigtes Königreich

gig von der konkreten Zuordnung möglich, soweit keine gesetzlichen Regeln im Einzelfall entgegenstehen. Public boards (öffentliche Gremien) und advisory bodies (beratende Körperschaften) sind dem Gesetz und der gerichtlichen Kontrolle unterworfen wie juristische Personen des Privatrechts260. Im Umkehrschluss können sie dieselben Rechte geltend machen wie rein privatrechtliche juristische Personen, sich also auch auf Grundrechte berufen261. Dabei haben die Gerichte die Antragsbefugnis öffentlicher Stellen überwiegend restriktiv ausgelegt und der betroffenen Behörde aufgegeben, die Beeinträchtigung des Eigentums oder den Eintritt des Schadens nachzuweisen262. Zudem wurde eine Antragsbefugnis auch dann angenommen, wenn die Behörde aufgrund einer gesetzlichen Pflicht begünstigt wurde263. Aber auch hier erfolgte eine restriktive Auslegung264. Der Gesetzgeber reagierte auf diese restriktive Auslegung mit dem Local Government Act 1972265. Danach ist es einer Kommunalbehörde gestattet, eine Klage im eigenen Namen zu erheben und die Rechte ihrer Einwohner geltend zu machen, ohne den Attorney-General einzuschalten266. In einer Leitentscheidung des Court of Appeal werden öffentlich-rechtliche Körperschaften als unabhängig von der Krone eingeordnet. Sie seien ebenso wie andere juristische und natürliche Personen rechtlich uneingeschränkt für ihr eigenes Handeln verantwortlich und genössen auch keine Immunität267. Inzwischen wird in einem eine öffentliche Körperschaft errichtenden Gesetz auch immer deren Rechtsstatus bestimmt268. Überwiegend unterliegen diese dann uneingeschränkt allen Rechten und Pflichten269. Anders verhält sich dies nur im Bereich einiger verstaatlichter Industriezweige, die gemeinnützige Dienstleistungen durchführen270. Diese sind mit besonderen Rechtsset260  E.

C. S. Wade / G. G. Phillips, Constitutional and Administrative Law, S. 287. Schirmer, Konstitutionalisierung, S. 223. 262  B. Schirmer, Konstitutionalisierung, S. 223. 263  Court of Appeal, Devonport Corp v Tozer [1903] 1 Ch 759 (763); P. Craig, Access to Mechanism of Administrative Law, in: Feldman, English Public Law, Rn. 17.52; B. Schirmer, Konstitutionalisierung, S. 223. 264  P. Craig, Access to Mechanism of Administrative Law, in: Feldman, English Public Law, Rn. 17.52; B. Schirmer, Konstitutionalisierung, S. 223. 265  Court of Appeal, 1972 c. 70; P. Craig, Access to Mechanism of Administrative Law, in: Feldman, English Public Law, Rn. 17.53. 266  P. Craig, in: Feldman, English Public Law, Rn. 17.52. 267  Court of Appeal, Tomlin v. Hannaford, [1950] 1 K. B. 18 (23). 268  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 749. 269  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 749. 270  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 749. 261  B.



B. Das nationale Recht233

zungsbefugnissen ausgestattet, die privatrechtlichen Körperschaften nicht zustehen. Als Beispiel können hier öffentliche Elektrizitätsgesellschaften angeführt werden, sie sind wegen des Rights of Entry (Gas and Electricty Board) Act 1954 zum Betreten von Wohnungen zum Ablesen von Stromzählern berechtigt271. Dennoch ist eine Grundrechtsberechtigung für diese nicht von vornherein auszuschließen. Besonderheiten bezüglich der geltend zu machenden Rechte bestehen für Rundfunkanstalten mit Blick auf die Meinungs- und Pressefreiheit. Aufgrund vertraglicher Verpflichtungen sind die Rundfunkanstalten derart gebunden, dass dies einer Berechtigung aus diesen Rechten entgegensteht272. Als Beispiel für eine solche Rundfunkanstalt ist die BBC zu nennen: Die BBC ist eine Gesellschaft errichtet durch ein königliches Statut und steht unter der Leitung der BBC Trust und dem Vorsitzenden der BBC273. Die sich aus dem Statut ergebenden Pflichten entsprechen den gesetzlichen Pflichten privatrechtlicher beziehungsweise kommerziell ausgerichteter Rundfunksender. Zudem wurde eine Vereinbarung zwischen der BBC und der Regierung abgeschlossen, wonach die Rundfunkanstalt einigen weitergehenden Pflichten unterliegt274. Die BBC hat durch das Abkommen mit der Regierung einige öffentliche Pflichten, etwa die tägliche Übertragung eines Berichts über die Ereignisse im Parlament, übernommen. Das Abkommen führt aber zugleich dazu, dass die BBC nicht seine eigene Sichtweise zu aktuellen Gescheh­ nissen kundtun darf, sondern dazu verpflichtet ist, diese unvoreingenommen darzustellen. Unvoreingenommenheit ist in diesem Fall aber nicht mit absoluter Neutralität gleichzusetzen. Darüber hinaus besteht in einem Notfall die Pflicht der BBC, bestimmtes Material zu senden, weitergehend besteht aber kein Recht der Regierung, das Programm der BBC zu kontrollieren275. Durch diese Einschränkungen soll eine Balance zwischen der Meinungsfreiheit der Rundfunkanstalten und den Rechten der Zuschauer und Zuhörer geschaffen werden. Insoweit ist eine Berechtigung aus der Meinungsfreiheit ausgeschlossen. Dieser Ausschluss ist aber als konkrete Folge einer Interessenabwägung zu werten und weniger als Grundsatzentscheidung gegen die Berechtigung von Rundfunkanstalten276. 271  P.

Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 749. W. Bradley / K. D. Ewing / C. J. S. Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 453. 273  A. W. Bradley / K. D. Ewing / C. J. S. Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 453. 274  Department for Culture, Media and Sport, Cm 6872, 2006. 275  A. W. Bradley / K. D. Ewing / C. J. S. Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 454. 276  A. W. Bradley / K. D. Ewing / C. J. S. Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 456. 272  A.

234

4. Kap.: Vereinigtes Königreich

Eine besondere Rechtstellung nehmen zudem Gewerkschaften ein. Sie können erst seit dem Combination Laws Repeal Act 1824 frei von strafrechtlicher Verfolgung tätig werden. Allerdings waren ihre Ziele unter dem Gesichtspunkt der Wettbewerbsbeschränkung aber weiterhin ungesetzlich. Damit wurde ihnen jegliche rechtliche Anerkennung, der Schutz ihres Vermögens und Eigentums versagt. Zwar beseitigte der Trade Unions Act 1871 diese Hindernisse, die Gerichte behinderten die Gewerkschaftsarbeit aber weiterhin als Verleitung zum Vertragsbruch und des Boykotts. Obwohl die Gewerkschaften keine verfassten Körperschaften waren, konnten deliktische Schadensersatzansprüche gegen sie geltend gemacht werden. Auch Handlungsweisen einzelner Mitglieder wurden von den Gerichten äußerst bereitwillig als deliktisch qualifiziert277. Inzwischen ist anerkannt, dass den Gewerkschaften einige Rechte zustehen, die anderen Vereinigungen nicht gewährt werden278. So können sie im eigenen Namen Verträge abschließen, genießen verschiedene Immunitäten und sind prozessual aktiv und passiv legitimiert279. Insoweit können sie sich auch auf Rechte und die geschützten Freiheitsbereiche berufen. Gleiches gilt für das schottische Recht: Ebenso wie in den anderen Teilen des Vereinigten Königreichs wird auch in Schottland kaum zwischen juristischen Personen des Privatrechts und juristischen Personen des öffentlichen Rechts unterschieden280. Der Grundsatz „the king can do no wrong“ ist seit dem Crown Proceedings Act von 1947 aufgehoben. Danach haftet die Krone inzwischen – mit einigen Ausnahmen – wie eine Privatperson281. Jedoch ergeben sich dann Unterschiede, wenn eine juristische Person in den Genuss von Privilegien der Krone (Crown Privileges) kommt. Dann unterliegt sie nicht den üblichen Verpflichtungen einer juristischen Person, vielmehr wird sie bevorzugt behandelt. So stehen der Krone etwa bei arbeitsgerichtlichen Auseinandersetzungen und im Rahmen der in § 2 Abs. 1 des Crown Proceeding Act 1947 geregelten Staatshaftung für unerlaubte Handlungen und vertragliche Verpflichtungen diverse verfahrensrechtliche Vergünstigungen zu. So können auf gerichtliche Anordnungen oder auf Vollstreckung zielende Rechtsbehelfe (interdict oder specific implement) nicht geltend gemacht werden282. Außer277  P.

Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 749. Kidner, Law at Work: Trade Unions, S. 3; P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 749. 279  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 749. 280  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 838. 281  A. W. Bradley / K. D. Ewing / C. J. S. Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 698. 282  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 838. 278  R.



B. Das nationale Recht235

dem gibt es zwei Ausnahmen von der Verantwortlichkeit für unerlaubte Handlungen. Die eine betrifft die Streitkräfte283, die andere die Post284. Soweit die Krone wie eine Privatperson auftritt und ebenso wie eine solche haftet, ist von einer Berechtigung auszugehen. Soweit die Krone allerdings innerhalb ihrer Privilegien und damit typisch hoheitlich tätig wird, besteht kein Raum für eine Berechtigung. Allerdings gibt es auch nach dem schottischen Recht juristische Personen, die nach dem deutschen Verständnis als eher öffentlich-rechtlicher Natur eingeordnet werden, die aber nicht der Krone zuzuordnen sind. Dies betrifft zumeist Vereinigungen mit reinen Verwaltungsaufgaben, die aufgrund von Gesetzen gegründet wurden, oder verstaatlichte Industrieunternehmen, aber auch die auf königlicher Anordnung („Royal Charter) beruhenden juristischen Personen, wie etwa die BBC als staatliche Rundfunk- und Fernseh­ anstalt285. Diese sind grundsätzlich grundrechtsberechtigt. 4. Gemischt-wirtschaftliche Unternehmen Auch das britische Recht kennt gemischt-wirtschaftliche Unternehmen, an denen sowohl staatliche Stellen als auch private Anteilseigner beteiligt sind286. Gerade im Zuge der fortschreitenden Privatisierung sind im Vereinigten Königreich einige gemischtwirtschaftliche Unternehmen entstanden287. Die National Air Traffic Services etwa wurde 1996 von der damaligen Regierung gegründet und durch den Transport Act 2000 teilweise privatisiert. Dabei wurden 51 % der Anteile an private Anteilseigner veräußert, die Regierung hält nach wie vor 49 % der Anteile und einen kontrollierenden „goldenen“ Anteil288. Für gemischt-wirtschaftliche Unternehmen kann bezüglich der Grundrechtsberechtigung nichts anderes gelten als für juristische Personen des öffentlichen Rechts. Da sich selbst diese auf die Grundrechte und Freiheiten berufen können, sind gemischt-wirtschaftliche Unternehmen ebenfalls ge283  Vgl. weitergehend A. W. Bradley / K. D. Ewing / C. J. S. Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 699. 284  A. W. Bradley / K. D. Ewing / C. J. S. Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 700. 285  P. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I, S. 838. 286  E. C. S. Wade / G. G. Phillips, Constitutional and Administrative Law, S. 292. 287  O. Hood Phillips / P. Jackson / P. Leopold, Constitutional and Administrative Law, S. 661, Rn. 28-014; P. Leyland, UK Utility Regulation in an Age of Governance, in: Bamforth / Leyland, Public Law, S. 192. 288  O. Hood Phillips / P. Jackson / P. Leopold, Constitutional and Administrative Law, S. 661, Rn. 28-014.

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4. Kap.: Vereinigtes Königreich

schützt und grundrechtsberechtigt, soweit sich aus einzelnen Regelungen nichts Gegenteiliges ergibt.

IV. Juristische Personen eines Drittstaates Soweit ersichtlich, wurde das Problem der Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des öffentlichen Rechts eines Drittstaates in der britischen Literatur und Rechtsprechung nicht (tiefergehend) thematisiert. Es ist anerkannt, dass nach dem common law jedermann, egal ob Bürger oder Ausländer, in Großbritannien das Recht hat, sich mit anderen Personen zu einer Gruppe, Vereinigung oder Gesellschaft zusammenzuschließen und sich mit den Gruppenmitgliedern oder Dritten zu treffen und zu versammeln289. Da juristischen Personen auch eigene Rechte zukommen, gilt dieser Grundsatz auch für sie. Somit ist grundsätzlich nicht nach der Landeszugehörigkeit einer juristischen Person zu unterscheiden. Anderes kann sich im Einzelfall nur aus speziellen gesetzlichen Regelungen ergeben, die juristische Personen eines Drittstaates von besonderen Freiheitsrechten und Schutzversprechen ausnehmen. In Schottland werden ausländische juristische Personen als solche akzeptiert, wenn sie auch in ihrem Gründungsland als solche anerkannt sind, und umgekehrt290. Wird also eine Vereinigung in ihrem Gründungsland nicht als juristische Person anerkannt, wird sie auch in Schottland nicht als solche behandelt291. Damit bestimmt das Recht des Heimatlandes, ob sich eine juristische Person in Schottland auf die (Grund-)Rechte berufen kann292. Soweit die juristische Person anerkannt wird, ist sie auch grundrechtsberechtigt.

V. Fazit Im nationalen Recht spricht unabhängig von ihrer Zuordnung zum britischen oder zu einem ausländischen Staat nichts gegen eine Annahme der Grundrechtsberechtigung für juristische Personen des öffentlichen Rechts. Vielmehr spricht die Konzeption des britischen Verfassungsrechts, die gerade nicht zwischen privaten und öffentlichen Rechtsträgern differenziert, für eine Einbeziehung juristischer Personen des öffentlichen Rechts in den Schutzbereich der Grundrechte. Ebenso spricht das Verständnis von Grundrechten und 289  K. 290  P.

Loewenstein, Staatsrecht II, S. 324. Kingston / C. Imrie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA I,

S. 839. 291  Court of Session, Edingburgh and Glasgow Bank v. Ewan, [1852] 14 D. 547. 292  Court of Sesseion, Carse v. Coppen, [1951] S.C. 233 (235).



C. Das internationale Recht237

geschützten Freiheitsphären für eine Einbeziehung juristischer Personen des öffentlichen Rechts einschließlich solcher aus anderen Staaten. Einschränkungen können sich insoweit nur aus dem Grundrecht beziehungsweise der negativ abzugrenzenden, gesetzlichen Freiheitsphäre selbst ergeben. Für dieses Verständnis spricht auch, dass es kein dem deutschen Staatsorganisationsrecht vergleichbares Regelwerk gibt, das bei Konflikten zwischen den einzelnen Rechtsträgern herangezogen werden kann. Auch für eine Einschränkung dahingehend, dass etwa derselbe Rechtsträger, vertreten durch unterschied­ liche Organisationseinheiten, nicht zugleich Kläger und Beklagter sein kann, bestehen keine Anhaltspunkte. Dies gibt das britische Verständnis der Grundrechte gerade nicht her.

C. Das internationale Recht – Die Europäische Menschenrechtskonvention Wie bereits erwähnt, kommt der EMRK große Bedeutung im Verfassungsrechtssystem des Vereinigten Königreichs zu293. Durch den Human Rights Act von 1998294 wurde sie teilweise in das britische Verfassungsrecht inkorporiert. Das Ziel dieser Inkorporation war es, die EMRK in das britische Verfassungsrecht zu integrieren, ohne die bestehenden Grundsätze in Frage zu stellen295. Entsprechend der britischen Verfassungstradition kommt dem Human Rights Act und damit den Konventionsrechten jedoch kein verfassungsrechtlicher Charakter im formellen Sinne zu296. Dennoch wurde und wird erwartet, dass der Human Rights Act in materieller Hinsicht weitreichende verfassungsrechtliche Auswirkungen auf das Verfassungsrecht haben wird297. Er wird beschrieben als Möglichkeit, sich auf die Rechte der EMRK zu berufen, ohne nach Straßburg reisen zu müssen298. Dennoch können die Rechte der EMRK nicht unmittelbar vor den Gerichten eingeklagt werden, da das staatliche Recht und das Völkerrecht im Vereinigten Königreich als voneinander unabhängig verstanden werden299. 293  Dies bleibt auch nach dem Austritt aus der EU zunächst so, da die EMRK gesondert ratifiziert wurde und kein Organ der EU ist. Ein Austritt wird zwar immer wieder angedacht, ist aber wohl frühestens 2022 möglich. 294  1998 Chapter 42. 295  M. Baum, Schutz, S. 403. 296  E. Barendt, Constitutional Law, S. 105 f.; R. Blackburn, Parliament and human rights, in: D. Oliver / G. Drewry, The Law and the Parliament, S. 177 f.; P. Birkin­ shaw / M. Kinnecke, IPE II, § 17 Rn. 8. 297  A. Lester, EHRLR 1998, 665 (670). 298  A. W. Bradley / K. D. Ewing / C. J. S. Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 366. 299  M. Loughlin, IPE I, § 4 Rn. 59; P. Birkinshaw / M. Künnecke, IPE II, § 17 Rn. 8.

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4. Kap.: Vereinigtes Königreich

Bereits am 22. Februar 1951 unterzeichnete die britische Regierung die EMRK und ratifizierte sie mit Wirkung zum 8. März 1951300. Jedoch rief die Ratifizierung zunächst kaum Reaktionen in der Rechtsprechung oder der Literatur hervor301. Das Vereinigte Königreich hat die EMRK trotz der Ratifikation lange Zeit nicht in sein Landesrecht übernommen. Anders als in der Bundesrepublik kommt im Vereinigten Königreich die Ratifikation innerstaatlich ohne die Mitwirkung des Parlamentes aus, sie bleibt damit verfassungsrechtlich und völkerrechtlich eine Prärogative der Krone302. Die Trennung zwischen der verfassungsrechtlichen Kompetenz zur völkerrechtlichen Inkraft­ setzung und der innerstaatlichen Rechtsumsetzung führt dazu, dass die Ratifikation getrennt von der Inkorporation vollzogen wird303. Die Inkorporatuib erfolgt durch einen separaten Act of Parliament304, da ansonsten die Exekutive unter Umgehung der Parlamentssouveränität Recht setzen könnte305. Die EMRK war damit lange Zeit kein Teil des von den britischen Gerichten anzuwendenden Rechts306. So war lange umstritten, wie die in der EMRK verankerten Menschenrechte bei der Rechtsanwendung zu berücksichtigen sind. Um die Unklarheiten im Umgang mit der EMRK zu beseitigen, wurde zunächst eine Interpretationsregel entwickelt, nach der das Landesrecht so auszulegen ist, dass es nicht im Widerspruch zu den von der Krone übernommenen völkerrechtlichen Verpflichtungen aus der EMRK steht307. Diese Regel geht davon aus, dass das Parlament kein Recht setzen will, das im Widerspruch zu einer rechtmäßig eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtung stünde308. Diese Vermutung sei aber dann widerlegt, wenn der ausdrückliche Wortlaut eines (Parlaments-)Gesetzes nur eine gegenteilige Auslegung zulasse309. Damit wurde die Parlamentssouveränität auch gegenüber dem Völkerrecht gewahrt310. Im Jahr 1974 berief sich erstmals ein britisches Gericht 300  BGBl. 1954

II S. 14. Baum, Schutz, S. 215 m. w. N. 302  G. Dahm / J. Delbrück / R. Wolfrum, Völkerrecht I, S. 107  ff.; J. Crawford, Brownlie’s Principles of Public International Law, S. 63 m. w. N. auf das einschlägige case law; M. H. W. Koch, Einführung, S. 67. 303  M. H. W. Koch, Einführung, S. 67. 304  Supreme Court of Canada, Attorney General for Canada v. Attorney General for Ontario [1937] AC 326 (347). 305  J. Crawford, Brownlie’s Priciples of Public International Law, S. 63. 306  M. H. W. Koch, Einführung, S. 68. 307  Court of Appeal, Salomon v. Commissioners of Custom and Excise (CA) [1967] 2 QB 116 (143); W. I. Jennings, The Law and the Constitution, S. 173 ff.; P. Birkinshaw / M. Künnecke, IPE II, § 17 Rn. 10. 308  M. H. W. Koch, Einführung, S. 68. 309  M. H. W. Koch, Einführung, S. 68. 310  M. H. W. Koch, Einführung, S. 68. 301  M.



C. Das internationale Recht239

auf diese Auslegungsregel und zog die EMRK zur Entscheidung eines Rechtsstreits heran311. Dies wurde danach zur gängigen Praxis312. Inzwischen wird teilweise von einem Vorrang des Gemeinschaftsrechts ausgegangen313. In der Entscheidung R. v. Secretary of State for the Home Department, ex parte Brind314 aus dem Jahr 1991 hat das House of Lords dann schließlich klargestellt, dass die EMRK nur auf Initiative des Gesetzgebers in das nationale Recht des Vereinigten Königreichs inkorporiert werden kann315. Der Auslegungsgrundsatz zugunsten der EMRK bedeute nicht die Übernahme von internationalem Recht in das nationale Recht. Möglich sei allenfalls eine Anpassung der Prinzipien richterlicher Ermessenskontrolle an spezifische Grundrechtsgefährdungen durch deren Neuformulierung316. Schon seit den 1970er Jahren wurde im gesamten Vereinigten Königreich die Forderung nach einer neuen Verfassungsübereinkunft laut317. Ende der 1980er Jahre setzte insbesondere bei einflussreichen Richtern ein Umdenken ein318. Diese führten bei unterschiedlichsten theoretischen Ansätzen als Lösung an, dass die EMRK als Informationsquelle des nationalen Rechts dienen sollte319. Als Folge dieser Entwicklungen kam es 1998 zum Human Rights Act, durch den die EMRK in das britische Recht inkorporiert wurde. Der Human Rights Act trat am 2. Oktober 2000 in Kraft320 und inkorporierte wesentliche Teil der EMRK in das britische Recht. Ihm kommt große verfassungsrechtliche Bedeutung zu; dennoch machte er die bisherige Grundrechtsentwicklung nicht überflüssig, sondern baut auf ihr auf321. Der Human Rights Act definiert in Section 1 bestimmte Artikel der EMRK als Konventionsrechte (convention rights), die damit in das britische Recht inkorporiert werden. Dabei handelt es sich um die Art. 2 bis Art. 12 und Art. 14 EMRK, sowie die Art. 1 bis Art. 3 des Zusatzprotokolls und Art. 1 und Art. 2 des Sechsten Protokolls. Weiter sieht Section 3 eine Verpflichtung der Gerichte vor, alles Gesetzesrecht in Einklang mit den Konventionsrechten auszulegen. 311  House

of Lords, Waddington v. Miah [1974] 2 All ER 377. H. W. Koch, Einführung, S.  68 f. m. w. N. 313  [1979] 3 All ER 325 (Lord Denning); P. Birkinshaw / M. Künnecke, IPE II, § 17 Rn. 8. 314  House of Lords, EuGRZ 1991, 102. 315  House of Lords, EuGRZ 1991, 102 (103) (Lord Bridge); M. Baum, Schutz, S. 258, 261. 316  House of Lords, EuGRZ 1991, 102 (103) (Lord Bridge). 317  M. Baum, Schutz, S. 262. 318  M. Baum, Schutz, S. 328. 319  M. Baum, Schutz, S.  262 ff. m. w. N. 320  S.I.2000 / Nr. 1851, The HRA 1998 (Commencement No. 2) Order 2000; in Schottland und Wales trat der HRA bereits am 1.7.1999 in Kraft. 321  M. Baum, Schutz, S. 331. 312  M.

240

4. Kap.: Vereinigtes Königreich

Dies hat weitreichende Konsequenzen für die Rechtsprechung, da diese Regelung bisherigen Gerichtsentscheidungen die Präjudizwirkung nimmt, soweit eine dort getroffene Auslegung nicht den Konventionsrechten entspricht322. Allerdings berührt die Inkorporation der Konventionsrechte gemäß Section 3 Subsection 2 HRA nicht die Parlamentssouveränität323. Vielmehr spiegelt die Art und Weise der Inkorporation die Absicht des Parlaments wider, dass den Gerichten nicht die Befugnis zukommen sollte, sich über Parlamentsgesetze hinwegzusetzen324. Dem Parlament steht auch nach der Inkorporation frei, Gesetze zu erlassen, die gegen die Konventionsrechte verstoßen. Die Gerichte und Behörden sind vorrangig an das primäre Gesetzesrecht gebunden, auch wenn dies im Widerspruch zu den Konventionsrechten steht325. Die Bedeutung der inkorporierten Rechte ist damit stark eingeschränkt. Dennoch statuiert der Human Rights Act durch Section 6 eine Verpflichtung der öffentlichen Stellen einschließlich der Gerichte, nicht gegen die Konventionsrechte zu verstoßen326. Zu berücksichtigen ist ferner, dass die britischen Gerichte sich intensiv an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte orientieren und den Entscheidungen eine bedeutsame Präjudizwirkung einräumen327. Sie sind weder gewillt, einen eigenen, höheren Schutzstandard zu entwickeln, noch akzeptieren sie ein geringes Schutzniveau328. Auf dieser Linie liegt die Entscheidung R (Ullah) v. Special Adjudicator329. Dort führt Lord Bingham aus, dass, solange es keine strikte Bindung an die nationale Rechtsprechung gebe, der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu folgen sei, sofern sich nicht aus besonderen Umständen des Einzelfalls Gegenteiliges ergebe330.

322  M.

Baum, Schutz, S. 335. Feldmann, Civil Liberties, S. 80. 324  Rights Brought Home, Cm 3782, 1997, para 2.13; A. W. Bradley / K. D. Ewing /  C. J. S. Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 371. 325  D. Feldmann, Civil Liberties, S. 80. 326  Siehe unten unter II. 2. 327  A. W. Bradley / K. D. Ewing / C. J. S. Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 371. 328  A. W. Bradley / K. D. Ewing / C. J. S. Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 371; anders J. Wright, P.L. 2009 595 (616), die keine Bindung der britischen Gerichte annimmt. 329  [2004] 2 AC 323. 330  House of Lords, R (Ullah) v. Special Adjudicator [2004] 2 AC 323 (331). 323  D.



C. Das internationale Recht241

I. Konventionszweck und Funktionen Die inkorporierten Konventionsrechte besitzen dieselben Zwecke und Funktionen wie die originären Konventionsrechte331. So vermitteln sie dem Einzelnen auch nach dem britischen Rechtsverständnis als Abwehrrechte vorrangig Individualschutz gegen hoheitliche Eingriffe332. Insbesondere sollen sie den Einzelnen vor dem Missbrauch von Macht durch Hoheitsträger schützen333. Damit steht die Schaffung eines eingriffsfreien Schutzbereiches für den Einzelnen im Vordergrund. Außerdem enthalten die Konventionsrechte auch nach dem britischen Verständnis Leistungsrechte. Dies ergibt sich aus der Präambel der EMRK und dem Zweck der Konventionsrechte, der in der Wahrung und der Realisierung der Menschenrechte und Grundfreiheiten gesehen wird334. Allerdings ist im britischen Recht noch nicht abschließend geklärt, wie weitreichend der von den Konventionsrechten vermittelte Schutz reicht. So ist ebenfalls noch nicht endgültig geklärt, ob die Konventionsrechte allein dazu dienen, den Einzelnen vor Eingriffen des Staates zu schützen, oder ob die Rechte den Schutz von Interessen gewährleisten, die so fundamental sind, dass sie in jeglicher Hinsicht zu berücksichtigen sind335.

II. Konventionsrechtsverpflichtete („Those subject to Convention rights“) Section 6 HRA sieht eine Konventionsrechtsbindung von public authorities vor. Schon aus dem Begriff der public authority ergibt sich, dass keine umfängliche Bindung aller Staatsgewalt gemeint sein kann. Vielmehr ist wie im nationalen Recht eine Unterscheidung zwischen den Staatsgewalten, also dem Parlament als gesetzgebende Gewalt, den Verwaltungseinheiten und den Gerichten, vorzunehmen. 1. Legislative Da der Human Rights Act nicht die Parlamentssouveränität berührt, ist das Parlament – zumindest auf Ebene des nationalen Rechts – nicht an die Kon331  S.

Kap. 3 C. I. HC Deb. 17.6.1998, Vol. 314 col. 406; HL Deb. 3.11.1997, Vol. 582 col. 1232. 333  A. Lester, P.L. 2001, 684 (692). 334  M. Supperstone / J. Goudie / J. Coppel, Local Authorities and the Human Rights Act 1998, S. 11. 335  N. Bamforth, CLJ 58 (1999), 159 (170). 332  Hansard

242

4. Kap.: Vereinigtes Königreich

ventionsrechte gebunden. Dementsprechend definiert Section 6 Subsection 3 HRA, dass das Parlament schon keine public authority ist. Gemäß Section 6 Subsection 3 HRA sind auch solche juristischen Personen, die in ausführender Funktion für das Parlament tätig werden, nicht als public authority anzusehen. Als Konsequenz dieses absoluten Vorrangs der Parlamentssouveränität enthält Section 6 Subsection 2 HRA zwei Rechtfertigungsgründe für Akte der an sich konventionsrechtsgebundenen public authorities336, soweit diese gegen die Konventionsrechte verstoßen337. Danach ist es nicht ungesetzlich für eine public authority, unvereinbar mit dem Konventionsrecht zu handeln, wenn dieses Handeln Resultat des primären Gesetzesrechts ist und die public authority nicht hätte anders handeln können. Außerdem ist das Handeln dann nicht ungesetzlich, wenn eine Vorgabe des primären Gesetzesrechts nicht so ausgelegt werden kann, dass sie mit den Konventionsrechten vereinbar ist. 2. Exekutive und Judikative Eine Bindung an die Konventionsrechte besteht hingegen gemäß Section 6 Subsection 1 HRA ausdrücklich für alle sonstigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts, die public authorities. Danach ist ihr Handeln (act) dann ungesetzlich, wenn es gegen Konventionsrecht verstößt. Section 6 Subsection 6 HRA definiert, was ein act im Sinne von Section 6 Subsection 1 HRA ist. Ein act umfasst auch das Unterlassen einer Handlung, nicht aber das Unterlassen der Einführung eines Gesetzesvorschlags in die Gesetzgebung oder das Unterlassen der Verabschiedung eines Gesetzes338. Diese Einschränkung ist wiederum als Ausdruck der Parlamentssouveränität zu verstehen. Die Frage nach der Konventionsrechtsverpflichtung und der damit einhergehenden Abgrenzung zwischen public authorities und juristischen Personen des Privatrechts erlangt insbesondere aufgrund des Wachstums des privaten Sektors und des steigenden Angebots an öffentlichen Dienstleistungen durch Verträge mit öffentlichen Behörden Bedeutung339. Problematisch ist jedoch, dass Section 6 HRA nicht positiv definiert, welche juristischen Personen zu den public authorities zählen340. Zwar findet sich eine Definition des Be336  S.

unten unter 2. Feldman, Civil Liberties, S. 95. 338  So auch B. Schirmer, S. 105. 339  A. W. Bradley / K. D. Ewing / C. J. S. Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 377. 340  D. Feldman, Civil Liberties, S. 95; J. Wadham / H. Mountfield / E. Prochaska /  R. Desai, Human Rights Act 1998, Rn. 3.15, 40; N. Bamforth, CLJ 58 (1999), 159 (159). 337  D.



C. Das internationale Recht243

griffs der public authorities in Section 6 Subsection 3 HRA, diese lässt jedoch weiten Interpretationsspielraum zu341. Dort heißt es: „In this section ‚public authority‘ includes – (a) a court or tribunal, and (b) any person certain of whose functions are functions of a public nature, but does not include either House of Parliament or a person exercising functions in connection with proceedings in Parliament.“

Section 6 Subsection 3 HRA bestimmt also zum einen, dass Gerichte und Tribunale als konventionsrechtsgebundene public authorities anzusehen sind. Außerdem zählen zu den public authorities diejenigen juristischen Personen, deren Funktionen öffentlicher Natur sind. Die Norm lässt jedoch offen, wann eine juristische Person eine öffentlich-rechtliche Funktion ausübt und stellt keinerlei Merkmale für eine Abgrenzung auf342. Allein Section 6 Subsection 5 HRA bietet hier einen Anhaltspunkt, indem diese Regelung juristische Personen von der Einordnung als öffentlich ausnimmt, sofern sie rein privatrechtlich handeln343. Bei einer Auslegung muss zudem die Gesamtkonzeption des Human Rights Acts berücksichtigt werden344. Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ergeben sich einige Grundsätze, die den Rahmen für die Definition und Auslegung von Section 6 HRA darstellen345: Danach ist ein Staat stets verantwortlich für das Verhalten von juristischen Personen, die für ihn handeln346. Diese Verantwortlichkeit kann ein Staat nicht durch die Auslagerung von Aufgaben auf juristische Personen des Privatrechts umgehen347. Eine staatliche Verantwortlichkeit besteht auch bei Handlungen Privater, wenn der Staat diese Handlung ermöglicht oder mitverantwortet hat348. Der Staat kann für Handlungen Privater aufgrund positiver Verpflichtungen zum Einschreiten verantwortlich sein349. 341  So auch J. Johnston, JR 6 (2001), 250 (250); B. Schirmer, Konstitutionalisierung, S. 100. 342  A. W. Bradley / K. D. Ewing / C. J. S. Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 376; D. Feldman, Civil Liberties, S. 95; A. Sherlock, EPL 4 (1998), 593 (596). 343  Section 6 Subsection 5 HRA lautet: „In relation to a particular act, a person is not a public authority by virtue only of subsection (3)(b) if the nature of the act is private“. 344  A. Sherlock, EPL 4 (1998), 593 (597). 345  J. Johnston, JR 6 (2001), 250 (250). 346  EGMR, Ireland v United Kingdom, EGMR-E 1, 232 (248). 347  EGMR, Van der Mussele v Belgium [1983] EHRR 163 (170). 348  EGMR, Lopez-Ostra v Spain, (1994) EHRR 277 (290). 349  Hansard, HC Deb, 17.6.1998, vol. 314 col. 406.

244

4. Kap.: Vereinigtes Königreich

Dass nicht ausdrücklich bestimmt ist, wann eine public authority oder eine function of a public nature vorliegt, wird damit begründet, dass der Human Rights Act im Ansatz davon ausgehe, dass die überwiegende Zahl der juristischen Personen so eindeutig öffentlich-rechtlich sei, dass ihre genaue Bestimmung überflüssig erscheine350. Daraus ergibt sich eine Einteilung der juristischen Personen in solche des Privatrechts, in solche, die aufgrund ihrer eindeutigen öffentlichen Funktionen dem öffentlichen Recht unproblematisch zuzuordnen sind, und solche, die sowohl öffentliche als auch private Funktionen wahrnehmen351. Erstere werden als standard public authorities352 oder core public authorities353, letztere als hybrid public authorities354 oder als functional public authorities355 bezeichnet. Die standard public authorities sind nach überwiegender Auffassung stets und unabhängig von ihrer Handlungsform – also auch bei privatrechtlichem Handeln – von dem Verbot des Section 6 Subsection 1 HRA erfasst356. Die functional public authorities sind nach überwiegender Auffassung hingegen gemäß Section 6 Subsection 5 HRA357 nur dann an die Konventionsrechte gebunden, wenn sie eine öffentliche Funktion wahrnehmen und das konkrete Handeln öffentlicher Natur ist358. Diese Ansicht geht auf Innenminister Straw zurück, der den Regelungsgehalt von Section 6 darlegen wollte und zwischen drei Kategorien juristischer Personen unterschied359. So gebe es „offensichtlich öffentliche Stellen“, die in all ihren Funktionen öffentlich seien. Dabei handle es sich etwa um Regierungsabteilungen, Gemeindeverwaltungen und

350  D.

Feldman, Civil Liberties, S. 95. Bamforth, CLJ 58 (1999), 159 (159). 352  D. Oliver, PL 2004, 329 (338). 353  P. Cane, Administrative Law, S.  270; R. Clayton / H. Tomlinson, Human Rights, Rn. 5.13. 354  P. Cane, Administrative Law, S.  270; R. Clayton / H. Tomlinson, Human Rights, Rn. 5.17; J. Johnston, JR 6 (2001), 250 (251). 355  H. Davis, CLJ 64 (2005), 315 (320). 356  S. Grosz / J. Beatson / P. Duffy, Human Rights, Rn. 4-07, 4-13; J. Johnston, JR 6 (2001), 250 (251); R. Clayton / H. Tomlinson, Human Rights, Rn. 5.12; B. Schirmer, Konstitutionalisierung, S. 103; J. Wadham / H. Mountfield / E. Prochaska / R. Desai, Human Rights Act 1998, Rn. 3.59. 357  Zum umstrittenen Verständnis des Sec. 6 Sub. 5 HRA vgl. weitergehend D. Oliver, PL 2000, 476 (477); M. Baum, Schutz, S. 3841. 358  A. Sherlock, EPL 4 (1998), 593 (600 f.); J. Beatson, Which Regulatory Bodies are Subject to the HRA?, in: Beatson / Forsyth / Hare, Human Rights Act, S. 100; M. Supperstone / J. Coppel, EHRLR 1999, 301 (311); B. Schirmer, Konstitutionalisierung, S. 103; a. A. K. Markus, Defining Public Authority under the HRA, in: Jowell /  Cooper, Delivering Rights, S. 112. 359  Hansard, HC Deb. 16.2.1998 vol. 306 col 773; HC Deb. 17.6.1998, vol. 314 cols. 409 f. 351  N.



C. Das internationale Recht245

die Polizei360. Weiter gebe es Organisationen, die sowohl öffentliche als auch private Funktionen ausübten. Diese seien durch Privatisierungen und Vergabeverfahren entstanden. Beispiel für eine solche Organisation sei die Railtrack plc., die als Betreiberin des Eisenbahnnetzes agiert. Soweit sie die Sicherheit des Schienenverkehrs überwache, handle sie in öffentlicher Funktion. Soweit sie jedoch wirtschaftlich tätig werde, unterliege sie nicht den Bindungen der Konventionsrechte361. Maßgeblich sei, ob die betroffene Stelle ihre hinreichend gewichtigen Aufgaben im Allgemeininteresse ausübe, ob der Betroffene der Entscheidungsgewalt zwangsweise unterworfen sei und ob sie ihre Autorität aus hoheitlichen Strukturen herleitet362. Gegen diese Differenzierung spricht allerdings der eindeutige Wortlaut des Section 6 Subsection 5 HRA. Zudem wird die Gesetzessystematik gegen eine unterschiedliche Behandlung der public authorites angeführt363. Aus den Gesetzesmaterialien lässt sich kein eindeutiger Schluss ziehen. So heißt es im Weißbuch, dass es sich bei dem Begriff der public authorities um einen weiten Begriff handle, der Einrichtungen der klassischen Staatsverwaltung sowie öffentliche Unternehmen erfasse, die für Bereiche verantwortlich seien, die ehemals zum öffentlichen Sektor gehörten und nun öffentliche Aufgaben erfüllen364. Dies sei etwa bei privatisierten Versorgungsunternehmen der Fall365. Innenminister Straw betonte in den Ausschussberatungen im House of Commons, dass die Regierung bei dem Entwurf des Human Rights Acts zunächst von dem Zweck der Konvention, dem Schutz des Einzelnen vor staatlichem Machtmissbrauch ausgegangen sei. Dementsprechend könne man sich immer dann auf die Konventionsrechte berufen, wenn auf der ­Gegenseite etwas stünde, das allgemein als „der Staat“ bezeichnet werden könne366. Dieser Ansatz legt allgemein ein weites Verständnis des Begriffes der public authorties nahe367. Daraus wiederum lässt sich schlussfolgern, dass die Einschränkung der Konventionsrechtsverpflichtung aus Section 6 Subsection 5 HRA nur in den Fällen gelten soll, in denen nicht der Staat als solcher Anspruchsgegner ist. Dies ist aber nur dann der Fall, wenn der Staat 360  Rights Brought Home, CM 3782, 1997, para 2.2; Hansard, HC Deb. 17.6.1998, vol. 314 col. 409. 361  Hansard, HC Deb. 17.6.1998, vol. 314 col. 409. 362  So der Court of Appeal in der Vorinstanz Wallbank v. Parochial Church Council of Aston Cantlow and Wilmcote with Billesley, Warwickshire [2002] Ch. 51 (62); M. Baum, Schutz, S. 387. 363  So M. Baum, Schutz, S. 384. 364  Rights Brought Home, CM 3782, 1997, para. 2.2. 365  Rights Brought Home, CM 3782, 1997, para. 2.2. 366  Hansard, HC Deb. 17.6.1998, vol. 314 col. 410. 367  So auch M. Baum, Schutz, S. 385; P. Birkinshaw / M. Künnecke, IPE II, § 17 Rn. 49.

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4. Kap.: Vereinigtes Königreich

weder in einer seiner typischen Erscheinungsformen noch in Ausübung öffentlichen Rechts handelt. Dies wiederum rechtfertigt es, standard public authorities von Section 6 Subsection 5 HRA auszunehmen. Damit ist für die Frage nach den Konventionsrechtsverpflichteten maßgeblich, ob eine public authority als standard oder als functional einzustufen ist. Ausschlaggebend für die Abgrenzung zwischen den standard und functional public authorities soll nicht ihre Organisationsform sein, sondern allein der materielle Charakter der im Einzelfall wahrgenommenen Aufgabe368. So sind juristische Personen, die sowohl private als auch öffentliche Aufgaben wahrnehmen, als functional public authorities zu kategorisieren, während standard public authorities lediglich öffentliche Aufgaben wahrnehmen369. Weiter werden als Abgrenzungskriterien für die Einordnung als standard public authority die demokratische Verantwortlichkeit, die Pflicht, ausschließlich im öffentlichen Interesse zu handeln und das Bestehen einer internen satzungsmäßigen Verfassung angesehen370. Als weiteres Kriterium wird governmental character vorgeschlagen, also staatlicher Charakter oder ein Bezug zur Regierung371. Negativ formuliert bedeutet dies, dass als standard public authorties und damit als klassisch öffentlich-rechtlich insbesondere solche juristischen Personen einzuordnen sind, die keinerlei privatrechtliche Funktionen ausüben372. Zudem wird darauf abgestellt, ob die juristische Person ausschließlich spezifische Aufgaben der Exekutive wahrnimmt, ob sie gegenüber der Regierung weisungsgebunden ist, ob sie von der Regierung finanziert wird und von dieser aufgelöst werden kann373. Nach diesem Verständnis sind alle Ministerien und Verwaltungsbehörden, die öffentliche Aufgaben wahrnehmen, als standard public authorities an die Konventionsrechte gebunden374. Außerdem seien auch die übrigen Regierungsstellen, sowie Kommunalbehörden375, die 368  Court of Appeal, Poplar Housing and Regeneration Community Association Lt v. Donoghue [2002] Q.B. 48 (69); R. Clayton / H. Tomlinson, Human Rights, Rn. 5.20; D. Oliver, P.L. 2000, 476 (491); A. M. Fröhlich, Parlamentssouveränität, S. 130; R. Grote, ZaöRV 58 (1998), 309 (338). 369  D. Oliver, PL 2004, 329 (337); B. Schirmer, Konstitutionalisierung, S. 103. 370  Aston Cantlow, House of Lords, [2003] UKHL 37, para 7 (Lord Nicholls); H. Davis, CLJ 64 (2005), 315 (320). 371  K. Markus, Defining Public Authority under the HRA, in: Jowell / Cooper, Delivering Rights, S. 83. 372  M. Supperstone / J. Goudie / J. Coppel, Local Authorities and the Human Rights Act 1998, S. 5; D. Feldman, Civil Liberties, S. 95. 373  Grampian University Hospitals NHS Trust v. Procurator Fiscal, [2004] J.C. 117 (119). 374  R. Grote, ZaöRV 58 (1998), 309 (338); A. M. Fröhlich, Parlamentssouveränität, S. 129. 375  M. Supperstone / J. Goudie / J. Coppel, Local Authorities and the Human Rights Act 1998, S. 4 f.



C. Das internationale Recht247

Polizei, die Finanzverwaltung und Zollbehörden offensichtlich dem öffent­ lichen Recht zuzuordnen, da sie allein öffentliche Funktionen wahrnähmen376. Auf dieser Linie werden alle Rechtsfragen als öffentlich-rechtlich eingeordnet, die im Zusammenhang mit dem Polizeirecht stehen377. Als weiteres Kriterium für eine Abgrenzung werden andere Aspekte des öffentlichen Rechts herangezogen: Insbesondere ergebe sich eine Abgrenzung daraus, ob eine ­juristische Person der gerichtlichen Kontrolle unterliegt und ob sie als Emanation des Staates angesehen werden kann378. Ferner wird vertreten, dass eine juristische Person dann öffentlich ist, wenn ihre Kompetenz aus dem öffent­ lichen Recht und nicht aus vertraglichen Regelungen schöpft379. Zusammenfassend sind diejenigen juristischen Personen als standard public authorities einzuordnen, die unter Aufsicht des Staates stehen und nicht als vom Staat unabhängig eingeordnet werden können380. Im Übrigen werde es weiterhin Aufgabe der Gerichte sein, den Begriff der public authority auszufüllen und zu definieren381. Auch wenn der Begriff der public authority nach dem Gesetzgeber grundsätzlich weit zu verstehen sein soll, überließ er es den Gerichten, durch die Bildung eines detaillierten caselaws eine ebenso detaillierte Zuordnung zu schaffen382. Nicht für eine Differenzierung geeignet hingegen sei das Merkmal der Finanzierung aus öffentlichen Mitteln383. Denn auch Wohltätigkeitsorganisa­ tionen seien etwa aus öffentlichen Mitteln finanziert, ohne dabei dem Staat zugeordnet zu sein. Ein Indikator sei hingegen, dass die juristische Person durch Gesetz gegründet wurde. Dies sei aber keine zwingende Voraussetzung für die Annahme einer public authority384. Als weitere wichtige Indikatoren 376  D. Feldman, Civil Liberties, S. 95; J Wadham / H. Mountfield / E. Prochaska /  R. Desai, Human Rights Act 1998, Rn. 3.60. 377  Court of Appeal, R v Crown Prosecution Service, 1994 WL 1062833. 378  House of Lords, Aston Cantlow, [2003] UKHL 37, para 8 (Lord Nicholls); A. W. Bradley / K. D. Ewing / C. J. S. Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 376; D. Oliver, PL 2004, 329 (330). 379  Court of Appeal, R. v Panel on Takeovers and Mergers Ex p. Datafin Plc, [1987] Q. B. 815 (847). 380  High Court, Grampian University Hospitals NHS Trust v. Procurator Fiscal, [2004] J.C. 117 (119). 381  O. Hood Phillips / P. Jackson / P. Leopold, Constitutional and Administrative Law, S. 482, Rn. 22-023; D. Feldman, Civil Liberties, S. 96; kritisch G. Marschall, Patriating Rights, in: Constitutional Reform, S. 79, wonach der Gesetzgeber einen Rahmen für die Zuordnung hätte vorgeben müssen. 382  Hansard HC Deb. 17.6.1998 vol. 314 col. 410; HC Deb.16.2.1998, vol. 306 col. 775; HL Deb. 19.1.1998, vol. 584 col. 1262; HL Deb. 24.11.1997, vol. 583 col. 796; Rights Brought Home, Cm 3782, 1997, para 2.2. 383  D. Oliver, PL 2000, 476 (481). 384  D. Oliver, PL 2000, 476 (482).

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4. Kap.: Vereinigtes Königreich

werden das öffentliche Interesse einer juristischen Person und ihre demokratische Verantwortlichkeit angeführt385. Hier wird wiederum auf das Fehlen eines Eigeninteresses abgestellt, was wiederum angenommen werden kann, wenn die juristische Person nicht in Gewinnerzielungsabsicht handelt386. Die Mehrzahl der public authorities ist als functional anzusehen, sie üben sowohl öffentliche als auch private Funktionen aus387. Für die Frage, inwieweit sie aus den Konventionsrechten verpflichtet sind, hat gemäß Section 6 Subsection 3, Subsection 5 HRA eine Abgrenzung nach der Art der wahrgenommenen Aufgabe zu erfolgen. Die Abgrenzung nach der Handlungsform ist insbesondere deshalb problematisch, weil das britische Verfassungsrecht nicht hinreichend konkret zwischen juristischen Personen des Privatrechts und solchen des öffentlichen Rechts und den entsprechenden Handlungsformen unterscheidet. Dies ergibt sich schon aus der fehlenden Abgrenzung zwischen privatem und öffentlichem Recht. So sind die public authorities grundsätzlich denselben Regeln wie juristische Personen des Privatrechts unterworfen, insbesondere was ihre Haftung und die Möglichkeit zu Vertragsschlüssen betrifft388. In der Literatur werden zudem insbesondere die unklare Terminologie des Section 6 Subsection 3 HRA und die Vermischung der Begriffe als besonders problematisch eingestuft389. So stelle der Begriff der public authority einerseits auf die juristische Person selbst ab, während Section 6 Subsection 3 und Subsection 5 HRA andererseits auf die function beziehungsweise die nature des jeweiligen Handelns abstellten390. Aber auch bezüglich des Abstellens auf die Handlungsweise selbst bestünden Unklarheiten, da teilweise die function of a public nature als maßgeblich angesehen werde, andere hingegen die nature of the act als maßgeblich einstuften391. Aufgrund dieser Unklarheiten rät das House of Lords, sich hinsichtlich der Zurechnung juristischer Personen zum Staat an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu orientieren392. Problematisch 385  D.

Oliver, PL 2000, 476 (482 f.). Oliver, PL 2000, 476 (483). 387  D. Feldman, Civil Liberties, S. 95. 388  A. W. Bradley / K. D. Ewing / C. J. S. Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 695. 389  B. Schirmer, Konstitutionalisierung, S. 102 f.; A. Sherlock, EPL 4 (1998), 593 (602). 390  D. Oliver, PL 2000, 476 (480) B. Schirmer, Konstitutionalisierung, S. 102. 391  B. Schirmer, Konstitutionalisierung, S. 103. 392  House of Lords, Aston Cantlow [2003] UKHL 37 para 52 (Lord Hope); zustimmend G. Marschall, Patriating Rights, in: Constitutional Reform. S. 79  f.; S. Grosz / J. Beatson / P. Duffy, Human Rights, Rn. 4-12; A. Sherlock, EPL 4 (1998), 593 (601). 386  D.



C. Das internationale Recht249

ist jedoch, dass die EMRK die durch den Human Rights Act vorgenommene Unterscheidung zwischen standard und functional public authorities nicht kennt, sondern vielmehr eine Zurechnung allein aufgrund der institutionellen Zurechnung vornimmt393. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte dementsprechend entschieden, dass sämtliche Organe der Verwaltung gebunden seien. Dies gelte nach dem Europäischen Gerichtshof auch für diejenigen Organe, die wirtschaftlich tätig werden oder privatisiert sind394. Insbesondere könne sich ein Staat nicht durch die Verlagerung auf juristische Personen des Privatrechts seiner Bindung entziehen395. Damit steht die Ausgestaltung von Section 6 Subsection 3 und Subsection 5 HRA im Widerspruch zu der Jurisdiktion des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dies wiederum verfehle den Zweck des Human Rights Acts, die Gewährung der Konventionsrechte entsprechend der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sicherzustellen396. Nur eine weite Interpretation des Begriffs der public authority und damit die vollständige Bindung sämtlicher public authorities könne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gerecht werden397. Denn der Staat sei verantwortlich für alle unter ihm geschehenen Konventionsrechtsverletzungen398. Problematisch an diesem Ansatz sei allerdings, dass damit viele functional public authorities um ihre Konventionsrechtsberechtigung gebracht würden399. In der Rechtsprechung ist bereits eine Reihe von Leitentscheidungen ergangen, aus denen sich Kriterien für das Vorliegen von functions of a public nature in Abgrenzung zu privaten Handlungen erahnen lassen: In der ersten Entscheidung zu dieser Fragestellung, dem Fall Donoghue400, stand die Kommunalbehörde von Tower Hamlets gemäß s. 188 Housing Act 1996 unter der gesetzlichen Pflicht, Obdachlosen eine Wohnung zu gewähren. Die Kommunalbehörde übertrug ihren Immobilienbestand auf eine von ihr ausschließlich zu diesem Zweck gegründete Gesellschaft, die Poplar. Dabei waren fünf Mitglieder der Kommunalverwaltung in dem Gremium von 393  D.

Oliver, PL 2004, 329 (337). Jacqueline Grant v South-West Trains Ltd, Case, C-249 / 96 [1998] ECR

394  Lisa

I-621.

395  EGMR,

Urt. v. 25.3.1993 – 13134 / 87 Rn. 27 (Costello-Roberts). Oliver, PL 2000, 476 (479). 397  K. Markus, Defining Public Authority under the HRA, in: Jowell / Cooper, Delivering Rights, S. 79. 398  K. Markus, Defining Public Authority under the HRA, in: Jowell / Cooper, Delivering Rights, S. 112. 399  D. Oliver, PL 2000, 476 (491). 400  Court of Appeal, Poplar Housing and Regeneration Community Association Ltd. v Donoghue, [2002] Q.B. 48. 396  D.

250

4. Kap.: Vereinigtes Königreich

Poplar; ferner unterstand Poplar der Weisung der Kommunalbehörde bezüglich des Umgangs mit den Mietern. Poplar kündigte einer Mieterin mit der Begründung, dass diese absichtlich obdachlos sei und damit nicht die Vo­ raussetzungen für eine Aufnahme erfülle. Die Mieterin berief sich darauf, dass s. 21 des Housing Actes mit Art. 8 EMRK nicht vereinbar sei und dass Poplar gemäß Section 6 Subsection 3b des HRA an die Konventionsrechte gebunden sei. Poplar hingegen berief sich darauf, weder eine standard public authority zu sein noch eine Funktion öffentlicher Natur auszuüben. Der Court of Appeal entschied, dass die private Wohnungsgesellschaft öffent­ liche Funktionen ausübe und dementsprechend eine public authority im Sinne des HRA sei. Sie werde aufgrund einer Vereinbarung mit einer Kommunalbehörde und an deren Stelle tätig401. Somit bestehe eine besondere Nähe zwischen der Kommunalbehörde und Poplar402. Ein Akt, der normalerweise privatrechtlich ist, könne dann öffentlich-rechtlich sein, wenn er öffentlich-rechtliche Merkmale aufweist. Dies sei dann der Fall, wenn eine gesetzliche Befugnis bestehe, wenn eine juristische Person des öffentlichen Rechts die Aufsicht führe und eine enge Verbindung zu den Aufgaben der juristischen Person des öffentlichen Rechts bestehe403. In der Literatur stieß diese Entscheidung auf Kritik, wurde sie doch als verwirrend und unklar bezeichnet404. Die zweite Entscheidung zu dieser Fragestellung erging im Fall Leonard Cheshire405. Hier entschied der Court of Appeal, dass die Vermietung einer Unterkunft an behinderte Personen durch die Leonard Cheshire Foundation, eine private Wohltätigkeitsorganisation, die unter Vertrag mit einer Kommunalbehörde stand, keinerlei Funktionen öffentlicher Natur ausübe. Der Court of Appeal zog zur Abgrenzung die Art der Finanzierung heran, und unterschied danach, ob die juristische Person für eine juristische Person des öffentlichen Rechts handelt und ob sie von Gesetzes wegen über Hoheitsgewalt verfügt406. Dieser enge Ansatz wird damit begründet, dass eine juristische Person des Privatrechts ansonsten aufgrund des Human Rights Acts zu einer

401  Court of Appeal, Poplar Housing and Regeneration Community Association Ltd. v Donoghue [2002] Q.B. 48 (70). 402  Court of Appeal, Poplar Housing and Regeneration Community Association Ltd. v Donoghue [2002] Q.B. 48 (70). 403  Court of Appeal, Poplar Housing and Regeneration Community Association Ltd. v Donoghue [2002] Q.B. 48 (69). 404  D. Oliver, PL 2004, 329 (330). 405  Court of Appeal, R. (on the application of Heather) v Leonard Cheshire Foundation [2002] H.R.L.R. 30. 406  Court of Appeal, R. (on the application of Heather) v Leonard Cheshire Foundation [[2002] H.R.L.R. 30 para 35; zustimmend D. Oliver, PL 2000, 476 (481).



C. Das internationale Recht251

öffentlichen gemacht würde, was nicht wünschenswert sei407. Hingegen reiche es für die Charakterisierung als öffentlich nicht aus, wenn eine juristische Person wohltätige Zwecke verfolgt408. Für eine Einordnung einer juristischen Person als öffentlich spreche, dass sie durch das Gesetz oder die königliche Charta anerkannt ist, dass sie Geld aus öffentlichen Mitteln erhält, dass ihre Aktivität von staatlichen Einrichtungen kontrolliert wird oder dass sie Leistungen anbietet, durch die ihre Kunden ihre gesetzlichen Rechte sichern können409. Dieser Ansatz wird von der Literatur begrüßt, allerdings wird auch darauf hingewiesen, dass die Kommunalbehörde selbst als standard public authority an die Konventionsrechte gebunden sei, egal welcher Handlungsform sie sich bediene410. In der Leitentscheidung Aston Cantlow411 ging es um die Frage, ob ein Kirchenvorstand als public authority einzuordnen ist. Dabei untersuchte das House of Lords, ob der Kirchenvorstand als eine standard public authority einzuordnen ist oder ob er als hybrid public authority Funktionen öffentlicher Natur ausübt412. Das House of Lords entschied, dass die Kirchengemeinde zunächst keine standard public authority sei und bezog sich dabei auf den Wortlaut der Konvention und die Rechtsprechung zu kirchlichen Körperschaften413. Bei dem Kirchenvorstand handelte sich auch nicht um eine hybrid public body414. Das Gericht legte dabei ein weites Verständnis des Begriffs der Funktionen öffentlicher Natur zugrunde415. Für die Ausübung von Funktionen öffentlicher Natur spreche danach, dass die juristische Person sich insbesondere hinsichtlich der Ausübung der Funktionen aus ­öffentlichen Mitteln finanziert, dass sie Hoheitsmacht ausübt und dass sie für eine Behörde auftritt oder öffentliche Leistungen anbietet416. Das House of Lords führte dennoch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs bezüglich der Verantwortlichkeit von Staaten für ihre juristischen Personen

407  Court of Appeal, R. (on the application of Heather) v Leonard Cheshire Foundation [2002] H.R.L.R. 30 para 34. 408  Court of Appeal, R. (on the application of Heather) v Leonard Cheshire Foundation [2002] H.R.L.R. 30 para 20. 409  D. Feldman, Civil Liberties, S. 97. 410  D. Oliver, PL 2004, 329 (332 f.). 411  House of Lords, Aston Cantlow, [2003] UKHL 37. 412  House of Lords, Aston Cantlow, [2003] UKHL 37. 413  Aston Cantlow, House of Lords, [2003] UKHL 37, para 14 (Lord Nicholls); Aston Cantlow, House of Lords, [2003] UKHL 37, para 86 (Lord Hobhouse). 414  Aston Cantlow, House of Lords, [2003] UKHL 37, para 16 (Lord Nicholls); Aston Cantlow, House of Lords, [2003] UKHL 37, para 88 (Lord Hobhouse). 415  D. Oliver, PL 2004, 329 (333). 416  Aston Cantlow, House of Lords, [2003] UKHL 37, para 12 (Lord Nicholls).

252

4. Kap.: Vereinigtes Königreich

gegen eine Zurechnung an417 und bezog sich nicht auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, nach der ein Staat seinen Bürgern gegenüber positive Schutzpflichten besitze418. Das House of Lords stellte vielmehr darauf ab, dass es sich vorliegend um die Durchsetzung einer vertraglichen Pflicht handle, die als privatrechtlich einzuordnen sei. Die Verantwortlichkeit liege bei den Schädigern, für die Reparaturen zu zahlen, wobei es sich um eine privatrechtliche Pflicht handle419. Gegen die Einordnung des Kirchenvorstandes als public authority führte das House of Lords zudem Section 7 HRA in Verbindung mit Art. 34 EMRK an420. Danach sei eine standard public authority zugleich als staatlich im Sinne von Art. 34 EMRK einzuordnen. Damit hätte die Zuordnung als konventionsrechtsverpflichtete public authority immer auch die Versagung der Konven­ tionsrechtsberechtigung zur Folge, was bei der Zuordnung stets zu berücksichtigen sei421. Es scheint auf den ersten Blick verwunderlich, dass die Kirche als Teil der Staatskirche nicht als öffentlich-rechtlich eingestuft wurde, nimmt sie doch dem ersten Anschein nach öffentliche Aufgaben wahr422. Nach Lord Nicholls muss eine juristische Person für die Zuordnung zum öffentlichen Recht immer Teil der öffentlichen Verwaltung und am Prozess des Regierens beteiligt sein423. Dies stieß auf Kritik, da es nach dem System der EMRK gerade nicht möglich erscheine, dass eine juristische Person zum Teil als privatrechtlich und zum anderen Teil als öffentlichrechtlich eingestuft wird424. Dies ergebe sich schon aus dem Wortlaut von Art. 34 EMRK und Section 7 HRA425. In der Leitentscheidung zu Section 6 wurde anerkannt, dass sich diese Regelung auf juristische Personen bezieht, deren Natur staatlich im weitesten Sinne ist. Damit erfasse der Begriff der Behörde (public authorities) sowohl Ministerien (government departments) als auch Kommunalbehörden (local authorities), die Polizei und die Streitkräfte (armed forces)426. Zusätzlich zu diesen typischen Behörden sollen aber auch hybrid public authorities erfasst sein, also private Organisationen, die 417  Aston

Cantlow, House of Lords, [2003] UKHL 37, para 52 (Lord Hope). Slg. 1990, I-3313 Rn. 18 (Foster), NJW 1991, 3086 (3086). 419  House of Lords, Aston Cantlow, [2003] UKHL 37, para 63, 71 (Lord Hope). 420  House of Lords, Aston Cantlow, [2003] UKHL 37, para 8 (Lord Nicholls); Aston Cantlow, House of Lords, [2003] UKHL 37, para 59 (Lord Hope). 421  House of Lords, Aston Cantlow, [2003] UKHL 37, para 8 (Lord Nicholls). 422  A. W. Bradley / K. D. Ewing / C. J. S. Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 377. 423  House of Lords, Aston Cantlow, [2003] UKHL 37, para 7 (Lord Nicholls). 424  A. W. Bradley / K. D. Ewing / C. J. S. Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 377. 425  A. W. Bradley / K. D. Ewing / C. J. S. Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 377. 426  House of Lords, Aston Cantlow, [2003] UKHL 37, para 7 (Lord Nicholls). 418  EuGH;



C. Das internationale Recht253

staatliche Funktionen ausführen427. Als Beispiel werden hier privat geführte Gefängnisse angeführt. Allerdings ist die Abgrenzung schwierig428. Im Aston Cantlow Fall entschied das erkennende Gericht, dass ein Pfarrgemeinderat der Church of England, also der Staatskirche, nicht als juristische Person des öffentlichen Rechts einzuordnen sei, und bezog sich dabei auf den Konven­ tionstext und die Lehre bezüglich religiöser Körperschaften429. Der Pfarrgemeinderat wurde aber auch nicht als hybrid public authority eingeordnet, da dies nur im Einzelfall möglich sei. In diesem Fall versuchte der Pfarrgemeinderat, eine Pflicht durchzusetzen, die den Verantwortlichen (respondents) die Zahlung von Reparaturarbeiten an der Kirche auferlegt. Hierbei handelte es sich nach Auffassung von Lord Hope um eine bürgerliche Pflicht, mithin eine eher private als öffentliche Pflicht430. In dem Fall Hammer Trout Farm431 klagte der Betreiber eines Marktstandes auf Zugang zu einem Bauernmarkt, der von der Kommunalbehörde betrieben wurde, wobei sich der Zugang zu diesem Markt nach dem öffent­ lichen Recht richtete. Die Kommunalbehörde hatte den Betrieb des Marktes auf die HFML, eine gemeinnützige Gesellschaft, ausgelagert, die auch über den Marktzugang entschied. HFML übte durch die Vergabe der Zugangs­ berechtigungen Hoheitsmacht aus. Der Kläger machte geltend, dass die Versagung des Zugangs zum Markt gegen seine Konventionsrechte verstoße, da die Gesellschaft Funktionen öffentlicher Natur ausübe. Der Court of Appeal entschied, dass HFML Funktionen öffentlicher Natur ausübe und damit an die Konventionsrechte gebunden sei, da die HFML von der Kommunalbehörde gegründet wurde, für diese auftrat und Unterstützung von dieser erhielt432. In dem Fall YL v Birmingham City Council433 wurde ein Pflegeheim von einer juristischen Person – der Southern Cross – betrieben, die sich aufgrund einer vertraglichen Abrede mit der Kommunalbehörde dazu verpflichtete, die Gebietsansässigen zu versorgen. In Frage stand, ob Southern Cross als functional public authority die Rechte aus Art. 8 EMRK verletzen konnte. Das Gericht entschied, dass das sich in Privatsitz befindliche Pflegeheim, das mit 427  A. W. Bradley / K. D. Ewing / C. J. S. Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 377. 428  A. W. Bradley / K. D. Ewing / C. J. S. Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 377. 429  House of Lords, Aston Cantlow, [2003] UKHL 37, para 29 ff. (Lord Hope). 430  House of Lords, Aston Cantlow, [2003] UKHL 37, para 59, 63 (Lord Hope). 431  Court of Appeal, R. (on the application of Beer t / a Hammer Trout Farm) v Hampshire Farmer Markets Ltd, [2004] 1 W.L.R. 233. 432  Court of Appeal, R. (on the application of Beer t / a Hammer Trout Farm) v Hampshire Farmer Markets Ltd, [2004] 1 W.L.R. 233 (246). 433  YL v. Birmingham City Council and others [2008] 1 AC 95.

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4. Kap.: Vereinigtes Königreich

Gewinnerzielungsabsicht handelt, keine Funktionen öffentlich-rechtlicher Natur wahrnehme und damit nicht als public authority einzuordnen sei434. Die Vertragsabrede mit der Kommunalbehörde führe nicht dazu, auch Southern Cross als juristische Person des öffentlichen Rechts einordnen zu müssen435. Für diese Einordnung spreche, dass die Southern Cross in Gewinnerzielungsabsicht handle und nicht wohltätigen Zwecken nachgehe. Zudem schließe sie sowohl mit den Bewohnern des Pflegeheims als auch mit der Kommunalbehörde privatrechtliche Verträge und unterliege dabei der Vertragsfreiheit. Sie finanziere sich nicht aus öffentlichen Mitteln und übe keine Hoheitsgewalt aus. Vielmehr nehme sie am Wettbewerb teil436. In der Literatur wird kritisiert, dass diese Entscheidung ein zu enges Verständnis des Begriffs der public authority voraussetze und so die Bewohner des Pflegeheims um ihre Konventionsrechte gebracht würden437. Inzwischen ist es gesetzlich vorgesehen, dass Pflegeheime als juristische Personen des öffentlichen Rechts anzusehen sind438. Als problematisch wird allerdings angesehen, dass damit nur ein Teilbereich gesetzlich geregelt ist und Konflikten damit nicht vorgebeugt wird439. Aus diesen Entscheidungen lassen sich konkrete Abgrenzungskriterien nur schwerlich herleiten440. Man könnte diese zusammenfassen als gesetzliche Befugnisse, gesetzliche Verantwortlichkeit bezüglich typisch staatlicher Funktionen, eine große Nähe zwischen der juristischen Person und dem Staat und die Finanzierung aus öffentlichen Mitteln441. Das House of Lords selbst hat davon abgeraten, sich auf die unterschiedliche Jurisdiktion zu verlassen. Das case law sei dabei hilfreich, nicht hingegen die Rechtswissenschaft der Europäischen Union. Die Frage müsse vielmehr für den Human Rights Act bezüglich derjenigen juristischen Personen, die die Verantwortlichkeit des Staates für die Ziele der Konvention tragen, im Lichte der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte untersucht werden442.

434  [2008]

1 AC 95 (104). 1 AC 95 (106). 436  [2008] 1 AC 95 (103). 437  S. Palmer, CLJ 66 (2007), 559 (560, 573). 438  A. W. Bradley / K. D. Ewing / C. J. S. Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 378. 439  A. W. Bradley / K. D. Ewing / C. J. S. Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 378. 440  So auch K. Markus, Defining Public Authority under the HRA, in: Jowell /  Cooper, Delivering Rights, S. 98. 441  So auch K. Markus, Defining Public Authority under the HRA, in: Jowell /  Cooper, Delivering Rights, S. 98 f. 442  House of Lords, Aston Cantlow [2003] UKHL 37, para 52 (Lord Hope). 435  [2008]



C. Das internationale Recht255

In der Literatur wird insbesondere kritisiert, dass die Schwierigkeit in der Abgrenzung gerade aus der Verwendung unklarer Terminologie herrühre443. Wichtig sei es zunächst, zwischen Pflichten und Funktionen sowie der Ausübung von Hoheitsgewalt zu unterscheiden444. Denn insbesondere von den Pflichten einer juristischen Person könne nicht darauf geschlossen werden, welche Funktionen sie ausübt445. Zudem gehe es in der Praxis zumeist nicht um die Ausübung von Pflichten, sondern vielmehr um die Ausübung von Hoheitsgewalt. Die Ausübung von Hoheitsgewalt sei wiederum als taugliches Kriterium für die Abgrenzung heranzuziehen, da diese juristischen Personen des öffentlichen Rechts vorbehalten ist und sich schon aus dem Begriff der authority ergebe446. Sie bilde auch das einzig taugliche Kriterium für die Abgrenzung von Funktionen öffentlicher Natur, da sie allein eine trennscharfe Abgrenzung zulasse447. Bei der Frage nach der Konventionsrechtsverpflichtung sei immer auch zu berücksichtigen, dass eine nicht-verpflichtete juristische Person sich auf die Konventionsrechte berufen könne. Zu fragen sei, ob dies im Einzelfall wünschenswert sei448. Im Ergebnis sei es gerade nicht wünschenswert, dass der geschützte Bereich der Gesellschaft zugunsten einer weiten Erstreckung der Konventionsrechtsverpflichteten zurückgedrängt werde449. Das Problem einer Abgrenzung lässt sich anhand folgender Beispiele verdeutlichen450: Privatschulen kommen bezüglich der Bildung ihrer Schüler einer öffentlichen Funktion nach. Außerdem ermöglichen sie es ihren Schülern, dass diese ihrem Recht auf Bildung aus Protokoll 1 Art. 2 EMRK nachkommen können. Da die Schulen aber auch privatrechtliche Funktionen ausüben, ist offen, inwieweit sie etwa bei Disziplinarmaßnahmen an die Konventionsrechte gebunden sind451. So wird zum Teil erwogen, dass das privatrechtliche Vertragsverhältnis, auf Grund dessen sie tätig werden, einer Bindung an die Konventionsrechte entgegenstehe und sie nur privatrechtlich hafteten452. Gleiches gilt für Universitäten. Diese werden meist aus öffentlichen Mitteln finanziert und stehen unter staatlicher Aufsicht. Jedoch schließen sie auch privatrechtliche Verträge, ihre Studenten sind als natür­ liche Personen ohnehin dem Privatrecht zuzuordnen. Außerdem bieten sie 443  D.

Oliver, PL 2000, 476 (476); dies., P.L. 2004, 329 (335). Oliver, PL 2004, 329 (335). 445  D. Oliver, PL 2004, 329 (335 f.). 446  D. Oliver, PL 2000, 476 (481); dies., P.L. 2004, 329 (336). 447  D. Oliver, PL 2000, 476 (481); dies., P.L. 2004, 329 (337). 448  D. Oliver, PL 2000, 476 (491). 449  D. Oliver, PL 2000, 476 (491). 450  D. Feldman, Civil Liberties, S. 97. 451  D. Feldman, Civil Liberties, S. 97. 452  Queen’s Bench Division, R. v. Fernhill Manor School, [1993] 5 Admin. L.R. 159 (175); N. Bamforth, CLJ 58 (1999), 159 (162). 444  D.

256

4. Kap.: Vereinigtes Königreich

eine Vielzahl von Leistungen auf kommerzieller Basis an und üben zumeist keine Hoheitsgewalt aus453. Problematisch ist auch die Einordnung des Fernsehsenders BBC. Dieser ist unter britischem Recht gegründet und finanziert sich durch Rundfunkgebühren, die als Sonderform der Steuer betrachtet werden. Dennoch ist er organisatorisch unabhängig von der Regierung. Er ist weniger reguliert als private Sender, hat aber keinerlei kommerziellen oder privaten Interessen. Hier liegt eine Einordnung als öffentlich nahe, da viele grundrechtsrelevante Bereiche berührt werden454. Zu fragen ist in diesem Zusammenhang auch nach der Einordnung eines privaten Fernsehsenders wie ITN. Dabei handelt es sich um eine privatrechtlich organisierte Gesellschaft mit Anteilseignern und Gewinnerzielungsabsicht. Allerdings benötigt sie staatliche Lizenzen und unterliegt regulatorischen Verfahren. Es wäre seltsam, der BBC als öffentlich einzuordnen und ITN nicht. Fraglich ist jedoch, ob es für den Bürger, der einer Verletzung seiner Privatsphäre unterliegt, einen Unterschied macht, ob der Fernsehsender privat- oder öffentlichrechtlich organisiert ist455. Zudem wird die Frage aufgeworfen, inwieweit die Inhaber einer Zeitung als public authorities angesehen werden können und den Konventionsrechten unterworfen sind. Aufgrund der privatrechtlichen Organisationsform und der privaten Finanzierung scheinen sie keine public authorities zu sein. Jedoch könnte sich etwas anderes aus ihrem Status und der Bedeutung für das Recht der Meinungsfreiheit und die damit einhergehende Bedeutung für die Demokratie ergeben456. So wird angeführt, es sei äußerst fraglich, die private Presse, die Aufgaben von so großer öffentlicher Bedeutung wahrnimmt, zu privilegieren, indem man ihr eine Bindung an die Konventionsrechte abspricht457. Insbesondere in Abgrenzung zu den Gerichten, die ohne weiteres als public authorities gelten, sei dies äußerst fragwürdig. Die Gerichte vermittelten oft ausschließlich zwischen Privaten, ohne dabei private Belange zu berühren458. Eine Unterscheidung zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts und solchen des Privatrechts ergebe sich nach anderer Auffassung daraus, ob eine juristische Person gerichtlicher Kontrolle unterliegt und ob die juristische Person eine Emanation eines Staates ist und so direkt dem EU-Recht unterfällt459.

453  D.

Feldman, Civil Liberties, S. 97. Feldman, Civil Liberties, S. 97. 455  D. Feldman, Civil Liberties, S. 97. 456  D. Feldman, Civil Liberties, S. 98. 457  D. Feldman, Civil Liberties, S. 98. 458  D. Feldman, Civil Liberties, S. 98. 459  A. W. Bradley / K. D. Ewing / C. J. S. Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 377. 454  D.



C. Das internationale Recht257

Im Falle der Privatisierung wird vorgeschlagen, die juristische Person des öffentlichen Rechts nach dem Human Rights Act in der Verantwortung zu halten, während die juristische Person des Privatrechts, auf die öffentliche Aufgaben ausgelagert wurden, nicht als Konventionsrechtsverpflichtete anzusehen sei460. 3. Private Noch nicht abschließend geklärt ist, inwieweit Private durch die Konventionsrechte gebunden sind. Insbesondere ist noch offen, welche Rolle dem Staat in diesem Zusammenhang zuerkannt wird: Ist er lediglich dazu verpflichtet, die Freiheiten seiner Bürger nicht zu verletzten, oder besteht eine weitergehende Verpflichtung, sämtliche Einschränkungen der Freiheiten zu verhindern461? Diesbezüglich ist eine weitreichende Diskussion entfacht. Zunächst stellt sich die Frage, wer überhaupt als „privat“ angesehen werden kann. Dabei liegt zunächst der Umkehrschluss nahe, dass alles, was nicht staatlich ist, als privat anzusehen ist462. Man spricht jedenfalls dann von einer nicht-staatlichen juristischen Person, wenn diese überwiegend autonom von der Regierung und ihrer Kontrolle steht ist und der Gesellschaft, der Wirtschaft oder der Politik entspringt, ohne dabei staatlich kontrolliert oder angewiesen zu werden463. Aufgrund der weit weniger strengen Unterscheidung zwischen öffent­ lichem und privatem Recht liegt es nahe, eine Drittwirkung der Konventionsrechte und damit eine Konventionsrechtsbindung Privater anzunehmen464. So wird gefolgert, dass Private in gleicher Weise an die Grundrechte und die garantierten Freiheitsphären gebunden sind465 und der Human Rights Act eine unmittelbare Drittwirkung der Konventionsrechte anordne466. Es wird angeführt, es sei insbesondere kritisch zu bewerten, würden Private von der Verpflichtung ausgenommen, die Grundrechte ihrer Mitbürger zu respektie460  P.

Craig, LQR 118 (2002), 551 (567). Bamforth, CLJ 58 (1999), 159 (170). 462  Vgl. dazu P. Alston, „The Not-a-Cat Syndrome“, in: ders., Non-State Actors and Human, Rights, S. 1. 463  Vgl. dazu P. Alston, „The Not-a-Cat Syndrome“, in: ders., Non-State Actors and Human, Rights, S. 16. 464  W. Wade, The United Kingdom’s Bill of Rights, in: Constitutional Reform, S.  62 ff.; ders., EHRLR 1998, 520 (523 ff.). 465  W. Wade, The United Kingdom’s Bill of Rights, in: Constitutional Reform, S. 63; J. Beatson, Which Regulatory Bodies are Subject to the HRA?, in: Beatson /  Forsyth / Hare, Human Rights Act, S. 99. 466  W. Wade, The United Kingdom’s Bill of Rights, in: Constitutional Reform, S.  62 ff.; ders., EHRLR 1998, 520 (524 f.). 461  N.

258

4. Kap.: Vereinigtes Königreich

ren467. Widersinnig sei es auch, wenn Private nicht gegen Rechtsverletzungen durch andere Private klagen könnten468. Grundsätzlich seien schließlich sowohl juristische Personen des Privatrechts als auch solche des öffentlichen Rechts verpflichtet, keine Rechtsverletzungen zu begehen; unklar sei, warum zwischen ihnen unterschieden werden sollte469. Die Rechtsprechung geht ebenfalls vom Bestehen einer Drittwirkung aus470. So entschied der Court of Appeal, dass eine Zeitschrift nicht autorisierte Fotos von der Hochzeit zweier Schauspieler nicht veröffentlichen dürfe471. Da die Gerichte als public authorities an die Konventionsrechte gebunden sind, müssten sie im Einklang mit den Konventionsrechten entscheiden. Dementsprechend müssten die Gerichte die Rechte des Einzelnen schützen, auch wenn die eigentliche Rechtsverletzung durch einen Privaten begangen wird472. In einem anderen Fall klagten verurteilte Mörder gegen die Veröffentlichung ihrer nach der Haftstrafe angenommenen Identität. Auch hier urteilte das Gericht, dass es dazu verpflichtet sei, die Rechte der Kläger zu schützen473. In der Literatur gibt es jedoch zahlreiche Stimmen, welche die Idee einer Drittwirkung der Konventionsrechte im Vereinigten Königreich vehement ablehnen474. Es sei offenkundig, dass die Konventionsrechte Private nicht direkt binden475, so dass sie nicht systematisch zwischen Privaten angewendet werden dürften476. Gegen die Annahme einer unmittelbaren Drittwirkung werden die Gesetzesmaterialen für den Human Rights Act angeführt477. Im Weißbuch etwa werden als gemäß Section 6 Subsection 1 verpflichtete Stellen allein solche Personen und Organisationen aufgeführt, die als typische 467  W.

Wade, The United Kingdom’s Bill of Rights, in: Constitutional Reform,

468  W.

Wade, The United Kingdom’s Bill of Rights, in: Constitutional Reform,

469  W.

Wade, The United Kingdom’s Bill of Rights, in: Constitutional Reform,

S. 63. S. 63. S. 64.

470  Douglas and others v Hello! Ltd., [2001] Q.B. 967 (1004 f.); Venables v News Group Newspapers Ltd and others, [2001] Fam. 430 (446); ähnlich Campbell v MGN Ltd, [2004] 2 A.C. 457 (465). 471  Douglas and others v Hello! Ltd., [2001] Q.B. 967. 472  Douglas and others v Hello! Ltd., [2001] Q.B. 967 (1004 f.). 473  Family Division, Venables v News Group Newspapers Ltd and others, [2001] Fam. 430 (446); ähnlich Campbell v MGN Ltd, [2004] 2 A.C. 457 (465). 474  D. Feldman, Civil Liberties, S. 101; J. Wadham / H. Mountfield / E. Prochaska /  R. Desai, Human Rights Act 1998, Rn. 3.74; B. Schirmer, Konstitutionalisierung, S. 98. 475  R. Buxton, The Human Rights Act and Private Law (2000) 116 LQR 48 (50); D. Feldman, Civil Liberties, S. 101. 476  D. Feldman, Civil Liberties, S. 101. 477  M. Baum, Schutz, S. 376.



C. Das internationale Recht259

Staatsverwaltung zu begreifen sind478. Beispielhaft genannt werden die Zentralregierung einschließlich exekutiver Sonderorganisationen (agencies), die Kommunalverwaltung, Polizei, die Einwanderungsbehörde, Gefängnisse, Gerichte und Tribunale479. Außerdem genannt werden privatisierte Versorgungsunternehmen, soweit sie öffentliche Funktionen wahrnähmen480. Zudem wurde schon im Gesetzgebungsverfahren der Zweck der Konventionsrechte allein in dem Schutz vor Handlungen juristischer Personen des öffentlichen Rechts gesehen481. Ferner wird die EMRK selbst zur Ablehnung einer unmittelbaren Drittwirkung herangezogen. Diese binde schließlich ebenfalls ausschließlich Staaten und ihre Emanationen482. Für diese Betrachtungsweise spreche schon der Entstehungszweck der Konvention, der in dem Schutz des Menschen vor dem Missbrauch staatlicher Macht liege483. Die Natur der Konventionsrechte gebiete es bereits, diese nicht unmittelbar zwischen Privaten zur Anwendung zu bringen484. Dementsprechend sollten auch die durch den Human Rights Act inkorporierten Rechte nur solche juristischen Personen binden, die auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als Konventionsrechtsverpflichtete ansehen würde485. Insbesondere seien nach der EMRK lediglich Klagen gegen Staaten zulässig, nicht aber gegen Private486. Allein die Inkorporierung der Konventionsrechte könne ihren Charakter nicht verändern487. Auf dieser Linie wird auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verwiesen488: Auch in Straßburg sei stets die Regierung oder eine ihrer Stellen der Beschwerdegegner, nicht hingegen eine natürliche Person489. Weiter spreche die bisherige britische Rechtsprechung gegen eine unmittelbare Drittwirkung490. 478  M.

Baum, Schutz, S. 376. Brought Home, CM 3782, 1997, Ziff. 2.2. 480  Rights Brought Home, CM 3782, 1997, Ziff. 2.2. 481  Hansard HL Deb. 3.11.1997 vol. 582 col. 1231. 482  R. Buxton, LQR 116 (2000) 48 (51). 483  Hansard HL Deb. 3.11.1997 vol. 582 col. 1232. 484  R. Buxton, LQR 116 (2000) 48 (50); J. Wadham / H. Mountfield / E. Prochaska /  R. Desai, Human Rights Act 1998, Rn. 3.75. 485  R. Buxton, LQR 116 (2000) 48 (51). 486  R. Buxton, LQR 116 (2000) 48 (50); J. Wadham / H. Mountfield / E. Prochaska /  R. Desai, Human Rights Act 1998, Rn. 3.74. 487  R. Buxton, LQR 116 (2000) 48 (51 f.). 488  Hansard HL Deb. 3.11.1997 vol. 582 col. 1231; R. Buxton, LQR 116 (2000) 48 (52 f.). 489  Hansard HL Deb. 3.11.1997 vol. 582 col. 1231. 490  Vgl. etwa House of Lords, Blathawayt v. Baron Cawley [1976] AC 397 (426); Chancery Division, Clark v. Associated Newspapers Ltd [1998] 1 W.L.R. 1558. 479  Rights

260

4. Kap.: Vereinigtes Königreich

Eine vermittelnde Position geht davon aus, dass eine mittelbare Drittwirkung bestehe491. So wird teilweise aus der Konventionsrechtsverpflichtung der Gerichte aus Section 6 HRA und der Auslegungsregel des Section 2 HRA geschlossen, dass diese verpflichtet sind, die Konventionsrechte zwischen Privaten bei der Auslegung zu berücksichtigen, was eine mittelbare Drittwirkung begründe492. Denn die Auslegungsregel gelte nicht nur in horizontaler, sondern auch in vertikaler Richtung493. Dementsprechend besäßen die Konventionsrechte eine Ausstrahlungswirkung auf privatrechtliche Beziehungen494. Teilweise wird weiter vertreten, dass die Gerichte zwischen Privaten nur die prozessualen Rechte aus Art. 5, Art. 6 und Art. 7 EMRK zu beachten hätten495. Gegen diese Ansicht lässt sich jedoch anführen, dass Section 6 HRA gerade nicht zwischen den einzelnen Konventionsrechten unterscheidet496. Es wird wohl an den Gerichten bleiben, Regelungen bezüglich der Drittwirkung der Konventionsrechte zu entwickeln. Eine Tendenz ist dahingehend abzulesen, dass eine Drittwirkung insbesondere für Art. 8 EMRK angenommen werden wird497. Dennoch kann derzeit trotz der bereits ergangenen Entscheidungen noch keine klare Linie bezüglich der Interaktion zwischen den Konventionsrechten und dem Privatrecht festgestellt werden498.

III. Konventionsrechtsberechtigte Sodann stellt sich die Frage, welche Personen sich auf die Konventionsrechte berufen können. Es ist in diesem Zusammenhang zu untersuchen, ob die bereits unter Kapitel 3 getroffenen Feststellungen zu der Konventionsrechtsberechtigung ohne weiteres übertragbar sind oder ob sich aus dem britischen Recht und Rechtsverständnis Abweichungen ergeben. Denn die 491  O. Hood Phillips / P. Jackson / P. Leopold, Constitutional and Administrative Law, S. 480, Rn. 22-021; M. Hunt, PL 1998, 422 (441 f.); J. Wadham / H. Mountfield / E. Prochaska / R. Desai, Human Rights Act 1998, Rn. 3.75; R. Clayton / H. Tomlinson, Human Rights, Rn. 5.01; P. Cane, Accountability and the Public / Private Distinction, in Bamforth / Leyland, Public Law, S. 251; D. Oliver, PL 2000, 476 (476, 490); G. Phillipson, MLJ 62 (1999), 379 (487). 492  W. Wade, The United Kingdom’s Bill of Rights, in: Constitutional Reform, S. 63. 493  N. Bamforth, CLJ 58 (1999), 159 (168). 494  D. Feldman, Civil Liberties, S. 101. 495  S. Kentridge, The Incorporation of the European Convention on Human Rights, in Constitutional Reform, S. 69–71. 496  W. Wade, EHRLR 1998, 520 (524 f.); D. Feldman, Civil Liberties, S. 101. 497  C. Mak, Fundamental Right in European Contract Law, S. 133. 498  C. Mak, Fundamental Right in European Contract Law, S. 133.



C. Das internationale Recht261

EMRK und das britische Recht haben schon bezüglich der Unterscheidung zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht derart unterschiedliche Ansätze, dass die Faktoren, nach denen sich die Grundrechtsberechtigung bestimmt, nicht notwendigerweise identisch sein müssen499. Soweit der Zweck des Human Rights Acts darin gesehen wird, den Berechtigten dieselben Rechte wie durch die EMRK zu gewähren, aber keine weitergehenden Rechte zu schaffen500, muss die Frage nach den Konventionsrechtsberechtigten trotz der unterschiedlichen Ansätze in enger Anlehnung an die EMRK betrachtet werden. Im Einzelnen: 1. Natürliche Personen Natürlich Personen können sich allein aufgrund der Schutzkonzeption der Konventionsrechte ohne weiteres auf diese berufen, dienen diese doch vorrangig dem Individualschutz501. Dies ergibt sich zudem aus Art. 34 EMRK und dem Wortlaut der Konventionsrechte, der sich vorrangig auf den Individualschutz bezieht. Gemäß der Schutzkonzeption sind auch Ausländer ohne weiteres vom Schutz der Konventionsrechte umfasst. Denn die Konventionsrechte knüpfen gerade nicht an die Staatsangehörigkeit, sondern an die ­Unterworfenheit unter die Staatsgewalt des Vereinigten Königreichs. 2. Juristische Personen des Privatrechts Durch die Anknüpfung an Art. 34 EMRK sind neben natürlichen Personen auch juristische Personen unproblematisch Berechtigte der Konventionsrechte, soweit sie nichtstaatlich organisiert sind, vgl. Art. 34 EMRK. Auch wenn vereinzelt Gegenteiliges vertreten wird502, wird bereits daraus, dass Art. 34 EMRK von Personen spricht, überwiegend geschlossen, dass nicht nur natürliche Personen, sondern auch juristische Personen von der Konventionsrechtsberechtigung umfasst sind503. Erforderlich ist allerdings, dass das betroffene Konventionsrecht von juristischen Personen wahrgenommen werden kann504. Dies wird etwa für das Recht auf Zugang zu den Gerichten, die 499  N.

Bamforth, CLJ 58 (1999), 159 (160 f.). (Greenfield) v Home Secretary [2005] 1 WLR 673 (683) (Lord Bingham). 501  S. o. unter Kap. 3 C. 502  A. Scolnicov, Lifelike and Lifeless in Law: Do Corporations Have Human Rights, in: Legal Studies Research Paper Series, Paper 13 / 2013. 503  R. Clayton / H. Tomlinson, Human Rights, Rn. 22.21; D. Feldman, Remedies, in: ders., English Public Law, 19.16. 504  R. Clayton / H. Tomlinson, Human Rights, Rn. 22.21. 500  R

262

4. Kap.: Vereinigtes Königreich

Versammlungsfreiheit und das Eigentumsrecht unproblematisch angenommen505. Andere Rechte, wie das Recht auf Leben, können schon begriffslogisch nicht auf juristische Personen angewendet werden506. Für das Erfordernis der Nationalität der juristischen Person gilt gleiches wie für die natürlichen Personen: Die Konventionsrechte knüpfen ihren Schutz allein an die Gewaltunterworfenheit507. Auf die Nationalität des Berechtigten kommt es nicht an. Zu berücksichtigen ist, dass juristische Personen nur eigene Rechtsverletzungen geltend machen und nicht als Prozessstandschafter für ihre Mitglieder auftreten können508. 3. Juristische Personen des öffentlichen Rechts Der Human Rights Act sieht keine ausdrückliche Regelung zur Konventionsrechtsberechtigung juristischer Personen des öffentlichen Rechts vor. Art. 34 EMRK ist nicht ausdrücklich durch den Human Rights Act in das britische Recht inkorporiert, jedoch verweist Section 7 Subsection 7 HRA auf Art. 34 EMRK. Gemäß Section 7 Subsection 7 HRA kann sich nur derjenige auf die inkorporierten Konventionsrechte berufen, der auch gemäß Art. 34 EMRK konventionsrechtsberechtigt wäre. Art. 34 EMRK legt fest, dass sich ausschließlich Nichtregierungsorganisationen und Personengruppen auf die Rechte der EMRK berufen können509. Daraus wird im britischen Recht geschlossen, dass sich die konventionsrechtsverpflichteten public authorities als dem Staat zugeordnete juristische Personen nicht auf die Konventionsrechte berufen können510. Demnach sind beispielsweise Kommunalbehörden von der Konventionsrechtsberechtigung ausgeschlossen511. Diese 505  R.

Clayton / H. Tomlinson, Human Rights, Rn. 22.21 m. w. N. Clayton / H. Tomlinson, Human Rights, Rn. 22.22. 507  Vgl. dazu Kap. 3 C. 508  O. Hood Phillips / P. Jackson / P. Leopold, Constitutional and Administrative Law, S. 483, Rn. 22-025. 509  Vgl. Kap. 3 C. 510  D. Feldman, Civil Liberties, S. 99; J. Wadham / H. Mountfield / E. Prochaska /  R. Desai, Human Rights Act 1998, Rn. 4.20; M. Supperstone / J. Goudie / J.  Coppel, Local Authorities and the Human Rights Act 1998, S. 7; O. Hood Phillips / P. Jackson / P. Leopold, Constitutional and Administrative Law, S. 483, Rn. 22-025; S. Grosz /  J. Beatson / P. Duffy, Human Rights, Rn. 4.42 ff; D. Oliver, PL 2000, 476 (491); B. Schirmer, Konstitutionalisierung, S. 223; R. Clayton / H. Tomlinson, Human Rights, Rn. 22.26; N. Whitty / T. Murphy / S. Livingstone. Civil Liberties Law, S. 31; A. Sherlock, EPL 4 (1998), 593 (612); M. Supperstone / J. Coppel, EHRLR 1999, 301 (307). 511  Queen’s Bench Division, R (Mayor of the City of Westminster) v. Mayor of London, 2002 WL 31476389 para. 111; R (Medway Council and others) v. Secretary of State for Transport, 2002 WL 31523297 para 20; J. Wadham / H. Mountfield / E. Pro506  R.



C. Das internationale Recht263

Auffassung wurde vom House of Lords bestätigt512 und für schottische NHS Trusts ebenso entschieden513. Hierbei handelt es sich um einen der seltenen Fälle, in denen das britische Recht die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vollständig adaptiert514. Teilweise schließt die Literatur aus dem Wortlaut von Section 7 Subsection 7 HRA in Verbindung mit Art. 34 EMRK, dass sämtliche juristischen Personen des öffent­ lichen Rechts von der Grundrechtsberechtigung nicht erfasst seien515. Dieser sei insoweit eindeutig und lasse keine Ausnahmen zu516. Zur Begründung dieser Position wird das Konfusionsargument angeführt: Diejenige juristische Person, die durch den Human Rights Act konventionsrechtsverpflichtet ist, könne sich nicht zugleich auf die Konventionsrechte berufen517. Für dieses Verständnis spreche auch der Entwurf zum Human Rights (No 3) Bill von 1994, der ausdrücklich zwischen den verpflichteten juristischen Personen des öffentlichen Recht und den natürlichen Personen als Berechtigten unterscheidet518. Zudem ergebe sich schon aus dem Schutzzweck der Konventionsrechte, dass diese Rechte gegen den Staat seien und vor staatlichen Eingriffen schützen und diese nicht ermöglichen sollen519. Allerdings werden an dieser Auffassung auch Zweifel geäußert: Das Parliamentary Joint Committee etwa erklärte, die prinzipielle Ablehnung des Konventionsrechtsschutzes für juristische Personen des öffentlichen Rechts für falsch zu halten – allerdings ohne dies tiefergehend zu begründen. Es gebe Umstände, unter denen sich juristische Personen des öffentlichen Rechts auf die Konventionsrechte berufen können sollten520. Dieser Vorstoß trifft in der Literatur auf Zustimmung und wird von ihr konkretisiert: So müsse die chaska / R. Desai, Human Rights Act 1998, Rn. 4.22; M. Supperstone / J. Goudie /  J. Coppel, Local Authorities and the Human Rights Act 1998, S. 7. 512  Aston Cantlow, House of Lords, [2003] UKHL 37, para 8 (Lord Nicholls). 513  Grampian University Hospitals NHS Trust v. Procurator Fiscal [2004] H.R.L.R. 18. 514  D. Feldman, Civil Liberties, S. 99. 515  W. Wade, The United Kingdom’s Bill of Rights, in: Constitutional Reform, S. 67. 516  W. Wade, The United Kingdom’s Bill of Rights, in: Constitutional Reform, S. 67. 517  A. W. Bradley / K. D. Ewing / C. J. S. Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 379; M. Supperstone / J. Coppel, EHRLR 1999, 301 (307). 518  S. H. Bailey / D. J. Harris / B. L. Jones, Civil Rights, S. 20 f. 519  P. Cane, Accountability and the Public / Private Distinction, in Bamforth / Leyland, Public Law, S. 254; A. Scolnicov, Lifelike and Lifeless in Law: Do Corporations Have Human Rights, in: Legal Studies Research Paper Series, Paper 13 / 2013, S. 9. 520  House of Lords, House of Commons Joint Committee on Human Rights, The Meaning of Public Authority under the Human Rights Act, Seventh Report of Session 2003-4, HL Paper 39. HC 382, para 23.

264

4. Kap.: Vereinigtes Königreich

Frage nach der Berechtigung von derjenigen nach den Befugnissen und Kompetenzen getrennt werden521. Außerdem müssten diejenigen, die sich auf die Konventionsrechte berufen, ohnehin die übrigen Voraussetzungen aus Section 7 Subsection 1 und Subsection 7 HRA sowie aus Art. 34 EMRK erfüllen522. Dementsprechend sei es recht unwahrscheinlich, dass sich eine public authority gegen eine ministerielle Anordnung wehrt und dabei auf die Konventionsrechte beruft, wenn sie diese selbst zu verantworten hat523. Dennoch sei es nicht ausgeschlossen, dass zwei public authorities in Konflikt geraten und sich (gegenseitig) in konventionsrechtsrelevanten Bereichen beschränken524. In diesen Fällen liege es nahe, die Beschränkung aus Section 7 Subsection 7 HRA in Verbindung mit Art. 34 EMRK aufzuheben. Dafür spreche, dass das Versagen des Konventionsrechtsschutzes gegenüber juristischen Personen auch die Versagung des Schutzes gegenüber den hinter ihr stehenden natürlichen Personen zur Folge habe525. Gehe man außerdem davon aus, dass auch juristische Personen des öffentlichen Rechts in Situa­ tionen geraten, in denen sie sich im öffentlichen Interesse auf die Konven­ tionsrechte berufen müssten, liege es nahe, der juristischen Person die Konventionsrechtsberechtigung zuzuerkennen526. Gerade wenn die juristische Person ein Recht geltend mache, das unabhängig von ihrer öffentlich-recht­ lichen Verpflichtung stehe, sei kein Grund erkennbar, den Konventionsrechtsschutz zu verweigern527. Für eine Einbeziehung juristischer Personen des öffentlichen Rechts in den Schutzbereich der Konventionsrechte ist zudem ihr objektiver Schutzgehalt anzuführen. Dieser diene nach dem britischen Verständnis vorrangig dem Schutz und der Erhaltung der Demokratie528. Danach ergebe sich die Schutzbedürftigkeit aus der Unterordnung einer Person unter die andere529. Andere Stimmen kritisieren, die Versagung der Konventionsberechtigung für public authorities spiegele ein Rechtsverständnis hinsichtlich der Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft wider, das nicht ohne weiteres mit dem pragmatischen Ansatz des common law und den Strukturen des 521  H. Davis, 522  H. Davis,

CLJ 64 (2005), 315 (316). CLJ 64 (2005), 315 (316); dazu weitergehend J. Miles, CLJ 59

(2000), 133. 523  H. Davis, CLJ 64 (2005), 315 (316). 524  H. Davis, CLJ 64 (2005), 315 (317). 525  H. Davis, CLJ 64 (2005), 315 (318). 526  H. Davis, CLJ 64 (2005), 315 (326). 527  H. Davis, CLJ 64 (2005), 315 (326); in diese Richtung auch J. Herberg / A. Le Sueur / J. Mulcahy, Determing civil rights and obligations, in: J. Jowell / J. Cooper, Understanding Human Rights Principles, S. 91 (105). 528  A. Clapham, Human Rights in the Private Sphere, S. 94 ff., 147. 529  In diese Richtung A. Clapham, Human Rights in the Private Sphere, S. 94.



C. Das internationale Recht265

modernen Staates in Einklang zu bringen sei530. Sie sei zwar auf einer Linie mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und dem von ihr zur Zurechnung einer juristischen Person zu einem Staat entwickelten Begriff der Emanation eines Staates531. Sachgerechter sei jedoch eine Zurechnung von staatlichem Handeln nach dem aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs abgeleiteten Foster-Test, die sich besser auf das britische Recht übertragen lasse532. Danach sei eine juristische Person, die öffentliche Dienste anbietet, unabhängig von ihrer Rechtsform dann als öffentlich anzusehen, wenn sie dem Staat oder dessen Aufsicht untersteht oder mit bestimmten Rechten ausgestattet ist, die über diejenigen hinausgehen, die nach den Vorschriften für die Beziehungen zwischen Privatpersonen gelten533. Daraus ergeben sich drei Kriterien, das Anbieten eines öffentlichen Dienstes, die Kontrolle durch den Staat und der Besitz von Hoheitsmacht534. Nach dem Foster-Test könnten sowohl standard als auch functional public authorities konventionsrechtsberechtigt sein. Es sei dementsprechend nicht ersichtlich, warum das Konzept des Staates als Garant der Konventionsrechte fordere, dass alle juristischen Personen des öffentlichen Rechts unabhängig von ihrer Autonomie und Hoheitsmacht gleich zu behandeln seien, mit der Folge, dass ihnen die Konventionsrechtsberechtigung zu versagen sei535. Problematisch an dem Foster-Test ist allerdings, dass hier Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes und nicht des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte herangezogen wird. Soweit gegen die Annahme einer Konventionsrechtsberechtigung von pub­lic authorities angeführt werde, dass der Human Rights Act lediglich die EMRK spiegele und diese der Annahme einer Konventionsrechtsberechtigung entgegenstehe, wird vertreten, dass Art. 34 EMRK lediglich Regierungsorganisationen im engeren Sinne ausschließe, dabei aber nicht näher erläutere, um welche Organisationen es sich dabei handle, und nicht festlege, wann eine juristische Person dem Staat zuzurechnen sei. Zu berücksichtigen sei, dass der Begriff der Regierungsorganisation aus Art. 34 EMRK im Vereinigten Königreich durch den der public authority ausgestaltet werde, der wiederum für die Konventionsrechtsverpflichtung gemäß Section 6 HRA zwischen standard public authorities und functional public authorities unterscheide. Aufgrund dieser Differenzierung liege es nahe, auch 530  H. Davis,

CLJ 64 (2005), 315 (324). CLJ 64 (2005), 315 (324); s. dazu Kapitel 3 A. 532  H. Davis, CLJ 64 (2005), 315 (324) mit Verweis auf EuGH; Slg. 1990, I-3313 Rn. 18 (Foster), NJW 1991, 3086. 533  EuGH, Slg. 1990, I-3313 Rn. 18 (Foster), NJW 1991, 3086 (3087). 534  D. Oliver, PL 2000, 476 (485). 535  H. Davis, CLJ 64 (2005), 315 (325). 531  H. Davis,

266

4. Kap.: Vereinigtes Königreich

bezüglich der Konventionsrechtsberechtigung eine Unterscheidung zu treffen und Organisationen wie den functional public authorities, deren juristische Persönlichkeit nicht eindeutig sei, die Konventionsrechtsberechtigung zu gewähren536. Denn die standard public authorities fielen ohne weiteres unter die Definition der Regierungsorganisation aus Art. 34 EMRK und seien so als Konventionsrechtsverpflichtete nicht konventionsrechtsberechtigt. Diese seien durch ihren institutionellen Charakter gekennzeichnet, sie hätten keinerlei private Seite und weder kommerzielle noch wohltätige Zwecke537. Ihnen sei es aufgrund ihrer uneingeschränkten Bindung an die Konventionsrechte nicht möglich, sich auf den Schutz dieser Rechte zu berufen538. Functional public authorities seien hingegen nur gebunden, soweit sie öffentlich-rechtliche Funktionen ausüben539. Soweit sie privatrechtlich tätig werden, könnten sie sich jedoch auf die Konventionsrechte berufen540. Diese gemischtwirtschaftlichen Organisationen könnten hingegen – je nachdem welche Funktionen sie gerade wahrnehmen – sowohl berechtigt als auch verpflichtet sein541. Dabei ist für den Einzelfall zu prüfen, ob sie privatrechtlich oder öffentlich-rechtlich handeln und inwieweit sie sich dementsprechend auf die Konventionsrechte berufen können. In Anlehnung an die Entscheidung Aston Cantlow542 wird teilweise gefolgert, den Begriff der hybrid oder functional public authorities weit auszulegen, um ihnen in den Fällen, in denen sie keine function of a public nature ausüben, die Geltendmachung der Konventionsrechte zu ermöglichen543. Dabei solle aber die Zielsetzung des Human Rights Act und die Interaktion mit Art. 1 und Art. 34 EMRK bei der Auslegung des Begriffs herangezogen werden544. Allerdings wird teilweise kritisiert, dass dieses Vorgehen die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte überdehne, da die Unterscheidung nach standard und hybrid public authorities im Konventionsrecht keine Entsprechung finde und hier allein der 536  H. Davis,

CLJ 64 (2005), 315 (319). CLJ 64 (2005), 315 (320). 538  House of Lords, Aston Cantlow, [2003] UKHL 37, para 8 (Lord Nicholls); H. Davis, CLJ 64 (2005), 315 (320). 539  H. Davis, CLJ 64 (2005), 315 (320); R. Clayton / H. Tomlinson, Human Rights, Rn. 22.26. 540  House of Lords, Aston Cantlow, [2003] UKHL 37, para 11 (Lord Nicholls); H. Davis, CLJ 64 (2005), 315 (321). 541  A. W. Bradley / K. D. Ewing / C. J. S. Knight, Constitutional and Administrative Law, S. 379. 542  House of Lords, Aston Cantlow, [2003] UKHL 37. 543  B. Schirmer, Konstitutionalisierung, S. 226. 544  House of Lords, Aston Cantlow, [2003] UKHL 37, para 8 (Lord Nicholls); para 47 (Lord Hope); B. Schirmer, Konstitutionalisierung, S. 227. 537  H. Davis,



C. Das internationale Recht267

Staat als Zurechnungsobjekt herangezogen wird545. Lege man allerdings den Konfusionsgedanken zugrunde, so scheine es durchaus vertretbar, standard public authorities die Berechtigung zu versagen, während nichts gegen eine Berechtigung der functional public authorities spreche546. Zudem ist zu berücksichtigen, dass Art. 34 EMRK selbst nicht sämtlichen juristischen Personen des öffentlichen Rechts den Konventionsrechtsschutz verwehrt, sondern ebenfalls zwischen Organisationen, die der Regierung zuzuordnen sind, und den übrigen unterscheidet. Zu untersuchen ist allerdings, ob die functional public authorities sich auch dann auf die Konventionsrechte berufen können, wenn sie öffentliche Funktionen ausüben. Zu berücksichtigen sei hier, dass es in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte kein Äquivalent zu den functional public authorities gebe und so keine Rückschlüsse gezogen werden könnten. Auch Art. 34 EMRK gebe diesbezüglich wenig her, da er allein nach der institutionellen Zuordnung einer juristischen Person zu der Regierung und nicht nach ihrer Funktion unterscheide547. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sind Regierungsorganisationen allerdings selbst dann nicht konventionsrechtsberechtigt, wenn sie privatrechtlich handeln548. Jedoch sei aus dieser Rechtsprechung nicht zu schließen, dass auch functional public authorities die Konventionsrechtsberechtigung zu versagen sei, wenn diese öffentlich-rechtlich handeln, da es sich bei der Unterscheidung nach der ausgeübten Funktion um ein der EMRK fremdes Konzept handle549. Nach diesem Ansatz kommt eine Konventionsrechtsberechtigung von functional public authorities auch bei der Ausübung öffentlicher Funktionen grundsätzlich in Betracht. Für diese Erweiterung spricht der Wortlaut des Art. 34 EMRK in den authentischen Sprachfassungen. Dieser schließt juristische Personen des öffentlichen Rechts nur dann von der Konventionsrechtsberechtigung aus, wenn diese der Regierung eines Staates zuzurechnen und damit typisch staatlich sind. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sind von dem Begriff der staatlichen Organisation jedoch nicht nur die zentralen Organe eines Staates erfasst, sondern alle dezentralisierten Behörden, die gegenüber den zentralen Organen autonom sind550. Dementsprechend entspricht es Art. 34 EMRK, den Ausschluss von der Konven­ 545  B.

Schirmer, Konstitutionalisierung, S. 227. Schirmer, Konstitutionalisierung, S. 227 f. 547  H. Davis, CLJ 64 (2005), 315 (321). 548  EGMR, Urt. v. 1.2.1991  – 55346 / 00 (Ayuntamiento de Mula v. Spanien); H. Davis, CLJ 64 (2005), 315 (321), vgl. dazu Kap. 3 C. 549  H. Davis, CLJ 64 (2005), 315 (321). 550  EGMR, Urt. v. 9.12.1994 – 13092 / 87 Rn. 49 (The Holy Monasteries). 546  B.

268

4. Kap.: Vereinigtes Königreich

tionsrechtsberechtigung für functional public authorities auf typisch hoheit­ liches Handeln zu begrenzen und eine solche anzuerkennen, soweit diese gerade nicht für den Staat, sondern privatrechtlich handelt. Handelt die juristische Person allerdings in Wahrnehmung öffentlicher Funktionen und damit typisch staatlich, ist die Annahme einer Konventionsrechtsberechtigung nicht mit Art. 34 EMRK vereinbar. Dies ergibt sich auch aus dem Schutzzweck und der individualschützenden Ausrichtung der EMRK und der durch den Human Rights Act in das britische Verfassungsrecht inkorporierten Konventionsrechte. Erkennt man eine Konventionsrechtsberechtigung für functional public authorities an, so ist fraglich, ob und wie eine Versagung der Konventionsrechtsberechtigung für standard public authorities und damit eine unterschiedliche Behandlung von standard public authorities und functional public authorities zu rechtfertigen sei551. Eine Rechtfertigung könnte sich unmittelbar aus der EMRK selbst (insbesondere aus Art. 34 EMRK) und der Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft ergeben552. Die EMRK sehe Rechtsmittel gegen die Einrichtung „Staat“ vor, da es Aufgabe des Staates sei, die Konventionsrechte zu sichern553. So setzten Art. 1 und Art. 34 EMRK voraus, dass der Staat eins mit der Regierung sei und diese getrennt von sonstigen Personen, Gruppen und nichtstaatlichen Organisationen stünden554. Die von Art. 34 EMRK vorausgesetzte Verschmelzung von Staat und Regierung aber werde der heutigen Konzeption der Regierung und ihrer Vielschichtigkeit nicht gerecht555. Wie wenig interessengerecht ein grundsätzlicher Ausschluss der Konventionsrechtsberechtigung für standard public authorties sei, werde insbesondere an dem Beispiel sogenannten non-departmental public bodies deutlich556. Diese gelten grundsätzlich als nicht konventionsrechtsberechtigte standard public authorities, da ihre Zielsetzung öffentlich-rechtlich ist und sie keinerlei private Interessen verfolgen557. Sie sind gekennzeichnet durch das Kriterium der Selbstlosigkeit558. Zugleich entsprechen ihre Funktionen der Definition von „staatlich“ beziehungsweise „öffentlich“, da sie Hoheitsgewalt besitzen559. Dennoch ließen sich die Überlegungen zur Versagung der Konventionsrechtsberechtigung für standard 551  H. Davis,

CLJ 64 (2005), 315 (321). CLJ 64 (2005), 315 (322). 553  H. Davis, CLJ 64 (2005), 315 (322). 554  House of Lords, Aston Cantlow, [2003] UKHL 37, Para [159] (Lord Rodger). 555  H. Davis, CLJ 64 (2005), 315 (322); vgl. dazu weitergehend N. Bamforth /  P. Leyland, Public Law in a Multi-Layered Constitution, in: dies., Public Law, S. 9. 556  H. Davis, CLJ 64 (2005), 315 (322); ähnlich D. Oliver, PL 2000, 4776 (478). 557  H. Davis, CLJ 64 (2005), 315 (322). 558  H. Davis, CLJ 64 (2005), 315 (322 f.). 559  D. Oliver, PL 2000, 476 (481); H. Davis, CLJ 64 (2005), 315 (323). 552  H. Davis,



C. Das internationale Recht269

public authorities nicht ohne weiteres auf non-departmental public bodies übertragen, weil letztere unabhängig von der Regierung bestehen und nur der Kontrolle durch Minister unterstehen können. Zudem könnten sie sich in komplexen Beziehungen zu standard public authorities befinden, so dass hier Konflikte möglich seien, die ein Berufen auf die Konventionsrechte erfordern könnten. Zudem bestehe die Möglichkeit, dass non-departmental public bodies Funktionen ausüben, die auch functional public authorities ausüben. Sowohl standard public authorities als auch functional public authorities sowie Nichtregierungsorganisationen könnten in gleicher Weise staatlichen Maßnahmen unterworfen sein. Berücksichtigt man die Ähnlichkeit der Funktionen, die diese juristischen Personen jeweils ausüben, spreche dies für eine Gleichstellung bezüglich der Konventionsrechtsberechtigung und dafür, den standard public authorities ebenfalls das Recht zuzugestehen, sich auf die Konventionsrechte zu berufen560. Gegen eine Ausdehnung der Konventionsrechtsberechtigung auf sämtliche public authorities spricht allerdings, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Art. 34 EMRK weit auslegt und als staatlich grundsätzlich alle Organisationen ansieht, die öffentliche Funktionen ausüben, unabhängig davon, ob sie zugleich privatrechtlich tätig werden561. Dieses Verständnis ergibt sich jedoch nicht nur aus dem Wortlaut des Art. 34 EMRK, sondern aus dem Verständnis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte von der Natur und der Rolle des Staates562. Zu berücksichtigen ist zudem, dass eine juristische Person allein auf Grundlage ihrer Befugnisse handeln kann. Eine juristische Person, die in Ausübung ihrer Hoheitsgewalt handelt, darf aber nicht ihre öffentliche Verantwortung abgeben563. Allein deshalb sei es nicht wünschenswert, dass sich eine standard public authority gegenüber einer natürlichen Person auf die Konventionsrechte berufen könne. Dies sei nicht die Richtung, in der die Konventionsrechte anzuwenden seien564. Demnach bleibt es dabei, dass den standard public authorities gemäß Art. 34 EMRK ein Berufen auf die Konventionsrechte zu versagen ist. Die damit einhergehende, unterschiedliche Behandlung der public authorities ist durch Art. 34 EMRK in Verbindung mit Section 7 HRA und den Schutzzweck der Konventionsrechte gerechtfertigt. Im Ergebnis bleibt es dabei, dass für die Frage nach der Konventionsrechtsberechtigung einerseits zwischen standard und functional public au560  H. Davis,

CLJ 64 (2005), 315 (323). Urt. v. 1.2.1991  – 55346 / 00 (Ayuntamiento de Mula v. Spanien); H. Davis, CLJ 64 (2005), 315 (324). 562  So auch H. Davis, CLJ 64 (2005), 315 (324). 563  H. Davis, CLJ 64 (2005), 315 (326). 564  H. Davis, CLJ 64 (2005), 315 (326). 561  EGMR,

270

4. Kap.: Vereinigtes Königreich

thorties differenziert werden und andererseits bei Letzteren nach der konkret ausgeübten Funktion unterschieden werden muss. Dazu haben sich Kriterien herausgebildet, die teilweise spiegelbildlich bei der Frage nach der Konventionsrechtsverpflichtung angewendet werden: Als maßgeblich angesehen wird zum einen, ob die juristische Person einen selbstlosen Zweck verfolgt565. Das Verfolgen eines selbstlosen Zweckes sei schon unvereinbar mit dem Berufen auf die (eigenen) Konventionsrechte, so dass allein aus diesem Grunde juristische Personen des öffentlichen Rechts, die einen selbstlosen Zweck verfolgen, von der Konventionsrechtsberechtigung auszunehmen seien566. Unter dem Kriterium der Selbstlosigkeit sei dabei das Fehlen einer nicht-instrumentellen, privaten Seite zu verstehen567. In der Rechtsprechung wurde das Bestehen einer privaten Seite verneint, wenn die juristische Person nicht aufgrund privatrechtlicher Satzung gegründet und mit weitergehenden Befugnissen ausgestattet wurde568. Dieses Kriterium entspricht wiederum dem Grundsatz, dass standard public authorities von der Konventionsrechtsberechtigung auszunehmen sind, da diese grundsätzlich keine private Seite aufweisen und keine Eigeninteressen verfolgen. Zudem wird dieses Kriterium auch der Versagung des Konventionsschutzes für functional public authorities gerecht, soweit diese in Ausübung öffent­ licher Funktionen handeln. In diesem Fall verfolgen sie ebenfalls einen selbstlosen Zweck. Im Ergebnis solle eine Trennung zwischen Staat und Gesellschaft in der Weise erfolgen, dass dem gesellschaftlichen Bereich jegliche Freiheitsausübung des Einzelnen und seiner Vereinigungen zugerechnet wird. Der staatliche Bereich und die maßgeblichen Funktionen des Regierens seien auf die Ausübung von Hoheitsmacht gegenüber anderen zu begrenzen569. Weitere Funktionen des Staates wie etwa Bildung oder Sozialhilfe sollten dabei eher dem gesellschaftlichen Bereich zugeordnet werden570. Dieser Ansatz entspreche dem Verständnis einer pluralistischen und liberalen Gesellschaft und ermögliche juristischen Personen des öffentlichen Rechts eine interessen­ gerechte Wahrnehmung der Konventionsrechte571. Nach diesem Verständnis könnten die Konventionsrechte von juristischen Personen des öffentlichen Rechts auch gegenüber natürlichen Personen geltend gemacht werden. Der 565  H. Davis,

CLJ 64 (2005), 315 (325). CLJ 64 (2005), 315 (325). 567  H. Davis, CLJ 64 (2005), 315 (325). 568  Queen’s Bench Division, R. v Somerset CC Ex p. Fewings, [1995] 1 All ER 513. 569  H. Davis, CLJ 64 (2005), 315 (327). 570  D. Oliver, PL 2004, 476 (492 f). 571  H. Davis, CLJ 64 (2005), 315 (327). 566  H. Davis,



C. Das internationale Recht271

Vorteil dieses Ansatzes liege aber darin, dass die Konventionsrechte zwischen den einzelnen juristischen Personen des öffentlichen Rechts zur Anwendung kämen572. Für religiöse Gemeinschaften legt Section 13 HRA fest, dass sie sich selbst als Gemeinschaft, aber auch ihre Mitglieder gemeinschaftlich auf die Konventionsrechte berufen können. Eine Ausnahme gilt dabei nur für die Church of England und die Church of Scotland, die nicht konventionsrechtsberechtigt sind, da sie als standard public authorities im Sinne des HRA angesehen werden573. Denn diese Staatskirchen besitzen eine Gesetzgebungskompetenz und können ihre Maßnahmen hoheitlich durchsetzen574. Damit finden Section 13 HRA und die Konventionsrechte lediglich auf alle anderen religiösen Gemeinschaften Anwendung575. Diese sind nach allgemeiner Auffassung privatrechtlich, da sie durch privatrechtliche Verträge gegründet wurden. Sie können als functional public authorities allerdings unter Section 6 Subsection 3b HRA fallen, wenn sie öffentlich-rechtliche Funktionen ausüben, etwa eine Schule betreiben576. Mit diesem Verständnis orientiert sich das britische Recht wiederum an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser hatte in dem Fall Holy Monasteries entschieden, dass Klöster der griechisch-orthodoxen Kirche allein deshalb nicht als staatlich anzusehen seien, da sie keine öffentlichen Funktionen wahrnähmen577. Darüber hinaus ist allgemein anerkannt, dass etwa das Recht auf ein faires Verfahren aus Art. 6 Abs. 1 EMRK auch juristischen Personen des öffent­ lichen Rechts zugutekommt578.

IV. Juristische Personen eines Drittstaates Zu der Frage, inwieweit sich Drittstaaten oder ihre juristischen Personen und staatlichen Unternehmen auf die Konventionsrechte berufen können, ist bisher keine (ober-)gerichtliche Entscheidung ersichtlich. Solche eines Mit572  H. Davis,

CLJ 64 (2005), 315 (328). Hood Phillips / P. Jackson / P. Leopold, Constitutional and Administrative Law, S. 478, Rn. 22-018. 574  O. Hood Phillips / P. Jackson / P. Leopold, Constitutional and Administrative Law, S. 482, Rn. 22-024. 575  O. Hood Phillips / P. Jackson / P. Leopold, Constitutional and Administrative Law, S. 478, Rn. 22-018. 576  O. Hood Phillips / P. Jackson / P. Leopold, Constitutional and Administrative Law, S. 482, Rn. 22-024. 577  EGMR, Urt. v. 9.12.1994 – 13092 / 87 Rn. 74 (The Holy Monasteries). 578  J. Herberg / A. Le Sueur / J. Mulcahy, Determing civil rights and obligations, in: J. Jowell / J. Cooper, Understanding Human Rights Principles, S. 91 (100 ff.). 573  O.

272

4. Kap.: Vereinigtes Königreich

gliedstaates der Europäischen Union müssen so behandelt werden wie britische. Für juristische Personen des öffentlichen Rechts eines Drittstaates ist zu erwarten, dass sich die britische Rechtsprechung wiederum an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und der Leitentscheidung Islamic Republic of Iran Shipping Lines . / . Türkei579 orientiert, da allgemein geraten wird, die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu spiegeln und die von ihm aufgestellten Grundsätze zu übernehmen580. In diesem Fall würde dies dazu führen, den Emanationen ausländischer Staaten eine Berechtigung einzuräumen, sich auf die Konventionsrechte zu berufen, soweit die klagende juristische Person weder Aufgaben der Daseinsvorsorge erfüllt noch bei ihrer kommerziellen Tätigkeit mit besonderen Rechten ausgestattet ist581. Dieser Ansatz entspricht dem britischen Rechtsverständnis, das ohnehin keine strikte Trennung zwischen der Einordnung als privatrechtlich und öffentlich-rechtlich kennt. Problematisch ist hingegen wiederum der eindeutige Wortlaut des Art. 34 EMRK, der staatliche Organisationen gleich welcher Nationalität vom Schutz ausnimmt. Folgt man hier der Abgrenzung zwischen standard und functional public authorities und der unterschiedlichen Behandlung bezüglich der Konventionsrechtsberechtigung, könnten ausländische juristische Personen des öffentlichen Rechts konventionsrechtsberechtigt sein, würde man sie zu letzteren zählen. Dies könnte der Fall sein, soweit sie keine öffentlichen Funktionen wahrnehmen. Dies wiederum liegt nahe, da ausländische juristische Personen des öffentlichen Rechts auf fremdem Staatsgebiet nicht hoheitlich handeln. Für diese Betrachtungsweise spricht wiederum, dass das auch im britischen Recht angeführte Konfusionsargument nicht auf die hier untersuchte Konstellation übertragbar ist. Juristische Personen des öffentlichen Rechts eines Drittstaates sind im Vereinigten Königreich nicht Verpflichtete der Konventionsrechte. Außerdem sind ausländische juristische Personen des öffentlichen Rechts und ausländische staatliche Unternehmen im Vereinigten Königreich nicht als standard public authorities anzusehen. Sie erfüllen die hierfür aufgestellten Kriterien nicht. Gerade wenn man mit der herrschenden Meinung auf die Art der wahrgenommenen Aufgaben abstellt, ist für eine ausländische juristische Person des öffentlichen Rechts nicht naheliegend, dass sie innerhalb des Vereinigten Königreichs typisch hoheitlich und damit wie eine core oder 579  EGMR, Urt. v. 13.12.2007  – 40998 / 98 (Islamic Republic of Iran Shipping Lines . / . Türkei). 580  R. Masterman, The United Kingdom, S. 322. 581  Vgl. dazu Kapitel 3 C. III. 1.



C. Das internationale Recht273

standard public authority wie etwa die Polizei tätig wird. Die ausländische juristische Person trifft weder eine demokratische Verantwortlichkeit innerhalb des Vereinigten Königreichs noch die Pflicht, ausschließlich im öffentlichen Interesse zu handeln. Somit wird auch nicht ein governmental character, also staatlicher Charakter oder ein Bezug zur Regierung, zu erkennen sein. Ordnet man ausländische juristische Personen des öffentlichen Rechts und ausländische staatliche Unternehmen damit als functional public authorities ein, bleibt zu untersuchen, ob sie im Vereinigten Königreich functions of a public nature wahrnehmen. Hierzu ist eine Entscheidung im Einzelfall zu treffen. Grundsätzlich allerdings liegt es eher fern, dass eine ausländische juristische Person öffentliche Funktionen innerhalb des Vereinigten Königreichs wahrnimmt. Dagegen spricht bereits, dass sie zumeist nicht aus öffentlichen Geldern des Vereinigten Königreichs finanziert sind, sondern durch den sie betreibenden Staat finanziert werden. Außerdem liegt es zumeist fern, ein besonderes Näheverhältnis zwischen der ausländischen juristischen Person und dem Vereinigten Königreich anzunehmen. Auch ein Auftreten für eine britische standard public authority ist eher auszuschließen. Ebenso wenig handelt sie mit Hoheitsmacht, noch steht sie unter der Kontrolle durch staatliche Einrichtungen des Vereinigten Königreichs oder wurde von ihnen gegründet. Sie unterliegt der gerichtlichen Kontrolle wie eine inländische juristische Person des Privatrechts und genießt keinerlei Privilegien, so dass es naheliegt, sie auch wie eine solche zu behandeln. Allein vertragliche Abreden mit dem Vereinigten Königreich oder dessen Verwaltungsstellen scheinen möglich, rechtfertigen aber für sich genommen nicht den Ausschluss von der Konventionsrechtsberechtigung. Ein solcher pauschaler Ausschluss käme nur in Betracht, würde die juristische Person typisch hoheitlich handeln, wozu sie aber auf dem Boden des Vereinigten Königreichs aufgrund des Völkerrechts schon nicht befugt ist.

V. Fazit Durch die Inkorporierung der Konventionsrechte durch den Human Rights Act können sich juristische Personen des öffentlichen Rechts in Großbritannien auf die Konventionsrechte berufen, wie sie es vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte könnten. Damit sind Regierungsorganisationen von der Grundrechtsberechtigung ausgenommen, da dies dem eindeutigen Wortlaut des Art. 34 EMRK und dem Schutzzweck der EMRK widerspricht. Eine Abgrenzung hat nach den von der EMRK vorgesehenen und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entwickelten Grundsätzen zu erfolgen. Danach sind sämtliche juristische Personen, die als staatlich im engeren Sinne kategorisiert werden können, ebenso wie gemischt-wirt-

274

4. Kap.: Vereinigtes Königreich

schaftliche Unternehmen mit einem beherrschenden staatlichen Einfluss nicht durch die Konventionsrechte geschützt. Entsprechend der Vorgabe des Art. 34 EMRK ist für die Konventionsrechtsberechtigung zwischen standard und functional public authorities zu differenzieren. Danach sind standard public authorities nicht aus den Konventionsrechten berechtigt. Diesbezüglich werden keine Ausnahmen gemacht. Die functional public authorities hingegen sind insoweit berechtigt, als sie gerade keine öffentlichen Funktionen wahrnehmen. Dies ist mit Art. 34 EMRK zu vereinbaren, wenn man dessen authentische Sprachfassungen zugrundelegt und die Versagung auf typisch hoheitliche Tätigkeiten und Träger beschränkt und nicht für jegliches staatliche Handeln annimmt. Dementsprechend kommt eine Konventionsrechtsberechtigung auch für ausländische juristische Personen des öffentlichen Rechts und ausländische staatliche Unternehmen grundsätzlich in Betracht, soweit sie nicht typisch hoheitlich tätig werden.

D. Ergebnis Damit scheint eine Berechtigung aus den nationalen britischen Grundrechten sowie aus den Konventionsrechten sowohl für inländische als auch für ausländische juristische Personen des öffentlichen Rechts grundsätzlich möglich.

5. Kapitel

Zusammenfassung und Auswertung Im Folgenden sollen die bisher getroffenen Ergebnisse zusammengefasst, miteinander verglichen und aufeinander bezogen werden. Abschließend werden die Ergebnisse dieser Arbeit in Thesen dargestellt.

A. Grundrechtsberechtigungen – Zusammenfassung Im Ergebnis lässt sich zusammenfassen, dass sich die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen in der Bundesrepublik Deutschland danach richtet, ob ein Grundrecht seinem Wesen nach auf diese anwendbar ist. Dabei widerstreiten die Ansätze vom personalen Substrat und von der grundrechtstypischen Gefährdungslage. Für juristische Personen des öffentlichen Rechts wird eine Grundrechtsberechtigung nach beiden Ansätzen grundsätzlich abgelehnt und dabei überwiegend auf das Konfusionsargument verwiesen, wonach Grundrechtsberechtigter und Grundrechtsverpflichteter nicht in einer Person zusammenfallen dürfen. Eine Ausnahme wird nur für solche juristischen Personen des öffentlichen Rechts gemacht, die einem grundrechtlich geschützten Bereich unmittelbar zuzuordnen sind (Kirchen, Universitäten, Rundfunkanstalten). Bei gemischt-wirtschaftlichen juristischen Personen und öffentlichen Unternehmen wird auf das Beherrschungsverhältnis abgestellt: Werden sie von einer juristischen Person des öffentlichen Rechts beherrscht, wird eine Grundrechtsberechtigung überwiegend abgelehnt. Für die Annahme einer Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des öffentlichen Rechts, die von einem Drittstaat gehalten werden, ist maßgeblich, welches Grundrechtsverständnis zugrunde gelegt wird. Geben die Grundrechte eine objektive Werteordnung wieder, oder sichern sie lediglich das Individuum vor der Einrichtung Staat als solcher? Diese unterschied­ lichen Verständnisse werden wiederum durch die Ansätze von der grundrechtstypischen Gefährdungslage und dem personalen Substrat wiedergegeben. Geht man mit dem Ansatz vom personalen Substrat von einem engen, anthropozentrischen Grundrechtsverständnis aus, so ist eine Grundrechtsberechtigung grundsätzlich abzulehnen, da ein Staat – ganz gleich welcher – nach diesem Verständnis nicht aus den auf den Menschen ausgerichteten Grundrechten berechtigt sein kann. Nach dem Ansatz von der grundrechts­ typischen Gefährdungslage hingegen kommt eine Grundrechtsberechtigung

276

5. Kap.: Zusammenfassung und Auswertung

in Betracht, wenn die juristische Person der Gewalt des Staates wie ein Privatrechtssubjekt unterworfen ist. Lehnt man eine Grundrechtsberechtigung für rein staatliche juristische Personen ab, ist für gemischtwirtschaftliche juristische Personen wiederum auf das Beherrschungsverhältnis abzustellen. Für diesen Ansatz spricht, dass ein Zusammenfallen von Berechtigtem und Verpflichteten in dieser Konstellation schon nicht möglich ist. Auf europarechtlicher Ebene ist hinsichtlich der Grundrechte der Grundrechtecharta, der Grundfreiheiten und der Rechte der EMRK zu unterscheiden. Bezüglich der Grundrechte der Charta ist eine Grundrechtsberechtigung nach Auffassung des Europäischen Gerichts für juristische Personen des öffentlichen Rechts grundsätzlich möglich. Die Grundrechtsberechtigung ist allerdings dann zu versagen, wenn die juristische Person des öffentlichen Rechts als verlängerter Arm einer Behörde, also einer juristischen Person des öffentlichen Rechts im engeren Sinne, tätig wird, unter der Kontrolle eines Hoheitsträgers steht oder selbst Hoheitsgewalt ausübt. Die Literatur lehnt eine Grundrechtsberechtigung mit Verweis auf das Konfusionsargument und den Charakter der Grundrechte als Individualrechte ab. Ob sich öffentliche Unternehmen auf die Charta-Grundrechte berufen können, ist ebenfalls umstritten und noch nicht abschließend geklärt. Gemischt-wirtschaftliche Unternehmen sind nach der herrschenden Auffassung dann grundrechtsberechtigt, wenn sie nicht an der Ausübung von Hoheitsgewalt beteiligt sind und keine öffentlichen Aufgaben unter staatlicher Kontrolle wahrnehmen. Nach der Rechtsprechung des Gerichts erster Instanz sind juristische Personen des öffentlichen Rechts eines Drittstaates grundsätzlich grundrechtsberechtigt. ­ Denn die Gefahr, dass Grundrechtsverpflichtete und Grundrechtsberechtigte in einer Person zusammenfallen, bestehe hier gerade nicht. Einschränkend wird aber verlangt, dass die betroffene juristische Person gerade nicht hoheitlich, sondern wirtschaftlich tätig wird. Dafür besteht aber auf dem Hoheitsgebiet eines anderen Staates zunächst eine Vermutung, maßgeblich ist dennoch die Art des Tätigwerdens. Bezüglich der Grundfreiheiten ist eine Berechtigung juristischer Personen des öffentlichen Rechts grundsätzlich denkbar, da Art. 54 Abs. 2 AEUV juristische Personen des Privatrechts und solche des öffentlichen Rechts gleichstellt. Erforderlich ist jedoch, dass die juristische Person die übrigen von Art. 54 AEUV aufgestellten Voraussetzungen erfüllt. Dies ist der Fall, wenn es sich bei der juristischen Person um eine Gesellschaft handelt, die zu der Europäischen Union gehört. Dies ergibt sich schon daraus, dass die Grundfreiheiten vorrangig die Funktionsfähigkeit des Gemeinsamen Marktes sichern sollen und sich auf wirtschaftlich relevante Sachverhalte beziehen. Hier steht nicht der Schutz des Individuums vor dem Staat im Vordergrund, sondern vielmehr objektiv die Funktionsfähigkeit des Marktes. Für juristische Personen eines Drittstaates bedeutet das, dass eine Zuordnung zur Euro-



A. Grundrechtsberechtigungen – Zusammenfassung277

päischen Union erforderlich ist, damit sie sich auf die Grundfreiheiten berufen können. Besteht eine solche, ist ein Berufen auf die Grundfreiheiten unproblematisch möglich. Hinsichtlich der Rechte der EMRK liegt es zunächst nahe, eine Konventionsrechtsberechtigung eines Drittstaates oder seiner juristischen Personen aufgrund des (deutschen) Wortlautes des Art. 34 EMRK, der nur nichtstaatlichen juristischen Personen die Berechtigung zuerkennt, und der Schutzkonzeption der Konventionsrechte abzulehnen. Etwas anderes ergibt sich jedoch aus den authentischen englischen und französischen Sprachfassungen des Art. 34 EMRK. Nach diesen sind lediglich solche juristischen Personen von der Konventionsrechtsberechtigung ausgenommen, die einer Regierung unmittelbar zuzuordnen sind. Danach ist hier eine Unterscheidung zwischen den juristischen Personen des öffentlichen Rechts zu machen, die als Teil der Regierung typisch hoheitlich handeln, und solchen, die in keinem direkten Zusammenhang mit der Regierung stehen und lediglich wirtschaftlich handeln. Staatliche Unternehmen und gemischt-wirtschaftliche Unternehmen können danach konventionsrechtsberechtigt sein, wenn sie nicht als verlängerter Arm der Regierung einzuordnen sind und nicht hoheitlich tätig werden. Dementsprechend hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zutreffend eine Konventionsrechtsberechtigung einer wirtschaftlich handelnden juristischen Person eines Drittstaates angenommen, da diese nicht Konventionspartei und damit nicht konventionsrechtsverpflichtet ist. Voraussetzung für eine Berechtigung sei weiter, dass die betreffende juristische Person keine Hoheitsgewalt ausübe, nicht der öffentlichen Verwaltung diene und als vom Staat vollkommen unabhängig zu betrachten sei. Maßgeblich sei zudem, dass sie nach dem Gesellschaftsrecht gegründet worden sei und nur die Kompetenzen ausübe, die ihr zivilrechtlich verliehen seien. Im Vereinigten Königreich ist bezüglich der nationalen Rechte und bezüglich der durch den Human Rights Act in das britische Recht inkorporierten Konventionsrechte aus der EMRK zu unterscheiden. Im nationalen britischen Recht ist der Grundsatz, dass zunächst alles erlaubt ist, das nicht verboten ist, auch bezüglich der hier untersuchten Fragestellung zugrunde zu legen. Danach kommt eine Grundrechtsberechtigung für juristische Personen des öffentlichen Rechts sowohl aus dem Inland als auch aus einem Drittstaat sowie für gemischt-wirtschaftliche Unternehmen grundsätzlich in Betracht. Bezüglich der inkoorporierten Konventionsrechte ist eine Grundrechts­ berechtigung juristischer Personen des öffentlichen Rechts im Vereinigten Königreich unabhängig von ihrer Herkunft denkbar, soweit sie nicht typisch hoheitlich tätig werden. Die Konventionsrechtsberechtigung richtet sich dabei nach Section 7 HRA, der wiederum auf Art. 34 EMRK verweist. In An-

278

5. Kap.: Zusammenfassung und Auswertung

lehnung an Art. 34 EMRK und vor allem an Section 6 HRA wird auch für die Konventionsrechtsberechtigung differenziert zwischen standard und functional public authorities. Danach sind standard public authorities als typisch hoheitliche, der Regierung zuzuordnende juristische Personen nicht aus den Konventionsrechten berechtigt. Diesbezüglich werden keine Ausnahmen gemacht. Die functional public authorities hingegen sind insoweit berechtigt, als sie gerade keine öffentlichen Funktionen wahrnehmen. Dies ist insoweit mit Art. 34 EMRK zu vereinbaren, als die von ihm vorgenommene Beschränkung durch den Begriff „nichtstaatlich“ bzw. „non-governmental“ auf typisch hoheitliche Tätigkeiten und Träger beschränkt und nicht für jegliches staatliche Handeln annimmt. Für diese Betrachtungsweise sprechen auch die englische und französische Sprachfassung der EMRK, die gerade an die Eigenschaft non-governmental beziehungsweise non gouvernementale anknüpft und nicht die Zuordnung zum allgemeinen öffentlichen Recht genügen lässt.

B. Vergleich Zu untersuchen bleibt, ob aus einer vergleichenden Gegenüberstellung dieser Ergebnisse neue Erkenntnisse gewonnen werden können und wie – beziehungsweise ob – sich diese Ergebnisse aufeinander auswirken. Für den Vergleich sollen hier einige verfassungsrechtliche Aspekte besonders hervorgehoben werden. Dazu ist zunächst auf das generelle Grundrechtsverständnis der untersuchten Rechtskreise einzugehen (I.), sodann werden die Grundrechtsverpflichtungen (II.), die Grundrechtsberechtigungen (III.) sowie die Frage nach der Drittwirkung der Grundrechte (IV.) im Einzelnen ver­ glichen, um sodann vergleichend auf weitere Besonderheiten (V.) einzugehen. Die genannten Aspekte sind besonders geeignet für einen Vergleich, da die hier untersuchten Rechtsordnungen zu freiheitlichen Verfassungsstaaten beziehungsweise Staatenzusammenschlüssen gehören und auf übereinstimmenden Wertvorstellungen beruhen, die wiederum die Anerkennung der Menschenwürde in den Vordergrund stellen1. Insbesondere lässt sich mit dem Vergleich auch aufzeigen, inwieweit verschiedene Grundrechtskonzeptionen zugrunde liegen2. In einem weiteren Schritt werden die Ergebnisse der Rechtsvergleichung dann als Auslegungshilfe3 für die Interpretation des Art. 19 Abs. 3 GG herangezogen.4 1  K.-P.

Sommermann, HGR I, § 16 Rn. 9. Sommermann, HGR I, § 16 Rn. 28. 3  K.-P. Sommermann, Staatsziele, S. 409 f.; ders., HGR I, § 16 Rn. 39. 4  Dazu später unter C. 2  K.-P.



B. Vergleich 279

I. Grundrechtsverständnis Aus der vorliegenden Untersuchung lässt sich erkennen, dass die Schutzkonzeption, die Grundrechtsfunktionen und das mit ihnen einhergehende Grundrechtsverständnis eines Staates oder einer Rechtsordnung maßgeblich über die Frage nach den Grundrechtsberechtigten entscheiden. Unter dem Begriff der Grundrechtsfunktionen sind die rechtlichen Wirkungen der Grundrechte zugunsten ihres Schutzgutes zu verstehen5. Dabei betreffen sie die Wirkungsweise der unterschiedlichen Funktionen des Grundrechts im Verhältnis zwischen dem Einzelnen und dem Staat6. Insbesondere die Frage nach ihren Wirkungsarten und Rechtsfolgen steht im Vordergrund7. Die Grundrechte der Bundesrepublik und diejenigen der Europäischen Grundrechtecharta statuieren jeweils einen Individualschutz, der aber auch eine objektive Wertentscheidung beinhaltet. Danach kommt eine Grundrechtsberechtigung grundsätzlich auch für (ausländische) staatliche Akteure in Betracht. Die Grundfreiheiten als wirtschaftliche Rechte verleihen auch staatlichen Akteuren Rechte, soweit ein Bezug zur Europäischen Union besteht. Die EMRK schützt schon ihrem Namen nach die Individualrechte. Art. 34 EMRK verdeutlich dies, indem er Regierungsorganisationen grundsätzlich unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu einem Land von der Konventionsrechtsberechtigung ausnimmt. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass es sich bei dieser um einen völkerrechtlichen Vertrag handelt, der lediglich für einen ergänzenden Schutz in den Mitgliedstaaten sorgen soll. Bezüglich der Grundrechtsfunktionen gibt es große Gemeinsamkeiten zwischen dem Grundgesetz einerseits und der EMRK andererseits. Dies bezieht sich insbesondere auf die objektive Komponente hinsichtlich der Schutzpflichten8. Gleiches gilt für die Grundrechte der Grundrechtecharta, dort besteht ebenfalls eine objektive Komponente, aus der sich Schutzpflichten der öffentlichen Gewalt ergeben. Allerdings ist das System der objektiven grundrechtlichen Funktionen in der EMRK weit weniger ausgeprägt und stellt kein selbständiges und objektives Element der EMRK dar9. Die staatlichen Schutzpflichten werden vielmehr lediglich als Kehrseite der Menschenrechte, als ein Reflex verstan6, 55 (71 f.); L. Tian, Grundrechtsfunktionen, S. 23. Polster / W. Tiede / A. Urabl, Verfassungsrecht, S. 29; L. Tian, Grundrechtsfunktionen, S. 24. 7  H. D. Jarass, HGR II, § 38 Rn. 1. 8  So auch L. Tian, Grundrechtsfunktionen, S. 241. 9  L. Tian, Grundrechtsfunktionen, S. 245. 5  BVerfGE

6  H. Kornbichler / J.

280

5. Kap.: Zusammenfassung und Auswertung

den10. Daran zeigt sich wiederum der subjektivierte, am Menschen und am Menschsein orientierte Grundrechtsschutz der Konvention. Dies zeigt sich zudem an der Abgrenzung zwischen Grundrechten einerseits und den Menschenrechten andererseits: Menschenrechte sind diejenigen Rechte vor- oder überpositiver Geltung, die der Rechtsordnung vorausliegen und unabhängig von faktischer Durchsetzbarkeit und sozialer Wirksamkeit universelle und ubiquitäre Geltung beanspruchen11. Sie stehen für die naturrechtliche Idee bestimmter Rechte aller Menschen und Menschenrechte im moralischen Sinn12. Dabei sind Menschenrechte als Ansprüche aller Individuen auf prinzipielle Achtung als freie und gleiche Subjekte zu begreifen13. Grundrechte hingegen sind solche Rechte, die in der Verfassung eines Staates verbindlich festgelegt und justitiabel sind14. Damit sind Grundrechte zumeist positivierte Menschenrechte, die einklagbar sind15. Sie sind in den nationalen Verfassungen verbürgte Rechte des Einzelnen, gerichtet auf Abwehr gegen den Staat oder als politische Gestaltungsrechte oder soziale Leistungsrechte, die jeweils mit der entsprechenden juristischen Wirkkraft verbürgt sind16. Grundrechte setzen eine allgemeine Staatsgewalt voraus, die der systematisch vorrangigen Rechtsstellung des Individuums gegenübersteht17. Im Vereinigten Königreich spielt der Individualrechtsschutz eine untergeordnete Rolle, vorrangig geht es um die Schaffung und Erhaltung geschützter Freiheitsphären für jedes Rechtssubjekt. Dementsprechend kommt hier eine Grundrechtsberechtigung sowohl inländischer als auch ausländischer staatlicher Akteure grundsätzlich in Betracht. Bezüglich der durch den Human Rights Act inkorporierten Konventionsrechte werden die juristischen Personen des öffentlichen Rechts unterteilt in solche, die dem Kern der Verwaltung zuzuordnen und damit als typisch hoheitlich einzuordnen sind, und solche, die als öffentlich im weiteren Sinne einzuordnen sind. Damit spiegelt auch das Verständnis von den Berechtigten das pragmatische britische Grundrechtsverständnis wider: Jedes Rechtssubjekt, das nicht originär zum Staat und zu der Regierung gehört, kann sich auf die geschützten Bereiche berufen. 10  L.

Tian, Grundrechtsfunktionen, S. 245. Idee und Gestalt des freiheitlichen Verfassungsstaates, S. 39. 12  H. Dreier, Idee und Gestalt des freiheitlichen Verfassungsstaates, S. 39. 13  H. Dreier, Idee und Gestalt des freiheitlichen Verfassungsstaates, S. 42. 14  D. Merten, in HGR II, § 35 Rn. 57 ff.; H. Dreier, Idee und Gestalt des freiheitlichen Verfassungsstaates, S. 39. 15  H. Dreier, Idee und Gestalt des freiheitlichen Verfassungsstaates, S. 40 f. 16  H. Dreier, Idee und Gestalt des freiheitlichen Verfassungsstaates, S. 42 f. 17  H. Dreier, Idee und Gestalt des freiheitlichen Verfassungsstaates, S. 43. 11  H. Dreier,



B. Vergleich 281

Je individualisierter und auf die Eigenschaft des Menschseins ausgerichteter der Grundrechtsschutz ist, umso weniger kommt eine Berechtigung staatlicher Akteure in Betracht. Dabei steht eine anthropozentrische Ausrichtung einer Verfassung, wie etwa das Bundesverfassungsgericht sie für das deutsche Grundgesetz annimmt, der Erstreckung der Grundrechtsberechtigung entgegen. So stehen die Freiheitsrechte nach dem britischen Rechtsverständnis für die allgemeine Freiheit von jeglichen Einschränkungen18, im deutschen Recht ist unter der subjektiven Grundrechtsfunktion die Freiheit von staatlicher Einmischung zu verstehen19. Daraus ergibt sich, dass in der Bundesrepublik ein deutlich mehr am Verhältnis zwischen Staat und Bürger orientiertes Verständnis von den Grundrechten herrscht, die Komponente einer objektiven Werteordnung tritt dahinter zurück. Insbesondere erfolgt eine striktere Trennung zwischen dem Bürger und dem Staat als Institution, obwohl die wenig strikte Trennung zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht im Vereinigten Königreich inzwischen in die Kritik geraten ist.

II. Verpflichtungen Ebenso ermöglicht die Komponente der Grundrechtsverpflichtungen einen Einblick in das Verfassungsgefüge und die Werteordnung eines Staates. Diese spiegelt unmittelbar das Verständnis vom Staat als solchem wider. Sowohl in Deutschland als auch in den drei europarechtlichen Rechtsordnungen sind sämtliche Hoheitsträger durch die jeweiligen Grundrechte gebunden und dementsprechend dazu verpflichtet, im Einklang mit ihnen zu handeln. Die Existenz der Grundrechte begründet sich allein dadurch, dass sie gerade subjektive Rechte gegen die übergeordnete Herrschaftsgewalt einräumen. Allein im Vereinigten Königreich – anders als in sämtlichen anderen hier untersuchten Rechtsordnungen – findet keine vollumfängliche Bindung aller Hoheitsgewalt statt. Das Parlament ist nicht an die Grundrechte gebunden, obwohl es durch den Beitritt zur EMRK durch diese verpflichtet ist und auch aus den Grundrechten der Charta und den Grundfreiheiten gebunden ist. Dies ist damit zu begründen, dass das Vereinigte Königreich weit weniger strikt zwischen Staat und Gesellschaft als kontradiktorischen Einrichtungen trennt und eine Bindung des Parlaments nicht als erforderlich ansieht. Gerade vor dem historischen Hintergrund schien dies nicht als erforderlich, da der Staat anders als in der Bundesrepublik Deutschland nicht deutlich als derjenige in Erscheinung trat, der die Freiheiten seiner Bürger in eklatanter Weise be18  W. 19  L.

I. Jennings, The Law and the Constitution, S. 243. Tian, Grundrechtsfunktionen, S. 25.

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5. Kap.: Zusammenfassung und Auswertung

schnitt. Die Grundrechte in Deutschland hingegen waren als Reaktionen auf das Unrechtsregime des Nationalsozialismus zu verstehen. Die Europäische Union bediente sich dieser und anderer Erfahrungen ihrer Mitgliedstaaten mit dem Totalitarismus des 20. Jahrhunderts20 und stellte wiederum durch eine strikte Bindung sämtlicher staatlicher Akteure den Individualrechtsschutz in den Vordergrund.

III. Berechtigungen Bezüglich der Grundrechtsberechtigungen lässt sich zusammenfassen, dass die Ansätze sämtlicher Rechtsordnungen davon ausgehen, dass aufgrund der fortschreitenden Verflechtung von Staat und Wirtschaft eine saubere Trennung zwischen Staat und Gesellschaft nicht mehr möglich ist und nach neuen Ansätzen für eine Abgrenzung der Grundrechtsberechtigten zu suchen ist. In allen Rechtsordnungen wird die Erforderlichkeit einer dritten Ebene zwischen Staat und Gesellschaft laut. Dies ist darauf zurückzuführen, dass überall die Organisation und wirtschaftliche Tätigkeit Mischformen zulässig ist und private und staatliche Akteure gemeinschaftlich, etwa in Form gemischtwirtschaftlicher Unternehmen, auftreten. Gerade am Beispiel dieser neueren Akteure wird deutlich, dass eine strikte Trennung zwischen dem Staat einerseits und der Gesellschaft beziehungsweise der Wirtschaft andererseits nicht mehr möglich ist. Dementsprechend wird teilweise ausdrücklich in den untersuchten Rechtsordnungen erkannt, dass ein Bedürfnis für eine Einschränkung des Grundsatzes keine Grundrechtsberechtigung für juristische Personen des öffentlichen Rechts besteht und gerade solche juristischen Personen, die zu einem Drittstaat gehören, als grundrechtsberechtigt anzuerkennen sind, sofern diese nicht hoheitlich auf dem jeweils anderen Staatsgebiet handeln21. Für staatliche und gemischtwirtschaftliche Unternehmen lässt sich zusammenfassen, dass alle Rechtsordnungen die Annahme einer Grundrechtsberechtigung versagen, sobald der staatliche Einfluss gegenüber dem privatrechtlichen Einfluss überwiegt. Dies wird in der Bundesrepublik an den Beherrschungsverhältnissen innerhalb der juristischen Person festgemacht. Bezüglich der Charta-Grundrechte und der Rechte aus der EMRK wird darauf abgestellt, ob die juristische Person an der Ausübung von Hoheitsgewalt beteiligt ist und ob sie öffentliche Aufgaben wahrnimmt. Zudem wird auch auf das Beherrschungsverhältnis abgestellt. Für die Grundfreiheiten ist eine 20  L.

Tian, Grundrechtsfunktionen, S. 25. ein solches hoheitliches Handeln auf anderem Staatsgebiet besteht eine völkerrechtliche Vermutung. 21  Gegen



B. Vergleich 283

diesbezügliche Abgrenzung obsolet, da juristische Personen unabhängig von ihrer Zuordnung als Berechtigte in Betracht kommen. Im britischen Recht entscheidet zunächst die Art der juristischen Person. Ist diese nicht dem Kernbereich staatlichen Handelns zuzuordnen, ist maßgeblich, welche Funktionen sie ausübt. Zur Abgrenzung, ob eine Grundrechtsberechtigung bestehen kann, wird in allen Rechtsordnungen auf das Tätigwerden im Einzelfall beziehungsweise die Wahrnehmung konkreter Tätigkeiten, Aufgaben und Funktionen abgestellt. Dies entspricht einer generellen Unterscheidung zwischen den Bereichen des wirtschaftlichen und des hoheitlichen Handelns. Allein diese Differenzierung wird – unabhängig davon, durch welche Kriterien sie im Einzelnen erreicht wird – im Ergebnis als maßgeblich angesehen. Ein weiterer erwähnenswerter Aspekt ist, dass in allen Rechtsordnungen außer dem nationalen britischen Recht das Konfusionsargument gegen eine Grundrechtsberechtigung inländischer juristischer Personen des öffentlichen Rechts angeführt wird, obwohl dieses in sämtlichen Rechtsordnungen in die Kritik geraten ist. Dabei fällt auf, dass gerade im britischen Konventionsrecht keine tiefergehende Auseinandersetzung mit diesem Argument stattfindet. Dies dürfte dem Umstand geschuldet sein, dass das Konfusionsargument im nationalen, traditionellen britischen Verfassungsrecht mangels Trennung zwischen öffentlichem und privatem Recht lange Zeit keine Rolle spielte und es nicht aufgrund einer Zäsur mit der Vergangenheit historisch eine besondere Bedeutung erfährt. Ein interessanter Vergleich ergibt sich zudem aus der Voraussetzung der „wesensmäßigen Anwendbarkeit“ der Grundrechte im deutschen Recht gegenüber der Unterscheidung nach der Art der public authority im Vereinigten Königreich: Dabei fällt insbesondere auf, dass der deutsche Ansatz die Einschränkung zunächst in den Grundrechten selbst sucht, um erst dann bezüglich der juristischen Person zu differenzieren, während der britische Ansatz die Anwendbarkeit der Konventionsrechte unmittelbar durch die Einordnung der juristischen Person selbst einschränkt. Diese mit dem britischen Ansatz einhergehende Unterscheidung nach der Art der juristischen Person des öffentlichen Rechts findet auch in den authentischen englischen und französischen Sprachfassungen von Art. 34 EMRK Bestätigung. Allerdings werden der deutsche und der britische Ansatz wohl in den meisten Fällen zu einem einheitlichen Ergebnis gelangen, soweit man im deutschen Recht dem Ansatz der grundrechtstypischen Gefährdungslage folgt: Eine standard public authority, die der Regierung und damit dem Kern staatlichen Handelns unmittelbar zuzuordnen ist, kann sich kaum in einer grundrechtstypischen Gefährdungslage befinden, da sie der Hoheitsgewalt des Staates, zu dem sie selbst gehört, nicht wie eine Privatperson unterworfen sein kann. Ebenso ist eine grund-

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5. Kap.: Zusammenfassung und Auswertung

rechtstypische Gefährdungslage für hybrid public authorities, die in Ausübung öffentlicher Funktionen handeln, nicht denkbar. Soweit diese öffentlich-rechtlich beziehungsweise hoheitlich handeln, sind sie dem Staat und seiner Hoheitsmacht gleichfalls nicht wie ein Privater unterworfen. In diesen Fällen stehen den juristischen Personen des öffentlichen Rechts zudem andere – staatsorganisationsrechtliche – Rechtsbehelfe zu; auf die Grundrechte und aus verfahrensrechtlicher Sicht auf eine Verfassungsbeschwerde sind sie dann – anders als ein Privater – nicht angewiesen. Ein Beispiel für diese Parallele bietet etwa die aktuelle Verfassungsbeschwerde von Vattenfall: Als ausländisches staatliches Unternehmen, das in der Bundesrepublik allein wirtschaftlich tätig wird, kann sich Vattenfall in einer grundrechtstypischen Gefährdungslage befinden, da es der deutschen Hoheitsgewalt ebenso wie die privaten inländischen Unternehmen Eon und RWE der Hoheitsgewalt der Bundesrepublik unterworfen ist. Dies wird an dem 13. Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes vom 31. Juli 2011 und damit einhergehenden Auswirkungen für die drei Energiekonzerne deutlich. Aber auch nach dem britischen Recht dürfte Vattenfall als functional public authority einzuordnen sein, die gerade keine öffentlichen Funktionen ausübt, sondern allein wirtschaftlich tätig wird. Auch nach diesem Verständnis wäre Vattenfall grundrechtsberechtigt. Zu einem anderen Ergebnis gelangen das deutsche und das britische Recht allerdings, wenn man im deutschen Recht dem Ansatz vom personalen Substrat folgt: Danach wird eine Grundrechtsberechtigung für sämtliche juristische Personen, die ausschließlich unter staatlicher Beteiligung stehen, abgelehnt. Dies widerspricht dem britischen Verständnis. Die Annahme einer Grundrechtsberechtigung für gemischt-wirtschaftliche Unternehme ist zwar nach beiden Ansätzen möglich, geschieht aber auch nach unterschiedlichen Kriterien, die nicht zwingend zu demselben Ergebnis führen müssen. Das Schutzbedürfnis der hinter der juristischen Person stehenden natürlichen Personen geht nicht mit der Ausübung nicht-öffentlicher Funktionen einher.

IV. Drittwirkung Der Umgang der Rechtsordnungen mit der Frage nach der Drittwirkung von Grundrechten lässt sich ebenfalls vergleichend gegenüberstellen. Diese ist als Aspekt der objektiven Grundrechtsfunktionen zu werten22. Dem entspricht, dass für die auf die Freiheit des Binnenmarktes ausgerichteten Grundfreiheiten eine weitergehende Drittwirkung angenommen wird als etwa für das deutsche Grundgesetz. Die weitergehende Diskussion im Vereinigten Königreich und das dort herrschende Unverständnis für die Befreiung Priva22  L.

Tian, Grundrechtsfunktionen, S. 166.



B. Vergleich 285

ter von einer Grundrechtsbindung zeugen davon, dass dort ein deutlich objektiveres, weniger anthropozentrisches Grundrechtsverständnis als etwa in der Bundesrepublik und auf europarechtlicher Ebene herrscht. Sie verdeutlicht zudem die dort weit weniger strenge Unterscheidung zwischen dem öffent­lichen und dem privaten Recht, sowie zwischen Grundrechtsberechtigten und -verpflichteten.

V. Weitere Besonderheiten Bei einem Vergleich der untersuchten Rechtsordnungen stellt sich auch die Rolle von Rundfunkanstalten und Kirchen im staatlichen Gefüge als erwähnenswert dar: 1. Rundfunkanstalten Eine weitere interessante Besonderheit besteht bei der Frage nach der Grundrechtsberechtigung von Rundfunkanstalten: Diese nehmen in sämtlichen untersuchten Rechtsordnungen eine besondere Rolle ein. So sind sie in der Bundesrepublik und auf der Ebene des europäischen Rechts aufgrund ihrer unmittelbaren Zuordnung zu dem grundrechtlich besonders geschützten Bereich der Meinungs- und Pressefreiheit ebenfalls besonders geschützt, mit der Folge, dass sie sich auch als juristische Personen des öffentlichen Rechts auf diese Grundrechte berufen können. Im Vereinigten Königreich hingegen sind sie besonders weitgehend an Vorgaben des Staates gebunden, so dass sie ihre Rechte – insbesondere das Recht der Medienfreiheit – nicht uneingeschränkt geltend machen können. Vielmehr sind sie gegenüber privaten Konkurrenten durch diese Bindung benachteiligt, während öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten in Deutschland den privaten durch die Gleichbehandlung im Rechtsschutz weitgehend gleichgestellt sind. Dies zeigt ein vollkommen anderes Verständnis von der Rolle der Rundfunkanstalten in dem demokratischen Gefüge. Insbesondere wird ein Bedürfnis für eine freie Berichterstattung im Vereinigten Königreich nicht anerkannt. Dies lässt sich wiederum damit begründen, dass es im Vereinigten Königreich nicht wie in Deutschland zu einer historischen Zäsur kam, die eine Reflektion des Grundrechtsverständnisses erforderlich machte und das Bedürfnis nach einer freien Berichterstattung aufzeigte. 2. Kirchen Eine weitere Eigenheit besteht bei der Rolle der Kirchen innerhalb des Grundrechtsgefüges. So ordnete das House of Lords im Fall Aston Cant-

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5. Kap.: Zusammenfassung und Auswertung

low23 den Kirchenvorstand als Teil der Staatskirche nicht als public author­ity ein, wohingegen in Deutschland und auf europarechtlicher Ebene die tradi­ tionellen staatlichen Kirchen dem öffentlichen Recht zugeordnet werden. Das britische Recht muss durch diese Zuordnung für eine Konventionsrechtsberechtigung der Kirchen nicht auf den Kunstgriff der Ausnahmetrias zurückgreifen, sondern kann den Kirchen, die ohnehin nicht (mehr) dem typisch staatlichen Bereich zuzuordnen sind, unmittelbar Schutz durch die Religionsfreiheit zukommen lassen. Auch hieran zeigen sich die stärker ausgeprägte Objektivierung der Grundrechte im Vereinigten Königreich sowie ein moderner Ansatz bezüglich des Verhältnisses von Staat und Kirche.

C. Übertragbarkeit der einzelnen Ansätze Zu untersuchen bleibt nun, was die einzelnen Ansätze auf europarechtlicher Ebene bezüglich der Auslegung des Art. 19 Abs. 3 GG (zwingend) verlangen und inwieweit sämtliche hier untersuchten Ansätze auf das deutsche Recht im Wege der Auslegung übertragen werden können. Legt man bezüglich Art. 19 Abs. 3 GG das vom Bundesverfassungsgericht vertretene anthropozentrische Grundrechtsverständnis zugrunde, nach dem kein staatlicher Akteur dem Schutz des Grundgesetzes unterstehen kann, so ist zu fragen, ob das Europarecht zu einem anderen Verständnis zwingt. Verneint man dies, ist in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob das Europarecht das in dieser Arbeit gefundene Ergebnis der prinzipiellen Möglichkeit einer Grundrechtsberechtigung für ausländische juristische Personen des öffentlichen Rechts im Wege der Auslegung unterstützt. Schließlich ist das britische Recht zu einer rechtsvergleichenden Auslegung heranzuziehen.

I. Übertragbarkeit der Ergebnisse zu der Grundrechtecharta Zu prüfen ist zunächst, ob die Grundrechtecharta und die dort bestehende Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des öffentlichen Rechts eines Drittstaates zur Erweiterung des Kreises der Grundrechtsberechtigten des Grundgesetzes führt. Zu beachten ist dabei zunächst, dass das Unionsrecht und damit auch die Grundrechtecharta eine von den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten unabhängige Rechtsordnung mit unmittelbarer Geltung in den Mitgliedstaaten darstellt24. Dieser kommt lediglich ein Anwendungsvorrang und kein Geltungsvorrang zu25. 23  Aston

Cantlow, House of Lords, [2003] UKHL 37. Slg. 1963, 3 (25). (Van Gend & Loos); D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7

24  EuGH,

Rn. 7. 25  EuGH, Slg. 1998, I-6307 Rn. 21; BVerfGE 123, 267 (353 f.).



C. Übertragbarkeit der einzelnen Ansätze287

Nach Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh sind die europäischen Grundrechte bei Durchführung des Rechts der Union anzuwenden26. Dies ist aber schon dann der Fall, wenn mittelbare Auswirkungen auf den Austausch von Gütern und Dienstleistungen bestehen27. Damit wird eine Durchführung des Unionsrechts wohl jedenfalls in den Fällen anzunehmen sein, in denen ausländische (staatliche) Unternehmen auf dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates wirtschaftlich tätig werden. Dennoch kann nicht ohne weiteres angenommen werden, dass die Grundrechte der Charta und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichts vorrangig anzuwenden sind oder die Regelungen des Grundgesetzes überlagern. Zum einen ist schon nicht ersichtlich, inwieweit die Versagung einer Grundrechtsberechtigung ausländischer juristischer Personen des öffentlichen Rechts gegen die Rechte der Charta verstoßen sollte. Diese enthält keine ausdrückliche Regelung darüber, dass den Vorgenannten eine Berechtigung zwingend möglich sein muss. Die Annahme ergibt sich lediglich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichts erster Instanz, sie ist weder formell verankert noch abschließend durch den Europäischen Gerichtshof bestätigt. Im Gegensatz zu Art. 54 AEUV und seinen Vorgaben für die Grundfreiheiten verankert die Grundrechtecharta keine konkreten Forderungen für die Behandlung juristischer Personen des öffentlichen Rechts. Auch die Rechtsschutzgarantie des Art. 47 GRCh knüpft an das Bestehen eines materiellen Rechts und setzt voraus, dass Rechte oder Freiheiten verletzt wurden28. Diese Rechte und Freiheiten wiederum müssen ein subjektives Recht verleihen29. Gegenteiliges ergibt sich nicht aus dem Diskriminierungsverbot des Art. 21 Abs. 2 GRCh. Dieses verbietet lediglich Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit und ist auf den hier untersuchten Fall nicht anwendbar. Eine Benachteiligung in Form der Versagung der Grundrechtsberechtigung für ausländische juristische Personen des öffentlichen Rechts in der Bundesrepublik Deutschland würde nicht aufgrund der Staatsangehörigkeit der juristischen Person, sondern allein aufgrund ihrer Zuordnung zu einem Staat erfolgen. Eine Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit ist nur dann anzunehmen, wenn ein Angehöriger eines Mitgliedstaates allein aufgrund seiner Staatsangehörigkeit benachteiligt wird30. Dafür muss aber schon eine taugliche Vergleichsgruppe bestehen. Eine solche besteht zwischen juristischen Personen des Privatrechts und solchen des öffentlichen Rechts bereits 26  S.

Huster, EuR 45 (2010), 325 (328). Rechtsprechung des EuGH, vgl. nur Slg. 2003, I-11613 Rn. 26. 28  S. Lemke, in: v. d. Groeben / Schwarze / Hatje, EU, Art. 47 GRCh Rn. 5. 29  S. Lemke, in: v. d. Groeben / Schwarze / Hatje, EU, Art. 47 GRCh Rn. 6. 30  EuGH, Slg. 2009, I-4585 Rn. 52 (Vatsouras). 27  Std.

288

5. Kap.: Zusammenfassung und Auswertung

aufgrund ihres unterschiedlichen Ursprungs nicht. Ein anderes Ergebnis ist nur denkbar, wenn man auch an dieser Stelle die Gewaltunterworfenheit in Form einer grundrechtstypischen Gefährdungslage als Vergleichsmaßstab heranzieht. Allerdings dürfte dies nach dem in Deutschland überwiegenden Grundrechtsverständnis ebenfalls nicht zu einer Überwindung des Merkmals „staatlich“ führen. Zu berücksichtigen ist ferner, dass die verfassunggebende Gewalt keinerlei externer Bindung unterliegt und rechtlich unbegrenzt ist31. Selbst wenn man annähme, dass die Grundrechtecharta die Annahme einer Grundrechtsberechtigung für juristische Personen des öffentlichen Rechts eines Drittstaates zwingend vorsieht, so könnte sie dies dem deutschen Rechts nicht zwingend vorgeben, da sie dann in den Wesensgehalt der nationalen Grundrechte eingreifen und ein bestimmtes Grundrechtsverständnis vorgeben würde, das dem anthropozentrischen Grundrechtsverständnis des Bundesverfassungsgerichts widerspräche. Der Wesensgehalt der Grundrechte ist nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts jedoch unabdingbar und hat auch gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaft Bestand32. Fraglich ist weiter, ob der Ansatz der Grundrechtecharta bezüglich der Grundrechtsberechtigung ausländischer juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit seinen funktionalen Kriterien im Wege der Auslegung auf das deutsche Grundgesetz übertragen werden kann und er eine weitergehende Erkenntnis für die Auslegung des Art. 19 Abs. 3 GG bietet. Eine solche weitergehende Auslegung im Wege des Vergleichs ist vorrangig deshalb möglich, weil sich die Grundrechtecharta und das Grundgesetz hinsichtlich des Grundrechtsverständnisses und der Ausrichtung der einzelnen Grundrechte sehr ähnlich sind. Allerdings sind auch die zur Abgrenzung der Berechtigung verwendeten Kriterien sehr ähnlich, so dass diese lediglich zur Unterstützung der hier vertretenen Auffassung des Bestehens einer Grundrechtsberechtigung ausländischer juristischer Personen des öffentlichen Rechts herangezogen werden kann: Sowohl hinsichtlich der deutschen Grundrechte als auch der Grundrechte der Charta ist ein Zusammenfallen von Grundrechtsverpflichteten und Berechtigten auch dann nicht möglich, wenn man juristischen Personen des öffentlichen Rechts eines Drittstaates die Berechtigung zuerkennt33. Zudem ist in beiden Fällen eine wesensmäßige Anwendbarkeit der Grundrechte immer dann anzunehmen, wenn sich die betroffene juristische Person in einer 31  D.

Grimm, in: HGR VI / 2, § 168 Rn. 59. 73, 339 (386); R. Scholz, in: HGR VI / 2, § 170 Rn. 35. 33  Wie das Gericht 1. Instanz zutreffend erkennt: EuG, Urt. v. 29.1.2013 – Z-496 / 10 (Mellat), juris; Urt. v. 5.2.2013 – T-494 / 10 (Saderat), juris; Urt. v. 6.9.2013 – T-35 / 10 und T 7 / 11 (Melli Iran), juris. 32  BVerfGE



C. Übertragbarkeit der einzelnen Ansätze289

grundrechtstypischen Gefährdungslage befindet. Dies ist wiederum dann der Fall, wenn sie der Hoheitsgewalt der Bundesrepublik beziehungsweise der Europäischen Union unterworfen ist wie ein Privater. Das ist dann anzunehmen, wenn sie nicht hoheitlich beziehungsweise in Ausübung staatlicher Gewalt handelt und nicht im öffentlichen Interesse tätig wird.

II. Übertragbarkeit der Ergebnisse zu den Grundfreiheiten Zu prüfen bleibt, welche Anforderungen die Grundfreiheiten an Art. 19 Abs. 3 GG und die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des öffentlichen Rechts eines Mitgliedstaates in Deutschland stellen. Teilweise wird erwogen, dass das Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV in Verbindung mit der Gleichstellungsklausel für natürliche und juristische Personen des Art. 54 AEUV, fordere, ausländische juristische Personen des öffentlichen Rechts den inländischen juristischen Personen des Privatrechts gleichzustellen, soweit diese wirtschaftlich beziehungsweise privatrechtlich tätig werden34. Bereits in der mündlichen Verhandlung zum Atomausstieg wurde argumentiert, eine unterschiedliche Behandlung käme einer Benachteiligung ausländischer staatlicher Unternehmen und einem damit verbundenen Zwang zur Privatisierung gleich. Zu berücksichtigen sei ferner, dass gerade gegen Gesetze, gegen die kein fachgerichtlicher Rechtsschutz gewährleistet sei, Rechtsschutz für die durch die Grundfreiheiten gesicherten Rechte möglich sein müsse. Im Vergleich zu einem ausländischen staatlichen Unternehmen stünden einem nationalen staatlichen Unternehmen – im konkreten Fall EnBW – anderweitige Rechtsschutzmöglichkeiten zu, was wiederum zu einer Diskriminierung des ausländischen staatlichen Unternehmens führe35. Dieser Argumentation ist das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Atomausstieg gefolgt. So sei Art. 19 Abs. 3 GG auch mit Blick auf die unionsrechtlich geschützte Niederlassungsfreiheit offen auszulegen. Auf diese Weise könnten Brüche zwischen der deutschen und der europäischen Rechtsordnung vermieden werden36. Im Fall Vattenfall sei die Niederlassungsfreiheit betroffen, da die Vattenfall AB bei der Gründung ihrer deutschen Tochtergesellschaften von der Niederlassungsfreiheit im Sinne von Art. 54 i. V. m. Art. 49 Abs. 1 Satz 2 AEUV Gebrauch gemacht habe37. Dabei 34  So inzwischen BVerfG, Urt. v. 6.12.2016  – 1 BvR 2821 / 11, 2 BvR 321 / 12, 2 BvR 1456 / 12, juris-Rn. 196 ff. 35  U. Karpenstein, mündliche Verhandlung iS Atomausstieg am 15.3.2016 – 1 BvR 1456 / 12. 36  BVerfG, Urt. v. 6.12.2016  – 1 BvR 2821 / 11, 2 BvR 321 / 12, 2 BvR 1456 / 12, juris-Rn. 196. 37  BVerfG, Urt. v. 6.12.2016  – 1 BvR 2821 / 11, 2 BvR 321 / 12, 2 BvR 1456 / 12, juris-Rn. 197.

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5. Kap.: Zusammenfassung und Auswertung

könne sich das Tochterunternehmen auf den der Muttergesellschaft gewährten Schutz berufen38. Dem stehe nicht entgegen, dass sich das Unternehmen vollständig in Hand des schwedischen Staates befinde, da die Grundfreiheiten insoweit nicht differenzierten. Vielmehr beziehe Art. 54 Abs. 2 AEUV öffentlich-rechtlich organisierte Unternehmen ausdrücklich in den Anwendungsbereich einbeziehe, soweit sie einen Erwerbszweck verfolgten39. Art. 49 AEUV stehe nationalen Regelungen oder Maßnahmen entgegen, die zwar ohne Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit anwendbar sind, die aber geeignet seien, die Ausübung der Grundfreiheiten durch durch Unionsangehörige zu behindern oder weniger attraktiv zu machen40. Zwar dürfte die Verwehrung der Grundrechtsberechtigung und damit des Rechtsmittels der Verfassungsbeschwerde nicht schon für sich genommen eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit darstellen41. Angesichts der besonderen Umstände des vorliegenden Falles sei jedoch von einer Beschränkung auszugehen, so dass die Verwehrung der Verfassungsbeschwerde jedoch die Rechtfertigung vor der Niederlassungsfreiheit bedürfte. Denn der Beschwerdeführerin Vattenfall wäre ohne die Möglichkeit der Gesetzesverfassungsbeschwerde keinerlei Möglichkeit des Rechtsschutzes eröffnet. Zum anderen wögen die mit der 13. AtG-Novelle verbundenen Beeinträchtigungen besonders schwer, weil die Novelle die Beschwerdeführerin zwinge, ihr Kernkraftwerk abzuschalten, womit die weitere Ausübung der Niederlassungsfreiheit ausgeschlossen werde. Hinzu komme, dass die Beschwerdeführerin einen spürbaren Wettbewerbsnachteil hinnehmen müsste. Anders als den privaten Wettbewerbern stehe ihr nicht die Gesetzesverfassungsbeschwerde offen und sogar vom deutschen Staat gehaltene Wettbewerber hätten staatsorganisationsrechtliche Rechtsbehelfe42. Vorliegend fehle es an den Voraussetzungen für die Rechtfertigung dieser Beschränkung der Niederlassungsfreiheit. Insbesondere seien zwingende Gründe des Allgemeininteresses nicht ersichtlich. Allein dass die Beschwerdeführerin ein staatliches Unternehmen ist, begründe für sich genommen keinen zwingenden Grund des Allgemeininteresses, da die Grundfreiheiten 38  EuGH, Urt. v. 26.6.2008  – C-284 / 16, EU:C:2008:365; BVerfG, Urt. v. 6.12. 2016 – 1 BvR 2821 / 11, 2 BvR 321 / 12, 2 BvR 1456 / 12, juris-Rn. 197. 39  BVerfG, Urt. v. 6.12.2016  – 1 BvR 2821 / 11, 2 BvR 321 / 12, 2 BvR 1456 / 12, juris-Rn. 197; siehe dazu oben unter Kapitel 3 B. 40  St. Rspr. EuGH, Urt. v. 31.3.1993, C-19 / 92, EU:C:1993:125, Rn. 32; BVerfG, Urt. v. 6.12.2016 – 1 BvR 2821 / 11, 2 BvR 321 / 12, 2 BvR 1456 / 12, juris-Rn. 198. 41  BVerfG, Urt. v. 6.12.2016  – 1 BvR 2821 / 11, 2 BvR 321 / 12, 2 BvR 1456 / 12, juris-Rn. 199. 42  BVerfG, Urt. v. 6.12.2016  – 1 BvR 2821 / 11, 2 BvR 321 / 12, 2 BvR 1456 / 12, juris-Rn. 200.



C. Übertragbarkeit der einzelnen Ansätze291

hinsichtlich ihres personellen Schutzbereichs gerade nicht zwischen staat­ lichen und nichtstaatlichen Unternehmen differenzierten43. Nach Art. 18 Abs. 1 AEUV ist jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten. Wie bereits dargelegt44, sieht Art. 54 Abs. 2 AEUV die Gleichstellung von juristischen Personen des Privatrechts und solchen des öffentlichen Rechts vor. Fraglich ist jedoch, ob das Zusammenspiel dieser Regelung tatsächlich dazu zwingen kann, die nationalen Grundrechte derart anzuwenden, dass inländische juristische Personen des Privatrechts und ausländische juristische Personen des öffentlichen Rechts gleichgestellt werden. Anders gefragt: Erstrecken sich Art. 18 iVm. Art. 54 AEUV so weit, dass sie die Annahme einer Grundrechtsberechtigung in einer anderen Rechtsordnung fordern können? Gemäß Art. 18 Abs. 1 AEUV sind Diskriminierungen allein im Anwendungsbereich der Verträge verboten. Dafür ist erforderlich, dass eine gemeinschaftsrechtlich geregelte Situation besteht45 und der geregelte Sachverhalt in Bezug zum Unionsrecht steht46. Dies ist wiederum nur abzulehen, wenn Regelungen keinerlei Berührungspunkte mit irgendeinem der Sachverhalte aufweisen, auf die das Gemeinschaftsrecht abstellt47. Damit reagiert Art. 18 Abs. 1 AEUV auf föderale Gefährdungslagen, die daraus resultieren, dass die Mitgliedstaaten tendenziell dazu neigen, ihre eigenen Bürger gegenüber solchen aus anderen Mitgliedstaaten zu bevorzugen48. Ein solcher Fall ist vorliegend anzunehmen, da ein Akteur, der der Europäischen Union angehört, auf dem Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates wirtschaftlich tätig wird und damit jedenfalls seine Niederlassungsfreiheit aus Art. 49 AEUV ausübt. Zu berücksichtigen ist dabei ferner, dass Art. 18 Abs. 1 AEUV ein subjektives Recht nicht nur gegenüber der Europäischen Union und ihren Organen, sondern auch gegenüber den Mitgliedstaaten begründet49. Kriterium für die Diskriminierung muss die Staatsangehörigkeit sein50. In der vorliegenden Konstellation ist das Bestehen einer solchen bereits fraglich, da deutsche staatliche Unternehmen in der Bundesrepublik ebenfalls nicht grundrechtsbe43  BVerfG, Urt. v. 6.12.2016  – 1 BvR 2821 / 11, 2 BvR 321 / 12, 2 BvR 1456 / 12, juris-Rn. 201. 44  Vgl. dazu Kapitel 3 B. 45  EuGH, Slg. 1982, 3723 Rn. 16 (Morson u. a. / Niederländischer Staat u. a.). 46  R. Streinz, EUV / AEUV, Art. 18 AEUV Rn. 19. 47  EuGH, Slg. 1982, 3723 Rn. 16 (Morson u. a. / Niederländischer Staat u. a.). 48  T. Kingreen, in: Ehlers, EuGR, § 13 Rn. 3. 49  Std. Rspr. des EuGH, vgl. Slg. 2004, I-7655 Rn. 30 f.; R. Streinz, EUV / AEUV, Art. 18 AEUV Rn. 5, 9; M. Holoubek, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 18 AEUV Rn. 2. 50  R. Streinz, EUV / AEUV, Art. 18 AEUV Rn. 13.

292

5. Kap.: Zusammenfassung und Auswertung

rechtigt sind. Ein Beispiel hierfür ist wiederum, dass in dem Verfahren um die von Vattenfall erhobene Verfassungsbeschwerde das deutsche staatliche Unternehmen EnBW51, das drittgrößte Energieunternehmen Deutschlands, nicht grundrechtsberechtigt und damit nicht beschwerdebefugt ist. Eine Diskriminierung ist jedoch nur anzunehmen, wenn eine unterschiedliche Behandlung zweier gleicher Tatbestände, die den Betroffenen benachteiligt, besteht52. Fraglich ist dementsprechend, ob eine Schlechterstellung zwischen zwei vergleichbaren Rechtssubjekten angenommen werden kann. Gegen eine solche Vergleichbarkeit spricht zunächst, dass Art. 18 Abs. 1 AEUV eine taugliche Vergleichsgruppe fordert, und staatliche Akteure privaten nicht ohne weiteres gleichzustellen sind. Denn anderen Staaten steht durch das Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 259 AEUV ein weitergehender Rechtsbehelf zu als privaten Rechtssubjekten. Zudem treten sie anderen Staaten über das Völkerrecht als gleichberechtigtes Subjekt gegenüber. Nach diesem Verständnis würde Art. 18 AEUV erst einmal dazu führen, dass inländische und ausländische juristische Personen des Privatrechts sowie inländische und ausländische juristische Personen des öffentlichen Rechts gleich zu behandeln wären. Für die Annahme einer tauglichen Vergleichsgruppe und damit für das Vorliegen einer Diskriminierung spricht jedoch, dass inländische juristische Personen des Privatrechts und ausländische juristische Personen des öffentlichen Rechts sich gleichfalls in einer grundrechtstypischen Gefährdungslage befinden können. Beide handeln nicht in Ausübung von Hoheitsgewalt, vielmehr sind sie dieser gleichfalls unterworfen. Das Bundesverfassungsgericht hat sich in seiner jüngsten Entscheidung zu der Frage nach der Vergleichbarkeit nicht ausdrücklich geäußert. Dass es eine solche im Ergebnis annimmt, lässt allerdings darauf schließen, dass es ebenfalls von einer grundrechtstypischen Gefährdungslage Vattenfalls ausgeht. Im Übrigen wäre die Möglichkeit des Rechtsschutzes nicht erforderlich. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Atomausstieg kann also so verstanden werden, das dieses nunmehr zumindest mittelbarüber die Grundfreiheiten ebenfalls auf das Vorliegen einer grundrechtstypischen Gefährdungslage abstellt. Über die vorgenannten, trotz allem bestehenden Unterschiede zwischen den juristischen Personen hilft Art. 18 Abs. 1 AEUV zunächst einmal nicht hinweg. Über eine Differenzierung zwischen privat und öffentlich könnte allerdings Art. 54 Abs. 2 AEUV hinweghelfen. Art. 54 AEUV stellt in Abs. 1 juristische und natürliche Personen gleich und definiert in Abs. 2, dass auch juristische Personen des öffentlichen Rechts von dieser Gleichstellung be51  Vgl. 52  A.

dazu Kapitel 1 C. III. v. Bogdandy, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, EU I, Art. 18 AEUV (2015) Rn. 6.



C. Übertragbarkeit der einzelnen Ansätze293

troffen sind. Fraglich ist jedoch, welche Anforderungen diese Regelung an die Vorschriften des nationalen Rechts stellt. Nach der herrschenden Meinung handelt es sich bei Art. 54 AEUV um eine bloße Verweisungsvorschrift53. Nach anderer Auffassung hingegen handele es sich bei dieser Regelung um eine Kollisionsnorm, die auch für das mitgliedstaatliche Recht gelte54. Gegen diese Auffassung wird angeführt, dass schon der Wortlaut des Art. 54 AEUV als Verweisungsvorschrift formuliert sei. Außerdem wäre Art. 54 AEUV überfrachtet, würde er unmittelbare Vorgaben für die Anknüpfung des Gesellschaftsstatus in den Mitgliedstaaten haben55. Zudem sei eine weitergehende Bedeutung auch nicht erforderlich, da die Grundfreiheiten selbst einen hinreichenden Maßstab für die Kontrolle von Behinderungen des freien Verkehrs böten56. Art. 54 AEUV gibt dem nationalen Recht keine bestimmte Kollisionsnorm vor, sondern verpflichtet die Mitgliedstaaten dazu, dass ihre Rechtssätze im Ergebnis nicht zu ungerechtfertigten Beschränkungen führen57. So beschränken sich der Anwendungsbereich des Art. 54 AEUV und die damit einhergehende Gleichstellung auf die Art. 49 bis Art. 55 AEUV, sowie über Art. 62 AEUV auch für die Art. 56 bis Art. 61 AEUV58. Teilweise wird aber auch eine vorsichtig erweiternde Auslegung befürwortet, nach der die Rechtstellung natürlicher Personen auf Gesellschaften erstreckt werden soll, soweit dem nicht der personale Charakter der in Bezug genommenen Rechte entgegensteht59. Aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts kommt Art. 54 Abs. 2 AEUV jedoch auch im nationalen Recht Bedeutung zu. Fraglich ist allerdings, welche Rechtsfolgen ein Gleichstellungsgebot aus Art. 18 Abs. 1 i. V. m. Art. 54 Abs. 2 AUEV haben könnte. Dabei ist insbesondere zu untersuchen, ob es in der Bundesrepublik die Anwendung der Grundrechte auf bestimmte Rechtssubjekte erzwingen kann. Zu berücksichtigen ist dabei zunächst, dass das Unionsrecht eine von den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten unabhängige Rechtsordnung darstellt, die in den Mitgliedstaaten unmittelbar gilt60. Dabei ist unter der unmittelbaren Geltung zu 53  U.

Forsthoff, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, EU I, Art. 54 AEUV (2011) Rn. 19. Behrens, IPRax 1999, 323 (329); C. v. Bar / P. Mankowski, Internationales Privatrecht I, Rn. 170. 55  U. Forsthoff, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, EU I, Art. 54 AEUV (2011) Rn. 20. 56  U. Forsthoff, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, EU I, Art. 54 AEUV (2011) Rn. 20. 57  EuGH, Slg. 2002, I-9919 Rn. 40, 43 (Überseering). 58  U. Forsthoff, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, EU I, Art. 54 AEUV (2011) Rn. 21. 59  M. Rossi, EuR 35 (2000), 197 (200); U. Forsthoff, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, EU I, Art. 54 AEUV (2011) Rn. 21. 60  EuGH, Slg. 1963, 3 (25). (Gend & Loos). 54  P.

294

5. Kap.: Zusammenfassung und Auswertung

verstehen, dass die Normen mit Inkrafttreten auch in den Mitgliedstaaten geltendes Recht werden61. Davon zu unterscheiden ist die unmittelbare Anwendbarkeit des Unionsrechts, die dann anzunehmen ist, wenn die Adressaten des innerstaatlichen Rechtskreises es beachten müssen62. Für das Verhältnis zwischen den Grundfreiheiten und dem deutschen Grundgesetz gilt in den Grenzen der Solange-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Kollisionsfall ein Vorrang des Unionsrechts63. Aus der besonderen Bedeutung des Binnenmarktziels für das gesamte Unionsrecht folgt im Konkurrenzverhältnis zwischen den Grundfreiheiten und dem Grundgesetz die Spezialität der Grundfreiheiten zur Herstellung grenzüberschreitender Privatautonomie64. Da es nicht vorstellbar sei, dass die Identität der Verfassungsordnung der Mitgliedstaaten mit den Grundfreiheiten in Widerspruch stehe, bestehe ein ausnahmsloser Vorrang der Grundfreiheiten65. Bei diesem Vorrang handle es sich um einen Anwendungsvorrang, nicht um einen Geltungsvorrang66. Den Grundfreiheiten widersprechendes staatliches Recht bleibt danach gültig, wird aber insoweit unanwendbar, als das Unionsrecht selbst unmittelbar angewendet wird67. Jedoch hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Solange II-Entscheidung anerkannt, dass die nationalen Grundrechte vorrangig sein können, soweit die Begründung oder Anwendung der europäischen Grundrechte einen Kompetenzverstoß darstellen. So sei der Wesensgehalt der Grundrechte unabdingbar und müsse auch gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaft Bestand haben68. Das wäre hier der Fall, weil das Bundesverfassungsgericht mit seinem anthropozentrischen Grundrechtsverständnis das Wesen der Grundrechte im Schutz des Menschen und der Bindung staatlicher Gewalt sieht. Bezieht man dies auf den vorliegenden Fall, wären Art. 18 Abs. 1 i. V. m. Art. 54 Abs. 2 AEUV vorrangig vor Art. 19 Abs. 3 GG anzuwenden, mit der Folge, dass sie zur Annahme einer Grundrechtsberechtigung für ausländische juristische Personen des öffentlichen Rechts zwingen würden.

61  EuGH, Slg. 1978, 629 Rn. 14, 16 (Simmenthal); D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7 Rn. 7. 62  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7 Rn. 7. 63  BVerfGE 37, 271 (289 ff.); 73, 339 (375 ff.). 64  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7 Rn. 11; M. Ruffert, in: BeckOK GG, Art. 12 (2015) Rn. 6. 65  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7 Rn. 11. 66  EuGH, Slg. 1991, I-297 Rn. 17 (Nimz); BVerfGE 75, 223 (244); 85, 191 (204). 67  D. Ehlers, in: ders., EuGR, § 7 Rn. 11. 68  BVerfGE 73, 339 (386); R. Scholz, in HGR VI / 2, § 170 Rn. 35.



C. Übertragbarkeit der einzelnen Ansätze295

Ein Blick auf die Möglichkeiten des Rechtsschutzes könnte weiterführen: Aufgrund der unmittelbaren Anwendbarkeit der Grundfreiheiten können diese vor den nationalen Verwaltungsgerichten eingeklagt werden69. Die Grundfreiheiten können allerdings nicht ohne weiteres vor dem Bundesverfassungsgericht im Wege der Verfassungsbeschwerde eingeklagt werden70. Denn sie sind gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG und § 90 BVerfGG nicht als Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde erfasst71. Werden allerdings gleichzeitig mit den Grundfreiheiten Grundrechte des Grundgesetzes geltend gemacht, sind diese gemeinsam zu betrachten. Die Grundfreiheiten sind dann auf der Rechtfertigungsebene zu betrachten72. Problematisch ist allerdings, dass etwa in der aktuellen Verfassungsbeschwerde von Vattenfall das Kolli­ sionsproblem schon auf der Ebene einer Vorfrage maßgeblich wird. In diesem Verfahren könnte Vattenfall nur in Art. 14 Abs. 1 GG, bei dessen Auslegung dann die Grundfreiheiten zu berücksichtigen wären, verletzt sein, wenn das Unternehmen überhaupt grundrechtsberechtigt ist. Diese Überlegung spricht dafür, die Grundfreiheiten auch schon in Verbindung mit Art. 19 Abs. 3 GG anzuwenden, da sie nur auf diese Weise im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde berücksichtigt werden und zu effektivem Rechtsschutz führen können. Gegen dieses Vorgehen spricht allerdings, dass in dem Fall das Gleichstellungsgebot aus Art. 18 Abs. 1 i. V. m. Art. 54 Abs. 2 AEUV unmittelbaren Einfluss auf die nationalen Verfassungen hätte. Denn die Erweiterung der Grundrechtsberechtigungen auf ausländische staatliche Akteure würde mit einer Änderung des wohl herrschenden Verständnisses des Art. 19 Abs. 3 GG einhergehen. Sollte das Bundesverfassungsgericht an seinem anthropozentrischen Verständnis der Grundrechte festhalten73, stünde einer Erstreckung der Grundrechtsberechtigung aus Art. 18 Abs. 1 i. V. m. Art. 54 Abs. 2 AEUV das Wesensverständnis der deutschen Grundrechte entgegen. Dieses ist jedoch – wie bereits dargelegt – unabdingbar und hat auch gegenüber der Hoheitsgewalt der Europäischen Union und den Verträgen Bestand74. Dementsprechend ist eine zwingende Erweiterung des Art. 19 Abs. 3 GG durch Art. 18 Abs. 1 i. V. m. Art. 54 Abs. 2 AEUV abzulehnen. Wenn schon keine zwingende Erweiterung des Art. 19 Abs. 3 GG zu erfolgen hat, sind die Grundfreiheiten dennoch im Wege seiner Auslegung heran69  W.

Frenz, Handbuch I, Rn. 95. Frenz, Handbuch I, Rn. 100. 71  W. Frenz, Handbuch I, Rn. 100. 72  W. Frenz, Handbuch I, Rn. 102. 73  Dies ist aufgrund der mündlichen Verhandlung i. S. Atomausstieg am 15.3.2016 (1 BvR 1456 / 12) zu erwarten. 74  BVerfGE 73, 339 (386); R. Scholz, in HGR VI / 2, § 170 Rn. 35. 70  W.

296

5. Kap.: Zusammenfassung und Auswertung

zuziehen. Zwar sind die Erwägungen, die bereits zu den Berechtigten der Grundfreiheiten getroffen wurden, nicht ohne weiteres auf das Grundgesetz übertragbar, da die Schutzzwecke und -konzeptionen der Regelung vollkommen unterschiedlich sind und sie unterschiedliche Rechtshintergründe besitzen75. Dennoch können sie bei der vergleichenden Auslegung berücksichtigt werden, da sie wie die Grundrechte des Grundgesetzes dem Einzelnen subjektive Rechte gewähren und grundlegende Freiräume für ihn absichern. Zudem bilden sowohl die Grundfreiheiten als auch die Grundrechte Bestandteile einer objektiven Wertordnung und enthalten dementsprechend objektive Wertentscheidungen76. Für eine solche Auslegung spricht, dass der Zugang zum Grundgesetz und den Grundrechten im Übrigen gegen die Grundfreiheiten verstoßen würde. Dies kann nicht hingenommen werden. Für eine erweiternde Auslegung des Art. 19 Abs. 3 GG spricht weiter, dass ansonsten eine Rechtsschutzlücke für europäische staatliche Unternehmen, die in einem anderen Mitgliedstaat agieren, entstünde. da gegen die Verletzung von Grundfreiheiten durch natio­ nale Gesetze ansonsten entgegen Art. 19 Abs. 4 GG mangels Anrufbarkeit der nationalen Gerichte kein Rechtsschutz innerhalb der Bundesrepublik möglich wäre77. Lediglich ein Vertragsverletzungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof käme in Betracht, für ein solches wäre ein staatliches Unternehmen aber auf die Mitwirkung „seines“ Staates angewiesen. Eine Nichtigkeitsklage kommt gegen gesetzliche Regelungen gemäß Art. 263 AEUV nur für die Mitgliedstaaten in Betracht, natürliche und juristische Personen können gemäß Art. 263 Abs. 3 AEUV nur gegen Handlungen und Rechtsakte mit Verordnungscharakter vorgehen. Festzuhalten bleibt, dass die Grundfreiheiten jedenfalls im Wege der Auslegung zu einer offenen Auslegung des Art. 19 Abs. 3 GG führen.

III. Übertragbarkeit der Ergebnisse zur Europäischen Menschenrechtskonvention Fraglich ist, ob die EMRK zu einer Erweiterung des Kreises der Grundrechtsberechtigten auf ausländische juristische Personen des öffentlichen Rechts zwingt.

75  Vgl. dazu insbesondere Kapitel 3 B. I.; weitergehend W. Frenz, Handbuch I, Rn.  43 ff. 76  W. Frenz, Handbuch I, Rn. 42. 77  Inzwischen auch BVerfG, Urt. v. 6.12.2016  – 1 BvR 2821 / 11, 2 BvR 321 / 12, 2 BvR 1456 / 12, juris-Rn. 194; W. Frenz, Handbuch I, Rn. 101.



C. Übertragbarkeit der einzelnen Ansätze297

Maßgeblich ist dabei, welcher Rang der EMRK im innerstaatlichen Recht zukommt. Zu berücksichtigen ist zunächst, dass es sich bei der EMRK um einen völkerrechtlichen Vertrag handelt, dessen Inhalte weder vom Europarat noch vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zwingend durchgesetzt werden können78. Die EMRK selbst enthält keine Vorgaben über ihre Stellung, so dass die Mitgliedstaaten selbst über den Rang entscheiden, den sie einnimmt79. In Deutschland besitzt die EMRK als völkerrechtlicher Vertrag gemäß Art. 59 Abs. 2 GG den Rang eines einfachen Bundesgesetzes80. Dementsprechend kommt ihr kein Verfassungsrang zu, so dass ihre Rechte nicht im Wege der Verfassungsbeschwerde durchgesetzt werden können81. Die EMRK hat somit keine zwingenden Auswirkungen auf das Verständnis von Art. 19 Abs. 3 GG. Jedoch sind ihr Inhalt und der Entwicklungsstand sowie die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte bei der Auslegung des Grundgesetzes zu beachten82. Zu überlegen bleibt also, ob der Ansatz der EMRK von der Unterteilung der juristischen Personen des öffentlichen Rechts im Wege der Auslegung auf das deutsche Recht übertragen werden kann mit der Folge der Erweiterung der Grundrechtsberechtigung auf ausländische juristische Personen des öffentlichen Rechts83. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung zum Atomausstieg wiederum auf das Erfordernis der Eröffnung einer Beschwerdemöglichkeit abgestellt, die auch von der EMRK vorgesehen sei84. Im Übrigen ist es auf diesen Aspekt jedoch nicht eingegangen. Eine solche Auslegung ist jedoch insbesondere deshalb möglich, weil Art. 34 EMRK und Art. 19 Abs. 3 GG nicht im Widerspruch zueinander stehen85. Zwar unterscheidet sich die EMRK schon dadurch vom Grundgesetz, dass sie ein völkerrechtlicher Vertrag und keine nationale Verfassung ist. Dennoch bestehen – wie bereits dargelegt – weitgehende inhaltliche Ähnlich78  D.

Grimm, in: HGR VI / 2, § 168 Rn. 11. Grabenwarter, in: HGR VI / 2, § 169 Rn. 5. 80  C. Langenfeld, Die Stellung der EMRK im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Jürgen Bröhmer, Der Grundrechtsschutz in Europa. FS Ress, S. 95 (95); C. Grabenwarter, in: HGR VI / 2, § 169 Rn. 12. 81  St. Rspr. des BVerfG, zuletzt BVerfGE 111, 307 (317). 82  BVerfGE 74, 358 (370); C. Grabenwarter, in: HGR VI / 2, § 169 Rn. 14. 83  In diese Richtung inzwischen auch BVerfG, Urt. v. 6.12.2016 – 1 BvR 2821 / 11, 2 BvR 321 / 12, 2 BvR 1456 / 12, juris-Rn. 202. 84  BVerfG, Urt. v. 6.12.2016  – 1 BvR 2821 / 11, 2 BvR 321 / 12, 2 BvR 1456 / 12, juris-Rn. 202. 85  Zur Unmöglichkeit der völkerrechtskonformen Auslegung bei Widersprüchen zwischen nationalem Recht und völkerrechtlichen Verpflichtungen C. Langenfeld, Die Stellung der EMRK im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Jürgen Bröhmer, Der Grundrechtsschutz in Europa. FS Ress, S. 95 (95 f). 79  C.

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5. Kap.: Zusammenfassung und Auswertung

keiten, die zu einer Übertragbarkeit der Erwägungen bezüglich der Grundrechtsberechtigungen führen könnten. Dabei sind insbesondere die englische und die französische Sprachfassung von Art. 34 EMRK zugrunde zu legen. Denn der in der englischen Fassung verwendete Begriff non-governmental ist nicht mit dem in der deutschen Sprachfassung verwendeten Begriff „nichtstaatlich“ gleichzusetzen. Der englische Begriff begrenzt den Kreis der Grundrechtsberechtigten lediglich auf Rechtssubjekte, die nicht der Regierung, also dem Kernbereich staatlichen Handelns, zuzuordnen sind. Aus der deutschen Sprachfassung hingegen ließe sich folgern, dass jeglicher Bezug zum Staat ausreicht, um einer juristischen Person den Grundrechtsschutz zu versagen. Für dieses Verständnis spricht auch die Schutzkonzeption der EMRK, die in den Konventionsstaaten einen Mindeststandard für den Schutz der Menschenrechte, also der Individualrechte des Einzelnen gegen den Staat, vermitteln will. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass englische Sprachfassung in deutscher Literatur nur wenig berücksichtigt wird86. Die Idee der Unterteilung der juristischen Personen des öffentlichen Rechts könnte im deutschen Recht ebenfalls berücksichtigt werden. Auch hier könnte man zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts unterscheiden, die der Regierung unmittelbar zuzuordnen sind, und solchen, die eher der Wirtschaft zuzuordnen sind. Dazu könnten ebenfalls die Kriterien der Finanzierung und der Ausübung von Hoheitsgewalt herangezogen werden. Jedoch herrscht in der Bundesrepublik von Vornherein ein anderes Grundrechtsverständnis, hier erfolgt eine Zurechnung allgemein zum öffentlichen Recht allein nach den Beteiligungsstrukturen der juristischen Person. Ansonsten könnte sich die juristische Person ihren Bindungen entziehen und Grundrechtsschutz allein durch die Organisations- und Handlungsform erschleichen. Der Ansatz vom Erfordernis einer wesensmäßigen Anwendbarkeit der Grundrechte, insbesondere der Ansatz von der grundrechtstypischen Gefährdungslage bringt demgegenüber aber Vorteile: Hier ist die Situation maßgeblich, in der sich die juristische Person befindet, auch wenn die Art der juristischen Person ebenfalls zu berücksichtigen ist. Durch das Anknüpfen an die Situation entstehen keine Rechtsunsicherheiten bezüglich der Kategorisierung der einzelnen juristischen Personen. Auch wenn die Ansätze in den meisten Fällen zu demselben Ergebnis führen, entsteht durch das Instrument der privatrechtsgleichen Gewaltunterworfenheit eine größere Rechtssicherheit, denn es lässt eine klarere Abgrenzung zu. Das bei gemischt-wirtschaft86  Einzig K. Rogge, IntKommEMRK, Art. 34 Rn. 127 geht auf die authentischen englischen und französischen Textfassungen ein.



C. Übertragbarkeit der einzelnen Ansätze299

lichen juristischen Personen maßgebliche Beherrschungsverhältnis innerhalb der juristischen Person kann ebenfalls anhand objektiver Kriterien festgestellt werden. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass sich der Ansatz der EMRK, zwischen den juristischen Personen des öffentlichen Rechts zu differenzieren, teilweise in dem Erfordernis der wesensmäßigen Anwendbarkeit wiederfindet. So kann eine grundrechtstypische Gefährdungslage allein dann bestehen, wenn die juristische Person gerade nicht typisch hoheitlich handelt und dem Staat nicht originär zuzuordnen ist. Eine Regierungsorganisation wird aber überwiegend typisch hoheitlich tätig und stünde schon nicht in einer grundrechtstypischen Gefährdungslage. Fraglich ist, ob die Unterscheidung zwischen den juristischen Personen auch nach dem Ansatz vom personalen Substrat vertretbar ist. Danach kommt eine Berechtigung für Regierungsorganisationen ohnehin nicht in Betracht, da hinter diesen schon keine natür­ liche Person steht. Aber auch hinter Nichtregierungsorganisationen, die nach dem deutschen Rechtsverständnis dem öffentlichen Recht im weiteren Sinne zuzuordnen sind, stehen keine natürlichen Personen. Denn auch hier steht allein der Staat hinter der juristischen Person, allein staatliche Interessen sind als maßgeblich anzusehen. Einzig bei gemischt-wirtschaftlichen juristischen Personen kann nach dem Ansatz vom personalen Substrat eine Grundrechtsberechtigung in Betracht kommen. Eine solche wird überwiegend auch als Nichtregierungsorganisation einzuordnen sein. Zudem ist eine Übertragung der Ergebnisse im Wege eines Erst-RechtSchlusses möglich: Selbst die anthropozentrisch ausgerichtete und zum Schutz der Menschenrechte geschaffene EMRK unterscheidet nach der Art der juristischen Person des öffentlichen Rechts und erlaubt die Erstreckung der Berechtigung auf solche juristischen Personen, die nicht unmittelbar der Regierung zuzuordnen sind. Danach kommt eine Berechtigung für alle sonstigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts – insbesondere für solche eines ausländischen Staates – in Betracht, da dies weder zu einem Zusammenfallen von Berechtigten und Verpflichteten führt, noch sonstige Nachteile für die ohnehin grundrechtsberechtigten natürlichen Personen mit sich bringt. Diese Erwägung muss auch für das deutsche Grundgesetz gelten, das nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts ebenso anthropozentrisch ausgerichtet ist. Diese Überlegung spricht ebenfalls dafür, Art. 19 Abs. 3 GG so auszulegen, dass eine Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des öffent­ lichen Rechts eines ausländischen Staates möglich wird. Insbesondere spricht es dafür, auch im deutschen Recht funktionale Kriterien für die Abgrenzung bezüglich der Grundrechtsberechtigung heranzuziehen. Ein solches ist etwa das Bestehen einer grundrechtstypischen Gefährdungslage in Form einer privatrechtsgleichen Gewaltunterworfenheit, die immer dann anzunehmen

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5. Kap.: Zusammenfassung und Auswertung

ist, wenn die juristische Person nicht unmittelbar einem Hoheitsträger zuzuordnen ist und nicht hoheitlich handelt.

IV. Übertragbarkeit der britischen Ansätze Schließlich ist zu überlegen, ob die Ergebnisse zum britischen Recht im Wege der rechtsvergleichenden Auslegung auf das deutsche Recht übertragen werden können. Für das originäre, nationale britische Recht scheint dies problematisch, da sich dieses bezüglich des Grundrechtsverständnisses grundlegend vom deutschen Verfassungsrecht unterscheidet und dementsprechend für einen Vergleich weniger geeignet ist. Insbesondere, dass schon keine Differenzierung zwischen dem öffentlichen Recht und dem Privatrecht stattfindet, erschwert eine Übertragung der Erwägungen. Die im deutschen Recht bestehende, strikte Trennung ist in unserem Rechts- und Verfassungsverständnis zu stark verankert, um ein Aufweichen der Grenzen anzunehmen und die britische Idee zu übertragen. In Betracht kommt jedoch ein Vergleich mit dem internationalen britischen Recht und den durch den Human Rights Act inkorporierten Konventionsrechten. Ähnlich der EMRK unterscheidet das britische Recht für die Frage nach der Konventionsrechtsberechtigung die juristischen Personen des öffentlichen Rechts nach ihrer Art und unterteilt sie in standard beziehungsweise functional public authorities87. Überträgt man dies auf das deutsche Recht, wären als standard public authorities wie im Vereinigten Königreich diejenigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts anzusehen, die typisch hoheitlich tätig werden. Dies wären etwa die Polizei, das Ordnungsamt und sämtliche sonstigen Behörden, die Hoheitsmacht ausüben und diese durchsetzen können. Bei den functional public authorities, die man als nicht typisch öffentliche juristische Personen übersetzen könnte, wäre sodann nach ihrer Handlungsform zu unterscheiden. Als solche wären alle juristischen Personen zusammenzufassen, die entweder öffentlich-rechtlich sind, aber nicht die typischen staatlichen Aufgaben beziehungsweise Aufgaben der Regierung wahrnehmen, sowie staatliche Unternehmen, die ausschließlich wirtschaftlich tätig werden. Eine solche Unterscheidung entspricht im Ergebnis weitestgehend – wie bereits für die EMRK dargelegt – dem Ansatz vom Erfordernis einer grundrechtstypischen Gefährdungslage, da auch diese nur bestimmten, vom Hoheitsträger entfernt stehenden juristischen Personen eine Grundrechtsberechtigung zuerkennt. Denn eine standard public authority wird überwiegend typisch hoheitlich tätig und kann sich deshalb schon nicht in einer grundrechtstypischen Gefährdungslage befinden. Für eine functional public authority ist eine grundrechtstypische Gefährdungslage ohnehin nur 87  Vgl.

dazu Kapitel 4 C. III.



C. Übertragbarkeit der einzelnen Ansätze301

dann denkbar, wenn diese gerade nicht hoheitlich handelt. Dem entspricht auch, dass die britische Lehre den objektiven Schutzgehalt der Grundrechte im Schutz und in der Erhaltung der Demokratie sieht und sich die Schutz­ bedürftigkeit allein aus der Unterordnung einer Person unter eine andere ergebe. Nach dem in Deutschland vertretenen Ansatz vom personalen Substrat kommt eine Unterscheidung zwischen den einzelnen Arten juristischer Personen des öffentlichen Rechts nicht in Betracht. Nach diesem Ansatz kommt eine Berechtigung für standard public authorities ohnehin nicht in Betracht, da hinter diesen schon keine natürliche Person steht. Aber auch hinter functional public authorities, die dem öffentlichen Recht im weiteren Sinne zuzuordnen sind, stehen keine natürlichen Personen. Denn die functional public authorities sind nicht mit gemischt-wirtschaftlichen juristischen Personen zu verwechseln, vielmehr handelt es sich auch bei ihnen um rein staatliche Zusammenschlüsse. Eine Differenzierung zwischen den einzelnen juristischen Personen des öffentlichen Rechts ist daher nach diesem Ansatz nicht denkbar, da eine Grundrechtsberechtigung allein aufgrund der Zuordnung zum öffentlichen Recht ohnehin ausscheidet. Problematisch ist im Vereinigten Königreich, dass kein Katalog mit klaren Abgrenzungskriterien für die Zuordnung der einzelnen juristischen Personen des öffentlichen Rechts besteht. So legt das case law schon nicht einheitlich fest, wann eine juristische Person als standard und wann als functional public authority einzuordnen ist. Eine functional public authority, die dem öffentlichen Recht zwar grundsätzlich zuzuordnen ist, kann sich ihren Bindungen aus den Konventionsrechten durch wirtschaftliches Handeln beziehungsweise die Ausübung privater Funktionen entziehen und gleichzeitig Konventionsrechtsschutz erlangen. Problematisch ist daran zunächst, dass die Abgrenzung der Handlungsweise „in Ausübung öffentlicher Funktionen“ ebenfalls nicht trennscharf erfolgen kann, da die Rechtsprechung auch hier noch keine klare Linie gefunden hat. Zudem widerspricht die Abgrenzung nach der Handlungsform der im deutschen Recht herrschenden Meinung, dass diese und die Organisationsform gerade nicht über die Zuordnung entscheiden dürfen, und führt zu Rechtsunsicherheit. Zudem ermöglicht sie die Umgehung der Grundrechtsbindung. Dies wiederum spricht dagegen, die Differenzierung aus dem britischen Recht auf das deutsche zu übertragen. Die Möglichkeit, dass sich juristische Personen des öffentlichen Rechts eines Drittstaates auf die Grundrechte berufen können, sollte dennoch auch für das deutsche Recht anerkannt werden.

Ergebnisse der Arbeit in Thesen 1.  In der Bundesrepublik Deutschland kommt die Annahme einer Grundrechtsberechtigung ausländischer juristischer Personen des öffentlichen Rechts grundsätzlich in Betracht. Voraussetzung für die wesensmäßige Anwendbarkeit der Grundrechte ist, dass die juristische Person sich in einer grundrechtstypischen Gefährdungslage befindet. Dies ist wiederum der Fall, wenn sie der Hoheitsgewalt des deutschen Staates privatrechtsgleich unterworfen ist. Dies ist anzunehmen, wenn sie selbst nicht hoheitlich handelt. 2. Für dieses Ergebnis sprechen auch die zur rechtsvergleichenden Aus­ legung herangezogenen europarechtlichen Regelungen. Sowohl nach der Grundrechtecharta als auch im Rahmen der Grundfreiheiten und nach der EMRK ist eine Grundrechtsberechtigung ausländischer juristischer Personen des öffentlichen Rechts möglich. Die dazu vom Europäischen Gericht erster Instanz und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte aufgestellten funktionalen Argumente sind auf das deutsche Recht übertragbar und führen in der Auslegung des Art. 19 Abs. 3 GG zu einer Erweiterung des Kreises der Grundrechtsberechtigten auf ausländische juristische Personen des öffent­ lichen Rechts. 3. Durch die verschiedenen Sprachfassungen stellt sich das Verständnis von Art. 34 EMRK problematisch dar. Aus den authentischen englischen und französischen Sprachfassungen ergibt sich, dass auf die Regierungsfunktion einer juristischen Person des öffentlichen Rechts abzustellen ist, und dass nicht jede juristische Person, die dem Staat irgendwie zuzuordnen ist, von der Grundrechtsberechtigung ausgenommen ist. Dies führt zwar nicht dazu, dass auch Art. 19 Abs. 3 GG ohne weiteres entsprechend Art. 34 EMRK zu verstehen ist, eröffnet aber neue Perspektiven für die Auslegung. Der aus der EMRK und dem Vereinigten Königreich stammende Ansatz, nach der Art juristischer Personen des öffentlichen Rechts zu unterscheiden, kann mit der gebotenen Vorsicht auch für das deutsche Recht herangezogen werden. Dies entspricht teilweise dem Erfordernis einer grundrechtstypischen Gefährdungslage, denn diese beiden Ansätze werden zumeist zu denselben Ergebnissen führen. 4.  Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Grundrechtsfunktionen und damit auch die Grundrechtsberechtigungen den Maßstab der Objektivierung der Grundrechte in einem Rechtssystem widerspiegeln. Dementsprechend schließt ein anthropozentrisches Grundrechtsverständnis die Annahme einer



Ergebnisse der Arbeit in Thesen303

Grundrechtsberechtigung für staatliche Akteure unabhängig davon, aus welchem Staat sie kommen, aus. 5.  Festzuhalten bleibt zudem, dass an der Diskussion um die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des öffentlichen Rechts der Wandel des Verständnisses vom Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft deutlich wird. In allen untersuchten Rechtsordnungen besteht ein Bedürfnis, eine dritte Ebene zwischen Staat und Gesellschaft zu schaffen. 6.  Das Konfusionsargument gilt in sämtlichen Rechtsordnungen als überholt. In Anbetracht der Veränderungen staatlicher und wirtschaftlicher Strukturen ist ein Zusammenfallen von Grundrechtsverpflichteten und Grundrechtsberechtigten nicht mehr stets zu befürchten. 7. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichts zur Erstreckung der Grundrechtsberechtigung auf ausländische juristische Personen des öffent­ lichen Rechts zwingt nicht zu einer Erstreckung der Grundrechtsberechtigung in der Bundesrepublik. Ein Recht auf Gleichbehandlung ausländischer öffentlicher und inländischer privater Akteure ist der Grundrechtecharta nicht zu entnehmen. Die Rechtslage nach der Charta und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichts sind jedoch im Wege der Auslegung des Art. 19 Abs. 3 GG zu berücksichtigen, und es sprechen insbesondere aufgrund der Übertragbarkeit der vom Europäischen Gericht aufgestellten Kriterien und Argumente für eine Annahme der Grundrechtsberechtigung ausländischer juristischer Personen des öffentlichen Rechts. 8.  Schwieriger zu beantworten ist die Frage, ob die europäischen Grundfreiheiten den verfassungsändernden Gesetzgeber und das Bundesverfassungsgericht zu einer Erweiterung der Grundrechtsberechtigung aus Art. 19 Abs. 3 GG zwingen. Eine solche Gleichstellung könnte sich aus Art. 18 i. V. m. Art. 54 AEUV ergeben. Gegen diese Betrachtungsweise spricht aber, dass die Grundfreiheiten damit unmittelbaren Einfluss auf die deutsche Verfassung und das dort herrschende Verständnis von dem Wesen der Grundrechte hätten. Sie sind deshalb ebenfalls (nur) bei der Auslegung des Art. 19 Abs. 3 GG zu berücksichtigen und sprechen für eine Erweiterung der Grundrechtsberechtigung ausländischer juristischer Personen des öffentlichen Rechts. 9.  Art. 34 EMRK und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sind ebenfalls bei der Auslegung des Art. 19 Abs. 3 GG heranzuziehen. Auch sie sprechen für eine Erweiterung der Grundrechtsberechtigung ausländischer juristischer Personen des öffentlichen Rechts. Insbesondere die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte aufgestellten funktionalen Kriterien für die Abgrenzung der Grundrechtsberechtigten sind übertragbar.

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Ergebnisse der Arbeit in Thesen

10.  Der im britischen Recht herrschende Ansatz, nach der Art der juristischen Person des öffentlichen Rechts und der von ihr ausgeübten Funktionen zu differenzieren, spricht ebenfalls dafür, auch im deutschen Recht eine Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des öffentlichen Rechts nicht allein aufgrund ihrer Einordnung als staatlich zu verneinen. 11.  Dafür spricht auch, dass ansonsten eine Rechtsschutzlücke entstünde, die sowohl gegen das GG als auch sämtliche europarechtlichen Vorgaben verstoßen würde. Den betroffenen juristischen Personen des öffentlichen Rechts eines ausländischen Staates beziehungsweise ausländischen staat­ lichen Unternehmen stünde sonst kein Rechtsbehelf des deutschen Rechts gegen Gesetze zu. 12. Nunmehr hat auch das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass die Annahme einer Grundrechtsberechtigung für juristische Personen des öffentlichen Rechts eines anderen Staates nicht von vornherein auszuschließen ist. Vielmehr erkennt das Bundesverfassungsgericht an, dass der Einzelfall es insbesondere aufgrund europarechtlicher Erwägungen fordern kann, die Grundrechtsberechtigung auf diese zu erstrecken. Ob und beziehungsweise welche Auswirkungen diese Entscheidungen auf die Frage nach der Grundrechtsberechtigung inländischer juristischer Personen hat und ob sie sogar als Abkehr vom anthropozentrischen Grundrechtsverständnis gesehen werden kann, bleibt abzuwarten. Sie kann jedoch als vorsichtige Abkehr von der Durchgriffsthese und dem Erfordernis eines personalen Substrats hin zu einem funktionaleren und modernen Grundrechtsverständnis verstanden werden. Durch das Abstellen auf die Grundfreiheiten und das aus ihnen hervorgehende Erfordernis des Rechtsschutzes hat das Bundesverfassungsgericht jedenfalls mittelbar auf eine grundrechtstypische Gefährdungslage in Form der Gewaltunterworfenheit abgestellt.

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Sachwortverzeichnis Allgemeines Persönlichkeitsrecht  16 Arbeitnehmerfreizügigkeit  155, 166, 180 Atomausstieg  13, 70, 73, 82, 88, 289, 292, 297 Außenrechtsverhältnis, Außenrechts­ beziehung  31, 44, 48, 83, 84, 85, 101 Beherrschungsverhältnis  198, 275, 276, 282, 299 Beleihung  60, 61, 124 Beteiligung eines ausländischen Staates  62, 69, 71, 75, 76, 82, 83, 87, 94, 99, 103, 106, 107, 108, 110, 111 Beteiligung eines Drittstaates  150, 151, 152, 153, 155, 156, 182, 203, 236, 271, 275, 277 Civil Liberties  215, 216, 226 Daseinsvorsorge  51, 55, 105, 106, 200, 272 Dienstleistungsfreiheit  155, 165 Drittwirkung  124, 163, 164, 193, 224, 225, 257, 258, 259, 260, 278, 284, 285 Durchgriffsthese  26, 28, 29, 31, 59, 67, 72, 100, 304 Effet utile  160, 164, 169 Eigengesellschaft  52, 54, 140 Europäische Menschenrechtskonvention  186, 237 Fraport-Urteil  56, 60 Functional public authorities  244, 246, 249, 265, 266, 267, 268, 269, 270, 272, 273, 274, 278, 300, 301 Gemischt-öffentliche Unternehmen  52, 54

Gemischt-staatliche Unternehmen 108, 109, 110 Gemischt-wirtschaftliche Unternehmen  54, 55, 56, 57, 99, 100, 108, 109, 110, 191, 235, 277 Grundfreiheiten  155, 289 Grundrechtecharta  112, 286 Grundrechtsbindung  42, 51, 57, 60, 61, 73, 91, 93, 94, 95, 96, 117, 119, 121, 123, 130, 144, 149, 220, 226, 285, 301 Grundrechtsgleiche Rechte  38 Grundrechtstypische Gefährdungslage  16, 24, 30, 31, 43, 44, 45, 46, 47, 50, 53, 58, 75, 76, 78, 82, 83, 86, 87, 88, 99, 100, 101, 108, 109, 131, 132, 133, 136, 137, 138, 142, 149, 154, 283, 284, 288, 289, 292, 298, 299, 300, 302, 304 Grundrechtsverständnis  13, 31, 39, 78, 79, 88, 91, 96, 97, 98, 142, 151, 215, 216, 226, 279, 285, 286, 288, 294, 298, 300, 302, 304 Human Rights Act  14, 204, 215, 224, 237, 239, 240, 241, 243, 244, 245, 249, 250, 254, 257, 258, 259, 261, 262, 263, 265, 268, 273, 277, 300 Inländergleiche Gewaltunterworfenheit  86 Inländische juristische Personen des öffentlichen Rechts  39, 78, 88 Kirchen  45, 196, 251, 271, 276, 285, 286 Konfusionsargument  14, 17, 42, 43, 73, 75, 92, 94, 96, 98, 117, 139, 141, 149, 153, 174, 263, 272, 275, 276, 283, 303

328 Sachwortverzeichnis Konventionsrechtsberechtigung  14, 194, 199, 202, 203, 249, 262, 265, 266, 267, 268, 269, 270, 273, 274, 277, 278, 300 Konventionsrechtsverpflichtung  242, 245, 260, 265 Mellat-Urteil  145 Melli Iran-Urteil  146, 147 Niederlassungsfreiheit  73, 74, 155, 165, 166, 168, 169, 174, 177, 178, 180, 183, 184, 289, 290, 291 Personales Substrat  16, 24, 25, 26, 27, 28, 29, 30, 41, 45, 47, 53, 56, 58, 59, 73, 75, 79, 88, 90, 97, 100, 101, 108, 109, 132, 136, 149, 152, 275, 299, 301, 304 Personenverkehrsfreiheiten  155, 163, 164, 180, 182, 183, 184 Produktverkehrsfreiheiten  165, 179, 183, 184, 185 Rule of Law  209, 210, 221, 225

Rundfunkanstalten  17, 45, 47, 132, 191, 197, 233, 275, 285 Saderat-Urteil  146, 150 Schutzpflichten  115, 189, 252, 279 Sitzlehre, Sitztheorie 22, 23, 78, 86 Souveränität des Parlaments, auch Parlamentssouveränität  207, 220, 221, 223, 224, 238, 240, 241, 242 Standard public authorities  246, 247, 265, 266, 267, 269, 270, 271, 272, 274, 278, 300, 301 Universitäten  17, 45, 46, 86, 196, 197, 256, 275 Vereinigungsfreiheit  35, 228 Völkerrechtliche Verträge  64, 110, 111, 112, 186 Wahrnehmung staatlicher Aufgaben  41, 48, 55, 58, 61, 103, 104 Warenverkehrsfreiheit  164, 172, 179, 184 Wesensargument  89, 90, 96 Wesensklausel  18, 42