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German Pages [1042] Year 2020
Die Grabstätten meiner Väter Die jüdischen Friedhöfe in Wien
Tim Corbett
Schriften des Centrums für Jüdische Studien Band 36 Herausgegeben von Gerald Lamprecht und Olaf Terpitz
Tim Corbett
Die Grabstätten meiner Väter Die jüdischen Friedhöfe in Wien
BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR
Veröffentlicht mit der freundlichen Unterstützung durch : Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus Zukunftsfonds der Republik Österreich MA 7, Kulturabteilung der Stadt Wien Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien (VWI) Gerald Westheimer Career Development Fellowship vom Leo Baeck Institute – New York
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. & Co. KG, Wien, Zeltgasse 1, A-1080 Wien Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung : Detailansicht aus Josef Daniel Huber, „Vogelschauplan“, 1769–1778, Wiener Stadtund Landesarchiv, Pläne und Karten: Sammelbestand, P1 – Pläne und Karten: 11. Korrektorat : Andreas Eschen, Berlin Einbandgestaltung : Michael Haderer, Wien
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-21211-9
In loving memory of Steven “Stig” Dempster 1970–2017 To die by your side / would have been / such a heavenly way to die.
Inhalt Vorwort .......................................................................................... 13 1.
Jüdische Räume, jüdische Kulturen. Eine Einführung in die Verortung und Bedeutung der jüdischen Friedhöfe in der Geschichtsschreibung ...................................... 1.1 Der Tod, die Leiche und die Grabstätte. Anthropologische und kulturhistorische Überlegungen zur Bedeutung des Friedhofs .......................... 1.2 Kultur, Identifikation und Zugehörigkeit. Zu einigen Grundkonzepten der jüdischen Geschichtsschreibung ............ 1.3 Gemeinschaft und Gemeinde, Judentum und Judenheit. Der jüdische Friedhof als einzigartiger Gemeinschaftsraum ........................................................... 1.4 Zur Auslegung und Struktur des vorliegenden Werks .............
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2.
Das „steinerne Archiv“. Zu den Ursprüngen des jüdischen Friedhofs und seiner Dokumentation ......................... 59 2.1 Ursprünge und Auslegung des jüdischen Friedhofs ................ 72 2.2 Praxis rund um Trauer, Bestattung und Gedenken in der jüdischen Geschichte .................................................... 86 2.3 Ursprünge und Funktion der Chewra Kadisha ....................... 101 2.4 Ursprünge und Auslegung des jüdischen Grabsteins ............... 105 2.5 Zur Sprache der Wiener Judenheiten .................................... 111 2.6 Zur Deutung der Sepulkralepigraphik .................................. 118 2.7 Zur Dokumentation der Wiener jüdischen Friedhöfe.............. 132
3.
Gemeinwesen trotz Wandel und Brüchigkeit. Der Friedhof in der Seegasse vom Mittelalter bis zur Epoche der Reform ................................................................... 141 3.1 Brüchiger Wandel. Die Wiener Judenheiten in der vormodernen Zeit.............................................................. 146 3.2 Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Friedhofs in der Seegasse bis 1783 ........................................ 156 3.3 Grabsteine, Sepulkralepigraphik und Symbolik im Friedhof in der Seegasse ..................................................... 163 3.4 Zum Vergleich: Die Grabsteine des Stephansfreithofs beim Stephansdom ............................................................ 187 3.5 Schlussbemerkungen.......................................................... 190
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Inhalt
4.
„Toleranz“ und Etablierung der Gemeinde. Der Friedhof in Währing von der Epoche der Reform bis zur liberalen Ära ............................................................................ 193 4.1 Von der Toleranz zur Emanzipation. Die langwierige Etablierung der Israelitischen Kultusgemeinde Wien .............. 199 4.2 Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Währinger Friedhofs bis 1879 .............................................. 214 4.3 Grabsteine, Sepulkralepigraphik und Symbolik im Währinger Friedhof ........................................................... 219 4.4 Zum Vergleich: Der St. Marxer Kommunalfriedhof ............... 250 4.5 Schlussbemerkungen.......................................................... 253
5.
Emanzipation und einheitliche Vielfalt. Der Zentralfriedhof Tor I von der liberalen Ära bis zum Zerfall............ 257 5.1 Von der Emanzipation zum Zerfall. Wiener Mikrokosmen habsburgischer Judenheiten............................ 267 5.2 Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Friedhofs beim I. Tor bis 1917 ............................................. 290 5.3 Grabsteine, Sepulkralepigraphik und Symbolik im Friedhof beim I. Tor ........................................................... 307 5.4 Zum Vergleich: Der Döblinger Friedhof................................ 349 5.5 Zwischenepochal: Die Soldatengräber beim I. Tor, Gruppe 76B ...................................................................... 352 5.6 Schlussbemerkungen.......................................................... 359
6.
Demokratie und zerstrittene Vielfalt. Der Zentralfriedhof Tor IV vom Ersten Weltkrieg bis zum „Anschluß“ .............................................................................. 361 6.1 Demokratisierung, „Orthodoxisierung“ und gegenseitige Ausgrenzung. Die Kultusgemeinde zwischen Republik und Nationalsozialismus.......................... 366 6.2 Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Friedhofs beim IV. Tor bis 1938 ........................................... 387 6.3 Grabsteine, Sepulkralepigraphik und Symbolik im Friedhof beim IV. Tor ......................................................... 412 6.4 Die weitere Belegung des Friedhofs beim I. Tor und die Schaffung des jüdischen Kriegerdenkmals in der Zwischenkriegszeit............................................................. 438 6.5 Schlussbemerkungen.......................................................... 453
Inhalt
7.
Werten, bewahren, vernichten. Parallelitäten und Paradoxien im wissenschaftlichen und stadttopographischen Umgang mit den Wiener jüdischen Friedhöfen vom 19. Jahrhundert bis in die Shoah........ 457 7.1 Denkmalschutz und Urbizid. Das komplexe Zusammenspiel von Bewahrung und Vernichtung jüdischen Kulturguts im 19. und 20. Jahrhundert ................... 465 7.2 Rezeption und Stellenwert der Wiener jüdischen Friedhöfe in der wissenschaftlichen und stadttopographischen Literatur vor der Shoah........................ 479 7.3 Bestrebungen zur Bewahrung bzw. Vernichtung der Wiener jüdischen Friedhöfe vor der Shoah ............................ 506 7.4 Vom „Anschluß“ zur „Arisierung“. Die Konsolidierung der NS-Politik gegenüber jüdischen Friedhöfen ab März 1938 .................................................... 523 7.5 Das Schicksal des Friedhofs in der Seegasse während der Shoah ......................................................................... 539 7.6 Das Schicksal des Friedhofs in Währing während der Shoah .... 559 7.7 Das Schicksal der jüdischen Abteilungen des Zentralfriedhofs während der Shoah .................................... 575 7.8 Schlussbemerkungen.......................................................... 580
8.
Haus des Todes, Haus des Lebens. Zwang und (Über-)Leben am Zentralfriedhof Tor IV während der Shoah ........ 585 8.1 Betrieb und Benützung der jüdischen Abteilungen am Zentralfriedhof während der Shoah ................................ 592 8.2 Die Bestattung von Ascheurnen und „Nichtglaubensjuden“ beim IV. Tor....................................... 617 8.3 Leben, Liebe und Tod am „Grabeland“ beim IV. Tor ............... 633 8.4 Der jüdische Friedhof in belletristischen Auseinandersetzungen mit der Shoah ................................... 656 8.5 Die Bestattung von verstorbenen jüdisch-ungarischen ZwangsarbeiterInnen beim IV. Tor.......... 663 8.6 Schlussbemerkungen.......................................................... 667
9.
Eine neue Gemeinde? Gemeinschaftliche Erinnerungskonstruktionen am Zentralfriedhof Tor IV nach der Shoah........................................................................ 671 9.1 „Orthodoxisierung“ und „Zionisierung“. Die Neuetablierung und Neuorientierung der Kultusgemeinde nach 1945.................................................. 678
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Inhalt
9.2 Von Amalek, Märtyrertum und Israel. Die Konstruktion einer Kollektiverinnerung an die Shoah beim IV. Tor ............................................................ 703 9.3 „Ein Denkmal und ein Name“. Die „gesammelten Erinnerungen“ an die Shoah beim IV. Tor.............................. 734 9.4 Zwischen Friedhofsamt, Rabbinat und Gerichtshof. Die umstrittene Orthodoxisierung der Wiener jüdischen Sepulkralpraxis unter Ernst Feldsberg .................... 753 9.5 Grabsteine, Sepulkralepigraphik und Symbolik im Friedhof beim IV. Tor nach 1945 .......................................... 778 9.6 Die Bezugnahme der im Ausland überlebenden Nachkommen zu den Wiener jüdischen Friedhöfen nach 1945 ......................................................................... 812 9.7 Schlussbemerkungen.......................................................... 821 10. … und immer schon eine Wiener G’schicht. Die jüdischen Friedhöfe als Schauplätze konkurrierender Erinnerungskulturen in der Zweiten Republik ............................. 823 10.1 Zwischen Scham und Schuld. Der Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und dem jüdischen Erbe in Österreich nach 1945 ................................ 832 10.2 Der Kampf um Anerkennung, Restitution und Instandsetzung in den ersten zehn Jahren nach Kriegsende ..... 846 10.3 Grabschändungen als stellvertretende antisemitische Gewalt in der Zweiten Republik ........................................... 875 10.4 Die innerjüdischen Konflikte rund um die fortdauernde Verwahrlosung der Friedhöfe nach dem Vergleich von 1955...................................................... 883 10.5 Der Friedhof in der Seegasse als Präzedenzfall für umfassende Instandsetzungsarbeiten .................................... 904 10.6 Die Wende im Umgang mit dem jüdischen Erbe Österreichs infolge der Waldheim-Affäre .............................. 916 10.7 Der Währinger Friedhof als Kristallisationspunkt der österreichischen Vergangenheitsbewältigung im 21. Jahrhundert ................................................................. 947 10.8 Ausblick anstelle eines Schlussworts – Die Zukunft der jüdischen Friedhöfe in Wien .......................................... 968 Nachwort ....................................................................................... 979 Abbildungsverzeichnis .................................................................... 985
Inhalt
Quellenverzeichnis ......................................................................... 987 Personenregister ............................................................................1025
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Abb. 1 Nehemia vor den zerstörten Mauern Jerusalems. Gustav Doré, 1866.
Vorwort „Warum sollte ich nicht traurig aussehen, da die Stadt, wo das Haus der Grabstätte meiner Väter ist, verwüstet liegt, und ihre Tore durch das Feuer verbrennet worden sind?“ – Nehemia 2,3.
Die jüdischen Friedhöfe in Wien sind die einzigen jüdischen Orte, die ununterbrochen von der frühen Neuzeit bis zum heutigen Tag in der Stadtlandschaft überdauerten, wenngleich in unterschiedlichem Maße der Verwüstung, der Vernachlässigung und des Vergessens. Inklusive der im Friedhof in der Seegasse aufbewahrten Grabsteine und Steinfragmente, die bis ins 13. Jahrhundert zurückreichen, dokumentieren diese „Grabstätten der Väter“ die sonst so brüchige jüdische Geschichte Wiens in beispiellos ungebrochener Kontinuität vom Spätmittelalter bis in die Gegenwart. Somit bilden sie geschichtsträchtige und emotional aufgeladene Denkmäler, materielle Zeugnisse wie auch komplexe soziokulturelle Archive, deren Erforschung in vielerlei Hinsicht gerade erst am Anfang steht. Vorliegendes Werk bietet erstmals eine integrierte Geschichte der Wiener jüdischen Friedhöfe mit besonderem Augenmerk auf ihren größten, hier zuvor weitgehend vernachlässigten Quellenkorpus: ihre mehr als hunderttausend erhaltenen Grabdenkmäler samt ihren Inschriften. Anhand der Anlage und Gestaltung dieser jüdischen Räume, ihrer Einbettung in der Stadttopographie sowie dem komplexen intertextuellen Korpus ihrer Inschriften wird die soziokulturelle Zusammensetzung der unterschiedlichen Wiener Judenheiten in ihren jeweiligen synchronen wie diachronen Kontexten über die longue durée ihrer Geschichte holistisch untersucht. Im Fokus stehen vor allem die Wechselwirkungen zwischen individuellen und familiären Selbstauffassungen und breiteren, kollektiven Zugehörigkeitsmustern, die an diesen Orten eindringlich in Raum, Text und Symbolik verhandelt wurden, im Kontext sowohl der „innerjüdischen“ Gemeinschaftsgeschichte wie der breiteren Wiener und österreichischen Geschichte. Die Rezeption und Wertung der Friedhöfe sowie die damit verbundenen Initiativen zu ihrer Dokumentation und Bewahrung oder eben den Schändungs- und Vernichtungsaktionen seitens unterschiedlicher nichtjüdischer AkteurInnen zeigen wiederum paradigmatisch den zentralen, aber oftmals angefochtenen Stellenwert der lokalen jüdischen Gemeinschaften und Kulturen durch den gesamten Verlauf der Wiener und österreichischen Geschichte auf. Somit bietet das Werk schließlich einen fundamental neuen und integrativen Zugang zur jüdischen Geschichte der Stadt Wien seit ihren ersten dokumentierten Anfängen bis zum heutigen Tag.
1.
Jüdische Räume, jüdische Kulturen. Eine Einführung in die Verortung und Bedeutung der jüdischen Friedhöfe in der Geschichtsschreibung
Am Mittwochabend, dem 21. Oktober 1931, verstarb mit 69 Jahren der einflussreiche Schriftsteller Arthur Schnitzler in seinem Haus in der Sternwartestraße 71, im 18. Wiener Gemeindebezirk Währing, an einer Hirnblutung. Als gefeierter, zu Lebzeiten aber auch kontroverser Schriftsteller, dessen Ableben zu einem der spannungsreichsten Momente in der gesamten österreichischen Geschichte erfolgte, sollten die Reaktionen auf Schnitzlers Tod – sowie der Ablauf der Leichenfeier, der Standort der Grabstätte wie das Denkmal, das schließlich dort errichtet wurde – reich an sozial- wie kulturhistorischen Bedeutungen sein. Die Leichenfeier fand bereits zwei Tage nach Todeseintritt, am Freitag, dem 23. Oktober, statt. Laut Rückschau im Abendblatt der Neuen Freien Presse war es ein eisiger, stark bewölkter Tag, die Temperaturen knapp über Null.1 Am Morgen versammelte sich zuerst eine kleine Gruppe prominenter WienerInnen, darunter die Schriftsteller Richard Beer-Hofmann, Felix Salten und Franz Werfel sowie Werfels Frau, die Salonnière Alma Mahler-Werfel, im Haus des Verstorbenen. Um halb zwölf Uhr wurde der einfache Holzsarg verschlossen, in den Leichenwagen geladen, und der Leichenzug machte sich auf den langen Weg vom gehobenen 18. Bezirk über die Ringstraße, am Burgtheater vorbei, Richtung Südosten zum Zentralfriedhof in Simmering, den 11. Bezirk. Schnitzlers Sohn Heinrich hatte am Tag zuvor die „letztwilligen Verfügungen“ des Verstorbenen an verschiedene Zeitungen zur Veröffentlichung geschickt mit der Bitte, „im Namen aller Hinterbliebenen [an] die gesamte Oeffentlichkeit, diese Wünsche des Verewigten zu achten“. Diese Verfügungen, die am 29. April 1912 aufgenommen worden waren, verlangten neben einem „Herzstich!“ als Garantie gegen den damals noch befürchteten Scheintod und das lebendig Begrabenwerden: Keine Kränze! Keine Parte! auch in den Zeitungen nicht! Begräbnis letzter Klasse. Das durch Befolgung dieser Bestimmungen erübrigte Geld ist Spitalszwecken zuzuwenden. Keine Reden! Vermeidung alles [sic] rituellen Beiwerks. (Insbesondere Leichenwächter u[nd] dergl[eichen].) Keine Trauer tragen nach meinem Tode, absolut keine. Arthur Schnitzler.2
1 Das Wetter in Oesterreich – Der Stand von heute frühe, in: Neue Freie Presse – Abendblatt, 23. Oktober 1931, S. 4. 2 Brief von Heinrich Schnitzler an verschiedene Redaktionen, 22. Oktober 1931, Deutsches Literaturarchiv (DLA) Marbach, Schnitzler, Arthur: Dokumente zu seinem Tod, NZ 85.1.4941.
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Jüdische Räume, jüdische Kulturen
Laut Wiener Zeitung fand entsprechend eine „Leichenfeier ohne jeden Prunk und in der allerschlichtesten Weise“ statt, laut Neue Zeitung „nach seinem eigenen Wunsch auf die einfachste Weise“. Schnitzler wurde jedoch direkt vor der monumentalen Zeremonienhalle in der prachtvollen alten jüdischen Abteilung beim I. Tor des Zentralfriedhofs in einem prominenten Ehrengrab der Israelitischen Kultusgemeinde, der Repräsentativkörperschaft der Wiener Judenheit, bestattet. Der restliche Ablauf der Zeremonie zeigte indes den wesentlichen Punkt bei der Leichenbestattung als soziales und kulturelles Ereignis: dass es sich dabei weniger um die Toten als um die Bedürfnisse der Lebenden und die Ansprüche der hinterbliebenen Gemeinschaft dreht. So waren bei Schnitzlers Begräbnis mehrere Kränze von VerehrerInnen gespendet, die es trotz der ausdrücklichen Wünsche des Verstorbenen nicht unterlassen konnten, auf diese Weise ihr Beileid auszudrücken. Das Burgtheater stiftete einen Kranz mit rot-weißer Schleife, den Farben der Stadt Wien, die verkündete: „Seinem großen Dichter in den Jahren 1895–1931 das dankbare Burgtheater“. Weitere Kränze stifteten „In Liebe und Freundschaft S. [Samuel] Fischer und Frau“ sowie die „Mitarbeiter des S. Fischer Verlags“ in Berlin, einer der wichtigsten Herausgeber von Schnitzlers Werken, sowie die Preußische Akademie der Künste und „In Freundschaft“ der Schriftsteller Jakob Wassermann samt Frau Martha.3 Die Nichtbeachtung von Schnitzlers Wünschen endete nicht mit den Kränzen: Das Begräbnis wurde nämlich in der Zeremonienhalle durch eine „einfache religiöse Zeremonie“ eingeleitet. Heinrich Fischer, Oberkantor der Kultusgemeinde, stimmte ein Gebet an, und ein weiterer Kantor sang auf dem kurzen Weg von dort zur Grabstätte ein Klagelied. Ferner war die Kultusgemeinde durch ihren Präsidenten Alois Pick vertreten, der vierzehn Jahre später drei Grabstellen weiter links bestattet werden sollte, sowie ihren Vizepräsidenten Josef Löwenherz, der wenige Jahre später von den NationalsozialistInnen genötigt werden sollte, die Kultusgemeinde während ihrer eigenen Liquidierung zu leiten. Anwesend bei der Leichenfeier waren zudem mehrere VertreterInnen der Stadt Wien, des Unterrichtsministeriums, des Burgtheaters, des Volkstheaters, des Theaters in der Josefstadt sowie der Reinhardt-Bühnen in Berlin, zusätzlich zu „außerordentlich zahlreiche[n] Persönlichkeiten aus Wiener Schriftstellerkreisen“, wie die Wiener Zeitung berichtete.4
3 Kranz-Inschriften auf Vaters Grab, DLA Marbach, Schnitzler, Arthur: Dokumente zu seinem Tod, NZ 85.1.4941. 4 Artur [sic] Schnitzler, in: Wiener Zeitung, 24. Oktober 1931, S. 9. Vgl. ferner Die heutige Leichenfeier, in: Neue Freie Presse, 23. Oktober 1931, S. 2; Das Leichenbegängnis Arthur Schnitzlers, in: Neue Freie Presse – Abendblatt, 23. Oktober 1931, S. 2 und Das Begräbnis Schnitzlers, in: Die Neue Zeitung, 24. Oktober 1931, S. 3.
Jüdische Räume, jüdische Kulturen
Abb. 2 Teilansicht der Ehrenreihe beim I. Tor. Im Vordergrund von rechts nach links die Grabstätten von Arthur Schnitzler, Friedrich Torberg, Gerhard Bronner und Alois Pick. Im Hintergrund der Ausgangspunkt der Zeremonienallee. © Autor
Über die in schriftlichen und photographischen Quellen festgehaltene Leichenfeier hinaus bildet das an Schnitzlers Grabstätte errichtete Denkmal samt seiner Inschrift ein sowohl materielles wie textliches Zeugnis des Gedenkens als soziales, kulturelles und vor allem gemeinschaftliches Ereignis. Das von der Steinmetzfirma Wulkan & Neubrunn hergestellte Grabdenkmal besteht aus einem graubläulichen Granitquader ohne Verzierungen und einer aus dem gleichen Gestein geformten Umfriedung der einfachen Grabstätte, die heute mit Efeu überwachsen ist. Zahlreiche Steinchen auf dem Denkmal bekunden von gegenwärtigen BesucherInnen jüngster Zeit. Die Inschrift beginnt mit den hebräischen Schriftzeichen „pei“ und „nun“, eine heute in jüdischen Friedhöfen allgegenwärtige Abkürzung der Formel „po nitman“ oder „po nikbar“ (hier ist verborgen oder begraben). Es folgen Schnitzlers Namen und Lebensdaten sowie seines 1939 hier beigesetzten Bruders Julius und seines 1982 hier beigesetzten Sohnes Heinrich. Ansonsten enthält die Inschrift wie viele Grabdenkmäler seit Anfang des 20. Jahrhunderts keine Laudatio, sondern lediglich das hebräische Wort „shalom“ (Frieden). Interessanterweise ist dies aber nicht der ursprüngliche Grabstein. Eine Serie von Photographien dieses Friedhofs aus dem Jahre 1945 zeigen einen älteren
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Grabstein mit ähnlichen Dimensionen, auf dem der Brüder Arthur und Julius gedacht wurde. Jene Inschrift schloss auch mit dem hebräischen Wort „shalom“, doch die Abkürzung „pei-nun“ war nicht mit einbegriffen.5 Wann und wieso das Denkmal ersetzt wurde, ist nicht überliefert; womöglich geschah dies nach der Beisetzung Heinrich Schnitzlers. Die auf den ersten Blick unscheinbare Ergänzung der zwei hebräischen Schriftzeichen sagt aber viel aus; der Austausch des Denkmals täuscht über die vermeintliche Beständigkeit materieller Denkmäler hinweg und verweist auf den fortlaufenden Wandel der Erinnerung. In der Zwischenkriegszeit, als innerhalb der Kultusgemeinde ein regelrechter Kleinkrieg um den „jüdischen Charakter“ ihrer Friedhöfe wütete, der als mikrokosmische Verhandlung eines breiteren und mitunter bitteren Konflikts rund um das Wesen der „Jüdischkeit“ überhaupt gedeutet werden kann, wurde verpflichtend vorgeschrieben, dass neue Grabinschriften in den Wiener jüdischen Friedhöfen mindestens zwei hebräische Schriftzeichen enthalten mussten. Dies erklärt wenigstens in diesem lokalen Kontext die Allgegenwärtigkeit der Formel „pei-nun“ in der jüngsten Zeit. Diese Vorschrift beachteten viele UrheberInnen von Inschriften aber augenscheinlich nicht – so auch im Falle des ursprünglichen Grabsteins der Familie Schnitzler. Die Anbringung dieser Formel in den Jahrzehnten nach der Shoah kann somit als Kennzeichnung dieser Grabstätte als explizit „jüdisch“ verstanden werden – wenngleich das Denkmal ohnehin schon das hebräische Wort „shalom“ enthielt und sich in einem jüdischen Friedhof befand. Auch das unscheinbare Wort „shalom“ birgt bei näherer Betrachtung eine tiefere Bedeutung. Die üblichere, eher religiöse Schlussformel der jüdisch-europäischen Sepulkralepigraphik ist nämlich seit Jahrhunderten die Abkürzung „taw-nun-tzadi-bet-hei“ („tantzaba“ ausgesprochen). Aus 1. Samuel 25,29 abgeleitet, bedeutet dies: „möge seine/ihre Seele im Bündel des Lebens gebündelt sein“. In den Wiener jüdischen Friedhöfen findet sich das Wort „shalom“ in der Moderne als Alternative zur Formel „tantzaba“ insbesondere auf den Grabdenkmälern von Kulturschaffenden bzw. säkularen Verstorbenen. Diese subtilen Bezeichnungen auf dem neuen Denkmal an der Grabstätte Arthur Schnitzlers offenbaren eine der tiefgreifendsten Wandlungen in der gesamten jüdischen Geschichte: der weitgehende Rückzug nach innen, zu einer ausgeprägten, selbstbewussten, oftmals verklärten jüdischen „Tradition“, der sich unter den wenigen überlebenden Judenheiten in Europa nach der Shoah vollzog. Zusätzlich offenbaren diese zwei Schriftzeichen, die das Denkmal dieses durchaus weltlichen, bürgerlichen Mannes, der als einer der bedeutendsten modernen Schriftsteller Österreichs gilt, als explizit „jüdisch“ kennzeichnen, 5 O. T., o. D., Leo Baeck Institute – New York (LBI), Rothschild Transit Camp Photographs Collection, 1–7 Zentralfriedhof, 4.Tor, ca. 1945, DM 197, Nr. 23.
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die Wirkungsmacht und Aussagekraft von Grabstätten, die als weltanschauliche Ausdrücke der dort Bestatteten gelten und rezipiert werden, jedoch eher die Auffassungen der Nachkommen und ihrer breiteren, wie auch immer gearteten „Gemeinschaft“ repräsentieren. In diesem Beispiel zeigt sich, wie über das Medium ihrer sterblichen Überreste hinaus das Gedenken an die Toten in materieller Form der Grabstätte und des Grabdenkmals dazu dient, den verstummten Toten Botschaften in den Mund zu legen und ihr Andenken für kollektive Belange zu mobilisieren. Arthur Schnitzlers Wirkung war schon zu Lebzeiten mehrdeutig, die von seinem Ableben betroffenen Gruppen divers. So finden sich in seinem Nachlass Beileidskundgebungen von verschiedensten Seiten, deren unterschiedlichen Auffassungen des Verstorbenen greifbar zur Schau stellen, wie die Toten von den unterschiedlichsten Gemeinschaften und für die unterschiedlichsten, sogar widersprüchlichsten Belange in Anspruch genommen werden können. Der Wiener Bürgermeister Karl Seitz schrieb etwa an Julius Schnitzler: „An der Bahre ihres Bruders trauert aber nicht nur die Heimat des grossen Menschen und des grossen Dichters, sondern ganz Deutschland und die Menschheit, die er beschenkt hat.“ Beachtenswert ist hier die Vereinnahmung Österreichs seitens eines Sozialdemokraten für ein imaginiertes „Deutschland“, ein charakteristischer Ausdruck der breiten Ablehnung einer österreichischen „Nation“ in der umstrittenen und schließlich kurzlebigen Ersten Republik. Ähnlich schrieb der deutsche Sozialdemokrat und Reichstagspräsident Paul Löbe: „Im ganzen deutschen Volke wird das Andenken des Mannes in hohen Ehren bleiben, der ihm so innige, unvergängliche Werke seiner Kunst geschenkt hat.“ Eine markant divergierende Sichtweise vertrat indes der österreichische Unterrichtsminister, der Christlichsoziale und spätere Austrofaschist Emmerich Czermak, der wohlgemerkt für seine mitunter offen antisemitischen Haltungen bekannt war: Mit Dr. Schnitzler hat Oesterreich einen seiner bedeutendsten und repräsentativsten Dichter, Dramatiker und Schriftsteller verloren, der es in hervorragendem Masse [Maße] verstanden hat die geistige Kultur unserer Heimat, wie sie sich in seiner konstlerischen [sic] Auffassung spiegelt, in meisterhafter Weise zu schildern und den Gebildeten aller Nationen zu vermitteln.
Der Kabinettsekretär des Unterrichtsministeriums, Kurt Thomasberger, schloss sich der Auffassung an, „dass man um einen der besten und bedeutendsten Männer des alten und neuen Oesterreichs […] trauert“ – gemeint waren das „Alt-Österreich“ der k.u.k. Monarchie und das „neue Österreich“ der Ersten Republik.6 Die Neue Freie Presse, das bedeutendste liberale und literarische 6 Beileidskundgebungen anlässlich des Hinscheidens von Arthur Schnitzler, DLA Marbach, Schnitzler, Arthur: Dokumente zu seinem Tod, NZ 85.1.4941.
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Presseorgan Österreichs vor der faschistischen Ära, beklagte in ähnlichem Wortlaut: Nicht Kunst und Literatur allein, ganz Oesterreich trauert um Arthur Schnitzler. […] Wenn es einem Dichter vergönnt war, Inkarnation zu sein eines Zeitalters, gültiger Repräsentant einer Epoche, dann war es Arthur Schnitzler für das Ende des vergangenen Jahrhunderts und für den Beginn des neuen in Oesterreich. […] In seinen ungeheuren Vorzügen lag seine Begrenzung, in seinem Oesterreichertum lag seine Vollendung, zugleich aber keine Schranke. Er wußte alles und vermochte es nicht zu ändern.7
Theodor Herzl, der Pionier der zionistischen Bewegung und ein glühender Verehrer Arthur Schnitzlers, hatte einst von ihm behauptet: „Er gehört hier [in Österreich], auf diesem Boden – so ganz und viel wie [Franz] Schubert“.8 Am 1. November 1918, als sich über das ganze Territorium der k.u.k. Monarchie Nationalversammlungen gebildet hatten, so am Vortag auch in „Deutsch-Österreich“, und das habsburgische Staatsgebilde vor dem endgültigen Kollaps stand, positionierte sich Schnitzler selbst in seinem Tagebuch ausdrücklich „als oesterr. Staatsbürger jüdischer Race zur deutschen Kultur mich bekennend“.9 Weitgehend wurde Schnitzler also bereits zu Lebzeiten als Repräsentant „Österreichs“ verstanden, ob im Gewand der großen, plurikulturellen Monarchie um das Fin de Siècle oder der kleinen Alpenrepublik in der Zwischenkriegszeit – wenn er nicht gänzlich als „deutscher“ Kulturschaffender vereinnahmt wurde. Deutlich abwesend in all diesen Nachrufen – so auch seitens seines literarischen Freundeskreises, von denen viele wie Schnitzler einen jüdischen Hintergrund hatten – ist eine Thematisierung von Schnitzlers „Jüdischkeit“. Ein Milieu hingegen, das Schnitzler ganz und gar als „Juden“ auffasste, waren die NationalsozialistInnen, die weniger als zwei Jahre nach seinem Tod Schnitzlers Werke neben jenen vieler anderer jüdischer oder als „jüdisch“ verfemter Kulturschaffenden demonstrativ verbrannten. Über Schnitzlers komplexe Auseinandersetzungen – als deutschsprachiger österreichischer Schriftsteller mit jüdischem Hintergrund – mit der sogenannten „jüdischen Frage“ seiner Zeit ist bereits viel geschrieben worden.10 Charakteristisch für eine gewisse „innerjüdische“ Wahrnehmung Schnitzlers in den Jahren und Jahrzehnten nach der Shoah ist indes ein Artikel, den die Wiener 7 Ein erschütternder Verlust für Oesterreich, in: Neue Freie Presse, 22. Oktober 1931, S. 1. 8 Zit. nach Zohn, Harry: Three Austrian Jews in German Literature. Schnitzler, Zweig, Herzl, in: Fraenkel, Josef (Hg.): The Jews of Austria. Essays on Their Life, History and Destruction, London 1967, S. 70. 9 Schnitzler, Arthur: Tagebuch 1917–1919, Wien 1985, S. 196. 10 Vgl. die Zusammenfassung in Silverman, Lisa: Becoming Austrians. Jews and Culture between the World Wars, Oxford 2012, S. 3–4.
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Schriftstellerin Martha Hofmann 1968 in der Zeitschrift der Kultusgemeinde veröffentlichte. Darin konstatierte sie in Bezug auf einen von Schnitzlers bekanntesten Romanen – zugleich eines der wenigen Schriftstücke, in dem explizit als „jüdisch“ erkennbare Figuren vorkommen – dass Schnitzlers „Weg ins Freie“ ihn „nicht nach Zion geführt“ habe: „Damals noch nicht. Ob er ihn 1938 gegangen wäre, sei dahingestellt. Daß er sich mit der gesamten Judenheit und daher naturgemäß auch mit dem heutigen Israel solidarisch gefühlt hat und hätte, ist über jeden Zweifel erhaben.“11 In diesen Worten zeigt sich paradigmatisch der nach innen gerichtete Blick der kleinen jüdischen Nachkriegsgemeinde – sowie die zweifelhafte Zuschreibung einer politischen Weltanschauung auf einen Verstorbenen, der nichts Gegenteiliges erwidern kann. Die Nachwelt wird nie wissen, wie sich Schnitzler zum Staat Israel positioniert hätte, da er vor dessen Etablierung verstarb. Fest steht jedenfalls, dass eine Solidarität mit der gesamten Judenheit, die für nahezu alle Betroffenen eine natürliche Folge des gezielten Versuchs war, die gesamte Judenheit Europas zu vernichten, sich nicht unbedingt auf Solidarität mit dem Staat Israel erstrecken muss. Selbst Schnitzlers Bestattung in einem Ehrengrab der Kultusgemeinde, um auf den jüdischen Friedhof zurückzukommen, ist nicht so bedeutungsvoll, wie sie zunächst erscheint. Wie die Neue Freie Presse berichtete, hatte die Kultusgemeinde sich nämlich unmittelbar nach Einlangen der Todesnachricht mit diesem Anerbieten an die Familie gewandt. […] Ein später eingetroffenes Anerbieten der Gemeinde Wien, Arthur Schnitzler in einem von der Gemeinde beizustellenden Ehrengrab zu bestatten, mußte mit Dank abgelehnt werden, da schon vorher der Antrag der Kultusgemeinde eingenommen worden war.12
Somit war Schnitzlers Bestattung beim I. Tor und nicht in der allgemeinen Abteilung des Zentralfriedhofs in unmittelbarer Nähe etwa der vielgerühmten Komponisten und bedeutendsten Staatsoberhäupter Österreichs eher von Zufall und einer gewissen Gleichgültigkeit charakterisiert. Hier zeigt sich ein weiterer wesentlicher Punkt der Grabstätte als soziales und kulturelles Phänomen: Die Grabstätte gedenkt der Toten, doch sie wird nicht von den Toten geschaffen und kann somit nicht unmittelbar als Ausdruck der Gedanken, Gefühle und Weltanschauungen der Toten aufgefasst werden. Tatsächlich liegen einige bedeutenden jüdischen bzw. in jüdische Familien geborene Kulturschaffenden im allgemeinen Teil des Zentralfriedhofs bestattet,
11 Hofmann, Martha: Arthur Schnitzler und seine Umwelt, in: Die Gemeinde, 27. November 1968, S. 6. 12 Die heutige Leichenfeier, in: Neue Freie Presse, 23. Oktober 1931, S. 2.
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so etwa der Komponist Arnold Schönberg, der in einem für Österreich mit seinem oftmals pathologischen Verhältnis zur „Jüdischkeit“ beinah als Ironie anmutenden Zufall direkt neben Bruno Kreisky liegt, dem österreichischen Bundeskanzler, der sein Leben lang das von der familiären Abstammung abgeleitete Etikett der „Jüdischkeit“ vehement abstritt (in den Grabstellen 32C-21A respektive 32C-21B. Diese Zahlen zeigen jeweils die Gräbergruppe, gegebenenfalls die Reihennummer und die Grabstellennummer an). Auch die soeben zitierte, 1975 verstorbene Martha Hofmann liegt in der allgemeinen, also nicht spezifisch jüdischen Abteilung bestattet (Grabstelle 40-40). Wie bedeutend ist also der Standort einer Grabstätte? Was sagt er über die Verstorbenen aus? In der bisher einzigen Monographie zu den jüdischen Abteilungen des Zentralfriedhofs, die größtenteils aus einer Auswahl von Kurzbiographien berühmter, zumeist männlicher dort bestatteter Persönlichkeiten besteht, behauptete die Historikerin Patricia Steines etwa in Bezug auf einen weiteren bedeutenden österreichischen Schriftsteller: „Wie viele andere zum Christentum übergetretene [Juden] ließ sich Karl Kraus bei Tor I in allernächster Nähe zur israelitischen Abteilung beisetzen.“13 Somit suggerierte sie in einer für das Feld der jüdischen Studien ihrer Zeit typischen Romantisierung der „Jüdischkeit“, das räumliche Verhältnis der Grabstätte von Karl Kraus außerhalb der jüdischen Abteilung (5A-1-33) zur nahegelegenen jüdischen Abteilung (ab Gruppe 5B) sei ein bewusster Ausdruck des komplizierten Verhältnisses des 1936 verstorbenen Polemikers zur jüdischen Gemeinschaft, zum Judentum und zur „Jüdischkeit“ überhaupt. In Wahrheit drückte Kraus in seinem Testament seinen „innigen Wunsch“ aus, im Park vom Schloss Janowitz/Vrchotovy Janovice südlich von Prag bestattet zu werden, das in der Zwischenkriegszeit ein wichtiger Treffpunkt für altösterreichische Intellektuelle war. Es folgte ein „Konflikt um die Grabstätte“, wie der Kraus-Biograph Friedrich Rothe darlegte, der schließlich dazu führte, dass Kraus am 15. Juni 1936 in einem Ehrengrab am Wiener Zentralfriedhof bestattet wurde, das zufällig in einer Abteilung liegt, die an den jüdischen Teil des Friedhofs angrenzt.14 Somit ist ausgeschlossen, dass Kraus die Grabstelle selbst erkor, geschweige denn, dass der Standort auf irgendeine Weise ein komplexes Naheverhältnis zum Judentum verkünden sollte. Diese Geschichte zeigt beispielhaft die Gefahr, Bedeutung in oberflächliche Erscheinungen im öffentlichen Raum hinein zu interpretieren, so gerade bei Grabstätten, die weder von den Toten selbst geschaffen werden noch als direkte oder unrelativierte
13 Steines, Patricia: Hunderttausend Steine. Grabstellen großer Österreicher jüdischer Konfession auf dem Wiener Zentralfriedhof Tor I und Tor IV, Wien 1993, S. 55. 14 Rothe, Friedrich: Karl Kraus. Die Biographie, München 2003, S. 350–351.
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Zeugnisse ihrer Weltanschauungen fungieren. Wenn das geographische Naheverhältnis dieser Grabstätte zum alten jüdischen Friedhof nebenan irgendeine Bedeutung ausdrückt, dann vielleicht nur, indem sie die Verflochtenheit der diversen kulturellen Milieus Wiens vor der Shoah aufzeigt, die an diesem riesigen gemeinschaftlichen Bestattungsraum, dem zweitgrößten Friedhof Europas, zum Ausdruck kommt. Die prominente Reihe, in der sich Arthur Schnitzlers Grabstätte befindet, beschrieb Steines gleichfalls verklärend als „Rabbinerreihe“.15 In Wahrheit handelt es sich hier um weit mehr. Das wahre Erkenntnispotenzial des Friedhofs als sozial- und kulturhistorisch bedeutsamer Raum – um diesen einleitenden Exkurs abzuschließen – entfaltet sich eben erst durch eine vorsichtige, differenzierte und sensible Betrachtung der enormen Komplexität und Variabilität der tausenden hier gesammelten Denkmäler. Interpunktiert von den spitzen, verschnörkelten Grabstelen des ausgehenden 19. Jahrhunderts findet sich nämlich rings um Arthur Schnitzlers Grabstätte auf engstem Raum ein Pantheon der Wiener Judenheit in seiner modernen Blütezeit. Von den „Gründervätern“ der Wiener Kultusgemeinde über Rabbiner, Musiker, Schriftsteller, Politiker und Akademiker bis hin zu den betont weltlichen Prominenten, die noch in der Nachkriegszeit hier bestattet wurden, wurde Arthur Schnitzler an prominentester Stelle im prachtvollsten jüdischen Friedhof Wiens und Österreichs bestattet, einem Ort, der die verwobene Bandbreite an modernen jüdisch-wienerischen bzw. österreichischen Kulturen geballt zur Schau stellt – wenngleich fast ausschließlich bestehend aus einflussreichen, wohlhabenden Männern. Nobilitierte Gemeindevertreter und Revolutionäre, orthodox Religiöse und säkulare Intelligenz, Zionisten und Österreicher: Auf diesem verhältnismäßig kleinen Raum kommt die wandelnde soziokulturelle Zusammensetzung der Wiener Judenheit über sukzessive Generationen und sogar über den Abgrund der Shoah hinaus mit geballter Spannungskraft zum Ausdruck. Breitet man den Blick über die Ehrenreihe beim I. Tor auf das gesamte Friedhofsareal aus, überhaupt auf alle vier erhaltenen jüdischen Friedhöfe in Wien, so zeigt sich die gesamte jüdische Geschichte der Stadt in ihrer kaleidoskopischen Vielfalt, singulär und vielfach zugleich. In den gemeinschaftlichen Friedhöfen, in denen die überwiegende Mehrzahl jener bestattet wurden, die sich und ihre Angehörigen als jüdisch betrachteten, sind unzählige, diverse, mitunter widersprüchliche Auseinandersetzungen mit der „Jüdischkeit“ und Bekundungen der individuellen wie kollektiven Selbstauffassung greifbar in über hunderttausend Denkmälern festgehalten. Kein anderer Ort war allen Jüdinnen und Juden Wiens durch ihre gesamte Geschichte vom Spätmittelalter bis zum heutigen
15 Steines: Hunderttausend Steine, S. 142.
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Tag so gemeinsam wie der Friedhof. Somit veranschaulichen keine anderen Orte so eindringlich und gebündelt die breite politische, ständische und soziokulturelle Zusammensetzung der sukzessiven jüdischen Gemeinschaften in der ehemaligen Residenzstadt und späteren Bundeshauptstadt Wien, wie es die jüdischen Friedhöfe tun. 1.1
Der Tod, die Leiche und die Grabstätte. Anthropologische und kulturhistorische Überlegungen zur Bedeutung des Friedhofs
Ziel der Lebenden, bleibendes Zuhause der Toten: Der Friedhof wurde über die Jahrhunderte seines Bestehens unterschiedlich wahrgenommen als ein Ort der Trauer und Selbstreflexion, des Grauens und Gruselns, aber auch des Friedens und der Romantik. Friedhöfe rühren an die tiefsten Ströme der menschlichen Emotion, an ihre Gedanken, aber auch an ihr schöpferisches Potenzial. In diesen Freiluftarchiven stehen das Leben und Ableben, die Prüfungen und Triumphe, der Glaube wie die Ängste der Generationen in Stein gefroren. Der Tod ist ein der gesamten Menschheit gemeinsames Ereignis, somit gilt der Friedhof – wenngleich er ein in spezifischen historischen, geographischen und kulturellen Kontexten entstandenes Phänomen darstellt – als universeller Ort, „das bestimmte Haus aller Lebendigen“ (Hiob 30,23). Deswegen ist einer von verschiedenen Namen für den Friedhof im Hebräischen beit hacha’im (das Haus des Lebens). Auch der scheinbar pragmatischere Ausdruck beit hakwarot (das Haus der Gräber, eine archaische Ausdrucksform des Maskulinums kewer mit weiblicher Deklination), verbirgt eine tiefere Bedeutung, die sich aus dem Ursprung des Begriffs, ebenfalls in der Bibel, ableitet: „Warum sollte ich nicht traurig aussehen, da die Stadt, wo das Haus der Grabstätte meiner Väter ist [ha’ir beit kwarot awoti], verwüstet liegt, und ihre Tore durch das Feuer verbrennet worden sind?“ (Nehemia 2,3). Der Friedhof ist nämlich auch die Nabelschnur zur Vergangenheit: Er versinnlicht die eigene Verwurzelung in einer realen oder imaginierten Gemeinschaft, Kultur und Tradition, verkörpert die eingeflößte Verbindung zu den Ahnen. Die Rolle der Stadt Wien als Kristallisationspunkt sowohl für die Kultur der Moderne wie für die antijüdische Beraubungs- und Vertreibungspolitik des Nationalsozialismus, die Vorstufe zur Vernichtung, ist ausgiebig erforscht und längst in der öffentlichen Wahrnehmung verankert. In beiden dieser Kontexte, wie in vielen weiteren Kontexten auch, spielten jüdische WienerInnen in der Geschichte der Stadt eine zentrale Rolle, ob als aktive Beteiligte oder als mehr oder weniger passive Opfer. Überhaupt und weit über die Moderne hinaus zählte Wien wiederholt in seiner Geschichte zu den wichtigsten jüdischen Kulturund Bevölkerungszentren Europas und der Welt: im Spätmittelalter, im 17.
Der Tod, die Leiche und die Grabstätte
Jahrhundert und vor allem im frühen 20. Jahrhundert vor dem „Anschluß“. Um 1900 wohnte geschätzt ein Fünftel der jüdischen Bevölkerung der Welt im Habsburgerreich, und Wien war ihr Sammelbecken, ein geballter Mikrokosmos der vielen diversen habsburgischen Judenheiten, auf Ranghöhe mit den anderen jüdischen Metropolen ihrer Zeit wie Budapest, Warschau und New York.16 Im Gegensatz zu diesen Städten war Wien aber insofern einzigartig, als ihre gesamte, kaleidoskopisch diverse jüdische Bevölkerung in einem Dachverband vereint war: der Israelitischen Kultusgemeinde.17 Gerade deswegen bedarf es, wie der Historiker Albert Lichtblau scharfsinnig zusammenfasste, einer andauernden Sensibilität für die „Vielschichtigkeit und Variabilität“ der verschiedenen Judenheiten und jüdischen AkteurInnen, die dieser jahrhundertelangen Geschichte Bestand verleihen, denn: Kontinuitäten anhand von inhaltlichen Schwerpunkten zu kreieren kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß ein Charakteristikum der österreichisch-jüdischen Geschichte genau das Gegenteil darstellt, nämlich Diskontinuität. […] Die Geschichte dieses langen Zeitraums zu schreiben heißt, sich der Realität der Shoah zu stellen und diese dennoch so zu fassen, daß sie die Geschichte davor und danach nicht völlig überschattet.18
Die jüdischen Friedhöfe in Wien ermöglichen die Rekonstruktion und das Nachvollziehen eben dieser komplexen und brüchigen diachronen Entwicklung sukzessiver Judenheiten in ihrem jeweiligen synchronen Kontext über die longue durée vom Spätmittelalter bis zum heutigen Tag über wiederholte Vertreibungen, Massenmorde und Zerstörungen jüdischer Gemeinschaften und Kulturen in der Stadt hinaus, so jüngst in der Shoah. Heute vielfach als Synonym für „längerfristig“ verwendet, meine ich hier mit longue durée in Anlehnung an den ursprünglichen Sinn dieser Wortprägung aus der Annales-Schule jene Ebene der historischen Entwicklung, die sich über Generationen und Jahrhunderte hinweg nur langsam wandelt, wie etwa Kulturen und Sprachen, also nicht die Ebene der rapiden Gesellschafts-, sondern der langsamen Zivilisationsentwicklung. In Bezug auf die Sepulkralgeschichte, die eine greifbare und tiefsinnige Einsicht in diese Zivilisationsentwicklung gewährt, bezeichnete der Historiker Thomas Laqueur diese Zeitdimension auch als „Tiefenzeit“, in der sich über den engen Wahrnehmungshorizont einzelner Individuen oder ganzer zeitge-
16 Vgl. Lichtblau, Albert (Hg.): Als hätten wir dazugehört. Österreichisch-jüdische Lebensgeschichten aus der Habsburgermonarchie, Wien 1999, S. 43, 48. 17 Zum Verständnis der jüdischen Geschichte als „kaleidoskopartig“ vgl. Meisl, Josef: Die jüdische Geschichtsschreibung, in: Der Jude 5 (Februar 1922), S. 295. 18 Brugger, Eveline/Keil, Martha/Lichtblau, Albert/Lind, Christoph/Staudinger, Barbara: Geschichte der Juden in Österreich, Wien 2006, S. 514, 447.
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bundener Gesellschaften das „Totenregime“, die Sepulkralkultur, nur langsam fortentwickelt.19 Über die „Tiefenzeit“ der jüdischen Geschichte Wiens wohnten in dieser Stadt, diachron betrachtet, nicht nur unterschiedliche, miteinander nicht direkt verwandte jüdische Bevölkerungen, es etablierten sich auch synchron betrachtet durchaus unterschiedliche jüdische Kulturen, zumeist in einem tiefgreifenden Wechselverhältnis zur nichtjüdischen Umwelt stehend, die sich über die Jahrhunderte ebenfalls in einem steten und regen Wandlungsprozess befand. Über den gesamten Zeitraum der Geschichte Wiens betrachtet kann somit nicht von einer „jüdischen Gemeinschaft“, sondern nur von vielen jüdischen Gemeinschaften gesprochen werden, nicht von einer „jüdischen Kultur“, sondern von vielen jüdischen Kulturen, ganz zu schweigen von der Einbindung von Jüdinnen und Juden in die sich ebenfalls wandelnden Gesellschaften und Kulturen Wiens und Österreichs. So komplex dieses Geschichtsbild ist, so gebündelt findet es sich in den vier historischen jüdischen Friedhöfen der Stadt materialisiert, die sowohl den Ansturm der Zeit wie die gezielte Schändung bis in die Gegenwart überdauert haben. Durch die longue durée des Wandels auf gesamtwienerischer und gesamteuropäischer Ebene der Staatsformen, Gesellschaftsstrukturen und Rechtsformen, der Sprachen, Kulturen und Religionen, der Wirtschaft, Volksbildung und Geschlechterverhältnisse und vieles weiteres mehr, bieten diese Friedhöfe beispiellose, greifbare Konstanten, durch die den komplexen Verflechtungen von sozial- und kulturhistorischen Kontinuitäten und Wandlungen materiell und zum Teil vertextlicht nachgespürt werden kann, sowohl auf „innerjüdischer“ Ebene, aber eben auch in konstantem Bezug zum breiteren Kontext in Wien, Österreich und Zentraleuropa. Sum quod eris, quod es ipse fui: Ich bin, was du sein wirst; was du bist, bin ich selbst gewesen. In einer neuen, monumentalen Studie zur Sepulkralgeschichte identifizierte Thomas Laqueur die Auseinandersetzung mit der Leiche als Ausgangspunkt der menschlichen Zivilisation und Kultur überhaupt. Die „überwältigende Materialität der Toten“ konfrontiert die Menschheit seit der Dämmerung unseres Selbstbewusstseins als Spezies nämlich mit der ebenso „überwältigenden Realität der menschlichen Existenz: Die Sterblichkeit und unser vorzügliches Bewusstsein davon“. Die Materialität des Todes in Form der Leiche als Verkörperung unserer Vergänglichkeit umgibt uns objektiv und unausweichlich, „wie die Schwerkraft und die Luft, die wir atmen“. Die komplexen Systeme von Bräuchen und Symbolen, die die Menschheit in jeder Epoche, in jeder Gesellschaft, in jeder wie auch immer gearteten „Kultur“ entwickelt hat, 19 Laqueur, Thomas: The Work of the Dead. A Cultural History of Mortal Remains, Princeton/Oxford 2015, insb. S. 31.
Der Tod, die Leiche und die Grabstätte
um mit dieser Materialität umzugehen, sind hingegen völlig offen, subjektiv, wandelbar, und eröffnen gerade deshalb ein so einsichtsreiches Fenster in das Leben, Denken und Fühlen der Menschheit in all ihren Erscheinungsformen durch die Weltgeschichte. In Europa wurde seit dem Zweiten Weltkrieg – das letzte große Massensterben unserer Zeit – der Tod weitgehend aus dem Alltag der Lebenden in die Spitäler und Altersheime ausgelagert, aber auch aus dem gesellschaftlichen und kulturellen Bewusstsein. Die Sepulkralkultur wird heutzutage – wenn überhaupt – vielfach verniedlicht als „morbides Interesse“ rezipiert, fast ein Tabuthema, wie Sexualität, das man nur hinter hervorgehobener Hand anspricht. Doch, wie Laqueur fortfuhr, bleibt das Thema von zentraler Wichtigkeit für die Menschheit, auch im (post-)modernen Westen, denn „die Lebenden brauchen die Toten viel mehr als die Toten die Lebenden brauchen“. Die Sorge um die Toten – so insbesondere die unumgängliche materielle Entsorgung, in welcher Form auch immer, der Körper der Verstorbenen, aber darüber hinaus auch die komplexen Riten und Brauchtümer, die damit verbunden sich entwickelt haben, sowie die daraus entstehenden Räume der Toten – bildet seit Anbeginn der Zivilisation die Grundlage von Religionen, Gemeinschaftsformen, ja „von der Zivilisation an sich“. Gerade deswegen ist wiederum die „gezielte brutale Entsorgung der Toten […] ein Akt der radikalen Gewalt, ein Angriff auf die Ordnung und die Bedeutung“, die wir eben auf Basis der Toten – und der Räume der Toten – aufgebaut haben. Die gezielte Zerstörung menschlicher Überreste wie der Räume der Toten ist eine stellvertretende und ungeheuer wirksame Negation der Gemeinschaft, aus der die Toten stammen. Wie Laqueur betonte, sind somit Fragen, wie etwa, was die Riten rund um den Tod in einer gegebenen Gesellschaft sind, wo sie stattfinden, wieso sie so ausgeübt werden, wer sie durchführt, und so weiter, nur beiläufig. Wichtig ist vor allem, dass der Tod und die Leiche zum grundlegenden Fundament gehören, auf der sich jede Form der Zivilisation, der Kultur, der Gemeinschaft aufbaut. In dieser Hinsicht kritisierte Laqueur auch seine wegweisenden Vorgänger wie Michel Foucault und Philippe Ariès, die mit der Moderne eine „Säkularisierung“ oder, Max Weber folgend, eine „Entzauberung“ des Todes festzustellen meinten: Vielmehr zeigte sich Laqueur zufolge in der Verwissenschaftlichung des Todes, so auch in neu aufgegriffenen, explizit als „irreligiös“ verstandenen Praktiken wie der Feuerbestattung (die vor der Christianisierung in Europa einen weitverbreiteten heidnischen Brauch darstellte), eine „Wiedererfindung der Verzauberung in mehr demokratische Formen“. In anderen Worten ausgedrückt: Die Formen des Brauchtums ändern sich, doch die grundlegende Zentralität des Todes und die wie auch immer praktizierte Leichenentsorgung in der menschlichen Zivilisation, Kultur und Gemeinschaft bleibt unangetastet. Abschließend bemerkte Laqueur pointiert: „Unsere Beziehung zu einer Leiche
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als Person ist somit nichts weiteres als eine Projizierung“, eine Zuschreibung unserer eigenen Gefühle und Ängste auf die Natur und somit eine Verweigerung unserer eigenen Vergänglichkeit.20 Deshalb bilden Friedhöfe beispiellose Archive sowohl der „kollektiven“ wie der „gesammelten“ Erinnerung einer Gemeinschaft, wobei sich Ersteres auf die oft bewusste institutionelle Konstruktion umfassender, mitunter verklärender Geschichtsnarrative bezieht, Letzteres auf ein breiteres „Aggregat individueller Erinnerungen“, die viel eklektischer, anarchischer, sogar widersprüchlicher ausfallen und somit einen breiten Querschnitt der gemeinschaftlichen Geschichte ermöglichen.21 Der Friedhof bildet Michel Foucault zufolge das hervorragendste Beispiel seines oft zitierten Konzepts einer „Heterotopie“: eines materiellen Raums, der das Individuum mit dem Kollektiv der Menschheit, die Realität mit dem Reich der Fantasie, die Vergangenheit mit der Gegenwart und die Gegenwart mit der Ewigkeit verbindet.22 Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann verwies in ihren Auslegungen zur Erinnerungskultur auf „Generationsorte“, also generationenübergreifende Erinnerungsorte – von denen Friedhöfe paradigmatische Beispiele bilden – die mit geballter Wirkungskraft eine Verbindung zwischen der persönlichen und familiären Erinnerung zu einer breiteren, kollektiven Erinnerung und dadurch zu kollektiven Zugehörigkeitsmustern ermöglichen.23 Die meisten Menschen können über etwa drei Generationen hinaus keine ihrer Ahnen benennen, doch der Friedhof – „das Haus der Grabstätten der Väter“ – evoziert ein breit gefasstes, kollektives „Ahnentum“ und ermöglicht dadurch die Projizierung des eigenen kollektiven Zugehörigkeitsgefühls auf Urzeiten zurück. Im Kontext der jüdischen Sepulkralgeschichte zeigt sich dies eindringlich in den modernen Diskursen zur „jüdischen Tradition“, die 20 Alle Zitate in der Reihenfolge ihrer Nennung: Laqueur: The Work of the Dead, S. x, xiii–xiv, 1, 9–10, 4, 11–14, 57. Als Schlüsselwerk zur Sepulkralgeschichte vgl. Ariès, Philippe: Geschichte des Todes, aus dem Französischen von Hans-Horst Henschen und Una Pfau, München 1980. Zur Anthropologie der Sepulkralkultur vgl. Huntington, Richard/Metcalf, Peter: Celebrations of Death. The Anthropology of Mortuary Ritual, Cambridge 1979. Zur Archäologie vgl. Fahlander, Fredrik/Oestigaard, Terje (Hg.): The Materiality of Death. Bodies, Burials, Beliefs, Oxford 2008. Zur Politik vgl. Verdery, Katherine: The Political Lives of Dead Bodies. Reburial and Postsocialist Change, New York 2000. 21 Vgl. zu diesen Konzepten Kansteiner, Wulf: Finding Meaning in Memory. A Methodological Critique of Collective Memory Studies, in: History and Theory 41/2 (Mai 2002), insb. S. 186. 22 Foucault, Michel: Andere Räume, aus dem Französischen von Walter Seitter, in: Barck, Karlheinz (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1992, insb. S. 41–43. 23 Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, S. 301. Zum generationellen oder „kommunikativen“ Gedächtnis vis-à-vis dem kollektiven vgl. Assmann, Jan: Collective Memory and Cultural Identity, in: New German Critique 65 (Spring–Summer 1995), insb. S. 127.
Der Tod, die Leiche und die Grabstätte
allen empirischen Befunden zum Trotz als eigentümliche Kulturerscheinung in vermeintlich abgesonderter, ungebrochener Reihenfolge auf das antike Israel und weiter zurück bis in die Ursprungsmythen des ältesten Schrifttums, der Tora, geführt werden kann. Jüdische Friedhöfe können treffend als „jüdische Topographien“ aufgefasst werden, wie sie in einem bahnbrechenden Band zur Raumanalyse im Kontext der jüdischen Geschichte ausgelegt wurden: materielle Orte in der Stadtlandschaft, die sowohl bewusst als „jüdische Orte“ angelegt und allerseits als solche wahrgenommen werden – ein Ort von Jüdinnen und Juden für Jüdinnen und Juden geschaffen – und zugleich „jüdische Räume“ im eher geistigen, kulturellen Sinn, die der Ausübung betont jüdischer Praktiken dienen, in diesem Fall der Bestattung und Trauer.24 Als Orte, die allen Jüdinnen und Juden gemein sind, sind jüdische Friedhöfe einzigartige Schauplätze der Verhandlung, Anfechtung und Neuerfindung diverser individueller wie kollektiver Selbstverständnisse, Zugehörigkeiten und Wertesysteme über die longue durée der Geschichte. So gesamtgemeinschaftlich sie als „jüdische“ Räume sind, so zeigen sie darüber hinaus aber zugleich das profunde Ineinandergreifen dieser diversen Formen der „Jüdischkeit“ mit weiteren prägenden und ihrerseits durchaus diversen Facetten der menschlichen Erfahrung wie Geschlecht, Stand, Bildung, Berufung, Religiosität und weiteres. Somit stellen die Friedhöfe beispiellos reichhaltige Archive der jüdischen Gemeinschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte dar sowie ihre diachronische Entwicklung durch gesamte Epochen in bestimmten lokalen Kontexten. Ein holistischer Zugang zu Friedhöfen als materielle, gesamtgemeinschaftliche Archive, mit bewusster Rücksicht auf die tiefgreifende Intertextualität und Intersektionalität der dort eingeschriebenen Erfahrungen und Wertesystemen, ermöglicht somit eine grundlegend neue und vielschichtigere Perspektive auf die Geschichte ebendieser Gemeinschaft. Die jüdischen Friedhöfe in Wien wurden alle im Kontext sukzessiver, divergierender Formen der Gemeinschaftsorganisation geschaffen und verwaltet. Da es den Judenheiten Wiens durch viele Jahrhunderte weitgehend verboten war, eine formelle Gemeindeorganisation zu gründen, waren diese vor dem 19. Jahrhundert mehrheitlich nur lose begriffene Gemeinschaften, die von einer kleinen Gruppe zumeist reicher, einflussreicher, rechtlich „privilegierter“ männlicher Juden angeführt wurden. Mit dem 19. Jahrhundert formalisierte sich im Kontext der allgemeinen Liberalisierung im Habsburgerreich die jüdische Gemeinschaftsorganisation allmählich in Form der Israelitischen Kultusgemeinde, die schließlich vom Staat als öffentlich-rechtliches Verwaltungsorgan und als 24 Lipphardt, Anna/Brauch, Julia/Nocke, Alexandra: Exploring Jewish Space. An Approach, in: Brauch, Julia/Lipphardt, Anna/Nocke, Alexandra (Hg.): Jewish Topographies. Visions of Space, Traditions of Place, Aldershot 2008, S. 4.
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alleinige jüdische Repräsentativkörperschaft legitimiert wurde, jedoch nach wie vor weitgehend von einer kleinen Gruppe von einflussreichen, zumeist reichen, zumeist männlichen Juden angeführt wurde. Wie Paula Hyman, eine der federführenden Historikerinnen der jüdischen Frauengeschichte schreibt, war die jüdische Geschichtsschreibung lange Zeit dominiert von den „öffentlichen Aktenstücken“ ebensolcher „männlichen jüdischen Führungsschicht[en]“, die nicht die Erfahrungswelten „der meisten jüdischen Menschen – Frauen sowie Männer, die nicht in die Führungsschicht gelangten“ reflektierten.25 Diese Feststellung trifft auch auf die klassische Historiographie der Wiener jüdischen Geschichte zu, die weitgehend aber oft unreflektiert anhand des Archivs der Kultusgemeinde geschrieben wurde – und somit oftmals deren hegemoniale Auffassungen des jüdischen Gemeinschaftswesens und den Verlauf ihrer Geschichte reproduzierte. Die mehr als hunderttausend erhaltenen jüdischen Grabdenkmäler samt ihren Inschriften in den vier jüdischen Friedhöfen, die in der gegenwärtigen Wiener Stadttopographie bestehen, bieten einen viel breiteren und diverseren Querschnitt durch die gesamte jüdische Geschichte der Stadt vom Spätmittelalter bis zum heutigen Tag. Diese Denkmäler als historische Quellen zu benutzen, ergänzt nicht nur unsere Sicht der jüdischen Geschichte. Anhand dieser Medien werden auch zeitweilig angespannte Auseinandersetzungen zwischen der Gemeindeorganisation und der breiteren Gemeinschaft, zwischen individuellen und kollektiven Mustern der Selbstauffassung einer über die Jahrhunderte betrachtet enormen, diversen und nur schwer fassbaren jüdischen Bevölkerung offenbar. Somit bieten die jüdischen Friedhöfe in der gegenwärtigen Stadtlandschaft – insbesondere ihre mehr als hunderttausend Grabdenkmäler – physische, materielle Zeugnisse einer komplexen Verflechtung von individuellen, familiären, gemeinschaftlichen und kollektiven Kultur-, Gemeinschaftsund Erinnerungsdiskursen, die noch nie zuvor einer integrierten, umfassenden Analyse unterzogen wurden. 1.2
Kultur, Identifikation und Zugehörigkeit. Zu einigen Grundkonzepten der jüdischen Geschichtsschreibung
Entgegen all ihrer augenscheinlichen Komplexität und dem Pluralismus der individuellen und kollektiven Identifikationen, die darin zum Ausdruck kommen, wurden die zentraleuropäischen jüdischen Friedhöfe, inklusive jener in Wien,
25 Hyman, Paula: Gender and Assimilation in Modern Jewish History. The Roles and Representation of Women, Seattle 1995, S. 4–5.
Kultur, Identifikation und Zugehörigkeit
in der Historiographie bis dato weitgehend lediglich als „Spiegelbilder“ aufgefasst, die die vermeintlichen „Assimilierungstendenzen“ der dort Bestatteten aufzeigen.26 In einem jüngsten Versuch, einen transnationalen Vergleich von modernen jüdischen Friedhöfen im gesamten zentral- und osteuropäischen Raum anhand von Fallbeispielen aus 16 Städten in 13 Ländern zu präsentieren, inklusive der zwei jüdischen Abteilungen des Wiener Zentralfriedhofs, kam etwa der Architekturhistoriker Rudolf Klein zum pauschalen, für die bisherige Forschungsliteratur paradigmatischen Schluss, dass diese Friedhöfe „nicht mehr wirklich ‚jüdisch‘ sind“ und eigentlich nur beweisen, dass die „Assimilation“ die wahren „jüdischen Werte ersetzte“ – eine, um es milde auszudrücken, eindimensionale und zweifelhafte Wertung der gesamten modernen jüdischen Kulturgeschichte. Dass die Fallstudien, wohl aufgrund der äußerst dünnen Quellenbasis, von vielfachen Fehlinterpretationen durchzogen sind, wie die Betrachtungen zum Wiener Zentralfriedhof vermuten lassen, zeigt indes auf, dass es noch wesentlich fundiertere, detailliertere Aufarbeitungen von einzelnen Friedhöfen und Sepulkralkulturen in ihren lokalen Kontexten bedarf, bevor die Wissenschaft eine solche transnationale Vergleichsstudie überhaupt in Erwägung ziehen kann.27 In den Kulturwissenschaften wird seit Jahrzehnten der Begriff „Kultur“ nicht als statisches, sondern als dynamisches Phänomen; nicht monolithisch, sondern pluralistisch verstanden. Es existieren zu jeder Zeit viele verschiedene, konkurrierende, sogar widersprüchliche Kulturen dicht Seite an Seite, und es folgen chronologisch viele diverse Iterationen von Kulturen in einem steten Prozess der Veränderung aufeinander. Dies kann vorzüglich am Beispiel Österreichs in der Zwischenkriegszeit illustriert werden, als es (zugespitzt gesagt) drei konkurrierende „Österreichkonzepte“ gab: Österreich – besser gesagt TirolerInnen, SteirerInnen, KärntnerInnen und so weiter – als integraler Bestandteil der deutschen „Nation“; Österreich als Teil einer allgemeinen deutschen „Kulturnation“, aber als eigenständiger Staat, als „zweites Deutschland“; und Österreich als 26 Vgl. etwa Steines, Patricia: Zwischen Tradition und Assimilation, in: Steines, Patricia/Lohrmann, Klaus/Forisch Elke (Hg.): Mahnmale. Jüdische Friedhöfe in Wien, Niederösterreich und Burgenland, Wien 1992 und Walzer, Tina: Die jüdischen Friedhöfe in Wien, in: ICOMOS Deutschland und Landesdenkmalamt Berlin (Hg.): Jüdische Friedhöfe und Bestattungskultur in Europa, Berlin 2011, insb. S. 126–127. Vgl. auch diese Auffassung von modernen jüdischen Friedhöfen in der allgemeinen Sepulkralkultur, so etwa Bauer, Werner: Wiener Friedhofsführer. Genaue Beschreibung sämtlicher Begräbnisstätten nebst einer Geschichte des Wiener Bestattungswesens, Wien 2004, S. 217 und Sörries, Reiner: Ruhe Sanft. Kulturgeschichte des Friedhofs, Kevelaer 2009, S. 85. 27 Klein, Rudolf: Metropolitan Jewish Cemeteries of the 19th and 20th Centuries in Central and Eastern Europe. A Comparative Study, Petersberg 2018, Zitate S. 403, 409. Vgl. die Fallstudien zu Wien auf S. 342–367.
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„Staatsnation“ von „plurikultureller“ zentraleuropäischer Prägung, als Erbe der Habsburgermonarchie.28 Die VertreterInnen der dritten Auffassung wurden unter der NS-Herrschaft von VertreterInnen der ersten Auffassung vielfach verfolgt, vertrieben und ermordet, infolgedessen die zweite Auffassung mit der Gründung der Zweiten Republik im April 1945 sozusagen als „Sieger“ hervorging – nun allerdings in gewandelter Form, nicht mehr als Teil einer „deutschen Kulturnation“, sondern als eigenständiger österreichischer Staat, der erst im Nachhinein einem langwierigen Prozess der „Nationswerdung“ unterzogen wurde. Alle diese Auffassungen werden jedoch heute weiterhin in unterschiedlichen Kontexten auf unterschiedliche Weise von unterschiedlichen AkteurInnen vertreten, vom Deutschnationalismus der Ewiggestrigen einerseits bis hin zur in den letzten Jahren immer stärkeren Betonung des plurikulturellen zentraleuropäischen – inklusive jüdischen – Erbe Österreichs andererseits, zumal auffällig oft von nichtjüdischer Seite. Zugleich lässt sich infolge der Shoah, von diesen Zugehörigkeitsmustern losgelöst, unter der österreichischen Judenheit ein nun im Vergleich zur Vorkriegszeit weitverbreiteter jüdischer Nationalismus feststellen, der beispielhaft in der engen Verbundenheit der neuetablierten Wiener Kultusgemeinde mit dem Staat Israel zum Ausdruck kommt. Zusammengefasst greifen also monokulturelle, nationalistische und ethnisierende Erklärungsmodelle bei Weitem zu kurz, um die komplexe, stets wandelnde Entwicklungsgeschichte von wie auch immer gearteten Kulturen, selbst auf einem verhältnismäßig so kleinen Raum wie der Stadt Wien, zu erfassen. Das bis heute hartnäckige Narrativ einer vermeintlichen „jüdischen Assimilation“ in einer a priori als „nichtjüdisch“ definierten Wienerischen, österreichischen bzw. europäischen Kultur setzt eine zweidimensionale Kulturachse des „Jüdischen“ und des „Nichtjüdischen“ voraus, wodurch jegliche Diversität und Subjektivität sowie die tiefgreifende Intersektionalität von Identifikationen und Zugehörigkeiten eingeebnet wird.29 Dadurch werden der Kulturgeschichte gekünstelte, pseudoethnische Kategorien auferlegt, und, noch problematischer, es werden Jüdinnen und Juden als einheitliches, eindeutig definierbares und unveränderliches Kollektiv aufgefasst, das a priori nicht der „europäischen“ 28 Vgl. z. B. Johnston, William: Der österreichische Mensch. Kulturgeschichte der Eigenart Österreichs, Wien 2010, insb. S. 281 sowie allgemein Stieg, Gerald: Sein oder Schein. Die ÖsterreichIdee von Maria Theresia bis zum Anschluss, Wien 2016. Vgl. zum Konzept der „Plurikulturalität“ Bhatti, Anil: Plurikulturalität, in: Feichtinger, Johannes/Uhl, Heidemarie (Hg.): Habsburg neu denken. Vielfalt und Ambivalenz in Zentraleuropa – 30 kulturwissenschaftliche Stichworte, Wien 2016. 29 Vgl. als Standardwerk zu dieser Auffassung in der Wiener jüdischen Historiographie das bis heute diesen Diskurs maßgeblich prägt: Rozenblit, Marsha: The Jews of Vienna 1867–1914. Assimilation and Identity, Albany 1983, insb. S. 2–3, 6.
Kultur, Identifikation und Zugehörigkeit
Kultur zugehörig ist.30 Dieses bis heute im Populärdiskurs, im musealen Bereich wie in der seriösen Historiographie weitertradierte Paradigma birgt nicht zuletzt verstörende Parallelen mit dem Grundgedankengut des Antisemitismus und des Nationalsozialismus.31 Wie etwa der Rabbiner und Historiker Solomon Zeitlin darlegte, gab es Jüdinnen und Juden – also AnhängerInnen der jüdischen Religion in ihrer damaligen Form – weit früher in Europa, als es „Völker“ wie „die ÖsterreicherInnen“, ja überhaupt den modernen, nationalen, ethnischen oder gar „rassischen“ Begriff des „Volkstums“ gab. Somit ist es nicht nur eine Absurdität, sondern „eine Verfälschung der Geschichte und eine Verleumdung der Jüdinnen und Juden“, zu behaupten, sie seien „Fremde in den Ländern, in denen sie wohnen“. Diese Anschauung, so schloss er, war von Anbeginn eine Erfindung der AntisemitInnen.32 Diesen Punkt führten konkret auch die Vertreter der Wiener Judenheit 1816 in einer Beschwerde an Kaiser Franz I. auf, dass sie in Österreich „gewöhnlich noch als solche [Fremdlinge] auch wohl gar als eine eigentümliche Nation angesehen und behandelt“ wurden, obwohl sie „seit Jahrhunderten in einem und demselben Land ansässig [waren], nur dessen Sprache redend und ohne alle auswärtigen Verhältnisse in demselben sich ernährend und diesem Lande dienend“.33 Freilich lassen sich, wie Zeitlin auch ausgiebig behandelte, Diskurse des „Volkstums“ bis in die ältesten Schriften der jüdischen Religion zurückverfolgen, so vorrangig im Begriff des in zwölf Stämme aufgeteilten am Israel, dem „Volk Israels“, den Nachkommen Jakobs. Jedoch muss hier genauso zwischen religiöser Überlieferung und historischer Entwicklungsgeschichte unterschieden werden wie zwischen dehnbaren Begrifflichkeiten in unterschiedlichen Sprachen, die Jahrtausende voneinander trennen.34 Tatsächlich lässt sich erst ab dem 19. und verstärkt im 20. Jahrhundert im Kontext der umgreifenden Nationalisierung und Ethnisierung Europas ein gewaltiger, wissenschaftlich untermauerter Schub in Richtung einer Auffassung der diversen Judenheiten der Welt nicht mehr bloß als lose Religionsgemeinschaft, sondern „als 30 Vgl. zum problematischen Naheverhältnis des Ethnie-Begriffs zum Konzept „Rasse“ Carter, Robert: Genes, Genomes and Genealogies. The Return of Scientific Racism?, in: Ethnic and Racial Studies 30/4 (Juli 2007). 31 Vgl. grundlegend Corbett, Tim/Hödl, Klaus/Kita, Caroline/Korbel, Susanne/Rupnow, Dirk: Migration, Integration, and Assimilation. Reassessing Key Concepts in (Jewish) Austrian History, in: Journal of Austrian Studies 54/1 (Spring 2021). 32 Zeitlin, Solomon: Studies in the Early History of Judaism, Bd. 3, New York 1975, S. 72–75, 241–242. 33 Zit. nach Husserl, Sigmund: Gründungsgeschichte des Stadt-Tempels der Israel. Kultusgemeinde Wien, Wien 1906, S. 28. 34 Vgl. neben Zeitlins oben zitiertes mehrbändiges Werk auch Smith, Anthony: Chosen Peoples. Sacred Sources of National Identity, Oxford 2003.
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ein geschlossenes Ganzes“ feststellen, was der Historiker Michael Brenner als Prozess der „Judaisierung“ auffasste.35 Dies fasste kontroverserweise der Historiker Shlomo Sand, in Anlehnung an die Nationalismusforschung, die die Vorstellung von „nationalen Gemeinschaften“ als weitgehende „Erfindung“ der Moderne aufgezeigt hat, als eben die „Erfindung des jüdischen Volks“ zusammen, sprich: die bewusste Umgestaltung einer Religionsgemeinschaft in ein modernes Volkstum.36 Dieser Prozess der „Volkswerdung“ unter den modernen Judenheiten Europas, wie Brenner ferner ausführte, erklärt sich nicht zuletzt dadurch, dass die „kollektive Erinnerung an einen kollektiven Ursprung“, den eben das religiöse Schrifttum ermöglichte, die einzige gemeinsame Basis für die pluralistischen jüdischen Lebenswelten in der Weltgeschichte darstellte – eine Erinnerung, die frei selektiv jene Bestandteile der jüdischen Vergangenheit zusammenknüpfte, durch die die Vorstellung eines kollektiven Ursprungs erst erzeugt werden konnte. In der allgemeinen Historiographie hat sich längst die postmoderne Perspektive behauptet, wie Brenner sie zusammenfasste: „Die Nation als eingebildet, Traditionen erfunden, die Historiographie nichts als eine Machtfrage und die HistorikerInnen eine Autorität, die die Vergangenheit kontrollieren.“ Doch diese Sicht hat sich noch längst nicht ausreichend in der jüdischen Historiographie durchgesetzt, die weiterhin von der ontologischen Realität des jüdischen Volkstums, der Historizität jüdischer Traditionen und der Objektivität der jüdischen Geschichtsschreibung ausgeht. Was diese braucht, so schloss Brenner, ist ein Richtungswechsel von der Vorstellung „einer jüdischen Gemeinschaft zu vielen jüdischen Kulturen“ und die Verfassung „nicht einer jüdischen Geschichte, sondern vieler jüdische Geschichten“.37 Tatsache ist, dass das Zentraleuropa, in der sich eine jahrtausendlange jüdische Geschichte vor der Shoah entfaltete, wesentlich heterogener und kulturell verwobener war, als es heute infolge von wiederholten Vertreibungen und Massenmorden sowie der umgreifenden „nationalen“ Homogenisierung des 20. Jahrhundert ist, unbenommen der nun wieder zunehmenden Diversifizierung
35 Vgl. Engelhardt, Arndt: Arsenale jüdischen Wissens. Zur Entstehungsgeschichte der „Encyclopaedia Judaica“, Göttingen 2014, S. 11, Michael Brenner zit. nach S. 12, siehe auch S. 194 und 233. Vgl. auch Avineri, Shlomo: The Making of Modern Zionism. The Intellectual Origins of the Jewish State, London 1981, insb. S. 23. 36 Sand, Shlomo: Die Erfindung des jüdischen Volkes. Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand, aus dem Hebräischen von Alice Meroz, Berlin 2010. Vgl. Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts, aus dem Englischen von Benedikt Burkard, Frankfurt am Main 1993. 37 Brenner, Michael: Prophets of the Past. Interpreters of Jewish History, Princeton 2010, S. 5–6, 196, 204–205.
Kultur, Identifikation und Zugehörigkeit
Europas sowohl durch Binnen- wie Außenmigration.38 In diesem dynamischen, plurikulturellen Kontext, wie der Historiker Steven Aschheim in einer Sammlung kritischer Essays zur jüdischen Kulturgeschichte in der deutschsprachigen Welt bemerkte, entfalteten sich die modernen europäischen Kulturen augenscheinlich „auf dynamische Weise, als verhandelte Konstrukte, in denen zu kritischen Zeitpunkten die Rolle von Jüdinnen und Juden (ob sie sich so definierten oder nicht) nicht bloß beitragend sondern regelrecht mitkonstituierend zu betrachten ist“.39 Vor fast drei Jahrzehnten richtete bereits der Historiker David Biale einen entsprechenden Appell an das Forschungsfeld der jüdischen Studien, sich von monolithischen, essenzialistischen Auffassungen der „jüdischen Kultur“ loszulösen, insbesondere der eigentlichen theologischen Vorstellung der „jüdischen Eigenart“, die zur Fehlannahme verleitet, dass sich „die jüdische Tradition in irgendeiner herrlichen Isolation vom Rest der Welt entwickelt“. Schließlich sei es nicht die Rolle der Wissenschaft, als „Dienerin des gemeinschaftlichen Stolzes“ zu agieren – eine Auffassung, der sich das vorliegende Werk voll und ganz anschließt.40 Die Historikerin Martina Niedhammer konstatierte noch 2013 in einer nuancierten Studie zum jüdischen Großbürgertum im Prag des 19. Jahrhunderts – inklusive einer kurzen aber vorbildlichen Analyse des jüdischen Friedhofs im Stadtteil Žižkov – dass die Historiographie der zentraleuropäischen Judenheiten bis heute nach wie vor zu sehr von „Assimilations- bzw. Akkulturationsparadigmen“ durchdrungen ist: „Eine differenzierte Analyse der komplexen Selbstund Fremdwahrnehmung dieses Personenkreises, die für ein besseres Verständnis seiner (An-)Bindungen notwendig wäre, fehlt oftmals“, führte sie fort, ein Befund, der „erstaunt angesichts der hinlänglich bekannten Tatsache, dass in den vergangenen Jahren zahllose Studien entstanden, die sich mit dem Problem der Identität auseinandersetzen“.41 Es steht empirisch außer Zweifel, dass „Identitäten“ nicht angeboren, fest und unveränderlich sind, sondern durch Sozialisierung und Bildung geformt werden und stets wandelbar sind. Individuelle Gefühle der „Identität“, besser als aktiver Prozess der „Identifikation“ verstanden, einfach als „Erfindungen“ abzutun, erklärt allerdings nicht ihre ungeheure 38 Vgl. Bhatti, Anil: Heterogeneities and Homogeneities. On Similarities and Differences, in: Feichtinger, Johannes/Cohen, Gary (Hg.): Understanding Multiculturalism. The Habsburg Central European Experience, New York 2014. 39 Aschheim, Steven: In Times of Crisis. Essays on European Culture, Germans, and Jews, Madison 2001, S. 86–87. 40 Biale, David: Confessions of an Historian of Jewish Culture, in: Jewish Social Studies 1/1 (Autumn 1994), S. 44–45, 49. 41 Diese Studien führte Niedhammer hier auch nützlich in Zusammenfassung auf: Niedhammer, Martina: Nur eine „Geld-Emancipation“? Loyalitäten und Lebenswelten des Prager jüdischen Großbürgertums 1800–1867, Göttingen 2013, S. 12–15, Zitat S. 12–13.
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Wirkungsmacht, erklärt nicht, wieso Menschen aufgrund ihrer eigenen Zugehörigkeitsgefühle bzw. den erkorenen oder zugeschriebenen Zugehörigkeiten anderer zu sterben und töten bereit sind. Es ist daher die Aufgabe der seriösen Wissenschaft, die Formierung und Veränderlichkeit solcher Phänomene wie Kulturen und Identifikationen aufzuspüren, jedoch gleichzeitig die profunde Bedeutung dieser Phänomene für die behandelten historischen AkteurInnen zu berücksichtigen.42 Dieser Studie liegt somit ein äußerst flexibles Verständnis der „jüdischen Kultur“ bzw. der „Jüdischkeit“ zugrunde, weniger als ontologisch bestimmbares Faktum als ein subjektiv konstruiertes und gesellschaftlich verhandeltes Identifikationsgeflecht, wie es etwa die Historikerin Lisa Silverman in Anlehnung an die Gendertheorie durch das Konzept der „jüdischen Differenz“ herausarbeitete. Demnach ist „Jüdischkeit“ nicht eine gegebene kulturelle Eigenschaft, sondern ein „dialektisches, hierarchisches Bezugssystem, das das Verhältnis zwischen den gesellschaftlich konstruierten Kategorien des ‚Juden‘ und des ‚Nichtjuden‘ umfasst“.43 Wie der Historiker Michael Meyer bereits in den späten 1960erJahren feststellte, bildet zudem die „Jüdischkeit“ nur einen Aspekt der Identifikationsmuster moderner Jüdinnen und Juden, wenngleich einen aufgrund von „externem Druck und internen Bindungen“ zentralen Aspekt.44 Die Zentralität der „Jüdischkeit“ als Orientierungsschema, aber auch ihre Verflechtung mit etlichen anderen Sphären der Identifikation und Zugehörigkeit wie Geschlecht, Stand, Bildung und vieles weiter prägte eindringlich das Erscheinungsbild der Wiener jüdischen Friedhöfe als kaleidoskopische Gemeinschaftsräume. Somit ist ein holistischer, sensibler und zugleich fundierter Zugang von äußerster Wichtigkeit in der Analyse dieser Räume und ihrer Denkmäler. Ein intersektionaler Blick ermöglicht eine Aufarbeitung gesellschaftlicher Komplexität jenseits von monolithisch aufgefassten Kategorien der Differenz, eine eben „intrakategorische Komplexität“, in der gesellschaftlich konstruierte Kategorien (wie beispielweise die „Jüdischkeit“) zwar eine Realität darstellen und Wirkungsmacht besitzen, jedoch nur adäquat in ihrer Interaktion und Überschneidung – eben ihre „Intersektionalität“ – mit anderen Kategorien – Geschlecht, Stand, Bildung und vieles weitere – erfasst werden können. Dabei muss aber wieder betont die Konstruiertheit und Wandelbarkeit der zur Analyse
42 Vgl. Croucher, Sheila: Globalization and Belonging. The Politics of Identity in a Changing World, Lanham 2004, insb. S. 36–40. 43 Silverman: Becoming Austrians, S. 7. Vgl auch Silverman, Lisa: Beyond Antisemitism. A Critical Approach to German-Jewish Cultural History, in: Nexus. Essays in German Jewish Studies 1 (2011), insb. S. 27–29. 44 Meyer, Michael: The Origins of the Modern Jew. Jewish Identity and European Culture in Germany, 1749–1824, Detroit 1967, S. 8.
Kultur, Identifikation und Zugehörigkeit
herangezogenen Kategorien stets im Auge behalten werden, damit diese nichts aufs Neue zu künstlichen Essenzialisierungen und Ausgrenzungen führen.45 Anhand einer intersektionalen Perspektive wird beispielsweise jenseits ihrer Verleumdung im antisemitischen Kontext Wiens unter der Bürgermeisterschaft Karl Luegers das Privileg der Führungsschicht der Kultusgemeinde um das Jahr 1900 deutlich, die aus durchaus großbürgerlichen, wohlhabenden, gesellschaftlich und politisch vernetzten, weltlichen Männern bestand, die somit viel mehr Ähnlichkeiten mit dem nichtjüdischen großbürgerlichen Milieu Wiens aufwiesen als mit ihren armen, orthodox-religiösen GlaubensgenossInnen. Trotzdem waren alle, reich und arm, mächtig und entrechtet, säkular und religiös, im jüdischen Kollektiv eingebunden, sowohl im Eigenverständnis durch die Organisation der Kultusgemeinde wie in der Vorstellung der AntisemitInnen – und sie wurden alle dicht Seite an Seite im gleichen jüdischen Friedhof bestattet, die Reichen unter enormen neoklassizistischen Denkmälern, die Armen unter schlichten kleinen Steinen. An diesem Beispiel zeigt sich, wie der intersektionale Blick Ähnlichkeiten und Differenzen zugleich in einem komplexen Beziehungsgeflecht aufzuzeigen vermag, wie sie vorzüglich in Friedhöfen als einzigartige Gemeinschaftsräume zum Ausdruck kommen.46 Der hier angedeutete Begriff der Ähnlichkeit bildet eine Neuerung der Kulturgeschichte, der der insbesondere im Kontext der jüdischen Geschichte zuvor oftmals betonten Differenz nicht widerspricht, sondern ergänzt, vertieft und verkompliziert.47 Der Historiker Klaus Hödl hat wie niemand sonst im österreichischen Kontext die Porosität jüdischer und nichtjüdischer Kulturen und Lebenswelten aufgezeigt, die insbesondere das moderne Wien charakterisierten. Wien war schon immer ein europäisches Migrationszentrum. Somit ist die Erfahrung von Migration und kulturellem Austausch genauso wenig eine vorwiegend „jüdische“ Erfahrung wie man überhaupt von irgendeiner autochthonen Wiener „Leitkultur“ ausgehen kann. Daher bildete die Wiener jüdische Bevölkerung in der Moderne nicht eine „Minderheit einer Mehrheitsgesellschaft“, sondern einen Bestandteil einer gesamten „kulturelle[n] Matrix“, 45 Vgl. Grabham, Emily/Cooper, Davina/Krishnadas, Jane/Herman, Didi (Hg.): Intersectionality and Beyond. Law, Power and the Politics of Location, Abingdon 2009. Siehe darin McCall, Leslie: The Complexity of Intersectionality, insb. S. 51 und Rahman, Momin: Theorising Intersectionality. Identities, Equality and Ontology, insb. S. 354. Vgl. auch Christensen, AnneDorte: Belonging and Unbelonging from an Intersectional Perspective, in: Gender, Technology and Development 13/1 (2009), insb. S. 22. 46 Vgl. zur Intersektionalität von Privileg und Benachteiligung Hill Collins, Patricia/Chepp, Valerie: Intersectionality, in: Waylen, Georgina/Celis, Karen/Kantola, Johanna/Weldon, S. Laurel (Hg.): The Oxford Handbook of Gender and Politics, Oxford 2013, insb. S. 60. 47 Vgl. zusammenfassend Bhatti, Anil/Kimmich, Dorothee (Hg.): Ähnlichkeit. Ein kulturtheoretisches Paradigma, Konstanz 2015.
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die stets im „Wandel“ war und von allen ihrer Mitglieder „ausgehandelt“ wurde.48 Tatsächliche wie konstruierte Auffassungen der „Differenz“ wirken zwar erheblich auf zwischengemeinschaftliche Beziehungen ein bzw. erzeugen diese erst, doch wurden Differenzen in der jüdischen Geschichte Österreichs und Europas aufgrund des gewaltigen Einschnitts der Shoah zum fast ausschließlichen Erklärungsparadigma, wodurch die grundsätzliche Ähnlichkeit der EuropäerInnen und die zwischenmenschliche Interaktion über Jahrhunderte hinweg weitgehend aus dem Blickfeld der Historiographie verdrängt wurden, die sich stattdessen stark an Konzepten der „Identität“ und der „Differenz“ orientiert. Diese Schieflage, so Hödl, gelte es in zukünftiger Forschung zu berichtigen.49 Einen wesentlichen Beitrag machte in diesem Bereich auch die Historikerin Tara Zahra mit ihrer Betonung der „Indifferenz“ zu Kategorien der Identifikation und der Differenz seitens einer großen Bandbreite historischer AkteurInnen. Zahra bezog dieses Konzept zwar spezifisch auf den in Europa aufstrebenden Nationalismus des 19. und 20. Jahrhunderts, es kann aber freilich auf jede Form der exklusiven Identitätsprägung ausgeweitet werden. Zahra folgte damit dem allgemeinen Wandel in der historischen Forschung – weg von der Ontologie bestimmter Identitätsmuster hin zu ihrer momentanen „Performanz“, wodurch Zugehörigkeiten bzw. Ausgrenzungen erst erzeugt werden. Dadurch wird der dynamische, sogar flüchtige Charakter der „Identität“ besonders deutlich, allen Betonungen seiner Beständigkeit und Allwirksamkeit zum Trotz. Zahra erklärte die scheinbare Allgegenwart von Identitätsdiskursen in der Vergangenheit anhand der überlieferten Quellen: amtliche Quellen, Volkserhebungen, Archive, Zeitungen und weiteres, die eine riesige Papierspur hinterließen und sich eingehend mit politisierten Kategorien auseinandersetzten, jedoch weitgehend nicht die Masse der Bevölkerung und ihre Selbstauffassungen reflektierten. Im Gegenteil: Diese Quellengattungen, die das Geschichtsbild Europas weitgehend prägen, wurden meist von schwinden kleinen, jedoch einflussreichen Eliten geschaffen, die tief mit den von ihnen erzeugten kollektiven Diskursen verbunden waren und deren Ziel es war, die breiten Massen von ebenjenen zu überzeugen. Entgegen des unveränderlich wirkenden Begriffs der „Identität“ verwies Zahra auf eher momentane, performative und subjektbezogene Begrifflichkeiten wie Affiliation, Identifikation oder Selbstverständnis, kritisierte aber überhaupt, dass sich die Geschichtswissenschaften bisher zu eng auf
48 Hödl, Klaus: Wiener Juden – Jüdische Wiener. Identität, Gedächtnis und Performanz im 19. Jahrhundert, Innsbruck 2006, S. 9. 49 Siehe jüngst Hödl, Klaus: Zwischen Wienerlied und Der Kleine Kohn. Juden in der Wiener populären Kultur um 1900, Göttingen 2017, insb. S. 9–10, 35–37, 186–190. Vgl. auch Hödl, Klaus: „Jewish History“ Beyond Binary Conceptions. Jewish Performing Musicians in Vienna around 1900, in: Journal of Modern Jewish Studies 16/3 (2017), insb. S. 3.
Kultur, Identifikation und Zugehörigkeit
eine (wie auch immer geordnete) Hierarchie von ebensolchen identitätspolitischen Themenkreisen wie Religion, Stand, Ethnie, Geschlecht sowie natürlich Nationalismus beschränkt haben.50 Auf die Wiener jüdische Geschichte bezogen, lässt sich vergleichsweise feststellen, dass ein Großteil der relevanten erhaltenen Quellen von GemeindefunktionärInnen, PolitikerInnen sowie Intellektuellen erzeugt wurden, die ebenfalls nicht unmittelbar die Ansichten und Identifikationsmuster der breiten Masse der jüdischen Bevölkerung reflektierten. Gerade die Sepulkralepigraphik der jüdischen Friedhöfe, die in textlicher Form einen beispiellosen Querschnitt der jüdischen Bevölkerung Wiens aufzeigt, beweist, wie sich ab etwa dem frühen 19. Jahrhundert der gemeinschaftliche Diskurs zunehmend von solch kollektiven Bezugspunkten distanzierte und sich in auffällig personalisierter, manchmal sogar in die Pathetik getriebener Sprache auf PartnerInnen und Familie sowie etwa auf außergemeinschaftliche Lebenssphären wie Berufungen und persönliche Errungenschaften als wichtigste Bezugspunkte konzentrierte. Hingegen kann der ab dem frühen 20. Jahrhundert erstarkende jüdische Partikularismus, der zunehmend von oben herab seitens der Kultusgemeinde in etlichen neuen Friedhofsverordnungen vorgeschrieben wurde, als Gegenmaßnahme zu dieser gefühlten Auflösung oder wenigstens der Fragmentierung einer kollektiv verstandenen jüdischen „Identität“ aufgefasst werden. Alle identitätsstiftende Gemeinschaften, insbesondere aber Religionsgemeinschaften, aufgrund ihres theologischen Wahrheitsanspruchs, gründen sich in mehr oder weniger statische Vorstellungen einer vermeintlichen „Tradition“ oder eines „Erbes“, die jedoch ebenso weitgehend „erfunden“ und „fabriziert“ sind, wie es Nationalismen sind.51 Diese Vorstellungen, wie im eben genannten Beispiel in der Wiener jüdischen Sepulkralkultur des 20. Jahrhunderts ersichtlich wird, dienen vordergründig der Aufrechterhaltung des kollektiven Zusammenhalts sowie der Stärkung und Legitimation der religiösen Autorität. Wie es aber der Historiker David Lowenthal pointiert zusammenfasste: „Erbe ist nicht Geschichte“. HistorikerInnen ignorieren somit den Widerspruch zwischen „dem gesamten Korpus des historischen Wissens“ und den Einbildungen der „Tradition“ zum eigenen Nachteil.52 In einer frühen aber nach wie vor aufschlussreichen Abhandlung theoretisierte der Psychoanalytiker Rudolph Loewenstein, dass das Judentum und Christentum im Kontext der europäischen Geschichte keine einheitlichen, 50 Zahra, Tara: Imagined Noncommunities. National Indifference as a Category of Analysis, in: Slavic Review 69/1 (Spring 2010), insb. S. 97, 106, 110–111. 51 Vgl. zur Erfindung der Tradition Hobsbawm, Eric: Introduction. Inventing Traditions, in: Hobsbawm, Eric/Ranger, Terence (Hg.): The Invention of Tradition, Cambridge 1983, S. 1–2. 52 Lowenthal, David: Fabricating Heritage, in: History and Memory 10/1 (Spring 1998), S. 6–7.
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getrennten bzw. aufeinanderfolgenden Religionen sind, sondern ein „KulturPaar“, das aus einem gegenseitig interaktiven Entwicklungsprozess hervorging, „der Christen und Juden vereint und zugleich trennt“. Der wesentliche Impuls zur Ausprägung und Definition beider Kulturkreise geschah im mittelalterlichen Europa, woraus schließlich die katholische Kirche als Hegemonie hervorging – „katholisch“ bedeutet so viel wie „universell“, was einen offensichtlichen Hegemonieanspruch verdeutlicht. „Die Juden“ wurden hingegen kollektiv als ideelles Gegenkonstrukt identifiziert und ausgegrenzt. Dieses „Kultur-Paar“ bestand durch die gesamte europäische Geschichte des letzten Jahrtausends in wandelnder Form und mündete schließlich von seinen religiösen Ursprüngen losgelöst in das Rassenparadigma, wodurch „die Juden“ als „Semiten“ biologisch den „arischen“ EuropäerInnen gegenübergestellt wurden.53 Dieser Befund erstreckt sich auch auf kulturhistorischer Ebene und wird seit den frühesten materiellen Zeugnissen auch von der europäischen Sepulkralgeschichte belegt: Erst im Hochmittelalter entstanden nämlich getrennte „christliche“ und „jüdische“ Bestattungsräume, die sich über Jahrhunderte in aufrechterhaltener Trennung, aber in tiefgreifender Parallelität fortentwickelten.54 Dies ist eine wesentliche Erkenntnis angesichts der fortdauernden aber kontrafaktischen Vorstellung eines breiten Teils der Forschungsliteratur, wie oben gezeigt, dass die moderne „jüdische“ Sepulkralkultur durch einen „Assimilationsprozess“ lediglich eine ebenso gekünstelte „christliche“ oder „nichtjüdische“ Sepulkralkultur nachgeahmt habe. 1.3
Gemeinschaft und Gemeinde, Judentum und Judenheit. Der jüdische Friedhof als einzigartiger Gemeinschaftsraum
Freilich untermauern jüdische Friedhöfe durch ihre seit dem Hochmittelalter prägende räumliche Abgrenzung als „jüdische Topographien“ die Vorstellung nicht nur der Absonderung der jüdischen Gemeinschaft von der als „nichtjüdisch“ verstandenen Gesellschaft, sondern auch die vermeintliche Einheitlichkeit einer „jüdischen Kultur“. Jüdische Friedhöfe bilden nicht nur gemeinschaft53 Loewenstein, Rudolph: Psychoanalyse des Antisemitismus, aus dem Französischen von Lothar Baier, Frankfurt am Main 1967, S. 151–152. 54 Vgl. etwa die archäologischen Befunde aus dem Gebiet des heutigen Österreich in Eichert, Stefan: Die frühmittelalterlichen Grabfunde Kärntens. Die materielle Kultur Karantiens anhand der Grabfunde vom Ende der Spätantike bis ins 11. Jahrhundert, Klagenfurt 2010, S. 153. Vgl. grundlegend die Betonung von historischer Parallelität zwischen den jüdischen und christlichen Bevölkerungen Österreichs seit dem Mittelalter im Band Keil, Martha (Hg.): Fremd/Vertraut. Zur Geschichte der Juden in Österreich, Sonderausgabe von Österreich. Geschichte, Literatur, Geographie 61/2 (2017).
Gemeinschaft und Gemeinde, Judentum und Judenheit
lich jüdische – im Sinne von allgemein der jüdischen Bevölkerung zugängliche – Räume, sondern wurden vor allem in der Neuzeit von jüdischen Gemeindeorganisationen angelegt, verwaltet und somit maßgeblich geprägt, was den Eindruck der „jüdischen Einheit“ in diesen Räumen noch einmal befestigt. Dies gilt insbesondere für die letzten zwei Jahrhunderte, als jüdischen Familien zunehmend die Möglichkeit offenstand, ihre verstorbenen Angehörigen in überkonfessionellen, also „nichtjüdisch“ konnotierten Friedhöfen bestatten bzw. einäschern zu lassen. Zugleich wurden jüdische Friedhöfe europaweit, wie nichtjüdische Friedhöfe auch, einer zunehmenden gemeinschaftlichen Kontrolle in Form von verpflichtenden Friedhofsordnungen unterstellt, die im innerjüdischen Kontext unter anderem den einheitlichen oder „jüdischen“ Charakter dieser Räume gewährleisten sollte, jedoch auch als versuchte Auferlegung einer partikularistischen, kollektiv zugeschriebenen „Jüdischkeit“ verstanden werden können. Für die Analyse des jüdischen Friedhofs als „Gemeinschaftsraum“ ist somit eine Auseinandersetzung mit den überschneidenden aber nicht gleichbedeutenden Begriffen Gemeinschaft und Gemeinde sowie mit dem Beziehungskomplex zwischen jüdischem Individuum und jüdischem Kollektiv unentbehrlich. Das Begriffspaar „Gemeinschaft/Gemeinde“, genauso wie sein englischsprachiges Äquivalent community, das sich schleichend im deutschsprachigen Wissenschaftsdiskurs als anscheinend soziologisch präziserer Ersatzbegriff ausbreitet, ist dehnbar und ohne weitere Anhaltspunkte äußerst vage. In den Kulturund Sozialwissenschaften wird „Gemeinschaft“ im Sinne einer religiös, kulturell oder ethnisch definierten Bevölkerungsgruppe (diese Kategorien überschneiden sich oft in der Vorstellung, wie man etwa in Bezug auf gegenwärtige jüdische und muslimische Bevölkerungen in Europa sieht) nicht als ontologische Gegebenheit, sondern als Machtgefüge aufgefasst, das durch das Miteinander und die zwischenmenschlichen Beziehungen innerhalb einer Gruppe erst produziert bzw. von externem Druck auferlegt und bestärkt wird.55 In der Geschichtsschreibung werden die Begriffe „Gemeinschaft“ und „Gemeinde“ hingegen oft unreflektiert, undifferenziert und somit problematisch angewandt. So ist über ihre mehr als achthundertjährige Dauer betrachtet, die Vorstellung einer „jüdischen Gemeinde“ in der Wiener Geschichte, sowohl aus zeitgenössischer Sicht wie rückblickend, ungeheuer vieldeutig und wandelbar, zumal aufgrund von Vertreibungen und Vernichtungen über das letzte Jahrtausend mehrere verschiedene, miteinander nicht verwandte jüdische Bevölkerungsgruppen in Wien lebten. Jedenfalls bildet seit je die Frage der individuellen Zugehörigkeit zu einem wie auch immer gearteten jüdischen Kollektiv – ob per Eigen- oder
55 Vgl. Ahmed, Sara/Fortier, Anne-Marie: Re-Imagining Communities, in: International Journal of Cultural Studies 6 (2003), insb. S. 254–255.
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Fremddefinition – eine Frage großer Brisanz, zeitweiligen Konflikts, mitunter auch von Leben und Tod, so am fatalsten unter dem Nationalsozialismus. Ein kritischer Blick auf die Historiographie verdeutlicht nicht nur eine weitgehende Unreflektiertheit des Gemeinschaftsbegriffs, sondern auch die Austauschbarkeit verschiedener nicht synonymer Begriffe wie Judentum, Judenheit, jüdische Gemeinde sowie einfach kollektiviert „die Juden“. Dies ist nicht zuletzt eine Folge, wie der Historiker Dan Diner in der jüngsten Enzyklopädie zur jüdischen Geschichte darlegte, dass seit der Shoah die „jüdische Geschichte, genauer: die Geschichten und Kulturen der Juden“, wie nie zuvor als Gesamtheit aufgefasst wird. Es bräuchte in der Forschung ein größeres Verständnis für die gewaltige Diversität dieser Geschichten im Plural, jeweils in ihren lokalen Kontexten eingebettet. In diesem Sinne führte Diner eine nützliche Unterscheidung zwischen verschiedenen Ebenen der Analyse vor, die eine viel genauere Präzisierung des Forschungsgegenstands ermöglicht, als zuvor oftmals gegeben war. So unterschied er zwischen der universellen, ideal-kulturellen Ebene das „Judentum[s] als Gesetzesreligion und der es verwandelnden Modi von Säkularisierung und Profanierung“; der nach zeitlichen und räumlichen Kontexten aufgeteilten Ebene „diverser Judenheiten“; und die individuelle Ebene „einzelner staatsbürgerlich emanzipierter, sich dem kollektiv entfremdender jüdischer Personen bzw. Personen jüdischer Herkunft, einzelner Juden“.56 Diese Unterscheidung wird im vorliegenden Werk konsequent angewandt: So bedeutet hier „Judentum“ lediglich die jüdische Religion, während „Judenheit“ (manche historische Quellen sprechen auch von der „Judenschaft“) die allgemeine Gemeinschaft oder Bevölkerung einzelner Jüdinnen und Juden in einem bestimmten Kontext bedeutet, beispielsweise der Stadt Wien in einer gegebenen historischen Epoche. Die Judenheit als Bevölkerungsgruppe oder Gemeinschaft muss indes von der „Gemeinde“ im engeren Sinne eines gemeinschaftlichen Verwaltungsapparats differenziert werden, den es durch lange Strecken der jüdischen Geschichte Wiens nicht einmal ansatzweise gab. Von einer singulären, einheitlichen „jüdischen Kultur“ wird hier gar nicht erst gesprochen, weil es eine solche schlicht nicht gibt, wie die im Folgenden vorgeführte, sich über acht Jahrhunderte extrem pluralistisch entwickelnde Wiener jüdische Sepulkralkultur paradigmatisch zeigt. Über die Zugehörigkeit zum „Judentum“ als Religion hinaus lässt sich ein jüdisches Kollektiv am deutlichsten durch die Zugehörigkeit in diversen Formen der Gemeindeorganisation nachvollziehen, die gerade im Kontext Zentraleuropas in der Neuzeit weitläufig dokumentiert und somit auch statistisch belegbar ist. Einer der eklatantesten Widersprüche des Assimilationsparadigmas ist die 56 Diner, Dan (Hg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Bd. 1, A-Cl, Stuttgart 2011, S. vii, x.
Gemeinschaft und Gemeinde, Judentum und Judenheit
Tatsache, dass gerade im Kontext der weitreichenden Loslösung von der formalen Religiosität – ein Prozess, der die gesamteuropäische Gesellschaft der Neuzeit prägt und heute noch fortdauert – Hand in Hand ging mit der Verankerung jüdischer Gemeindeinstitutionen als gemeinschaftliche Verwaltungsapparate, in denen nachweislich der Großteil jener Menschen, die in jüdische Familien geboren wurden, Mitglied waren und blieben – die sich signifikanterweise zumeist auch in jüdischen Friedhöfen bestatten ließen. Hier zeigt sich über die Religiosität – das Judentum – hinaus ein weitreichendes Zugehörigkeitsgefühl zu einer jüdischen „Stammes-“ oder „Schicksalsgemeinschaft“ – der Judenheit, die sich auch über den familiären Kreis hinaus gewissermaßen auf die Diskurse des religiösen Schrifttums zum am Israel, dem „Volk Israels“, zurückverfolgen lässt.57 Wie so oft bei der modernen „Erfindung der Tradition“ wird auch in der jüdischen Historiographie das Konzept der jüdischen Gemeindeorganisation anachronistisch rückdatiert und auf vermeintliche Vorgänger in der Antike bzw. auf das jüdische Schrifttum zurückgeführt. Durch die Anwendung in der jüdischen Geschichtsschreibung des hebräischen Begriffs kehila (Gemeinde) wird die Vorstellung einer althergebrachten, spezifisch jüdischen Gemeinschaftsorganisation untermauert, die angeblich erst mit der „Modernisierung“ – sprich: der „Assimilation“ – verschwand.58 Während das grundlegende Prinzip sowie einzelne Aspekte der Gemeindeorganisation sich tatsächlich aus dem Talmud ableiten lassen (wenn auch erst im Nachhinein), waren diese nur vage definiert, und so ergaben sich im Laufe der Jahrhunderte in unterschiedlichen lokalen und zeitlichen Kontexten drastisch unterschiedliche Organisationsformen.59 Im spezifischen Kontext der Wiener Geschichte zeigt sich, dass den durch Vertreibungen und Vernichtungen voneinander getrennten Wiener Judenheiten über die Jahrhunderte größtenteils eine formale Gemeinschaftsorganisation untersagt blieb, bis zur Etablierung der öffentlich-rechtlichen, gesamtjüdischen Kultusgemeindeorganisation im 19. Jahrhundert. Die Institution der Israelitischen Kultusgemeinde als alleinigem, staatlich anerkanntem Dachverband für die gesamte jüdische Bevölkerung eines gegebenen politischen Sprengels
57 Vgl. Brenner, Michael/Penslar, Derek: Introduction, in: Brenner, Michael/Penslar, Derek (Hg.): In Search of Jewish Community. Jewish Identities in Germany and Austria 1918–1933, Bloomington 1998, S. ix–x. 58 Vgl. als paradigmatisches Beispiel einer solchen Sichtweise, die zugleich aber die starken regionalen Unterschiede in der jüdischen Gemeindeorganisation betont: Bernfeld, Simon: Juedische Organisation in der Diaspora, in: Ost und West 10 (Oktober 1907). 59 Vgl. Chazan, Robert: Judaism, History of, Part IV A. Medieval Christendom, in: Neusner, Jacob/Avery-Peck, Alan/Green, William Scott (Hg.): The Encyclopaedia of Judaism, Bd. 2, Leiden 2000, S. 639.
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Jüdische Räume, jüdische Kulturen
war eine Einzigartigkeit der zisleithanischen Gesetzgebung (in der österreichischen Hälfte der Doppelmonarchie), die in Folge in der österreichischen Republik übernommen wurde und bis heute Rechtsgültigkeit besitzt.60 Die von der katholischen Einheitskirche abgeleitete Eigenart der österreichischen jüdischen Gemeindeorganisation – allen Behauptungen einer historisch universellen jüdischen Gemeindeorganisation zum Trotz – zeigt sich Konfessionen übergreifend, so auch in der rechtlich-administrativen Zusammensetzung der heutigen, in ihrem Wesen allerdings ebenfalls pluralistischen islamischen „Gemeinschaft“ Österreichs in einem einzigen öffentlich-rechtlichen Dachverband, der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich.61 Die Kultusgemeinde ist somit weniger als althergebrachte, aus dem Talmud abgeleitete, spezifisch „jüdische“ Institution aufzufassen, als eine dezidiert moderne österreichische „Regierungsbehörde“: eine „staatlich sanktionierte Repräsentativkörperschaft für jüdische Belange“.62 Wie der Historiker Walter Weitzmann in einer der wenigen kritischen Analysen zum Wesen der Kultusgemeinde als „Verwaltungsmaschinerie“ zusammenfasste, führte ihre Organisationsstruktur zu einer „patriarchalischen Herrschaft“ einer kleinen Gruppe von reichen, privilegierten Männern, keineswegs bloß religiöser, sondern durchaus weltlicher Prägung.63 Wie der Schriftsteller und Historiker Doron Rabinovici bemerkte, deutet gerade der Einheitscharakter der riesigen Kultusgemeinde vor der Shoah zugleich auf die verschwommene Definition der „Jüdischkeit“: Mitglied in der Kultusgemeinde zu sein, „setzte also bloß irgendein Bekenntnis zur jüdischen Gemeinschaft voraus, so unterschiedlich es auch sein mochte“.64 Hierin zeigt sich wieder das Kaleidoskopartige der Wiener jüdischen Gemeinschaft, in der alle nach Selbstverständnis „jüdisch“ waren, die Auffassung der „Jüdischkeit“ jedoch enorm variierte. Wie der in Wien geborene und den Nationalsozialismus in der Emigration überlebende Literaturwissenschaftler Richard Thieberger Jahrzehnte nach der Shoah festhielt, wurde vor 1938 offiziell und einfach „als Jude jeder betrachtet – und registriert –, der die 60 Vgl. Budischowsky, Jens: Die staatskirchlichenrechtliche Stellung der österreichischen Israeliten, Wien 1993, Dissertation sowie Meyer, Michael: Antwort auf die Moderne. Geschichte der Reformbewegung im Judentum, Wien 2010, insb. S. 279. 61 Vgl. Fillafer, Franz: Österreichislam, in: Feichtinger, Johannes/Uhl, Heidemarie (Hg.): Habsburg neu denken. Vielfalt und Ambivalenz in Zentraleuropa – 30 kulturwissenschaftliche Stichworte, Wien 2016. 62 Rechter, David: The Jews of Vienna and the First World War, London 2001, S. 36. 63 Weitzmann, Walter: Politik der jüdischen Gemeinde Wiens zwischen 1890 und 1914, in: Botz, Gerhard/Oxaal, Ivar/Pollak, Michael (Hg.): Eine zerstörte Kultur. Jüdisches Leben und Antisemitismus in Wien seit dem 19. Jahrhundert, Buchloe 1990, S. 212. 64 Rabinovici, Doron: Auf der Suche nach dem Ausweg. Die jüdischen Fraktionen in Wien vor 1938, in: Riedl, Joachim (Hg.): Wien, Stadt der Juden. Die Welt der Tante Jolesch, Wien 2004, S. 44.
Gemeinschaft und Gemeinde, Judentum und Judenheit
Kultussteuer entrichtete“. Mitgliedschaft in der Kultusgemeinde alleine sagte nichts über Religiosität, Weltanschauung und Lebensstil oder sonst über die „Jüdischkeit“ der einzelnen Mitglieder aus – außer, dass sie eben wie auch immer verstanden „jüdisch“ waren. „Auch die nichtorthodoxen Juden wurden am jüdischen Friedhof bestattet“, führte Thieberger bezeichnenderweise aus. „Das war beispielsweise 1931 bei Arthur Schnitzler der Fall, dessen Familie ein Ehrengrab der Stadt Wien ablehnte.“65 Ein zu enger Fokus auf die Kultusgemeinde bzw. ihre Quellen, wie oft in der Historiographie aufzufinden ist, führt dem Historiker Steven Beller zufolge zu einem engen „judeozentrischen Blick“, der das Gesamtbild der Geschichte der jüdischen Bevölkerung verzerrt, insbesondere ihre intersektionale Verflechtung mit der Gesamtgesellschaft. Schließlich fand der „Großteil“ dieser Geschichte „außerhalb des offiziellen Rahmens der Gemeinde und den verbundenen jüdischen Institutionen statt“.66 Ein anderer Bezugsrahmen, wie etwa der Politikwissenschaftler Jack Jacobs in Hinsicht auf die sozialistischen Bundisten in der Zwischenkriegszeit zeigte, eröffnet einen völlig neuen Aspekt der „jüdischen“ Geschichte Wiens, die aus der Perspektive der formellen Gemeindeorganisation völlig ausgeblendet blieb. Wie Jacobs schloss, bildet die formelle Gemeindegeschichte zweifellos „einen Schlüsselaspekt der jüdischen Erfahrung“, doch bedarf es eines viel breiteren Blicks und der Inklusion andersartiger, subversiver wie auch losgelöster Milieus, um die „jüdische“ Geschichte in ihrer Gesamtheit zu begreifen.67 In dieser Hinsicht ist die Unterscheidung des Historikers David Hollinger zwischen „communalist“ (grob gesagt gemeinschaftsorientierten) und „dispersionist“ (grob gesagt zerstreuten) Perspektiven durchaus ertragreich: Die erste Kategorie umfasst jene, die sich stärker an explizit jüdischen Institutionen orientierten, die zweite jene Individuen, die sich im Selbstverständnis als jüdisch auffassten bzw. in kritischen Momenten von außen zu „Jüdinnen“ und „Juden“ gemacht wurden, jedoch möglicherweise wenig oder gar nichts mit formalen jüdischen Gemeindeorganisationen zu tun hatten.68 Eine Gesamtansicht der „jüdischen Geschichte“ 65 Thieberger, Richard: Die assimilierte jüdische Jugend im Wiener Kulturleben um 1930, in: Botz, Gerhard/Oxaal, Ivar/Pollak, Michael (Hg.): Eine zerstörte Kultur. Jüdisches Leben und Antisemitismus in Wien seit dem 19. Jahrhundert, Buchloe 1990, S. 272–273. 66 Beller, Steven: Knowing Your Elephant. Why Jewish Studies Is Not the Same as Judaistik, and Why That Is a Good Thing, in: Hödl, Klaus (Hg.): Jüdische Studien. Reflexionen zu Theorie und Praxis eines wissenschaftlichen Feldes, Innsbruck 2003, S. 18–19. 67 Jacobs, Jack: Written out of History. Bundism in Vienna and the Varieties of Jewish Experience in the Austrian First Republic, in: Brenner, Michael/Penslar, Derek (Hg.): In Search of Jewish Community. Jewish Identities in Germany and Austria 1918–1933, Bloomington 1998, insb. S. 115. 68 Hollinger, David: Communalist and Dispersionist Approaches to American Jewish History in an Increasingly Post-Jewish Era, in: American Jewish History 95/1 (März 2009), insb. S. 4.
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bedarf also der Integration beider Perspektivebenen: die zentralisierte, gemeinschaftsorientierte und die zerstreute, individualistische. Diese weit auseinandergehenden Perspektiven finden sich nirgends so vereint wie im jüdischen Friedhof. Mit Ausnahme jener, die der Vertreibung oder Ermordung zum Opfer fielen, so jüngst und in beispiellosem Ausmaß während der Shoah, wurden nahezu alle Menschen in der Wiener Geschichte, die sich als jüdisch verstanden bzw. von ihren Angehörigen als jüdisch definiert wurden, in den Wiener jüdischen Friedhöfen bestattet. Wiederum sagt die Bestattung in einem jüdischen Friedhof an sich rein gar nichts über die Form oder das Ausmaß der individuellen Jüdischkeit, außer, dass die Bestatteten eben jüdisch waren. Keine anderen Orte zeigen somit die gesamte Bandbreite der jüdischen Geschichte der Stadt sowie ihre Einbettung im spezifischen Kontext der Wiener und österreichischen Geschichte auf, wie es diese Orte tun. Die Geschichte der jüdischen Friedhöfe in Wien ist aber zugleich unausweichlich eng mit der Geschichte der jüdischen Gemeindeorganisation verwoben, seit dem 19. Jahrhundert spezifisch mit der Kultusgemeinde. So sehr die Gemeindeorganisation mit der Gemeinschaft nicht gleichzustellen ist, so spielte sie zugleich eine Schlüsselrolle in der Definition der Grenzen der gemeinschaftlichen Zugehörigkeit, ob von innen errichtet oder von außen auferlegt. Dies zeigte sich in der Wiener jüdischen Sepulkralgeschichte an kritischen Momenten wie unter dem Nationalsozialismus, als die Kultusgemeinde gezwungen wurde, als Verwaltungsapparat über alle jene WienerInnen zu fungieren, die den Nürnberger Gesetzen zufolge als „jüdisch“ definiert wurden, so auch tausende ChristInnen, von denen wiederum mehrere hundert im jüdischen Friedhof bestattet werden mussten. Umgekehrt zeigte sich dieser Mechanismus in der Nachkriegszeit, als die Kultusgemeinde reaktiv eine strenge, orthodox-religiöse Definition der jüdischen Zugehörigkeit durchsetzte, die dazu führte, dass Menschen, die nach ihrem Selbstverständnis jüdisch waren bzw. früher als „jüdisch“ verfolgt wurden, nun vom jüdischen Friedhof, und so demonstrativ von der jüdischen Gemeinschaft, ausgeschlossen wurden. In diesem Spannungsverhältnis zwischen individueller und kollektiver, erkorener und auferlegter Identifikation muss sich die Analyse der jüdischen Friedhöfe zurechtfinden, wenn sie ein getreues Bild der diversen dort dokumentierten jüdischen Geschichtsebenen aufzuzeigen versucht. Abschließend sei noch ein Wort über die religiöse Deutungshoheit der Kultusgemeinde als jüdische Repräsentativkörperschaft sowie spezifisch über ihr Rabbinat festgehalten. Friedhöfe zählen in allen Glaubensgemeinschaften zu den wichtigsten sakralen Räumen für die Ausübung der religiösen Riten rund um die Bestattung und die Trauer. Weder die emotionale Schwerkraft dieser Religionsausübung noch die allgemeine Religionsfreiheit wird im vorliegenden Werk infrage gestellt. Doch obliegt es nicht der laizistischen Wissenschaft, die
Zur Auslegung und Struktur des vorliegenden Werks
zum Teil anachronistischen oder sogar kontrafaktischen Auffassungen gegenwärtiger Religionsgemeinschaften über die Sepulkralgeschichte, -kultur und -praktiken zu untermauern oder einer gegenwärtigen identitätsstiftenden Vorstellung der eigenen „Tradition“ den Rücken zu stärken: im Gegenteil. Auch diese vielfach „erfundene Tradition“ muss Gegenstand einer kritischen Auseinandersetzung sein, dessen Ziel es ist, eine tiefere Einsicht in die jüdische Sepulkralkultur in all ihren historischen und kontextuellen Facetten zu ermöglichen. Somit sei meine teilweise kritische Auseinandersetzung insbesondere mit den Vergangenheits- und Traditionsdiskursen der gegenwärtigen Israelitischen Kultusgemeinde als jüdischem Dachverband in Österreich konstruktiv aufgefasst. 1.4
Zur Auslegung und Struktur des vorliegenden Werks
Dieses Werk befasst sich mit den vier erhaltenen historischen jüdischen Friedhöfen in Wien, die in Folge kurz vorgestellt werden. Der Friedhof in der Seegasse, im 9. Bezirk Alsergrund, ist der älteste erhaltene Friedhof Wiens und befindet sich heute im Hinterhof eines städtischen Altersheims. Er wurde vermutlich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts angelegt und bis zu seiner Stilllegung 1783 durch die Josephinischen Friedhofsreformen belegt. Dieser Friedhof, der ohnehin über die Jahrhunderte durch Kriege und Naturkatastrophen wiederholt in Mitleidenschaft gezogen wurde, wurde während der Shoah schwer geschändet. Fast alle Grabsteine wurden verschleppt oder versteckt, und ein Großteil gilt als verschollen. Seit den 1980er-Jahren werden die Grabsteine laufend instand gesetzt bzw. rekonstruiert, und es steht bis dato etwa ein Viertel der ca. 1.000 am Anfang des 20. Jahrhunderts erhaltenen Grabsteine wieder vor Ort. In den Mauernischen am westlichen und nördlichen Rande des Friedhofs sind auch mehrere dutzend Grabsteine bzw. Steinfragmente befestigt, die aus einem älteren, 1421 im Zuge eines großen Pogroms, der „Wiener Gesera“, zerstörten jüdischen Friedhof stammen, der sich außerhalb der mittelalterlichen Stadtmauern vor dem Kärntnertor befand. Inklusive dieser Grabsteine, von denen der älteste mit Sicherheit datierbare aus dem Jahre 1247 stammt, dokumentieren die Grabsteine in der Seegasse sowie die schriftlich erhaltenen Inschriften seiner zerstörten Grabsteine eine über 500 Jahre lange Chronik der Wiener jüdischen Geschichte. Der Währinger Friedhof, der heute an der Grenze des 18. Bezirks Währing und des 19. Bezirks Döbling liegt, wurde nach der Schließung des Friedhofs in der Seegasse 1784 eröffnet und, mit Ausnahme einiger späteren Beisetzungen, bis 1879 belegt. Auch dieser Friedhof wurde während der Shoah schwer geschändet, ein Teil des Areals wurde vollkommen vernichtet, mehrere hun-
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Jüdische Räume, jüdische Kulturen
dert der etwa 8.000 erhaltenen Grabstätten wurden für die rassistische NSForschung exhumiert und tausende Grabdenkmäler sind seither stark, zum Teil unwiederbringlich verfallen. Der Friedhof wurde bis heute nicht umfassend instand gesetzt und bildet inzwischen einen der umstrittensten jüdischen Erinnerungsorte der Zweiten Republik. Aufgrund seiner argen Verwahrlosung ist der Friedhof derzeit außerhalb von offiziellen Führungen für die Öffentlichkeit geschlossen. Die alte jüdische Abteilung beim I. Tor des Zentralfriedhofs im 11. Bezirk Simmering wurde 1879 angelegt und diente bis zur Eröffnung der neuen jüdischen Abteilung als einziger Bestattungsraum der Kultusgemeinde. Dieser Friedhof überdauerte die Shoah fast durch Zufall, da die NS-Herrschaft endete, bevor die gesetzliche Frist zur Auflassung dieses „arisierten“ Bestattungsraums ablief. Doch auch dieser Friedhof wurde durch Schändungen sowie durch Kriegshandlungen schwer in Mitleidenschaft gezogen. Er wird seit den 1990erJahren laufend instand gesetzt und ist heute frei zugänglich und relativ gut erhalten. Mit über 52.000 Grabstätten, in denen weit über 100.000 Menschen bestattet liegen, bildet er den zahlenmäßig größten jüdischen Friedhof Österreichs. Es finden hier bis heute einzelne Bestattungen sowie Beisetzungen in bestehende Grabstätten statt. Der Friedhof beim IV. Tor des Zentralfriedhofs ist der jüngste und am wenigsten erforschte jüdische Friedhof Wiens. Er dient seit seiner Eröffnung als Hauptbestattungsraum der Kultusgemeinde. Flächenmäßig der größte jüdische Friedhof Österreichs, gilt er aufgrund seiner einzigartigen Geschichte während der Shoah und in deren Folge als einer der wichtigsten und vielschichtigsten jüdischen Erinnerungsorte der Zweiten Republik. Obwohl er an den Zentralfriedhof grenzt und, wie aus seinem beiläufigen Namen hervorgeht, dem allgemeinen Bestattungsraum zugeordnet wird, bildet er seit seiner Errichtung das alleinige Eigentum der Kultusgemeinde und ist nur separat durch das IV. Tor zugänglich. In diesem Werk nicht behandelt wird der jüdische Friedhof im 21. Bezirk Floridsdorf. Dieser steht zwar heute im politischen Sprengel der Stadt Wien und im Eigentum der Wiener Kultusgemeinde, wurde allerdings 1880 von der unabhängigen Kultusgemeinde der damals eigenständigen niederösterreichischen Gemeinde Floridsdorf angelegt und erst 1904 der Wiener Kultusgemeinde einverleibt, wonach hier nur mehr Beisetzungen in bestehenden Grabstätten stattfanden. Somit hat dieser Friedhof seine eigene, separate Entwicklungsgeschichte. Aus dem gleichen Grund sind etliche Friedhöfe sowie als Denkmäler erhaltene Massengräber in Niederösterreich und dem Burgenland, die infolge der Shoah im Eigentum der Wiener Kultusgemeinde stehen, nicht unmittelbare Forschungsgegenstände dieser Studie. Da aber alle diese Grabstätten auch einen wichtigen Teil der Wiener jüdischen Sepulkralgeschichte während der Shoah
Zur Auslegung und Struktur des vorliegenden Werks
und in der Nachkriegszeigt bilden, werden sie an relevanten Stellen mit in die Betrachtung einbezogen. Im Kontext eines wachsenden öffentlichen Interesses an jüdischen Friedhöfen nach der Jahrtausendwende versuchte die Historikerin Tina Walzer, eine Statistik nicht nur aller erhaltenen jüdischen Friedhöfe in Österreich, sondern auch „jüdischer Gräber im Verband kommunaler oder nichtjüdischer konfessioneller Friedhöfe“ zu erstellen. Hier ergibt sich allerdings das Problem, wie eine Grabstätte als „jüdisch“ zu identifizieren ist, wenn sie nicht in einem eindeutigen jüdischen Friedhof liegt. Gilt das Grab des 1911 verstorbenen Komponisten Gustav Mahler im überkonfessionellen Grinzinger Friedhof im 19. Bezirk (Grabstelle 6-7-1) als „jüdisches Grab“? Mahler ließ sich katholisch taufen, behielt aber eine Art jüdisches Selbstbewusstsein bei. Die Grabstätte entspricht wiederum in ihrem Wesen keinesfalls den religiösen Vorstellungen eines jüdischen Begräbnisses und ist auch auf keine Weise als „jüdisch“ (übrigens auch nicht „christlich“) gekennzeichnet. Wie verhält es sich ferner bei der Grabstätte von jemandem wie dem 2015 verstorbenen Maler Ernst Fuchs im überkonfessionellen Hütteldorfer Friedhof im 14. Bezirk (1-G34)? Seine Vorfahren väterlicherseits waren jüdisch, Fuchs war katholisch getauft und wurde während der NS-Herrschaft als „Mischling“ verfolgt. Seine Kunst setzte sich augenscheinlich sowohl mit jüdischen wie christlichen Bildsprachen auseinander. Kann seine Grabstätte, die keinerlei religiöse Merkmale aufweist, als „jüdisch“ oder „nichtjüdisch“ eingestuft werden? Walzer bezifferte die Zahl der jüdischen Friedhöfe in Wien auf sechs: Neben den vier genannten historischen Friedhöfen und dem Floridsdorfer Friedhof bezog sie hier auch die sogenannte „Israelitische Abteilung“ im überkonfessionellen Döblinger Friedhof im 19. Bezirk mit ein.69 Die Historikerin Martha Keil fasste treffend zusammen, dass dieser Teil am östlichen Ende des Döblinger Friedhofs „kein[en] jüdische[n] Friedhof im Besitz der Kultusgemeinde“ darstellt und weder durch eine Mauer oder eine Hecke abgegrenzt ist, dass es dort sowohl Grabstätten nichtjüdischer Familien wie Grabstätten jüdischer Familien in anderen Abteilungen gibt und dass die Grabstätten nicht auf Dauer angelegt wurden.70 Nach jeder Definition von „jüdischen“ Grabstätten stellt dies demnach keinen „jüdischen“ Friedhof dar und wird somit ebenfalls als solcher im vorliegenden Werk ausgeschlossen. Er wird allerdings an Stellen mit einbezogen, wo er für die Wiener jüdische Sepulkralgeschichte relevant ist. 69 Walzer, Tina: Jüdische Friedhöfe in Europa und den europäischen Ländern. Grundstruktur, Rahmenbedingungen, Zustandsbilder, in: Theune, Claudia/Walzer, Tina (Hg.): Jüdische Friedhöfe. Kultstätte, Erinnerungsort, Denkmal, Wien 2011, S. 9, 13. 70 Keil, Martha: Jüdische Friedhöfe in den Außenbezirken, in: Keil, Martha/Forisch, Elke/Scheiber, Ernst (Hg.): Denkmale. Jüdische Friedhöfe in Wien, Niederösterreich und Burgenland, Wien 2006, S. 60.
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Es wurde bis heute kein Versuch vorgenommen, eine integrierte Geschichte der jüdischen Friedhöfe in Wien zu präsentieren. Jedoch wurden in einigen Werken verschiedene Aspekte der Geschichte der einzelnen Friedhöfe aufbereitet, insbesondere in den Monographien von Patricia Steines, Traude Veran und Tina Walzer jeweils zu den jüdischen Abteilungen des Zentralfriedhofs, dem Friedhof in der Seegasse und dem Währinger Friedhof.71 Diese stellen wichtige Vorarbeiten dar und bieten zudem recht unterschiedliche Herangehensweisen zur jüdischen Sepulkralgeschichte und ihrer Präsentation in der Historiographie, auf die sich alle nachfolgenden Forschungen stützen, so auch das vorliegende Werk. Diese Vorstudien haben die Tür zur Erforschung der Wiener jüdischen Friedhöfe geöffnet, diese Forschung steht aber erst am Anfang. Wir haben bis dato nur ein recht oberflächliches Verständnis der jüdischen Friedhöfe in Wien als materielle historische, kulturelle und erinnerungsträchtige Räume in der gegenwärtigen Stadttopographie. Samt ihren über hunderttausend Grabdenkmälern und Inschriften und in Kombination mit einem Berg an Akten- und Schriftstücken, die über mehrere Kontinente zerstreut sind, bieten die Friedhöfe ein enormes, bis heute aber weitgehend unerschlossenes Erkenntnispotenzial nicht nur für die allgemeine jüdische Sepulkralgeschichte, sondern auch für die ansonsten ausgiebig erforschte Geschichte der Jüdinnen und Juden in Wien. Zudem konzentrierte sich ein Großteil der bisherigen Forschung zu den Wiener jüdischen Friedhöfen auf die Zerstörungen unter dem Nationalsozialismus und deren Nachgeschichte, was das allgemeine Geschichtsbild weitgehend geprägt, mitunter aber auch verzerrt hat. Eine eingehende, vergleichende Analyse der erhaltenen Grabdenkmäler und ihrer Inschriften – ein enormer Quellenkorpus mit unglaublichem sozio- und kulturhistorischem Erkenntniswert – und ihre Analyse anhand von Zugängen aus verschiedenen kritischen Forschungsfeldern wie der Kulturwissenschaft, der Diskursanalyse, der Raumanalyse oder etwa der memory studies, wurde bis dato nicht einmal ansatzweise vorgenommen. Dieses ambitionierte Vorgehen hat sich das vorliegende Werk zum Ziel gemacht.72 71 Steines: Hunderttausend Steine; Veran, Traude: Das Steinerne Archiv. Der Wiener jüdische Friedhof in der Rossau, Wien 2002 und Walzer, Tina: Der jüdische Friedhof Währing in Wien. Historische Entwicklung, Zerstörungen der NS-Zeit, Status Quo, Wien 2011. 72 Dabei stützt es sich auf einige hochqualitative Fallstudien von jüdischen Friedhöfen bzw. ihren Grabdenkmälern und Grabinschriften in anderen historischen Kontexten, so z. B. über den alten Friedhof in Prag von Greenblatt, Rachel: The Shapes of Memory. Evidence in Stone from the Old Jewish Cemetery in Prague, in: Leo Baeck Institute Year Book 47 (2002); über den Trumpeldor Friedhof in Tel Aviv von Mann, Barbara: Modernism and the Zionist Uncanny. Reading the Old Cemetery in Tel Aviv, in: Representations 69, Special Issue: Grounds for Remembering (Winter, 2000); über den Friedhof in Wolschan/Olšany in Prag von Niedhammer: Nur eine „Geld-Emancipation“, ab S. 235 sowie am ausführlichsten die Doppelmonographie zu den Friedhöfen in der Großen Hamburger Straße und der Schönhauser Allee in Berlin
Zur Auslegung und Struktur des vorliegenden Werks
Zugleich ist dies aber betont keine „Gesamtgeschichte“. Trotz des Umfangs dieses Werks wird hier nicht das gesamte Konvolut an relevanten Quellen zu den jüdischen Friedhöfen mit einbezogen, noch wird jeder mögliche Themenkreis erschöpft. Obwohl für diese Arbeit tausende Grabdenkmäler bzw. Inschriften dokumentiert, recherchiert und analysiert wurden, bilden diese dennoch einen bloßen Bruchteil der sepulkralen Überlieferung in den Friedhöfen und somit eine eher qualitative Illustration der Komplexität und allgemeinen Entwicklung der Wiener jüdischen Sepulkralkultur als eine quantitative, statistische Studie gewisser Aspekte der Sepulkralepigraphik. Eine umfassende Dokumentation bzw. eine statistische Quantifizierung der gesamten Sepulkralepigraphik hätte ein eigenes Erkenntnispotenzial, würde aber ganz andere Kompetenzen, Ausstattungen und nicht zuletzt Fragestellungen verlangen, als hier gegeben oder erwünscht waren.73 Zu den qualitativen Forschungsbereichen, die hier nicht in Angriff genommen wurden, zählt beispielhaft die Gesteinskunde (etwa die Herkunft, Anschaffung und Bearbeitung der Denkmäler sowie insbesondere infolge der Shoah die technischen Fragen zu ihrer Instandsetzung bzw. Rekonstruktion) oder damit verbunden die Geschichte der Steinmetze und Grabmalarchitekten. Zu diesem Themenkreis, also die eigentliche Entstehungsgeschichte der Grabdenkmäler als materielles Erbe, gibt es aber wohlgemerkt so gut wie gar keine erhaltenen Quellen. Das vorhandene Quellenmaterial für die Erforschung von Friedhöfen und Grabstätten ist äußerst vielfältig und benötigt somit eine eklektische Methodologie, während der lange Untersuchungszeitraum in diesem Werk eine Auseinandersetzung mit sehr unterschiedlichen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten voraussetzt. Deswegen beginnt jedes Kapitel mit einer umfassenden Einleitung, die den jeweiligen Kontext samt den relevanten theoretischen und methodologischen Herangehensweisen auslegt. Einer der wichtigsten und neuartigsten Zugänge des vorliegenden Werks ist seine Befassung mit der langfristigen Entwicklungsgeschichte von jüdischen Friedhöfen als urbane Räume, mit Grabdenkmälern als materielle Artefakte und mit Grabinschriften als (inter-)textuellen Korpus. Auf diesen Zugang sowie auf die komplexe Verflechtung der jüdischen Sepulkralkultur mit der Entwicklungsgeschichte der europäischen Sepulkralkultur wird gesondert in Kapitel 2 eingegangen. Von den ältesten archäologischen wie mythischen Ursprüngen der jüdischen Sepulkralkultur im antiken Israel ausgehend, zeigt dieses Kapitel auf, wie der von Hüttenmeister, Nathanja/Müller, Christiane: Umstrittene Räume. Jüdische Friedhöfe in Berlin, Berlin 2005. 73 Ein solcher bietet etwa die Datenbank „epidat“ des Salomon Ludwig Steinheim-Instituts für deutsch-jüdische Geschichte, die aber auch nur derzeit ca. 36.000 Inschriften auf mehrere Länder zerstreut erfasst, somit nur etwa ein Drittel der erhaltenen Inschriften alleine aus Wien. http://www.steinheim-institut.de/cgi-bin/epidat, letzter Zugriff: 31. August 2020.
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„jüdische Friedhof “ im Wesentlichen eine Erscheinung des mittelalterlichen Europas ist, der sich parallel und zugleich in stetigem kulturellem Kontrast zu seinem christlichen Pendant entwickelte. In Kapitel 3 wird die Entstehung und Entwicklung des Friedhofs in der Seegasse bis zu seiner Schließung 1783 durch die Josephinischen Reformen untersucht. Durch Einbeziehung der an diesem Friedhof aufgebrachten mittelalterlichen Grabsteine wird hier die Entwicklungsgeschichte der jüdischen Sepulkralepigraphik über einen fünfhundertjährigen Zeitraum aufgezeigt. Diese manifestierte sich ausschließlich in hebräischer Sprache – eine Neuerung des Mittelalters – und bildet ein komplexes intertextuelles Geflecht mit dem religiösen Schrifttum, wodurch ein Gemeinschaftssinn trotz mangelndem Zusammenhalt und einem Zugehörigkeitsgefühl zu einer idealisierten jüdischen Vergangenheit in wandelnder Kontinuität über die brüchige Realität jüdischen Lebens in diesen Epochen hinaus erzeugt wurde. Abschließend werden hier die erhaltenen zeitgenössischen christlichen Grabsteine aus dem Stephansfreithof in der Inneren Stadt zum Vergleich herangezogen, die die Ähnlichkeit der diskursiven Muster – so vordergründig die Religiosität, die ständische Gesellschaftsstruktur und die Unterordnung von Frauen im Erinnerungskanon – zwischen den verschiedenen Religionsgemeinschaften trotz ihrer vielen Unterschiede aufzeigen. In Kapitel 4 wird die Entstehung und Entwicklung des Währinger Friedhofs bis zu seiner Schließung im Jahre 1879 untersucht. Neben dem allmählichen Fallen der gesellschaftlichen Schranken und der langsamen Annäherung der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen in der Ära der „Toleranz“, die sich räumlich in der Anlegung nebeneinander der neuen konfessionellen Friedhöfe infolge der Josephinischen Reformen niederschlug, veranschaulicht die Sepulkralepigraphik dieses einschneidenden Jahrhunderts die zunehmende Trennung religiöser und bürgerlich-profaner Lebensbereiche mit Anbruch der Neuzeit. Emanzipation, Verbürgerlichung sowie der allmähliche Rückzug von Religiosität oder anderer Ausdrucksformen der „Jüdischkeit“ in einer abgesonderten, zunehmend privaten Sphäre standen dabei in direktem Kontrast zur zunehmenden Institutionalisierung und gesellschaftlichen Sichtbarkeit einer selbstsicheren jüdischen Gemeindeorganisation, der Israelitischen Kultusgemeinde. Abschließend werden die Parallelitäten sowie die Kontraste dieser Entwicklung durch einen Vergleich mit dem zeitgenössischen christlichen Friedhof in St. Marx auf der Landstraße aufgezeigt. In Kapitel 5 wird die Entstehung und Entwicklung der älteren jüdischen Abteilung beim I. Tor des Zentralfriedhofs bis zum Einschnitt des Ersten Weltkriegs untersucht. An diesem Friedhof ist die Wiener jüdische Gemeinschaft zu ihrem historischen Höhepunkt und in ihrer kulturellen Blütezeit in all ihrer Vielfalt dokumentiert. Der Friedhof beim I. Tor bildet den größten und vielfäl-
Zur Auslegung und Struktur des vorliegenden Werks
tigsten aber gleichzeitig einen zutiefst einheitlichen Erinnerungsort der kaleidoskopisch fragmentierten jüdischen Gemeinschaft in den kulturell beispiellos fruchtbaren, aber überaus konfliktreichen letzten Jahrzehnten der Habsburgermonarchie. Gegen Ende des Kapitels wird der zeitgenössische, überkonfessionelle Döblinger Friedhof zum Vergleich herangezogen, der die Verflechtung insbesondere des großbürgerlichen, kulturschaffenden Milieus der Haupt- und Residenzstadt Wien jenseits von Kategorien wie „jüdisch“ und „nichtjüdisch“ veranschaulicht. Zum Schluss wird der jüngste Teil des Friedhofs beim I. Tor, die Soldatenabteilung in der Gruppe 76B, als mikrokosmischer Erinnerungsort an die jüdische Erfahrung des Ersten Weltkriegs untersucht. In Kapitel 6 wird die Entstehung und Entwicklung des jüngsten jüdischen Friedhof Wiens beim IV. Tor des Zentralfriedhofs in der kurzen, aber ereignisreichen Phase zwischen dem Zerfall der Monarchie und dem „Anschluß“ untersucht. Geprägt war dieser Friedhof zuerst von einer Gemeinde, die wenige Jahre später fast zur Gänze vertrieben oder vernichtet sein würde, die vorerst aber noch damit beschäftigt war, sich mit einem erschütternden Weltkrieg auseinanderzusetzen, sich in einer neuen Republik zurechtzufinden und den kolossalen wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen der neuen Ära entgegenzutreten. Über die Zäsur der Shoah hinweg zeigt dieser Raum und die sich darin entfaltende Sepulkralkultur eindringlich, dass die Spannungen und Konflikte rund um die Zugehörigkeit zum „jüdischen“ Kollektiv, die nach 1945 so prägend werden sollte, vorrangig die stetige „Orthodoxisierung“ der jüdischen Sepulkralkultur als Ausdruck eines zunehmend partikularistischen Selbstverständnisses seitens der formalen jüdischen Gemeindestrukturen, ihren Ausgang bereits in der Zwischenkriegszeit hatte. Zum Schluss des Kapitels wird die weitere Entwicklungsgeschichte des älteren Friedhofs beim I. Tor, inklusive der sich insbesondere unter dem „Austrofaschismus“ ausbreitenden Gedenkkultur zum Ersten Weltkrieg, zum Vergleich herangezogen, die im Kontrast zur weitgehend „orthodoxisierten“ Sepulkralkultur beim IV. Tor eine markante Kontinuität der k.u.k. Ära aufweist. In Kapitel 7 werden Initiativen zur Wertung, Bewahrung bzw. Vernichtung der vier jüdischen Friedhöfe in Wien im Kontext des allgemeinen wissenschaftlichen und stadttopographischen Umgangs mit historischen Bestattungsräumen ab dem 19. Jahrhundert untersucht. Dabei wird die rege und durchaus positive Auseinandersetzung mit der jüdischen Sepulkralgeschichte nicht nur seitens jüdischer AkteurInnen, sondern auch der nichtjüdischen Wissenschaft, Kunst und der breiteren Öffentlichkeit von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum „Anschluß“ aufgezeigt, die nach der Shoah weitgehend in Vergessenheit geriet. So befanden sich die jüdischen Friedhöfe in einem breiteren Beziehungsgeflecht der erhaltenden Impulse in der modernen Denkmalpflege im Gegensatz zu den zerstörerischen Impulsen der modernen Stadtplanung. Vor diesem Hin-
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tergrund wird die Geschichte der „Arisierung“, Schändung und versuchten Vernichtung der jüdischen Friedhöfe unter dem Nationalsozialismus untersucht, woraus deutliche und überraschende Kontinuitäten weit über dieses Zeitfenster hinaus bis auf die k.u.k. Ära zurück und bis in den heutigen Tag nach vorne reichen. In Kapitel 8 wird die Erfahrung der Wiener jüdischen Gemeinschaft während der Shoah im Kontext des Friedhofs beim IV. Tor aufgezeigt, der als einziger jüdische Bestattungsraum nicht zur Gänze „arisiert“ wurde und sich in den frühen 1940er-Jahren zu einem der wichtigsten jüdischen Gemeinschaftsräume der kleinen, in der Stadt überlebenden Gemeinschaft entwickelte. Einerseits wird hier die Auswirkung diverser Schikanen des NS-Regimes behandelt, wie die Bestattung von aus verschiedenen Konzentrationslagern versandten Ascheurnen und von Verstorbenen, die bloß nach den Nürnberger Gesetzen als „Jüdinnen“ und „Juden“ galten, sowie gegen Kriegsende die Anlage von Massengräbern von zumeist jüdisch-ungarischen ZwangsarbeiterInnen. Diese Aspekte der Verfolgung verstärkten deutlich den Schub in Richtung einer „Orthodoxisierung“ der jüdischen Sepulkralkultur, der in der Zwischenkriegszeit begann und in der Nachkriegszeit fortgeführt wurde. Andererseits wird hier die Umdeutung des Friedhofs als Stätte des Todes in ein wenigstens vorübergehendes „Haus des Lebens“ nachvollzogen, anhand einer Reihe von ergreifenden Egodokumenten wie Tagebüchern, Memoiren und Photographien, die das tagtägliche Leben der kleinen Restgemeinde dokumentieren, denen der Friedhof zur Arbeitsstätte, zum Entspannungsort, mitunter auch zum lebensrettenden Versteck wurde. Gegen Ende des Kapitels wird die ausgedehnte belletristische Auseinandersetzung mit dem jüdischen Friedhof untersucht – ob in Bezug auf den spezifischen Friedhof beim IV. Tor oder auf einen abstrahierten Idealtypus des „jüdischen Friedhofs“ –, der einen tiefgreifenden Gesinnungswandel zum Wesen der Jüdischkeit und der Zugehörigkeit zur jüdischen Glaubens- und Schicksalsgemeinschaft infolge des Genozids veranschaulicht. In Kapitel 9 wird die weitere Entwicklungsgeschichte des Friedhofs beim IV. Tor als Hauptbestattungsraum der neuetablierten Kultusgemeinde von 1945 bis in den heutigen Tag untersucht. Im Wesentlichen auf den „innerjüdischen“ Diskurs der Nachkriegszeit bezogen, zeigt diese Analyse die Konstruktion einer hegemonialen „jüdischen“ Kollektiverinnerung auf, die größtenteils von der Führungsschicht der Kultusgemeinde vorangetrieben wurde, die aber wiederholte Konflikte innerhalb der kleinen, jedoch nach wie vor vielfältigen jüdischen Gemeinschaft auslöste, wodurch ein diverses „gesammeltes“ Erinnerungsgeflecht entstand. Neben vielzähligen großen und kleinen offiziellen Denkmälern, die beim IV. Tor seitens der Kultusgemeinde in Erinnerung an die Shoah errichtet wurden und die mitunter das Spannungsgeflecht zwischen der jüdischen Gemeinschaft und der nichtjüdischen Mehrheit in Österreich reflektieren, zei-
Zur Auslegung und Struktur des vorliegenden Werks
gen sich die Bruchlinien in den innerjüdischen Diskursen der Nachkriegszeit ferner in der Sepulkralepigraphik der abertausenden Grabdenkmäler in diesem Friedhof. Somit wird dieser Friedhof hier als wichtigster, komplexester und mitunter umstrittenster jüdischer Erinnerungsort der Zweiten Republik hervorgehoben. In Kapitel 10 wird abschließend die Geschichte der jüdischen Friedhöfe im gesamtösterreichischen Kontext der Nachkriegszeit behandelt. Diese inzwischen multigenerationelle Geschichte ist von verschiedenen Phasen geprägt: von den anfänglichen Restitutionsverhandlungen der Kultusgemeinde mit der Stadt Wien und der Republik Österreich, die keineswegs immer zugunsten der Opfer der Shoah ausfielen, über jahrzehntelange, gezielte Verwahrlosung und zeitweilig weitere Schändung der jüdischen Friedhöfe seitens der nichtjüdischen Öffentlichkeit, bis zum tiefgreifenden Gesinnungswandel in der österreichischen Politik und Gesellschaft, der seit den 1980er-Jahren zu einer vermehrten positiven Auseinandersetzung mit diesen jüdischen Erinnerungsorten, so auch etlichen Provinzfriedhöfen und Massengräbern aus den „Endphaseverbrechen“, führte. Eine wahre Conclusio dieser sich bis heute fortentwickelnden Geschichte gibt es nicht; somit schließt das Werk mit einer Zusammenfassung der gegenwärtigen Sachlage und einem vorsichtigen Ausblick auf die Zukunft der Wiener jüdischen Friedhöfe. Eines soll dabei festgehalten werden: Bei der Geschichte der Wiener jüdischen Friedhöfe wie der Wiener jüdischen Geschichte überhaupt handelt es sich immer schon um eine „Wiener G’schicht“. Abschließend sollen noch ein paar Anmerkungen zur Erfassung historischer Personendaten und Grabstätten sowie zu einigen Begrifflichkeiten festgehalten werden. Es gibt heute mehrere verlässliche Datenbanken, die sich auf die historische jüdische Bevölkerung Wiens beziehen und somit für diese Forschung eine unentbehrliche Informationsquelle darstellten, insbesondere in Bezug auf die Identifizierung von ansonsten längst vergessenen Verstorbenen bzw. deren Grabstätten sowie bei der Feststellung des Schicksals von jüdischen WienerInnen während der Shoah. Da diese im vorliegenden Werk nicht gesondert zitiert werden, sollen sie hier kurz gesammelt vorgeführt werden. Die meisten jüdischen Grabstätten in Wien, mit Ausnahme jener im ältesten Friedhof in der Seegasse, deren Grabstellen nicht überliefert sind, sind in einer online zugänglichen Datenbank der Kultusgemeinde verzeichnet, die auch allfällige biographische Daten beinhaltet.74 Es sei festgehalten, dass hier aus Datenschutzgründen die Grabstellen ab 1945 nicht erfasst und manchmal fehlerhafte oder sich widersprechende Informationen geliefert werden. Trotzdem ist dies ein allgemein unentbehrliches Hilfsmittel zur Ermittlung von Grabstellen. Die Grabstellen in den allgemeinen Wiener Friedhöfen können in der Datenbank 74 Friedhofs-Datenbank, https://secure.ikg-wien.at/db/fh/, letzter Zugriff: 31. August 2020.
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der Friedhöfe Wien GmbH recherchiert werden.75 Allgemeine biographische Daten finden sich oft online auf genealogischen Foren, bei bekannteren Personen auch in der Online-Enzyklopädie der Stadt Wien sowie in gewöhnlichen Nachschlagewerken.76 Die umfassendste Datenbank der Wiener Opfer der Shoah bietet das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands.77 Auch lassen sich Opfer in bestimmten Kontexten in anderen Datenbanken finden, so beispielsweise die tausenden ÖsterreicherInnen, die im Konzentrationslager Theresienstadt inhaftiert waren und auf der tschechischen Datenbank der Opfer der Shoah verzeichnet sind.78 Aufgrund der außergewöhnlichen Länge dieses Manuskripts sowie der enormen Masse an Quellenhinweisen habe ich, wo immer möglich, versucht, mehrfache Zitate und Hinweise in einzelnen Fußnoten zu bündeln. Es folgen somit manchmal längere Diskussionen von einzelnen Quellen oder Schriftstücken, die erst zum Schluss gebündelt ausgewiesen werden. Dies mag viele LeserInnen irritieren, aber dadurch konnte der Text erheblich gestrafft und sauber präsentiert werden. Bei aufeinanderfolgenden Zitaten und Hinweisen werden die entsprechenden Seitenangaben der Reihenfolge nach zitiert, was die möglichst einfache Auffindung des entsprechenden Abschnitts ermöglichen soll. In diesem Werk wird durchgehend der während der NS-Zeit an den Judenheiten Europas verbrochene Genozid als Shoah bezeichnet, da im Kontext dieses Werks die jüdische Dimension des breiter gefassten „Holocaust“ maßgeblich ist und eine eigene Vor- und Nachgeschichte hat, als es bei anderen vom Holocaust betroffenen Personengruppen der Fall war. Es wird hier zudem semantisch unterschieden zwischen den nachweislich direkt „Ermordeten“, beispielsweise durch Giftgas oder Erschießungen, und den „Umgekommenen“, deren Todesumstände in vielen Fällen durch die schlechten Lebensbedingungen in den Konzentrationslagern und Ghettos bedingt waren bzw. nicht näher bekannt sind. Diese Unterscheidung dient lediglich der epistemologischen Genauigkeit und stellt keinerlei Wertung des Opfertums bzw. eine bestimmte Opferhierarchie dar. Alle Betroffenen, egal unter welchen Umständen sie zu Tode kamen, waren Opfer eines Genozids für den das NS-Regime, seine TäterInnen und KomplizInnen die Verantwortung tragen. Im vorliegenden Werk werden neben hunderten Verstorbenen in den Wiener jüdischen Friedhöfen auch des Öfteren Opfer der Shoah namentlich genannt, wodurch nicht zuletzt wenigstens einem Bruchteil der Opfer, von denen die allermeisten keine Grabstätte und 75 Verstorbenensuche, https://www.friedhoefewien.at, letzter Zugriff: 31. August 2020. 76 So etwa Geni, www.geni.com, und Wien Geschichte Wiki, www.geschichtewiki.wien.gv.at, letzter Zugriff: 31. August 2020. 77 Opfersuche, www.doew.at/personensuche, letzter Zugriff: 31. August 2020. 78 Opferdatenbank, https://www.holocaust.cz/, letzter Zugriff: 31. August 2020.
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kein Denkmal erhielten, stellvertretend ein schriftliches Erinnerungszeichen gesetzt werden soll. Überhaupt dient die Nennung unzähliger Verstorbener hier der Erinnerung an Menschen, von denen oftmals nur mehr eine Grabinschrift Zeugnis ablegt und die ansonsten längst aus dem Gedächtnis der Zeit verschwunden sind. Alle Verstorbenen, deren Grabstätten, Grabsteine oder Grabinschriften im vorliegenden Werk besprochen werden, sowie die genannten Wiener Opfer der Shoah, die nicht in Wien zur Bestattung gelangten, sind im Personenregister zur einfachen Auffindung eigens gekennzeichnet. Ich verweise hier bewusst auf problematische Bezeichnungen, so etwa das „Dritte Reich“, ein ausschließlich nationalsozialistisches Konzept, mit Anführungszeichen. Historische Begriffe wie den „Anschluß“ Österreichs 1938 vergegenwärtige ich nicht mit der neuen Rechtsschreibung. Auch setze ich Anführungszeichen ein, um auf umstrittene bzw. uneindeutige Sprachgebräuchlichkeiten aufmerksam zu machen, so beispielhaft oft in Bezug auf die „jüdische Tradition“. Dies mag für viele LeserInnen mühsam erscheinen, doch ist es das Ziel, dadurch auf die oft in der Historiographie mangelnd rezipierte Konstruiertheit und Anfechtbarkeit bestimmter tradierter Diskurse zu verweisen. Ich war in diesem Werk stets bemüht, gendergerecht zu schreiben, habe, wo immer möglich, geschlechtsneutrale Begriffe und ansonsten das Binnen-I angewandt. In Fällen, die sich nachweislich ausschließlich auf Männer oder Frauen beziehen, wird nur das Maskulinum oder Femininum verwendet. Ich benutze hier in Bezug auf die in den Friedhöfen Bestatteten oft den Vornamen, was in der modernen Historiographie ungewöhnlich erscheinen mag. Einerseits kamen Familiennamen, so gerade unter den Judenheiten Zentraleuropas, erst in der Neuzeit flächendeckend in Gebrauch, andererseits dient dies auch zur Unterscheidung zwischen verschiedenen Familienangehörigen mit dem gleichen Nachnamen, die hier oft gleichzeitig besprochen werden. Dies soll nicht als Verniedlichung der historischen Sujets verstanden werden. Zudem wurden vor dem 20. Jahrhundert Namen oft in verschiedenen Quellen auf verschiedene Weisen geschrieben. Ich richte mich durchgehend nach der entsprechenden Quelle, so insbesondere nach der Schreibweise in den Grabinschriften und erläutere entsprechend bei verwirrenden Fällen, so etwa bei unterschiedlichen gleichnamigen Personen. Alle Übersetzungen in diesem Werk, falls nicht anders angegeben, stammen von mir. In manchen Fällen zitiere ich Übersetzungen aus Drittsprachen ins Englische; in diesen Fällen stammt die Übersetzung ins Deutsche ebenfalls von mir. Einige hebräische Inschriften werden hier exemplarisch als Abbildungen präsentiert. Ansonsten habe ich hier aus satztechnischen Gründen auf hebräische Schriftzeichen verzichtet und hebräische Namen, Begriffe und Zitate transliteriert. Ich habe, so weit möglich, versucht, die Transliterationen des Hebräischen phonetisch auf die deutsche Aussprache auszurichten, habe aller-
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dings nicht deutsche Konventionen wie die Großschreibung von Substantiven (mit Ausnahme von Eigennamen) übernommen noch deutsche Schriftweisen wie „sch“, sondern „sh“ angewandt. Der Sinn war, dass auch LeserInnen, die keinerlei Kenntnis der hebräischen Sprache haben, möglichst einfach die vorgeführten Zitate und Begriffe lesen und sich aneignen können. Die Transliteration folgt grundsätzlich dem modernen Hebräischen, wobei bemerkt werden muss, dass die historischen Judenheiten Wiens diese Aussprache selbstverständlich nicht verwendeten. Die Transliteration ist daher zwar anachronistisch, somit aber vereinheitlicht, allgemein verständlich und neutral, zumal wir heute nicht mit Sicherheit feststellen können, wie bestimme Jüdinnen und Juden in unterschiedlichen Epochen das Hebräische aussprachen. Nicht zuletzt gibt es regionale wie kulturelle Unterschiede in der Aussprache, so am offensichtlichsten zwischen den aschkenasischen und sephardischen Judenheiten, und es ist überhaupt fraglich, welcher Anteil einer gewissen historischen Judenheit überhaupt Hebräisch lesen konnte. Bei biblischen Zitaten habe ich mich diverser deutschsprachiger Übersetzungen bedient, wobei ich stets bemüht war, die Zitate so eng wie möglich an das ursprüngliche Hebräische wiederzugeben. Dabei habe ich mir auch mitunter dichterische Freiheit erlaubt und einige Übersetzungen angepasst, um den wesentlichen Sinn aus dem Hebräischen zu vermitteln. Auf die Unterstützung, die ich über viele Jahre bei der Interpretation hebräischer Inschriften und ihrer Übersetzung erhielt, komme ich im Nachwort zu sprechen. Hier sei allerdings vorweg festgehalten, dass bestimmt einige Fehler bei der Übersetzung und Transliteration unbemerkt blieben. Hier bitte ich um Nachsicht, nicht zuletzt angesichts der weitgehenden Neuigkeit des Unterfangens, die hebräische Sepulkralepigraphik – eine zutiefst kontextspezifische, archaische, poetische und nicht zuletzt obskure Textgattung – überhaupt zu übersetzen und zu analysieren. In Bezug auf deutschsprachige Quellen soll hier schließlich festgehalten werden, dass ich durchgehend wortgetreu zitiert habe. In vielen Fällen werden somit archaische Schreibweisen auffallen, selbst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fällt zudem auf, dass bei maschinengeschriebenen Aktenstücken beispielsweise das „ß“ oder das „Ö“ fehlte und entsprechend mit „ss“ bzw. „Oe“ ersetzt wurde. Ich habe in allen solchen Fällen nicht eigens mit einem [sic] darauf verwiesen. In diesem Werk verwende ich grundsätzlich österreichisches Deutsch, wodurch ich betonen möchte, dass die Geschichte der Jüdinnen und Juden in Österreich eben auch österreichische Geschichte ist.
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Das „steinerne Archiv“. Zu den Ursprüngen des jüdischen Friedhofs und seiner Dokumentation
In seiner Autobiographie Durch die Welt nach Hause rief sich der 1924 in Wien als Fritz Mandelbaum geborene Schriftsteller Frederic Morton eine Kindheitserinnerung an den Wiener Zentralfriedhof wieder ins Gedächtnis. Jahrzehnte nach der Flucht seiner Familie vor dem Nationalsozialismus nach New York beschrieb Morton, wie entlang der Simmeringer Hauptstraße stadtauswärts „das opulente Wien von heute“ mit seinen Erinnerungen verschwamm „zu der nackten Armut, an die ich mich aus den Dreißiger Jahren erinnere“. Nach einiger Zeit „weichen die Häuserzeilen zurück und machen der endlos langen Mauer um den Zentralfriedhof Platz“. Morton scheute sich, als die Straßenbahn am IV. Tor vorbei klapperte – nicht etwa, weil sein „Gefühl der Sterblichkeit geweckt wurde“, das „nie ganz“ schlafe, sondern weil auf „der anderen Seite der Wand ein dunkler Grabstein dräut, dessen goldene Inschrift mit einem unheilvollen Satz endet. Damals im Wien des kleinen Fritz wurde er zu einem Familienskandal, durch den Streitigkeiten losbrachen, die nicht einmal ‚vor den Kindern‘ unterdrückt werden konnten“. Es handelte sich hier um den aus schwarzem Marmor gehauenen Grabstein seines Großvaters, Bernhard Mandelbaum, mit einer vergoldeten Inschrift, die mit den fünf Worten „ARBEIT WAR SEIN GANZES LEBEN“ endete. Diese „nicht genehmigte[n]“, diese „eingeschmuggelte[n] Wörter“ hatte der Steinmetz laut Morton „nach einem heimlichen Telefonanruf “ seiner (Stief-)Großmutter Henriette hinzugefügt. „Bei der Enthüllung“, so fuhr er fort, „schockierten diese Worte Papa beinahe so sehr wie der Unfall, durch den Großpapa getötet worden war, ärgerten ihn so, dass er von der Feier am Grab davonstürmte“. Diese fünf unverfänglich erscheinenden Worte waren den Eingeweihten der engeren Familie ein „schwefelspeiender Nachruf “ auf das Familienoberhaupt: „Hier liegt mein Mann“, zischte meine Großmutter mit jeder Silbe dieses Satzes, „ein Mann, der arbeitete, anstatt zu leben. Die Arbeit fraß seine Existenz, verschlang alle Liebe, Wärme, Freude, Muße, Leichtigkeit, alles was wir zusammen hätten genießen können …“ Der düstere Stein verströmt ihr Zischen gegen die Leiche darunter, so dass es hallt durch die Ewigkeit.
Dieses Zischen, so Mortons Vater, sei „unfair“ gewesen, geradezu „schrecklich“: Ohne zu arbeiten, wie hätte er denn so weit hinauf kommen können, wie hätte er so gut für uns sorgen können? Ein Schmiedelehrling, der aus Galizien nach Wien kam, eine Waise, ohne Beziehungen, ein Analphabet ohne Geld, wie hätte er denn Industrieller werden sollen, wenn nicht durch Arbeit? […] Ohne seine harte Arbeit würde ihn Groß-
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Das „steinerne Archiv“
mama nicht in Wohlstand überleben können, in einem Wohlstand, den sie dazu benutzt hat, ihre Verleumdungen mit der elegantesten goldenen Kalligraphie in den besten Marmor einmeißeln zu lassen!1
Diese Schilderung ist üblich und unüblich zugleich. Üblich ist, für die heutige Zeit zumindest, die Schilderung des außerhalb der Stadt gelegenen Friedhofs als die „andere Stadt“, die sowohl die Erinnerung an die Toten wie an vergangene Zeiten zurück ins Leben ruft, wie sie das sonst meist im Unterbewusstsein begrabene Bewusstsein der eigenen Vergänglichkeit der Lebenden ans Tageslicht bringt. Üblich mag auch die Inschrift erscheinen, „Arbeit war sein ganzes Leben“ – typisch, fast stereotypisch, für die Arbeitsmoral der aufstrebenden Mittelschicht der vorletzten Jahrhundertwende. Üblich sein mögen diese fünf Worte für die Wertvorstellung jener Generation, und für ein fast ebenso stereotypisches Narrativ über einen Einwanderer aus Galizien, der es sich trotz seiner Mittel- und Bildungslosigkeit zum Ziel gemacht hatte, es in der Metropolenhauptstadt zu „schaffen“, Industrieller zu werden, eine Familie zu gründen und für diese zu sorgen. Üblich mag zuletzt für jene Zeit und Generation sein, dass diese deutschsprachige Inschrift, mit ihrem impliziten Verweis auf weltliche, bürgerliche Wertvorstellungen, keinerlei Bezug nimmt auf religiöse, gemeinschaftliche Identifikation – auf die „Jüdischkeit“ des Verstorbenen – obwohl dieses Denkmal in einem jüdischen Friedhof steht, einem der größten jüdischen Friedhöfe Europas, der Friedhof einer der damals größten jüdischen Gemeinden der Welt. Unüblich ist diese Inschrift aber, weil die Worte eben nicht das sagen, was man ohne Weiteres meinen könnte: Die darin verborgene zynische Kritik der Verfasserin an ihren verstorbenen Ehemann ist nicht ohne kontextuelle Erläuterung ersichtlich. Unüblich ist diese Inschrift, denn eigentlich sagt man nichts Schlechtes über die Toten, vor allem nicht über enge Verwandte. Die Grabinschrift, eine so unverfänglich lakonische Zusammenfassung eines Menschenlebens, sagt meist de mortuis nihil nisi bonum – nichts als Gutes über die Toten. Mortons Schilderung ist insgesamt unüblich, denn solche Kontextualisierungen der Urheberschaft von Grabinschriften und der ihnen zugrundeliegenden Gedanken sind schwindend selten, fast unerhört. Dieses Beispiel zeigt gerade deshalb, welche kultur- und sozialhistorischen Ebenen sich in diesen lakonischen Zeugnissen auftun. „Eine eigene Sprache hat der jüdische Friedhof “, hielt der Rabbiner und Historiker Gustav Cohn fest: Der Friedhof ist ein „Bild der Bindung zwischen Lebenden und Toten“, wie er in diesem Fall allgemein die Bindung zwischen Leben und Tod, Gegenwart und Vergangenheit 1 Morton, Frederic: Durch die Welt nach Hause. Mein Leben zwischen Wien und New York, aus dem Englischen von Susanne Costa, Wien 2006, S. 293–295.
Das „steinerne Archiv“
darstellt.2 Der Grabstein in Mortons Darstellung – der übrigens nicht beim IV. Tor, sondern beim I. Tor liegt (Gruppe 51, Reihe 7, Grabstelle 82, im Folgenden in diesem Format angeführt: 51-7-82) – ist eine persönliche Bindung, wenn auch eine fast traumatische, zur Erinnerung an den verstorbenen Großvater, wenngleich Morton sich nicht genau an den Standort der Grabstätte erinnerte (seine Stiefgroßmutter Henriette kam 1941 im Ghetto Kaunas um und liegt somit nicht hier bestattet, wohl aber Mortons leibliche, bereits 1908 verstorbene Großmutter Theresia). Die Resonanz der Sprache der Grabsteine ist heute umso lauter, wenn man bedenkt, dass die meisten der abertausenden steinernen Zeugnisse in den jüdischen Abteilungen des Wiener Zentralfriedhofs, über den Abgrund der Shoah hinweg betrachtet, zu den letzten Zeugnissen überhaupt der darunter begrabenen Menschenleben zählen. Wie der große Historiker der europäischen Sepulkralkultur, Philippe Ariès, schrieb, gibt der Friedhof „in seiner Topographie die Gesamtgesellschaft wieder, so wie eine Karte ein Bodenprofil oder eine Landschaft.“3 In ihren verschiedenen Abteilungen und Reihen, an unzählige Haupt- und Nebenwegen entlang, finden sich in den opulentesten bis zu den einfachsten Grabsteinen gesellschaftliche, ökonomische und familiäre Strukturen reproduziert. Im Friedhof begegnet man, wie es der Philosoph Michel Foucault darstellte, „die ‚andere Stadt‘, wo jede Familie ihre schwarze Bleibe besitzt“.4 Die Historiographie konstruiert diese historischen Räume oft als gesellschaftliche und kulturelle „Spiegelbilder“, so beispielsweise im folgenden Wortlaut über den Währinger jüdischen Friedhof: „Als Begräbnisstätte der jüdischen Gemeinde Wiens ist er ein Spiegelbild für ihren Anteil an Wiens Vergangenheit“.5 Das ist allerdings eine nur bedingt nützliche Vorstellung, da Friedhöfe aus dieser Sicht nur als Verweis auf etwas anderes zu verstehen sind – etwa das soziale Gepräge oder die kulturschaffende Elite der Wiener Judenheit aus einer bestimmten Epoche. Zumal ist die Implikation problematisch, dass jüdische AkteurInnen nur aufgrund ihres „Anteils“, also ihres „Beitrags“ zur nichtjüdischen Geschichte überhaupt Gegenstand des Forschungsinteresses darstellen sollten.6
2 Cohn, Gustav: Der jüdische Friedhof, in: Gemeindeblatt der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig – Sonderausgabe, 4. Mai 1928, S. 7. 3 Ariès: Geschichte des Todes, S. 640. 4 Foucault: Andere Räume, S. 42. 5 Walzer, Tina: Der Jüdische Friedhof Währing. Historische Entwicklung, Aktueller Zustand, Perspektiven, in: Bauer, Eva Maria/Niemann, Fritz (Hg.): Währinger jüdischer Friedhof. Vom Vergessen überwachsen, Wien 2008, S. 11. 6 Vgl. zur Problematik des Beitragsnarrativs Silbermann, Alphons: Was ist jüdischer Geist? Zur Identität der Juden, Zürich 1984, S. 25–26, sowie Stern, Frank: Antisemitismus und Philosemitismus in der politischen Kultur der entstehenden Bundesrepublik Deutschland, in: Nachama,
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Friedhöfe sind viel mehr als nur Abbildungen: Als soziale, kulturelle und urbane Orte werden sie von Menschen geschaffen und geprägt, und auf ihren tausenden Steinen ist ein gemeinschaftlicher Erinnerungsdiskurs eingemeißelt, der weitaus stärker konstruiert und vielfach umstritten ist, als dass es bloß eine Spiegelung sein könnte. Die Topographie des Friedhofs „spiegelt“ nicht nur die Gesellschaft, die sie geschaffen hat, in jedem der Grabsteine findet sich ein prägnanter Ausdruck über das Leben der dort Begrabenen und darüber hinaus über die Trauer und Ängste, aber auch Hoffnungen und Werte der Nachkommen, der Lebenden. Da es das Schicksal eines jeden Menschen ist zu sterben, gilt der Friedhof als einer der universellsten Orte einer Gemeinschaft – und da es das Schicksal der allermeisten Verstorbenen ist, früher oder später aus der lebendigen Erinnerung, ja insgesamt aus der Geschichtsschreibung zu verschwinden, eine Tatsache, die ungeheuerlich verschärft wird, wenn eine Gemeinschaft einem Genozid zum Opfer fällt, gelten die Grabsteine als wahrlich einzigartige Relikte, als beispiellose Quellen der Vergangenheit einer Gemeinschaft. Insofern ist der Friedhof ein „steinernes Archiv“, wie wiederholt allegorisch in der Geschichtsschreibung beschwört wird.7 Der Philosoph Henri Lefebvre legte in einem klassischen Werk zur Raumanalyse aus, dass der urbane Raum, in dem sich Menschen bewegen und in dem sich ihre Handlungen entfalten, kein a priori gegebener, sondern ein „produzierter Raum“ ist: Soziale Räume sind „Produkte einer Aktivität, die die wirtschaftlichen und technischen Sphären mit einschließt aber sich auch weit darüber hinaus erstreckt, denn sie sind auch politische Produkte und strategische Räume“. So sind Friedhöfe nicht nur Produkte von Landschaftsarchitekten und Steinmetzen und bestehen nicht nur aus Wegen, Denkmälern und Bewuchs; sie sind auch ein Produkt gesellschaftlicher Machstrukturen, Weltanschauungen und Gemeinschaftsvorstellungen. In ihnen ist das Kaleidoskop von Selbstwahrnehmungen genauso reflektiert wie das Konfliktpotenzial zwischen erkorenen und auferlegten Identifikationen und Zugehörigkeiten. Anhand ihrer tausendfachen steinernen Zeugnisse kann der Wandel dieser Strukturen und Anschauungen über Generationen, sogar Jahrhunderte, nachvollzogen werden: Denn ein bewusst oder unbewusst produzierter Raum setzt voraus, wie Lefebvre folgerte, dass dieser Raum „entschlüsselt, gelesen werden kann. Ein solcher Raum setzt einen Prozess der Signifikation voraus“.8 Andreas/Schoeps, Julius (Hg.): Aufbau nach dem Untergang. Deutsch-Jüdische Geschichte nach 1945, Berlin 1992, S. 160. 7 Siehe z. B. Veran: Das Steinerne Archiv; Bajohr, Stefan (Hg.): Archiv aus Stein. Jüdisches Leben und jüdische Friedhöfe in Nordrhein-Westfalen, Oberhausen 2005 und Breitfeld, Oliver: Archiv aus Stein. 400 Jahre jüdischer Friedhof Königstraße, Hamburg 2007. 8 Lefebvre, Henri: The Production of Space, aus dem Französischen ins Englische von Donald Nicholson-Smith, Oxford 1991, S. 17, 84.
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Seit der Antike galt grundsätzlich, dass nur die Reichen und Mächtigen, meist Männer, ein Grabdenkmal gesetzt bekamen, das noch lange nach ihrem Tod gesehen und gelesen werden sollte – ein Brauch, der sich weitgehend bis in das moderne Zeitalter nicht demokratisieren würde. Somit „spiegelt“ sich im Friedhof nicht die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit wider, sondern eben nur ein bestimmtes Machtgefüge, eine gesellschaftliche Hierarchie, geprägt von Einfluss, Wohlstand und anderen Merkmalen. Eine Geschichtsschreibung, die die „Spiegelung“ dieser gesellschaftlichen Hierarchien in Friedhöfen unkritisch entgegennimmt, läuft somit Gefahr, gesellschaftliche Diskurse unhinterfragt zu reproduzieren und diese als gleichbedeutend mit den allgemeinen Anschauungen einer gesamten Bevölkerung darzustellen. Die Historikerin Patricia Steines, Autorin des bisher einzigen Bandes zu den jüdischen Abteilungen des Wiener Zentralfriedhofs, behauptete beispielsweise in einem Resümee, das „Wichtigste“ in der Erforschung der Wiener jüdischen Friedhöfe sei es, „anhand von Gräbern und Grabstellen bedeutender Persönlichkeiten die Geschichte der Wiener jüdischen Gemeinde im historischen Sinn wieder ‚lebendig‘“ zu machen.9 Nach diesem Ansatz wird aber die gesamte Wiener jüdische Gemeinschaft nur anhand der Elite der Kultusgemeindeorganisation gemessen, und der Großteil der auf diesen Friedhöfen Bestatteten gerät sozusagen ein zweites Mal in Vergessenheit, was auch unser historisches Bild dieser durchaus pluralistischen Demographie vollkommen verzerrt. So werden von über 170.000 in diesen zwei Friedhöfen bestattete Menschen in Steines Monographie knapp unter 500 Prominente erwähnt – darunter auch nur etwa 20 Frauen.10 Wie der Historiker Albert Lichtblau schrieb, sollten „wie immer definierte Minderheiten“ nicht bloß, wenn überhaupt, durch ihre „herausragenden Leistungen“ beurteilt werden, da dies für Minderheiten generell bedeutete, „sich erst dadurch legitimieren zu können“.11 Gerade aber das Vorherrschen von elitären Erinnerungsdiskursen und die Flüchtigkeit der Stimmen von weniger prominenten Verstorbenen, kombiniert mit der Knappheit der Sprache der Inschriften – ihre Tendenz, ihre Inhalte formelhaft nach gegebenen epigraphischen Bräuchen zu gestalten – und nicht zuletzt die ungeschriebene Regel, von den Toten nihil nisi bonum zu sprechen, stellt die Erforschung der Grabinschriften als testamentarische Quellen der jüdischen Sozial- und Kulturgeschichte vor einige Herausforderungen. Zur potenziellen Dissonanz zwischen dem Gesagten in der Grabinschrift und dem Gefühlten seitens der Hinterbliebenen fällt neben der oben geschilderten Geschichte von Frederic Morton auch eine Passage aus Joseph Roths Erzählung Der Leviathan (1938) ein, nachdem die 9 Der alte Währinger israelitische Friedhof, in: Die Gemeinde, 17. Mai 1991, 22. 10 Steines, Patricia: Hunderttausend Steine. 11 Brugger et al.: Geschichte der Juden in Österreich, S. 515.
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Frau des Korallenhändlers Nissen Piczenik stirbt: „Er betrauerte die Frau in vorgeschriebener Weise. Er kaufte ihr einen der dauerhaftesten Grabsteine und ließ ehrende Worte in diesen einmeißeln. Und er sprach morgens und abends das Totengebet für sie. Aber er vermisste sie keineswegs.“12 Der teuerste Grabstein und die ehrenvollste Inschrift können gut möglich über die eigentlichen Charakteristika der Verstorbenen hinwegtäuschen, über deren Ansehen und Beziehungen im Leben sowie die Erinnerung, die sie hinterließen. Gerade durch ihre relative Gleichartigkeit und ihre fast beispiellos breite, schichtenübergreifende Darstellung der Verstorbenen einer bestimmten Gemeinschaft – die meisten „gewöhnlichen“ Leute hinterlassen sonst keine Zeugnisse – ermöglichen Grabsteine trotzdem eine fast unvergleichliche Analyse der (Selbst-)Darstellungen ebendieser Gemeinschaft. Wie der Judaist Michael Brocke feststellte, ist die „Kollektivbiographie“, die aus den individuellen Gedenksteinen hervorgeht, deswegen von größerer Bedeutung als die individuellen Geschichten, werden letztere in Grabinschriften doch oft so knapp und selektiv umschrieben.13 In seiner Diskussion ähnlicher Probleme der Repräsentativität von Memoiren als Quellengattung betonte Albert Lichtblau, diese könnten trotz aller Mängel „zu sprachlichen Gedenkstätten für ein Volk, für Verlorenes, für einzelne Menschen, für Orte, Gebräuche, Traditionen und Mentalitäten werden“ – sie seien „Sprachmonumente des kollektiven Gedächtnisses“.14 Das Gleiche könnte für Grabsteine gesagt werden. Im Folgenden geht es darum, eine Methodologie für eine „Lesung“ von jüdischen Friedhöfen, ihrer Steine und deren Inschriften zu skizzieren. Anhand einer knappen Aufarbeitung der Entwicklungsgeschichte der Themenkreise Friedhof, Bestattungspraxis, Grabstein und Epigraphik in der jüdischen Kulturgeschichte sollen die Wiener jüdischen Friedhöfe kontextualisiert werden, um somit eine Basis zu schaffen, die die Analysen der Entwicklungsgeschichte und insbesondere der Erinnerungsdiskurse dieser Friedhöfe in den folgenden Kapiteln nachvollziehbar macht. Die Beleuchtung der verschiedenen Facetten der jüdischen Sepulkralkultur soll vor allem als Grundlage für die Diskussion dienen, was in der Geschichtsschreibung bisher oft zu vereinfacht oder gar fälschlich als „traditionell“ und „nicht traditionell“ bzw. als „jüdisch“ und „unjüdisch“ (im Sinne nicht bloß des „Nichtjüdischem“, sondern dem Judentum widersprechend) galt. Dieses Werk soll ermöglichen, die lange Geschichte der jüdischen Sepulkralkultur in Wien als (oft konfliktreichen) Komplex von Inno12 Roth, Joseph: Der Leviathan [1938], in: Roth, Joseph: Die Großen Erzählungen, München 2014, S. 190. 13 Brocke, Michael: Vorwort, in: Hüttenmeister, Nathanja/Müller, Christiane: Umstrittene Räume. Jüdische Friedhöfe in Berlin, Berlin 2005, S. 12. 14 Lichtblau: Als hätten wir dazugehört, S. 124.
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vation, Entwicklung und Bewahrung zu verstehen, ohne dabei diese Komplexität auf Dichotomien und zweidimensionale Erklärungsmuster zu reduzieren. Wenngleich die räumliche Entstehung einzelner Friedhöfe eine recht nachvollziehbare Geschichte bildet, so sind es vor allem die über hunderttausend Steine in den vier historischen Wiener jüdischen Friedhöfen, die bisher kaum beleuchtet wurden, deren Analyse, vor allem ihrer Epigraphik, deshalb eine nähere Beleuchtung erfordert. Wie Michael Brocke bezüglich Friedhofsanalysen festhielt: Allgemeine Tendenzen der Friedhofsgestaltung und ihrer Wandlung sind schnell erfasst. […] Aber wer könnte etwa sagen, wann der erste allein deutsch geschriebene Stein aufgestellt wurde und ob er „fromm“, „traditionell“ oder ganz „weltlich“ beschrieben ist? [Oder] ob „Tradition und Wandel“ miteinander rangen oder einträchtig beieinander wohnten? [Oder:] Welche Moden wann auftauchten, welche Familien ihnen folgten, welche nicht?15
Wie aus dieser knappen Zusammenfassung hervorgeht, ist das „Lesen“ dieser Archive zutiefst mit kulturell normativen Wertvorstellungen und historischen Erklärungsmustern verbunden, wobei Analysen in Gefahr geraten, voreilig auf Stereotypen und vereinfachte Klischees zurückzugreifen. Sogar Werke, welche die fortwährende Entwicklung der Sepulkralkultur in all ihren Aspekten als Grundvoraussetzung darstellen, greifen dann, vor allem wenn es um die Moderne geht, schnell auf alte, meist unerklärte Geschichtsmuster zurück, wie etwa die des vermeintlich „fortschreitenden Assimilationsprozesses“ der jüdischen Bevölkerung. Diesen Prozess definierte die Kunsthistorikerin Hannelore Künzl als Musterbeispiel in ihrem sonst wegweisenden Werk zur jüdischen Grabkunst bloß als ein „Streben“ der europäischen Judenheiten für eine „Anpassung“ in einer auch nicht näher definierten „sie umgebenden Kultur“. Dadurch reduzierte Künzl die gesamte jüdisch-europäische Sepulkralkultur – eigentlich ein sehr breites Spektrum – auf eine einfache Dichotomie des „Jüdischen“ und „Nichtjüdischen“. Die dargestellte Dichotomie widersprach allerdings zugleich der Komplexität der von ihr gelieferten Beweise der jüdischen und nichtjüdischen Intersektionalität durch die Jahrhunderte. Durch dieses Paradox konnte Künzl ein Buch, welches die vielfältigen Formen jüdischer Grabkunst und ihrer diversen Entwicklungen in unterschiedlichen zeitlichen und räumlichen Kontexten darlegte, trotzdem mit dem Fazit beenden, die moderne Erscheinung des jüdischen Grabsteins in Europa sei bloß eine „Abkehr vom traditionellen Grabstein“ gewesen.16
15 Brocke: Vorwort, S. 12. 16 Künzl, Hannelore: Jüdische Grabkunst von der Antike bis heute, Darmstadt 1999, S. 171.
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Die gängige dichotome Darstellung der Kulturgeschichte der Wiener jüdischen Friedhöfe findet sich prägnant in einem Aufsatz der in diesem Bereich profilierten Historikerin Tina Walzer zusammengefasst: Die Strukturen der Wiener jüdischen Friedhöfe variieren zwischen traditionell angelegten Arealen des Spätmittelalters bzw. der frühen Neuzeit sowie des 17. bis frühen 19. Jahrhunderts und stark an nichtjüdischer Sepulkralkultur orientierten Großstadt-Friedhöfen der Metropole Wien des späten 19. und 20. Jahrhunderts.
Hier fungieren die sehr wenigen noch erhaltenen jüdischen Friedhöfen des Spätmittelalters in Europa sozusagen als Schnappschuss einer angeblich zeitlosen „Tradition“, wonach jede darauf folgende Veränderung als eine „Assimilation“ an eine verallgemeinerte, vermeintlich „christliche“ Bestattungskultur dargestellt wird. Jeder Friedhof kann nach diesem zweidimensionalen Muster beschrieben werden, ohne dass die Kategorien „traditionelle und assimilierte Gestaltungsformen“ jemals näher definiert werden müssen.17 Diese Ansichten sind nachweislich eine Folge davon, dass sich viele gegenwärtige HistorikerInnen in Bezug auf die „jüdische Tradition“ und der allgemeinen Sepulkralgeschichte meist auf die Arbeiten orthodox gesinnter Rabbiner beziehen.18 Diese viel zu vereinfachte Reduktion der jüdischen Sepulkralkultur des letzten Jahrtausends – in Wien wie anderorts – wird durch den stetigen Wandel sowohl der jüdischen wie der nichtjüdischen Sepulkralkultur in Europa und deren ebenso stetigen Wechselwirkung zur Gänze widerlegt. In einem bisher unveröffentlichten Aufsatz stellte die Historikerin SylvieAnne Goldberg eine gewagte These auf, welche die nur schwer zu unterscheidenden „jüdischen“ und „nichtjüdischen“ Grabstätten im antiken Rom sowie das ansonsten rätselhafte Fehlen von spezifisch „jüdischen“ Grabsteinen zwischen der späten Antike und des Hochmittelalters in Europa erklären sollte: So verwies Goldberg auf den allgemeinen religions- und kulturhistorischen Befund, dass sich Christentum und Judentum erst im Laufe der Jahrhunderte allmählich trennten und als eigenständige Religionen „kristallisierten“, wobei in der Zwischenzeit ihre Grabstätten von einer durchmischten und nur schwer nach ikonographischen und religiösen Kategorien trennbaren Formsprache gekennzeichnet waren. So ist es problematisch, in diesem Zusammenhang überhaupt von einheitlichen „Traditionen“ zu sprechen, geschweige denn die 17 Walzer: Die jüdischen Friedhöfe in Wien, S. 126. 18 So stützten sich z. B. die eben zitierten Historikerinnen beide auf die orthodox ausgerichteten Aufsätze des seinerzeitigen Landesrabbiners in Hessen: Roth, Ernst: Zur Halachah des jüdischen Friedhofs, in: Udim 4 (1973), und Roth, Ernst: Zur Halachah des jüdischen Friedhofs II, in: Udim 5 (1974/75). Vgl. jeweils Künzl: Jüdische Grabkunst, S. 69 und Walzer: Der jüdische Friedhof Währing in Wien, S. 15.
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„christlichen“ von den „jüdischen“ oder sonstigen Grabstätten aus dieser Zeit zu unterscheiden. Insofern kann man erst im Mittelalter von einer sich „kristallisierenden Jüdischkeit“ sprechen, die nur allmählich in einer dementsprechend abgetrennten Sepulkralkultur Ausdruck fand. Somit sah Goldberg das Narrativ widerlegt, die „Jüdinnen und Juden seien immer jüdisch gewesen“, und sie schlug stattdessen vor, dass diese Religionsgemeinschaft erst später begannen, „die formelle Kategorie des ‚Anderen‘ darzustellen, die dem Sozialgefüge des mittelalterlichen Christentums integral war“.19 Es ist ein wesentlicher Befund, dass die verschiedenen Kulturen und Religionsgemeinschaften des europäischen Kontinents miteinander tief verwandt und gar nicht einfach historisch zu trennen sind. Eine deutliche Trennung trat erst im Hochmittelalter mit der gewaltsamen Selbstbehauptung des Christentums, vornehmlich der katholischen Kirche, in Erscheinung und wurde im Laufe der darauffolgenden Jahrhunderte immer wieder aufs Neue kulturell geprägt und politisch untermauert. Dies zeigt sich auch in Wien, wo die ältesten Hinweise auf einer jüdischen Kultur – zumeist in Form einer Sepulkralkultur – eben aus dem Spätmittelalter stammen und eben dann erst auf eine tiefreichende soziale, religiös artikulierte Segregation und eine in diesem Rahmen wiederholt verfolgte jüdische Minderheit verweisen. Selbst wenn man dem Narrativ der galut (Diaspora, im Hebräischen spezifischer als „Exil“ verstanden) Glauben schenkt – die Vorstellung, die Jüdinnen und Juden seien ein „Volk“, das im Jahre 70 nach Christus aus Palästina vertrieben wurde, aber sich im Wesentlichen beständig durch die Jahrhunderte erhalten hat –, dann zeugt ihre Mehrsprachigkeit seit der Antike schon von den ständig diversifizierenden Selbstverständnissen dieses „Volkes“ in seinen verschiedenen räumlichen und zeitlichen Erscheinungen. Zudem fand diese vermeintliche Massenmigration im römischen Imperium zu einer Zeit statt, zu der eine jüdische, geschweige denn die christliche Religion noch nicht einmal schriftlich festgelegt war und wo man folglich noch nicht von einer fest verankerten „jüdischen Tradition“ sprechen kann, die sich nachweislich erst über die folgenden zwei Jahrtausende durchsetzte. Ganz im Gegenteil verweist die Verbreitung der jüdischen Schriften – und des mit ihr verwandten christlichen Schrifttums – sowie die spätere Kodifizierung jüdischer Bräuche und Religionsgesetze in den unterschiedlichsten Epochen und Lokalitäten auf die stetige Weiterentwicklung unter den verschiedensten Umständen einer nur schwer als einheitlich zu verstehenden jüdischen „Tradition“, vielmehr
19 Goldberg, Sylvie-Anne: Jewishness in the Making in a Christian Context. The Function of Death, unveröffentlichter Aufsatz, präsentiert im Seminar „Practice & Materiality of Death“ auf der Konferenz der Association for Jewish Studies, Boston, 2015, o. S. Zitiert mit freundlicher Genehmigung der Verfasserin.
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von einem Bündel Traditionen und Bräuchen, die durchaus unterschiedliche Prägungen annahmen. Das Mittelalter war eine Epoche großen Umbruchs innerhalb des Judentums, als sich der Fokus dieser Religion und des betroffenen Kulturkreises zunehmend vom östlichen Mittelmeer gegen Zentraleuropa verschob. Das hier entstehende, heute als aschkenasisch bezeichnete Judentum entwickelte viele kulturelle Bräuche und Merkmale, die heute oft – problematischerweise – als bedeutungsgleich mit dem gesamten Judentum aufgefasst werden.20 Dazu zählen eben jene Räume, die heute als „jüdische Friedhöfe“ bezeichnet werden, sowie viele der damit verbundenen Bräuche. Somit muss vieles, was in diesem Kontext entstand, als eine europäische Entwicklung angesehen werden – und somit als Teil der europäischen Kulturgeschichte – welche sich darüber hinaus markant von anderen jüdischen Kulturen, etwa der sephardischen (aus der mittelalterlichen, maurisch-islamisch geprägten iberischen Halbinsel entstehenden) oder der nahöstlichen und asiatischen unterscheidet. Auch im europäischen Mittelalter fand aber die Entwicklung des Judentums kein Ende, und der Anbruch der Neuzeit brachte neue Fragen und Herausforderungen mit sich, welchen das herkömmliche Judentum nicht mehr gewachsen war: Die Abspaltungen, die aus dieser Krise folgten, wurden als vermeintlich alte bzw. neue Traditionen verstanden, beharrten aber beide darauf, „das Judentum, welches vor so langer Zeit geblüht hat, in lineare Folge weiterzuführen“, während beide Strömungen tatsächlich bloß „auf gegenwärtige Themen geantwortet haben“ und als solche beide eine Mischung aus Altem und Neuem ins Leben riefen. Was die Frage von „Orthodoxie“ und „Reform“ mit dem Anbruch der Moderne anbelangt, kann nur festgestellt werden, dass die Orthodoxie „als Reaktion gegen die Reform“ entstand, und nicht umgekehrt. Der Traditionsanspruch der Orthodoxie ist demnach auch nur ex post facto.21 Die späteren Versuche innerhalb des Judentums West- und Zentraleuropas, im sogenannten „Ostjudentum“ eine authentische Urtradition zu idealisieren, waren wiederum eine retrospektive, romantisierende, fast orientalistische Fantasie des 19. Jahrhunderts, im Zeitalter des rassistischen Nationalismus, wie es der Historiker Klaus Hödl in Bezug auf das Wiener Judentum zeigte. Hödl zufolge war diese säkulare „Rückbesinnung“ weniger eine Nostalgie für Religion als das Verlangen nach einer vermeintlich unverfälschten jüdischen „Tradition“: „Eine solche musste aber erst geschaffen bzw., wie der Historiker Eric Hobsbawm diesen Vorgang nennt, ‚erfunden‘ werden.“22 In der Tat ist diese inzwischen zum Bonmot gewordene These Hobsbawms (dessen Mutter übrigens 20 Vgl. Chazan: Judaism, S. 631–645. 21 Neusner: Judaism, S. 661–663. 22 Hödl, Klaus: Wiener Juden – Jüdische Wiener, S. 10, 19, 29.
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eine jüdische Wienerin war) der „erfundenen Tradition“ absolut zutreffend für die Analyse der jüdischen Sepulkralkultur in Wien: Solche Traditionen, „welche behaupten, alt zu sein oder alt erscheinen, sind oft sehr neuen Ursprungs und manchmal erfunden“ und dienen zumeist, um „Kontinuitäten mit einer geeigneten historischen Vergangenheit herzustellen“. Vor allem interessant ist in diesem Zusammenhang Hobsbawms Unterscheidung zwischen „Traditionen“ und „Bräuchen“: Erstere beanspruchen eine oft falsche Historizität, während letztere organisch gewachsen und durchaus veränderlich sind.23 In Bezug auf Schrifttum, Religion und Halacha – Letzteres ein in der Historiographie oft zu anachronistisch und als erstarrt verstandener Korpus an Auslegungen zum Religionsgesetz im Judentum – muss selbstverständlich festgehalten werden, dass ich weder Religionshistoriker noch rabbinisch ausgebildet bin und auch keine Intention habe, hier in die religionspolitischen Diskussionen rund um Trauerpraxis und Sepulkralkultur einzugreifen. Trotzdem ist alleine aus einer Begutachtung der einschlägigen Literatur ersichtlich, dass es in derartigen Fragen eine Bandbreite an Meinungen und Positionen gibt, welche selber Teil eines sich historisch fortwährend entwickelnden Diskurses sind und sich in bestimmten Kontexten und Lokalitäten durchaus unterschiedlich niederschlagen. Die Halacha ist über Jahrtausende entstanden, von den biblischen zu den talmudischen und post-talmudischen Epochen, und erst in der Frühen Neuzeit in Europa gab es Versuche, diese diversen Glaubensauslegungen zu kodifizieren, in Form des nun als Standardwerk angesehenen Shulchan Aruch des Rabbiners Joseph Karo, erschienen 1565.24 Die Halacha ist also eher als heterogenes Netzwerk an Positionen, Auslegungen und Bräuchen zu verstehen statt als ein festgeschriebenes Regelwerk, welches jedes Handeln gläubiger Jüdinnen und Juden konkret und unmissverständlich vorschreibt. Der Soziologe Alphons Silbermann fasste dies zutreffend für die vorwiegend säkulare Wissenschaft zusammen: Ohne Talmudist zu sein, läßt sich beobachten, daß die Halacha – angesehen als zentraler Inbegriff des jüdischen religiösen, nationalen, sozialen, intellektuellen und geistigen Lebens – durch wandelnde Umstände im Leben der Juden, vor allem durch neue soziale und kulturelle Bedingungen sowie neue geistige Tendenzen, in Auslegung und praktischer Anwendung fortschreitend gestaltet worden ist.
Die Orthodoxie, die selbstverständlich auch von prozesshafter Natur und nicht unveränderlich ist, so betonte Silbermann, stellt bloß eine von verschiedenen Strömungen innerhalb des Judentums dar. Manche betrachten die Orthodoxie, 23 Hobsbawm, Eric: Introduction, S. 1–2. 24 Vgl. Rackman, Emmanuel/Broyde, Michael/Fishkin, Amy Lynne: Halakhah, Law in Judaism, in: Neusner/Avery-Peck/Green (Hg.): The Encyclopaedia of Judaism, Bd. 1, S. 340–350.
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die hier freilich auch als Sammelbegriff für in sich verschiedenste Ausrichtungen fungiert, als „Bewahrer der jüdischen Lehre“ und andere als „Ausdruck einer dogmatisch-traditionsgebundenen Bewegung“. Dies gilt also auch als Ausdruck des Streits darum, was als „authentisches“ Judentum anerkannt wird, und es leuchtet ein, dass ein wissenschaftliches Werk zur jüdischen Sepulkralkultur „beide“ Positionen (insofern sich dieses Spektrum an Religionsauslegungen auf eine Dichotomie reduzieren lässt) anerkennen kann und soll, ohne in dieser Hinsicht Partei zu ergreifen. Jüdische Bräuche sind eben als pluralistisch zu verstehen, und wenn sich die Geister in Hinsicht dessen trennen, was als angemessener „jüdischer“ Brauch gilt, dann ist es nicht unbedingt Aufgabe des Historikers, Positionen zu beziehen. Diese Aufgabe fällt eher den Rabbinern als „Überwacher und Aufrechterhalter von religiösen Gesetzen, Riten und Zeremonien“ zu, wie Silbermann folgerte. Über den Stand der Rabbiner innerhalb der jüdischen Wissenskultur äußerte er sich allerdings äußerst skeptisch, denn ihre Position „zwingt sie geradezu, sich an Traditionen anzubinden, von wo es bis zur Intoleranz nur noch ein kleiner Schritt ist“.25 Hier ist es schon die Aufgabe der laizistischen Wissenschaft, Wahrheits- und Historizitätsansprüche kritisch zu hinterfragen. Fest steht, dass der Streit zwischen „Orthodoxie“ und „Reform“, bzw. dem „Traditionellen“ und „Neuen“, im 19. Jahrhundert durch ganz Europa ein Charakteristikum der Sepulkralkultur einzelner jüdischer Gemeinden darstellte. Alleine die Kontextbezogenheit dieser Debatte sollte eine größere Vorsicht in der heutigen Wissenschaft im Umgang mit diesen Begrifflichkeiten verlangen. Dabei ging es bei beiden Positionen, egal wie sie sich jeweils bezüglich ihrer eigenen „Traditionalität“ verstanden, „um ein neues Selbstverständnis und um eine Neubestimmung der jüdischen Tradition“, wie es die Historikerin Christiane Müller in einer einschlägigen Studie zum jüdischen Friedhof in der Schönhauser Allee in Berlin darlegte. Gerade die Orthodoxie berief sich „auf ‚alte Zeremonialgesetze‘, ‚unverrückbare religiöse Bräuche‘, ‚heilige Formen‘, die keiner weiteren Rechtfertigung bedürfen […]. Als der einzige Weg zu authentischer religiöser Existenz muss[te] ihr Weg nicht erklärt werden“. Die Dichotomie von „Tradition“ und „Fortschritt“ war überhaupt ein prägendes Merkmal des Denkens im 19. Jahrhundert. Wie Müller zudem folgerte, stellte die Orthodoxie „ebenso wenig eine Fortsetzung des vormodernen (‚traditionellen‘) Judentums“ dar wie die Reformbewegung. Somit begegnet man in jüdischen Friedhöfen „nicht dem traditionellen Judentum […], wohl aber Traditionen“ im Plural. Müller betonte somit die „Lebendigkeit weitergegebener (wie neu formulierter) Tradition“ anstelle einer starren, ahistorischen 25 Alle Zitate in der Reihenfolge ihrer Nennung: Silbermann: Was ist jüdischer Geist?, S. 47, 50–51, 57–58.
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Vorstellung von „jüdischen“ bzw. „unjüdischen“ kulturellen Praktiken in einer gegebenen Gemeinschaft zu einer gegebenen Zeit.26 Im seinerzeitigen Streit um die Orthodoxie in Wien beteuerte 1919 der Historiker Samuel Krauss, wohlgemerkt aus einer trotzdem recht partikularistischen Sicht des Judentums heraus, es seien in den verschiedenen Strömungen alle „rechtgläubig“, denn es gab keinen Wiener Juden, egal welcher Ausrichtung, der „eine neue Glaubenslehre aufstellt oder verkündet“. In diesem Streit ging es somit nicht um die Substanz, sondern um „äußerliche Formen“ wie etwa „die praktische Ausführung der Vorschriften“, wobei er zusammenfasste: „nicht alles ist gut, weil es alt ist, und nicht alles ist verwerflich, weil es neu ist“. Krauss betonte zudem die paradoxe Neuigkeit so mancher orthodoxen Strömung, wie etwa des Chassidismus, „die sich ihren Ritus künstlich geschaffen haben“. Über Traditionen – diese „äußerlichen Formen“ – sagte er lediglich: „Sie weisen nach Zeiten und Ländern die mannigfachsten Formen auf; sind unzählige Mal variiert, aufgehoben und wieder eingesetzt worden.“27 In der Tat kann der Chassidismus, um bei diesem Beispiel zu bleiben, der sich infolge der Aufklärung im östlichen Europa entfaltete, als durchaus „moderne“ Bewegung angesehen werden, als eine moderne Reaktion auf andere Entwicklungen der Neuzeit, eine Tatsache, die bloß dadurch verschleiert wird, dass sich der Chassidismus erfolgreich als „fleischgewordene Tradition“ inszenierte, als Erbe der „uralten Zeit“.28 In der bahnbrechenden Arbeit David Rudermans zum Judentum der Frühen Neuzeit, in der er seine Theorie der „vermischten Identitäten“ vorführte, wonach die jüdischen und christlichen Bevölkerungen Europas sich auf religiöser, philosophischer wie kultureller Ebene in einem „auffallend flüssigen, vielgestaltigen und instabilen Beziehungsgeflecht“ befanden, kann die Orthodoxie nur als Versuch bewertet werden, einerseits „eine theologische und kulturelle Entfremdung vom Rest der Menschheit“ und andererseits „eine freiwillige Abtrennung von anderen Juden“ zu bewirken.29 Einer der frühesten Historiker der Wiener jüdischen Friedhöfe, Gerson Wolf, stand ebenfalls der orthodoxen Auffassung des Judentums durchaus kritisch gegenüber: „Die Jahrhunderte lang dauernde Bedrückung, die Absperrung in den Ghettos verrückten und verwirrten die Ansichten. Man hielt die Schale 26 Hüttenmeister/Müller: Umstrittene Räume, S. 162–166. 27 Krauss, Samuel: Die Krise der Wiener Judenschaft, Wien 1919, S. 11–12. 28 Rosman, Moshe: Hasidism as a Modern Phenomenon. The Paradox of Modernization Without Secularization, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 6 (2007), S. 215–216. Vgl. hierzu auch die neue und bisher umfassendste Studie zum Chassidismus: Biale, David/Assaf, David/Brown, Benjamin/Gellman, Uriel/Heilman, Samuel/Rosman, Moshe/Sagiv, Gadi/Wodziński, Marcin: Hasidism. A New History, Princeton 2018, insb. S. 1. 29 Ruderman, David: Early Modern Jewry. A New Cultural History, Princeton 2010, S. 148, 187–189.
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für den Kern, die Form für den Inhalt. Der Rost wurde heilig gehalten, weil er alt war.“ Auch Wolf verwies auf die Tatsache, dass die Orthodoxie – die sich in dieser Zeit oft als „altgläubig“ auswies – sich begrifflich „nicht näher erklärt“. Überhaupt spielt diese Frage in Wien aber eine im zentraleuropäischen Kontext verhältnismäßig weit unterlegene Rolle, da „in Wien Reform und Orthodoxie nicht so weit von einander getrennt und geschieden sind, wie anderswo. Hier machen sich reformatische und orthodoxe Ansichten blos auf liturgischem Gebiete geltend“.30 Im Kontext dieser Dynamik ist der sogenannte „Wiener Ritus“ zu verstehen, der Versuch der Rabbiner der Kultusgemeinde im 19. Jahrhundert, einen Weg auf dem schmalen Grat zwischen „Orthodoxie“ und „Reform“ zu finden, der den Ansprüchen und Herausforderungen der Zeit sowie der diversen jüdischen Bevölkerung der Stadt gerecht werden sollte.31 Diesen grundlegenden Betrachtungen über die Heterogenität und Wandelbarkeit jüdisch-religiöser Anschauungen und Praktiken folgend wird im Folgenden dargelegt, dass nahezu alle Aspekte des Friedhofs als Bestattungsraum, der damit verbundenen Praxis rund um Bestattung und Gedenken und dabei nicht zuletzt des Grabsteins, von seiner materiellen und ästhetischen Gestaltung bis hin zu seiner Beschriftung mit Laudationes und Symbolik, der permanenten Innovation, Veränderung und Entwicklung obliegen. Diese in Stein verkörperten Erinnerungen bilden somit nicht nur ein reiches Archiv an historischer Information, sondern auch ein profundes, sich stets entwickelnder Kodex von Erinnerung und (Selbst-)Darstellungen, der aus einem Spannungsfeld zwischen Individuum und Gemeinschaft, erkorener Zugehörigkeit und auferlegter Identifikation, Brauchtum und „Tradition“ hervorgeht. Sie bilden somit auch immerwährende Objekte für die Geschichtswissenschaft. 2.1
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Im modernen Hebräischen findet man drei zentrale Begriffe, die dem europäischen „Friedhof “ entsprechen, alle drei der Bibel entstammend. Diese heißen jeweils in direkter Übersetzung: das Haus des Lebens (beit hacha’im), das Haus der Ewigkeit (beit ha’olam) und das Haus der Gräber (beit hakwarot). Während seiner schweren Leiden beteuerte Hiob: „Ich weiß du wirst mich dem Tod überantworten; da ist das bestimmte Haus aller Lebendigen“ (Hiob 30,23). Einerseits
30 Alle Zitate in der Reihenfolge ihrer Nennung: Wolf, Gerson: Geschichte der Israelitischen Cultusgemeinde in Wien (1820–1860), Wien 1861, S. 31, 103, 195. 31 Vgl. Kessler, Samuel Joseph: Translating Judaism for Modernity. Adolf Jellinek in Leopoldstadt, 1857–1865, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 14 (2015).
Ursprünge und Auslegung des jüdischen Friedhofs
unterstreicht der aus dieser Bibelpassage abgeleitete, fast euphemistische Begriff „Haus des Lebens“ den Tod als universelles Schicksal der Menschheit, denn „auch die Weisen sterben, so wie die Toren und Narren umkommen; […] Gräber sind ihr Haus immerdar, ihre Wohnung für und für, und doch hatten sie große Ehre auf Erden“ (Psalm 49,11–12). Dieser Sinn wird auch in einem weiteren hebräischen Begriff vermittelt, der den Friedhof als makom shehakol shewian bo (Ort, an dem alle gleich werden) bezeichnet.32 Doch der Friedhof ist nicht nur euphemistisch ein „Haus des Lebens“, als Ziel der Lebenden, und somit in Wirklichkeit eine Stätte des Todes. Wie man weltweit in hebräischen Grabinschriften lesen kann, soll die Seele „gebündelt sein im Bündel des Lebens“ (1. Samuel 25,29). Der Friedhof, die Stätte des Todes, birgt auch das Versprechen des Lebens, denn nach messianischem Glauben versprach Gott: „Siehe, ich will eure Gräber auftun und hole euch, mein Volk, aus euren Gräbern herauf und bringe euch ins Land Israels“ (Ezechiel 37,12). Nicht zuletzt stellen jüdische Friedhöfe gerade im Kontext der europäischen Geschichte in einem noch weiteren Sinne „Häuser des Lebens“ dar: Als Stätten der lebenden Erinnerung, als materielle Zeugnisse einer Gemeinschaft, als „steinerne Archive“; auf ihren gesprungen steinernen Gesichtern stehen eingemeißelt die Lebensgeschichten der Generationen; in diesen Häusern wird das Leben dieser Generationen wieder wachgerufen. Im Psalmenspruch über die Gräber der Weisen, „ihre Wohnung für und für“ (siehe auch Jesaja 14,18), verbirgt sich ein weiterer hebräischer Begriff für den Friedhof, der sich auch im Buch Kohelet wiederfindet: „Doch ein Mensch geht zu seinem ewigen Haus und die Klagenden ziehen durch die Straßen“ (Kohelet 12,5). Den Begriff beit ha’olam (das Haus der Ewigkeit) findet man in Bezug auf Friedhöfe häufig auch aramäisiert als beit ha’almin auf. Der Friedhof ist die ewige Bleibe, weil das Grab – das Ziel aller Lebenden – die Stätte der ewigen Ruhe und somit im Laufe der Zeit im jüdischen Brauchtum zum unantastbaren Eigentum der Toten geworden ist. „Ewigkeit“ versteht sich gerade im Kontext des messianischen Glaubens paradoxerweiser als befristet auf die Zeit, wenn die Toten wieder auferstehen. In Hinblick auf diesen Glauben erklärt sich die existenzielle Barbarei der Gräberschändung, die sowohl als Angriff auf den religiösen, existenziellen Wert der Grabstätte gerichtet ist als auch auf deren langfristige Einbettung im europäischen Boden in der materiellen und kulturellen Landschaft Europas. Daraus erklärt sich schließlich das fortwährende Ringen jüdischer Gemeinden in der europäischen Geschichte, diese „Häuser der Ewigkeit“ vor vernichtenden Impulsen zu retten.
32 Zit. nach Wolf, Gerson: Die jüdischen Friedhöfe und die „Chewra Kadischa“ (heilige Bruderschaft) in Wien, Wien 1879, S. 1.
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Aus dieser Verwurzelung in der materiellen und kulturellen Landschaft erklärt sich auch der zentrale Stellenwert dieser Orte in der jüdischen Geschichte als „Grabstätten der Väter“. Dieser Begriff, auf Hebräisch gewandelt beit hakwarot (das Haus der Gräber, eine archaische Ausdrucksform des Maskulinums kewer mit weiblicher Deklination), leitet sich aus einer Klage Nehemias ab, als er von der Verwüstung Jerusalems erfährt: „Warum sollte ich nicht traurig aussehen, da die Stadt, wo das Haus der Grabstätte meiner Väter ist, verwüstet liegt, und ihre Tore durch das Feuer verbrennet worden sind?“ (Nehemia 2,3). Jüdische Grabstätten sind seit der Dämmerung der Geschichte Orte der Ahnen, wie gleich zu Beginn der Bibel ersichtlich, als Abraham eine Höhle von den HetiterInnen kaufte, im Acker von Machpela in der Nähe von Hebron, welche ihm fortan „zum Erbbegräbnis“ wurde (1. Moses 23,19). Der Begriff „Haus der Gräber“ stellt im modernen Hebräischen den scheinbar pragmatischsten Begriff für den Friedhof dar, doch liegen seine Ursprünge in einem bei Weitem profunderen Kontext von Abstammung und Erbschaft – ob im direkten, familiären oder im weiteren gemeinschaftlichen und kulturellen Sinne. Auch daraus erklärt sich die profunde Bedeutung dieser Orte durch die jüdische Geschichte, vor allem in Zeiten der Verfolgung und der Versuche des kulturellen Genozids, in Europa zuletzt während der Shoah. Solche sprachlichen Kontinuitäten zwischen dem antiken Schrifttum und dem modernen hebräischen Sprachgebrauch verschleiern allerdings die historische Veränderlichkeit der kulturellen Praxis, die sie angeblich beschreiben. Die Bestattungsformen und -praktiken haben sich durch die Jahrtausende nämlich stets verändert, manchmal drastisch, wenn auch die Bezeichnungen für Grabstätten die gleichen geblieben sind. Jenseits dieser Verflechtung von Sprache, schriftlich-religiöser Überlieferung und vermeintlicher Historizität mag es verwundern, dass es den „jüdischen Friedhof “ als solchen in der Antike, geschweige denn im biblischen Schrifttum, nachweislich nicht gab. Hier muss zwischen dem uralten Brauch der Familienbegräbnisse und dem entscheidend moderneren Konzept des „Friedhofs“ unterschieden werden, wobei Letzteres, als „Friedhof “ in unserem Verständnis, nachweislich erst im mittelalterlichen Europa entstanden ist. Fest steht, dass die Bestattung des Leichnams einer der ältesten nachweisbaren Bräuche im Judentum ist, der sich schon in den frühesten Versen der Tora, dem ältesten Teil der Bibel niederschlägt, im Sinne „du bist Erde und sollst zu Erde werden“ (1. Moses 3,19). Die Feuerbestattung lehnten hingegen schon die urgeschichtlichen IsraelitInnen weitgehend ab, und sie wurde in der Bibel entweder als Strafe oder als Schmach eingesetzt (vgl. 1. Moses 38,24, Josua 7,25 und Amos 2,1). Sie gilt bis heute weitgehend als chukat hagoi (unjüdischer Brauch) und wird in orthodoxen Gemeinden vollständig abgelehnt. Der orthodoxe Rabbiner Maurice Lamm forderte seine Leser in seiner in der
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englischsprachigen Welt populären Anleitung zur jüdischen Trauerpraxis sogar dazu auf, im Falle, dass verstorbene Angehörige sich eine solche Bestattung wünschten, diesen Wunsch einfach zu ignorieren. Auch darf nach dieser Auffassung die Asche feuerbestatteter Leichen nicht in einem jüdischen Friedhof begraben werden, und es soll sogar für diese Bestatteten keine shiwa (Trauer für verstorbene nächste Verwandte) gehalten und kein Kaddish (Trauergebet) gesagt werden: Solche Menschen hätten „das jüdische Gesetz unabdingbar aufgegeben“.33 Stellte dieser Brauch noch im frühen 20. Jahrhundert einen von verschiedenen Streitpunkten zwischen Orthodoxie und Reform dar, so erlebte er einen schreckliche Einschnitt in der Shoah, als Millionen von Menschen ermordet und eingeäschert wurden, wodurch sich die Stellungnahme zur Beisetzung von Aschen auf jüdischen Friedhöfen grundlegend veränderte. Das erste Begräbnis in der Bibel ereignete sich nach dem Tod von Abrahams Frau Sara. Es war Abraham als Fremder in einem fremden Land ein Anliegen, die Unantastbarkeit ihrer Grabstätte zu versichern, und so erwarb er käuflich die Höhle in Machpela, wo auch er nach seinem Tod bestattet wurde (1. Moses 25,9). Ab diesem Zeitpunkt etablierte sich einerseits der Brauch, die Grabstätte (wobei zuerst nur das eigentliche Grab bzw. eine Mehrzahl an Gräbern gemeint ist) als Eigentum zu erwerben, um so deren Unantastbarkeit zu sichern, andererseits der Brauch, bei den „Vätern“ (den Ahnen) begraben zu werden, wo auch immer diese lagen – man bemerke den geschlechtsspezifischen Ausdruck, obwohl das Grab in Machpela ursprünglich für eine Frau und Mutter angelegt wurde. So bat Jakob im ägyptischen Exil seinen Sohn Josef, seine Gebeine nicht im fernen Land zu begraben, „sondern ich will liegen bei meinen Vätern, und du sollst mich aus Ägypten führen und in ihrem Grab begraben“ (1. Moses 47,30). Es häufen sich die biblischen Stellen, wo von solchen Erbbegräbnissen die Rede ist, etwa in Josua 24,33; Richter 8,32; 2. Samuel 19,38 und 2. Könige 9,28. Zudem finden sich wiederholt in der Bibel Ausdrücke wie „zu ihren Vätern versammelt werden“ (Richter 2,10) oder „sich zu den Vätern legen“ (2. Chronik 16,13) als Umschreibungen für das Sterben. Dies unterstreicht somit die Wichtigkeit der Bestattung an sich sowie der Bestattung bei den eigenen Ahnen, in den „Grabstätten der Väter“. Umgekehrt galt es als tiefste Schmach, nicht bei den Ahnen begraben zu werden (vgl. 1. Könige 13,22). Wie im Falle Abrahams scheinen Höhlen sowohl aus der biblischen wie aus der archäologischen Überlieferung (vgl. für Ersteres Jesaja 22,16 und für Letzteres die Ausgrabungen im Kidrontal in Jerusalem) bevorzugte Begräbnisstätten in der Antike gewesen zu sein, und dies vor allem als familiäre Begräbnisstät-
33 Lamm, Maurice: The Jewish Way in Death and Mourning, New York 1969, S. 56–57, 84.
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ten.34 Diese Höhlenbegräbnisse wurden dann auch in den römischen Provinzen in gewandelter Form als Katakomben fortgeführt.35 Es finden sich aber auch verschiedene biblische Hinweise auf Begräbnisse, die auf privaten Grundstücken stattfanden, also auch in für diesen Zweck nicht bestimmten Begräbnisstätten. So wurde Josua „in dem Gebiet seines Erbteils“ (Josua 24,30), Samuel „in seinem Hause zu Rama“ (1. Samuel 25,1) und Joab „in seinem Hause in der Wüste“ (1. Könige 2,34) begraben. Bezeichnenderweise wurden die Begriffe beit hacha’im und beit ha’olam ursprünglich für einzelne Grabstätte verwendet, somit sind diese Begriffe in ihrer späteren übertragenen Bedeutung als „Friedhöfe“ gewandelt von ihren biblischen Vorgängern. Andererseits werden in 2. Könige 23,6 auch „die Gräber des einfachen Volks“ angesprochen, wobei es sich vermutlich um anonyme Massenbegräbnisse handelt, waren sichtbar identifizierte Grabstätten im Laufe der Geschichte meist den Reichen und Mächtigen vorbehalten. Diese Interpretation wird vor allem in der Beschreibung der Hinrichtung Uriahs unterstrichen, dessen Leichnam „unter dem niederen Volk begraben“ wurde (Jeremia 26,23; siehe auch Ezechiel 39,11). Andererseits, wie Gustav Cohn auch andeutete, bilden diese Gemeinschaftsgräber „gewissermaßen die ältesten Vorläufer der späteren Friedhöfe“.36 Aus der Sorge um die Bestattung entwickelte sich ein eigenständiges Gebot, die met mitzwa (Gebot des Toten), demzufolge eine Leiche unbedingt begraben werden soll, und das so schnell wie möglich (vgl. 2. Samuel 21,14 und Bava Kama 81a). Das gilt selbst bei der Leiche eines hingerichteten Sünders (5. Moses 21,23). Dahingegen ist der heute fest verankerte Brauch, den Leichnam direkt in die Erde zu bestatten und die Grabstätte auf „Ewigkeit“ ungestört zu bewahren, eine erst spätere Erscheinung. Im antiken Israel war nämlich noch die sogenannte Zweitbestattung durchaus üblich. Dabei wurde der Leichnam zur schnellstmöglichen Verwesung direkt in die Erde in einem vorläufigen Grab bestattet und die Gebeine dann später eingesammelt und in Höhlengräbern oder Ossuarien (Gebeinhäusern) wiederbestattet. Auch wurden in der Antike, vor allem unter den Judenheiten außerhalb Israels bzw. im babylonischen Exil, häufig Überführungen von Leichen nach Israel durchgeführt – ein Brauch, der erst im römischen Zeitalter nachzulassen begann und schließlich mit dem späteren Aufkommen des messianischen Glaubens fast zur Gänze aufhörte, da die Toten nach dieser Ansicht mit dem Kommen des Messias wiederauferstehen und erst dann nach Israel zurückkehren werden. Vor allem nach der Staatsgründung Israels 1948/49 wurden Leichenüberführungen ins Heilige Land wieder 34 Vgl. auch Cohn, Gustav: Der jüdische Friedhof. Seine geschichtliche und kulturgeschichtliche Entwicklung, Frankfurt am Main 1930, S. 9–10. 35 Vgl. Jacobs, Joachim: Houses of Life. Jewish Cemeteries of Europe, London 2008, S. 24–29. 36 Cohn: Der jüdische Friedhof, S. 13.
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vermehrt unternommen. Demnach ist sogar die Erdbestattung in seiner pragmatischen Durchführung, vor allem in Hinsicht auf die Unantastbarkeit der Grabstätte nach der erstmaligen Bestattung, ein erst im Laufe der Geschichte entstandener Brauch unter den verschiedenen Judenheiten der Welt. Über die Vorstellung von Tod und Jenseits, sowie von leiblicher Wiederauferstehung und damit verbunden der „Ewigkeit“ des Grabes, widersprachen sich schon die biblischen Texte. In den Psalmen bieten sich verschiedene Vorstellung des Jenseits, einerseits She’ol, das „Land des Vergessens“, wo „lauter Bosheit“ herrscht, und andererseits das ewige Leben bzw. die Erlösung, welche als solche nicht näher beschrieben wird (vgl. Psalm 55,16; 56,14; 88,13 usw.) Der Glaube an einen kommenden Messias, der die Verstorbenen wiederauferstehen lässt und sie zurück in das Gelobte Land führt, der heute oft stillschweigend als universeller, normativer Glauben im Judentum angesehen wird, verankerte sich erst in der postbiblischen Zeit und wurde durchaus nicht von allen religiösen Strömungen innerhalb des Judentums vertreten.37 Bis heute herrschen im Judentum unterschiedliche Vorstellungen gegenüber Fragen des Jenseits, der Wiederauferstehung und des messianischen Glaubens, auch wenn man sich einigermaßen – wenngleich recht agnostisch – einig ist, dass es in irgendeiner Form nach dem Tod weitergeht.38 Wie es im Talmud lakonisch heißt, ist diese Welt „eine vorübergehende Herberge; die kommende Welt ist eine Heimstätte“.39 Der Rabbiner Ernst Roth verwies auf den wiederholt auftretenden Begriff beit kwarot im Talmud (beispielsweise in Ketubot 20b und 28b, Bava Batra 100b und Sanhedrin 47b), was ihn vermuten ließ, „daß die Einrichtung des allgemeinen Friedhofs in der talmudischen Epoche [Spätantike] allgemein verbreitet war“.40 Im Talmud findet sich auch die Bezeichnung chatzer mowet (Hof des Todes; Berachot 18b), was dem deutschsprachigen Konzept des „Friedhofs“ sprachlich auffällig ähnlich ist und erstmals die räumliche Abtrennung einer allgemeinen Begräbnisstätte unterstreicht. Die Praxis der Einweihung des Friedhofs als sakraler Raum leitet sich ebenfalls vom Talmud ab (Moed Katan 8b), dürfte aber eine erst im Mittelalter „erfundene Tradition“ sein. Wenn also ein moderner Rabbiner behauptet, die Heiligkeit eines Friedhofs sei gleich der Heiligkeit einer Synagoge, und dass ein Friedhofsgrundstück, selbst, wenn es lange nicht mehr als solches identifizierbar ist, auf Ewigkeit einen sakralen 37 Vgl. Gillman, Neil: Death and Afterlife, Judaic Doctrines of, in: Neusner/Avery-Peck/Green (Hg.), The Encyclopaedia of Judaism, Bd. 1, S. 196–212. 38 Vgl. Jewish Theological Seminary of America (Hg): From This World to the Next. Jewish Approaches to Illness, Death & the Afterlife, New York 1999. 39 Zit. nach Rabinowicz, Harry: A Guide to Life. Jewish Laws and Customs of Mourning, London 1964, S. 44. 40 Roth: Zur Halachah des jüdischen Friedhofs, S. 98.
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Raum darstellt, dann muss dies auch gewissermaßen als „erfundene Tradition“ der neueren Geschichte angesehen werden.41 Wie der Historiker Avriel Bar-Levav zusammenfasste, ist der jüdische Friedhof eine „postbiblische Institution und, in seiner heutigen Erscheinungsform, eine mittelalterliche“, wobei er ebenfalls auf die verschiedenen Bestattungsformen der Antike, inklusive der Zweitbestattung, verwies.42 Was jüdische Begräbnisstätten seit der Antike gemein haben, so auch die später entstehenden jüdischen Friedhöfe in Europa, ist die räumliche Abtrennung von den Siedlungen der Lebenden. Sie wurden stets marginal angelegt, allerdings später durch die urbane Entwicklung des Öfteren von der Stadt wieder überholt, wie es auch den älteren jüdischen Friedhöfen Wiens in der Seegasse und in Währing widerfahren ist. Diese räumliche Marginalität spiegelt die rituelle Unreinheit der Toten wider, worin auch einer der wesentlichsten Unterschiede zwischen der vormodernen christlichen und der jüdischen Sepulkralkultur bestand. In der Mishna, die als Grundlage des Talmuds in der Spätantike und somit lange nach den biblischen Schriften entstand, wird noch von der shechunat hakwarot (Nachbarschaft der Gräber) gesprochen, was eher auf einen vage definierten Raum von verstreuten Grabstätten deutet als auf einen geschlossenen, spezifisch für Bestattungen bestimmten „Hof “. Später wird dieser Begriff auch im Sinne verstanden, dass der außerhalb der Stadt gelegene Friedhof die „Nachbarschaft“ der Toten darstellt im Gegensatz zur Stadt selbst als Nachbarschaft der Lebenden.43 Die allmähliche Etablierung der Vorstellung des allgemeinen Bestattungsraumes über das einzelne Grab heraus zeigt sich in der Ermahnung, dass bei Auffindung von Gebeinen in einem Feld das gesamte Feld als unrein zu erklären ist (Ohalot 17,1). Wenn eines in der langen Geschichte der jüdischen Sepulkralkultur feststeht, dann ist dies die Erdbestattung, allerdings auch hier mit Ausnahme der Zweitbestattung von Gebeinen in Ossuarien in der Antike und der Leichenverbrennung in Pestzeiten. „Die grundsätzliche Einstellung ist geblieben“, folgerte Gustav Cohn, „gewandelt aber haben sich die äußeren Formen der jüdischen Grabstätten“.44 Der Ursprung des Friedhofs nach heutigem Verständnis liegt in der frühmittelalterlichen Entwicklung der Begräbnisstätten in Europa extra muros (außerhalb der Siedlungsmauern). Diese allmähliche Entstehung des Friedhofes als ontologisch verstandener Raum spiegelt sich in der Etymologie des Wortes 41 So etwa Lamm: The Jewish Way, S. 74. Bei Ernst Roth findet sich eine ähnliche Behauptung. Roth: Zur Halachah des jüdischen Friedhofs, S. 116. 42 Bar-Levav, Avriel: We Are Where We Are Not. The Cemetery in Jewish Culture, in: Jewish Studies 41 (2002), S. 19. 43 Vgl. Bar-Levav: We Are Where We Are Not, S. 18, 22. 44 Cohn: Der jüdische Friedhof, S. 7.
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wider, im mittelhochdeutschen „Freithof “ – ein eingefriedetes Grundstück, was also mit „Frieden“ an sich nichts zu tun hat, eine Sinndeutung die ex post facto zugeordnet wurde. Wie es Philippe Ariès festhielt, erklärt gerade die Neuigkeit dieses geschlossenen, zweckbestimmten Raumes „das Bedürfnis, ihn zu benennen“.45 Es ist sogar zu vermuten, dass Jüdinnen/Juden und ChristInnen vor dem Hochmittelalter zusammen in gemeinschaftlichen Begräbnisstätten bestattet wurden, welche insofern als „interkonfessionelle“ Räume galten. In der Tat gibt es auch archäologische Funde von gemeinschaftlichen mittelalterlichen Begräbnisstätten, allerdings schließt das Fehlen von Grabsteinen aus dieser Zeit, in der Grabstätten vorwiegend mit schnell verrottenden und heute somit nicht erhaltenen Holztafeln gekennzeichnet wurden, eine Identifizierung nach religiösem Bekenntnis größtenteils aus. Erst mit der Ausbreitung des christlichen Heiligenkults, wonach sich ChristInnen zunehmend um die nun zunehmend sakralisierten Heiligengrabstätten bestatten ließen, begannen sich konfessionalisierte Sepulkralkulturen zu etablieren, vor allem, als diese Begräbnisse ad sanctos dazu führten, dass christliche Kirchen rund um die Begräbnisstätten gebaut wurden.46 Der hieraus entstehende christliche Brauch, die Verstorbenen unter, innerhalb und rund um die Kirchen zu bestatten, sollte sich über Jahrhunderte durchsetzen, so auch in den ältesten bekannten christlichen Bestattungsräumen Wiens, beispielsweise beim Stephansdom oder bei der Peterskirche in der Inneren Stadt. Alleine diese Entwicklung war gewiss für die sich damals in zunehmender Abgesondertheit befindlichen jüdischen Gemeinschaften Europas maßgebend, ihre Verstorbenen fortan getrennt zu bestatten. So stellte Gustav Cohn fest, dass der jüdische Friedhof „zweifellos“ erst mit der Erscheinung des räumlich getrennten christlichen „Kirchhofs“ entstanden und „eine allgemeine Einrichtung geworden“ ist.47 Bezeichnenderweise wurde aber erst im 12. Jahrhundert seitens der katholischen Kirche die Bestattung von jüdischen Verstorbenen in christlichen Friedhöfen verboten, was wiederum auf gemeinschaftliche Begräbnisse in den Epochen zuvor deutet. Ab dieser Zeit galten die jüdischen Friedhöfe Europas jedenfalls als die „wesentlichsten jüdischen Enklaven in christlichen Ländern“, ein Status, den sie heute weitgehend noch in der kulturellen Imaginäre hegen.48 Die Trennung der Sepulkralkulturen im Laufe des Mittelalters verlief parallel zur Trennung der Konfessionen, zum Aufstieg des Christentums bzw. der katholischen Kirche als hegemoniale geistliche Macht in Europa und zur zu45 Ariès: Geschichte des Todes, S. 72. 46 Ariès, Philippe: Bilder zur Geschichte des Todes, aus dem Französischen von Hans-Horst Henschen, München 1984, S. 20. 47 Cohn: Der jüdische Friedhof, S. 22. 48 Goldberg: Jewishness in the Making, o. S.
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nehmenden Anfeindung des europäischen Judentums durch das Christentum. Die räumliche Abspaltung der jüdischen Friedhöfe kann somit als Reaktion auf die zunehmend gewaltsame Verfolgung der jüdischen Bevölkerung seinerzeit und die oft damit einhergehende Zerstörung jüdischer Grabstätten verstanden werden.49 Wichtig ist aber gleichzeitig die Feststellung, dass diese Abtrennung an sich eine gewisse Neuerscheinung darstellte. Insofern müssen die ab dieser Zeit grob getrennten Entwicklungen der jüdischen bzw. der christlichen Sepulkralkultur in Europa als unterschiedliche Erscheinungsformen einer übergeordneten europäischen Sepulkralkultur betrachtet werden, wobei keine davon einen höheren Anspruch auf Authentizität in der europäischen Kulturgeschichte darstellt. Die Trennung der Kulturen schlug sich indes auch in der gesellschaftlichen Organisation nieder, wie die Historikerin Martha Keil feststellte: So bildeten die aufkommenden jüdischen Gemeindeorganisationen des Hochmittelalters im Wesentlichen eine Parallele zu den gleichzeitig entstehenden christlichen Gemeindeorganisationen. Bezeichnenderweise wurden gerade solche jüdische Gemeinden als „Hauptgemeinden“ angesehen, die über einen eigenen Friedhof verfügten, denn „nur die bedeutendsten Gemeinden“ mit Aussicht auf „eine gewisse Kontinuität“ hatten den Bedarf, einen solchen Bestattungsraum erst anzulegen.50 Der Friedhof als urbaner jüdischer Raum hatte sogar einen noch wichtigeren Stellenwert als die Synagoge, da Gebete auch in einem Privathaus abgehalten werden können, Bestattungen jedoch spätestens seit dem Mittelalter ausschließlich in einem hierfür vorgesehenen Friedhof zu erfolgen hatten.51 Insgesamt zeigt sich also eine Konvergenz im Hochmittelalter von der Entstehung segregierter jüdischer Gemeindeorganisationen und Friedhöfe – eine neue Segregation, die sich auffällig in der Verwendung der hebräischen Sprache als nun mehr alleinige geläufige Sprache in der jüdischen Sepulkralepigraphik offenbarte. Im christlichen Brauch war der Bestattungsraum das Wesentliche, und nicht die einzelnen Grabstätten an sich.52 So waren Massengräber und Ossuarien weit verbreitet, während einzelne, persönlich gekennzeichnete Grabstätten lange Zeit nur den Reichen und Mächtigen, wie etwa Herrschern, Geistlichen und Händlern, vorbehalten waren.53 Eine individuelle Erinnerungskultur in Form von einzelnen Grabstätten samt eigenen Denkmälern breitete sich in der christ49 50 51 52 53
So vermutete es auch Rabinowicz: A Guide to Life, S. 116. Brugger et al.: Geschichte der Juden in Österreich, S. 39–41. Vgl. Roth: Zur Halachah des jüdischen Friedhofs, S. 101. Vgl. Ariès: Geschichte des Todes, S. 75-83 und Ariès: Bilder, S. 29. Vgl. Schwarzfuchs, Simon: The Medieval Jewish Cemetery, in: Müller, Karlheinz/Schwarzfuchs, Simon/Reiner, Abraham (Hg.): Die Grabsteine vom jüdischen Friedhof in Würzburg aus der Zeit vor dem Schwarzen Tod (1147–1346), Bd. 1, Würzburg 2011, S. 162.
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lichen Sepulkralkultur demnach nicht bis in die Moderne vollständig aus. Diese individuelle Erinnerungskultur, worin jede der einzelnen Verstorbenen eine eigene Grabstätte samt Grabstein zugewiesen bekam, hatte sich hingegen in der jüdischen Sepulkralkultur weitgehend schon im Mittelalter etabliert und stellt somit eine wichtige Kontinuität durch die verschiedenen Epochen dar, auch wenn sich Form und Inhalt dieser Erinnerungskultur wandeln sollte. Dabei muss aber festgestellt werden, dass sich in Ermangelung von statistischen Quellen heute nicht nachvollziehen lässt, wie viele Bestattungen in einzelnen alten jüdischen Friedhöfen stattfanden und wie viele davon ein bleibendes, steinernes Denkmal erhielten. Vermutlich zeugen die heute noch erhaltenen mittelalterlichen Denkmäler aus der jüdischen Sepulkralkultur ebenfalls überwiegend von der privilegierten Gesellschaftsschicht. Manche Studien zur europäischen Sepulkralgeschichte stellen den Friedhof irrtümlicherweise als christliche Erfindung dar, ein Symptom der christlichzentrischen Geschichtsschreibung auch in diesem Bereich der europäischen Kulturgeschichte.54 Tatsächlich war diese Entwicklung früher oder später allen europäischen Gemeinschaften und Kulturen des Mittelalters gemein, wobei der Friedhof allerdings im europäischen Judentum spätestens seit dem Hochmittelalter schon als alleiniger Bestattungsraum galt. Auch unterschieden sich die Auffassungen von Pietät und Brauchtum in Bezug auf diese Räume zwischen Kulturkreisen: So wurden mittelalterliche christliche Friedhöfe, oft in den Zentren von Dörfern und Städten und rund um die Kirchen und Kathedralen als gesellschaftliche Anlaufstellen gelegen, durchaus auch als Räume zur Sozialisierung verstanden, als Treffpunkte und sogar als Markträume.55 Hingegen stellt die rituelle Unreinheit der Grabstätte – und damit später auch des gesamten Friedhofes – eine der beständigsten Kontinuitäten der jüdischen Sepulkralkultur durch die Epochen dar. Spätestens in der Frühen Neuzeit galten die jüdischen Friedhöfe als solch zentrale (wenn geographisch marginale) gemeinschaftliche Einrichtungen, und die Bestattung eines jeden einzelnen jüdischen Verstorbenen in einem jüdischen Friedhof als derart zentraler Brauch, dass jüdische Verstorbene oft von nah und fern zu den Friedhöfen der größeren Gemeinden gebracht wurden, die demnach so etwas wie regionale „Zentralfriedhöfe“ darstellten. Erst in der jüngeren Geschichte, vor allem infolge der sukzessiven Emanzipationsentwicklungen in Europa, gelang es auch den kleinsten jüdischen Gemeinden, ihre eigenen Begräbnisstätten anzulegen.56 Somit galt das Bestehen eines jüdischen Friedhofs lange als Merkzeichen der Größe und des Ansehens einer jeweiligen Gemeinde. 54 So z. B. Sörries: Ruhe Sanft, S. 15. 55 Vgl. Ariès: Geschichte des Todes, S. 83. 56 Vgl. Cohn: Der jüdische Friedhof, S. 25.
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Mit dem Anbruch der Moderne und der wachsenden Furcht vor der medizinischen Unreinheit der Leiche wurden von Frankreich ausgehend überall in Europa Reformen eingeführt, die die Stätten des Todes bald zur Gänze außerhalb der Stätten der Lebenden verbannt hatten – obgleich die rasante Explosion des urbanen Raumes zu Ende des 19. Jahrhundert die hier zuvor neu angelegten Friedhöfe in den Großstädten, wie die mittelalterlichen Friedhöfe zuvor, wieder rasch einholen sollte.57 Dir Vorstellung der Unreinheit der Toten im Judentum mag somit als Vorgänger dieser später allgemeinen Ansicht gesehen werden, basierte allerdings nur in den über Jahrhunderte entwickelten religiösen Reinheitsgeboten, und kam somit nur später mit modernen medizinischen Überlegungen in Einklang. Der Historiker Thomas Laqueur hat in einer umfassenden Studie zur Sepulkralgeschichte jüngst Zweifel geäußert, ob Bestattungsräume überhaupt so verseucht sind, wie in der Moderne angenommen wird, oder ob es sich bei deren Verlegung außerhalb der Stadtmauern nicht eher um eine kulturelle Wende handelte in der Einstellung zum Tod und damit verbundene religiöse Fragen.58 Das Verlegen der Bestattungsräume und das damit einhergehende Anlegen von großen, geplanten kommunalen Friedhöfen führte auch dazu, dass der europäische Friedhof bald monolithisch als einziger Bestimmungsort der Verstorbenen konzipiert wurde. Diese neuen Friedhöfe wurden demzufolge als monumentale Gemeinschaftsräume konzipiert: Der Friedhof entwickelte sich zu einem Ort, der von vorneherein für Besuche gedacht war, als (zunehmend säkulare) Kultstätte, die nicht zuletzt durch das monumentale, in Stein verkörperte Gedenken an die Großen, Mächtigen und Reichen die Vorstellung der „Gemeinschaft“ – wie auch immer verstanden – ins Leben rufen sollten. Auch wurden in diesem Zeitalter der Aufklärung und einer allgemeinen Säkularisierung – die nicht zuletzt zu einer weitgehenden Annäherung der zuvor segregierten religiösen Gruppierungen innerhalb der europäischen Gesellschaft führte – erstmals seit Jahrhunderten wieder überkonfessionelle Friedhöfe angelegt. Bezeichnenderweise waren diese aber keineswegs moderne Neuerscheinungen (und somit nebenbei gesagt auch keine Symptome einer jüdischen „Assimilation“ an die christliche Sepulkralkultur), sondern – angesichts der erst ab dem Hochmittelalter eintretenden Trennung der konfessionellen Begräbnisstätten – eine Rückkehr, wie der Historiker Joachim Jacobs festhielt, zum „Muster der gemeinsamen christlich-jüdischen Begräbnisstätten aus der Zeit vor dem 12. Jahrhundert“.59
57 Vgl. Ariès: Geschichte des Todes, S. 608–631. 58 Laqueur: The Work of the Dead, S. 215–238. 59 Jacobs: Houses of Life, S. 33.
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Mit dem Massensterben im Ersten Weltkrieg und dem damit europaweit einhergehenden, meist ins Pathologische übersteigerten Nationalismus, nahm der Friedhof einen zunehmend massenorientierten, uniformen Charakter an, was sich vor allem in den Soldatenfriedhöfen dieser Zeit, aber auch in den zunehmend massenproduzierten Grabsteinen der Durchschnittsbevölkerung abzeichnete. Vor allem in den 1920er-Jahren setzte überall in Europa und darüber hinaus ein Rückgang an Größe, Monumentalität und Eigenart der Grabsteinkunst ein. Gleichzeitig vermehrten sich überall, in allen Ländern und Gemeinden, ob kommunal und konfessionslos oder religiös und konfessionell, Verordnungen zum Bestattungswesen und zur Anfertigung der Grabdenkmäler und deren Inschriften, was auch zu einer Anhäufung der Quellengattung der Friedhofsordnungen und nicht selten zu innerkommunalen Konflikten führte.60 Bis Ende des 20. Jahrhunderts hatte sich vor allem in der hoch entwickelten Welt ein Wandel vollzogen, nachdem der Tod endgültig aus dem Umfeld der Lebenden vertrieben wurde, gebannt in Sterbehaus, Spital und Friedhof.61 Letzterer bildet in diesem Kontext meist den einzigen Erinnerungsort, der heute noch materiell die Lebenden an die Toten bindet. Darüber hinaus dienen heutige Friedhöfe durchaus anderen Zwecken, wie etwa als grüne Lungen im Stadtbild, Touristenattraktionen oder Orte der wissenschaftlichen Forschung. Gerade die moderne Entwicklung des Friedhofs in Anlehnung an städtische Parkanlagen führt zur populären Konnotation mit „Inseln der Ruhe“: „Friedhöfe sind Inseln der Ruhe in der Hektik des Alltags, sie sind auslösendes Moment für Nachdenklichkeit, die nicht beunruhigt“.62 Genauso wie sich Form, Lage und Sinndeutung des Friedhofs über die Jahrhunderte wandelten, so wandelte sich auch deren räumliche Auslegung mit der Zeit. Waren seit dem Mittelalter Begräbnisstätten oft ad sanctos, rund um die Heiligen einer Gemeinde (in der jüdischen Sepulkralkultur beispielsweise um die Rabbinergrabstätten), orientiert, mit den „gewöhnlichen“ Leuten rundherum bestattet, und konnten sich damals oft nur die Reichen und Mächtigen ehrenvolle, langlebige und individuell markierte Grabstätten leisten, so ist es mit der Demokratisierung des Bestattungswesens in der Neuzeit, vor allem in größeren Gemeinden mit entsprechend hohen Zahlen an Begräbnissen, üblicher geworden, die einzelnen Begräbnisse chronologisch den Reihen entlang zu organisieren. Somit spiegeln neuere Friedhöfe, die über einen längeren Zeitraum belegt wurden, in ihren verschiedenen Abteilungen meist die sich wandelnde 60 Vgl. Sörries: Ruhe Sanft, S. 165–166 und Mytum, Harold: Recording and Analysing Graveyards, York 2000, S. 14. 61 Ariès: Geschichte des Todes, S. 716, 729–730. 62 Ackerl, Isabella/Bouchal, Robert/Schödl, Ingeborg: Der schöne Tod in Wien. Friedhöfe, Grüfte, Gedächtnisstätten, Wien 2008, S. 7.
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Ästhetik der unterschiedlichen Belegungszeiten wider. Allerdings wird auch dieses chronologische Muster durch die geläufige Gliederung der Gräber in unterschiedliche „Klassen“ sowie der Anlegung von „Ehrenreihen“ unterbrochen, eine Kontinuität mit der hartnäckigen Selbstbehauptung eben der Prominenten einer Gemeinde, einst wie jetzt. Die Vergabe von Ehrengräbern seitens der Kultusgemeinde in Wien, wie aus einem Nachruf hervorgeht, sollte beispielhaft möglichst an jenen Stellen stattfinden, wo „viele, viele Besucher des Friedhofes vorübergehen“.63 In den Psalmen wird gebeten: „Raffe meine Seele nicht hin mit den Sündern noch mein Leben mit den Blutdürstigen“ (Psalm 26,9), was als Aufruf verstanden wird, den Friedhof so weit möglich nach ähnlicher Gesinnung bzw. Lebenswandel auszulegen. Die Definition derer, die als „Sünder“ gelten, hat sich auch stark in der neueren Geschichte gewandelt. Wurden hierunter beispielsweise ehemals Selbstmörder eingeschlossen, die infolge nur am Rande wenn überhaupt in jüdischen Friedhöfen begraben wurden, hat sich das Verständnis dieses Akts der Verzweiflung mit der Entwicklung der modernen Psychologie stark verändert und wird heute üblicherweise auch im religiösen Judentum als „Resultat vorübergehender Unzurechnungsfähigkeit aufgrund einer Depression“ angesehen.64 Historisch gesehen wurden auch Ausnahmen gemacht, wenn der Selbstmord sich als Ausweg im Angesicht von Verfolgung darstellte, wie paradigmatisch im Falle Sauls (1. Samuel 31,4). Unter den schweren Verfolgungen des Mittelalters wurde ein solcher Freitod sogar als kiddush hashem (Heiligung von Gottes Namen) sakralisiert. Noch heute wird allerdings in vielen orthodoxen Kreisen ein Selbstmörder schlicht als „Mörder“ betrachtet, wobei der Selbstmord „ein noch abscheulicheres Verbrechen ist als Mord“, da der „Mörder“ in diesem Fall nicht mal seine Tat bereuen kann.65 Freilich wurde die Beerdigung von „Sündern“ gerade in der vormodernen, vorwiegend religiös geprägten Zeit auch in der christlichen Sepulkralkultur verboten.66 Ein Beispiel der starren und nachweislich falschen Vorstellung einer ununterbrochenen „Tradition“ in der jüdischen Sepulkralkultur ist die Behauptung, jüdische Grabstätten seien nach Tradition oder Halacha gegen Osten gerichtet.67 Dies war nachweislich nur einer von mehreren unterschiedlichen Bräuchen, so 63 64 65 66 67
Dr. Josef Mandl zum Gedenken, in: Die Gemeinde, 17. November 1966, S. 4. Klein, Isaac: A Guide to Jewish Religious Practice, New York 1979, S. 283. Lamm: The Jewish Way, S. 215–216. Ariès: Geschichte des Todes, S. 59–62. Siehe z. B. Walzer: Jüdische Friedhöfe in Europa und den europäischen Ländern, S. 31 sowie jüngst Klein: Metropolitan Jewish Cemeteries of the 19th and 20th Centuries, S. 51, obwohl Klein später selbst unter Bezugnahme auf den einflussreichen Rabbiner Moses Sofer darauf hinwies, dass „das jüdische Gesetz nicht vorschreibt, dass alle Gräber in einer bestimmten Richtung orientiert sein müssen“, S. 78.
Ursprünge und Auslegung des jüdischen Friedhofs
wurden jüdische Grabstätten auch nach Süden oder in Richtung des Friedhofeingangs ausgelegt.68 Es ist übrigens im europäischen Christentum bzw. dem nahöstlichen Islam oft gewöhnlich, die Grabstätte nach Osten auszurichten.69 Somit kann dies in keiner Weise als „jüdischer“ Brauch, oder umgekehrt die Auslegung in einer anderen Richtung als „unjüdisch“, gedeutet werden. Ernst Roth meinte in seiner Auslegung zur Halacha, ein Friedhof bedürfe eines Zauns, vor allem „bei der Errichtung eines jüdischen Teils innerhalb eines allgemeinen Zentralfriedhofs“ oder „wenn der jüdische Friedhof direkt an einen nichtjüdischen Friedhof angeschlossen wird“, deutete aber auch darauf hin, dass hierzu im Korpus der Halacha keine expliziten Regelungen zu finden sind.70 Somit ist dies auch eine Frage des Brauchtums, nicht des Religionsgesetzes oder einer als unveränderlich aufgefassten „Tradition“. Ein einzigartiger Versuch einer Gesamtperspektive auf die Geschichte der jüdischen Friedhöfe in Europa bildet das Werk Houses of Life (Häuser des Lebens) von Joachim Jacobs. Hier finden sich aber auch zum Teil irreführende und anachronistische Darstellungen wieder, so beispielsweise die Behauptung, der erste „Friedhof “ sei von Abraham gegründet worden (gemeint ist seine Erbbegräbnisstätte in der Höhle von Machpela), oder die Behauptung, jüdische Friedhöfe müssten alle „bis zum Kommen des Messias und der anschließenden Wiederauferstehung“ liegen bleiben. Dennoch betonte Jacobs, dass sich die Gesichter der Friedhöfe „wiederholt“ im Laufe ihrer Geschichte verändert haben und somit situationsspezifisch sind: „Jüdische Begräbnisstätten waren nie zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten gleich – und sie werden sich zweifelsohne in den kommenden Jahrhunderten weiter verändern“.71 Die ältesten Zeugnisse der jüdischen Sepulkralkultur in Wien – die noch erhaltenen Grabsteine – reichen in das 13. Jahrhundert zurück. Sie stammen somit erst aus dem Spätmittelalter und unterlagen nachweislich seit dieser Zeit stetigem Wandel und Veränderung. Sie unterstreichen somit die Thesen der allgemeinen Historiographie und veranlassen die hier unternommene Friedhofsanalyse zu der grundlegenden Voraussetzung: Die Wiener jüdischen Friedhöfe sind im Kontext der zentraleuropäischen Kultur entstandene und zutiefst mit der ihr umgebenden Sepulkralkulturen verbundene Orte.
68 Vgl. Executive Committee of the Editorial Board/Kohler, Kaufmann: Cemetery, in: The Jewish Encyclopedia, Bd. 3, New York/London 1902, S. 640, und Sperber, Daniel: The Jewish Life Cycle. Custom, Lore and Iconography – Jewish Customs from the Cradle to the Grave, Ramat Gan 2008, S. 518. 69 Ariès: Bilder, S. 14. 70 Roth: Zur Halachah des jüdischen Friedhofs, S. 103–104. 71 Jacobs: Houses of Life, S. 11–12.
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2.2
Praxis rund um Trauer, Bestattung und Gedenken in der jüdischen Geschichte
Das Sterben ist eine der universellsten – wie schmerzlichsten – Erfahrungen, die alle Menschen manchmal miterleben und einmal selbst erleben müssen. Aus sowohl pragmatischen wie existenziellen Gründen – die Entsorgung der Leiche und der Umgang mit der Trauer – entstehen in allen Kulturen komplexe Rituale für den Umgang mit dem Tod, die sowohl die Sterbenden selber betreffen, wie auch die Trauernden und eventuell weitere Personen, die in die Situation miteinbezogen sind, beispielsweise Geistliche oder Friedhofsbedienstete. Die Rituale und Bräuche rund um den Leichnam, die Bestattung sowie die Trauer um und Erinnerung an die Verstorbenen drehen sich nicht zuletzt um die dazugehörigen Räume – in der jüdischen Geschichte ist das seit dem Mittelalter vornehmlich der Friedhof. Diese Trauerrituale, wie alle kulturellen Praktiken, sind historisch gewachsen und zutiefst pluralistisch, je nach geographischhistorischem Kontext sowie soziokulturellen Bedingungen wie beispielsweise Religiosität, Stand und gesellschaftliche Stellung. Insofern muss man äußerst vorsichtig mit Vorstellungen von vermeintlich universellen, eigentümlichen oder unveränderlichen „jüdischen Riten“ vorgehen.72 Es gibt einen ganzen Korpus an Werken, die sich als Gebrauchsanleitungen zur jüdischen Trauerkultur für Laien verstehen. Die 1964 veröffentlichte und mehrmals aufgelegte Anleitung des in Galizien geborenen Rabbiners Harry Rabinowicz betont, trotz dessen orthodoxer Ausrichtung, dass „die Rabbiner über die Jahrhunderte Bräuche und Riten rund um jeden Aspekt des Todes entwickelt haben“, dass in Folge eine lange, jahrhundertealte Schriftenreihe zu diesen Fragen besteht und dass es demnach eine pluralistische Breite an Bräuchen gibt, obwohl gerade die Trauerpraxis bei religiösen Menschen heute stark kodifiziert ist.73 Da sich allerdings das vorliegende Werk auf die Geschichte der Friedhöfe als urbane Räume, ihren Grabsteinen samt Inschriften und den dazugehörigen schriftlichen Quellen und Geschichten konzentriert, und da Bräuche rund um Bestattung und Trauer sowieso an den bloßen Grabstätten meist nicht zu eruieren sind, stehen die Trauerpraktiken der Wiener Judenheiten in Geschichte und Gegenwart nicht an vorderster Stelle. Somit beschränkt sich folgendes auf einen kurzen Überblick mit besonderem Fokus auf jenen Praktiken, die diese Räume mitgestaltet haben, wie beispielsweise die Anlage der Grabstätten und ihren Denkmälern. 72 Eine gute Zusammenfassung dieser Thematik, inklusive vieler Quellen und Beispiele aus verschiedenen Kontexten der jüdischen Geschichte, bildet der Ausstellungskatalog Jewish Theological Seminary of America (Hg): From This World to the Next. 73 Rabinowicz: A Guide to Life, S. 9.
Praxis rund um Trauer, Bestattung und Gedenken in der jüdischen Geschichte
Wie bei der Geschichte der Erdbestattung lassen sich auch die Riten rund um das Sterben und die Trauer zum Teil aus dem Schrifttum ableiten. So unterstreicht die Tora eindeutig die rituelle Unreinheit der Toten für die Lebenden: „Das ist das Gesetz: Wenn ein Mensch in der Hütte stirbt, soll jeder, der in die Hütte geht und wer in der Hütte ist, unrein sein sieben Tage. […] Auch wer anrührt auf dem Felde einen, der erschlagen ist mit dem Schwert, oder einen Toten oder eines Menschen Gebein oder ein Grab, der ist unrein sieben Tage“ (4. Moses 19,14 und 19,16). Die Unreinheit der Toten erstreckt sich somit auch auf das Grab als Bleibe des Toten und dehnte sich mit der späteren Entstehung des Friedhofs auf diese gesamte Stätte des Todes aus. Wer „sitzt unter den Gräbern und bleibt über Nacht in den Höhlen“ (Jesaja 65,4) gilt als unrein, und der Friedhof gilt somit als profaner Ort. Besonders streng fällt dieses Gebot für die Kohanim aus, die Priesterklasse im antiken Judentum: „Ein Priester soll sich an keinem Toten seines Volkes verunreinigen […] und soll zu keinem Toten kommen und soll sich weder über Vater noch über Mutter verunreinigen“ (2. Moses 21,1 und 21,11). Heute findet man in manchen jüdischen Friedhöfen, allerdings nicht in Wien, deshalb gesonderte Wege für Kohanim, damit sie eine vorgeschriebene Distanz zu den Grabstätten einhalten können. Sogar die rituellen Verfügungen, die sich aus dieser als althergebracht geltenden Vorstellung einer jüdischen Tradition ableiteten und heute in orthodoxen Kreisen als bindend für die Priesterklasse betrachtet werden, waren jedoch zu ihrer Zeit Gegenstand divergierender Meinungen unter Halachisten.74 Im später kompilierten Talmud finden sich etliche Diskussionen zu Bräuchen rund um Tod, Bestattung und Trauer. So dürfen beispielsweise Leichen am Shabbat und an den Hohen Feiertagen nicht zu Grabe getragen werden (Shabbat 23,4 und Moed Katan 1,6). Es gilt als Schmach, eine Leiche nicht am gleichen Tag nach Todeseintritt zu beerdigen, es sei denn, die Verzögerung dient der Ehrung des Verstorbenen durch die Besorgung eines Sarges oder Leichentuchs (Sanhedrin 6,5; siehe auch 5. Moses 21,23). Einige der 613 aus dem Schrifttum abgeleiteten und später von jüdischen Philosophen fixierten mitzwot (Gebote) beziehen sich auf den Umgang mit den Toten und deren Bestattung. Allerdings muss auch hier wieder betont werden, dass sich bestimmte Bräuche und Vorschriften sowie Verbote erst im Laufe der Zeit und manchmal nur in bestimmten Kontexten entwickelten, und somit nicht von einem zeitlosen, allumfassenden jüdischen „Totenritus“ gesprochen werden kann. So zeigte Avriel Bar-Levav, wie Maimonides im maurischen Andalusien des 12. Jahrhunderts entwickelten Auslegungen zu den 613 mitzwot bezüglich Bestattung und Totenkult zum Teil als eine bewusste Reaktion auf damals gängige
74 Vgl. Sperber: The Jewish Life Cycle, S. 546–549.
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christliche und muslimische Bräuche entstanden, beispielsweise seine Einwendung gegen den Grabbesuch als Merkmal des christlichen bzw. muslimischen Heiligenkults.75 Umgekehrt gibt es Bräuche, die einst im Judentum durchaus üblich waren, später aber als „unjüdisch“ abgelehnt wurden, so beispielsweise der Brauch, bei einem Friedhofsbesuch Blumen auf das Grab zu legen, der mehrmals im Talmud erwähnt wird.76 Auch der 1565 herausgegebene Shulchan Aruch, der als autoritatives Standardwerk der Halacha betrachtet wird, befasst sich mit den Bräuchen rund um Trauer und Bestattung und bildet somit eine wesentliche Grundlage für die spätere orthodoxe Auffassung darüber. Darin finden sich etwa die Aufforderungen, die Toten möglichst schnell zu begraben, sie auf ihrem Trauerzug zu begleiten, das Grab am Todestag aufzusuchen, sowie Verbote etwa gegen das Begräbnis nebeneinander von zwei im Leben verfeindeten Menschen, das Beziehen irgendeines Profits von einer Grabstätte oder die Wiederbestattung von Leichen – ausgenommen sind deren Überführung in das Heilige Land oder bezeichnenderweise in die väterliche Gruft, in die „Grabstätte der Väter“. Im religiösen Judentum entwickelte sich aus den Reinheitsgeboten im Laufe der Zeit ein Ritual der Leichenwaschung, auf Hebräisch genannt tahara (Reinheit oder Reinigung). Die tahara kann grundsätzlich, was vermutlich in der vormodernen Zeit üblich war, auch im Sterbehaus verrichtet werden. Die Einrichtung eines spezifischen Raums für diese Tätigkeit, der beit tahara (Taharahaus, im deutschen Sprachraum oft „Zeremonienhalle“ genannt), erfolgte nachweislich erst ab der Frühen Neuzeit und entwickelte sich in immer größerer Monumentalität, bis schließlich die Zeremonienhallen der großen jüdischen Gemeinden des 19. und frühen 20. Jahrhunderts oft von bedeutenden Architekten entworfen wurden und mitsamt den Synagogen zu den vornehmlichsten jüdischen Sakralbauten ihrer Zeit zählten.77 Bei der tahara wird die Leiche rituell mit Wasser gewaschen, in ein Leichentuch gewickelt bzw. bei Gläubigen auch in deren talit (Gebetsmantel), bevor sie in den Sarg gebettet wird. Im modernen Israel wurde ein antiker Brauch wiederbelebt, wobei die Leiche bloß in ein einfaches Tuch bzw. in den talit gewickelt direkt in die Erde bestattet wird. Allerdings unterschied sich dieser Brauch in der Vormoderne nicht wesentlich vom christlichen Brauch in Europa, da sich nur die Reichen und Mächtigen Särge leisten konnten.78 In den heutigen jüdischen Gemeinden 75 Bar-Levav: We Are Where We Are Not, S. 20–21. 76 Vgl. Lamm: The Jewish Way, S. 18 und Rabinowicz: A Guide to Life, S. 52. 77 Vgl. Jacobs, Joachim: The Heritage of Jewish Cemeteries in Europe, in: ICOMOS Deutschland und Landesdenkmalamt Berlin (Hg.): Jüdische Friedhöfe und Bestattungskultur in Europa, Berlin 2011, S. 16–17. 78 Vgl. Ariès: Bilder, S. 121.
Praxis rund um Trauer, Bestattung und Gedenken in der jüdischen Geschichte
Europas bleibt es nach wie vor üblich, Leichen in einfachen Holzsärgen zu bestatten. In seiner nachgedruckten „Rede am Sarge des Kaiserlichen Rathes Hrn. Josef Sichrovsky“ (der im Währinger Friedhof bestattet wurde, 10-3) erklärte der damalige Wiener Oberrabbiner Adolf Jellinek: „Einfach und schmucklos ist dieser Sarg; denn in Israel gibt es keinen Cultus des Todes“ – mit „Israel“ war hier die jüdische Religionsgemeinschaft gemeint.79 Laut der met mitzwa sollte die Beerdigung schnell erfolgen, wenn möglich sogar am gleichen Tag nach Eintritt des Todes, was in der Vormoderne insofern einfacher vonstattenging, da Gemeinden grundsätzlich kleiner und der Weg zum Friedhof demzufolge oft ein kurzer war. In der Neuzeit entwickelten sich zunehmend zivilgesetzliche Bestimmungen und Beschränkungen rund um die Bestattung, die das Einhalten dieses Gebotes behinderten oder sogar unmöglich machten, beispielsweise wenn eine Obduktion seitens der Behörden verlangt oder vor Furcht vor dem Scheintod eine Wartefrist von einigen Tagen auferlegt wurde. Im Wien des 19. Jahrhunderts wuchs diese Angst (Taphephobie oder „Furcht vor dem Grab“ genannt) fast zur Hysterie, wie aus den häufigen Ersuchen des sogenannten „Herzstichs“ in Testamenten dieser Zeit hervorgeht, so etwa noch in Arthur Schnitzlers Testament aus dem Jahre 1912, das hier in der Einleitung zitiert wurde: Das Herz des oder der Verstorbenen wurde durchstochen, um sicherzustellen, dass er oder sie auch wirklich tot sei. Solche gesetzlichen Eingriffe stießen jedoch auf Widerstand in orthodoxen jüdischen Kreisen, die zum Teil heute noch darin eine Verletzung des jüdischen Ritus zu erkennen meinen.80 Nachdem es heutzutage üblich geworden ist, für Organspenden aufzurufen, fühlte sich die Wiener Kultusgemeinde vor einigen Jahren etwa veranlasst, hierzu wie folgt Stellung zu beziehen: „Das Judentum hat hier eine eindeutige Weisung: Jeder Jude sollte bestrebt sein, so, wie er geschaffen wurde, auch begraben zu werden. Also wird uns nahegelegt, Organtransplantationen nicht zuzulassen.“81 Hier zeigt sich, wie oft Orthodoxie bzw. Religiosität mit „Judentum“ verschränkt wird, und wie die Forderungen der modernen Medizin oft mit den Vorstellungen von religiösem Brauchtum in Konflikt geraten. Die Neuzeit brachte auch andere Wandlungen und Neuerscheinungen mit sich, die den fortwährenden Konflikt zwischen Vorstellungen von Tradition und Halacha vorantrieben und sich in der räumlichen Gestaltung des Friedhofs niederschlugen. Zu erwähnen wären die Feuerbestattung, eine insgesamt in weiten Teilen Europas – vor allem in den vorwiegend katholischen Ländern 79 Jellinek, Adolf: Reden bei verschiedenen Gelegenheiten. Erster Theil, Wien 1874, S. 142. 80 Solche Diskussionen finden sich in historischen Abhandlungen wie Wolf: Die jüdischen Friedhöfe, S. 49 und Cohn: Der jüdische Friedhof, S. 51 sowie aus jüngerer Zeit in Lamm: The Jewish Way, S. 8–15 und Rabinowicz: A Guide to Life, S. 22. 81 Chewra Kadischa, in: Die Gemeinde, September 2009, S. 43. Hervorhebung im Original.
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– umstrittene Praxis, wie auch die Frage nach der Beisetzung nichtjüdischer EhepartnerInnen und sonstiger Angehöriger.82 Aus orthodoxer Sicht dürfen auf keinen Fall „Nichtjüdinnen“ und „-juden“ in jüdischen Friedhöfen bestattet werden – wobei die Meinungen bei der genauen Identifizierung auseinandergehen, wer dazu gehört und wer nicht, etwa aus religiöser oder familiärer Sicht. Gerade im orthodoxen Verständnis gilt dieses Verbot auch für jene Menschen, die von einer wie auch immer definierten „nichtjüdischen“ Mutter geboren wurden, egal wie die Verstorbenen sich selbst verstanden und ihre Leben gestalteten.83 Dies führte oft zur Trennung der Begräbnisstätten, entweder durch unterschiedliche Abteilungen im gleichen Friedhof oder insgesamt zur Trennung in eigenständige „orthodoxe“ bzw. „moderne“ Friedhöfe, obwohl es mit Ausnahme einer orthodoxen Abteilung beim IV. Tor des Zentralfriedhofs in der Wiener jüdischen Geschichte nie so weit kam.84 In Wien schlugen sich stattdessen alle derartigen Konflikte rund um das „jüdische“ bzw. „unjüdische“ Brauchtum innerhalb der gemeinschaftlichen Friedhöfe der Kultusgemeinde nieder. Die manchmal ad absurdum gesteigerten modernen Diskussionen rund um die „Jüdischkeit“ des Brauchtums spiegeln sich exemplarisch in der Behauptung des zionistischen Wiener Historikers Ludwig Bato, der Einsatz der Orgel im jüdischen Ritus, einer der langwierigsten Streitpunkte in der Wiener Kultusgemeinde vor der Shoah, „findet keinen Einlaß, ist sie doch im Laufe der Jahrtausende ein urchristliches Instrument geworden“ – als hätte es Christentum oder Orgel schon Jahrtausende lang gegeben.85 Dabei war die musikalische Begleitung gerade bei Trauerfeiern ein weitverbreiteter Brauch im antiken Judentum – also lange vor der Entstehung des Christentums. Dieser Brauch wurde erst später durch Grabreden ersetzt.86 Vor allem nach der Shoah verschärften sich vielerorts die Bestimmungen rund um Bestattungspraktiken, was einerseits in Bezug auf die Feuerbestattung als Reaktion auf die Einäscherung millionenfacher Opfer während der Shoah, andererseits vor allem in Bezug auf die vermeintliche „Jüdischkeit“ der zu Bestattenden als eine schleichende
82 Vgl. grundlegend Laqueur: The Work of the Dead, S. 490–502. 83 Lamm: The Jewish Way, S. 69–70. 84 Ein Beispiel einer solchen abgespalteten orthodoxen Bestattungskultur zeigt die noch erhaltene Friedhofsordnung der 1879 gegründeten „Altisraelitischen Kultusgemeinde“ zu Wiesbaden aus dem Jahre 1908: Friedhofs- und Begräbnisordnung der altisraelitischen Kultusgemeinde Wiesbaden, 1908, LBI, BM 318 W5 A6. 85 Bato, Ludwig: Die Juden im alten Wien, Wien 2011, Neuauflage des Originals aus dem Jahre 1928, S. 223. 86 Schechter, Solomon/Julius Greenstone: Funeral Rites, in: The Jewish Encyclopedia, Bd. 5, New York/London 1903, S. 529.
Praxis rund um Trauer, Bestattung und Gedenken in der jüdischen Geschichte
„Orthodoxisierung“ innerhalb der jüdischen Gemeinden Europas verstanden werden muss.87 In Bezug auf die Bestattung selbst wird nach der erfolgten tahara die Leiche bzw. bei Einäscherungen die Urne in der Erde bestattet, entweder in einem einzelnen oder mehrfachen Grab, je nach lokalem bzw. historischem Brauchtum. Seit der endgültigen Etablierung der Vorstellung des Grabes als das unanfechtbare Eigentum der darin Bestatteten und die damit einhergehende Sakralisierung des Grabes, hat sich auch eine Menge an Vorschriften ergeben, wie genau die räumliche Ausdehnung des Grabes zu definieren ist, was vor allem bei Familiengräbern oder in sonstigen Fällen an Relevanz gewinnt, wo mehr als eine Leiche in einer Parzelle zur Bestattung gelangt. So sollten Leichen durch mindestens sechs Fingerbreiten oder noch besser sechs Handbreiten Erde getrennt sein, vor allem wenn sie übereinander bestattet werden. Im mittelalterlichen Europa etablierte sich zudem ein ganzer Handel, der bis heute geführt wird, Erdreich aus dem Heiligen Land zu importieren, der bei der Bestattung unter und über der Leiche zerstreut, manchmal sogar in Mund und Augenhöhlen oder in den Händen der Verstorbenen platziert wird, und somit die Nähe der Gläubigen zum Heiligen Land und ihre erhoffte Wiederauferstehung zum Ausdruck bringt.88 Die Zeremonie der Bestattung gestaltet sich unterschiedlich schlicht oder pompös, mehr oder weniger religiös, je nach Kontext und individueller Ausrichtung. In den deutschsprachigen Ländern sind Grabstätten und Begräbnisse in jüdischen wie nichtjüdischen Friedhöfen bis heute noch meist in unterschiedliche „Klassen“ unterteilt, die unterschiedlich viel kosten. Am Grab ist es üblich, eine Trauerrede zu halten. Diese sollte nach religiösen Vorstellungen allerdings „Eigenschaften, die der Verstorbene in Wirklichkeit nicht besaß, nicht krass übertreiben oder erfinden“.89 Zum Schluss wird üblicherweise auch das Kaddish rezitiert. Dieses aramäische Gebet wird oft irrtümlich als „Totengebet“ beschrieben, ist allerdings eher ein Heiligungsgebet und ein Gotteslob und findet auch in anderen Kontexten häufig Anwendung.90 Das Kaddish in seiner heutigen Form stammt aus dem Frühmittelalter; erst im 13. Jahrhundert findet sich die Bezeichnung als „Trauergebet“, nämlich in dem vom Wiener Rabbiner Isaak ben Moses verfassten Werk Or Zarua (Das aufgehende Licht).91 Wieder findet sich hier also ein jüdischer Brauch, der nachweislich in seiner heutigen 87 Vgl. hierzu die orthodox ausgelegten Thesen in Roth: Zur Halachah des jüdischen Friedhofs, S. 114–115. 88 Ganzfried, Solomon: Code of Jewish Law. Kitzur Shulhan Arukh – A Compilation of Jewish Laws and Customs, aus dem Hebräischen ins Englische von Hyman E. Goldin, Bd. 4, New York 1963, S. 103. 89 Lamm: The Jewish Way, S. 50. 90 Vgl. Millgram, Abraham: Jewish Worship, Philadelphia 1971, S. 153–156, 330–333. 91 Vgl. Rabinowicz: A Guide to Life, S. 80–85.
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Form erst im mittelalterlichen Europa entstand. Oft heißt es, Exhumierungen werden im Judentum gescheut, allerdings ist dieser Brauch gar nicht so selten und kommt auch heute noch relativ häufig vor. Er wird vor allem dann auch von orthodoxen Kreisen gutgeheißen, wenn es darum geht, die Leiche eines jüdischen Verstorbenen von einem nichtjüdischen in einen jüdischen Friedhof oder ins Heilige Land zu überführen. Bei nahen Verwandten dauert die nach der Beerdigung eintretende religiöse Trauerzeit zwölf Monate, während der verschiedene Bräuche eingehalten werden.92 Es ist heutzutage üblich, den Grabstein nach Abschluss der Trauerzeit am ersten Todestag zu errichten, was vor allem in religiösen Kreisen normalerweise nach dem jüdischen und nicht dem gregorianischen Kalender erfolgt. Neue Gräber beim IV. Tor, der Hauptbestattungsraum der gegenwärtigen Wiener Kultusgemeinde, werden in der Zwischenzeit mit kleinen Namenstafeln versehen, bevor der endgültige Grabstein aufgestellt wird. Diese Wartezeit wird unterschiedlich erklärt, so beispielsweise dadurch, dass der Grabstein der Erinnerung an die Verstorbenen dient und deshalb erst nach einem Jahr errichtet wird, weil der Verstorbenen in den zwölf Monaten davor, vor allem von den engsten Angehörigen, täglich gedacht werden soll. Maurice Lamm verwies allerdings darauf, dass „nur wenige Gelehrte die Position vertreten“, es handle sich dabei um ein unumgängliches Gebot, es ist also eher als historisch gewachsene Praxis zu verstehen.93 Angesichts der sich wandelnden Vorstellungen der Beschaffenheit und des Zwecks eines Grabsteines über die Jahrhunderte hinweg ist gerade dies ein Beispiel von einer Interpretation eines Brauchtums ex post facto. Eher pragmatisch erklärt sich dieser Brauch dadurch, dass aufgrund der Leichenverwesung insbesondere in den ersten Monaten nach Bestattung die Erde einsinkt und somit das Grabsteinfundament instabil macht. Die Zeremonie zur Enthüllung des Grabsteines ist indes eine Frage des lokalen Brauchtums. Oft werden Psalmen gebeten, die Grabinschrift vorgelesen und zum Schluss das Kaddish rezitiert. In Wien werden oft „Grabsteinlegungen“ in der Mitgliederzeitschrift der Kultusgemeinde annonciert.94 Insgesamt steht das Judentum „übermäßigen Grabbesuchen“ gegenüber skeptisch da, weil das Grab kein „Totem“ sei und die Lebenden sich nicht „an die Toten statt an Gott“ richten sollten. Somit empfiehlt sich der Grabbesuch besonders an Tagen der besonderen Andacht, wie beispielsweise an den Todestagen der Verstorbenen (oft nach dem Jiddischen jahrzeiten genannt) wie auch an den 92 Vgl. Lamm: The Jewish Way, S. 78–79, 153. 93 Lamm: The Jewish Way, S. 198. 94 Siehe z. B. die Werbung für die Grabsteinlegung für Esriel Seifert um 11 Uhr vormittags am 12. Jänner 1975 beim IV. Tor, in: Die Gemeinde, 4. Dezember 1974, S. 19. Die Grabstelle konnte ich nicht eruieren.
Praxis rund um Trauer, Bestattung und Gedenken in der jüdischen Geschichte
Hohen Feiertagen wie Tisha Be’Aw. Mit den Toten am Grab „in Form eines Gebets“ zu sprechen, „grenzt an Gotteslästerung“ und „pure Totenbeschwörung“ und sei ohnehin von der Bibel her verboten (vgl. 5. Moses 18,11).95 Allerdings hat sich gerade dies in chassidischen Kreisen zu einem modernen „traditionellen“ Brauchtum entwickelt, wodurch die Grabhäuschen verstorbener chassidischer „Wunderrabbiner“ zu regelrechten Pilgerorten geworden sind. Die Hinterlassung von sogenannten kwitlach (singular kwitl) an diesen Grabstätten, Zettelchen mit Bitten an den Rabbiner, der hier als direktes Sprachrohr zu Gott fungiert, sind somit eigentlich ein spezifisch chassidischer Brauch und nicht ein allgemein jüdisch-religiöser.96 Der bekannteste „jüdische“ Trauerbrauch ist heute das Legen von Steinchen am Grab. Zur Herkunft und Bedeutung dieses Brauches gibt es dutzende Theorien, pragmatische sowie geistliche Auslegungen, im letzteren Fall selbstverständlich mit den etlichen biblischen Vorfällen verknüpft, in denen Steine oder Häufchen von Steinen zur Erinnerung aufgestellt wurden.97 Darauf wird unten in Bezug auf die Ursprünge des Grabsteins zurückgekommen. Das „Ceremoniell auf dem Gottesacker und von der Beerdigung“ in der Wiener jüdischen Gemeinde des 19. Jahrhunderts wurde 1861 detailliert vom zeitgenössischen Historiker Gerson Wolf beschrieben und bietet somit einen einzigartigen Einblick in das spezifisch Wiener jüdische Ritual dieser Zeit, der darüber hinaus einen Vergleich mit allgemeinen Vorstellungen der jüdischen „Tradition“ ermöglicht: Nach beendigter Abwaschung, Bekleidung und Einsargung der Leiche ist dies den Begleitenden anzuzeigen, welche paarweise das Zimmer verlassen und den leidtragenden Verwandten des Verstorbenen, die unmittelbar hinter dem Sarge zu gehen haben, sich anschliessen und bis zum Grabe in Ordnung und Stille folgen. Der Vorbeter spricht das Gebet [hatzur tamim, der Fels…, aus 5. Moses 32,4] und die Chorknaben tragen während des Leichenzuges den Psalm 91 vor. Sobald der Sarg ins Grab niedergelassen ist, tritt der Prediger oder in seiner Verhinderung ein Vorbeter zum Grabe und spricht das im Bethause bei der Andacht für die Verstorbenen eingeführte Gebet [menucha nechuna, sprichwörtlich „gebührende Ruhe“], in welchem der Verstorbene namentlich angeführt wird. Diesem Gebet folgt eines in deutscher Sprache. – Leichenreden kann der Prediger nur mit jedesmaliger Zustimmung der Vertreter halten, […] die bei deren Ertheilung die Verdienste und die ehrenhafte Stellung und Verwendung des Vorstorbenen [sic] in der Gemeinde und dessen wohlthätige, gemeinnützige Wirksamkeit berücksichtigen. Ueberhaupt ist Niemandem gestattet bei Leichenbegängnissen ein öffentliches Gebet oder eine Rede zu halten [in der Fußnote wird das folgendermaßen erklärt: „doch ist nicht jeder 95 Lamm: The Jewish Way, S. 192–194. 96 Vgl. Assaf, David: The Regal Way. The Life and Times of Rabbi Israel of Ruzhin, aus dem Hebräischen ins Englische von David Louvish, Stanford 2002, S. 317. 97 Vgl. dazu Segal, Joshua: A Field Guide to Visiting a Jewish Cemetery. A Spiritual Journey to the Past, Present and Future, Nashua 2005, S. 198–204.
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ein Heiliger, den man nach dem Tode dafür sprechen möchte“]. Nach Beendigung des Gebetes oder beziehungsweise der Rede wirft der Prediger oder Vorbeter eine Schaufel Erde auf den Sarg und spricht die hierauf bezughabenden Verse aus der heiligen Schrift hebräisch: „denn Staub bist du und Staub wirst du werden“ [1. Moses 3,19, …]. Hierauf treten die Leidtragenden der Reihe nach hinzu und werfen Erde auf den Sarg. […] Von der Unordnung, wie sie sonst bei jüdischen Leichenbegräbnissen da und dort noch herrscht, ist hier keine Spur.98
Zu jener Zeit gab es am Währinger Friedhof, dem damals einzigen aktiv belegten Bestattungsraum der Wiener jüdischen Gemeinde, bereits eine kleine zweckgebaute Zeremonienhalle mit Räumlichkeiten zur Ausführung der tahara. Somit ist davon auszugehen, wie hier auch angedeutet wird, dass zu diesem Zeitpunkt das gesamte „Ceremoniell“ nach Eintreffen der Leiche eines Verstorbenen direkt vor Ort am Friedhof stattfand, wie es bis heute üblich ist. Die Zuständigkeit für die Leichenreden, wie es hieraus hervorgeht, oblag dem „Prediger“, an anderer Stelle auch „Religionslehrer“ genannt – jene Position, die mit der endgültigen Etablierung der Kultusgemeinde als „Oberrabbiner“ bezeichnet werden sollte. Die Reden durften, wie Wolf an anderer Stelle betonte, „nur auf Veranlassung der Vertreter gehalten werden“ – das waren die Vorgänger des späteren Kultusvorstands –, „die den Ruf, die Verdienste des Verstorbenen zu berücksichtigen haben“.99 Bereits zur Zeit des sogenannten Vertretertums – also vor der Etablierung der Kultusgemeindeorganisation – bedurfte das Halten einer Leichenrede also der Zustimmung der weltlichen Gemeindeführer. Dies zeigt die Verwobenheit religiöser und säkularer Machtstrukturen, die für die spätere Kultusgemeinde charakteristisch wurden und sich sowohl in den Trauerreden wie auch insgesamt in der Friedhofsverwaltung niederschlagen sollten. Bemerkenswert ist der Grad an Kontrolle, welche über das Gesagte über die Verstorbenen ausgeübt wurde: Einerseits sollte verhindert werden, dass die Toten über ihre eigentlichen Tugenden hinaus gepriesen wurden („doch ist nicht jeder ein Heiliger“), andererseits zeigte sich aber gerade die Tendenz, den Fokus bloß auf die ausgewählten Tugenden der Verstorbenen, wie etwa deren „wohlthätige, gemeinnützige Wirksamkeit“, zu richten. Insofern sagten die Trauerreden parallel zu den Grabsteininschriften auch nur nihil nisi bonum über die Toten. Zuletzt ist Wolfs Beschreibung der Beerdigungsriten markant, die den nichtjüdischen Begräbnissen in Zentraleuropa sehr ähnlich sind und welche typischerweise für diese Ära im Gegensatz zur verpönten und implizit als „ostjüdisch“ konnotierten „Unordnung“ der Leichenbegräbnisse anderswo gepriesen werden – somit
98 Wolf: Geschichte der Israelitischen Cultusgemeinde, S. 165–166. 99 Vgl. Wolf: Geschichte der Israelitischen Cultusgemeinde, S. 36–37.
Praxis rund um Trauer, Bestattung und Gedenken in der jüdischen Geschichte
wollte Wolf wohl den hohen Grad an Zivilisation innerhalb der seinerzeitigen Wiener Kultusgemeinde zum Ausdruck bringen. Trauerzüge – die Begleitung der Leiche von Wohnhaus, Gotteshaus oder Aufbahrungshalle zum Grab – gelten auch als eine Neuerscheinung des Spätmittelalters, welche in den darauf folgenden Jahrhunderten eine sukzessive „Ritualisierung“ durchmachten, bis sie in der Neuzeit zu großen öffentlichen Spektakeln wurden, vor allem bei prominenten und einflussreichen Persönlichkeiten.100 In der Wiener Geschichte zeigt sich das nur allzu klar in der „schönen Leich“ die, wie es der Schriftsteller Hans Veigl beschrieb, bis ins späte 19. Jahrhundert ins Ungeheure übertrieben wurde, wobei ein „Pracht-Leichenbegängniss“ höchster Klasse beispielsweise von „Kondukt mit Fahnenreitern, Vorreitern mit Laternen, Zeremoniären, mehreren Pferden mit Kopfschmuck, einigen Stallmeistern in spanischer Tracht, Fackeln- und Leichenträgern als Spitzenangebot“ begleitet wurde – und Unsummen kostete.101 Konkret und zugleich paradigmatisch bezifferte dies Thomas Laqueur anhand eines frühen Beispiels aus England mit einem Nobelbegräbnis aus dem Jahre 1489, das geschätzt zweihundert Mal so viel wie das jährliche Einkommen eines Landarbeiters kostete.102 Auch innerhalb der Wiener jüdischen Gemeinde kam es wiederholt zu solch aufwendigen Trauerzügen. Ein ausgefeiltes Beispiel einer solchen „schönen Leich“ liefert eine Art Memorbuch für den am 10. Oktober 1915 im Zentralfriedhof beim I. Tor beerdigten Ersten Vizepräsidenten der Kultusgemeinde Gustav Kohn (Grabstelle 52A-1-12, nicht zu verwechseln mit dem vorhin erwähnten Leipziger Rabbiner Gustav Cohn). Der Trauerzug begann an diesem Sonntagmorgen am Haus des Verstorbenen in der Hahngasse 25 im 9. Wiener Gemeindebezirk: Um 11 Uhr wurde der einfache, weiße Holzsarg gehoben, unter Zelebrierung der Trauerpsalmen vor das Sterbehaus getragen und auf den vierspännigen Wagen gestellt. Die Witwe, Frau Leonore Kohn [sie wurde 1924 in dieser Grabstätte beigesetzt], die Kinder und die übrigen Familienmitglieder folgten. […] Hinter dem Leichenwagen folgten die Oberkantoren [… sowie mehrere andere Kultusgemeindefunktionäre], welche den ganzen Weg bis zur Kultusgemeinde in ergreifender Weise die Trauergesänge rezitierten. […] Unübersehbar war der Trauerzug, der vom Sterbehause bis zu dem Amtsgebäude der Kultusgemeinde in der Seitenstettengasse [in der Inneren Stadt] wogte, in welchem die Gaslaternen zu beiden Seiten der Straßen brannten, eine Ehrenbezeugung, welche die Stadt Wien nur den um das öffentliche Wohl hochverdienten Persönlichkeiten zu gewähren pflegt. 100 Vgl. Ariès: Bilder, S. 126, 145. 101 Veigl, Hans: Morbides Wien. Die dunklen Bezirke der Stadt und ihrer Bewohner, Wien 2014, S. 162. 102 Laqueur: The Work of the Dead, S. 320.
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Zahlreiche rekonvaleszente Soldaten, zum Teil auf Stöcken gestützt, folgten dem Kondukt. Der Zug bewegte sich langsam am Tempelgebäude vorbei, durch die Kohlmessergasse [seit 1945 integriert in den Schwedenplatz], auf den Kaiser Ferdinandsplatz [seit 1919 Schwedenplatz]. Dort löste er sich auf. Ein großer Teil der Teilnehmer an dem Kondukte bestieg die Wagen; für die weitaus größere Zahl standen [sic] eine Reihe von Sonderwagen der Straßenbahnen bereit, die nach dem Zentralfriedhof fuhren. Auf dem Friedhofe langte der Zug um 1 Uhr nachmittags an. Dann wurde der Sarg in die Zeremonienhalle getragen, Oberkantor [Don] Fuchs und das Chorpersonal trugen die Trauergesänge vor.
Es sprachen mehrere prominente Kultusgemeindefunktionäre, darunter Oberrabbiner Moritz Güdemann und Präsident Alfred Stern sowie wohlgemerkt zwei nichtjüdische Funktionäre, darunter der deutschnationale Politiker und Reichsratsabgeordneter Hofrat Paul Freiherr von Hock im Namen der „Freiheitlichen Vereine im IX. Bezirke“, dessen „langjährige[s] Mitglied und Kollege“ Gustav Kohn gewesen war. Dann erfolgte die Bestattung: „Oberkantor Josef Morgenstern stimmte das Joschew besseser [Psalm 91] an und dann wurde der Sarg zu dem von der Gemeinde gewidmeten Ehrengrabe getragen und ins Grab gesenkt.“ Es sang der Chor unter der Leitung von Josef Sulzer, dem Sohn des berühmten Oberkantoren Salomon Sulzer, und die Oberkantoren Fuchs und Morgenstern stimmten das Gebet El male rachamim (Barmherziger Gott) an, das Totengebet für die Seele des Verstorbenen, das oft bei Bestattungen rezitiert wird. „Noch einmal bewegte sich der Massenzug stumm am Grabe vorbei, dann nahm die tiefgerührte Menge für immer Abschied von einem Toten, der die Zierde und der Stolz der Wiener Judenschaft gewesen war“. Anwesend war eine lange Liste an Kultusgemeindefunktionären sowie einige Funktionäre der Gemeinde Wien und des Schulrates, insgesamt hunderte Leute, deren Auflistung sich über mehrere Seiten im Trauerbuch erstreckte.103
103 Schwager, Max (Hg.): Zum Gedächtnis an den ersten Vize-Präsidenten der Wiener israel. Kultusgemeinde, k. k. Landes-Schulrat, Herrn Dr. Gustav Kohn, Hof- und Gerichts-Advokat, Besitzer d. eisernen Kronen-Ordens III. Kl. Ritter d. Franz Jos.-Ordens etc. etc., Wien 1917, S. 17–18, 28.
Praxis rund um Trauer, Bestattung und Gedenken in der jüdischen Geschichte
Abb. 3 Trauerzug für Oberrabbiner David Feuchtwang am Franz-Josefs-Kai, 7. Juli 1936. Rechts im Vordergrund die Schwedenbrücke, darüber im mittleren Hintergrund das Hotel Metropol. © Leo Baeck Institute – New York
Ein ähnlicher Trauerzug, der des Oberrabbiners David Feuchtwang am 7. Juli 1936, wurde in einer Reihe von Ansichten photographisch festgehalten.104 Diese Bilder zeigen das Trauerfest im Stadttempel in der Seitenstettengasse vor dem mit einem schwarzen Tuch umhüllten Sarg, bevor der Trauerzug sich, genau wie der für Gustav Kohn geschilderte, über den Franz-Josefs-Kai Richtung Zentralfriedhof begab, allen voran der motorisierte Leichenwagen, der die Pferdekutschen vergangener Zeiten ersetzte. Am I. Tor ist der Aufmarsch der Trauergäste vor der monumentalen steinernen Zeremonienhalle zu sehen, vor der Feuchtwang in einem Ehrengrab in der gleichen Ehrenreihe wie Arthur Schnitzler fünf Jahre zuvor bestattet wurde (5B-0-3). Der Franz-Josefs-Kai, an der Schnittstelle zwischen Stadttempel und dem „jüdisch“ konnotierten 2. Bezirk gelegen, war zu dieser Zeit überhaupt „als Schauplatz wichtiger jüdischer Geschäftshäuser“ besonders „jüdisch“ assoziiert.105 Diese Assoziation unterstrichen solche wiederholten, aufwendigen und öffentlichen Trauerzüge für verstorbene Prominente der Kultusgemeinde. Bei der Beerdigung vom 104 Funeral Procession for David Feuchtwang, 7. Juli 1936, LBI, Siegfried Fehl Collection, AR 3665. 105 Grunwald, Max: Vienna, aus dem Deutschen ins Englische von Solomon Grayzel, Philadelphia 1936, S. 393.
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Oberrabbiner Zwi Perez Chajes im Dezember 1927 soll sogar ein Trauerzug von geschätzten 50.000 Menschen hier vorbei gezogen sein.106 Chajes lag bis zur Überführung seiner Leiche nach Israel 1950 ebenfalls in der Ehrenreihe beim I. Tor (5B-0-1). Ein einzigartiges, obwohl kurioses Dokument, das Einblick in die Ansichten der modernen Wiener Kultusgemeinde zu rituellen Fragen rund um Bestattung gewährt, ist ein zwölfseitiger Bericht zu den „jüdischen Totengebräuche[n]“ und dem „Totenkult“, der sich im Archiv der Kultusgemeinde befindet. Obwohl dieses Dokument weder Titel, Namen noch Datum trägt, wurde es vermutlich während der Shoah von jemandem im inneren Kreis der Kultusgemeinde bzw. im Zeitraum nach 1942 des „Ältestenrats“ verfasst. Aufgrund des Schreibstils, des Inhalts und seiner damaligen Position als Direktor des Friedhofamts, liegt es nahe, dass es sich beim Autor um Ernst Feldsberg, den späteren Präsidenten der Kultusgemeinde, handelt. In Anlehnung an die Philosophie der Chewra Kadisha, der religiösen Beerdigungsgesellschaft, wird zu Beginn die Pflege der Toten als „Liebesdienst“, die Arbeit der Chewra Kadisha als „heilig“ und die Mitgliedschaft darin als „besondere Ehre“ bezeichnet. Der Bericht erläutert eine Reihe von auffällig spezifischen Ritualen, die angeblich diese „jüdischen Totengebräuche“ ausmachen, wie etwa, dass den Verstorbenen vor ihrer Bestattung „je ein gabelförmiges Aestchen“ in die Hände platziert werden sollte, „dass dereinst bei der Auferstehung die Toten sich aus den Gräbern schaufeln werden, um ins verheissene Land zu ziehen“, oder dass die Leichen „immer so gebettet [werden], dass das Gesicht nach Osten gegen Sonnenaufgang gerichtet ist“.107 Man beachte den universellen Wahrheitsanspruch, der sich in der Grammatik spiegelt. Diese Rituale werden hier nicht als Spezifikum des Friedhofsamtes der Kultusgemeinde bzw. des orthodoxen Milieus im mittleren 20. Jahrhundert, zu dem Feldsberg gehörte, sondern als die jüdischen Totenrituale schlechthin dargestellt, für alle Zeiten geltend, wobei es nachweislich nicht stimmt, dass diese Rituale selbst zu Feldsbergs Zeiten in der Wiener jüdischen Sepulkralkultur allgegenwärtig waren. Dieser Text beabsichtigte somit, den „jüdischen Totenkult“ in einer starren rituellen Tradition zu gründen, bestehend aus spezifischen orthodoxen Bräuchen wie den hier geschilderten, die nachweislich nicht nur, nicht immer oder überhaupt nicht erst in der Wiener jüdischen Geschichte stattfanden. Einerseits veranschaulicht dieses Schriftstück die Problematik eines solch steif definierten, vor allem religiös und als unveränderlich 106 Berkley, George: Vienna and its Jews. The Tragedy of Success, 1880s–1980s, Cambridge, MA 1988, S. 188. 107 O. T., o. D., Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (AIKGW), A/VIE/IKG/II/FH/3/2.
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aufgefassten Brauchtums. Andererseits deutet es, sollte es tatsächlich während der Shoah verfasst worden sein, auf ein verzweifeltes Zurückgreifen auf eine retrospektiv konstruierte „Tradition“, die verloren zu gehen drohte und somit vor dem Untergang bewahrt werden und in der düsteren Gegenwart Trost spenden sollte. Auch hier spiegelt sich allerdings das fortwährende Konfliktpotenzial zwischen Partikularismus und Pluralismus, Orthodoxie und Liberalismus, das sich weiterhin, sogar noch verstärkt, in der Sepulkralkultur der Kultusgemeinde nach der Shoah niederschlagen sollte. Die religiöse Vorstellungen über jüdisches Brauchtum, die im 20. Jahrhundert vor allem nach der Shoah verschärft von der Orthodoxie vertreten wurden, sind prägnant dargestellt im 1969 herausgegebenen und heute noch im englischsprachigen Raum als Standardwerk angesehenen Handbuch zum jüdischen Trauerkult des orthodoxen Rabbiners Maurice Lamm. Ihm zufolge gebe es einen abgesonderten „jüdischen Weg des Todes“ vis-à-vis anderer Religionen und Kulturen, und er verstand seinen Beitrag somit als Anleitung zu den „klaren Vorschriften, die die jüdische Tradition festgeschrieben hat“. In diesem Sinne warnte Lamm in bewusster Abgrenzung zu seiner kulturellen Umgebung explizit davor, „blind“ jeder „amerikanische[n] Praxis“ zu folgen. Die tahara sollte demnach nur von einer Chewra Kadisha durchgeführt werden und in keinem Fall von Nichtjüdinnen und -juden. Das Werk listet eine ganze Reihe an orthodox-religiösen Vorschriften und Verboten auf, wie etwa, dass Obduktionen, Organspenden und Einbalsamierungen soweit möglich verhindert werden sollten. Wenn Lamm einerseits bestimmte Riten, wie den Gebrauch von hölzernen statt metallenen Sargnägeln, als „orthodox“ und somit vermutlich nicht als verpflichtend beschrieb, so galten laut ihm eine Reihe anderer Bräuche als „christlich“ bzw. „unjüdisch“, wie beispielsweise Blumen bei der Beerdigung. Manche dieser Auffassungen sind nachweislich historisch inkorrekt, wie etwa seine Behauptung, die Zurschaustellung der Leiche sei eine amerikanische Erfindung „ohne Wurzeln in der Antike oder im modernen europäischen Brauch“, obwohl er sich später widersprach, als er behauptete, die Leichenbesichtigung sei ein „christlicher religiöser Brauch“.108 Bedenklich sind manche Aussagen wie etwa, dass Angehörige im Fall eines Selbstmords nicht verpflichtet seien, die Trauerriten zu beobachten, wie auch Konvertiten zum Judentum nicht verpflichtet sind, um ihre nichtjüdischen Eltern zu trauern. So sollten auch Menschen, die er als „Abtrünnige“ abstempelte, nicht in jüdischen Friedhöfen begraben und auch nicht betrauert werden, denn ihre „Abtrünnigkeit“ sei ein „Abbruch von der Glaubensgemeinschaft“, und man solle nicht „die Abtrünnigkeit anderer ermutigen“. Eine Ausnahme seien jene „arrogante Sünder“, die zwar „die Wege Israels verleugnen“, die sich aber „nicht formell vom Judentum 108 Zur langen Tradition der Leichenbesichtigung in Europa, siehe Ariès: Bilder, S. 118–122.
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abgesetzt haben“. Nur so könne die jüdische Gemeinschaft „ihre eigene Existenz wahren“.109 Einen einzigartigen Einblick in den Alltag, die Funktionen und darüber hinaus das Selbstverständnis der gegenwärtigen Kultusgemeinde bietet die 2009 in deren Zeitschrift erschienene Artikelserie „Hinter den Kulissen – die IKG [Israelitische Kultusgemeinde] Wien stellt sich vor“. Der 15. Teil mit dem Titel „Das Friedhofsamt“ besteht aus einem Interview mit dem in Israel geborenen, seit 1997 in Österreich lebenden Leiter des Friedhofamts, Avraham Pollak. Pollak arbeitete zur Zeit des Interviews seit 2006 in dieser Position und fuhr angesichts der zentralen Stellung der Wiener Kultusgemeinde für die ansonsten so kleine jüdische Bevölkerung Österreichs kreuz und quer durchs Land, um die Leichen jüdischer Verstorbener zur Beerdigung auf dem Friedhof der Kultusgemeinde beim IV. Tor zu bringen. Diese Arbeit in einer so kleinen Gemeinde, wie es die Wiener Kultusgemeinde seit der Shoah ist, kann durchaus ereignislos sein, wie Pollak schilderte: „Wenn niemand verstirbt, dann ist nicht viel los am Friedhof.“ Manchmal finden keine Begräbnisse statt, selten aber bis zu drei am gleichen Tag. Das Friedhofsamt übernimmt die Abholung der Leichen und die rituelle Leichenwaschung und -bekleidung. „So schnell als möglich findet dann die Bestattung statt.“ Am schwierigsten fand Pollak die Bestattung verstorbener Jugendlicher oder Kinder. Ansonsten musste er selbstverständlich stets viel Sensibilität im Umgang mit den Angehörigen zeigen. Vier weitere Mitarbeiter schaufeln die Gräber, kümmern sich um den Pflanzenbewuchs am Friedhof oder kümmern sich „gegen ein gesondertes Entgelt“ von Angehörigen um einzelne private Grabstätten. Freilich kommen auch Besucher zum Friedhof: Pollak erwähnte die Fremden, die auf der Suche nach den „Grabstätten ihrer Väter“ kommen, zu anderen Zeiten sind es Kultusgemeindemitglieder, die kommen, um im Voraus eine bestimmte Grabstelle am „Haus der Ewigkeit“ anzukaufen. Der Artikel erläutert auch die verschiedenen Begräbnisklassen und ihre Kosten: Diese reichen von 11.000 Euro für ein Begräbnis erster Klasse bis 1.500 Euro für ein Begräbnis fünfter Klasse. Grüfte kosten 14.500 Euro, werden aber „fast nie gekauft“. Zumeist werden beim IV. Tor nur mehr Einzelgräber angelegt, manchmal auch tiefe Doppelgräber – eine Entwicklung der Nachkriegszeit und ein weiterer Hinweis auf die orthodoxe Neigung der heutigen Kultusgemeinde. Einige, aber nur wenige, wollen nach ihrem Tod nach Israel überführt und dort begraben werden, etwa zehn pro Jahr, schätzte Pollak. Dann konnte es ihm bis zu einen ganzen Tag kosten, um alle erforderliche Bürokratie zu erledigen. Auch verwaltet das Friedhofsamt der Wiener Kultusgemeinde manchmal Bestattungen an 109 Alle Zitate in der Reihenfolge ihrer Nennung: Lamm: The Jewish Way, S. xi, 3, xiii, 6, 8–15, 26–34, 58, 17–18, 26–27, 35, 82–84.
Ursprünge und Funktion der Chewra Kadisha
anderen jüdischen Friedhöfen in Österreich, beispielsweise, obwohl nur selten, beim I. Tor – etwa einmal im Jahr kommt das vor, schätzte Pollak, entweder in einem Ehrengrab oder in einem bereits bestehenden Familiengrab. „Dass am Ende des Lebens der Tod steht“, schließt diese Schilderung, „das ist Pollak wie keinem anderen bewusst.“110 2.3
Ursprünge und Funktion der Chewra Kadisha
Der Überlieferung nach leitet sich die Institution der Chewra Kadisha (heilige Gesellschaft; vorwiegend als Beerdigungsgesellschaft verstanden) ideologisch aus dem Talmud ab, also aus einer innerjüdischen Welt der religiösen Tradition, und historisch aus der Antike, oder wenigstens schon aus den Dämmerzeiten des Mittelalters. Die neuzeitlichen chewrot (Plural) in Europa gelten also als Wiederbelebung einer antiken jüdischen Institution.111 Es ist jedoch eher wahrscheinlich, dass sich diese Institution auf die 1564 in Prag gegründete chewra zurückführen lässt, obgleich es Indizien gibt, dass sich die Prager chewra wiederum auf Vorgänger im maurischen Spanien aus dem 14. Jahrhundert stützte. Auf alle Fälle gilt die Prager chewra als erste konkrete Vorläuferin dieser später überall in den europäischen jüdischen Gemeinden entstehenden Gesellschaften.112 Sogar der sonst recht orthodox gesinnte Rabbiner Maurice Lamm betonte die willkürliche Entwicklungsgeschichte dieser Institution, deren religiöse Basis „weit zerstreut in der Literatur“ sei, deren Traditionen zumeist „durch mündliche Überlieferung“ vermittelt wurden und deren Bräuche „von Land zu Land und Gemeinde zu Gemeinde“ variieren, sodass es keinen „einheitlichen Umriss“ geben könne, wie sie sich zu formen hat. Vor allem betonte Lamm die Notwendigkeit regelmäßiger Zusammentreffen der Mitglieder, um fortlaufend ihre Praxis zu „überprüfen“.113 Dies geschah nachweislich auch immer in der Geschichte der Wiener Chewra Kadisha, die sich jede Woche zusammenfand und den Talmud studierte, um ihre Frömmigkeit aufrecht zu halten.114 110 Das Friedhofsamt, in: Die Gemeinde, November 2009, S. 6–7. 111 So liest man in den großen jüdischen Lexika des frühen 20. Jahrhunderts, wie z. B. in Kohler, Kaufmann/Eisenstein, Judah David: Burial Society, in: The Jewish Encyclopedia, Bd. 3, S. 437. Auch eine Geschichte der Wiener Chewra Kadisha aus dem geschichtsträchtigen Jahr 1949, als sich eine neue jüdische Gemeinde aus dem Abgrund der Shoah zu errichten begann, spannt den historisch-mythologischen Bogen zurück zur Bibel und zum antiken Israel: Die Wiener Chewra-Kadischa, in: Die Gemeinde, o. D., 1. Jahresausgabe, 1949, S. 3–5. 112 Jewish Theological Seminary of America (Hg.): From This World to the Next, S. 20. 113 Lamm: The Jewish Way, S. 240. 114 Wachstein, Bernhard: Die Gründung der Wr. Chewra Kadischa im Jahre 1763, Wien 1911, S. 6.
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Die bis heute gängige Beschreibung der Chewra Kadisha als „BeerdigungsBrüderschaft“ bezeichnete Ludwig Bato als „dürftig und armselig“, war ursprünglich die Sorge um Beerdigung doch bloß das letztes Glied in der Aufgabenkette dieser barmherzigen Organisation, eigentlich eine embryonische Gemeindeorganisation.115 Die ersten chewrot befassten sich nämlich mit allen Fragen der gemeinschaftlichen Wohltätigkeit, von Kinder- und Armenversorgung bis hin zur Seelsorge für Sterbende und Trauernde und nicht zuletzt die religiöse Bestattung verstorbener GlaubensgenossInnen. Somit ist die gängige Übersetzung des aramäisierten Namen chewra kadisha als „Beerdigungs-Brüderschaft“ so ungenau wie irreführend, da sich der Aufgabenkreis der chewra weit über die Bestattung hinaus erstreckte und es sowohl männliche wie weibliche Iterationen dieser „heiligen Gesellschaft“ gab. Angesichts der Geschlechtertrennung etwa bei der rituellen Leichenwaschung bildeten sich spätestens ab dem 17. Jahrhundert nämlich auch weibliche Beerdigungsgesellschaften.116 Die gemeinschaftliche Bedeutung und der breite Aufgabenkreis der Chewra Kadisha wurde prägnant vom Wiener Rabbiner und Historiker Max Grunwald in einer Predigt im Leopoldstädter Tempel am 23. April 1914 zusammengefasst: „Leid erzeugt Mitleid, Mitleid aber offenbart die erhabenste Schönheit der Menschenseele“. Grunwald deutete die Barmherzigkeit und Wohltätigkeit dabei als urjüdische gemeinschaftliche Tugenden, es gäbe nämlich im „ganzen jüdischen Kulturkreis […] nicht eine Erscheinung, die mit dem Kern des Judentums inniger verwachsen, so echt jüdisch-bodenständig wäre, wie die Chewra-Kadischa. Wesenseins ist sie mit dem Judentum wie Blume und Wurzel“, behauptete er. Somit sei „der Engel des Todes“ nicht nur „das lebenhassende und lebenzerstörende Element“, da der unvermeidliche Tod auch „die edelsten Gaben und Gefühle“ hervorruft: Eben die gemeinschaftliche Tugend von Barmherzigkeit gegenüber den Toten und Trauernden. Der alljährliche Fasttag, den die Mitglieder der chewra verrichteten, war „ein Fest- und Jubel- und Ehrentag […] für unsere ganze Wiener Kultusgemeinde“. Somit verwuchsen in seiner Darstellung Tod und Tugend, Gemeinschaft und Friedhof in ein harmonisches Ganzes, in einem geschlossenen Zyklus zusammen. Unter den Mitgliedern der chewra fand man in vergangenen Zeiten noch die „klangvollsten Namen der Wiener Judenschaft“, beteuerte Grunwald: „War es doch einst, wie noch heute in anderen Großgemeinden, auch hier in Wien stillschweigende Verpflichtung für jeden Juden, den das öffentliche Leben auf ragende Posten stellte, mit stolzem Bekennertum auch im jüdischen Leben, in Gemeinde und Chewra, ein Ehrenamt zu führen.“117 Somit baute Grunwald auch eine subtile Kritik in seiner Rede ein, 115 Bato: Die Juden, S. 74. 116 Jewish Theological Seminary of America (Hg.): From This World to the Next, S. 30. 117 Grunwald, Max: Predigt zum 150. Stiftungsfeste der Chewra-Kadischa Wien, in: Oesterreichische Wochenschrift, 1. Mai 1914, S. 301–304.
Ursprünge und Funktion der Chewra Kadisha
warf den Juden in „ragende[n] Posten“ seiner Zeit vor, sich nicht genug mit Zeit und Spenden um die Wohltätigkeit innerhalb der Religionsgemeinschaft zu kümmern. Damit unterstrich er zuletzt auch die gemeinschaftliche Stellung der chewra, ganz im Sinne des talmudischen Diktums: „Ganz Israel ist füreinander verantwortlich“ (Shawuot 39a); ein jedes Gemeindemitglied hat für das Wohl des anderen zu bürgen. Das gilt auch für die gebührende und ehrenvolle Bestattung. Der engere Aufgabenkreis der Chewra Kadisha mit Bezug auf das gemeinschaftliche Bestattungswesen ist in einem Bilderzyklus festgehalten, der im späten 18. Jahrhundert in der Zeremonienhalle am alten jüdischen Friedhof in Prag angefertigt wurde. In 16 Malereien wurden die verschiedensten Aktivitäten, von der Betreuung der Sterbenden bis hin zur rituellen Bestattung, dargestellt, inklusive eines abschließenden Bildes des jährlichen Festmahls der chewra in der Zeremonienhalle. Es ist nämlich in allen chewrot zum Brauch geworden, einen Tag im Jahr zu fasten und dabei die Grabstätten in ihrer Obhut in Ordnung zu bringen. In der Wiener chewra wird dieser Tag seit ihrer Gründung alljährlich am 7. Adar im jüdischen Kalender (Februar oder März), dem Todestag Moses, eingehalten. Unter den zahlreichen, heute noch vor Ort erhaltenen Darstellungen im Prager Zyklus wird übrigens gezeigt, wie angeblich die Leichengewände und Särge direkt im Friedhofsgelände angefertigt wurden, sicherlich ein Prager Spezifikum, das nicht als allgemeiner Brauch zu verstehen ist. Dies unterstreicht beispielhaft, dass dieser Zyklus weniger als Verewigung eines einheitlichen, zeitlosen Brauchtums zu verstehen ist als „eine Momentaufnahme der Evolution eines Rituals“.118 Ein Blick auf die Geschichte der christlichen Sepulkralkultur in Europa offenbart im Gegensatz zu Max Grunwalds oben zitierter Verklärung, dass solche Institutionen und ihre Aufgaben keine spezifisch jüdische Erscheinung waren. Philippe Ariès verwies auf das Bestehen christlicher Bruderschaften schon in der frühen Renaissance, die aus „wenigstens zwölf Männern“ bestanden, ähnlich wie ein jüdischer minjan (das zur Ausführung der religiösen Gebete benötigte Quorum von mindestens zehn gläubigen Jüdinnen oder Juden), und zu deren wichtigsten Aufgaben der „Barmherzigkeit“ die Seelsorge von Sterbenden und Trauernden zählte. Diese Bruderschaften, auch als „Armenpflegevereine“ oder „Genossenschaften“ bekannt, entwickelten sich im Laufe der Zeit zu „Vereinigungen frommer Laien, die die Bestattung der Toten für ein Werk der Barmherzigkeit hielten“.119 Hier ergibt sich eine deutliche Parallelentwicklung zu den chewrot, den Gesellschaften frommer Jüdinnen und 118 Der gesamte Zyklus ist abgebildet und kommentiert in Jacobs: Houses of Life, S. 14–22, dieses Zitat S. 14. 119 Ariès: Bilder, S. 106, 126.
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Juden für barmherzige Zwecke. Die Germanistin Uli Wunderlich führte in ihrer Studie zur europäischen Sepulkralkultur ausgerechnet ein Wiener Beispiel dieses „Massenphänomens“ der christlichen „Totenbruderschaften“ vor: die Totenbruderschaft bei St. Augustin in der Inneren Stadt.120 Eine Wiener „Hebrah Kaddisha shel Bahure Hemed be-Vina“ (die Heilige Gesellschaft erlesener Männer zu Wien; Grunwalds Transliteration) gründete sich urkundenmäßig erstmals 1763, ein Ereignis, das später von Wiener jüdischen Historikern aber als „Wiederbegründung“ verklärt wurde.121 War diese chewra damals eine Neuerscheinung in Wien, gilt sie im umgekehrten Sinne gewissermaßen als Embryo der sich im Laufe der folgenden Jahrzehnte etablierenden jüdischen Gemeindeorganisation, der späteren Kultusgemeinde. In Ermangelung einer formellen religiösen Gemeinde zu dieser voremanzipatorischen Zeit, inklusive einer Synagoge und eines Gemeinderabbiners, bildeten ihre Vorlesungen jeden Samstag zur Halacha, ihre Versorgung der Armen und natürlich ihre Seelsorge der Sterbenden bzw. das Begräbnis der Verstorbenen die Grundlage eines Gemeinschaftsgefühls und dadurch den Kern eines Gemeindewesens. Bis ins 19. Jahrhundert, schrieb Gerson Wolf, hatten „die angestellten Todtengräber […] fixe Gehalte, früher waren sie blos auf Geschenke angewiesen“, was auf die zunehmende Institutionalisierung des Bestattungswesens zu dieser Zeit hindeutet, bildet dies doch nach wie vor eine der unausweichlichsten und zugleich existenziell bedeutsamsten Aufgaben einer jeden (Religions-)Gemeinschaft. Wolf fügte in einer Fußnote hinzu, es gehörte in dieser prekären Zeit der sogenannten Toleranz „zu den Geheimnissen der ehemaligen politischen Verhältnisse, dass Leute sich um derartige Stellen bewarben, die kein fixes Einkommen und die nur ein sehr geringes boten, um dadurch den Aufenthalt in Wien gesichert zu haben“.122 Somit boten diese Stellen nicht nur eine ehrenhafte Stellung innerhalb der Gemeinschaft, sondern auch eine durchaus pragmatische Lebensgrundlage. Der Wiener Chewra Kadisha unterstand das gesamte Bestattungswesen der Gemeinde bis zum Jahre 1792, als der Spitalsverwalter des in diesem Jahr vom Hofe etablierten Vertretertums der Wiener jüdischen Bevölkerung gewisse Verantwortungen in diesem Bereich in seine Obhut übernahm. Angesichts einer zunehmenden administrativen Schludrigkeit empfahl aber der Vorstand der Chewra Kadisha 1850 wieder die Trennung der Aufgabenkreise des Spitals und des Friedhofwesens und daher die Einrichtung eines „Leichenhofamtes“ innerhalb der Gemeindeverwaltung. Somit unternahm Ludwig August 120 Wunderlich, Uli: Der Tanz in den Tod. Totentänze vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Freiburg 2001, S. 91–93. 121 Siehe Grunwald: Vienna, S. 384. 122 Wolf: Geschichte der Israelitischen Cultusgemeinde, S. 164.
Ursprünge und Auslegung des jüdischen Grabsteins
Frankl, damals Sekretär und Vorstandsmitglied der sich zu dieser Zeit formenden Kultusgemeinde, die Reformierung ihrer Bestattungspolitik, was 1852 in eine erste Friedhofsordnung mündete. Dies führte letztlich 1879, zeitgleich mit der Eröffnung eines neuen jüdischen Bestattungsraums beim I. Tor des Zentralfriedhofs, zur Einrichtung eines Friedhofamtes für „die Leitung der Friedhofsangelegenheiten“ in der Kultusgemeinde und damit zu einem Verlust an Einfluss und Bedeutung der Chewra Kadisha. Der Vorstand des Friedhofamtes schloss sich aus jeweils drei Mitgliedern der Chewra Kadisha und fünf Kultusgemeindemitgliedern zusammen, die nicht der Chewra Kadisha angehörten. Vorstandsmitglieder der Chewra Kadisha waren zur Wahrung einer Zuständigkeitstrennung ausdrücklich von der Mitgliedschaft im Friedhofsamt ausgeschlossen. Diese Institutionalisierung führte zu einer Normierung von Vorschriften und Ordnungen des Bestattungswesens innerhalb der Kultusgemeinde, was sich in den darauf folgenden Generationen in fortentwickelnde Friedhofsordnungen niederschlug.123 Seitdem beschränkt sich der Aufgabenkreis der Wiener Chewra Kadisha, wie es in einem Bericht aus den frühen 1990er-Jahren zu lesen ist, auf „Kostenbeteiligung bei uneinbringlichen Forderungen der [Kultusgemeinde], im Errichten und Restaurieren von herrenlosen Grabsteinen, Gedenktafeln und Gedenkstätten, wie auch im Bereitstellen von Minjan-Leuten und Beschilderung des Friedhofs“.124 Zu den wichtigsten Aufgaben der Chewra Kadisha zählt heute das Errichten von „Mazzewoth (Grabsteine) an zum Teil aus dem NS-Regime stammenden Gräbern von Armen und ohne Hinterbliebenen verstorbene Menschen“, welche durch Spenden von Gemeindemitgliedern finanziert werden.125 2.4
Ursprünge und Auslegung des jüdischen Grabsteins
Wie die Bestattungs- und Trauerriten, gründet sich auch der Brauch der Kennzeichnung der Grabstätte in der religiösen schriftlichen Überlieferung, weist aber einen wesentlichen Wandel an Sinn und Form über die Jahrtausende auf. Heute dient der Grabstein vorwiegend dem Andenken an die Verstorbenen; dies war allerdings nicht immer so. In der Tora finden sich verschiedene Stellen, an denen eine matzewa (Mal; wie im sprichwörtlichen Sinne eines „Denkmals“, im modernen Hebräischen aber lediglich „Grabstein“ bedeutend) errichtet wurde an Stellen, an denen eines Ereignisses gedacht werden sollte und nicht einer 123 Vgl. Husserl, Siegmund: Das Beerdigungswesen in der Wiener israelitischen Kultusgemeinde, in: Ost und West 8-9 (1910), S. 527–534. 124 Bericht des provisorischen Vorstandes der Chewra Kadischa, in: Die Gemeinde, 6. Mai 1992, S. 28–29. 125 Sajin Adar, in: Die Gemeinde, 15. März 1978, S. 19.
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verstorbenen Person (so etwa 1. Moses 28,18 und 35,14; vgl. auch 1. Moses 31,44–52). Hieraus leitet sich eine frühe Erinnerungstradition ab durch das Setzen von Denksteinen, wie es in Josua 4,7 zum Ausdruck kommt: „So sollen diese Steine den Kindern Israels ein ewiges Gedächtnis sein.“ Hierin zeigt sich, wie unzureichend die inzwischen schon zum Klischee gewordene Charakterisierung der Jüdinnen und Juden als „Volk des Buches“ ist, angesichts der uralten, wenn auch sich wandelnden Tradition der steinernen Denkmalerrichtung im Judentum. Wie der Historiker Yosef Hayim Yerushalmi in seinem bahnbrechenden Werk zur jüdischen Erinnerungskultur festhielt, ruht die Erinnerung aber nicht alleine im passiven Stein, sondern in ihrer aktiven Vermittlung durch die Generationen: „Wird die an den Stein gebundene Erinnerung für spätere Generationen wieder heraufbeschworen und lebendig, so ist dabei nicht der Stein entscheidend sondern die von den Vätern überlieferte Erinnerung.“126 Damit rückte Yerushalmi die dynamische Verbindung zwischen Erbe und Erinnerung in den Vordergrund, wobei dessen Materialisierung in Stein als fundamentales Mittel zur Aufrechterhaltung dieser Verbindung angesehen werden muss – und somit auch den zentralen Stellenwert der „Grabstätten der Väter“ in der jüdischen Geschichte herausstreicht. Die erste Erwähnung der Errichtung einer matzewa spezifisch als Grabstein findet sich in 1. Moses 35,19–20: „Also starb Rachel und ward begraben an dem Wege gen Ephrath, das nun heißt Bethlehem. Und Jakob richtete ein Mal [matzewa] auf über ihrem Grabe; dasselbe ist das Grabmal Rachels bis auf diesen Tag.“ Ähnliche Errichtungen von Grabmalen finden sich in Josua 7,26 und 8,29 sowie in Hesekiel 39,15. Das biblische Wort matzewa konnotiert also sowohl spezifisch einen Grabstein wie allgemein ein Denkmal und veranschaulicht somit die zentrale Verbundenheit von Erinnerung, Kennzeichnung und Benennung im Judentum, welches sich obgleich in wandelnder Form durch die Jahrtausende erhalten hat. Die erste Erwähnung eines Grabdenkmals, das nicht nur der Markierung der Grabstelle, sondern auch der Benennung des dort Bestatteten diente, findet sich in 2. Samuel 18,18: „Absalom aber hatte sich eine Säule aufgerichtet, da er noch lebte; die steht im Königsgrunde. Denn er sprach: Ich habe keinen Sohn, darum soll dies meines Namens Gedächtnis sein; er hieß die Säule nach seinem Namen, und sie heißt auch bis auf diesen Tag Absaloms Mal.“ Wohlgemerkt sind die Denkmäler, die heute in Bethlehem bzw. Jerusalem als Grabstätten Rachels und Absaloms gelten, erst vor einigen Jahrhunderten, nicht Jahrtausenden, entstanden, eine Materialisierung ex post facto dieser schriftlichen Tradierung.127 126 Yerushalmi, Yosef Hayim: Zachor: Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis, aus dem Englischen von Wolfgang Heuss, Berlin 1988, S. 23. 127 Vgl. Cohn: Der jüdische Friedhof, S. 28–29.
Ursprünge und Auslegung des jüdischen Grabsteins
Abgesehen von diesen Beispielen der steinernen Erinnerung wurden allerdings die meisten Gräber in der frühesten Antike vorwiegend nur deshalb markiert, weil sie als rituell unrein galten. Ihre Markierung diente also den Lebenden, Grabstätten zu meiden, und nicht etwa dem Gedenken der Toten. In Hesekiel 39,15 heißt es beispielsweise: „Und die, so im Lande umhergehen und eines Menschen Gebein sehen, werden dabei ein Mal [in diesem Falle tzijun; ein „Zeichen“] aufrichten, bis es die Totengräber auch in Gogs Haufental begraben.“ Dies erklärt auch die Stelle in 2. Könige 23,17, als Josia ausrief: „Was ist das für ein Grabmal [tzijun], das ich sehe“, wo offensichtlich nicht ein beschriftetes Denkmal, sondern lediglich die Kennzeichnung einer rituell unreinen Grabstätte gemeint war. Die Markierung der unreinen Grabstellen mit Kalk wurde schließlich im Talmud vorgeschrieben (Ma’aser Sheni 5,1) welches jährlich zum 15. Adar, also zu Ende der Winterzeit, wiederholt werden sollte (Shekalim 1,1), wahrscheinlich da diese Markierungen in der Winterzeit verwitterten. In Folge etablierte sich die Bezeichnung tzijun lange als Synonym für den Grabstein, bis allmählich im Mittelalter dies durch den früheren Begriff matzewa ersetzt wurde.128 Diese Zeichen waren also Vorläufer der späteren Grabsteine, wie es Gustav Cohn beschrieb: Allerdings nur Vorläufer. Denn sie haben noch keines der besonderen Merkmale der heutigen Grabsteine; es fehlen ihnen Inschriften, Symbole, künstlerische Gestaltung durch Form und Ornament […]. Von ihnen zum heutigen Grabstein führt die Entwicklung hinweg über die Steine, die in den Katakomben vor die Nischen der einzelnen Leichen gelegt wurden, um diese abzuschliessen und gleichzeitig den Namen des dort Beigesetzten zu bezeichnen.129
Wie Ernst Roth schrieb, handelt es sich wohlgemerkt bei diesen biblischen Begriffen nicht um einen „terminus technicus“.130 Somit können die Worte matzewa, tzijun oder nefesh (unten erläutert) eigentlich austauschbar verwendet werden. Ein in diesem Zusammenhang herausragender Terminus ist aber der Begriff ohel (sprichwörtlich: Zelt), das vornehmlich die großen Rabbinerhäuschen bezeichnet, die in der osteuropäischen chassidischen Kultur entstanden. Die ursprüngliche, pragmatische Funktion des Grabsteins zum Markieren einer Grabstelle erklärt auch, wieso es keine spezifischen religiösen oder halachischen Bestimmungen zu diesem Artefakt gibt bzw. dass solche erst ex post facto erfunden oder rückinterpretiert wurden. „Guter Geschmack, stille Würde und das Vermeiden von Großtuerei sind die einzigen Richtlinien für 128 Vgl. Holländer, Ludwig: Friedhof, in: Jüdisches Lexikon. Ein enzyklopädisches Handbuch des jüdischen Wissens in vier Bänden, Bd. 2, Berlin 1928, S. 815. 129 Cohn: Der jüdische Friedhof, S. 33. 130 Roth: Zur Halachah des jüdischen Friedhofs II, S. 90–91.
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die Auswahl eines Denkmals“, fasste es Maurice Lamm im 20. Jahrhundert zusammen. Wenn Skulpturen oder Darstellungen der Verstorbenen nicht wünschenswert seien, so meinte er dennoch, dass solche, wenn sie schon errichtet worden sind, „am besten einfach stehen bleiben“.131 Obwohl es in jüdischen wie in christlichen Friedhöfen allgemein gebräuchlich wurde, den Grabstein an der Kopfseite mit der Inschrift zur Grabstätte gewandt zu errichten, folgt diese keiner spezifischen Regelung, und so war es historisch durchaus möglich oder gar üblich, den Stein am Fußende oder die Inschrift nach außen zu richten. Im allgemeinen unterscheiden sich aschkenasische Friedhöfe – eher im Norden und Osten Europas gelegen – von sephardischen Friedhöfen – eher um das Mittelmeer und im Nahen Osten gelegen – dadurch, dass die Grabsteine in ersteren meist senkrecht und in letzteren meist waagerecht sind. Diese letztere Form einer Art „Grabplatte“ ist auch in Wien oft charakteristisch für sephardische Grabstätten, vor allem am Währinger Friedhof. Auch gibt es keinen religiösen Einwand gegen das Errichten eines Totendenkmals an einer Stelle, wo sich kein Grab befindet.132 Genau dies ist nach der Shoah häufig geschehen, wonach die Ermordeten, die kein Grab fanden bzw. deren Leichen nicht auffindbar waren, Erwähnung auf den Grabsteinen ihrer Angehörigen fanden bzw. in manchen Fällen sogar eigene Grabsteine auf jüdischen Friedhöfen bekamen. Aufgrund seiner ursprünglichen Bedeutung bloß zur Kennzeichnung einer durch eine Leiche verunreinigten Stelle ist aus religiöser Sicht ein Grabstein in einem klar abgegrenzten Bestattungsraum nicht zwingend notwendig.133 Es finden sich sogar biblische Stellen, welche ausdrücklich die Errichtung von persönlichen Monumenten zu unterbinden scheinen, so etwa in 3. Moses 26,1: „Ihr sollt keine Götzen machen noch Bild und sollt euch keine Säule aufrichten, auch keinen Malstein setzen in eurem Lande“ – eine Erweiterung eines der Zehn Gebote (2. Moses 20,3). In der Tat war laut der Jewish Encyclopedia der Brauch, über den Grabstätten ein steinernes Denkmal zu errichten, ein erst später entstandener und ursprünglich phönizischer. Solche Grabsteine hießen ursprünglich nefesh (sprichwörtlich: Seele), eine Bezeichnung, die später zur Gänze verschwand und erst in der Neuzeit hier und da wieder auftauchte. Monumentale, selbstverherrlichende Grabdenkmäler, wie sie sich Absalom schuf, wurden erst im 1. Jahrhundert nach Christus allgemein üblich: Um dieser Extravaganz ein Ende zu setzen, erklärte Simeon ben Gamaliel [ein prominenter Gelehrter der mishnaischen Zeit], dass die Frommen durch ihre Worte erinnert
131 Lamm: The Jewish Way, S. 189–191. 132 Vgl. allgemein Roth: Zur Halachah des jüdischen Friedhofs II, S. 97–98, 100. 133 Roth: Zur Halachah des jüdischen Friedhofs II, S. 91–92.
Ursprünge und Auslegung des jüdischen Grabsteins
werden und dass es ihrer Erinnerung gegenüber eine Schmach sei, auf ihren Gräbern Denkmäler zu errichten, als würden sie ohne diese in Vergessenheit geraten.134
Im Jerusalemer Talmud (Shekalim 2) heißt es somit: „Für Fromme errichtet man keine Grabmale, denn ihre Worte (Taten? [Ernst Roths Anmerkung]) bilden ihre Denkmäler.“135 Ähnlich wie im Falle von Trauerreden und Grabinschriften legten insbesondere religiöse Strömungen im Judentum oft einen hohen Wert auf die Bescheidenheit der Grabstätte. Patricia Steines erzählte diesbezüglich eine Sage vom 1867 verstorbenen, ursprünglich im Währinger Friedhof (15-5-114) begrabenen und 1941 während der Shoah beim IV. Tor (14A-13-7) wiederbestatteten Rabbiner Zwi aus Kuttow (bürgerlicher Name Hirsch Landesmann): Er hatte für sein Grab einen kleinen, unscheinbaren Grabstein angeordnet. Stattdessen setzten ihm seine Anhänger einen großen, repräsentativen Grabstein. Eines Morgens allerdings fand man den monumentalen Stein total zersplittert vor. Die erschrockenen Anhänger ließen schließlich einen Stein entsprechend der ursprünglichen Verfügung des Rabbiners aufstellen.136
Eine gänzliche Auslassung dieser steinernen Erinnerungszeichen war jedoch in der gesamten jüdischen Geschichte durchaus unüblich. In Sprüche 22,2 heißt es: „Reiche und Arme müssen untereinander sein; der Herr hat sie alle gemacht.“ Nach dieser Ansicht gelten übermäßig protzige Grabstätten als Affront gegenüber den Armen und somit gewissermaßen als Pietätlosigkeit. Auch wenn die allgemeine Uniformität der Grabsteine als Verkörperung der Gleichheit im Tode als eine Art Wunschvorstellung schon lange Geltung fand, stimmt dies allerdings oft nicht mit den überlieferten Zeugnissen historischer jüdischer Friedhöfe überein, vor allem nicht in der Neuzeit. So lässt sich eine ganze Bandbreite an Sepulkralstilen in den europäischen jüdischen Friedhöfen finden, wie es die Historikerin Nathanja Hüttenmeister beispielhaft in ihrer Fallstudie zum Friedhof in der Großen Hamburger Straße in Berlin
134 Jacobs, Joseph/Broydé, Isaac: Tombstones, in: The Jewish Encyclopedia, Bd. 12, New York/London 1906, S. 190–191. 135 Zit. nach Roth: Zur Halachah des jüdischen Friedhofs II, S. 97. 136 Der alte Währinger israelitische Friedhof, in: Die Gemeinde, 17. Mai 1991, S. 21. Vgl. Steines, Hunderttausend Steine, S. 305. Laut einem Bericht zu den Exhumierungen während der Shoah liegt der ursprüngliche Grabstein heute noch im Währinger Friedhof. Vgl. Eckstein, Wolf-Erich: Historische Recherche zur Vorbereitung der Restaurierung von Gräbern der 1941/42 aus dem Währinger Israelitischen Friedhof Exhumierten und am Zentralfriedhof, 4. Tor, Gruppe 14a 1941/42 und 1947 Wiederbestatteten, 22. April 2015, https://www.wien.gv.at/ kultur/abteilung/ehrenreihen.html, letzter Zugriff: 31. August 2020.
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festhielt: „Von Barock über Rokoko und Biedermeier bis hin zum Klassizismus.“137 Ein Blick in die Literatur zur europäischen Sepulkralkultur zeigt, dass sich die Formen jüdischer Grabsteine schon seit mindestens der Frühen Neuzeit nicht wesentlich von den nichtjüdischen unterschieden, was sich aus der Tatsache erklären lässt, dass die Steinmetze in der Regel nichtjüdisch waren, da Juden lange Zeit von solchen Handwerken ausgeschlossen waren. Im Mittelalter wurden auch Synagogen und andere jüdische Gemeindeeinrichtungen in der Regel von den gleichen nichtjüdischen Architekten entworfen, die an den romanischen und gotischen Kirchen arbeiteten.138 Zur Ähnlichkeit jüdischer und christlicher Grabkünste in bestimmten lokalen Kontexten kommen weitere Faktoren hinzu, wie etwa die Einwirkung unterschiedlicher kultureller und künstlerischer Strömungen, das lokale Vorhandensein bestimmter Steinarten sowie der relative ökonomische Stand einer jüdischen Gemeinde.139 So bestanden Grabsteine im mittelalterlichen Zentraleuropa in der Regel aus flachen, stehenden Tafeln, entweder quadratisch oder an der Spitze gerundet, mit Text bedeckt, aber nur spärlich mit Symbolik – so auch die Funde mittelalterlicher jüdischer Grabsteine in Wien. Die Formen der alten barocken jüdischen Friedhöfe wie etwa in Prag oder in der Seegasse in Wien zeigen die gleichen Variationen an klassischen Kopfsteinen mit prominenten Schultern, die oft durch den Zusatz eines Fußsteins zu dreidimensionalen Scheinsarkophagen erweitert wurden, wie man sie auch in zeitgenössischen christlichen Friedhöfen findet. Überall in Europa gewannen diese Denkmäler im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts an Größe, was die Massenproduktion sowie die wandelnde soziale Wertstellung dieser Denkmäler reflektiert. Gleichzeitig setzte aber auch eine Abnahme an kalligraphischen Inschriften ein, die fortan üblicherweise maschinell eingraviert wurden. Erst nach dem Ersten Weltkrieg erlebten die europäischen Friedhöfe insgesamt einen radikalen Rückgang in der Monumentalität ihrer Grabdenkmäler, mit Ausnahme der fast allgegenwärtigen Kriegerdenkmäler. Die wachsende Uniformierung der Grabsteine und ihrer Inschriften wurde bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts indes fest in inzwischen allgemein üblich und streng gewordenen Friedhofsordnungen verankert.140 Die Erdbestattung, ob in einem Sarg oder gar in einem bloßen Leichentuch, ist allerdings ein so allgemein verbreiteter Brauch auch im säkularen Judentum, dass Sarkophage und Mausoleen auf jüdischen Friedhöfen oft nur architektonische Zierbauten sind: Die Leichen werden nach wie vor grundsätzlich direkt in die Erde bestattet. 137 138 139 140
Hüttenmeister/Müller: Umstrittene Räume, S. 100. Vgl. Jacobs: Houses of Life, S. 33. Vgl. Schwarzfuchs: The Medieval Jewish Cemetery, S. 159–160. Vgl. zur allgemeinen Entwicklung Mytum: Recording and Analysing Graveyards, S. 7–14.
Zur Sprache der Wiener Judenheiten
Ein kurioses Beispiel eines Versuchs, ein Modell der „jüdischen Architektur“ herauszuarbeiten, insbesondere auch in Hinsicht auf die Sepulkralkunst, ist das Werk The Jewish Contribution to Modern Architecture (Der jüdische Beitrag zur modernen Architektur) des Historikers Fredric Bedoire. Neben dem bereits im Titel aufkommenden, sonst in der neueren Historiographie kritisch rezipierten „Beitragsnarrativ“ finden sich hier in Hinsicht auf den angeblichen Grad an „Jüdischkeit“ in der Architektur auch Diskussionen von der vermeintlich „orientalischen“ Abstammung jüdischer Menschen, von denen manche vom Autor in wohl unbeabsichtigter Anlehnung an NS-Diskurse als „Halbjuden“ bezeichnet werden. Wie absurd diese Hypothese des vermeintlich „Orientalischen“ innerhalb der jüdisch-europäischen Kultur ist, zeigt sich beispielhaft in der Diskussion zur Grabstätte der 1859 verstorbenen Charlotte Freifrau von Rothschild am Alten Jüdischen Friedhof in Frankfurt am Main, auf welcher laut Bedoire ein „orientalischer Wortschatz […] mit Verzierungen direkt aus der Alhambra“ entliehen Verwendung findet – als ob die maurisch-islamische Kunst im mittelalterlichen Andalusien eine eigentümliche und archetypisch „jüdische“ sei.141 Dies soll hier als Beispiel stehen, wieso besondere Vorsicht geboten ist, der jüdischen Grabkunst mit solch essenzialistischen Erklärungsmustern heranzutreten: Vielmehr muss der Wandel der jüdischen Grabformen durch die europäische Geschichte eben in Hinsicht auf allgemeine sowie lokale Entwicklungen in der Kunstgeschichte und der Sepulkralkultur verstanden werden.142 2.5
Zur Sprache der Wiener Judenheiten
Bevor wir auf einen wesentlichen Aspekt der Wiener jüdischen Sepulkralkultur zu sprechen kommen – die Epigraphik der Grabinschriften – muss noch ein kurzes Wort zur Thematik der Sprache(n) der Wiener Judenheiten gesagt werden. Dass die zentraleuropäischen Judenheiten angeblich infolge der Aufklärung auf Jiddisch als Umgangssprache zugunsten von Deutsch verzichteten, was sich zeitgleich mit dem Wandel der jüdischen Sepulkralepigraphik vom Hebräischen hin zum Deutschen vollzog, ist einer der wichtigsten Ecksteine des Assimilationsnarrativs in der Geschichtsschreibung.143 Allerdings muss die Annahme, Hebräisch bzw. Jiddisch gelten als jüdische Ursprachen, angesichts 141 Bedoire, Fredric: The Jewish Contribution to Modern Architecture 1830–1930, Jersey 2004, S. 7–8, 143. 142 Vgl. die Bandbreite an historischen Grabsteinformen in Klein: Metropolitan Jewish Cemeteries, S. 117–133. 143 Siehe als charakteristisches Beispiel Rozenblit: The Jews of Vienna, insb. S. 6.
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der empirischen Lage enorm relativiert werden, und sogar das tatsächliche Vorherrschen des Hebräischen als jüdische Sepulkralsprache vor der Moderne bedarf einer erheblichen Kontextualisierung. Schon in der Antike war Hebräisch nämlich nicht die alleinige Sprache oder überhaupt die Umgangssprache der damals bereits weit zerstreuten Judenheiten im Nahen Osten und rund um das Mittelmeer. In Nehemia 13,24, das im 5. Jahrhundert vor Christus, also nach dem babylonischen Exil verfasst wurde, steht beispielsweise: „Und ihre Kinder redeten die Hälfte asdodisch und konnten nicht jüdisch reden [jehudit, gemeint ist Hebräisch], sondern nach der Sprache eines jeglichen Volks.“ Zu Christus Zeiten war nur mehr Aramäisch, nicht Hebräisch, die Umgangssprache im Heiligen Land.144 Hier ist das Kaddish auch von Interesse, da es auf Aramäisch verfasst wurde, wahrscheinlich, wie Maurice Lamm spekulierte, damit die Jüdinnen und Juden der Antike es auch verstehen konnten.145 Wie die Historikerin Desanka Schwara darlegte, war Mehrsprachigkeit spätestens seit der Spätantike eines der definierenden Merkmale der Judenheiten weltweit.146 Der Konsens der Historiographie zur jüdischen Sepulkralkultur ist, dass die vorwiegende Sprache der Grabinschriften etwa vor dem 10. Jahrhundert „offensichtlich“ die „dominante Sprache“ einer gegebenen Lokalität war. Somit „gab es auch keine uniforme Praxis bezüglich der Sprache“, wobei immer wieder in der Sepulkralkultur die breiten Unterschiede zwischen den aschkenasischen und sephardischen Judenheiten betont werden müssen.147 Indes ist die Verwendung des Hebräischen für Grabinschriften nachweislich eine Entwicklung der mittelalterlichen aschkenasischen Welt Zentraleuropas. Alle erhaltenen jüdischen Grabinschriften aus früheren Epochen bis in die Antike zurück wurden meist in verschiedenen Landessprachen verfasst, wobei 68 Prozent alleine griechisch waren.148 Dies deutet auf die profane, unreine Vorstellungsverknüpfung des Friedhofs zu diesen Zeiten, weswegen Hebräisch als leshon kodesh (heilige Sprache) in diesem Kontext unangebracht erschien.149 In der Tat haben sich im Mittelalter – zu eben der Zeit, als sich das Hebräische als vorwiegende Sprache der jüdisch-europäischen Sepulkralkultur etablierte – einige Rabbiner gegen seine Verwendung auf Grabsteinen, als profane Denkmäler, ausgesprochen.150 Vielmehr scheint die allmähliche Verankerung des 144 Vgl. Zeitlin: Studies in the Early History of Judaism, Bd. 3, S. 91–96. 145 Lamm: The Jewish Way, S. 151. 146 Schwara, Desanka: Sprache und Identität. Disparate Gefühle der Zugehörigkeit, in: Hödl, Klaus (Hg.): Jüdische Identitäten. Einblicke in die Bewußtseinslandschaft des österreichischen Judentums, Innsbruck 2000. 147 Rabinowicz: A Guide to Life, S. 116–118. Siehe auch Cohn: Der jüdische Friedhof, S. 35, 39. 148 Horst, Pieter Willem van der: Ancient Jewish Epitaphs, Kampen 1991, S. 22. 149 Schwarzfuchs: The Medieval Jewish Cemetery, S. 146. 150 Roth: Zur Halachah des jüdischen Friedhofs II, S. 108.
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Hebräischen als Sepulkralsprache im Rückschluss mit einer gewissen Sakralisierung von Grabdenkmälern einherzugehen, deren Inschriften zeitgleich einen zunehmend religiösen, auf dem jüdischen Schrifttum zurückgeführten Charakter annahmen.151 Im Mittelalter war vergleichsweise die übliche Sprache der christlichen Epigraphik Latein: Somit kann der Gebrauch entweder des Lateinischen oder des Hebräischen im Mittelalter lediglich als Kennzeichnung der Religionszugehörigkeit aufgefasst werden, und der spätere Rückgang beider Sprachen somit als Merkmal der relativen, oder gar abnehmenden Religiosität bzw. der Fragmentierung der Epigraphik in andere, nicht ausschließlich religiöse Bereiche. Das Aufkommen des hebräischen Sprachgebrauchs im Mittelalter war vor allem mit dem Eintritt der islamischen Kultur in Europa, insbesondere auf der iberischen Halbinsel, verbunden, wodurch die europäischen jüdischen Gemeinden mit denen Nordafrikas und dem Nahen Osten in Kontakt kamen. Es vollzog sich laut dem Historiker Simon Schwarzfuchs demzufolge eine „Rehebräisierung“ in dieser Epoche – eigentlich besser gesagt: eine Hebräisierung.152 Dies veranschaulicht eben nicht die kulturelle Hegemonie des Hebräischen unter den Judenheiten Europas, sondern vielmehr die Verwurzelung der Judenheiten im europäischen Kontinent bis in das finstere Mittelalter zurück – wohlgemerkt bis auf eine Zeit, wo es die Konzepte der später sich als „Mehrheitsgesellschaften“ empfindende Kulturen wie etwa der „ÖsterreicherInnen“ noch nicht einmal ansatzweise gab. Diese Verwurzelung spiegelt sich eindringlich im „Sensationsfund“ 2008 des bislang ältesten Zeugnisses jüdischen Lebens im Raum des heutigen Österreich: ein Amulett als Grabbeigabe mit einer in griechischen Buchstaben eingemeißelten hebräischen Inschrift der Sh’ma Israel (Höre, Israel), das monotheistische Glaubensbekenntnis aus 5. Moses 6,4.153 Dieser antike Fund beweist nicht nur den sprachlichen Pluralismus des antiken Judentums und seine breite geographische Verteilung, sondern auch seine Verwobenheit mit anderen Kulturen: Das Amulett wurde nämlich bei einer archäologischen Ausgrabung eines römischen Bestattungsraums in Halbturn im Burgenland entdeckt. Somit verweist dieses Zeugnis auch auf die Langfristigkeit der jüdischen Geschichte in Österreich, die sogar den Ursprüngen der „österreichischen“ Kultur weit voran steht, sowie auf die Tatsache, dass Judenheiten in diesem Raum offensichtlich durch ihre gesamte Geschichtsschreibung in der sie umgebenden Gesellschaft fest verankert waren. Erst mit der Etablierung der katholischen 151 Vgl. Wachstein, Bernhard: Die Inschriften des alten Judenfriedhofs in Wien, 1. Teil 1540 (?)–1670, Wien 1912, S. xlv, und Wachstein, Bernhard: Die Inschriften des alten Judenfriedhofs in Wien, 2. Teil 1696–1783, Wien 1917, S. xxx–xxxi. 152 Schwarzfuchs: The Medieval Jewish Cemetery, S. 158. 153 Ältestes Zeugnis jüdischen Lebens in Österreich im Fokus der Experten, in: Die Gemeinde, Mai 2009, S. 39.
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Hegemonie im Hochmittelalter und der radikalen Trennung der Konfessionen zu dieser Zeit ist also das Aufkommen des Hebräischen als eben ein Merkmal der Differenzierung und Ausgrenzung von Jüdinnen und Juden als separates Kollektiv durch eine gleichermaßen konstruierte „Mehrheitsgesellschaft“ zu verstehen. Wie es der Historiker Walter Laqueur feststellte, sprachen die Judenheiten in den deutschsprachigen Ländern seit spätestens dem frühen 18. Jahrhundert bereits Deutsch als Muttersprache, wobei Hebräisch als rein liturgische Sprache galt. Insofern müssen die liturgischen Sprachreformen von Moses Mendelssohn – entgegen der Grundannahme des Assimilationsnarrativs – als Folge und nicht Ursache des deutschen Sprachgebrauchs unter diesen zentraleuropäischen Judenheiten angesehen werden.154 Dass die Judenheiten Wiens lange nicht, vielleicht sogar nie, Jiddisch sprachen, mit Ausnahme des Aufblühens einer jiddischen Subkultur ab den 1880er-Jahren und dann vermehrt in der Zwischenkriegszeit als Folge der starken Zuwanderung galizischer Jüdinnen und Juden, zeigt sich auch an einer Reihe von Indizienbeweisen. Max Grunwald schrieb etwa, es sei schwierig festzustellen, „inwiefern die Wiener Juden des Mittelalters sich äußerlich von den Christen unterschieden“, behauptete allerdings, es sei bereits zu dieser Zeit „klar, dass sie das Deutsch der sie umgebenden Bevölkerung sprachen, wie sich von ausgiebigen literarischen Exemplaren und Kompositionen schließen lässt“.155 Martha Keil deutete auf die Verbreitung von säkularen Schriften in hebräischer Sprache im mittelalterlichen Österreich sowie auf die gleichzeitig fast gänzliche Abwesenheit von jiddischen Schriften. Deutsch in hebräischen Schriftzeichen zu schreiben war durchaus üblich, dabei handelte es sich allerdings um „Teitsch“, eine Art jüdisches Deutsch, wie es auch ein jüdisches Spanisch (Ladino) und jüdisches Arabisch gab. Keil schloss aus der Historiographie, dass diese Diskussion ohnehin rein „ideologisch“ ist, da „Jiddisch“ ein „anachronistischer, aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stammender Begriff “ ist: „Tatsache ist, daß sich Jüdinnen und Juden mit ihren christlichen Zeitgenossen weitgehend problemlos verständigen konnten.“156 Über die Wiener Judenheit des 17. Jahrhunderts, vor ihrer Vertreibung 1670 durch Kaiser Leopold I. und somit lange vor der Aufklärung, schrieb Max Grunwald, dass sie ihren obligatorischen Unterricht „in der Landessprache“ hielten. Von Jiddisch ist hier keine Rede, und vom Hebräischen nur im Kontext des Religionsunterrichts.157 Auch die Lokalhistoriker Hans Rotter und Adolf 154 Laqueur, Walter: Der Weg zum Staat Israel. Geschichte des Zionismus, aus dem Englischen von Heinrich Jelinek, Wien 1975, S. 22. 155 Grunwald: Vienna, S. 69–72. 156 Brugger et al.: Geschichte der Juden in Österreich, S. 34. 157 Grunwald, Max: Geschichte der Juden in Wien 1625–1740, Wien 1913, S. 6–7.
Zur Sprache der Wiener Judenheiten
Schmieger – wohlgemerkt konservative, nichtjüdische Historiker der Zwischenkriegszeit – postulierten, dass diese Bevölkerung „fast ausnahmslos Deutsch“ und wahrscheinlich „überhaupt nicht hebräisch [sic] verstanden“, eine Vermutung, die sie auf Indizien zurückführten wie etwa, dass die damaligen Rabbiner Werke vom Hebräischen ins Deutsche übersetzten oder dass kaiserliche Erlasse auf die Deutschkenntnisse der jüdischen Bevölkerung verwiesen. Wie die Grabsteine im Friedhof in der Seegasse ausgiebig bezeugen, kamen überhaupt viele der damaligen Wiener Jüdinnen und Juden aus den deutschsprachigen Ländern Zentraleuropas, wie beispielsweise durch den weitverbreiteten Namen „Aschkenasi“ bekundet, ein biblischer Name, der ab dem Mittelalter auf das Rheinland bezogen wurde und „der zu jener Zeit kein fester Familienname ist, sondern lediglich die deutsche Herkunft bezeichnet“.158 Auch im Josephinischen Zeitalter sprach die Wiener jüdische Bevölkerung laut Max Grunwald sehr wenig Hebräisch, geschweige denn Jiddisch.159 So schrieb die 1763 gegründete Chewra Kadisha in ihren Statuten fest, dass sie die obligatorische allwöchentliche Predigt für ihre Mitglieder „in deutscher Sprache halte, damit Jedermann ihn [den Rabbiner] hinlänglich verstehe“. 1813 wurde ferner vorgeschrieben, dass die Statuten alljährlich auf Deutsch rezitiert werden sollten, „da viele Mitglieder die ‚heilige Sprache‘ [Hebräisch] nicht verstehen“.160 Im November 1819, als es der Wiener Judenheit bewilligt wurde, eine zweckgebaute Synagoge zu bauen und somit einen großen Schritt in Richtung Etablierung einer gefestigten Gemeinde zu nehmen, schlugen die Vertreter vor, Deutsch als Sprache des Ritus zu verwenden, was die Gemeinschaft überwiegend befürwortete. In einem Schreiben an die niederösterreichische Landesregierung (deren Hoheit die Stadt Wien damals noch unterstand), erklärten die Vertreter dies mit der Intention, sich „ihren christlichen Mitbewohnern [zu] nähern“, und aus dem Grund, dass die hebräische Sprache „der heranwachsenden Jugend und besonders dem gesamten weiblichen Geschlecht ganz unverständlich“ sei.161 Dieser Ausdruck des Annäherns soll in diesem Zusammenhang eben nicht als versuchte „Assimilation“ verstanden werden, sondern lediglich als Abbruch anstelle einer Bestärkung der Schranken, welche diese Religionsgemeinschaft, die ja nachweislich schon seit Generationen oder sogar Jahrhunderten Deutsch und nicht Jiddisch oder Hebräisch sprach, schon lange in gesellschaftlicher Ausgrenzung gehalten hatte. Grunwald bemerkte anhand von Beispielen aus dem 19. Jahrhundert, wie etwa die Schriften von den Rabbinern Adolf Jellinek und Joseph Samuel Bloch oder des Revolutionärs 158 159 160 161
Rotter, Hans/Schmieger, Adolf: Das Ghetto in der Wiener Leopoldstadt, Wien 1926, S. 52. Grunwald: Vienna, S. 162. Wolf: Die jüdischen Friedhöfe, S. 8–9. Husserl: Gründungsgeschichte des Stadt-Tempels, S. 80–81.
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Adolf Fischhof, dass es bis in die Moderne hinein gewöhnlich war, Deutsch mit hebräischen Schriftzeichen zu schreiben.162 Solche Texte führen nicht selten zum Fehlschluss, dass es sich hier, wie in anderen, älteren Fällen, um Jiddisch als separate Sprache handle. Sogar die weiblichen jiddischen Namen, welche als die wohl „jüdischsten“ in der Namenskunde jüdischer Sepulkralkultur in Zentraleuropa gelten, leiten sich tatsächlich oft aus europäischen Landessprachen ab, so beispielsweise Gittel von „gut“, Blumel oder Blimle von „Blume“, Beila von „bella“ (italienisch, schön) oder Yentel von „gentille“ (französisch, sanftmütig).163 Die Sprachpolitik innerhalb der europäischen jüdischen Gemeinden verschärfte sich im 20. Jahrhundert erheblich, wobei Hebräisch in der Sepulkralkultur von vielen, insbesondere orthodoxen Kreisen, inzwischen längst als charakteristisches Wahrzeichen der „Jüdischkeit“ aufgefasst wird. Sogar nur mild orthodox orientierte Rabbiner empfehlen deswegen nachdrücklich die Verwendung der hebräischen Sprache für Grabinschriften, am besten „eine kurze, deskriptive hebräische Phrase“ und den hebräischen (sprich: synagogalen oder religiösen) Vornamen der Verstorbenen und deren Patronym, danach erst den bürgerlichen Namen und die Lebensdaten im jüdischen sowie gegebenenfalls dem gregorianischen Kalender.164 Wie Harry Rabinowicz darlegte, gibt es „keine uniformen Bräuche bezüglich der Inschrift“, da auch dies eine Entwicklung der nachbiblischen Zeit war, welche ihre ausgeprägte Gestalt erst im Mittelalter annahm. Heutzutage aber „setzen Gemeinden ihre eigenen Regelungen fest“, die manchmal nicht bloß die Inschrift, sondern auch die Gestaltung des Grabsteines und eben die Sprache der Inschrift betreffen. Allerdings seien es nur „manche ultraorthodoxe Gemeinschaften“, die rein hebräische Inschriften vorschreiben.165 Somit zeigt sich auch hier die Schmiedbarkeit sowie Divergenz in der Erinnerungspraxis, wobei der Anteil an hebräischen oder nichthebräischen Inschriften eher als Grad der Religiosität bzw. der Orthodoxie angesehen werden soll als der einer vermeintlichen „Assimilierung“ oder der „Jüdischkeit“ überhaupt. Bei dieser Diskussion rund um die Rolle der Sprache bei der vermeintlichen Assimilierung der Judenheiten an einer ihnen gegenübergestellten „Leitkultur“ geht es nicht nur um einen historischen Wahrheitsanspruch: Wie der Germanist Karlheinz Rossbacher feststellte, wollten „die Antisemiten des 19. und 162 Grunwald: Vienna, S. 244. 163 Vgl. Schwarzfuchs, Simon: The Tombstones from the Würzburg Cemetery. A Detailed Survey, in: Müller/Schwarzfuchs/Reiner (Hg.): Die Grabsteine vom jüdischen Friedhof in Würzburg, Bd. 1, S. 231–232. 164 Lamm: The Jewish Way, S. 192. 165 Rabinowicz: A Guide to Life, S. 117–119.
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20. Jahrhunderts hinter dem Deutsch assimilierter Juden eine zweite Sprache wahrnehmen“.166 Dem Assimilationsgedanken liegt – auch, wenn das bei wohlmeinenden, philosemitischen wie oft auch jüdischen HistorikerInnen nicht die Intention ist – stets die Idee des „Juden“ als Fremdkörper in der europäischen Kultur zugrunde, eine Idee, deren Gefahren sich am schrecklichsten, aber bei Weitem nicht ausschließlich, unter dem Nationalsozialismus offenbarten. Dieser Gedankengang zeigt sich am Beispiel, wie der Philologe Victor Klemperer notierte, dass im März 1933 an der Universität Leipzig ein Schild errichtet wurde, welches forderte, dass deutschsprachige Publikationen von als „Jüdinnen“ und „Juden“ bezeichneten AutorInnen als „Übersetzung aus dem Hebräischen“ abgestempelt werden sollten, um diese somit als „rassisch“ anders und nicht zugehörig zu brandmarken.167 Obwohl Rossbacher also im oben angeführten Zitat auf das antisemitische Gedankengut dieser Unterstellung der „zweiten Sprache“ aufmerksam machte, benützte er gleichzeitig das Narrativ der „Deutsch assimilierten Juden“ und tradierte es damit. In diesem Paradox zeigt sich, wie sehr es in der Forschung wünschenswert wäre, dieses Narrativ nicht nur kritisch zu beleuchten, sondern auch seine Redewendungen nicht gedankenlos wiederzugeben: Wenn dem Begriff „Assimilation“ implizit antisemitisches Gedankengut zugrunde liegt, sollte er in der Forschung auch nicht verwendet werden. Trotz dieser verschiedenen Vorbehalte gegenüber den linguistischen Analysen der Epigraphik der Wiener jüdischen Sepulkralkultur, wird sich herausstellen, dass die Sprache der Grabinschriften vor etwa den 1780er-Jahren ausschließlich Hebräisch war, und das gerade, weil der erhaltene Korpus an Wiener jüdischen Grabinschriften erst im 13. Jahrhundert seinen Ausgang nahm, und somit eindeutig nach der Etablierung des Hebräischen als hauptsächliche Sprache der aschkenasischen Sepulkralkultur. Freilich war dieses ein eigentümliches, teils sakral-biblisches, teils altertümlich-poetisches Hebräisch, das nicht mal für moderne Hebräischmuttersprachige einwandfrei verständlich sein sollte. Aufgrund dieser Eigentümlichkeit des sepulkralen Hebräisch des Wiener Judentums und seinem Übergewicht in der Epigraphik sowie der Annahme, dass diese Sprache vielen LeserInnen nicht geläufig sein wird, verdient es im Folgenden eine besondere Erklärung. Allerdings sollte immer der Vorbehalt im Hinterkopf behalten werden, dass es sich hier nicht um eine Umgangssprache, sondern um eine äußerst kontextspezifische Sepulkralsprache handelte, die sich zudem durchaus unterscheidet von vergleichbaren Beispielen in anderen Lokalitäten in Europa und darüber hinaus. 166 Rossbacher, Karlheinz: Literatur und Bürgertum. Fünf Wiener jüdische Familien von der liberalen Ära zum Fin de Siècle, Wien 2003, S. 345. 167 Klemperer, Victor: LTI. Notizbuch eines Philologen, Berlin 1947, S. 35.
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Zur Deutung der Sepulkralepigraphik
Die Sepulkralepigraphik bildet die reichste Quelle an kulturhistorischen Daten, die buchstäblich in den steinernen Archiven der Friedhöfe abgelesen werden kann. Die Epigraphik stellt sich aus einzelnen Inschriften zusammen, die auf den Grabsteinen angebracht sind, und macht insgesamt einen Korpus aus, also eine Ansammlung aller solchen Texte in einem bestimmten Kontext, in diesem Fall der der Wiener jüdischen Geschichte, die einer vergleichenden sprachlichinhaltlichen Analyse unterzogen werden kann. Wie geschildert, war es in der Antike durchaus nicht in jedem Einzelfall üblich, einen Grabstein als Erinnerungsmal zu beschriften. Der allgemeine Brauch, eines jeden Toten namentlich zu gedenken – in Form eines Grabsteins oder auch in vorzulesenden Memorbüchern – hatte sich unter den Judenheiten Europas spätestens im Mittelalter im Kontext der Kreuzzüge und des Märtyrertums (die Ermordung von Jüdinnen und Juden aufgrund ihres Glaubens) fest etabliert.168 Jedoch bildete dies wiederum nur eine Iteration der allgemein in Europa heranwachsenden Praxis der individuellen Kennzeichnung von Grabdenkmälern, die Philippe Ariès als Beweis für eine gleichzeitig entstehende „Zivilisation der individuellen Identität“ deutete.169 Freilich war dies auch immer eine Frage von Klasse und Stand, und bis heute führen Wohlstand und Ruhm zur prominenteren Erinnerung, als es Bescheidenheit und Anonymität jemals zulassen würden. Nichtsdestotrotz bilden Grabinschriften ein einzigartiges Korpus an Erinnerungstexten, die einen in anderen Quellengattungen ansonsten schwer zu findenden Querschnitt der jüdischen Bevölkerung bieten. Das aus den Grabinschriften Abzulesende stellt oft das einzige Zeugnis einzelner und gemeinschaftlicher Lebenswelten dar, die ohne die Grabsteine entweder durch das Rad der Zeit oder durch gezielte menschliche Destruktivität aus der Erinnerung und der Geschichtsschreibung gelöscht worden wären. Eine weitere Besonderheit dieser Quellengattung ist, dass diese einzelnen Texte jeweils ein Menschenleben in seiner Gesamtheit auf zutiefst existenzielle Weise und in nur den wenigsten Worten zu erfassen versuchen. Eine jede Grabinschrift ist somit eine prägnante, aber profunde, Aussage über das Leben des Verstorbenen einerseits, aber auch die Wertvorstellungen und Weltanschauungen der Überlebenden der jeweiligen Gemeinschaft andererseits. Als Korpus betrachtet, eröffnen diese Erinnerungstexte einen synchronischen Blick auf Parallelitäten und Verschiedenheiten in einer beliebigen historischen Phase und ermöglichen zudem die Nachvollziehung deren diachronischen Entwicklung durch verschiedene historische Epochen. Als Gesamtheit gesehen, bilden die 168 Vgl. Rabinowicz: A Guide to Life, S. 111. 169 Ariès: Bilder, S. 37, 46.
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über hunderttausend jüdischen Grabsteininschriften in Wien ein einzigartiges, (inter-)textuelles Geflecht der individuellen und kollektiven Lebenswelten der Wiener Judenheiten von ihren Anfängen im Spätmittelalter bis zum heutigen Tag. In seiner am 26. März 1865 im Leopoldstädter Tempel gehaltenen Trauerrede zum Andenken an den verstorbenen Oberrabbiner Isak Noa Mannheimer charakterisierte sein Nachfolger Adolf Jellinek dessen Wirken auf folgende Weise: Vor dem Trauhimmel und an den Särgen geht er liebevoll in Familieneinzelheiten ein, sucht Lebenden und Todten durch geschickte Wendungen eine gute Seite abzugewinnen, deren Vorzüge, und wären sie noch so unbedeutend, hell zu beleuchten, […] oder schlägt einen Seitenweg ein, um irgend ein treffliches Familienglied aufzusuchen und festzuhalten.170
In diesem Zitat zeigt sich ausdrücklich der größte Vorbehalt eulogistischer Nachrufe, also auch Grabinschriften, nämlich die der Erinnerung an den Toten zugrundeliegende Maxime de mortuis nihil nisi bonum. Grabinschriften sind durchaus nicht repräsentativ für die komplexen familiären und gesellschaftlichen Rezeptionen eines ganzen Menschenlebens. So berichtete Ernst Roth beispielhaft, er hätte in seinen Forschungen nur ein einziges Beispiel einer negativen oder kritischen Grabinschrift gefunden, und zwar in Jerusalem: „marscha’ath she’halcha bi-begadim shel chazifuth“ (die Verstorbene war dafür bekannt, dass sie in modernen Kleidern herumgegangen ist; Roths Transliteration).171 Andererseits stehen heute noch Rabbiner allgemein jenen Epitaphien kritisch gegenüber, welche „wohlgemeinte Übertreibungen“ oder gar „unverhüllte Unwahrheiten“ beinhalten.172 Es muss also stets bedacht werden, dass diese lapidaren Erinnerungstexte in der Regel oft bloß bis in das schlicht unpersönlich-abstrakte getriebene Belobigungen der Toten darstellen. „Grabreden werden nicht zum Lobe der Todten, die dessen nicht bedürfen, denn ihre Thaten sind ihre Denkmäler, sondern zur Ehre der Lebenden gehalten“, erklärte Gerson Wolf in seiner Geschichte zu den Wiener jüdischen Friedhöfen.173 Dieser Verweis auf die Frage der Urheberschaft sowie des Zielpublikums gilt gleichermaßen für Grabinschriften. Die Grammatik der hebräischen Epigraphik weist zwar oft durch die Verwendung der ersten Person
170 Jellinek, Adolf: Rede bei der Gedächtnissfeier für den verewigten Prediger Herrn Isak Noa Mannheimer, Wien 1865, S. 12–13. 171 Roth: Zur Halachah des jüdischen Friedhofs II, S. 103–104. 172 So z. B. Lamm: The Jewish Way, S. 192. 173 Wolf: Die jüdischen Friedhöfe, S. iv.
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allgemein auf die Angehörigen als vermutliche VerfasserInnen und beabsichtigte Zielgruppe zugleich, beispielsweise in Ausdrücken wie awinu hajekar (unser geliebter Vater) oder esheti hajekara (meine geliebte Frau). In den allermeisten Fällen ist allerdings aus dem einfachen Mangel an Dokumentation die Urheberschaft von Grabinschriften, ja von der Herstellung der Grabsteine überhaupt, keine konkrete Spur zu finden. Wenn auch in moderneren Zeiten die prunkvollsten Grabdenkmäler oft von berühmten Architekten entworfen und somit wenigstens mit deren Namen gekennzeichnet wurden, so finden sich nur in den allerseltensten Fällen solche Hinweise in der Sepulkralepigraphik. Im gesamten Katalog der etwa 1.000 Inschriften auf den damals noch erhaltenen Grabsteinen aus dem Friedhof in der Seegasse, die der Historiker Bernhard Wachstein seinerzeit transkribierte, finden sich beispielsweise nur vier eindeutige Hinweise auf die Widmenden oder die VerfasserInnen.174 Eine besondere Ausnahme bildet ein im 19. Jahrhundert aufgefundener Grabstein aus dem Jahr 1252 – der zweitälteste bekannte jüdische Grabstein in Wien – der einen direkten wenn auch anonymen Hinweis auf den Verfasser enthält: „Diesen Stein habe ich gesetzt zu Häupten meiner Gattin Ester, Tochter des Herrn Josef “, Hebräisch: Ester bat Josef.175 Überhaupt warnte Wachstein davor, zu viel Bedeutung in den vermeintlich „persönlichen Ton“ einer Inschrift hinein zu interpretieren, da es nicht eindeutig sei, „ob dieser Ton aus formalen und rhetorischen Gründen gebraucht wurde oder ob er wirklich die Sprache der Angehörigen vorstellt“.176 Sollte aus Sicht des Predigers oder der Gemeinde wahrlich nicht viel Gutes im Leben des Verstorbenen finden lassen, wie im obigen Zitat von Jellinek angesprochen, so lässt sich einer Person auch im Verweis auf prominente VorfahrInnen oder Verwandte gedenken, ein „Seitenweg“ zur Erinnerung. So finden sich häufig auf Grabsteinen mehr Aussagen über Familienmitglieder, als über die Verstorbenen selbst. Das trifft vor allem auf die Inschriften verstorbener Frauen zu, denen im Kontext einer oft patriarchalischen jüdischen Erinnerungskultur zumeist ausschließlich in Bezug auf ihre männlichen Verwandten – Väter, Gatten, seltener Söhne – gedacht wurde. Gattinnen fanden in den Inschriften ihrer Männer hingegen meist nie Erwähnung. So war die Sepulkralepigraphik im Judentum, wie im Christentum und anderen kulturellen Strömungen auch, meist durchgehend geschlechtsspezifisch gestaltet, was sich zum Teil bis heute, gerade in religiösen bzw. orthodoxen Kreisen, nicht geändert oder gar aufs 174 Wachstein: Die Inschriften, 1. Teil, S. xxv. 175 Zit. nach Moses, Leopold: Hebräische Grabsteine aus dem Wiener jüdischen Museum [Sommer 1939], in: Steines, Patricia (Hg.): Leopold Moses Spaziergänge. Studien und Skizzen zur Geschichte der Juden in Österreich, Wien 1994, S. 65. 176 Wachstein: Die Inschriften, 1. Teil, S. xxv.
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Neue durchgesetzt hat. Zusammenfassend liegt also der Wert dieser Inschriften für die historische Analyse weniger im empirischen, biographischen Bereich – in der Tat müsste eine jede Grabinschrift, wenn es um die Verstorbenen selbst geht, stets mit anderen, oft jedoch nicht vorhandenen biographischen Quellen verglichen werden –, sondern vielmehr im kulturhistorischen Bereich: Vor allem in einem so langen Untersuchungszeitraum, wie im vorliegenden Werk vorgestellt, kann die Sepulkralepigraphik als generischer, sich stets wandelnder Kodex gemeinschaftlicher (Selbst-)Darstellungen analysiert werden. Bis in das Spätmittelalter ist die hebräische Inschrift zum typischsten, oft ausschließlichem Charakteristikum der Verzierung jüdischer Grabsteine in Europa geworden. Wie es Gustav Cohn festhielt, verstand man es durch Abwechslung von Gestaltung, Stil und Inhalt, „jedes Erstarren der Form durch lebendigste Beweglichkeit zu verhüten“ und trotz der relativen Uniformität der Steine und der vergleichsweise spärlichen Symbolik auf jüdischen Grabsteinen eine „geradezu erstaunliche Vielgestaltigkeit“ zu erzeugen. Dabei fungierte die Kalligraphie oft selbst als Ornamentik, indem etwa die langgestreckten Buchstaben wie beispielsweise das lamed in Krönchen und Blümchen kulminierten.177 Die Inschriften selbst wurden über die Jahrhunderte immer länger und komplexer. Die Beiträge in einem herausragenden Band zum mittelalterlichen jüdischen Friedhof im unterfränkischen Würzburg zeigen exemplarisch, dass diese fortschreitenden Entwicklungen der Inhalte der Epigraphik, der Morphologie der Schrift sowie des Stils der Gravur eine archetypische oder „traditionelle“ Epigraphik ausschließen: Die Epigraphik soll somit als ein sich stets entfaltendes Medium verstanden werden, genauso wie die hebräische Inschrift größtenteils eine Erfindung des Mittelalters war, die sich im Laufe der Jahrhunderte in verschiedenen Lokalitäten durchaus heterogen entwickeln sollte. Simon Schwarzfuchs fasste dies zusammen: „Es gab keine etablierte Tradition, die sich mit Grabsteininschriften befasste, und es würde etwas Zeit brauchen, bevor sich eine solche entwickelte.“178 In dieser sich entfaltenden Tradition bestanden Inschriften meist aus dem Namen des Verstorbenen, gerade in der vormodernen Zeit, in der es noch keine festgesetzten Familiennamen gab, häufig mit einem Patronym bzw. seltener einem Toponym ergänzt. In der Vormoderne war es in jüdischen Grabinschriften nur dann üblich, das Alter der Verstorbenen zu nennen, wenn sie außergewöhnlich jung oder alt verstarben. So finden sich beispielsweise in den Inschriften im Friedhof in der Seegasse nur zwei, die das Geburtsdatum der Verstorbenen nennen.179 Wichtig für die Erinnerungskultur ist bloß der Todestag. Auch in 177 Cohn: Der jüdische Friedhof, S: 44–47. 178 Schwarzfuchs: The Medieval Jewish Cemetery, S. 166. 179 Wachstein: Die Inschriften, 1. Teil, S. xxxvi.
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der christlichen Sepulkralepigraphik wurde die Erwähnung von Geburtstage bzw. Alter erst ab etwa dem 15. Jahrhundert üblich.180 Sogar in den einfachsten Inschriften war es indes fast durchgehend üblich, einen kurzen Nachruf an die Verstorbenen anzubringen: Gerade mit dem Aufkommen der hebräischen Epigraphik infolge der strengen religiösen Gliederung der europäischen Gesellschaft im Hochmittelalter waren diese häufig aus den biblischen Schriften entlehnt. Seit spätestens der Frühen Neuzeit sind die Buchstaben „taw-nuntzadi-bet-hei“ (als „tantzaba“ ausgesprochen) zum Standardabschluss einer jeden Grabinschrift geworden, die zu Beginn dieses Kapitel bereits vorgeführte, aus 1. Samuel 25,29 abgeleitete Abkürzung für „möge seine/ihre Seele im Bündel des Lebens gebündelt sein“. Dies kann als vage Anspielung auf das Jenseits bzw. auf die Wiederauferstehung verstanden werden, ist aber insgesamt einfach als Standardepitaph vergleichbar mit dem lateinischen R.I.P., requiescat in pace oder „Ruhe in Frieden“. Ab der Frühen Neuzeit war es zunehmend üblich, Grabinschriften mit einem Akrostichon zu versehen: Dabei können die Anfangsbuchstaben der waagerechten Zeilen (im Hebräischen also die Buchstaben am rechten Rande der Inschrift) auch senkrecht als eigenständige Zeile gelesen werden und wurden zur Betonung oft auch fetter eingraviert. Im Friedhof in der Seegasse befand sich ein besonders kompliziertes Beispiel auf dem wahrscheinlich nicht mehr erhaltenem Grabstein des 1736 verstorbenen Binjamin Wolf ben Jehuda, bei dem nicht nur der erste Buchstabe jeder Zeile, sondern der Anfangsbuchstabe jedes Wortes in etwa der ersten Hälfte der Inschrift fetter eingraviert war und somit als separate „Zeile“ gelesen werden sollte. Aus diesen 31 Buchstaben, inklusive zwei längerer Abkürzungen, ergab sich der zusätzliche Satz: „Binjamin, Sohn des katzin [Ehrentitel für einen Gemeindeführer], der große Rabbiner, unser Lehrer und Rabbiner, Rabbiner Jehuda aus Berlin, das Gedächtnis des Gerechten bleibt im Segen.“181 Letzteres Epitaph (abgekürzt als „sain-tzadilamed“, manchmal auch nur „sain-lamed“) ist entlehnt aus Sprüche 10,7 und fand damals häufig bei religiösen und gelehrten Männern Anwendung (nur selten bei Frauen); heute wird es auch allgemeiner angewandt. Durch die Anwendung solcher Akrosticha und Abkürzungen konnten die Inschriften recht komplex werden, was gerade bei prominenten Verstorbenen, besonders reichen Individuen, meist der Fall war. Sarkophage, wie man sie in barocken jüdischen Friedhöfen wie in Prag oder der Seegasse in Wien findet, waren insofern eine besondere Entwicklung: Waren sie einerseits architektonisch betrachtet reine Zierbauten, da die Leichen trotzdem direkt in die Erde bestattet wurden, boten sie andererseits als dreidimensionale Denkmäler mehr Raum für „lobende 180 Vgl. Ariès: Geschichte des Todes, S. 284. 181 Wachstein: Die Inschriften, 2. Teil, S. 220.
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Inschriften, welche den Besuchern von den großen Tugenden des Verstorbenen erzählten“ und waren somit meist den Gemeindevorstehern vorbehalten.182 Der in den 1990er-Jahren auf Privatinitiative wiederhergestellte Sarkophag des berühmten 1724 verstorbenen Wiener Hoffaktoren Samson Wertheimer in der Seegasse beinhaltet beispielsweise eine aus etwa 7.000 Schriftzeichen bestehende, extrem komplexe, auf talmudische Sprache anspielende Inschrift.
Abb. 4 Transkription und Übersetzung der Inschrift auf dem Grabstein der 1585 verstorbenen Sara Ester bat Simeon im Friedhof in der Seegasse. © Autor
Ein Paradebeispiel einer aufwendigen hebräischen Grabinschrift aus der Frühen Neuzeit ist die der 1585 verstorbenen Sara Ester bat Simeon im Friedhof in der Seegasse.183 Sie verstarb an einem Freitagabend nach Einbruch des Shabbat, worauf die erste Zeile sowohl poetisch (in Anlehnung an Berachot 52b–53a) wie sprichwörtlich verweist. Das Schriftzeichen „waw“, das in der zweiten Zeile als Ziffer 6 fungiert, ist im hebräischen phonetisch ausgeschrieben, um das Metrum nicht zu unterbrechen. Es folgt ein Zitat von Klageliedern 3,49 und ein Chronogramm (unten erläutert), welches das Todesjahr 5345 im jüdischen Kalender angibt (jedoch ohne der Jahrtausendzahl). Der sonst ungewöhnlich spezifische Hinweis auf das Sterben ist als Anlehnung an 1. Moses 23,2 zu verstehen. Der darauffolgende Satz beruht auf Psalm 84,4, und die Laudatio endet mit einer vollständigen Umwandlung von 1. Samuel 25,29, was sonst zu dieser Zeit meist nur in abgekürzter Form aufzufinden war. Die Inschrift schließt mit Sara Esters Patronym und einen Verweis auf ihren Mann, den damals berühmten Rabbiner Gerson Hakohen Rapa aus Krakau, auch 182 Vgl. Schwarzfuchs: The Tombstones from the Würzburg Cemetery, S. 214. 183 Wachstein: Die Inschriften, 1. Teil, S. 8.
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bekannt als Israel Jechiel Hakohen Rapa, wobei bemerkenswerter Weise sein Name „Israel“ in seinen abgekürzten rabbinischen Ehrentitel integriert wurde: „mem-hei-reish-jud“ statt dem üblichen „mem-hei-reish-reish“. Durch die vielen Anspielungen und Abkürzungen ergibt sich ein poetisch verschachtelter Text, in dem fast jede Zeile eine doppelte Bedeutung bzw. ein biblisches oder talmudisches Zitat verbirgt. Die Zitate sind oft leicht umgewandelt, um Sinn, Metrum und Reim der Inschrift zu entsprechen, und weisen oft, wie hier auch der Fall ist, auf die biblischen NamenspatronInnen der Verstorbenen hin. Das Chronogramm – im Hebräischen wie im Lateinischen haben die Schriftzeichen auch einen Zahlenwert – erlaubt den Verweis auf biographische Eckdaten, ohne dabei den fließenden Text zu unterbrechen. In diesem Fall ergab sich ein markant eleganter Text, der von starker Symmetrie in Metrum und Reim gekennzeichnet ist: Al or Shabbat / motza’ei Shabbat / waw ijar bat / eini nigra / lifrat shema / meta Sara / Ester bara / po nikbara / ken la wedror / nifsha bitzror / chajim we’or / hie netzrera / hachassida / sichrona liwracha / bat rew Simeon / eshet maharei hakohen. Diese Inschrift sticht zwar in ihre Ausführlichkeit sowie ihrer poetisch eleganten Gestaltung gewissermaßen heraus, ist aber trotzdem inhaltlich, sprachlich und rhetorisch musterhaft für die hebräische, vorwiegend religiöse Epigraphik, die sich in den vormodernen Wiener jüdischen Friedhöfen entfaltete. Vergleichsweise listete Philippe Ariès als „formale Elemente der epigraphischen Literatur“ in der christlich-europäischen Sepulkralkultur „die Identitätsangabe, die Anrede des Vorübergehenden, die fromme Formel, dann die rhetorische Weitschweifigkeit und die Einbeziehung der Familie“ auf, wobei die Inschrift bis in die Frühe Neuzeit im Wesentlichen zum „Lebensbericht des Verstorbenen“ heranwuchs.184 Es besteht also auch hier kein wirklicher Unterschied zur parallelen Entwicklung jüdischer bzw. hebräischer Epigraphik: Diese Entwicklung ist somit als allgemein europäische zu bewerten und nicht als partikulär „jüdische“. Auch über Europa hinaus zeigen sich starke parallele Entwicklungslinien in der Sepulkralkultur. So weist eine 1952 veröffentlichte Studie zu den jüdischen Grabsteinen des vom 17. bis 19. Jahrhundert belegten sephardischen Friedhofs bei Chatham Square in Manhattan, einem der ältesten Friedhöfe New Yorks, auf einen fast identischen Kodex hebräischer Ehrenbezeichnungen, wie man sie etwa im Friedhof in der Seegasse findet, wie auch auf den allmählichen Wandel hin zur zweisprachigen Epigraphik ab dem späten 18. Jahrhundert, wie im jüdischen Friedhof in Währing erkennbar.185
184 Ariès: Geschichte des Todes, S. 285. 185 Sola Pool, David de: Portraits Etched in Stone. Early Jewish Settlers 1682–1831, New York 1952.
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Die auf Dauer einsetzende Normativität der hebräischen Sprache als Formelsprache in der jüdischen Sepulkralepigraphik zeigt sich in der Ansammlung an wenigen Adjektiven und Substantiven, die bis heute weltweit am häufigsten in hebräischen Inschriften aufzufinden sind, beispielsweise jekar (geliebt), tzadik (gerecht), chashuw (wichtig), chacham (weise) und nadiw (freigiebig) sowie tzedaka (Barmherzigkeit), chawod (Ehre) und chessed (Frömmigkeit). Bis heute sind hebräische, somit zumeist religiöse, Inschriften oft stark in normative Geschlechtsvorstellungen untergliedert: Die Inschriften im Andenken an Frauen sind deutlich weniger großzügig als die für Männer, und es gibt keine ausschließlich weiblichen Ehrenbezeichnungen, welche gehobene Stellungen außerhalb der Familie ansprechen. Dies war bis in die Moderne auch in der christlichen Sepulkralkultur durchaus der Fall.186 Die allmähliche Standardisierung und somit Festlegung jüdischer bzw. im engeren Sinn hebräischer Grabinschriften zeigt sich nicht zuletzt in den Versuchen im frühen 20. Jahrhundert, zu einer Zeit, wo immer weniger Jüdinnen und Juden in Europa überhaupt Hebräisch sprachen oder lesen konnten, diese in Kompendien für den Gebrauch in den verschiedensten Fällen zusammenzufassen, so etwa das 1921 veröffentlichte Werk Grabstein-Inschriften des Rabbiners Lion Wolff. Dieses Werk ist in zwei Teile aufgebaut: Der erste Teil für hebräischsprachige und der zweite für deutschsprachige Inschriften. Der hebräische Teil ist geschlechtergetrennt, wobei der weibliche Teil eine soziologisch und kulturhistorisch vielsagende Kategorie „Nachtrag für Männer-Gedenksteine“ sowie die weiteren Kategorien „Jungfrauen“ und „Kinder“ beinhaltet. Im männlichen Teil finden sich Kategorien wie „Rabbiner“ und „Gefallene Krieger“ aber auch „Arme“ und „Ertrunkene“. Der hebräische Teil wird fortgesetzt mit einer Kategorisierung nach Vorkommnissen und dazu passende Bibelzitate wie etwa „früh Gestorbene“ oder „Greise“. Der deutschsprachige Teil listet sämtliche Kategorien vorwiegend nach familiären Beziehungen auf, so etwa „Bruder und Schwester“, „Gatte“, „Gattin“, „Mutter“ usw., sowie wiederholt „gefallene Krieger“ – das Buch wurde wohlgemerkt im Nachklang eines Weltkriegs veröffentlicht. Wolff erklärte die Motivation für die Verfassung dieses Werks vor allem in Bezug auf die geringe Kenntnis der hebräischen Sprache in seinem Umfeld: „Der Laie, der die hebräischen Inschriften kaum lesen, geschweige denn verstehen kann, kritisiert sie nicht, es genügt ihm, wenn überhaupt eine solche angewendet wird, aber dennoch dürfte es erforderlich sein, daß einmal eine größere Auswahl dargeboten wird.“ Andererseits unterstrich er den Neuigkeitswert der etwa hundert hier aufgelisteten deutschsprachigen Bibelzitate, die er offensicht-
186 Vgl. Mytum: Recording and Analysing Graveyards, S. 54.
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lich in Umlauf bringen wollte. Er sei „kein Reformer“, schrieb er, und dennoch würden solche Zitate von „Laien“ seiner Meinung nach begrüßt werden. Offensichtlich ging es ihm hier um die Aufrechterhaltung einer Art „Jüdischkeit“ bzw. Religiosität in den modernen jüdischen Friedhöfen trotz des nachlassenden oder zur Gänze schwindenden Gebrauchs der hebräischen Sprache. Obwohl es an deutschen Inschriftenformeln „keinen Mangel“ gab, kritisierte Wolff die Tatsache, dass ausgerechnet biblische Zitate meist „im christlichen Sinne“ gehalten oder gar „der Übersetzung von [Martin] Luther entnommen“ wurden, der bis heute im Judentum für seine rabiat antijüdische Polemik berüchtigt ist. Zuletzt mahnte Wolff seine Leser, das „Druckfehler-Verzeichnis“ zum Schluss zu befragen, offensichtlich mit Blick auf die immer fehlerhafteren hebräischen Inschriften in seiner Zeit. Der Wunsch, die Grabinschriften und somit den Charakter der Friedhöfe, egal in welcher Form oder Sprache, als ausdrücklich „jüdisch“ zu kennzeichnen, zeigte sich nicht zuletzt im Standardgebet für die Aufstellung eines Grabsteins, welches Wolff hier offerierte: „Wenn nach vielen Jahren man fragen wird, was bedeutet dieses Steinmal, dann wird die Antwort künden, daß es ein jüdisches Grab ist“ (vgl. 2. Könige 23,17).187 Seit der Aufklärung zeigte sich in der jüdischen Sepulkralkultur in Europa und Amerika ein allgemeiner Rückgang des Hebräischen zugunsten der lokalen Landessprachen. Eine Diskussion der komplexen Gründe hierfür würde die Befunde der hierauf folgenden Kapitel vorwegnehmen, es sei also bloß zusammenfassend festgestellt, dass dies unter anderem ein Zeichen der unter weiten Teilen der modernen Bevölkerung schwindenden Religiosität bzw. der Sublimierung des religiösen Lebens in die private Sphäre neben dem Aufkommen anderer, zum Teil prominenterer Erfahrungswelten, wie etwa Stand, Berufung und Familie war. Die hebräische Epigraphik ist allerdings nie zur Gänze verschwunden und trat sogar im 20. Jahrhundert mit der Neubelebung religiöser Gemeinden und vor allem in Reaktion auf die Shoah verstärkt in der Sepulkralepigraphik wieder auf. Insgesamt sind die Inschriften in jüdischen Friedhöfen – wie in nichtjüdischen – heute größtenteils vereinfacht und standardisiert, mit Namen und Daten sowie standardisierten, abgekürzten hebräischen Epitaphien wie „pei-nun“ oder „pei-tet“ (hier ist begraben oder geborgen), vergleichbar mit dem deutschen „hier ruht“, und das oben erwähnte „tantzaba“. Wie es die Mediävistin Edna Engel schilderte, waren die Steinmetzmeister vor allem in der vormodernen Zeit vornehmlich Christen, „wahrscheinlich Mitglieder einer Kathedrale oder einer sonstigen architektonischen Baumeisterzunft“, und kannten somit die hebräische Schrift nicht. Obwohl die Inschriften aus dieser Zeit oft mit hoher Präzision und künstlerischem Geschick angefertigt 187 Wolff, Lion: Grabstein-Inschriften. Hebräisch und Deutsch in Poesie und Prosa für alle vorkommenden Fälle, Leipzig 1921, diese Zitate S. v–viii, 171.
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wurden, beinhalteten sie deshalb auch oft Fehler.188 Qualität und Präzision waren selbstverständlich auch ein Zeichen der sozioökonomischen Verhältnisse einer jeden Gemeinde bzw. ihrer Gelehrsamkeit in der klassischen jüdischen Religionslehre. So ist ein mangelhaftes oder schablonenhaftes Hebräisch mitunter ein Zeichen eines nicht besonders befestigten Gemeindewesens. Auch heute ist diese Thematik noch von Relevanz: In einer Anleitung für Besucher von amerikanischen jüdischen Friedhöfen wird erklärt, dass viele nichtjüdische SteinmetzInnen ein Zahlensystem für die Kodierung des hebräischen alefbet (Alphabet) verwenden, welche ihnen die einfache Übertragung der Inschrift auf den Stein ermöglicht, allerdings nicht selten zu Fehlern führt.189 So finden sich auch in den Wiener jüdischen Friedhöfen relativ häufig Fehler in den hebräischen Epitaphien, die in den vergangenen Jahren von nichtjüdischen bzw. nicht Hebräisch sprechenden Fachleuten wieder instand gesetzt wurden. Ein peinliches aber bei Weitem nicht vereinzeltes Beispiel hierfür ereignete sich bei der Errichtung 1997 eines Gedenksteins im jüdischen Friedhof von Mattersburg im Burgenland: Das Hebräische in der zweisprachigen Inschrift war in der Vorlage auf den Kopf gestellt, der Stein wurde dann genau so graviert und aufgestellt. Erst, als ein Photo davon auf der Titelseite der Kultusgemeindezeitschrift abgedruckt wurde, fiel dieser Fehler auf, und die Inschrift wurde verbessert.190 In Bezug auf die Sepulkralepigraphik muss noch ein Wort über Symbolik gesagt werden, welche selbstverständlich einen festen Bestandteil der Inschrift bildet und somit auch „gelesen“ werden kann und muss.191 Ein weitverbreitetes Stereotyp besagt, die jüdische Religion lehne bildliche Darstellungen prinzipiell ab. Wie Martha Keil unter anderen aber darlegte, war dieses heute oft betonte Verbot im Judentum gegenüber bildlichen Darstellungen zumeist eine Frage individueller rabbinischer Interpretationen. Hingegen gibt es eine lange historische Tradition jüdischer Ikonographie und Symbolik, die bis in die Antike zurückreicht.192 Darüber hinaus ist, wie bei so vielen Aspekten der Sepulkralkultur, die Diskussion über „jüdische“ Symbolik überhaupt vielfach von Stereotypen und Klischees durchdrungen, die von einer zutiefst anachronistischen und dichotomen Vorstellung dessen ausgehen, was als „jüdisch“ oder 188 Engel, Edna: Palaeographic Analysis of the Würzburg Inscriptions, in: Müller, Karlheinz/Schwarzfuchs, Simon/Reiner, Abraham (Hg.): Die Grabsteine vom jüdischen Friedhof in Würzburg aus der Zeit vor dem Schwarzen Tod (1147–1346), Bd. 1, Würzburg 2011, S. 82. 189 Segal: A Field Guide, S. 151. 190 Richtig(-)gestellt, in: Die Gemeinde, Februar 1998, S. 33. 191 Eine gute Zusammenfassung dieser Thematik findet sich in Steines, Patricia: Totenkult als Wegweiser, in: Keil, Martha/Forisch, Elke/Scheiber, Ernst: Denkmale. Jüdische Friedhöfe in Wien, Niederösterreich und Burgenland, Wien 2006, S. 14–26. 192 Brugger et al.: Geschichte der Juden in Österreich, S. 89.
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eben als „unjüdisch“ gilt. Auch hier findet sich oft das Assimilationsnarrativ als vereinfachendes Erklärungsmuster. Ernst Roth behauptete beispielsweise repräsentativ für die allgemeine orthodoxe Auffassung heutzutage, Skulpturen und Büsten seien gänzlich verboten auf jüdischen Friedhöfen.193 Hannelore Künzl zeigte hingegen die weite Verbreitung von menschlichen Darstellungen vor allem in der sephardischen Grabkunst der Frühen Neuzeit auf, identifizierte diese als „jüdische Symbole“ wegen der häufigen Darstellung biblischer Szenen und Persönlichkeiten, unterstellte aber gleichzeitig diesen bildlichen Darstellungen einen vermeintlich christlichen Einfluss – eine einschlägige Aufführung der Wirren einer Diskussion rund um „jüdische“ bzw. „un-“ oder „nichtjüdische“ Symbolik.194 Nicht zuletzt verstecken sich oft in solchen Diskussionen über „jüdische“ Symbole auch (wenngleich unbewusst) antisemitische Klischees, so beispielsweise die Behauptung, die gebrochene Säule, ein recht geläufiges Sinnbild des Todes in christlichen wie jüdischen Friedhöfen des 19. Jahrhunderts, sei „ein deutliches Freimaurersymbol“.195 Ähnliche Behauptungen finden sich bei Anwendungen eines Winkelmaßes mit Zirkel, ein Symbol, das freilich auch von Freimaurern verwendet wurde, allerdings ebenso von Architekten. Somit ist Vorsicht geboten, bevor man ideologische Inhalte in bestimmte Formsprachen – seien sie architektonisch, symbolisch oder schriftlich – hineininterpretiert. In der Antike waren die menora (siebenarmiger Leuchter), der shofar (ein Horninstrument, das zu Rosh Hashana geblasen wird) und Palmenzweige recht geläufige Symbole in der jüdischen Grabkunst, welche allerdings in späteren Jahrhunderten weitgehend verschwanden.196 Dahingegen fand der Davidstern, das heute wohl am breitesten als „jüdisch“ erkannte Symbol, welches auch häufig auf modernen jüdischen Grabsteinen zu finden ist, in der Antike fast überhaupt keine Verwendung.197 Ernst Roth erklärte, dass wahrlich „jüdische“ Symbole – sprich Symbole, die nicht auch von Nichtjüdinnen und -juden verwendet wurden – dem pragmatischen Zweck dienten, „die betreffenden Grabstätten als jüdisch zu kennzeichnen“, was vor allem deshalb notwendig war, da der Großteil der Jüdinnen und Juden in der Geschichte eben unter bzw. als Teil nichtjüdischer Bevölkerungen lebte. In der jüdischen Sepulkralkultur des europäischen Mittelalters entwickelten sich aber allmählich auch andere Symbole auf jüdischen Grabsteinen, die sich beispielsweise auf die Beschilderung der Wohnhäuser vor der allgemeinen Einführung von Hausnummern bezogen und später häufig als Nachnamen übernommen wurden, wie Engel oder Lamm.198 193 194 195 196 197 198
Roth: Zur Halachah des jüdischen Friedhofs II, S. 111. Künzl: Jüdische Grabkunst, S. 93–98, 151, siehe auch S. 101–103, 109. So z. B. Ackerl/Bouchal/Schödl: Der schöne Tod, S. 81, 120. Vgl. Schwarzfuchs: The Medieval Jewish Cemetery, S. 150. Vgl. Cohn: Der jüdische Friedhof, S. 38. Vgl. Roth: Zur Halachah des jüdischen Friedhofs II, S. 106–107.
Zur Deutung der Sepulkralepigraphik
Aus der Barockzeit finden sich jüdische Grabsymbole, die der zeitgenössischen christlichen Symbolik sehr ähnlich kommen, wie beispielsweise Schädel mit gekreuzten Knochen, und das sogar auf sonst ausdrücklich religiösen Grabsteinen mit hebräischen Inschriften.199 Vor allem die sephardische Grabkunst wies eine ausgeprägte bildliche Formsprache aus, bestehend etwa aus menschlichen Darstellungen, barocken Schädeln und Sanduhren.200 Insgesamt in Europa recht weitverbreitete Symbole waren in dieser Zeit etwa Blumen, Wappenbilder und Handelssymbole.201 Alle diese finden sich auch häufig auf jüdischen Grabsteinen der Frühen Neuzeit wieder. Umgekehrt finden sich so manche als „jüdisch“ konnotierte Symbole in der christlichen Sepulkralkultur wieder, so etwa die Palme als Symbol des Paradieses in der Frühen Neuzeit, die dem etz cha’im (Lebensbaum) der jüdischen Sepulkralkultur optisch und inhaltlich sehr ähnlich ist.202 Im religiösen Brauchtum wird grundsätzlich empfohlen, den Status der priesterlichen Verstorbenen symbolisch zu kennzeichnen. Das geschieht zumeist durch Anbringen der segnenden Hände bei den Kohanim (den Vorbetern) und des Kruges, manchmal samt Becken, bei den Lewiten (den Assistenten der Kohanim). Diese zählen bis heute zu den eigentümlichst „jüdischen“ Symbolen. Um kurz auf die Thematik der Urheberschaft zurückzukommen, ermöglichen die erhaltenen Korrespondenzen des Friedhofsamtes im Archiv der Wiener Kultusgemeinde wenigstens eine Momentaufnahme des Prozedere von der Produktion jüdischer Grabsteine und damit auch einige Einblicke in den ihr zugrundeliegenden Ansichten der Kultusgemeindemitglieder bzw. ihrer AdministratorInnen. Obwohl die folgenden Beispiele aus der Zeit der Shoah stammen und somit nicht unbedingt repräsentativ sind, vor allem in Bezug auf die finanziellen Mittel der Kultusgemeinde, hatte sich bis zum Anbruch der NS-Zeit längst eine ausgedehnte Bürokratie rund um das Friedhofswesen in der Kultusgemeinde etabliert. Diese Quellen ermitteln somit einen Einblick in allgemeine Entwicklungen der Friedhofsadministration vor dieser Zeit, wobei das Friedhofsamt beispielsweise in Todesfällen ein „Ansuchen um Erteilung der Bewilligung [im Folgenden auszuwählen] zu Aufstellung eines Grab- / Gruft-Monumentes / zur Anbringung einer Nachschrift / zur Anbringung einer Namenstafel“ verlangte. Diese normativierten Ansuchen mussten Grabstelle, Material und Dimensionen des Grabdenkmals und den beauftragten
199 Siehe z. B. Sperber: The Jewish Life Cycle, S. 518. 200 Vgl. die Aufnahmen in Liedel, Herbert/Dollhopf, Helmut (Hg.): Haus des Lebens. Jüdische Friedhöfe, Würzburg 1985, S. 110–115. 201 Vgl. Mytum: Recording and Analysing Graveyards, S. 39. 202 Vgl. Ariès: Bilder, S. 234, 236.
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Das „steinerne Archiv“
Steinmetz sowie die gewünschte Inschrift angeben; allesamt der Zustimmung der Kultusgemeinde unterlegen.203 So beantragte Mina Barth, die ausdrücklich von der Kultusgemeinde aufgefordert worden war, eine Inschrift für den Grabstein ihres Vaters und Bruders vorzuschlagen, dass diese mit den Worten „von seinen Töchtern und Schwestern Antonie Schwarz und Mina Barth“ enden sollte. Die Kultusgemeinde lehnte dies allerdings mit der Begründung ab, dass „die Namen Lebender auf den Grabsteinen nicht angebracht werden können“.204 Somit zeigt sich einerseits, dass Inschriften durchaus, vermutlich sogar oft, von Angehörigen selbst verfasst wurden, aber andererseits auch den Grad an Kontrolle, den die Kultusgemeinde auf die Inhalte der Grabinschriften ausübte (wobei das hier zitierte Verbot nachweislich früher nicht galt und auch später nicht eingehalten wurde). In einem internen Schreiben der Kultusgemeinde mit der geplanten Inschrift für das Denkmal der Familie Barth ist diese, wie in vielen anderen erhaltenen Beispielen auch, mit der abgestempelten hebräischen Abkürzung „pei-nun“ (hier ist begraben) versehen.205 Dies zeigt die Verwendung der hebräischen Sprache, insbesondere derartiger Formeln, um der Form halber das Grab offensichtlich als „jüdisch“ zu markieren. Hier handelt es sich übrigens um das Grab des Ehepaars Paul und Cäzilie Barth und deren Sohn David (verstorben 1905, 1934 und 1941) im Zentralfriedhof beim I. Tor (7-25-8). Das Schicksal von Mina Barth konnte ich nicht eruieren; eine 1869 geborene Antonie Schwarz, bei der es sich höchstwahrscheinlich um die genannte Tochter von Paul und Cäzilie handelte, wurde 1942 in Maly Trostinec ermordet. In einem weiteren Beispiel erkundigte sich der in Polepp/Polepy in Böhmen wohnende Emil Klein 1943 bei der Kultusgemeinde bezüglich der Errichtung eines Grabsteines für seinen im Jahr 1941 in Wien verstorbenen Vater, der im Zentralfriedhof beim IV. Tor bestattet liegt (20-37-2). Er beantragte eine „Marmorgrabtafel in schwarzem Marmor“ mit der Inschrift: „Hier ruht / Martin Klein / geboren 14. August 1874 in Döbling [der 19. Bezirk] / gestorben 4. November 1941 / Das Leben hat ihn hart angefasst. Mit seinem heiteren Gemüt bezwang er es.“206 Das Friedhofsamt informierte Emil allerdings, dass der von 203 An den Vorstand der israelitischen Kultusgemeinde Wien, o. D., AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in United States Holocaust Memorial Museum (USHMM), Archive of the Jewish Community Vienna – Vienna Component Collection, Call Number RG-17.007M (AJCVVCC). 204 An Frau Mina Sara Barth, 29. Juni 1942 und An Frau Mina Sara Barth, 28. August 1942, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 205 An die Kanzlei Neuer Friedhof, 28. August 1942, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 206 An den Ältestenrat der Juden in Wien, 16. Mai 1943, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
Zur Deutung der Sepulkralepigraphik
ihm bezahlte Betrag von 80 Reichsmark bloß eine 35-buchstabige Inschrift decken würde; seine gewünschte Inschrift würde den Preis auf 157 Reichsmark erhöhen. Das Friedhofsamt schlug demnach vor, er solle sich auf die folgende knappe Inschrift begrenzen: „Martin Klein, geb. 14.8.1874, gest. 4.11.1941“, was ohnehin schon 40 Zeichen umfasste.207 So zeigt sich – einmal vom historischen Kontext dieses Beispiels aus der NS-Zeit abgesehen – auch die pragmatische Seite der Herstellung dieser doch aufwendigen privaten Denkmäler und die daraus folgende Tendenz in den letzten paar Jahrhunderten, vor allem mit der Demokratisierung der Sepulkralkultur, auf eher schlichte, spärlich beschriftete Denkmäler zurückzugreifen. In einem letzten Beispiel der Redaktion seitens der Kultusgemeinde bemerkte Ernst Feldsberg, der damalige Friedhofsamtsdirektor und spätere Präsident der Kultusgemeinde, auf dem Inschriftenformular für den Grabstein der am 8. Mai 1941 verstorbenen Adele Brand (I. Tor, 52-637): „Der Nachsatz ‚Meine geliebte Gattin, mein unvergessliches Mutterl‘ ist nicht zu gravieren“.208 Ob dies das Resultat von finanziellen oder inhaltlichen Vorbehalten war, sei dahingestellt. Heutzutage werden die meisten Steine in dem sich noch in Gebrauch befindlichen jüdischen Friedhof beim IV. Tor von Steinmetz Schreiber hergestellt bzw. instand gehalten. Diese Firma wurde 1946 in Liberec in der Tschechoslowakei von Leopold Koncicky-Schreiber gegründet und zehn Jahre darauf verstaatlicht. Koncicky-Schreiber floh 1968 infolge der Niederschlagung des Prager Frühlings nach Wien, wo er die Firma „mit Hilfe der Israelitischen Kultusgemeinde“ neu gründete, die die „religiöse Vorschriften gewahrt“ wissen wollte, indem sie einen Spezialisten in hebräischen Grabinschriften vor Ort tätig hatte.209 In Werbungen aus den 1970er-Jahren wurde Koncicky-Schreiber entsprechend auf Jiddisch als „jüdischer Steinmetz“ beschrieben.210 Seit 1972 befindet sich der Betrieb beim IV. Tor, untergebracht in der alten Zeremonienhalle inmitten des Friedhofs. In den 1990er-Jahren erklärte der Betrieb, er sei „fast ausschließlich an jüdischen Friedhöfen tätig“.211
207 An Herrn Emil Klein, 24. Mai 1943, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCVVCC. 208 An die Kanzlei Neuer Friedhof, 15. Juli 1942, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 209 Schreiber GesmbH – Die Geschichte eines Steinmetzbetriebes, in: Die Gemeinde, Februar 1997, S. 47. 210 Siehe z. B. Die Gemeinde, 3. Jänner 1973, S. 31. 211 Siehe die Werbung in Die Gemeinde, 13. Mai 1993, S. 30.
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Das „steinerne Archiv“
2.7
Zur Dokumentation der Wiener jüdischen Friedhöfe
Sic transit gloria mundi: So vergeht der Ruhm der Welt. Alle Grabsteine werden ohne besondere denkmalpflegerische Maßnahmen irgendwann der Verwitterung zum Opfer fallen – schneller oder langsamer, je nach Gestein und lokalen Gegebenheiten. Zu den natürlichen Ursachen der Verwitterung der Oberfläche oder gar der Zersprengung bzw. dem Umsturz des Steins zählen Feuchtigkeit, Hitze, Frost, atmosphärische Salzanteile und ähnliche Umfeld bedingte Faktoren. Auch die natürliche Erhöhung des Bodens mit der Zeit führt dazu, dass der umgebende Pflanzenwuchs und die damit verbundene Feuchtigkeit an den Fundamenten der Steine fressen und sie damit, wenn ungehemmt, früher oder später zum Um- oder Einstürzen bringen.212 Tatsache ist, dass Friedhöfe pragmatisch – hier mal abgesehen vom Politikum rund um die Erhaltung jüdischer Friedhöfe in Österreich nach ihrer weitgehenden Zerstörung in der Shoah – nicht auf Ewigkeit erhalten werden können, oder dann nur unter enormen materiellem sowie finanziellem Aufwand. Deshalb ist die beständigste Form der Erhaltung sowie die vernünftigste Basis aller auf diesen Orten beruhenden Forschungen alleine ihre Aufzeichnung in schriftlicher oder digitaler Form.213 Es gibt hochentwickelte Methodologien für die umfassende Dokumentation ganzer Friedhöfe, die die genaue Bemessung des Geländes und die sorgfältige Aufzeichnung mit Photographien und Notizen der Grabsteine samt ihrer materiellen Gegebenheiten, ihrer Inschriften und ihrer Standorte umreißen.214 Diese ausgiebige Dokumentation kann durch archivarische Unterlagen ergänzt werden, wie beispielsweise Beerdigungsprotokolle und biographisches Material, die eine komplexe und vielschichtige Gesamtdokumentation eines Bestattungsareals samt der Gemeinschaft der dort Bestatteten ermöglicht. Eine solche Gesamtaufnahme eines Friedhofs kann angesichts der Fülle an Informationen, die darin dokumentiert werden, allerdings und gerade bei größeren Friedhöfen wahrscheinlich nur eine quantitative oder statistische Zusammenfassung erzeugen, etwa in Form eines detaillierten Lageplans samt Bestandanalyse, gegebenenfalls samt einer Kompilation der erhaltenen Grabdenkmäler und ihrer 212 Vgl. hierzu Weber, Johannes: Gesteinsverwitterung. Grundlagen und Untersuchungsmöglichkeiten, in: Theune, Claudia/Walzer, Tina (Hg.): Jüdische Friedhöfe. Kultstätte, Erinnerungsort, Denkmal, Wien 2011, S. 256–259 und Pliessnig, Martin: Bestands- und Zustandsanalyse der Gesteine am jüdischen Friedhof Währing und Zentralfriedhof I, in: Hoffmann, Christa/Schäning, Anke (Hg.): Zeit & Ewigkeit. Erhaltung religiöser Kulturgüter, Wien 2009, S. 114. 213 Vgl. zu dieser Diskussion Franzke, Jürgen: Die Mahnung der Steine, Liedel, Herbert/Dollhopf, Helmut (Hg.): Haus des Lebens. Jüdische Friedhöfe, Würzburg 1985, S. 153. 214 Ein herausragendes Beispiel, wenn auch vornehmlich auf den britischen Kontext bezogen, ist das bereits zitierte Werk von Mytum: Recording and Analysing Graveyards.
Zur Dokumentation der Wiener jüdischen Friedhöfe
Inschriften. Diese kann allerdings die Raumerfahrung eines Friedhofsbesuchs nicht adäquat festhalten und niemals ersetzen und bietet bei weitem nicht das Erkenntnispotenzial einer qualitativen kulturhistorischen Analyse. Ein charakteristisches Beispiel dieser Literatur, eines von mehreren der vom Historiker Naftali Bar-Giora Bamberger herausgegebenen „Memor-Büchern“, dokumentiert den alten Friedhof der jüdischen Gemeinde in Schieheim, südlich von Offenburg im deutschen Baden-Württemberg, samt seinen rund 2.000 Grabsteinen aus dem Zeitraum vom 17. Jahrhundert bis 1938. Das Werk in zwei Bänden enthält einen detaillierten Lageplan des Friedhofs, auf dem jeder Stein nummeriert markiert ist. Es folgt eine detaillierte Aufführung jedes einzelnen Steins, mit photographischer Abbildung, transkribierter Inschrift und Übersetzungen der hebräischen Teile ins Deutsche, gegebenenfalls mit biographischen Informationen ergänzt. Dazu kommen zahlreiche Photographien markanter Elemente der Grabsteine sowie Überblicke über das Friedhofsgelände und eine Zusammenfassung der Prinzipien einer solchen Dokumentation, wie etwa die Nummerierung der Reihen und Grabstellen oder die Identifikation anhand noch erhaltener Grabregister von Grabstätten ohne Denkmäler. Eine solche ausführliche Dokumentation umfasst bei einem noch so kleinen Friedhof schon fast 1.000 Seiten.215 Man kann sich also ausrechnen, wie umfangreich ein gedruckter Katalog der über hunderttausend Grabsteine in vier Friedhöfen in Wien ausfallen würde, und welch enormer Aufwand eine solche Dokumentation in Anspruch nähme. Seit einigen Jahren wird vom Salomon Ludwig Steinheim-Institut eine Datenbank zur jüdischen Grabsteinepigraphik (namens „Epidat“) kompiliert, welche sich zur Aufgabe macht, „der Inventarisation, Dokumentation, Edition und Präsentation epigraphischer Bestände“ zu dienen.216 Bis 2020 waren in Epidat über 36.000 Inschriften aus verschiedenen zentral- und osteuropäischen Ländern dokumentiert. Dies entspricht also gerade einem Drittel der Anzahl Inschriften, die in Wien zur Dokumentation bereitstehen würden. Da die hier vorgeführte Forschung erstens pragmatisch – als Einzelstudie eines einzigen Wissenschaftlers – bei Weitem nicht über die Kapazitäten verfügte, eine solche quantitative Studie auch nur ansatzweise in Angriff zu nehmen, und zweitens der Fokus eher auf den breiten, holistischen Entwicklungen der sepulkralen Erinnerungskultur der Wiener Judenheiten aus kulturhistorischer Sicht liegt, setzte dies eine andere, zum Teil ad hoc erprobte Methodologie voraus. Diese soll hier abschließend kurz erläutert werden.
215 Bamberger, Naftali Bar-Giora: Memor-Buch. Der jüdische Friedhof in Schmieheim, 2 Bde., Tübingen 1991. 216 Epidat, http://www.steinheim-institut.de/cgi-bin/epidat, letzter Zugriff: 31. August 2020.
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Seit der Renaissance wurde der Raum als Abstraktion wahrgenommen, als leerer Behälter, welcher geometrisch und mathematisch erfassbar ist, im Gegensatz zur wachsenden Betonung während der letzten Jahrzehnte, dass der Raum erst durch das Fassbare, Erfahrbare, mit Zeichen verschlüsselte und somit Entschlüsselbares seine Gestalt erlangt.217 Der Geograph Yi-Fu Tuan legte in seinem bahnbrechenden Werk Space and Place dar, dass „Raum und Ort“ eben nicht abstrakt, sondern vor allem materiell und damit einhergehend primär durch körperliche Erfahrung erfassbar sind, wenngleich das vorwiegende sensorische Medium das Augenlicht ist. Wie so viele sinnliche und emotionale Erlebnisse lassen sich aber eben jene über das Optische hinaus ergreifbaren Dimensionen des Raums nur schwer schriftlich festhalten, und werden somit zwangsläufig meist auf das Optische bzw. Konzeptionelle reduziert. Dieses Materielle gegenüber dem Konzeptionellen verkörpert auch die grobe Unterscheidung zwischen „Ort“ und „Raum“: Ein abstrakter „Raum“ wird erst durch die Erfahrung des Materiellen zu einem greifbaren, erlebbaren „Ort“ transformiert. Ein Ort ist somit gewissermaßen ein durch Objekte definierter Raum. Tuan verwies in diesem Kontext bezeichnenderweise auch auf den Einfluss des eigenen bzw. des fremden Blicks auf die Raumerfahrung: Wenn man alleine einen Ort betritt, „wandern die Gedanken frei durch den Raum. In der Gegenwart anderer Menschen werden sie zurückgezogenen in das Bewusstsein anderer Persönlichkeiten, die ihre eigenen Welten auf den gleichen Raum projizieren“.218 Somit begründete Tuan die fundamentale Subjektivität einzelner Wahrnehmungen des Raumes. Historisch gesehen zeigt sich dies auch im Wandel einzelner sowie allgemeiner soziokultureller Wahrnehmungen des Friedhofs, ob als abstrahierter Kulturraum oder in konkreter Iteration als Erinnerungsort. Ein weiterer Schlüsseltext über die Soziologie des Raums ist La production de l’espace (Die Produktion des Raums) von Henri Lefebvre, der nicht nur die konstitutive Rolle der Erfahrung des Raums voraussetzte, sondern auch, dass Räume – vor allem soziale, gesellschaftliche Räume – eben nicht a priori existieren, sondern erst „produziert“ werden müssen, was von tiefer Bedeutung für deren Sinndeutung ist: „Räume wurden produziert ehe sie gelesen wurden, und sie wurden nicht produziert, um gelesen und verstanden zu werden, sondern um gelebt zu werden durch Menschen mit Körpern und Leben in ihren eigenen besonderen urbanen Kontexten.“ Somit erfolgt die Interpretation „erst später, fast als Nebengedanke“.219 Diese „räumliche Wende“ in den Sozialwissenschaf217 Vgl. allgemein Schroer, Markus: Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt am Main 2006 und Döring, Jörg/Thielmann, Tristan (Hg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008. 218 Tuan, Yi-Fu: Space and Place. The Perspective of Experience, Minneapolis 1977, hier S. 59. 219 Lefebvre: The Production of Space, S. 143.
Zur Dokumentation der Wiener jüdischen Friedhöfe
ten hatte in den vergangenen Jahrzehnten einen tiefgreifenden Einfluss auf Studien zur Geschichte urbaner Räume, welche zunehmend betonen, dass der Raum nur „gelesen“ werden kann, wenn er zugleich erlebt wird, und das am besten durch die Methode das Gehens: Erst beim Durchgang wird ein Raum nämlich konzeptionell geschaffen.220 Diese Studien veranschaulichen die Ansicht Yi-Fu Tuans über das Begehen eines Raums und die damit verbundene Verwandlung von Raum in Ort, etwa vom Friedhof als mehr oder weniger geometrisch-abstrakter Umriss auf einem Stadtplan oder gar als völlige kulturelle Abstraktion eines Raumtypus in einen Ort voller Steine und Bewuchs, die Wege meist begehbarer als die Gräberfelder, die Gerüche und Geräusche und Blickwinkel sowie die relative menschliche Isolierung so abhängig vom Wetter wie von Uhrzeit, Wochentag oder Jahreszeit. Es verbleiben allerdings lediglich Blick und Sprache als die vorrangigen Mittel der Konzeptionalisierung und Vermittlung der Erfahrung des Raums, und so sind Pläne und Photographien sowie textliche Beschreibungen die vorrangigen Medien für die Darstellung des erlebten Friedhofs. Ein weiterer Eckpunkt der „räumlichen Wende“ umfasst also die „Vertextlichung“ des urbanen Raums: Die Verwandlung eines nur durch das Begehen eines Raums wahrnehmbaren Erlebnisses in eine verpackbare und entschlüsselbare Formsprache, die sich analysieren und in unterschiedlichen „textlichen“ Formen vermitteln lässt. Vorrangig hier ist die Vorstellung des urbanen Raums als „Palimpsest“, als Schreibfläche, die wiederholt und von verschiedenen AkteurInnen zu verschiedenen Zeiten, meist voneinander nichtsahnend, überschrieben und somit umgeprägt wird, wobei sich die verschiedensten historischen Textschichten entflochten und vereinzelt oder auch im Verhältnis zueinander analysiert werden können.221 Dieses Konzept lässt sich gerade auf Friedhöfe gut anwenden, die oft über mehrere Generationen von zahlreichen „AutorInnen“ inskribiert werden, zum Teil in explizit textlicher Form (in den Grabinschriften) wie auch in unbewusster oder impliziter Form, in der Gestaltung des Raumes, wie etwa in der Auswahl an Grabdenkmälern oder durch Erhaltungs- oder Umfunktionierungsmaßnahmen späterer Generationen – und zugleich synchron und somit anachronistisch greifbar im gegenwärtigen Augenblick bestehen. Die jüdischen Friedhöfe Wiens waren nicht nur einheitliche Gemeinschaftsräume einer Einheitsgemeinde, sondern entstanden grob chronologisch aufeinander folgend. Somit lassen sie sich auch als Palimpseste bestimmter historischer Epochen und aufeinander folgenden Wiener Judenheiten „lesen“, wobei ihre 220 Certeau, Michel de: Kunst des Handelns, aus dem Französischen von Ronald Voullié, Berlin 1988, S. 188. Vgl. auch Pile, Steve: Real Cities. Modernity, Space and the Phantasmagorias of City Life, London 2005. 221 Vgl. hierzu Dillon, Sarah: The Palimpsest. Literature, Criticism, Theory, London 2007.
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Grabsteine im Einzelnen oder als Korpus zusammengenommen eine komplexe, sich stets verändernde Verflechtung von Erinnerungskulturen darstellen. Obwohl Räume freilich als Palimpseste oder sonst ähnlich wie Texte allegorisiert werden können, müssen sie also, wie alle Diskurse, erst „vertextlicht“ werden, bevor sie analysiert werden können. Diese „Vertextlichung“, es muss wiederholt werden, nimmt verschiedene Formen an, vornehmlich Friedhofspläne, Photographien von Grabsteinen, Gräbergruppen und Bauten, sowie Transkripte bzw. Übersetzungen von Grabinschriften. Dieser Prozess ist selbstverständlich von einer tiefen Selektivität geprägt, wobei der Rahmen und die Ergebnisse der Analyse stark von den Ausgangsfragen und -positionen abhängen.222 Insofern können Grabsteine und ihre Inschriften als „virtuelle Duplizierung“, als „Zweitüberlieferung“ in Form von „Verbildlichung und Verschriftlichung“ von Menschenleben und Erinnerungsdiskursen verstanden werden.223 Wie Henri Lefebvre feststellte, gäbe es aber angesichts der fast unendlichen Auswahl an räumlichen Informationen, die vertextlicht werden könnten, eine genauso fast unendliche Auswahl an deskriptiven oder geographischen Plänen, die einen bestimmten Raum in lesbarer Form zu vermitteln versuchen könnten. Somit müssen die BetrachterInnen solchen Medien stets mit großem Vorbehalt gegenübertreten, da sie zum einen in ihrer Selektivität in vielerlei Hinsicht tendenziell sind und zum anderen, damit verbunden, vieles auch verschweigen.224 Die Vorstellung der „Vertextlichung“ des Raums und des Raums als „Palimpsest“ verschiedener, miteinander verflochtener Diskurse ist nicht von rein theoretischem Interesse: Avriel Bar-Levav legt dar, dass das gesamte Textkonvolut des Friedhofs in Form von Grabinschriften zutiefst kommunikativ ist. Die Inschriften wurden von Lebenden verfasst, um lebenden BesucherInnen von den Toten zu erzählen. So erzeugen sie ein dauerndes, oft still geführtes, vielleicht auch in gewisser Hinsicht nur imaginäres Gespräch zwischen den Lebenden und den Toten, wie auf tieferer Ebene zwischen den Einzelnen und der Gemeinschaft, aus dem sich ein Erinnerungsdiskurs ergibt, der sich über Generationen hinweg stets fortentwickelt. In diesen Sepulkraldiskursen werden soziokulturelle Werte und Formen der gemeinschaftlichen Zugehörigkeit weitergeschrieben, wodurch „die Nachbarschaft der Toten als integraler Bestandteil der Nachbarschaft der Lebendigen wahrgenommen“ wird.225
222 Vgl. zu „Vertextlichung“ und allgemein zu Diskursanalyse Johnstone, Barbara: Discourse Analysis, Malden 2007, insb. S. 20–21. 223 Brocke: Vorwort, S. 12. 224 Lefebvre: The Production of Space, S. 84–85. 225 Bar-Levav: We Are Where We Are Not, S. 30, 25.
Zur Dokumentation der Wiener jüdischen Friedhöfe
Die Daten für meine hier vorgeführte Sepulkralanalyse habe ich über Jahre hinweg durch wiederholte Besuche der Wiener jüdischen Friedhöfen (wie vergleichsweise vieler weiterer jüdischer und nichtjüdischer Friedhöfen in Europa und Amerika, im Nahen Osten und sogar in Australien) gesammelt. Ich habe hier die einfache Methode angewandt, wiederholt, von unterschiedlichen Ausgangspunkten und zu unterschiedlichen Jahreszeiten, manchmal bestimmten Zielen folgend und manchmal völlig ziellos, diese Räume abzuwandern und alles photographisch und zum Teil schriftlich aufzunehmen, was auch nur oberflächlich „interessant“ erschien. Dabei ergab sich ein Quellenkorpus an tausenden Aufnahmen von Friedhofsansichten, wovon die meisten Aufnahmen spezifischer Grabstätten waren, von denen ich schließlich hunderte transkribiert und gegebenenfalls übersetzt habe. „Interessant“ waren dabei bestimmte Merkmale entweder wegen ihrer häufigen Verbreitung oder gerade wegen ihrer Einzigartigkeit. Diese Herangehensweise zielte auf keinen Fall auf eine statistische oder quantitative Erfassung der Wiener jüdischen Sepulkralkultur, die, wie dargestellt, bei über hunderttausend Grabsteinen kaum von einer einzigen Person systematisch geleistet werden kann. Stattdessen zielte ich stets auf ein kulturhistorisches Porträt dieser Sepulkralkultur in ihren kaleidoskopischen Ausdrucksformen: ein Porträt, das die Fülle und Verschiedenheit an (Selbst-) Darstellungen in Form und Sprache wiedergibt. Mich begleitete dabei stets das Bewusstsein, dass sich viele der historischen Analysen dieser Sepulkralkultur bis dato unverhältnismäßig auf die soziokulturell prominenten Individuen, zumeist Männer, der Wiener Judenheiten bezogen. Leider überdauerten allerdings viele Grabsteine gerade weniger Privilegierter den Einfluss der Zeit bzw. der menschlichen Zerstörung nicht, und viele derer, die uns erhalten geblieben sind, sagen nur wenig aus über die Individuen, derer sie gedenken. Trotzdem war ich stets bemüht, der Diversität dieser historisch sich entfaltenden Gemeinschaft gerecht zu werden, indem ich auch alternative, subversive oder sonst nichtnormative Fälle darzustellen versucht habe, ebenso wie den Wandel an Bräuchen, „Traditionen“ und eben normativer Vorstellungen in der Sepulkralkultur. Eine Vergleichsstudie jüdischer und christlicher bzw. nichtjüdischer Grabsteine in Wien sprengt sowohl den Ansatz wie den Rahmen dieser Forschung. Allerdings werden hier wenigstens stichprobenmäßig Vergleiche herangezogen, um parallele bzw. einzigartige Entwicklungen in den Wiener Sepulkralkulturen durch die Jahrhunderte herauszuarbeiten. Ein kategorischer Vergleich wird alleine schon dadurch erschwert, dass aus der vormodernen Zeit nur wenige nichtjüdische Grabsteine erhalten sind, da im christlichen Brauchtum viel weniger Stellenwert auf die langfristige Erhaltung von einzelnen Grabstätten und sogar ganzen Bestattungsräumen gelegt wurde und demzufolge viele der historischen christlichen Friedhöfe Wiens samt ihrer Grabsteine aus
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dem Stadtbild gelöscht wurden. Die Ausnahmen dieser Regel, welche hier auch zum Vergleich herangezogen werden, sind einige Grabsteine aus dem 16. und 17. Jahrhundert aus dem Stephansfreithof, die heute an den äußeren Mauern des Stephansdoms angebracht sind. Diese decken sich chronologisch mit den jüdischen Grabsteinen in der Seegasse. Der christliche St. Marxer Friedhof im 3. Bezirk und der Währinger jüdische Friedhof sind die einzigen noch erhaltenen Wiener Friedhöfe der Biedermeierära und bieten somit eine direkte Vergleichsbasis. Die Steine des ersteren werden seitens der Stadt Wien sehr gut erhalten, während um die Erhaltung des Währinger Friedhofs heute noch politisch gestritten wird. Die jüdischen Abteilungen des Zentralfriedhofs als modernste jüdische Friedhöfe der Stadt decken sich chronologisch sowie stilistisch mit vielen erhaltenen Grabstätten in Wien, darunter die nichtjüdischen bzw. überkonfessionellen Abteilungen des Zentralfriedhofs sowie etlicher Vorortsfriedhöfe. Überhaupt weisen die Grabsteine der vergangenen paar Jahrhunderte eine bemerkenswert breite Parallelität auf, aufgrund des Ferntransports von Gestein, der Massenherstellung von Grabdenkmäler und der europaweit einwirkenden sozial- und kunsthistorischen Entwicklungen von der Aufklärung bis zum heutigen Tag. Die meisten der Aufzeichnungen von Grabsteinen und -inschriften, die für diese Forschung herangezogen wurden, bestehen aus meinen eigenen Photographien und Transkriptionen. Für die Analyse der Grabsteine in der Seegasse, von denen die meisten während der Shoah verschleppt wurden und infolge verschollen sind, habe ich mich größtenteils auf die bereits zitierten Transkripte von Bernhard Wachstein gestützt, die auch die aus dem Mittelalter aufgefundenen und in der Seegasse eingebrachten Steine mit einbeziehen. Wachsteins Kenntnisse der hebräischen Sepulkralsprache und der Epigraphik waren rabbinisch gelehrt, und seine Transkripte samt Notizen bilden bis heute eine unschätzbar wertvolle Quelle, die er selber allerdings größtenteils nicht übersetzte und nur in zwei knappen Vorworten analysierte. Seine Arbeit ermöglicht die weitere Forschung, macht sie deshalb aber auch erforderlich. Ähnlich wertvoll, wenn auch in einem viel kleineren Umfang, sind die Transkripte von Max Grunwald von der Epigraphik im Währinger Friedhof aus den Jahren 1784 bis 1799.226 Die Inschriften jener Steine in diesem Friedhof, die während der Shoah an exhumierten Grabstätten vernichtet wurden, wurden von der Kultusgemeinde transkribiert und sind in ihrem Archiv zugänglich. Auch dieser habe ich mich hier bedient.227
226 Grunwald, Max: Grabschriften des jüdischen Friedhofs im 18. Wiener Gemeindebezirk (Währing) aus den Jahren 1784–1799, Wien 1934. 227 Diese sind alphabetisch aufgezeichnet in AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/3/1.
Zur Dokumentation der Wiener jüdischen Friedhöfe
Es existieren kaum Dokumentationen des größten Teils der Wiener jüdischen Grabsteine, jene in den zwei jüdischen Abteilungen des Zentralfriedhofs. Diese haben allerdings zu einem beträchtlichen Anteil Zeit, Krieg und kulturellen Genozid überlebt und können daher relativ einfach vor Ort eingesehen und dokumentiert werden. Die enorme Quantität an Daten, inklusive aller Photographien, Transkripte und Übersetzungen, die ich im Laufe der Jahre angefertigt habe, machen ihre Veröffentlichung höchst unpraktisch. Daher wird hier größtenteils nur auf Inschriften verwiesen oder aus ihnen zitiert, wobei längere Ausschnitte und Abbildungen nur in ganz einschlägigen Fällen erfolgen. Wo eine Inschrift veröffentlicht oder aufbewahrt wurde, biete ich einen üblichen bibliographischen Hinweis darauf. Ansonsten verweise ich auf den Standort des jeweiligen Steins, basierend auf der online zugänglichen Datenbank der Kultusgemeinde, mit Gruppen-, Reihen- und Grabnummern, soweit eruierbar, beispielsweise beim Grabstein der 1892 verstorbenen Marie Kompert beim I. Tor (6-1-2, also Gruppe 6, Reihe 1, Grab 2).228 Es sei festgehalten, dass die Datenbank den Friedhof in der Seegasse sowie Grabstellen ab 1945 nicht aufzeigt. Auch liefert sie manchmal fehlerhafte Informationen. Trotzdem ist dies ein allgemein nützliches Hilfsmittel zur Ermittlung von Grabstellen. Es sei auch darauf hingewiesen, dass die Beschilderung der Reihen und insbesondere der Grabstellen im Zentralfriedhof äußerst lückenhaft ist. Doch mit etwas Geduld und Anstrengung kann man selbst die verwahrlosesten Grabsteine meist finden, wenn diese überhaupt noch erhalten und ihre Inschriften lesbar sind. Ernst Roth deutete darauf hin, dass aus halachischer Sicht Grabsteine selbstverständlich wieder instand gesetzt werden dürfen, behauptete aber, „das Betreten eines Grabes ohne dringenden Grund“ sei „eine Art Grabschändung“.229 Allerdings kann das Betreten der Grabstätte in der Dokumentation unumgänglich sein, liegen die Grabstätten doch oft eng beieinander, sind sie vielleicht dicht zugebaut oder überwachsen, und ist es gerade bei älteren bzw. schlecht erhaltenen Friedhöfen oft nicht mehr möglich, den Verlauf der Wege und die Grenzen der einzelnen Grabstätten zu eruieren. Wäre es aus Respekt stets vorzuziehen, das Betreten einer Grabstätte zu vermeiden, so muss die Dokumentation doch als Ausnahme gelten, wodurch die Bewahrung der Erinnerung an die Toten, vor allem in Form eines photographisch erhaltenen Grabdenkmals samt Inschrift, in sich als gewisse Erfüllung der Pietät gegenüber den Toten angesehen werden kann. Zwischen der Vollendung meiner Doktorarbeit und der Verfassung dieses Buches fiel auf, wie sehr sich bestimmte Aspekte der Friedhöfe in diesen wenigen Jahren bereits verändert hatten: So gab es einerseits in 228 Friedhofs-Datenbank, https://secure.ikg-wien.at/db/fh/, letzter Zugriff: 31. August 2020. 229 Roth: Zur Halachah des jüdischen Friedhofs, S. 112.
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diesem Zeitraum verschiedene Initiativen zur Instandsetzung oder Erneuerung bestimmter Grabstätten oder Gräbergruppen, andererseits sind bereits einige der Denkmäler, die ich erst vor wenigen Jahren dokumentierte, inzwischen zersprungen oder umgefallen und so unleserlich geworden. Gerade daran zeigt sich die Notwendigkeit einer jeden Dokumentation dieser Grabstätten, da die Quellen dieser „steinernen Archive“ sonst unwiederbringlich verloren gehen werden.
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Gemeinwesen trotz Wandel und Brüchigkeit. Der Friedhof in der Seegasse vom Mittelalter bis zur Epoche der Reform
Im Jahre 1847 veröffentlichte der Schriftsteller Ludwig August Frankl eines der ersten modernen historiographischen Werke zur Geschichte der Wiener jüdischen Bevölkerung. Basierend auf seiner jahrelangen Tätigkeit im Archiv der sich damals formenden jüdischen Gemeindeorganisation, dessen Sekretär er war, stellte Frankls Werk zugleich eine Geschichte des „alten Freithofs“ in der Seegasse dar. Gleich am Anfang zitierte er, in Anlehnung an die „ältesten Chronisten Oesterreichs“, einige „Sagen“ und „Tradizionen“, nach denen bereits um das Jahr 1700 vor Christus Jüdinnen und Juden in „einem Judenreiche im Lande unter der Enns“ lebten. Diesen Chronisten zufolge sei „Oesterreich“ sogar bis etwa 200 vor Christus von „72 Fürsten jüdischer Abstammung“ regiert worden.1 Dies mag als recht fantasiereiche Behauptung gelten, zum einen, da den jüngsten archäologischen Funden zufolge (das im vorherigen Kapitel besprochene Amulett mit einer hebräischsprachigen Inschrift als Grabbeilage in einem römischen Bestattungsraum) der erste Nachweis jüdischen Lebens auf dem Gebiet des heutigen Österreichs zwar viel früher als zuvor gedacht, aber doch erst auf das 3. Jahrhundert nach Christus zu datieren ist. Zum anderen gab es nicht einmal zu dieser späteren Zeit, geschweige denn vor über drei Jahrtausenden, nur ansatzweise so etwas wie ein „Österreich“.2 Wie der Historiker Ignaz Schwarz später feststellte, ging diese „Hypothese von dem jüdischen Fabelreiche in der Ostmark“ (man bemerke auch hier die anachronistische Bezeichnung) auf den Wiener Polyhistor Wolfgang Lazius zurück, der einige seinerzeit im 16. Jahrhundert aufgefundene jüdische Grabsteine höchst fehlerhaft datiert hatte.3 Jedoch unterstrich Frankls historische Verklärung den Gedanken, wie Jahrzehnte später der Historiker Ludwig Bato schrieb, „daß Juden schon seit Menschengedenken im Bewußtsein des Volkes zu der Urbevölkerung dieses Landstriches zählen“.4 Ignaz Schwarz deutete diese „sagenhafte Erzählung“ zudem als Versuch, dabei herauszustreichen, „daß die jeweiligen jüdischen Bewohner eines Landstriches, als die Nachkommen eines in Urzeiten eingewanderten
1 Frankl, Ludwig August: Zur Geschichte der Juden in Wien. 1. Der alte Judenfreithof, Wien 1847, S. 4. 2 Zu den archäologischen Funden, vgl. Ältestes Zeugnis jüdischen Lebens in Österreich im Fokus der Experten, in: Die Gemeinde, Mai 2009, S. 39. 3 Schwarz, Ignaz: Geschichte der Juden in Wien bis zum Jahre 1625, Wien 1913, S. 29. Vgl. auch Schwarz, Ignaz: Das Wiener Ghetto. Seine Häuser und seine Bewohner, Wien 1909, S. 54. 4 Bato: Die Juden im alten Wien, S. 6.
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Stammes, an dem Kreuzigungstode Jesu unschuldig“ waren.5 Märchenhafte Sagen und antike Grabbeilagen in römischen Grenzstationen beiseite, verweist die erste urkundliche Überlieferung jüdischen Lebens in Wien bekannterweise auf einen Shlom, den im Jahre 1196 samt fünfzehn seiner Glaubensgenossen von einem Wiener Pöbel ermordeten Münzmeister Herzogs Leopold V.6 In dieser hochmittelalterlichen Epoche, als „Österreich“ in Form eines Herzogtums erstmals begann, eine eigenständige politische Gestalt anzunehmen, mit Wien als Residenzstadt des herrschenden babenbergschen Hauses, treten auch die greifbaren Wurzeln der Wiener jüdischen Geschichte erstmals an das historische Tageslicht. Aus dieser Epoche stammen auch die ältesten erhaltenen Funde der Wiener jüdischen Sepulkralkultur – zugleich größtenteils die einzigen noch erhaltenen Zeugnisse der jüdischen EinwohnerInnen Wiens vor Anbruch der Neuzeit. Der jüdische Friedhof in der Seegasse entstand mit aller Wahrscheinlichkeit in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und war hiernach der einzige jüdische Bestattungsraum in Wien bis zu seiner Schließung zum Jahresende 1783. Somit zählt er, wenn nicht gerade zu den ältesten, dann doch zu den wenigen heute noch erhaltenen vormodernen jüdischen Friedhöfe Europas. Dies war allerdings nicht der erste jüdische Friedhof der Stadt: Ein noch älterer, wahrscheinlich aus dem Spätmittelalter stammender Bestattungsraum bestand früher vor dem Kärntnertor, ungefähr im Bereich der heutigen Goethegasse in der Inneren Stadt. Ein erster indirekter Verweis auf einen jüdischen Bestattungsraum im mittelalterlichen Wien findet sich in Artikel 13 des „Judenprivilegiums“ für die Stadt aus dem Jahre 1244, in dem Kaiser Friedrich II. verfügte: Und auch wenn die Juden gemäß ihrer Gewohnheiten einen ihrer Toten entweder aus einer Stadt in eine Stadt, […] oder aus einem Land in ein anderes Land überführen, so wollen wir, dass unsere Mautner nichts von ihnen fordern. Wenn aber ein Mautner dennoch etwas wegnimmt, soll es wie die Beraubung der Toten […] bestraft werden.
In Artikel 14 hieß es weiter: „Und ebenso wenn ein Christ einen Friedhof der Juden, aus welcher Tollkühnheit auch immer auseinanderstreut oder eindringt, so soll er von Gerichts wegen mit dem Tode bestraft werden und all das Seine […] soll in die Kammer des Herzogs gelangen.“ Diese Wien spezifischen Verfügungen spiegelten darüber hinaus die allgemeine päpstliche Bulle „Sicut Judaeis“, die erstmals im 12. Jahrhundert erlassen und in den folgenden Jahrhunderten von aufeinanderfolgenden Päpsten immer wieder bestätigt wurde. 5 Schwarz: Geschichte, S. 3–4. 6 Vgl. Grunwald: Vienna, S. 2.
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Diese verordnete, „dass Niemand den Friedhof der Juden zu beschädigen oder dort einzubrechen oder unter dem Vorwand des Geldes wegen menschliche Körper auszugraben wage.“7 Diese kaiserlichen und päpstlichen Verfügungen verweisen einerseits auf eine recht tolerante, pietätvolle Haltung seitens der Herrscherschicht dieser Zeit, andererseits aber auf eine offensichtlich weitverbreitete, pietätlose Praxis der Gräberschändung seitens der christlichen Bevölkerung sowie deren Ausbeutung der jüdischen Bevölkerung. Somit zeigt sich hier schon in frühester Zeit die Abhängigkeit der jüdischen Bevölkerung von den Herrschern für deren Schutz und Gnade. Spezifischer impliziert das „Judenprivilegium“, wie auch die ältesten aufgefunden jüdischen Grabsteine in Wien vermuten lassen, das Bestehen eines jüdischen „Zentralriedhofs“ in Wien schon zu dieser Zeit – ein Friedhof, der sämtlichen jüdischen Gemeinschaften einer Region als zentraler Bestattungsort diente. Von seiner kaiserlichen Erwähnung zu schließen wäre dieser in Größe und überregionaler Bedeutung wohl durchaus vergleichbar gewesen mit den bekannteren zeitgenössischen jüdischen Friedhöfen im mittelalterlichen „Aschkenas“ im Rheinland. Gegen den Strich gelesen verweist das Bestehen eines solchen „Zentralfriedhofs“ wiederum auf die gehobene Stellung der in Wien ansässigen jüdischen Gemeinschaft.8 Tatsächlich verglich später auch Max Grunwald, ein Rabbiner und bedeutender Historiker der Wiener jüdischen Geschichte des frühen 20. Jahrhunderts, die mittelalterlichen jüdischen Gemeinden von Krems, Wien und Wiener-Neustadt mit den damaligen Hochburgen des aschkenasischen Judentums in Speyer, Worms und Mainz.9 Urkundlich wurde der Friedhof vor dem Kärntnertor ausdrücklich erstmals 1368 erwähnt.10 Laut manchen zeitgenössischen Quellen war die Wiener jüdische Gemeinschaft zu dieser Zeit die größte im deutschsprachigen Zentraleuropa, ein Zeichen der vergleichsweise günstigen Stellung der jüdischen Bevölkerung in der Residenzstadt, die Grunwald als „Oase in der Wüste jüdischen Leidens während dem Mittelalter“ beschrieb.11 In diesem Zusammenhang postulierte der Historiker Klaus Lohrmann, dass die wenigen erhaltenen 7 Alle Zitate in der Reihenfolge ihrer Nennung, zit. nach dem Lateinischen in Scherer, Johann Egid: Die Rechtsverhältnisse der Juden in den deutsch-österreichischen Ländern (Beiträge zur Geschichte des Judenrechtes im Mittelalter 1), Leipzig 1901, S. 181–182, 225–226. Ich danke Alexander Zerzer für die Übersetzung ins Deutsche. 8 Vgl. Schwarz: Das Wiener Ghetto, S. 53 und Lohrmann, Klaus: Die Wurzeln lebendiger Tradition, in: Keil, Martha/Forisch, Elke/Scheiber, Ernst: Denkmale. Jüdische Friedhöfe in Wien, Niederösterreich und Burgenland, Wien 2006, S. 78. 9 Grunwald: Vienna, S. 51. 10 Schwarz: Geschichte der Juden, S. 29. 11 Vgl. Grunwald, Vienna, S. 14 und Grunwald, Max: Geschichte der Wiener Juden bis 1914, Wien 1926, S. 6.
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Grabsteine aus diesem Friedhof, die überhaupt zu den wenigen Zeugnissen dieser Gemeinschaft zählen, bloß die „Spitze eines Eisberges“ sein dürften, da die ansonsten vereinzelt überlieferten Quellen der mittelalterlichen Wiener Judenheit auf eine wohl beträchtliche Bevölkerungsanzahl im 13. und 14. Jahrhundert verweisen.12 Diese Gemeinschaft, samt ihrem Friedhof, wurde infolge der „Wiener Gesera“, einer von mehreren mörderischen Pogromen, die 1421 auf Befehl Herzogs Albrecht V. in seinen österreichischen Erbländern entfacht wurden, fast vollkommen vernichtet – nur einige der Grabsteine sowie die Erinnerung an diese Schandtat blieben erhalten.13 Diese Grabsteine wurden an verschiedene Orte rund um die Residenzstadt verschleppt und als Baumaterial zweckentfremdet, um Jahrhunderte später im Zuge moderner Bauarbeiten wiederentdeckt, dokumentiert und in der Reihenfolge ihrer Auffindung in Mauernischen im jüngeren Friedhof in der Seegasse befestigt zu werden.14 Das Areal des zerstörten Friedhofs vor dem Kärntnertor blieb eine Zeit lang verödet, bis Albrecht es 1437 dem Chorherrenstift zu St. Dorothea schenkte.15 Somit ist dieser als einziger der historischen Wiener jüdischen Friedhöfe infolge seiner Verwüstung auch komplett aus dem Stadtbild verschwunden. Galten die damaligen österreichischen Stammlande vor 1421 noch als „verhaissen und gesegnet lant“, so ist das Herzogtum nach der Gesera als „Blutland“ in die zeitgenössische jüdische Chronik eingegangen.16 In einem Standardwerk zur jüdischen Trauerkultur beteuerte der Rabbiner Harry Rabinowicz: „die mittelalterlichen Schändungen sinken in Bedeutungslosigkeit im Vergleich zur umfassenden, systematischen Zerstörung jüdischer Friedhöfe in Europa durch die NationalsozialistInnen“.17 Dies mag vielleicht verallgemeinert auf die Gesamtheit der Shoah zutreffen, tendiert aber trotzdem dazu, die mittelalterlichen Pogrome kleinzureden. Gerade in Bezug auf die Wiener jüdische Geschichte handelt es sich bei der Gesera wohl um die umfassendste Vernichtung des seinerzeitigen jüdischen Lebens in allen seinen
12 Lohrmann, Klaus: Die Wiener Juden im Mittelalter, Wien 2000, S. 109. 13 Eine bündige Zusammenfassung der Gesera findet sich in Rotter/Schmieger: Das Ghetto in der Wiener Leopoldstadt, S. 17–22. 14 Vgl. Wachstein, Bernhard: Hebräische Grabsteine aus dem XIII.–XV. Jahrhundert in Wien und Umgebung, Wien 1916, S. 3, 5. 15 Schwarz: Geschichte der Juden, S. 30. 16 Zit. nach Tietze, Hans: Die Juden Wiens, Wien 2007, Neuauflage des Originals aus dem Jahr 1933, S. 35. 17 Rabinowicz: A Guide to Life, S. 46–47.
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Aspekten, die jemals überliefert wurde.18 Gerade in Bezug auf die Geschichte der Wiener jüdischen Friedhöfe war noch nie, nicht einmal in der NS-Zeit, ein Friedhof so komplett aus dem Stadtbild gelöscht worden, wie es beim Friedhof vor dem Kärntnertor der Fall war. Die jüdischen Friedhöfe Europas waren seit ihrer Entstehung im Mittelalter stets Ziele antijüdischer Gewalt, und es stimmt bis heute noch, wie es jüdische Enzyklopädisten schon vor der Shoah festhielten, dass „jedes Massaker der Lebenden in der Regel durch wütende Angriffe gegen die Toten in ihren Gräbern und einer mutwilligen Zerstörung ihrer Grabsteine gefolgt wurde“.19 Dies hatte zur Folge, wie es auch auf das mittelalterliche Wien zutrifft, dass fast gar keine jüdischen Friedhöfe und nur vereinzelte jüdische Grabsteine aus der vormodernen Zeit erhalten blieben – was übrigens, wenn aus durchaus anderen Gründen, auch auf christliche Friedhöfe und Grabsteine zutrifft. Dies macht somit den Friedhof in der Seegasse, trotz seines relativ jungen Alters, zu einem der ältesten erhaltenen jüdischen Friedhöfe Europas – und überhaupt zum ältesten noch erhaltenen Friedhof der Stadt Wien. Die ältesten Grabsteine, die bis heute in den Mauernischen in der Seegasse erhalten sind – insgesamt 30 Steine oder Steinfragmente – gehören ursprünglich also dem mittelalterlichen Friedhof vor dem Kärntnertor an.20 Diese reichen, insofern sie eindeutig datierbar sind, von 1247 bis 1414, während der früheste mit Sicherheit datierbare Stein für eine tatsächlich im Friedhof in der Seegasse bestattete Person aus dem Jahre 1582 stammt. Vom Bibliothekar der Kultusgemeinde Bernhard Wachstein wurden im frühen 20. Jahrhundert knapp 1.000 erhaltene Grabsteine aufgezeichnet.21 Der Friedhof wurde zum Jahresende 1783 infolge der Josephinischen Friedhofsreformen für Beerdigungen geschlossen. Somit spannt die Sepulkralkultur, die in der Seegasse dokumentiert ist, einen weiten Bogen von etwas mehr als 500 Jahren, von der frühesten überlieferten Geschichte der Wiener jüdischen Bevölkerung über mehrere aufeinanderfolgende Gemeinschaften hinaus bis auf den Höhepunkt der Aufklärung reichend. Einige gewaltige sowie unzählige kleinere Zäsuren interpunktieren diese lange Geschichte, darunter die Gesera 1421, die komplette Vertreibung der sogenannten „zweiten Gemeinde“ 1670 sowie wiederholte individuelle oder kollektive
18 So wurde in einem aus der Wiener Zeitung abgedruckten Artikel die Gesera treffend als „Wiener Holocaust von 1420“ bezeichnet, wohlgemerkt mit falscher Jahresangabe. Scheiterhaufen für 200 Wiener Juden, in: Die Gemeinde, 11. September 1987, S. 25. 19 Executive Committee of the Editorial Board/Kohler: Cemetery, S. 641. Vgl. auch Cohn: Der jüdische Friedhof, S. 23–24. 20 Vgl. die jüngste historische Aufzeichnung hierzu: Moses: Hebräische Grabsteine, S. 60–64. 21 Wachstein: Die Inschriften, 1. Teil und Wachstein: Die Inschriften, 2. Teil.
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Ausweisungen infolge eines fortwährenden Zyklus von antijüdischen Verfügungen seitens des Hofes und der Stadt im Jahrhundert danach.22 Der Friedhof in der Seegasse, ein Raum, der erstaunlicherweise bis zum heutigen Tag, wenn auch in radikal veränderter Form, im Stadtbild überlebt hat, bestätigt somit die allgemeine Auffassung Albert Lichtblaus: „Kontinuitäten anhand von inhaltlichen Schwerpunkten zu kreieren kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß ein Charakteristikum der österreichisch-jüdischen Geschichte genau das Gegenteil darstellt, nämlich Diskontinuität.“23 In diesem Paradox von Kontinuität und Diskontinuität muss sich eine jede Analyse der vormodernen jüdischen Geschichte Wiens bewegen – wobei gerade der Friedhof in der Seegasse fassbar die wandelnde Kontinuität dieser Geschichte verkörpert. 3.1
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Mit ihren geschlossen Gemeinschaften formten die spätmittelalterlichen Judenheiten Zentraleuropas ein weitgehend autonomes Netzwerk innerhalb einer Gesellschaft, die geprägt war von einer strengen religiösen und ständischen Hierarchisierung unter katholischer Hegemonie. Diese mittelalterlichen jüdischen Gemeinschaften waren insofern „traditionell“, als sie sich in einem partikularistischen historischen Narrativ gründeten, der aus dem religiösen jüdischen Schrifttum hergeleitet war.24 Demnach waren die Jüdinnen und Juden nicht bloß eine religiöse Gemeinschaft, sondern ein „Volk“, das anno 70 nach Christus aus Judäa vertrieben wurde und fortan in fremden Ländern im galut (Exil) lebte. In Ermangelung einer gemeinschaftlichen Sprache und eines gemeinschaftlichen Landes versuchten die unterschiedlichen Judenheiten Europas, durch historisch entfaltete, lokal divergierende religiöse Bräuche ein ansonsten mangelhaftes Kollektivverständnis zu produzieren. Zu einer Zeit, wo Jüdinnen und Juden allseits als Fremdkörper in der als christlich verstandenen europäischen Gesellschaft meist verachtet und zutiefst unterdrückt waren, war diese religiöse „Tradition“ eine gewaltige bindende Kraft. Wenngleich der Grad an Institutionalisierung und öffentlicher Anerkennung der Wiener jüdischen „Gemeinde“ in den Jahrhunderten der vormodernen Zeit stark schwankte, so erweist sich der Gedanke einer gemeinschaftlichen „jüdischen“ Zugehörigkeit
22 Vgl. hierzu den Katalog von Přibram, Alfred Francis: Urkunden und Akten zur Geschichte der Juden in Wien, 1526–1847, 2 Bde., Wien 1918. 23 Brugger et al.: Geschichte der Juden in Österreich, S. 447. 24 Vgl. hierzu die klassischen Werke von Katz, Jacob: Aus dem Ghetto in die bürgerliche Gesellschaft. Jüdische Emanzipation von 1770–1870, aus dem Englischen von Wolfgang Lotz, Frankfurt am Main 1986 und Yerushalmi: Zachor.
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– die Zugehörigkeit zu eben einer religiösen Glaubens- und Schicksalsgemeinschaft – als eines der beständigsten Sprachbilder der Sepulkralepigraphik durch diesen langen Zeitraum. Aufgrund der nur vereinzelten Zeugen jüdischen Lebens aus dem Jahrhundert nach der Gesera ist es höchst unwahrscheinlich, dass sich in Wien zu dieser Zeit eine „Judenniederlassung im engeren Sinne des Wortes“ befand.25 Erst ab Mitte des 16. Jahrhunderts weilten wieder kontinuierlich Jüdinnen und Juden in der Stadt, die allerdings im Einzelnen wiederholt vertrieben wurden. So ergab sich eine nur unbeständige Kontinuität, ein brüchiger Wandel, in dem sich wohl lange kein Gemeinwesen bilden konnte, was somit auch den Mangel an Zeugnissen dieser Zeit erklärt. Wie Gerson Wolf, einer der bedeutendsten Historiker der Wiener jüdischen Geschichte des 19. Jahrhunderts, schilderte: Es ist erklärlich, wenn wir wenig über die inneren Vorgänge unter den Juden zu jener Zeit etwas wissen. Die Verhältnisse derselben waren geradezu erdrückend; sie hatten mit dem nackten Leben zu kämpfen und da kann von einer höhern und grössern Geistesthätigkeit nicht die Rede sein. Es ist überhaupt noch zu verwundern, dass es noch eine Geistesthätigkeit unter den Juden gab.26
Erst ab etwa 1570 begann sich eine jüdische Gemeinde „mit zumindest rudimentärer Infrastruktur“ zu bilden, was auch den Bedarf eines neuen Bestattungsareals zu eben dieser Zeit erklärt.27 Die christliche Bevölkerung Wiens sowie ihre Herrscher hätten wohl am liebsten jeglichen Aufenthalt von Jüdinnen und Juden in der Residenzstadt untersagt, allerdings begehrten Hof und Stadt auch die beträchtlichen Gewinne, die sie ihren jüdischen Untergebenen durch Steuer und Erpressung abnehmen konnten. So hatte sich bis in das späte 16. Jahrhundert ein System etabliert, wonach die wenigen in Wien lebenden, sogenannte „befreite“ Juden (gegebenenfalls samt Frauen und Kindern), sich ihre Aufenthaltserlaubnis teuer erkaufen mussten und somit „einer dreifachen Obrigkeit unterstanden: ihrer eigenen Gemeinde, dem Kaiser und der Stadt“.28 Ein halbes Jahrhundert später bewilligte Kaiser Ferdinand II. der Wiener jüdischen Bevölkerung, eine zweckgebaute Synagoge zu errichten und einen Gemeinderabbiner zu ernennen. Aufgrund der Streitigkeiten, die infolge dieser Begünstigung des jüdischen Gemeindelebens zwischen dem Magistrat der Stadt und der christlichen Bevölkerung aufkamen, wies Ferdinand der jüdischen Bevölkerung 1624 das Gebiet „auf der Haide“ im Unteren Werd zu – „Werd“ 25 Schwarz: Geschichte der Juden, S. 50. 26 Wolf, Gerson: Geschichte der Juden in Wien (1156–1876), Reprint der Ausgabe 1876, Wien 1974, S. 20–21. 27 Vgl. Brugger et al.: Geschichte der Juden in Österreich, S. 234, 281. 28 Grunwald: Vienna, S. 83–86.
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bezeichnete im Mittelhochdeutschen eine oder mehrere Flussinseln – wo fortan die jüdische von der christlichen Bevölkerung abgetrennt leben sollte. Aus dieser Siedlung ging die spätere Leopoldstadt, heute der 2. Wiener Gemeindebezirk, hervor. In der Geschichtsschreibung oft als „Verbannung“ dargestellt und vielleicht durch den negativ konnotierten Namen „Ghetto“ missverstanden, stellte diese räumliche Ausgrenzung der Wiener jüdischen Bevölkerung zugleich das Erlangen einer mehr oder weniger gesicherten Gemeindeexistenz dar, wie es sie über ein Jahrhundert davor oder danach nicht gab.29 Max Grunwald bezeichnete diese ausgeprägte, knapp 45 Jahre bestehende jüdische Siedlung auf recht positive Weise als „Großstadt des Geistes“, die sich aus „meist kleinbürgerliche[n] Existenzen“ zusammensetzte.30 Es wurden der Wiener jüdischen Bevölkerung alle Rechte erteilt, „die zur vollständigen Entwicklung einer Siedlung von Notwendigkeit waren – das Recht auf Eigentum, die Handelsfreiheit und autonome Gerichtsbarkeit“. Unter diesen Rahmenbedingungen wuchs die Wiener „Judenstadt“ zu einer der größten jüdischen Gemeinden Europas heran und zu einem Zentrum geistigen Lebens, vor allem des Kabbalismus – der jüdischen Mystik. Die Bedeutung Wiens für das zentraleuropäische Judentum zu dieser Zeit mag dadurch bekundet sein, dass sich der angesehene Kabbalist Sabbatai Horowitz hier niederließ, wo er 1660 starb und im Friedhof in der Seegasse beerdigt wurde.31 Seine Grabstätte ist bis heute ein Pilgerort für fromme Jüdinnen und Juden. Das stetige Anwachsen der jüdischen Bevölkerung zu dieser Zeit, gerade von wohlhabenden Individuen, wurde gewiss auch durch die endgültige Rückverlegung des habsburgischen Hofes von Prag nach Wien im Jahre 1620 begünstigt. Gerson Wolf bemerkte: „Als Beweis, daß unsere Vorfahren zu jener Zeit das Leben von der heitern Seite auffaßten, führen wir an, daß im Jahre 1623 1828 Eimer Wein von den Juden in Wien getrunken wurden“ – das waren insgesamt knapp über 100.000 Liter unter einer Bevölkerung von ein- bis zweitausend Menschen. Vom Weinkonsum abgesehen, schrieb Wolf über das Gemeindeleben in dieser Zeit ferner: „Wollte man behaupten, daß zu jener Zeit das jüdische Gemeindeleben ruhig und still dahin floß, so würde man sich weit von der Wahrheit entfernen.“ So war die Wiener Judenheit dieser Zeit auch geplagt von „Kehillastreitigkeiten“, also Gemeindestreitigkeiten, „wie sie heute noch 29 Vgl. zum „retrospektiv konstruierten“ und „größtenteils illusorischen“ Begriff des „Ghettos“ Heinert, Felix: Jews of This World. Historicizing Jewish and Non-Jewish Spaces in the Urban Context, in: Gromova, Alina/Heinert, Felix/Voigt, Sebastian (Hg.): Jewish and Non-Jewish Spaces in the Urban Context, Berlin 2015, S. 30. 30 Grunwald: Geschichte der Juden in Wien 1625–1740, S. 6–7. 31 Grunwald: Vienna, S. 88, 97. Vgl. hierzu auch Willman, Alfred: Famous Rabbis of Vienna, in: Fraenkel, Josef (Hg.): The Jews of Austria. Essays on Their Life, History and Destruction, London 1967, S. 319–320.
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vorhanden sind“ (wie es Wolf 1864 bemerkte), die sich vor allem im religiösen Gebiet zwischen den Halachisten und den Kabbalisten niederschlugen.32 Solche „Kehillastreitigkeiten“ prägen die Wiener jüdische Gemeinde weiterhin im 21. Jahrhundert. Diese mögen aber auch als Zeichen einer damals gefestigten Existenz und eines regen geistigen Lebens gelten. Das damalige jüdische Leben in Wien muss verhältnismäßig abgeklärt erschienen sein, wenn man bedenkt, dass zu dieser Zeit (etwa 1648 bis 1658) während der Aufstände der Kosaken im Osten Europas bis zu 100.000 Jüdinnen und Juden ermordet wurden, ein Massaker von genozidalem Ausmaß, das für die dortige jüdische Bevölkerung eine Katastrophe dargestellt haben muss, vergleichbar mit der Shoah drei Jahrhunderte später. Unmittelbarer kam der jüdischen Gemeinschaft Wiens im Kontext des Dreißigjährigen Kriegs, der gerade zu dieser Zeit weite Landstriche verwüstete und in Teilen völlig entvölkert zurückließ, als größte jüdische Gemeinde Zentraleuropas nach Prag eine große Bedeutung zu.33 Tatsächlich waren um 1600 die meisten BewohnerInnen der habsburgischen Erblande, mit Ausnahme Tirols, evangelisch und wurden infolge der Gegenreformation Opfer bitterer Verfolgungen, so etwa in Form der Zwangsbekehrung zum Katholizismus oder der Deportation nach Siebenbürgen, die bis in das 18. Jahrhundert andauern sollte.34 Die zuweilen judenfeindliche Herrschaft der Habsburger muss in diesem Kontext gesehen werden, als eben ein Aspekt verschiedener Religionsfanatismen dieser Epoche, die sich in den österreichischen Ländern allgemein gegen NichtkatholikInnen richtete. Die verhältnismäßige Blütezeit des jüdischen Gemeindelebens war allerdings nur von kurzer Dauer. Unter dem noch frömmlerischen Enkel Ferdinands, Kaiser Leopold I., kam es schließlich 1669 zu einem umfassenden Ausweisungsbefehl, infolge dessen alle Jüdinnen und Juden Österreich unter der Enns bis auf das Folgejahr zu verlassen hatten. Ihr Besitz wurde beschlagnahmt und die „Judenstadt“ christianisiert: Die Gegend trägt bis heute noch den Namen des Peinigers Leopold, ebenso wie die Kirche, die heute auf dem Areal der ehemaligen Synagoge steht.35 Gerson Wolf verglich „diese Aufforderung, das Vaterland zu verlassen“ mit der biblischen Geschichte Abrahams und hob die Qual hervor, „die liebgewordene Heimat zu verlassen […], wo die Gräber der Väter sich befinden, wo die Wiege unserer Kinder gestanden“.36 Tatsächlich 32 Wolf, Gerson: Die Juden in der Leopoldstadt („unterer Werd“) im 17. Jahrhundert in Wien, Wien 1864, S. 9, 8, 18. 33 Vgl. Ruppin, Arthur: Soziologie der Juden, Bd. 1, Berlin 1930, S. 73. 34 Vgl. z. B. Ingrao, Charles: The Habsburg Monarchy, 1618–1815, Cambridge 2000, S. 29, 39, 136, 192. 35 Vgl. die ursprünglichen Verordnungen in Přibram: Urkunden und Akten, Bd. 1, S. 197–239. 36 Wolf: Die Juden, S. 54.
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war der letzte Akt der verstoßenen und auseinandertreibenden Gemeinde, den Fortbestand ihres alten Friedhofs in der Seegasse rechtlich zu sichern, worauf kürzlich ausführlicher eingegangen wird. Die vielgerühmten shewa kehilot, die jüdischen „Siebengemeinden“ im damaligen Westungarn, dem heutigen Burgenland, aus denen später im 19. Jahrhundert viele Jüdinnen und Juden nach Wien einwanderten, sind nach 1670 größtenteils durch die aus Wien Vertriebenen aufgebaut worden. Dies veranschaulicht die ständige Hin- und Rückwanderung über Jahrhunderte hinweg der zentraleuropäischen – so spezifisch auch der Wiener – jüdischen Bevölkerungen zwischen bestimmten geographischen und kulturellen Polen inmitten des Kontinents. Somit wurden sie zwar wiederholt in der Geschichte als „Fremde“ bzw. später in der Geschichtsschreibung als „MigrantInnen“ wahrgenommen, doch waren diese Judenheiten eben schon jahrhundertelang im (vorwiegend deutschsprachigen) Zentraleuropa beheimatet. Angeblich war jedenfalls der Begriff der „Wiener Verbannten“ nach 1670 so etwas wie ein „Ehrentitel eines erlittenen Martyriums“, und diese Gruppe war demzufolge überall in Zentral- und Osteuropa bekannt. Ludwig Bato postulierte sogar, es mögen viele der GalizierInnen, die Jahrhunderte später während des Ersten Weltkriegs nach Wien flüchteten, ihre Nachfahren gewesen sein, aufgrund der Häufigkeit des Nachnamens „Wiener“.37 Ein Teil der „Verbannten“ wanderte nach Berlin aus, wo sie eine neue Gemeinde gründeten, den Embryo der später florierenden Berliner jüdischen Gemeinde, und wo sie selbstverständlich einen neuen Friedhof anlegten – den Friedhof in der Großen Hamburger Straße, wo später unter anderen Moses Mendelssohn bestattet wurde. Dieser Friedhof ist somit der direkte Nachfolger des Friedhofs in der Seegasse. Wie es der Historiker Ludwig Geiger 1871 schilderte: „Die Sorge für die Todten war die erste That der jungen Gemeinde“, genauso wie die Sorge für die Toten – oder eher für die Stätte der Toten – ihre letzte Tat war vor der erzwungenen Ausreise aus Wien. Am neuen Friedhof in Berlin gab es sogar eine „Wiener Ecke“, wo sich die „ältesten Gräber der aus Wien vertriebenen Begründer der neuen Berliner Gemeinde“ befanden. Diese Verstorbenen wurden als „meguroshim“ (Vertriebene) bezeichnet, und ihre Grabstätten blickten Richtung Süden, gegen Wien. Auch die ästhetische Gestalt dieses später von den NationalsozialistInnen zerstörten Friedhofs kam seinem Wiener Vorgänger laut der Beschreibung der Historikerin Nathanja Hüttenmeister sehr ähnlich, mit abwechselnd schlichten und prunkvollen Grabsteinen,
37 Bato: Die Juden, S. 11, 15–16.
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deren Formsprache vom „Barock über Rokoko und Biedermeier bis hin zum Klassizismus“ variierte.38 In einer Schilderung, die markante Parallelen zum Schluss des berühmten Romans Die Stadt ohne Juden vom Schriftsteller Hugo Bettauer aufwies, der erst sechzig Jahre später erscheinen sollte, beschrieb Gerson Wolf die Folgen der Vertreibung der jüdischen Bevölkerung für die restliche Wiener Bevölkerung: „Der Jubel der Wiener über die Austreibung der Juden dauerte jedoch nicht lange“, behauptete er, denn „der Wohlstand im Allgemeinen nahm ab“.39 Nach der großen Pestepidemie um 1679 und dem kostspieligen, wenngleich erfolgreichen Sieg über das Osmanische Reich nach der zweiten Belagerung Wiens 1683 sah sich Leopold I. aus finanziellen Gründen genötigt, die Niederlassung einzelner wohlhabender Juden, gegebenenfalls samt ihren Familien, in der Residenzstadt wieder zuzulassen – allerdings unter ausbeuterischen Bedingungen: Fortan erhielten nur solche Juden, die über genug Kapital verfügten, die Erlaubnis zur Niederlassung. Eine institutionalisierte Gemeinde samt jenen Instanzen, die dazu gehören, wie etwa anerkannte Geistliche oder eine Synagoge, waren verboten. Alle Angehörigen dieser nur vage definierbaren Gemeinschaft waren demnach in ihrem Lebensunterhalt und ihrer Rechtslage vollkommen von den einzelnen geduldeten jüdischen Finanziers abhängig, die wiederum abhängig waren von der Willkür des Hofes. Die Schlüsselfigur in diesem eigentümlichen Verhältnis zwischen Hof und Judenheit war zu dieser Zeit der shtadlan, auf Deutsch meist „Hoffaktor“ oder „Hofjude“ genannt. Der Begriff der shtadlanut (die Fürsprache) oder des shtadlan (der Fürsprecher) leitet sich von der hebräischen Wurzel „shin-dalet-lamed“ (überzeugen) ab. Wie Bernhard Wachstein bemerkte, birgt dieses schlichte Wort, dem man oft in den Grabinschriften in der Seegasse begegnet, „den Jammer von ganzen Jahrhunderten“.40 Umschrieben bedeutete die shtadlanut „die persönliche Intervention eines hierfür bestimmten Gesandten einer Gemeinde, dem shtadlan, vor einer übergeordneten Machtinstanz“. Sie fungierte somit als „ein Mittel der Kommunikation zwischen religiöser Minderheit und nicht-jüdischer Herrschaft“, wodurch „sich das jüdische Kollektiv institutionell“ konstituierte.41 Da jedes jüdische Individuum bzw. jede jüdische Familie in Ermangelung einer Gemeindeorganisation in Wien individuell mit dem Hofe
38 Alle Zitate in der Reihenfolge ihrer Nennung: Hüttenmeister/Müller: Umstrittene Räume, S. 22, 95, 100–103. 39 Wolf: Die Juden, S. 56. 40 Wachstein: Die Inschriften, 1. Teil, S. xl. 41 Guesnet, François: Die Politik der „Fürsprache“. Vormoderne jüdische Interessenvertretung, in: Diner, Dan (Hg.): Synchrone Welten. Zeitenräume jüdischer Geschichte, Göttingen 2005, insb. S. 67–69, 81.
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zu verhandeln hatte, fungierten gerade die shtadlanim (plural) als Personifizierung der Gemeinschaft und bildeten somit gewissermaßen die Grundlage einer säkularen Gemeindeherrschaft.42 Diese sollte sich später in transformierter Form im „Vertretertum“ des 18. und schließlich in der institutionalisierten Kultusgemeinde des 19. Jahrhunderts entfalten. In dieser wandelnden Kontinuität konstituierte sich also schon früh ein embryonisches politisches Kollektiv und ein Führungsmandat unter der Wiener jüdischen Bevölkerung.43 Wie der Historiker David Ruderman in seinem bahnbrechenden Werk zur jüdischen Geschichte der Frühen Neuzeit explizierte, war die Etablierung transregional vernetzter Gemeindeorganisationen in der Frühen Neuzeit eng mit diesem Aufkommen säkularer Machtstrukturen innerhalb jüdischer Gemeinschaften verbunden, personifiziert in den shtadlanim, deren Einfluss sich weiter über die Grenzen der segregierten jüdischen Gemeinschaften hinaus merkbar machte. Allerdings konnte sich dieser Einfluss, der sowohl abhängig war von der Willkür der Herrschaftsmächte wie vom individuellen Reichtum des jeweiligen shtadlan, deshalb auch umgekehrt desaströs auf die Gemeinschaft auswirken, sollte der shtadlan in Ungnade fallen oder in Konkurs geraten.44 Ludwig Bato beschrieb den Zustand der Wiener shtadlanut dieser Zeit mit der zutreffenden Metapher: „Man läßt den Schwamm vollsaugen, um ihn dann auszupressen und wegzuwerfen und im Notfalle wieder zu verwenden.“45 Die bedrückende Rechtslage dieser Zeit schloss somit eine normale „soziale Gliederung nach Reich und Arm“ weitestgehend aus, und das lose Kollektiv der Wiener jüdischen Bevölkerung in dieser Ära bestand stattdessen aus eben diesem „Spitzenjudentum“, das seinen Wohlstand und damit einhergehenden Einfluss für das Wohl seiner restlichen GlaubensgenossInnen einsetzte.46 Bernhard Wachstein fasste dies über den Zeitraum ab dem späten 17. Jahrhundert zusammen: „Es ist eben keine Judenschaft, die den Boden dieser Stadt mitbewohnte, sondern einzelne Juden sind es, die aus Staatsraison für bestimmte Zeit eingelassen wurden.“ Die Grabsteine dieser Zeit ähneln denen ihrer christlichen Zeitgenossen, indem sie durch ihre Opulenz „einen gefestigten Bürgerstand oder gar einen Herrenstand“ zu reflektieren scheinen, und in der Tat war die
42 Vgl. Grunwald: Vienna, S. 136–137. 43 Dieses Konzept einer „wandelnden Kontinuität“ bezüglich der shtadlanut ist abgeleitet von Niedhammer: Nur eine „Geld-Emancipation“?, S. 143–153. Ich danke Ines Koeltzsch, die in vielen Diskussionen äußerst behilflich bei der Ausformulierung dieses Konzepts war. 44 Ruderman: Early Modern Jewry, S. 58–59, 79. 45 Bato: Die Juden, S. 11. 46 Für eine Übersicht der wichtigsten shtadlanut in Wien, siehe Bato: Die Juden, S. 51–66.
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hohe Stellung der Wiener shtadlanim in dieser Zeit „etwas Unbekanntes unter deutschen [gemeint sind deutschsprachige] Juden“.47 Doch die Inhalte der Inschriften dieser Grabsteine verweisen auf alles andere als ein gefestigtes Leben. Bis in das 18. Jahrhundert und die infolge der Aufklärung eingeleiteten Reformen, wie es Max Grunwald festhielt, bietet die politische Stellung der Wiener Juden […] trotz aller sozialen Fortschritte, von den teuer erkauften Vorrechten Einzelner abgesehen, ein Bild völliger Rechtlosigkeit und Unsicherheit. Ihre Lage war eine unvergleichlich ungünstigere als ein Jahrhundert früher im Ghetto im unteren Werd.48
Hier findet sich also eine interessante Umkehr der ansonsten recht teleologischen Fortschrittsvorstellung der Moderne, wobei die Ära des geschlossenen „Ghettos“ im 17. Jahrhundert bei Weitem rosiger erscheint als das ungefestigte Dasein des 18. Jahrhunderts. An der Person Maria Theresias zeigt sich charakteristisch die tiefe Kluft zwischen der jüdischen und der nichtjüdischen Erinnerung dieser Zeit: So wird die Kaiserin bis heute noch meist der Öffentlichkeit als „Reformerin“, gar als Frauenvorbild dargestellt.49 Im Gegensatz dazu beschrieb Ludwig Bato die Theresianische Ära als eine Zeit der „bigotten und judenfeindlichen Herrscher“, die am liebsten jedes jüdische Individuum aus Österreich vertrieben hätten, sie allerdings insofern duldeten, um ihnen durch Zwangsanleihen „den größten Vorteil abzugewinnen“. Aus diesen oft enormen Anleihen, die „zu einem für die damalige Zeit geradezu lächerlichen Zinsfuße“ erpresst wurden, entstanden einige der heute berühmtesten Wahrzeichen der ehemaligen Residenzstadt Wien, so beispielsweise das vom sephardischen shtadlan Diego d’Aguilar mitfinanzierte Schloss Schönbrunn oder die von einer „Spende“ durch Markus und Mayer Hirschl mitfinanzierte Karlskirche. Auch die militärischen Erfolge des Eugen von Savoyen und die Siege über das Osmanische Reich, dem damaligen Erbfeind Österreichs, verdankten sich letztendlich der Finanzierung des berühmten shtadlan Samuel Oppenheimer. Bato malte sogar ein ungewöhnlich dunkles Bild von Kaiser Joseph II., der sonst weitgehend von jüdischen Historikern vor der Shoah als Reformer und Befreier verehrt wurde, und verglich ihn negativ mit seinem Vorfahren Ferdinand II., der seinerzeit der Wiener jüdischen Bevölkerung eine autonome Stadt im Unteren Werd zuwies: Denn letzterer hätte 47 Alle Zitate in der Reihenfolge ihrer Nennung: Wachstein: Die Inschriften, 2. Teil, S. xiii, xviii, xxiv. 48 Grunwald: Geschichte der Juden in Wien, S. 35. 49 So z. B. in der 300. Jubiläumsausstellung 2017 im Wiener Kunsthistorischen Museum: 300 Jahre Maria Theresia. Strategin, Mutter, Reformerin, http://www.stadt-wien.at/kunst-kultur/ ausstellungen/ausstellung-maria-theresia-2017.html, letzter Zugriff 31. August 2020.
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ihnen wenigstens „die innere nationale Autonomie“ bewilligt, ersterer hingegen wollte „die Vernichtung der nationalen Eigenart der Judenheit“ (man bemerke hier die zionistische und recht anachronistische Redewendungen Batos). Auf einer breiteren gesellschaftlichen Ebene malte Bato aber auch ein anderes Bild des Lebens der Wiener jüdischen Bevölkerung, wonach zwischen manchen christlichen und jüdischen EinwohnerInnen „ein intimes Freundschaftsverhältnis“ bestand, was wiederum im „Mißtrauen der offiziellen Kreise“ mündete. Auch Maria Theresia beschwerte sich 1778 darüber, dass einzelne Jüdinnen und Juden sich angewöhnt hatten, „mit den Christen in vertraulichem Umgang [zu] stehen“ sowie „Gast und Caffeehäuser [zu] besuchen“.50 Diese Epoche war also geprägt von einer tiefen Ambivalenz im Verhältnis der jüdischen Bevölkerung zum Staat sowie zur nichtjüdischen Bevölkerung. Eine auffallende Ausnahme bildete in diesem Zusammenhang die kleine Gruppe sephardischer Jüdinnen und Juden in Wien, die nach dem Frieden von Passarowitz vorwiegend aus dem Osmanischen Reich und seinen Territorien am Balkan nach Wien kamen.51 Der Legende nach wurde diese sephardische Gemeinde innerhalb der jüdischen Gemeinde vom eben erwähnten Diego d’Aguilar gegründet, einem sagenumwobenen, aus Portugal via London und Amsterdam eingewanderten shtadlan, der in Österreich das Tabakmonopol übernahm.52 Bereits 1726 wurde er von Kaiser Karl VI. als Freiherr in den spanischen Adelsstand erhoben, lange vor der Nobilitierung des „einheimischen“ (aus Kuttenplan/Chodová Planá in Böhmen stammenden) Israel Hönig, der 1789 in den österreichischen Adelsstand erhoben wurde und oft als erster geadelter österreichischer Jude genannt wird.53 Nicht nur Baron d’Aguilar genoss eine herausragende Stellung in Österreich: Da sie Bürger des Osmanischen Reiches waren, benötigten die Sephardim aus der Türkei keine Aufenthaltsbewilligung, um in Wien wohnen zu dürfen, und mussten keine Aufenthaltssteuer verrichten wie ihre aschkenasischen GlaubensgenossInnen. Zudem durften sie schon ab Mitte des 18. Jahrhunderts ein Bethaus einrichten, was der „einheimischen“ jüdischen Bevölkerung weiterhin verwehrt wurde.54 Ludwig Bato beschrieb den seltsamen, daraus folgenden Zustand, „daß ausländische Juden 50 Alle Zitate in der Reihenfolge ihrer Nennung: Bato: Die Juden, S. 25, 48–49, 54, 90, 77, 98–99. 51 Vgl. die bisher ausführlichste Studie zur sephardischen Geschichte Wiens: Stechauner, Martin: The Sephardic Jews of Vienna. A Jewish Minority Crossing Borders, Wien 2019, Dissertation. 52 Vgl. zu seiner Biographie Bato: Die Juden, S. 61–65. 53 Schön, Theodor: Geadelte jüdische Familien, Salzburg 1891, S. 6. Vgl. Singer, Isidore/Templer, Bernhard: Hönig, Israel (Edler von Hönigsberg), in: The Jewish Encyclopedia, Bd. 6, New York/London 1906, S. 457. 54 Vgl. Heimann-Jelinek, Felicitas (Hg.): Die Türken in Wien. Geschichte einer jüdischen Gemeinde, Wien 2010, insbesondere der Beitrag von Milchram, Gerhard: Die sefardische Diaspora in Wien.
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in Wien den jüdischen Untertanen des römischen Kaisers deutscher Nation vorgezogen werden“, und verwies auf die Praxis mancher aschkenasischer Wiener Jüdinnen und Juden, in die Türkei zu verreisen, um dort die Staatsbürgerschaft zu erwerben und somit auch paradoxerweise „das Recht auf dauernden Aufenthalt in Wien“.55 Sephardische Juden stellten zudem nachweislich des Öfteren aschkenasische Diener an, um ihnen so einen Aufenthaltstitel zu verschaffen.56 Gewiss waren also die wandelnden Gemeindestrukturen der Wiener Judenheiten über die Jahrhunderte zwischen der Gesera und der Aufklärung komplexer, als dass sie einfach als „vormodern“ abgestempelt oder gar als nicht vorhanden übersehen werden können. Doch die unberechenbaren Zustände in dieser langen Zeitspanne führten dazu, dass die Menschen, die im Friedhof in der Seegasse ihre letzte Ruhe fanden, oft von weit und breit herkamen, nur wenig Bestimmtheit in ihren Leben genossen und oft nur ein „Zuhause“ im Tod fanden, im „Haus der Ewigkeit“. Trotzdem bekundet dieser Friedhof, sowohl durch sein fortwährendes Bestehen wie durch seine ca. 1.000 erhaltenen Grabinschriften, ein ausgeprägtes und alles zum Trotz überdauerndes Gemeinschaftsverständnis. Dieser Friedhof ist somit eine Stätte außergewöhnlicher Kontinuität in der ansonsten gewundenen Geschichte der Wiener jüdischen Bevölkerung vor der Aufklärung. Auch bekundet dieser Friedhof eine beachtenswerte Kontinuität in der Wiener Sepulkralkultur, wenn man bedenkt, dass die christlichen EinwohnerInnen der Residenzstadt noch lange keine solch einheitlichen und beständigen Bestattungsräume unterhielten.57 Bernhard Wachstein fasste unser Wissen über die vormodernen Wiener Judenheiten pointiert zusammen: Weder die Darstellungen, die sich auf literarische Quellen stützen, noch der Kram von urkundlichen Notizen über Schuldscheine, Priviligien, Austreibungen, Wiederaufnahmen, Beschwerden von Zünften und dergleichen mehr können eine zureichende Vorstellung von dem Leben der Juden vermitteln.58
Ihr hauptsächliches Erbe ist der Friedhof in der Seegasse, ein Ort, der nach dem Bilde dieser Gemeinschaften geschaffen wurde und der ihren starken Sinn für Gemeinschaft sowie ihre Religiosität bis heute noch vermittelt.
55 Bato: Die Juden, S. 22–23, 39. 56 Vgl. Schleicher, Mordche Schlome: Geschichte der spaniolischen Juden (Sephardim) in Wien, Wien 1932, Dissertation, S. 118–119, 142. 57 Vgl. das Kapitel Vom Massengrab zur „schönen Leich“. Totengedenken und Begräbnisstätten gestern und heute, in: Ackerl/Bouchal/Schödl: Der schöne Tod in Wien. 58 Wachstein: Die Inschriften, 1. Teil, S. xiii.
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Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Friedhofs in der Seegasse bis 1783
Die Geschichte des Friedhofs in der Seegasse ist doppelt verschleiert, erstens aufgrund des fast vollkommenen Mangels an Quellen, die seine Ursprünge betreffen, zweitens wegen seiner fast vollkommenen Zerstörung während der Shoah. Zum Glück wurden die gesamten zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch erhaltenen Grabinschriften samt der damals bekannten Geschichte des Friedhofs seinerzeit vom Historiker Bernhard Wachstein aufgezeichnet, veröffentlicht und somit verewigt. Ohne diese Arbeit wäre der Nachwelt wenig von dieser einzigartigen Kulturstätte erhalten geblieben. Ihre proteische Geschichte reflektiert allerdings auch paradigmatisch die vormoderne Geschichte der Wiener Judenheiten, genauso wie dieser segregierte „jüdische“ Raum in der Stadttopographie deren zumeist segregiertes Leben symbolisiert. Nicht zuletzt verkörpert das unwahrscheinliche Überleben dieses Raums und vieler seiner Grabsteine die Beständigkeit – trotz allem – einer jüdischen Kultur in Wien über die Jahrhunderte hinaus.
Abb. 5 Gesamtansicht des Friedhofs in der Seegasse, vermutlich um 1905. © Jüdisches Museum Wien
Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Friedhofs in der Seegasse bis 1783
Der sogenannte Obere Werd lag in den verschlungenen Donauarmen im Gebiet der heutigen Rossau im Alsergrund, der 9. Bezirk, und bildete das Pendant zum Unteren Werd im Gebiet des heutigen Kerns der Leopoldstadt, der 2. Bezirk, welches damals aus etlichen Inseln bestand. In der Gegend, wo heute die Seegasse liegt, wurden über Jahrhunderte verschiedene Begräbnisstätten angelegt, so beispielsweise eine für Armensünder und eine für die am Rabenstein in der Nähe der Servitenkirche Hingerichteten.59 Der Maler und Amateurhistoriker Conrad Grefe, der sich wiederholt mit der jüdischen Geschichte Wiens auseinandersetzte, setzte die frühesten Datierungen des Friedhofs anhand der noch erhaltenen Grabsteine in den Jahren 1517 und 1540 an, verwies allerdings auch auf katastrophale Fluten in den Jahren 1501 und 1508, von denen berichtet wurde, dass Leichen die Donau heruntergespült und sogar Grabsteine in angrenzenden Ortschaften angeschwemmt wurden. Somit spekulierte Grefe, dass der Friedhof schon früher bestanden haben mochte.60 Wie eine Publikation des Wien Museums zu vergessenen Wiener Friedhöfen darlegte, bedeutete auch die erste Belagerung Wiens durch das osmanische Heer 1529 eine weitgehende Zerstörung vor allem der Vorstädte, wobei auch sämtliche Friedhöfe der Belagerung zum Opfer fielen.61 Hat es also schon zu Beginn des 16. Jahrhunderts oder sogar früher eine jüdische Begräbnisstätte im Oberen Werd gegeben, was heute nicht mehr zu eruieren ist, so wäre diese auch mit Sicherheit zerstört worden. In der Tat trat die Donau im Laufe der Jahrhunderte vor ihrer Regulierung im 19. Jahrhundert wiederholt über ihre Ufer und verwüstete des Öfteren die umliegenden Ortschaften. Ganze 81 Mal geschah dies in der Geschichtsschreibung der Rossau: Mit besonderer Wucht wüteten die Flutgewässer in den Jahren 1656 und 1744, und auch von desaströsen Erdbeben und Stürmen wurde berichtet.62 Es muss infolge dessen davon ausgegangen werden, dass der Friedhof in der Seegasse, insbesondere seine Grabsteine, mehrmals in seiner Geschichte, auch nach seiner Schließung zum Jahresende 1783, verwüstet wurde, so bereits während der großen Flut von 1784.63 1879 bemerkte Gerson Wolf, dass Teile des Friedhofs samt der Grabsteine die Jahrhunderte nicht überdauert hatten.64
59 Vgl. Hofbauer, Carl: Die Rossau und das Fischerdörfchen am oberen Werd, Wien 1866, Erstauflage 1859, S. 29–30. 60 Grefe, Conrad: Der alte Friedhof im IX. Bezirke aus dem 16 Jahrhundert, Wien 1891, S. 6. 61 Ranseder, Christine (Hg.): Zur Erden bestattet. Sechs vergessene Wiener Friedhöfe, Wien 2013, S. 162. 62 Vgl. Hofbauer: Die Rossau, S. 58–61, 108. 63 Vgl. Kisch, Wilhelm: Die alten Strassen und Plaetze von Wien’s Vorstädten und ihre historisch interessanten Häuser, Bd. 2, Wien 1895, S. 599–600. 64 Wolf: Die jüdischen Friedhöfe, S. 3.
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Auch Bernhard Wachstein fand in seiner gründlichen Aufarbeitung des Geländes, dass viele Grabsteine zerbrochen oder nur noch als Fragmente vorlagen, was vermuten lässt, dass unzählige Grabsteine schon vor dem 20. Jahrhundert und den Zerstörungen der Shoah verloren gingen. Auch zeigte Wachstein, dass die dazwischen liegenden Jahrhunderte und die abermaligen Fluten das Bodenniveau um bis zu sechs Meter erhöht hatten und die Grabsteine wohl so oft verschwemmt hatten, dass sie bei den ersten Dokumentationen des Friedhofs im 19. Jahrhundert bestimmt nicht mehr auf ihren ursprünglichen Plätzen standen. Beachtet man auch den sich über die Jahrhunderte dauernd ändernden Baubestand rund um den Friedhof, bedeutet dies zusammengefasst, dass die ursprüngliche Lage der Grabstellen sowie die genauen Dimensionen des Friedhofgeländes insgesamt heute unmöglich rekonstruierbar sind. So entsprach der von Wachstein angefertigte und in seinem Werk abgedruckte Plan des aktuellen Erscheinungsbilds im frühen 20. Jahrhundert, vor den weitgehenden Zerstörungen durch NazivandalInnen, welcher heute als Basis für laufende Restaurierungsarbeiten verwendet wird, mit Sicherheit schon damals nicht der ursprünglichen Lage, wie Wachstein selbst anmerkte. Auch er sprach in Anlehnung an ältere Historiographie den Gedanken aus, der Friedhof stamme womöglich schon aus der Mitte des 15. Jahrhunderts, also nur wenige Jahre nach der Gesera. Die älteste erhaltene dokumentarische Erwähnung des Friedhofs aus dem Jahre 1629, als die Fläche erweitert wurde, erklärte, dass der Friedhof „thails Ihnen [den Juden] vor vill Jahren, der ander thaill aber erst jüngsthin auf ihr gehorsambes bitten, zu ihrer Begrebnus aufgeben worden“. Es ist aber durchaus vorstellbar, dass „vor vill Jahren“ bloß auf das mittlere oder späte 16. Jahrhundert zurückwies. Das erste „unanfechtbare Datum“ eines Grabsteins verweist Wachstein zufolge auf den Tod der Frau Ester bat Akiba am 18. September 1582, und er schlussfolgerte somit, dass der Friedhof nicht viel älter sein mag.65 Am sichersten kann man wohl der Annahme Wachsteins Glauben schenken, dass der Friedhof erst im späten 16. Jahrhundert angelegt wurde, zu der Zeit, wo sich nachweislich wieder einzelne Jüdinnen und Juden längerfristig in Wien niederließen. Zentrum des jüdischen Lebens war damals wie früher im Mittelalter die Gegend um den Judenplatz im nördlichen Viertel der Inneren Stadt. Die Anlage eines Friedhofs im Oberen Werd befriedigte somit einerseits durch ihre Lage außerhalb der Stadtmauer die Reinheitsgebote, nach denen die Nachbarschaft der Toten außerhalb der Nachbarschaft der Lebenden zu liegen habe, wie andererseits durch ihre Nähe zum jüdischen Viertel die met mitzwa, das Gebot der frühest möglichen Bestattung. Der Name „Seegasse“, welcher damals 65 Wachstein: Die Inschriften, 1. Teil, S. xiv–xv. Der Plan ist auf der letzten Seite im Anhang abgedruckt. Vgl. auch Veran: Das steinerne Archiv, S. 36–37.
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nur einen unteren Teil des Weges gegen Donau bezeichnete, ein Abschnitt der heutigen Rögergasse, geht auf einem daneben gelegenen Fischlacken zurück.66 Der obere, westliche Teil des Weges entlang des Friedhofs wurde 1620 erstmals als „Gassel allwo der Juden Grabstätte“ genannt, eine Bezeichnung, die 1778 auf „Judengasse“ gekürzt wurde (nicht zu verwechseln mit der Judengasse in der Inneren Stadt). Diese wurde schließlich mit dem östlichen Straßenabschnitt 1862 unter dem Namen „Seegasse“ vereint.67 Diese Gegend hat also schon seit mindestens 400 Jahren eine kulturtopographische Assoziation mit der Wiener jüdischen Geschichte. Wie aus dem nahtlosen Übergang der Jahresangaben in den Grabinschriften um 1624 ersichtlich, wurde der Friedhof nach der Umsiedlung der Wiener jüdischen Bevölkerung auf den Unteren Werd weiterhin benützt. Dies geht auch von der oben zitierten Urkunde aus, wonach der Friedhof 1629 erweitert wurde. In der frühen Historiographie der Wiener jüdischen Geschichte wird allerdings diese, durch die Grabsteine scheinbar zweifellos bestätigte Vermutung infrage gestellt: So schrieb der Schriftsteller Gerhard Robert Walter von Coeckelbergh-Dützele, der wohlbemerkt als Nichtjude unter dem Pseudonym „Realis“ 1846 die erste moderne Geschichte zu den Jüdinnen und Juden in Wien herausgab: „Der Friedhof der Judenstadt befand sich auf der angrenzenden sogenannten Haide, wo im Frühjahr 1845 beim Aufbaue neuer Häuser eine Anzahl Menschenknochen ausgegraben wurden, die mehrere Wägen belasteten und im israelitischen Friedhofe bei Währing beigesetzt wurden.“68 In seiner bahnbrechenden Geschichte des Friedhofs in der Seegasse, die gleich im Jahr darauf veröffentlicht wurde, erwähnte auch Ludwig August Frankl, es seien „Judengräber“ gefunden worden in der „Leopoldstadt auf der Haide“.69 Der Wiener Heimatforscher Carl Hofbauer wiederholte noch einmal einige Jahre später diese Behauptung des Fundes der „Judengräber“ auf der Haide, „deren morsche Überreste man dem israelitischen Friedhofe bei Währing zuführte“.70 Wiederum etwa dreißig Jahre später wiederholte Conrad Grefe diese Behauptung fast wortwörtlich.71 Hier handelt es sich um das Areal des heutigen Karmelitermarkts. Ob diese Behauptung stimmt, oder ob sie nicht auf einen
66 Vgl. Donatin, Leopold: Der Alsergrund einst und jetzt. Für die Jugend und das Volk geschildert, Wien 1904, S. 114. 67 Siehe die Einträge zur Rögergasse und zur Seegasse in Autengruber, Peter: Lexikon der Wiener Straßennamen. Bedeutung – Herkunft – Frühere Bezeichnungen, Wien 2010, S. 230, 253. 68 Coeckelbergh-Dützele, Gerhard Robert Walter von: Die Juden und die Judenstadt in Wien. Fragmente von Realis, Wien 1846, S. 46. 69 Frankl: Zur Geschichte der Juden in Wien. 1. Der alte Judenfreithof, S. 5. 70 Hofbauer: Die Rossau, S. 107. 71 Grefe: Der alte Friedhof, S. 6.
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Irrtum zurückzuführen ist, welche sich „Realis“ Werk zufolge in der Historiographie immer wieder vermehrte, kann mangels handfester Beweise nicht geklärt werden. Letzteres liegt nahe. Charakteristisch für das ambivalente Verhältnis der Herrscherschicht gegenüber der Wiener jüdischen Bevölkerung ist das Schicksal des Friedhofs infolge der Vertreibung der Gemeinde im Jahre 1670. Als letzter Akt der Pietät vor ihrer gezwungenen Abreise aus der Heimat gelang es den Söhnen des kurz zuvor verstorbenen Jakob Koppel Fränkls – angebliche Vorfahren des Ludwig August Frankl – einen Pachtvertrag mit dem Magistrat der Stadt abzuschließen, wonach dieser sich verpflichtete, „daß wir der allhier gewesenen Judenschaft in der Roßau gehabte Begräbnis und Gräber unverenderlich bleiben lassen wolten“. Die hierzu vereinbarte Summe von 4.000 Gulden brachten die Brüder durch Spenden der sich im Aufbruch befindenden Gemeinde auf. Des Weiteren trafen sie mit einem christlichen Herrn Balthasar Osterhammer ein Übereinkommen, wonach dieser gegen Bezahlung unsere Begrabnus gleichwohl in ein und andern versichert und vor bösen, muthwilligen Leithen verwahrt, auch die Planken [Umfriedung] und das daraufstehende Häusel reparirt und bey Bau erhalten, nicht weniger die Gräber und Grabsteine (indem wür zu Erhaltung deren soviel aufgewendet) vor Schaden praeserviert werden möchten.72
Diese Vereinbarung wurde fortan seitens der Stadt eingehalten, und ist einer der Gründe für das Überleben dieser alten Begräbnisstätte. Sie kann somit auch als wichtiger Präzedenzfall in der Geschichte der Wiener jüdischen Friedhöfe und deren Erhaltung gesehen werden. Die Söhne Jakob Koppel Fränkls, und durch sie die gesamte Gemeinschaft der Vertriebenen, erfüllten hiermit eine große mitzwa, eine gute Tat, indem sie den Schutz der „Grabstätten ihrer Väter“ versicherten, und unterstrichen somit zugleich die Bedeutung dieser Stätte als „Haus der Ewigkeit“. Diese Episode veranschaulicht die Feststellung des Rabbiners Gustav Cohn: „Nichts ist den Juden in ihrer wechselreichen Geschichte so schwer geworden, als wenn sie, durch äußeren Zwang genötigt, ihre Totenäcker preisgeben mußten“, sowie seine Aufforderung: „Kein Opfer darf einer Gemeinde zu groß sein, wenn sie vor der Aufgabe steht, die rechtlichen Grundlagen für ungestörten Besitz des Begräbnisplatzes zu sichern“.73 Als es bestimmten Jüdinnen und Juden etliche Jahre später gestattet wurde, nach Wien zurückzukehren, kamen auch die Söhne Jakob Koppel Fränkls, um zu Häupten ihres Vaters in der Seegasse endlich einen Grabstein aufzustellen.74 72 Zit. nach Přibram: Urkunden und Akten, Bd. 1, S. 254–256. 73 Cohn: Der jüdische Friedhof, S. 5–6. 74 Wachstein: Die Inschriften, 1. Teil, S. 482.
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Der aus dem kurpfälzischen Heidelberg stammende shtadlan Samuel Oppenheimer kehrte als erster auf Einladung des Kaisers bereits 1674 nach Wien zurück, gute zwanzig Jahre bevor sich weitere Juden wieder hier niederließen. Ihm wurde sogar gestattet, ein Wohnhaus direkt hinter der Peterskirche in der Stadtmitte zu beziehen – das Barockhaus mit Adresse Bauernmarkt 1 steht heute noch.75 Die Rechte des Pachtvertrags für den Friedhof in der Seegasse ließ er auf sich übertragen, was Bernhard Wachstein als „eine stillschweigende Anerkennung des jüdischen Elementes in Wien“ seitens des Hofes betrachtete.76 Als die hölzerne Umfriedung während der zweiten Belagerung Wiens 1683 zerstört wurde, ließ Oppenheimer eine Steinmauer errichten. An diesem, ihm nun gehörenden Areal ließ er im Laufe der Jahre auch ein jüdisches Spital errichten, welches in wandelnder Form bis in die 1970er-Jahre an dieser Stelle bestehen sollte und somit die jüdische Assoziation der Seegasse über Jahrhunderte untermauerte.77 Das Areal verblieb auch nach Oppenheimers Tod in 1703 im Besitz seiner Nachkommen und versicherte somit zweifellos den weiteren Fortbestand des Friedhofs, auch nach seiner Schließung 1783.78 Oppenheimer wurde des Öfteren seitens der nichtjüdischen Bevölkerung des Betrugs bezichtigt, und es kam im Jahr 1700 sogar zu einem Überfall einer pöbelnden Menge auf sein Haus. Für Nichtjüdinnen und -juden mag er eine verhasste Figur gewesen sein, der nur aufgrund der Begierde des Hofes nach seiner finanziellen Unterstützung beschützt wurde. Seinen GlaubensgenossInnen war er jedoch zu Lebzeiten und lange danach ein großer, unvergleichlicher shtadlan. So verkündete die hebräischsprachige Inschrift auf seinem imposanten Steinsarkophag auf diesem Friedhof, die während der Shoah zum Schutz vor den NationalsozialistInnen direkt vor Ort begraben und erst 2013 wiederentdeckt wurde: All’ seine Tage sich dem Dienste seines Volkes hingebend, war er ihm Schutz und Schirm, Mauer und Riegel […] Er war der große Fürsprecher [shtadlan], der überall, in alten und neuen Gemeinden, dauernde Denkmäler errichtet, Bethäuser gebaut, Lehrhäuser errichtet, Bauten aufgeführt und die Armen verschwenderisch beteilt hat.79
Der ursprüngliche Fränklsche Vertrag zur Erhaltung des Friedhofs wurde auch nach dessen Schließung zum Jahresende 1783 von der niederösterreichischen
75 76 77 78 79
Zu seiner Biographie, vgl. Bato: Die Juden, S. 54–58. Wachstein: Die Inschriften, 2. Teil, S. xvi. Hofbauer: Die Rossau, S. 108. Vgl. auch Veran: Das steinerne Archiv, S. 103–105. Vgl. Grunwald: Vienna, S. 387. Übersetzung zit. nach Bato: Die Juden, S. 57–58. Siehe zu dieser Grabinschrift auch Wachstein: Die Inschriften, 2. Teil, S. 6–19.
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Landesregierung, deren Hoheit die Stadt Wien damals noch unterstand, weiterhin geehrt.80 So bestand der Friedhof als einziger der alten Wiener Vorstadtfriedhöfe innerhalb des Linienwalls weiter bis in das 20. Jahrhundert.
Abb. 6 „Juden Kirch Hoff “. Detailansicht des Friedhofs in der Seegasse aus dem Vogelschauplan Wiens von Josef Daniel Huber, 1769–1778. © Wiener Stadt- und Landesarchiv
Trotz der offensichtlichen und langjährigen kulturtopographischen Verbindung dieses Teils der Rossau mit unterschiedlichen, aufeinanderfolgenden Wiener Judenheiten durch die Neuzeit, sowohl in der Räumlichkeit des Friedhofs und später des Spitals in der Seegasse wie auch in der früheren Namensgebung der Gasse als „Judengasse“, ist der Friedhof zusehends in den vielen kartographischen Aufzeichnung der Stadt abwesend, die bereits ab dem 16. Jahrhundert angefertigt wurden.81 Eine Ausnahme bildet der detaillierte Vogelschauplan der Residenzstadt vom Kartographen Josef Daniel Huber aus dem späten 18. Jahrhundert, ein Meisterwerk, das sogar etliche Grabsteine in diesem gemäß der damaligen christlichen Sepulkralkultur als „Juden Kirch
80 O. T., 23. November 1939, AIKGW, A/VIE/IKG/I-II/FH/1/1. 81 Vgl. z. B. die historischen Pläne unter: Katalog. Karten vor 1850 von Wien, https://www. data.gv.at/katalog/dataset/2aa718f9-b755-44d9-95c4-9931c15b1613, letzter Zugriff 31. August 2020.
Grabsteine, Sepulkralepigraphik und Symbolik im Friedhof in der Seegasse
Hoff “ angeführten Raum veranschaulicht.82 Diese fallen durch ihre zumeist rundbogenförmige Gestalt auf: Gewiss war dies eine beliebte Grabsteinform der Barockzeit, so auch in der Seegasse, allerdings bei Weitem nicht nur bei jüdischen Grabsteinen. Doch setzte sich diese Form irgendwie und irgendwann im zentraleuropäischen Raum als weitverbreitetes kartographisches Emblem für jüdische Grabsteine durch. So werden bis heute in vielen Plänen jüdische von christlichen Friedhöfen durch ihre Kennzeichnung mit Rundbögen bzw. mit Kreuzen differenziert.83 Die Geschichte der Entstehung, Belegung und Erhaltung des Friedhofs in der Seegasse veranschaulicht die oben angeführte Spannung zwischen Kontinuität und Diskontinuität der Wiener jüdischen Geschichte. Dieser Raum verbleibt als eine der einzigen Konstanten in dieser wechselhaften Geschichte und veranschaulicht zugleich den stetigen Wandel verschiedener jüdischer Bevölkerungen durch den gesamten zentraleuropäischen, vorwiegend aschkenasischen Raum der Frühen Neuzeit sowie die damit einhergehende, größtenteils brüchige oder bloß abstrakte Konzeption von „Gemeinschaft“, die zu dieser Zeit unter den in Wien wohnenden Jüdinnen und Juden herrschte. Dies kommt vor allem im Korpus der Grabinschriften zum Ausdruck, wie es Bernhard Wachstein treffend feststellte: Die vielen in edlen Formen gehaltenen, aus kostbarem Material errichteten Denkmäler mit den reichen sie bedecken Inschriften lassen zunächst nicht schließen, daß die Menschen, denen diese Denksteine gelten, erst hier jene Ruhe fanden, aus der sie niemand mehr aufschrecken konnte.84
3.3
Grabsteine, Sepulkralepigraphik und Symbolik im Friedhof in der Seegasse
Wie die Schriftstellerin Traude Veran aufgrund von Wachsteins Aufzeichnungen in ihrer Monographie zum Friedhof in der Seegasse schloss, die bislang einzige Monographie zur Geschichte dieses Friedhofs, folgten die Beerdigungen einem strengen räumlichen Muster. Hieraus ergab sich eine Art „Soziogramm“: eine durch die räumliche Anlage der Grabstätten bewirkte Abbildung gemeinschaftlicher Netzwerke und ihrer Hierarchien, was der Historiker Tho-
82 Vgl. den Eintrag hierzu im Katalogteil in Kos, Wolfgang/Rapp, Christian (Hg.): Alt-Wien. Die Stadt, die niemals war, Wien 2004, S. 337. 83 So z. B. in den von www.vienna.info herausgegeben Plänen Vienna now or never. City map & museums, die in allen Touristenbüros und vielen Hotels in Wien erhältlich sind. 84 Wachstein: Die Inschriften, 2. Teil, S. xviii.
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mas Laqueur jüngst auch als „Nekrogeographie“ bezeichnete.85 So wurden etwa Rabbiner, shtadlanim, „Märtyrer“ und andere Prominente zusammen in zentralen Gruppen beerdigt; Familien und Großfamilien bildeten dicht aneinander gereihte Netzwerke; Kriminelle, Sünder und sonstige in Ungnade gefallene Individuen kamen am Rande des Friedhofs zur Beerdigung.86 Durch die wiederholten Verschwemmungen der Grabsteine und schließlich der fast gänzlichen Zerstörung des Friedhofs während der Shoah ist dieses Soziogramm heute schwer rekonstruierbar. Die verzweigte Sprache der Inschriften reproduzierte allerdings dieses räumliche Geflecht und bildete somit diese Netzwerke weiter in sprachlicher Form ab.
Abb. 7 Größtenteils erhaltener Grabstein der 1746 verstorbenen Sara Pereyra. Weißer Marmor mit Textbogen und Achrostichon entlang der rechten Seite. © Autor
Diese Inschriften wurden bis dato bei Weitem nicht ausreichend analysiert. Wachsteins jeweilige Einleitungen zu seinem zweibändigen Grabsteinkatalog, die bisher ausführlichste Auseinandersetzung mit den Inschriften in der Seegasse, bot eher eine Übersicht über die frühneuzeitliche Geschichte der Wiener Juden in Verbindung mit einer teils deskriptiven und teils analytischen 85 Laqueur: The Work of the Dead, insb. S. 123–133. 86 Veran: Das steinerne Archiv, S. 39–40.
Grabsteine, Sepulkralepigraphik und Symbolik im Friedhof in der Seegasse
Summierung gängiger Bräuche in der Sepulkralepigraphik. Diese umfasste beispielsweise die dennoch für unsere Zwecke hochrelevanten Themenkreise Laudationes, Euphemismen, Ton, Urheberschaft, Sprache, Datierungsschema, Titulatur sowie Hinweise auf das Sterben, den Tod oder die Beerdigung. Darüber hinaus diskutierte er grundlegend die materielle Gestaltung der Grabsteine. Von besonderem Nutzen für die Erforschung der Epigraphik sind seine zwei, als Anhang in den jeweiligen Bänden angeführten aber leider dennoch unvollständigen Listen hebräischer epigraphischer Abkürzungen. Diese wurden vielfach zur Verkürzung und Verschachtelung dieser ausgiebigen Inschriften verwendet oder als Verweise unter anderem auf biblische oder talmudische Schriften, waren allerdings oft äußerst kontextspezifisch und daher durchaus obskur. Sie sind heute meist sogar für Hebräischmuttersprachige unverständlich. Als Katalog von Inschriften mit besonderem Hinblick auf Stil, Inhalt, Sprache und so weiter ist Wachsteins Arbeit somit von zeitloser Wichtigkeit für die Erforschung der hebräischen Sepulkralepigraphik, insbesondere in Bezug auf ihre Iterationen im Friedhof in der Seegasse. Doch gerade die thematische Breite seines Werkes sowie die Ausführlichkeit der Aufzeichnung jedes einzelnen Grabsteins zieht offensichtlich einen Mangel an analytischer Tiefe nach sich, den es auszufüllen gilt. Im Folgenden geht es hauptsächlich darum, die Grabinschriften in der Seegasse mit Hinblick auf die darin kodierte Etablierung, Verhandlung und Wandlung verschiedener Konzeptionen von Gemeinschaft und Zugehörigkeit und gängigen Wertvorstellungen der Wiener Judenheiten über den langen durch die Grabinschriften dokumentierten Zeitraum zu analysieren. Diese Sepulkralepigraphik war seit den frühesten Grabinschriften im Mittelalter von explizit sakraler Natur und ging Hand in Hand mit der Entwicklung eines komplexen Kodexes an Epitaphien, die der Toten gedachten. Diese waren ausschließlich auf Hebräisch verfasst und griffen ausgiebig auf jüdische religiöse Schriften zurück – eine Neuentwicklung des Hochmittelalters in der jüdisch-europäischen Sepulkralepigraphik. Dieser Kodex, der einen jüdisch-religiösen Narrativ historischen Volkstums aufgriff und aufrechterhielt, beschwor somit einen partikularistischen Gemeinschaftssinn herauf und ermöglichte ebensolchen sogar zu jenen Zeiten, wo ein institutionalisiertes jüdisches Gemeinwesen seitens des Hofes unterdrückt oder gänzlich verboten wurde, was nicht zuletzt auch eine profunde Auswirkung der Ausgrenzung der Juden aus der dominanten katholischen Gesellschaft darstellte. Wie es die Historikerin Rachel Greenblatt aufgrund ihrer vergleichbaren Befunde zu den Inschriften des zeitgenössischen alten jüdischen Friedhofs in Prag zusammenfasste, „verknüpft die Inschrift ihren eigenen Verlust und ihre Wehklagen mit dem paradigmatischen Verlust und den Wehklagen des jüdischen Volkes, in anderen Worten mit archetypischen Formen jüdischer
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Trauer“.87 Wie die räumliche Kontinuität des Friedhofs, offenbart die Epigraphik somit eine erstaunliche Beständigkeit an Stil, Sprache und Inhalt, die über die Instabilität des jüdischen Lebens, individuell wie gemeinschaftlich, in diesen stürmischen Epochen hinwegtäuscht. Diese Epigraphik enthält zuweilen auch Lobpreisungen für weltliche Attribute und Leistungen, welche aber den ansonsten religiösen Charakter der Inschriften nicht widersprechen, sondern vielmehr ergänzen. Die Inhalte der Inschriften in der Seegasse bilden somit eine Grundlage für die späteren Entwicklungen der Wiener jüdischen Sepulkralepigraphik, wenn auch in gewandelter Form. Die Grabsteine in der Seegasse wurden alle gegen Osten ausgerichtet, was den partikularistischen religiösen Charakter der vormodernen Wiener Judenheiten unterstrich. Etwa ein Drittel der bis in das frühe 20. Jahrhundert überdauernden Denkmäler bestand aus Kalkstein, ein Fünftel aus dem rötlichen ungarischen Marmor, ein Bruchteil aus weißem Marmor und der überwiegende Rest aus Sandstein.88 Viele der Steine waren aufgrund ihres weichen Materials somit von vornherein der Verwitterung ausgesetzt. Oft förmlich gerundet mit einer dementsprechend am oberen Ende bogenförmigen Inschrift, waren manche auch rechteckig oder gespitzt, dennoch ebenfalls oft mit bogenförmigen Inschriften verziert. Eine markante Ausnahme waren die Sarkophage, prunkvolle Zierbauten, deren Funktion nicht zuletzt darin bestand, die schreibbaren Flächen um ein mehrfaches zu vergrößern und somit extrem lange Inschriften zu ermöglichen. Diese zeugten dementsprechend von der überragenden Prominenz der darunter, dennoch ausnahmslos in der Erde Bestatteten. Ein hervorragendes Beispiel ist der Sarkophag des berühmten, 1724 verstorbenen shtadlan Samson Wertheimer, der mit einer über 7.000 Buchstaben langen, äußerst komplexen und auf talmudische Sprache anspielenden Inschrift versehen war.89 Solche Grabstile waren durchaus kein jüdisches Spezifikum der Frühen Neuzeit, sondern waren insgesamt in Europa und Nordamerika weitverbreitet. Wie der Historiker Philippe Ariès darstellte, waren ebensolche „rechteckigen Stele[n] mit gerundetem Oberteil“ zu dieser Zeit allgemein üblich in christlichen Friedhöfen; somit gab es keinen konkreten Unterschied in der Formsprache zwischen christlichen und jüdischen Grabsteinen. Genau diesen Punkt veranschaulichte Ariès in einem photographischen Vergleich des berühmten alten jüdischen Friedhofs in Prag mit einem ungenannten zeitgenössischen christlichen Friedhof in Boston, Massachusetts (nach dem Photo zu schließen
87 Greenblatt: The Shapes of Memory, S. 49. 88 Wachstein: Die Inschriften, 1. Teil, S. xlvi. 89 Zur Biographie Wertheimers sowie für Transkriptionen und Übersetzungen seines Sarkophags, siehe Veran: Das steinerne Archiv, S. 52–54 und Wachstein: Die Inschriften, 2. Teil, S. 129–145.
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womöglich das Granary Burying Ground).90 Die Ähnlichkeit lag sicherlich auch daran, dass die jüdischen Grabsteine von christlichen Steinmetzmeistern angefertigt wurden, da der jüdischen Bevölkerung in der Frühen Neuzeit solche Handwerke untersagt blieben. Galten christliche Grabsteine in der frühesten Neuzeit noch vorwiegend als Ausdruck der damaligen Vorstellung des Todes als endgültige Gleichstellung aller Stände, wie sie ergreifend in den spätmittelalterlichen Totentänzen zum Ausdruck kam, wandelte sich diese Ansicht im Barock hin zur prunkvollen persönlichen Zurschaustellung im Tode wie auch im Leben. So ließen sich ab dem 17. Jahrhundert nicht nur Adelige und Geistliche, sondern auch Handwerker und Kaufleute zunehmend mit ostentativen Gedenksteinen verewigen, was sich als markanter Klassenunterschied zwischen den Reichen und Mächtigen, den „aristokratischen oder geistlichen Kreisen“ einerseits und dem gemeinen Volk, den Armen und Machtlosen andererseits, bemerkbar machte. Mit Hinblick auf die Epigraphik kamen zu den üblichen Namen und Jahresdaten somit zunehmend auch Berufszweige zur Erwähnung.91 Auch in der Seegasse sind solche ständischen Unterschiede bemerkbar, wobei insbesondere die shtadlanim als wirtschaftliche Oberschicht sowie gleichzeitig stellvertretende, laizistische Gemeindevorsteher die opulentesten Grabdenkmäler erhielten. Kunsthistorisch gesehen verwies Rachel Greenblatt auch in Bezug auf den zeitgenössischen jüdischen Friedhof in Prag auf die Verbreitung der klassizistischen Formsprache der Spätrenaissance und des Barock, und deutete dies als eben eine lokale Erscheinung der allgemeinen Entwicklungen der Sepulkralkultur in Zentraleuropa zu dieser Zeit.92 Die Grabsteine in der Seegasse wurden fast ausschließlich mit kalligraphischen Texten verziert und nur spärlich, wenn überhaupt, mit bildlicher Symbolik. Dies unterstreicht den Wert und die zentrale Stellung der Inschrift als Erinnerungstext in der Wiener jüdischen Gedenkkultur. Da die Inschriften noch ausnahmslos auf Hebräisch waren, wurden sie aufgrund des Mangels an formellen jüdischen Gemeindeeinrichtungen wie Synagogen oder jeshiwot (religiöse Hochschulen) meist von „Hausgelehrten“ verfasst – das waren in privaten jüdischen Haushalten angestellte Lehrer und Prediger. Dies hatte zur Folge, so Wachstein, dass die „Personalien, Klage, Lobsprüche und Gebetformeln […] in verschiedenen Variationen oft bis zur Geschmackslosigkeit wiederholt“ wurden.93 Geschmacksfragen beiseite, bilden diese Wiederholungen einen reichen 90 Ariès: Bilder, S. 237–241. Zu Sarkophagen in christlichen Friedhöfen dieser Zeit, vgl. auch Mytum: Recording and Analysing Graveyards, S. 7. 91 Ariès: Bilder, S. 243. 92 Greenblatt: The Shapes of Memory, S. 60. 93 Wachstein: Die Inschriften, 2. Teil, S. xxxi.
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Kodex an lexikalischen Phrasen, die über Generationen hinweg standardisiert und in unterschiedlichen Neukombinierungen wiederholt in der Epigraphik eingesetzt wurden. Somit ermöglichen sie einen diskursanalytischen Zugang zur diachronischen Entwicklung des individuellen wie des gemeinschaftlichen Gedenkens, insbesondere unterschiedliche Ausdrücke von Zugehörigkeitsverständnissen, die in der Sepulkralepigraphik festgehalten wurden. Einer der ältesten mit Sicherheit datierbaren Steine, der heute noch in einer Mauernische in der Seegasse erhalten ist, verweist auf eine 1263 verstorbene Frau, deren Namen aus der nur teilweise erhaltenen Inschrift aber nicht mehr zu eruieren ist – nur die Buchstaben „mem“ und „nun“ sind noch lesbar. Diese Inschrift lautet: „Frau mem-nun-[?], bat [Tochter des] reish [Herrn] Sabbatai, welche im Jahre 5 Tausend und 23 in ihre Ewigkeit eingetreten ist.“94 In dieser knappen Inschrift ist bereits das Grundgerüst der Epigraphik der neueren Zeit sichtlich: Die Verstorbene wurde per Namen und Patronym genannt und ihr Todesdatum wurde angegeben, allerdings nicht ihr Geburtsdatum oder Alter. Obwohl hier keine Laudatio als solche vorliegt, verweist der Ausdruck „in ihre Ewigkeit eingetreten“, der hier abgekürzt (she-[halcha] le’olma) und somit nur kontextuell zu eruieren ist, auf Kohelet 12,5 und somit auf das „Haus der Ewigkeit“.95 In dieser biblischen Umschreibung findet sich also eine Art Prototyp der später zum Teil sehr ausgefallen poetischen Epitaphien jüdischer Grabsteine in der Seegasse samt ihren subtilen Verweisen auf das religiöse Schrifttum. Eigentümlich ist hier die Erwähnung der Jahrtausendzahl, die später meist weggelassen wurde. Das Sterben wurde in der hebräischen Epigraphik meist beschönigt und nur selten direkt angesprochen, wie in diesem Fall durch das Sprachbild des Eintretens in die Ewigkeit. Im Spätmittelalter häuften sich solche poetischen Beschönigungen, wie etwa in der folgenden Inschrift auf einem in einer Mauernische erhaltenen Stein aus dem Jahre 1278: „Grabstein der Frau Shonlin, die im Jahre 38 des sechsten Jahrtausends versammelt wurde, möge ihre Seele im Licht des Lebens sein mit den restlichen Gerechten im Garten Eden amen amen amen“.96 Das Wort „versammelt“, das hier „verstorben“ ersetzt, ist zugleich eine Anspielung auf 4. Moses 27,13: „dann wirst auch du zu deinem Volk versammelt werden“, eine Umschreibung für die Bestattung mit den Ahnen. In der Grabinschrift der 1621 verstorbenen Blumka bat Jakob heißt es wiederum: „am Freitag, den 18. Nissan trat sie im Hofe des Gartens ein“, eine Anspielung auf Ester 1,5.97 Eine später sehr geläufige Beschönigung war „seine/ihre Seele 94 Wachstein: Hebräische Grabsteine, S. 5. 95 Zum hebräischen Begriff olam, der sowohl „Welt“ als auch „Ewigkeit“ bedeuten kann, vgl. Millgram: Jewish Worship, S. 34–35. 96 Wachstein: Hebräische Grabsteine, S. 6. 97 Wachstein: Die Inschriften, 1. Teil, S. 82.
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schwand“.98 Manchmal eigneten sich Passagen zum Ableben der biblischen Namenspatronen als Verweise, so etwa in der Grabinschrift der 1582 verstorbenen Ester bat Akiba: „Nun war Ester, Tochter des Herrn Akiba, an der Reihe“, eine Anspielung auf Ester 2,15,99 oder in der Grabinschrift des 1621 verstorbenen Mordechai ben (Sohn des) Israel Shmuel, die allerdings sogleich unüblicherweise auf den Tod verwies, ein Euphemismus und Dysphemismus zugleich: „Mordechai ist gegangen [Ester 8,15], er hat den bitteren Tod gefunden.“100 Im Falle des Namens Sara war nicht einmal eine Beschönigung nötig, da sich ein direktes Zitat aus 1. Moses 23,2 eignete: „Und Sara starb.“101 Wiederum erklärt das Vorhandensein dieses biblischen Zitats, wieso bei diesen Namensträgern ausnahmsweise das Sterben direkt angesprochen wurde. Die älteren Inschriften, wie im oben angeführten Beispiel der Frau Shonlin, endeten normalerweise mit Worten wie amen und sela, Letzteres ein biblischer Begriff, der vornehmlich in den Psalmen vorkommt, wo er eine Pause bezeichnet. Sein Gebrauch in der Epigraphik bedeutet so viel wie die Verfügung „Denkpause“.102 Obwohl es davon viele Variationen auf älteren Grabsteinen gab, wurde spätestens ab den 1640er-Jahren der Spruch „möge seine/ihre Seele im Bündel des Lebens gebündelt sein“, von 1. Samuel 25,29 abgeleitet und in abgekürzter Form aufgeführt als „taw-nun-tzadi-bet-hei“ („tantzaba“ ausgesprochen), zum fast allgegenwärtigen Standardschluss der Inschrift. Dieser Brauch dauert bis zum heutigen Tag fort. Ein Beispiel einer frühen Variation ist die Abkürzung „taw-nun-bet-hei“ (möge ihre Seele im Licht des Lebens sein), wie in der Grabinschrift von Frau Shonlin. Oft finden sich in der Epigraphik auch Selbstbezüge auf die Grabmonumente, so beispielsweise in der Inschrift des 1620 verstorbenen Moshe Jakob ben Menachem Manesh Shik: „Dieser Stein ist ein Mal und ein Zeichen für die Beerdigungsstätte eines milden Mannes“, wobei allein diese Zeile eine Verflechtung von Hinweisen auf 2. Könige 23,17, Ezechiel 39,11 und 1. Moses 25,27 birgt.103 Ein ähnlicher und häufiger Selbstbezug leitet sich aus 1. Moses 31,52 ab: „Dieses Mal sei Zeuge.“104 Auf vielen Grabsteinen wurde durch Wendungen auf den 98 So z. B. in der Inschrift der 1708 verstorbenen Reisl bat Moses Wertheim, Wachstein: Die Inschriften, 2. Teil, S. 26. 99 Wachstein: Die Inschriften, 1. Teil, S. 5. 100 Wachstein: Die Inschriften, 1. Teil, S. 86. 101 So z. B. in der Inschrift der 1568 verstorbenen Sara Hendl bat Awigdor, Wachstein: Die Inschriften, 1. Teil, S. 10. 102 So z. B. in der Inschrift des 1360 verstorbenen Shalom ben Nissim, Wachstein: Hebräische Grabsteine, S. 8. 103 Wachstein: Die Inschriften, 1. Teil, S. 80. 104 So. z. B. in der Inschrift der 1606 verstorbenen Michla bat Isak, Wachstein: Die Inschriften, 1. Teil, S. 28.
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Stein selbst hingewiesen, wie „Grabstein von“, „Grabstein des Oberhauptes von“, „dieser Grabstein soll Zeugnis geben“ (bezogen auf 1. Moses 31,52); „dieser Stein ist eine Markierung und ein Zeichen für eine Begräbnisstätte“ (eine lose Kombination von 2. Könige 23,17 und Ezechiel 39,11); oder das noch komplexere Beispiel: „wie ehrfurchtgebietend ist dieser Ort, seine Erde und sein Stein. Die Höhle, wo im Lebenslicht wurde begraben unser Lehrer und Rabbiner, der Rabbiner Kalew Abraham ben Noach Moshe Yechiel [1599 verstorben]“ (ein direkter Verweis auf 1. Moses 28,17 und weiter ausgebaut von 1. Moses 49,30–31).105 Ab der Frühen Neuzeit wurde der Hinweis auf das Begräbnis selbst mit unterschiedlichen Wendungen wie (jeweils männlich/weiblich) „po nignas/a“ (hier wird bewahrt), „po tzefun/a“ oder eher üblich „po tamun/a“ oder „po nitman/a“ (hier ist verborgen) und „po nikbar/a“ (hier ist begraben) gegeben. Die letzten drei Ausdrücke sind heute auf jüdischen Grabsteinen weltweit fast allgegenwärtig aufzufinden, üblicherweise in der abgekürzten Form „pei-tet“ bzw. „pei-nun“ (dieses „nun“ könnte entweder „nitman/a“ oder „nikbar/a“ bezeichnen). Somit unterstreichen die Selbstbezüge der Inschriften die Wichtigkeit des Steines als Erinnerungsmal, in gewandeltem Sinne von Josua 4,7: „So sollen diese Steine den Kindern Israels ein ewiges Gedächtnis sein.“ Eigentümlich sind die Bräuche rund um Datierung in den hebräischsprachigen Inschriften. Hebräische Schriftzeichen fungieren wie die lateinischen auch als Zahlzeichen – alef ist gleich eins, bet gleich zwei und so weiter über jud (zehn) und kuf (hundert) bis taw (vierhundert). Somit enthalten hebräischsprachige Inschriften bis heute oft subtile Chronogramme: Das sind Verweise auf die Jahreszahl durch die Summe der Zahlenwerte einiger hervorgehobener Buchstaben, die zugleich als Worte gelesen werden können und somit lexikalisch in den Text integriert sind (siehe unten ein Beispiel in der Inschrift des Rabbiners Moshe ben Shimshon). Der Grabstein des 1727 verstorbenen Wolf ben Mordechai Margulies Jafeh verkündet, dass er „am Tag starb, an dem der Mensch erschaffen wurde, am vierundzwanzigsten des Monats, in dem die Thora gegeben wurde“, also eine poetische Umschreibung für Freitag, den 24. Siwan (13. Juni).106 Vor dem 19. Jahrhundert wurden in der jüdischen Epigraphik – wie auch in der christlichen der Frühen Neuzeit – Geburtsdaten fast ausnahmslos weggelassen. Das ungefähre Alter zum Zeitpunkt des Todes wurde, wenn überhaupt, selten angegeben, wie zum Beispiel in der Inschrift der 1746 verstorbenen Sara Pereyra, der Mutter des shtadlan Diego d’Aguilar,
105 Wachstein: Die Inschriften, 1. Teil, S. 18. Vgl. zu den ersten Beispielen die bereits zitierten Inschriften von Frau Shonlin, Shalom ben Nissim, Michla bat Isak bzw. Moshe Jakob ben Menachem Manesh Shik. 106 Wachstein: Die Inschriften, 2. Teil, S. 160.
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die verkündet, dass „sie nahe neunzig aufgefahren ist in die Höhe“, wobei der Tod hier wieder euphemistisch umschrieben wird.107 Zum Großteil schweigen die Grabinschriften der Seegasse über die konkreten Lebensumstände und Tätigkeiten der dort Bestatteten, oder sie sind äußerst vage. Selten finden sich explizite Verweise auf die Alltagssituationen der Wiener Judenheit oder der einzelnen Bestatteten. Bis spät in das 18. Jahrhundert hinein waren Jüdinnen und Juden von den meisten Handwerken und Zünften, von Grundbesitz und Ackerbau sowie vielen weiteren Erwerbszweigen ausgeschlossen, während die vom Hof privilegierten, die shtadlanim und dergleichen, meist spezifische Monopole wie das Tabakmonopol betrieben oder im Kreditwesen tätig waren. Das Fehlen an Hinweisen auf finanzielle Geschäfte, die ohnehin nicht als besonders rühmenswerte Beschäftigungen in der jüdischen Gedenkkultur der damaligen Zeit galten, im Gegensatz zum Sachverhalt etwa im 19. Jahrhundert, deuten im Zusammenhang mit der inversen Häufung an Hinweisen auf Wohltätigkeit oder Fürsprache eher auf die Not der meisten Wiener Jüdinnen und Juden in diesen Epochen, vor allem im 18. Jahrhundert. Für viele dieser Individuen verblieben die Grabsteine, wenn sie überhaupt Grabsteine erhielten – eine Statistik der Anzahl der in diesem Friedhof Bestatteten im Vergleich zur Anzahl der Grabsteine ist angesichts der mangelnden Quellenlage in diesen Jahrhunderten ausgeschlossen – ein reines jad washem, „ein Denkmal und ein Name“ (Jesaja 56,5). Wie Thomas Laqueur in Bezug auf der Frühen Neuzeit in Europa allgemein festhielt, stellten Grabdenkmäler bis in die Moderne hinein das Privileg der Wohlhabenden dar.108 Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass dies in der Seegasse nicht auch der Fall war, zumal die circa 1.000 dokumentierten Grabsteine eine sehr niedrige Zahl an Bestattungen für einen Friedhof darstellen, der über zwei Jahrhunderte lang in Gebrauch war. Repräsentativ für die weniger privilegierten Verstorbenen ist die folgende Inschrift, die auf einem nur fünfzig mal dreißig Zentimeter großen, heute wahrscheinlich nicht mehr erhaltenen Grabstein eingemeißelt war, und die bloß aus Ehrentitel, Name und Patronym, Herkunft und Sterbedatum besteht – obwohl die Einbindung sämtlicher bis in diesem Zeitalter üblich gewordenen epigraphischen Abkürzungen eine doch wesentliche Gedenkzeile ergeben: Pei-nun [hier ist begraben] hei-bet-chet [der ledige Mann] Aharon, bet-kaf [Sohn des angesehenen] Saul aus Porschitz [Poříčí, Böhmen], nun-pei [gestorben] waw-nun-kuf [und beerdigt] ain-shin-kuf [am Vorabend des heiligen Shabbat], den 13. Elul 508 [6. September 1748] lamed-fei-kuf [der kleinen Zeitrechnung; ohne die Jahrtausendangabe] tawnun-tzadi-bet-hei [möge seine Seele im Bündel des Lebens gebündelt sein].109 107 Wachstein: Die Inschriften, 2. Teil, S. 311. 108 Laqueur: The Work of the Dead, S. 101–102. 109 Wachstein: Die Inschriften, 2. Teil, S. 334.
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Abb. 8 Transkription und Übersetzung der Inschrift auf einem nicht identifizierbaren Grabstein aus dem Jahre 1303, heute noch in einer Mauernische erhalten. © Autor
Eine Ausnahme der allgemeinen Tendenz, auf die konkreten Lebensumstände der Verstorbenen nicht einzugehen, bilden die Hinweise auf „Märtyrer“: jene jüdischen Individuen, die Opfer von Verfolgungen wurden oder sonst ihrer Religion wegen ums Leben kamen. Die Inschrift des namentlich nicht identifizierbaren, aber heute noch in einer Mauernische erhaltenen Grabsteins aus dem Jahre 1303 verweist unmissverständlich auf einen solchen Märtyrertod.110 Hier wird für den Märtyrer der Begriff „nirdaf “ (der Verjagte) verwendet, in Anspielung auf Kohelet 3,15. Das sonst üblichere Wort für Märtyrer lautet kadosh/a (der/die Heilige), und verweist somit auf die kiddush hashem, die „Heiligung von Gottes Namen“ durch die Ablehnung der Zwangstaufe, sogar unter Androhung des Todes.111 Die Ermahnung der Strafe Gottes setzt sich aus Zitaten jeweils von 5. Moses 32,43 und Psalm 79,10 zusammen. Solche Verweise auf jüdisches Märtyrertum, die sich nach der Shoah erschreckend häufig auf den jüdischen Grabsteinen in Wien wiederfinden würden, zeugen von der Unbeständigkeit und den Gefahren des jüdischen Daseins durch diese religionsfanatischen und äußerst gewaltsamen Jahrhunderte. Das im mittelalterlichen Europa entstehende jüdische Konzept des Märtyrertums wird inzwischen auch als Reaktion auf christliche Opfervorstellungen gedeutet, wobei „Jüdinnen und Juden die christliche Aneignung des biblischen Bildes von Abraham und Isak 110 Wachstein: Hebräische Grabsteine, S. 19. 111 Vgl. Berachot 20a. Zum Begriff kadosh/a, vgl. Wachstein: Die Inschriften, 1. Teil, S. 1.
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negierten“. Ähnlich galt das mittelalterliche jüdische Verständnis der Verfolgung als „gottgewollte Feuerprobe“ im Gegensatz zum christlichen Gedanken der Verfolgung als Rache für den vermeintlichen jüdischen „Gottesmord“.112 Insgesamt ist mindestens auf die Sprache, wenn nicht den Inhalt bezogen, festzustellen, dass die Ausgiebigkeit und Komplexität der Inschriften sich über die Jahrhunderte immer steigerte. Vor allem bei angesehenen Personen, insbesondere Rabbinern, waren die Inschriften ungewöhnlich ausgefeilt und bezogen sich nicht nur auf das biblische Schrifttum, sondern auch auf den Talmud oder sogar auf geheimnisvolle Schriften, etwa aus den mystischen Traditionen der Merkaba oder der Kabbala.113 So lautete beispielsweise die Laudatio für den angeblich 1551 verstorbenen Rabbiner Moshe ben Shimshon (die Datierung kann Wachstein zufolge nicht stimmen): Hier wird bewahrt ein gläubiger Mann, ein Hügel gegen welches alle Gesichter sich wenden, ein alter Weiser, Berater und vornehmer Mann. Und dem heiligen Volke aus dem Königreich der Priester war er ein sar und ein Großer aus dem Geschlecht der segenim. Unser Lehrer und Rabbiner, der Rabbiner Moshe, das Gedächtnis des Gerechten bleibt im Segen, rosh der Schöpfergeiste, Sohn des Shimshon, der unter Rosen weidet. Er ist gestorben am Mittwoch in den Zeiten der Gefangenschaft [im Jahre 312]. Parshat Noach: ein frommer Mann und ohne Tadel.
Zeile um Zeile leitet sich diese Inschrift direkt oder indirekt aus Bibel und Talmud ab: Aus Berachot 30a stammt beispielsweise der Verweis auf den „Hügel“, den Zionsberg, gegen den sich alle Gesichter zum Gebete wenden, wobei die restlichen Zeilen umschrieben aus Jesaja 3,2–3 und aus 2. Moses 19,6 sowie aus dem Hohelied 2,16 zusammengesetzt sind. Die letzte Zeile wird explizit als Zitat aus der „Parshat Noach“ gekennzeichnet, dem Leseabschnitt der Tora, der sich mit der Geschichte Noachs befasst. Der Verweis auf das Sterbejahr („shin-betjud“), ein Chronogramm, der sich also gleichzeitig als Teil des Fließtextes liest, berichtet offenkundig von den Bedrängnissen der Zeit – Wachstein deutete auf den Erlass des antijüdischen Patents 1551 durch Erzherzog Ferdinand I., Moshes vermeintliches Sterbejahr, verwies jedoch auch auf die Unwahrscheinlichkeit der Richtigkeit dieser Jahresangabe.114 Insgesamt betrachtet, zielte diese Inschrift einzig darauf ab, den Rabbiner Moshe als großen Gelehrten und als angesehenes Haupt seiner Gemeinde auszuweisen. Auffällig sind in dieser noch relativ frühen Inschrift die hebräischen Titel, die hier fast tautologisch aneinandergereiht erscheinen: Neben „chacham“ 112 Vgl. Chazan: Judaism, S. 641–643. 113 So z. B. die Inschrift des 1666 verstorbenen Jakob ben Elieser, Wachstein: Die Inschriften, 1. Teil, S. 462 sowie die bereits genannte Inschrift des Samson Wertheimer. 114 Wachstein: Die Inschriften, 1. Teil, S. 2.
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(Weiser) und „nessu fanim“ (vornehmer Mann) sowie die für ordinierte Rabbiner gängigen Bezeichnungen „morenu“ (unser Lehrer) und „rawinu“ (unser Rabbiner) finden sich hier auch weniger durchschaubare Begriffe wie „sar“, „segen“ und „rosh“. Zu diesen Titeln, die zumeist biblischen und talmudischen Ursprungs sind, kommen im gesamten Korpus der Grabinschriften in der Seegasse viele weitere hinzu, wie etwa katzin (siehe beispielsweise Micha 3,1), tifsar (siehe beispielsweise Jeremia 51,27), aluf (siehe beispielsweise Jeremia 3,4) oder parnas (siehe beispielsweise Bawa Batra 10a). In ihren biblischen/talmudischen Ursprüngen bezeichneten diese allgemein so etwas wie einen Herrscher oder ein Haupt in einem eher laizistischen oder gar militärischen Zusammenhang. Im modernen Israel sind einige dieser Bezeichnung in genau solchen Zusammenhängen wieder spezifisch zur Geltung gekommen (beispielsweise sar als Regierungsminister und aluf als General in den Streitkräften). Im Kontext der Frühen Neuzeit, wo es oft keine beständige jüdische Bevölkerung, geschweige denn eine gefestigte Gemeindeorganisation gab, müssen diese Titel als größtenteils unspezifische und also durchaus auswechselbare Ehrenbezeichnungen für besonders angesehene Männer verstanden werden – das Gedenken jüdischer Frauen, das sich einer ganz anderen Formelsprache bediente, wird unten ausführlicher besprochen. Wie tautologisch und daher auswechselbar diese Ehrentitel sind, zeigt die Grabinschrift des 1747 verstorbenen Shmuel ben Mendel Oppenheim: Hier ist begraben der gewir und nagid, der sar und tifsar, der gelehrte katzin und erstaunliche Rabbiner, unser Lehrer und Rabbiner, der Rabbiner Shmuel, Sohn des gewir und katzin, der Glorreiche hoch droben, der freigebige, berühmte shtadlan, der große Rabbiner Mendel Oppenheim, das Gedächtnis des Gerechten bleibt im Segen.115
Bernhard Wachstein betonte immer wieder, gerade in Bezug auf diese spätere Phase der Geschichte des Friedhofs nach der Vertreibung 1670, die Brüchigkeit des jüdischen Gemeinwesens sowie die Tatsache, dass diese so hoch gepriesenen Männer nicht selten in völliger Verelendung starben – „aber die Pietät gebot es, den Mann, der einstens durch Einfluß, Wohlhabenheit und Freigebigkeit hervorgeragt hatte, durch ein Monument zu ehren, worin diese seine Tugenden in Erinnerung gebracht würden“.116 Somit wird deutlich, inwiefern dieses System der Ehrentitulatur als Ausdruck der individuellen Stellung innerhalb des imaginierten Kollektivs fungierte, auch in Ermangelung einer tatsächlichen Gemeindeorganisation oder sogar eines individuellen Wohlstands. Über einen der frühesten offensichtlichen Ehrentitel, der bereits in der mittelalterlichen hebräischen Epigraphik der Grabsteine in der Seegasse auftaucht, der Begriff des 115 Wachstein: Die Inschriften, 2. Teil, S. 322. 116 Wachstein: Die Inschriften, 2. Teil, S. xxix.
Grabsteine, Sepulkralepigraphik und Symbolik im Friedhof in der Seegasse
nadiw (der Freigebige, der Wohltätige), bemerkte Wachstein, er sei schon „um diese Zeit die übliche Titulatur für einen angesehenen Mann in der Gemeinde, etwa für einen Vorsteher“.117 Der Judaist Abraham Reiner identifizierte in einem Beitrag zur Titulatur auf den Grabsteinen des mittelalterlichen jüdischen Friedhofs im unterfränkischen Würzburg vier Kategorien, in die sich hebräische Titel gliedern lassen: erstens rabbinische, homiletische und schriftenbezogene Titel, so etwa rawenu/raw (unser/Rabbiner), darshan (Prediger) oder sofer (Schriftgelehrter); zweitens gemeinschaftliche oder professionelle Titel, meist reine Ehrentitel, so etwa chawer (allgemein Gebildeter, aber nicht rabbinisch Ordinierter), parnas (Vorsteher, gerade in einem eher weltlichen Sinne) oder gabbai (Synagogendiener); drittens persönliche Eigenschaftsworte, die wie Titel fungieren, so etwa chassid/a (fromm, eine Bezeichnung die mit dem Aufkommen des Chassidismus ab Mitte des 18. Jahrhundert aufgrund dieser spezifischen Konnotation an Gebrauch verlor), kadosh/a (heilig) oder chashuw/a (wichtig); und viertens alters- und personenstandbezogene Präfixe, so etwa der Buchstabe „reish“ (Herr; unten ausführlicher beleuchtet), meret (Frau), bachur/a (eine junge oder ledige Person, je nach Kontext), jeled/a (Kind) oder saken/a (bejahrte Person). Wie Reiner betonte, und wie es auch in der Seegasse zutrifft, bedeutet der oft ehrenhalber, also nicht sprichwörtlicher Charakter solcher Titel, dass weitere biographische Informationen nötig wären, um in Einzelfällen sicherzustellen, wie buchstäblich solche Bezeichnungen waren.118 Eines der stichhaltigsten Beispiele der Entwicklung sowohl reiner Ehrentitel wie komplexer epigraphischer Abkürzungssysteme bezieht sich auf den Begriff raw, ursprünglich ein spezifischer Hinweis auf das Rabbineramt. Bis in die Frühe Neuzeit fand sich diese Bezeichnung in abgekürzter Form als Buchstabe „reish“ in vielen Grabinschriften jüdischer Männer wieder sowie die häufige Abkürzung „bet-reish“ (ben raw, Sohn des Rabbiners), meist mit Ausnahme von unverheirateten bzw. ungebildeten Männern. Da sich offensichtlich die Bedeutung zur allgemeinen Anrede als „Herr“ gewandelt hatte, wandelten sich parallel dazu die eigentlichen Rabbinertitel hin zu komplexeren Formen wie „hei-reish-reish“ (haraw rawi, der große Rabbiner) und „kaf-mem-reish“ (kawod ma’alat rawi, der hochangesehene Rabbiner).119 Als diese Titel im Laufe der Zeit auch zunehmend in profanen Kontexten gebräuchlich wurden, entwickelte 117 Wachstein: Hebräische Grabsteine, S. 9. 118 Reiner, Abraham: The Role and Significance of the Titles Written on the Tombstones in the Würzburg Cemetery, in: Müller, Karlheinz/Schwarzfuchs, Simon/Reiner, Abraham (Hg.): Die Grabsteine vom jüdischen Friedhof in Würzburg aus der Zeit vor dem Schwarzen Tod (1147–1346), Bd. 1, Würzburg 2011, S. 235, 247–259. 119 So z. B. in den Inschriften des 1590 verstorbenen Isak ben Jomtow Uri und des 1609 verstorbenen Lipman ben Josef, Wachstein: Die Inschriften, 1. Teil, S. 11 und 34.
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sich die ordentliche rabbinische Bezeichnung erst hin zu „mem-hei-reish-reish“ (morenu haraw rawi, unser Lehrer, der große Rabbiner) und schließlich zur noch komplexeren Form „mem-waw-hei-reish-reish“ (morenu werawinu haraw rawi, unser Lehrer und Rabbiner, der große Rabbiner) und unterschiedliche Variationen dessen.120 Max Grunwald malte anhand dieser prozesshaften Verwässerung des Rabbinertitels ein Bild des dramatischen Verfalls des geistigen Lebens im spätmittelalterlichen aschkenasischen Judentum: „Unwürdige massten sich Würde und Amt eines Rabbiners an“. So verfügte der Wiener Rabbiner Meir ben Baruch Halevi bereits um 1400, dass nur jene, welche die rabbinische Ordination von anerkannten Autoritäten erhielten, das Recht hatten, den Titel morenu (unser Lehrer) zu tragen.121 Anderswo behauptete Grunwald, dieser Titel sei ursprünglich bereits im Laufe des 13. Jahrhunderts in Wien „vom lateinischen Magister“ abgeleitet worden als „äußerliches Merkmal“ rabbinischer Autorität, um der „Entwürdigung dieses ehrenvollen Amtes vorzubeugen durch jene, die dessen nicht würdig waren“.122 Als alleiniger Titel für einen offiziell ordinierten Rabbiner galt dies somit bis in das 19. Jahrhundert als große Auszeichnung, und die epigraphische Abkürzung „mem-waw-hei-reish-reish“ somit als unmissverständlicher Hinweis auf einen ordinierten, meist auch hoch angesehenen Rabbiner. Bernhard Wachstein stellte den Vergleich auf, dieser Titel sei fortan „mit den Namen so verwachsen“ wie es der Doktortitel in Österreich und Deutschland bis heute noch ist – diese zutiefst partikularistische jüdische Erscheinung kann also zugleich in gewisser Weise als ein zutiefst „deutsch/österreichisches“ oder gar „Wiener“ Merkmal angesehen werden. Alleine im Wandel dieser ursprünglich rabbinischen Titel zeigt sich eine jahrhundertelange Entwicklung, die in einer ausgeprägten „Skala der Titulaturen“ mündete: je länger der Titel, desto größer das Ansehen des Verstorbenen, egal ob in religiöser oder weltlicher Hinsicht.123 So wurden religiöse Ehrentitel andauernd für profane Kontexte angeeignet und zumeist auf wohlhabende Individuen, Familienhäupter oder Gemeindevorsteher angewandt. Dies erklärt auch die fortschreitende Verschachtelung der religiösen Inschriften in zunehmend komplexe Formen hebräisch-religiöser Diskurse. Allerdings, und in deutlichem Gegensatz zu den Zuständen späterer Epochen, vor allem gerade im 20. Jahrhundert, vermittelt dieser Kontrast von religiösen und weltlichen epigraphischen Ausdrucksformen keinen Sinn von
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So z. B. in der bereits genannten Inschrift von Moshe ben Shimshon. Grunwald: Geschichte der Wiener Juden, S. 9. Grunwald: Vienna, S. 64. Wachstein: Die Inschriften, 1. Teil, S. xxxvii–xxxviii.
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Konflikt. In der Tat schöpften auch eher weltliche Inschriften explizit von der religiösen Formelsprache. Ein prägnantes Beispiel hierfür ist der bereits erwähnte shtadlan Samson Wertheimer, der unter anderem den Titel „Oberrabbiner von Ungarn“ trug. Laut Gerson Wolf hätte Samson Wertheimer unmöglich ein ordinierter Rabbiner sein können, er war demzufolge „blos Titularrabbinner“.124 Max Grunwald jedoch nannte ihn „den repräsentativen Typen des Wiener Rabbiners“, oder vielleicht besser gesagt des Ersatzrabbiners: „Er förderte die jüdische Literatur und präsentierte das Judentum in einem günstigen Licht für den Rest der Welt.“ Somit ähnelte er, so Grunwald, dem talmudischen Gelehrten, Krieger und Kunstmäzenen Samuel Hanagid, Großwesir von Granada. Insofern verspürte Grunwald in einem solchen Fall keinen Widerspruch in der Verwendung des Rabbinertitels für eher weltliche Belange: Vielmehr verkörperte eine Gestalt wie Samson Wertheimer, der seine verschiedenen rabbinischen Ehrentitel aufgrund seiner Gelehrsamkeit, seiner Philanthropie und seiner Fürsprache erhielt, die Verschmelzung von Religion und Gemeinschaft, Glauben und Bildung in einem harmonischen Ganzen, was explizit in der Sepulkralepigraphik im Friedhof in der Seegasse zum Ausdruck kommt.125 Ludwig Bato behauptete übrigens, es seien seinerzeit viele Grabinschriften in der Seegasse von Wertheimer verfasst worden, „beredte Zeugen seines umfassenden hebräischen Wissens“, obwohl Bato hierfür keine Beispiele nannte und diese Behauptung in Ermangeln sonstiger Quellen unmöglich nachzuprüfen ist.126 Über die Rabbinertitel hinaus verweisen manche Grabinschriften, vor allem aus der Ära der „Judenstadt“ im Unteren Werd, auf explizite Ämter innerhalb der Gemeinde. Ein frühes Beispiel ist die Inschrift des 1620 verstorbenen Moshe Jakob ben Menachem Manesh Shik, die also zu einer Zeit verfasst wurde, als – ausnahmsweise in der frühneuzeitlichen jüdischen Geschichte Wiens – eine etablierte Gemeindeorganisation gerade am Aufblühen war. Darin wurde Moshe Jakob nicht nur gängigerweise als „katzin“ und „manhig“ beschrieben, sondern auch als „ewen fina“ (Eckstein) und sogar als „rosh kahel“ (Gemeindehaupt), was bestimmt (jeweils implizit und explizit) auf ein offizielles Amt innerhalb der Gemeinde verweist.127 Der 1629 oder 1630 verstorbene Weidl ben Shmuel Lemml (das Datum war bereits zu Wachsteins Zeit nicht mehr komplett lesbar) wurde in seiner Grabinschrift nicht nur wie viele Rabbiner als „gaon“ (Genie, eine Bezeichnung für einen besonders angesehenen Gelehrten) und „unser Lehrer und Rabbiner“ genannt, sondern auch als „aw beit din“ (sprichwörtlich: 124 125 126 127
Wolf: Die jüdischen Friedhöfe, S. 13. Grunwald: Vienna, S. 126–128. Bato: Die Juden, S. 60. Wachstein: Die Inschriften, 1. Teil, S. 80.
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Vater des Gerichtshauses), als Vorsitzender des Rabbinatsgerichts, ein Amt, das in formell organisierten jüdischen Gemeinden oft durch ein und die gleiche Person mit dem Oberrabbinertum vereint war.128 Um die gleiche Zeit wurde der „hoch respektierte“ Chanoch Shik in der Grabinschrift seiner 1631 verstorbenen Frau Jeitl bat Moshe Margulies nicht nur ehrenhalber als „katzin“ bezeichnet, sondern tatsächlich auch als „rosh“ oder Oberhaupt, was eine Führungsposition in der Gemeinde vermuten lässt.129 Solch spezifische Ämter waren hingegen in der Zeit nach der Rückkehr einzelner Jüdinnen und Juden nach Wien im 18. Jahrhundert, als ihnen der Zusammenschluss in einer organisierten Gemeinde verboten war, in der Sepulkralepigraphik auffällig abwesend. Genau in diesem Kontext der staatlichen Unterdrückung des jüdischen Gemeinwesens sowie der allgegenwärtigen Ausbeutung und Misshandlung jüdischer Individuen ist das Aufkommen des Begriffs des shtadlan in der Sepulkralepigraphik nachzuvollziehen. Angesichts des reellen Einsatzes der shtadlanim zum Schutz ihrer GlaubensgenossInnen ist der Begriff im Vergleich zu anderen Titeln allerdings als weitaus mehr als nur ehrenhalber zu verstehen: Dies ist ein Inbegriff für Wohlstand, gemeinschaftliche Fürsprache und somit eine gewisse Führungsstellung innerhalb der Gemeinschaft zugleich. So verkündet die Grabinschrift des 1707 verstorbenen, aus Frankfurt am Main stammenden „aluf und katzin, parnas und manhig und shtadlin [sic, mit „jud“], der hochangesehene, große Rabbiner Hirtz Wohl“, nämlich Naftali Hirtz, Sohn des David Wohl zum weißen Schwanen in Frankfurt: Dieses Denkmal setzen wir zu Häupten des Mannes, der wie ein Held seine Lenden gegürtet [umschrieben nach Hiob 38,3] und bis zum Halse im Wasser gewatet [umschrieben nach Jesaja 8,8]. Er bestrebte sich am kaiserlichen Hofe die Erneuerung der Privilegien [kiumim, Subsistenzen oder Dasein] zu erwirken, sie wie für die Vergangenheit auch für die Zukunft sicher zu stellen. Und so hielt er sich hier in Wien auf, bis er von der Welt plötzlich verschwand [umschrieben aus Jesaja 8,8]. Über diesen Bruch haben wir Grund zu weinen. Groß ist der Schmerz, der sich unser bemächtigt wegen des Hinscheidens unseres Vaters, der Krone unseres Hauptes.130
Naftali Hirtz hielt sich nur vorübergehend in Wien auf, um am Hofe des Heiligen Römischen Kaisers Joseph I. für eine Erneuerung der Privilegien seiner GlaubensgenossInnen in Frankfurt zu plädieren, als er plötzlich zu Wien starb und in Folge am Friedhof in der Seegasse bestattet wurde. Obwohl er sich also nicht spezifisch für die Wiener jüdische Bevölkerung einsetzte, verdeutlicht
128 Wachstein: Die Inschriften, 1. Teil, S. 116. 129 Wachstein: Die Inschriften, 1. Teil, S. 136. 130 Übersetzung zit. nach Wachstein: Die Inschriften, 2. Teil, S. 22–23.
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diese Inschrift die allgemein hohe Achtung, die die shtadlanim unter den zentraleuropäischen Judenheiten dieser Zeit genossen, genauso wie diese Inschrift das Gefühl der Gemeinschaft zwischen disparaten, weit voneinander entfernten jüdischen Bevölkerungen bezeugt. In der Abbildung in Wachsteins Katalog des heute wahrscheinlich verschollenen Grabsteins ist ein Emblem in Form eines Schwans zu erkennen: „Haus zum weißen Schwanen“ in Frankfurt war die Adresse dieser Hoffaktoren, die somit als eine Art Protofamilienname fungierte, wie im ebenfalls aus Frankfurt stammenden, vielgerühmten Beispiel „Haus zum rothen Schilde“, aus der schließlich der Familienname Rothschild hervorging.131 Die Grabinschrift des 1719 verstorbenen Simeon ben Michael Pressburg preist diesen shtadlan in folgenden Worten: Seine Demut wetteiferte mit seiner bedeutsamen Stellung. Eindringlich verbot er sich weitschallendes Lob. Ein Weniges von Simeons Ruhm soll doch erwähnt werden, denn er war der Herr der Residenz [eigentlich: der anerkannte sar], der große Fürsprecher [shtadlan], der sein lebelang im Dienste Israels tätig war, es bei Königen und Fürsten erwirkte, verhängnisvolle Beschlüsse [gesirot] rückgängig zu machen. Orte, die kein jüdischer Fuß [eigentlich: kein jüdischer Mensch] betreten durfte, hat er dem Verkehr geöffnet. Die Gefangenen erlöste er von den Fesseln [aus Psalm 68,7]. Er ehrte Gott mit seiner Habe [aus Sprüche 3,9] und ließ zu seinem Ruhme seine Stimme an den erhabenen Tagen und beim Schließen der Tore erschallen [Wachstein: „Schlußgebet an Versöhnungstagen“]. Er sorgte für die der Erforschung der Lehre gewidmeten Anstalten und unterstützte reichlich die Studierenden. Den dauernden Bestand von Lehrhäusern zur Befestigung der Thora sicherte er in vielen Gemeinden durch ein ewiges, unantastbares Grundvermögen.132
Diese Inschrift veranschaulicht ausführlich und eindringlich – trotz der Ermahnung des Verstorbenen, seinen Ruhm nicht zu hoch zu preisen – das Gewicht seiner Fürsprache am Hofe im Namen der Wiener jüdischen Bevölkerung, die hier kollektiv durch den Namen „Israel“ als Glaubens- und Schicksalsgemeinschaft evoziert wird. Ganz spezifisch werden die gesirot erwähnt – plural von gesera, der Begriff, der auf die Pogrome von 1421 angewandt wurde – die hier so viel wie antijüdische Verordnungen bedeuten, die Simeon rückgängig zu machen versuchte. Nicht zuletzt verweist die Inschrift auf seine freigiebige individuelle wie kommunale Philanthropie. Über dem erhabenen Lob dieses einzelnen shtadlan hinaus zeigt sich in dieser Inschrift die Verankerung eines elementaren Gemeinschaftssinns und eines Gemeinwesens in Ermangelung ei-
131 Vgl. den ausführlichen Photo-Essay zu solchen Hausschildern auf frühneuzeitlichen jüdischen Grabsteinen in Klein: Metropolitan Jewish Cemeteries, S. 34–39. 132 Übersetzung zit. nach Wachstein: Die Inschriften, 2. Teil, S. 44.
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ner konkreten Gemeindeorganisation. Simeon war übrigens der Ururgroßvater Heinrich Heines. Bernhard Wachstein behauptete mit Hinblick auf die Laudationes, dass sakrales Wissen, vor allem des „Gesetzesstoff[s]“, höher gepriesen wurde als profanes Wissen.133 Auch aus einer Fallstudie des mittelalterlichen jüdischen Friedhofs in Würzburg ergab sich, dass Berufsstände von weniger Geltung waren als Gemeindeämter und Ehrentitel. Somit waren oft die einzigen genannten Titel jene, „die mit dem religiösen Leben der jüdischen Gemeinschaft zu tun haben, so etwa Rabbi, Darshan oder Parnas“.134 Gewiss bedeutete neben dem Einfluss der damals gängigen Wertvorstellungen der Wiener Judenheit auch ihre gesellschaftliche Marginalisierung und die krassen Einschränkungen ihrer Fähigkeit, sich in Wien niederzulassen und bestimmte Berufe auszuüben, dass explizite Verweise auf Berufungen meist zutiefst religiöser Natur waren. Diese religiösen Ämter zeigen sich in verschiedenen Beispielen, die zugleich auf die meist peripatetische Lebenserfahrung der damaligen Judenheiten Zentraleuropas verwiesen. So spricht eine Inschrift vom 1721 verstorbenen „großen Rabbiner und wunderbaren Prediger, unser Lehrer und Rabbiner, der Rabbiner Josef Kobler, Sohn des großen Rabbiners David, seliges Andenken, aus dem Land Polen“. Hierbei handelte es sich wahrscheinlich, wie Wachstein anmerkte, um einen wandernden Prediger.135 Allerdings finden sich auch verschiedenste Beispiele, in denen religiöse und profane Beschäftigungen und Tugenden vereint sind, wenn auch subtil. So wurde der 1611 verstorbene „gaon, unser Lehrer und Rabbiner, der Rabbiner Hendl, ein Licht Gottes“ (Letzteres umschrieben aus 1. Samuel 3,3), Manoach Hendl ben Shemaria, in folgenden Worten gelobt: Grabmal des genialen Mannes, der hoch erhoben ist [umschrieben aus 2. Samuel 23,1], für Israel wie der Tau [umschrieben aus Hosea 14,6]. Ein gewaltiger Mann, in der gesamten Tora gelehrt, eine Fundgrube an Wissen. […] Vorbild seiner Generation. Ein Licht für ganz Israel. Insgesamt weise. Der Himmel wie ein ausgerolltes Pergament. Vater der Väter, Überragendster der Propheten, der letzte der Weisen und Oberhaupt der Intelligenten.
Den Hinweis auf den Himmel interpretierte Wachstein als Anspielung auf „ein etwaiges astronomisches Wissen“ dieses offensichtlich hochgelehrten Mannes.136 Somit verbindet diese ausgesprochen hochtrabende Inschrift seine all133 Wachstein: Die Inschriften, 1. Teil, S. xvi. 134 Schwarzfuchs: The Medieval Jewish Cemetery, S. 156 und Schwarzfuchs: The Tombstones from the Würzburg Cemetery, S. 233. 135 Wachstein: Die Inschriften, 2. Teil, S. 119. 136 Wachstein: Die Inschriften, 1. Teil, S. 38.
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gemeine Gelehrtheit mit seiner spezifisch religiösen sowie seiner spezifisch astronomischen Ausbildung. Ein kürzeres, aber noch stichhaltigeres Beispiel dieser Kombination von geistlicher und weltlicher Gelehrsamkeit ist die Grabinschrift des 1741 verstorbenen Jakob Jehuda Lema, Sohn des Mordechai Pressburg, in der es heißt: „Besorgnis um die Tora und der Weg der Erde waren sein Maßstab.“137 Dies ist eine ziemlich direkte Anspielung auf Kiddushin 40b: Wer bewandert ist in Bibel, Mishna und in weltlichen Bestrebungen (das heißt derech eretz, der „Weg der Erde“, wie etwa Industrie und Handel), der wird nicht schnell sündigen, denn in Kohelet 4,12 steht, dass eine dreifache Schnur nicht so schnell reißt. Doch wem es an Bibel, Mishna und weltlichen Bestrebungen fehlt, der gehört nicht zur Zivilisation.
Die oben zitierte Zeile, so indirekt sie sein mag, muss als Hinweis sowohl auf Jakobs religiöse wie weltliche Ausbildung und Kenntnisse verstanden werden, die hier, wie in der talmudischen Passage, auf die sie anspielt, in eine beachtliche Harmonie zusammengeführt werden. Diese kontrastierende aber dennoch harmonische Unterscheidung des geistlichen und weltlichen Lebens in der Wiener jüdischen Sepulkralepigraphik sollte in späteren Jahrhunderten verstärkt durch die Trennung in hebräische und deutsche Textteile zum Ausdruck kommen. Somit finden sich schon in der Seegasse embryonisch Themenkreise der Aufklärung und des Zeitalters der säkularen Wissenschaft vor. In den Inschriften aus der Seegasse finden sich tatsächlich auch vereinzelt Hinweise auf spezifische weltliche Ämter und Berufungen. Der 1605 verstorbene Moshe Maor Katan war laut seiner Grabinschrift beispielsweise nicht nur ein ordinierter Rabbiner, worauf der Standardtitel „unser Lehrer und Rabbiner“ schließen lässt, sondern auch „ein sachkundiger Arzt“ (rofeh uman).138 Eine besondere Entwicklung dieser Epochen war die Annahme von Protofamiliennamen auf der Basis von Herkunftsorten, also im Grunde Toponyme, und dies lange vor dem Namenspatent Kaisers Joseph II. aus dem Jahre 1787. Kartiert man die vielen topographischen Bezeichnungen in der Sepulkralepigraphik in der Seegasse, die mehr oder weniger als Teil des Namens fungierten und so zur Unterscheidung von Individuen mit oft sehr ähnlich klingenden Vornamen und Patronymen dienten, unterstreicht die daraus resultierende topographische Matrix die Entwurzelung der Judenheiten Zentraleuropas, die aufgrund ihrer ungesicherten Rechtslage und weitverzweigten Geschäftsverhältnissen oft zutiefst peripatetisch lebten. Zugleich aber unterstreicht es auf
137 Wachstein: Die Inschriften, 2. Teil, S. 266. 138 Wachstein: Die Inschriften, 1. Teil, S. 26.
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einer eher ephemeren Ebene genau das Gegenteil, nämlich eine tiefe, langwierige und multigenerationelle Verwurzelung dieser deutschsprachigen Jüdinnen und Juden im deutschsprachigen Zentraleuropa. Ein häufig auftretendes Beispiel ist der Name Linz. In der Grabinschrift des 1609 verstorbenen Josef Israel ben Gerson heißt es beispielsweise, er war „bekannt als Israel Linz“. Diese Unterscheidung eines innerjüdischen, religiösen Namens, meist in Form eines Patronyms (in diesem Fall Josef Israel, Sohn von Gerson), und eines säkularen, bürgerlichen Namens (in diesem Fall Israel Linz) kann als Vorläufer der später aufkommenden und heute noch gängigen Unterscheidung zwischen sogenannten „synagogalen“ und bürgerlichen Namen verstanden werden. In der Abbildung in Wachsteins Inschriften des heute wahrscheinlich nicht erhaltenen Grabsteins des Israel Linz ist ein Wappen samt Wolf zu sehen.139 Israel war nämlich verwandt mit der weitverzweigten Familie Auerbach, deren Namen gewiss auf einen von vielen Gemeinden namens Auerbach im oberdeutschen Raum zurückgeht. Dutzende Angehörige dieser Familie wurden in der Seegasse bestattet, auf deren Grabsteinen oft Wölfe abgebildet waren.140 Der Grabstein der Töchter Simeon Wolf Auerbachs, Gela and Jentl, beide 1620 wahrscheinlich an einer Epidemie verstorben, der unter zwei symbolischen Kränzen einen Wolf darstellt, ist heute noch im Friedhof erhalten. Dieses Auftreten von topographischen Protofamiliennamen ist also auch innig verbunden mit den weitläufigsten Formen der Grabsteinsymbolik dieser Ära, die ebenso embryonisch waren für die später auftretenden Familienwappen geadelter jüdischer Familien. Ein ähnliches Toponym, wo der Ortsname schon gewissermaßen in den Patronymen integriert ist, findet sich in der Grabinschrift des 1612 verstorbenen Kindes Shmuel Phöbus ben Abraham Ötting, den Wachstein auf das schwäbische Oettingen zurückführte.141 Solch spezifische Hinweise auf Ortschaften häuften sich vor allem im 18. Jahrhundert, zu der Zeit, wo die bittere Rechtslage der damaligen Wiener Judenheit ihnen eine ungewöhnlich starke Mobilität aufzwang, wo die Hinweise allerdings meist noch separat vom Namen, also als bloße individuelle Herkunftsangaben angeführt wurden. So finden sich Hinweise auf den 1724 verstorbenen Simcha ben Chaim „aus der heiligen Gemeinde Chmielnik“ in Polen, auf den 1747 verstorbenen Anshel ben Abraham „aus Pressburg“, oder auf den 1727 verstorbenen Koppel Saks ben Elchanan „aus der heiligen Gemeinde Schaff “, Šafov in Mähren, dessen Vater laut Inschrift „aus der heiligen Gemeinde Opatów“ in Polen stammte.142 Die 139 Wachstein: Die Inschriften, 1. Teil, S. 35. 140 So z. B. die Inschrift des 1613 verstorbenen Israel Isserl ben Moshe Shmuel Auerbach, Wachstein: Die Inschriften, 1. Teil, S. 52. 141 Wachstein: Die Inschriften, 1. Teil, S. 41, 173–175. 142 Wachstein: Die Inschriften, 2. Teil, S. 145, 328, 159.
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Verbindung von Patronymen und Toponymen ermöglichte sogar in solchen Fällen den Nachvollzug generationeller Wanderungen, so beispielsweise auch in der Grabinschrift des 1723 verstorbenen „Meir, Sohn des großen Rabbiners Sussmann von Krakau […] aus der heiligen Gemeinde Eibenschütz [Ivančice] im Land Mähren“.143 Der Ausdruck „aus der heiligen Gemeinde“ bezog sich auf die jeweilige jüdische Gemeinschaft und wurde abgekürzt als „mem-kuf-kuf “ (mekehila kadosha) angebracht. Wie schon bemerkt, veranschaulicht diese toponymische Matrix zugleich Ver- und Entwurzelung im vorwiegend deutschsprachigen Zentraleuropa – eine kollektive, generationenübergreifende Verwurzelung in diesen Städten und Ländern, die allerdings nicht über die Entwurzelung einzelner Jüdinnen und Juden und deren Familien, die abhängig waren von der Willkür der jeweiligen Staatsmächte, hinwegtäuschen kann. Dieser Kontrast tritt stark in der Grabinschrift des 1698 verstorbenen Shlomo Salman Vite ben Chaim „aus der heiligen Gemeinde Venedig“ hervor, der zugleich als „einer der meguroshim [Vertriebenen] von Österreich“ vorgeführt wird – ein vor allem für diese Ära faszinierender Verweis auf das Land Österreich anstelle des bei den Vertriebenen eher üblichen Verweises auf die Stadt Wien.144 In einem Beispiel von kulturellem Transfer sowie gleichzeitig der Annahme von Protofamiliennamen ist der italienisierte Name „Vite“ als direkte Übersetzung des hebräischen Vaternamens „Chaim“ (Leben) zu verstehen. Shlomo war also der Ausnahmefall eines 1670 aus Wien vertriebenen Juden, der später zurück in seine Heimatstadt immigrieren durfte und dort auch starb und zur Beerdigung gelangte. Dieser kurze Ausflug in die Namenskunde der Epigraphik in der Seegasse unterstreicht die Feststellung der Historikerin Martha Keil, dass viele der damaligen Wiener Jüdinnen und Juden erst in der ewigen Ruhe im Friedhof eine Art „Heimatbewußtsein“ fanden, die ihnen im Leben aufgrund „freiwilliger und erzwungener Mobilität“ zumeist verwehrt wurde.145 Vor frühestens dem 19. Jahrhundert waren Frauen grundsätzlich innerhalb der patriarchalischen Wiener jüdischen Gemeinschaftsstruktur, wie sonst in der europäischen Gesellschaft zu dieser Zeit, den Männern untergeordnet. Dies spiegelt sich eindrücklich im Erinnerungsdiskurs. So wurden die meisten Frauen nur in Bezug auf ihre Väter (bat, „Tochter von …“), Ehemänner (eshet, „Frau des …“) und manchmal sogar ihre männlichen Kinder genannt – im letzteren Fall beispielsweise die oben erwähnte Sara Pereyra, die „heilige Samen wie Moshe erzog“, ein Hinweis auf den synagogalen Namen ihres berühmten Sohns Diego d’Aguilar. Eine der häufigsten Epitaphien für jüdische Frauen in 143 Wachstein: Die Inschriften, 2. Teil, S. 123. 144 Wachstein: Die Inschriften, 2. Teil, S. 3. 145 Brugger et al.: Geschichte der Juden in Österreich, S. 93.
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der vormodernen hebräischen Sepulkralepigraphik war die Bezeichnung eshet chajil, entlehnt aus Sprüche 12,10 und 31,10, was auf Deutsch meist als „eine tüchtige Frau“ übersetzt wird.146 Obwohl sich das Eigenschaftswort chajil aus der gleichen Wurzel wie chajal (Soldat) ableitet und somit eher die Konnotation „Stärke“ besitzt, im Sinne „eine starke/mutige Frau“ (im englischsprachigen jüdisch-religiösen Diskurs findet man diesen Sinn nicht selten auch als „woman of valor“ überliefert), geht aus dem biblischen Kontext eine eher archaische und streng vorgeschriebene Vorstellung von der Rolle der Frau als Gattin und Mutter hervor. Vor allem wird hier eine „tüchtige Frau“ ihrem männlichen Gatten untergeordnet, wie aus Sprüche 31,23 hervorgeht: „Ihr Mann ist bekannt in den Toren, wenn er sitzt bei den Ältesten des Landes.“ So bezieht sich ein weiteres geläufiges Epitaph für jüdische Frauen aus dieser Zeit in gewandelter Form auf Sprüche 12,4: „Sie war eine Krone zu Haupten ihres Mannes.“147 Eigenschaftsworte, die zumeist auf Frauen angewandt wurden, waren haguna (ehrlich), chassida (fromm) und tzenua (bescheiden).148 Gängige Substantive waren tzedaka (Wohltätigkeit), sechut (Wert) und joshar (Integrität).149 Allerdings wurden Frauen, gerade wohlhabende Ehefrauen von prominenten Männern, auch eigenständig gepriesen, meist für ihre Philanthropie. Ein triftiges Beispiel dieses Zusammenspiels von Unterordnung und Eigenständigkeit ist der inzwischen restaurierte und in der Seegasse wieder aufgerichtete Marmorstein des David Horowitz und seiner Tochter Edel, beide 1637 verstorben. Während David charakteristischerweise als „der große Rabbiner David Gabbai, Sohn des großen Rabbiners Israel Horowitz“ genannt wird, führt die Inschrift Edel vor als „Tochter des Herrn David, seligen Andenkens, Frau des Jakob Katz“. David wurde also charakteristisch für seine Gelehrsamkeit sowie sein angeblich rabbinisches Wirken gepriesen, wie beispielweise aus den Hinweisen in der Inschrift zu 1. Samuel 4,22 (vergleiche dazu Ketubot 104a) und Moed Katan 28b hervorgeht, während Edel genannt wird als „größte unter den Töchtern bei der Verteilung von Gaben auf den vier Hörnern. Für die Armen und Bedürftigen war sie eine tüchtige Frau und überragte die stolzen Frauen. Ihr Ruhm kann nicht erzählt werden“.150 Der Verweis auf die vier Hörner stammt aus Swachim 52b und deutet auf die Opfergabe auf dem vierkantigen Altar im Jerusalemer 146 So z. B. die Inschrift der 1624 verstorbenen Radish bat Aharon, Wachstein: Die Inschriften, 1. Teil, S. 100 oder die bereits genannte Inschrift der Sara Pereyra. 147 So z. B. die bereits genannte Inschrift der Sara Hendl bat Awigdor. 148 So jeweils z. B. in den Inschriften der 1584 verstorbenen Riwka bat Shlomo, der 1585 verstorbenen Sara Ester bat Simeon und der 1705 verstorbenen Sandila bat Manoach, Wachstein: Die Inschriften, 1. Teil, S. 6, 8, und 2. Teil, S. 20. 149 So jeweils z. B. in den bereits genannten Inschriften von Sara Pereyra, Ester bat Akiba und Sara Hendl bat Awigdor. 150 Wachstein: Die Inschriften, 1. Teil, S. 175.
Grabsteine, Sepulkralepigraphik und Symbolik im Friedhof in der Seegasse
Tempel, ein Verweis auf weibliche Philanthropie, die Wachstein zufolge insgesamt nur in drei Inschriften in der Seegasse vorkam, alle aus den 1630er-Jahren, was also einen einzigen Verfasser vermuten lässt.151 Der Verweis auf die stolzen Frauen stammt aus Jesaja 32,9 und hebt Edel ab von der vermeintlich falschen Sorglosigkeit ihrer Zeitgenossinnen. Eine herausragende Inschrift ist in diesem Kontext die der 1746 verstorbenen Rachel Lewia bat Salman, von der es hieß: „und ihre Stimme wurde hoch oben gehört“, eine Umschreibung von Jeremia 31,15, die hier wohl auf den kaiserlichen Hof verweist, „und sie hat den Reichtum und die Seelen Israels gerettet durch ihre Fürsprache [beshtadlanuta]“.152 Somit wurde Rachel im Grunde als shtadlan gekennzeichnet, eine Rolle, die bisher nur Männern zugeschrieben worden war. Rachel gilt somit als eine Vorläuferin jener jüdischen Frauen, die ab dem frühen 19. Jahrhundert eine wesentliche gesellschaftliche Rolle in Wien spielen würden. Nichtsdestotrotz gilt sie bloß als eine Ausnahme, und das Gedenken an jüdische Frauen in Wien blieb bis in das 19. Jahrhundert allgemein ihren männlichen Angehörigen untergeordnet. Während die Grabsteine in der Seegasse bezüglich der bildlichen Darstellung vergleichsweise bescheiden waren, existierte dort nichtsdestotrotz ein symbolisches System, das sich auf die sprachliche Epigraphik bezog und sich auf vergleichbarer Weise zur zeitgenössischen christlichen Symbolik aus überwiegend jüdisch-religiösen Quellen herleitete. Die am häufigsten verbreitete Symbolik umfasst die betenden Hände der Kohanim, der biblischen Priester, die den brachat kohanim ausführen, die „priesterliche Segnung“ des Tempels (vgl. 2. Moses 28,1) und die auf den Grabsteinen von Menschen mit dem Namen Kohen oder dessen Ableitungen zu finden sind. Die Krone, die über den Händen auf einigen der Kohanim-Grabsteinen erscheint und die Tora symbolisiert, ist ein auffallendes Symbol in der Seegasse, das auf späteren Grabsteinen verschwand, obwohl die segnenden Hände weiterhin gebräuchlich waren.153 Auf ähnliche Weise wurde auf den Grabsteinen von Menschen mit dem Nachnamen Lewi oder seinen Ableitungen der Krug der Lewiten, der Hilfspriester (vgl. 4. Moses 18,2) angebracht, wodurch ihre Unterstützung der Kohanim, der Hohepriester im Tempel, symbolisiert wurde.154 Diese sind die fortwährendsten altertümlichen Symbole, die auf jüdischen Grabsteinen bis heute Verwendung finden und somit die unmittelbarsten Kennzeichen jüdischer Gräber auf der ganzen 151 Wachstein: Die Inschriften, 1. Teil, S. 495. 152 Wachstein: Die Inschriften, 2. Teil, S. 305. 153 So z. B. auf dem Grabstein des 1629 verstorbenen Moshe ben Shmuel Makshan Hakohen, Wachstein: Die Inschriften, 1. Teil, S. 115. 154 So z. B. auf dem Grabstein des 1754 verstorbenen Abraham ben Chaim Halewi Sinzheim, Wachstein: Die Inschriften, 2. Teil, S. 381.
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Welt darstellen. Dass Bernhard Wachstein tatsächlich jeden Fall anmerkte, wo die Symbolik der Kohanim oder Lewiten auf einem entsprechenden Grabstein fehlte, veranschaulicht, wie streng sie während dieser Zeit angewendet wurde.155 Der magen David (wörtlich „Schild Davids“, besser bekannt als Davidstern) war in dieser Zeit ausschließlich in Verbindung mit dem Vornamen David gebräuchlich. Dieser namentliche Bezug wurde auch in den Inschriften durch biblische Zitate unterstrichen. So hieß es zum Beispiel auf dem mit einem Davidstern versehenen Grabstein des oben erwähnten David Horowitz: „Ein Mann, genannt der Spross, sein Name ist David“, ein Hinweis auf Sacharja 6,12 und den kommenden Messias „aus dem Baumstumpf Isais“, den Vater des biblischen König David (Jesaja 11,1). Später und heute noch fand und findet der Davidstern als eindeutiges Symbol der „Jüdischkeit“ weite Verbreitung auf Grabsteinen, wie auch allgemeiner in Synagogen und jüdischen Institutionen, weiterhin sichtbar auf der Flagge des Staates Israel, obwohl er in der Antike selten, wenn überhaupt, angewendet wurde. Anders als bei der priesterlichen Symbolik können seine Ursprünge als durchaus säkular bezeichnet werden, insofern er von einem königlichen Abzeichen des alten Königreichs Israel stammt, durch welches damals der Vorname David angegeben wurde und also keine explizit religiösen Konnotationen beinhaltete. Dies kann verglichen werden mit dem Aufkommen und der Verbreitung von Tiersymbolik auf den Grabsteinen in der Seegasse, ein frühes Beispiel von Familienheraldik, wie sie später auf den Grabsteinen nobilitierter jüdischer Familien üblich wurde, und wie sie schon zu dieser Zeit auf christlichen Grabsteinen häufig aufzufinden war. Eine direkte Verbindung kann zwischen dem eingravierten Tier und dem Namen, wie zum Beispiel der Familie Lemml (Lamm), gezogen werden.156 Biblische Namen, die mit Tieren verbunden sind, wurden manchmal auch auf diese Weise dargestellt, wie Jehuda, symbolisiert als Löwe.157 Diese Symbolik, die in diesem Zeitraum allgemein mit Vornamen in Verbindung gebracht wurde, wurde durch Patronyme weitergeleitet und entwickelte sich später oft zu Nachnamen, wie im Falle des „rothen Schildes“. Der auffallende Krebs auf dem heute instand gesetzten Grabstein der Lea Oppenheimer verweist auf die Ursprünge der Familie in Oppenheim am Oberrhein, „für das die reichlich vorkommenden Flusskrebse im Mittelalter eine wichtige 155 So z. B. in Bezug auf die bereits genannten Grabsteine von Shalom ben Nissim und David Horowitz. 156 So z. B. auf dem Grabstein des 1616 verstorbenen Shmuel Phöbus ben Moshe Aharon Lemml, Wachstein: Die Inschriften, 1. Teil, S. 56. 157 So z. B. auf dem Grabstein des 1703 verstorbenen Jehuda Löb ben Bender Lippstadt, Wachstein: Die Inschriften, 2. Teil, S. 5. Zur Verbindung der Tiersymbolik und der embryonischen Nachnamen vgl. 1. Moses 49,9; 49,21 und 49,27.
Zum Vergleich: Die Grabsteine des Stephansfreithofs beim Stephansdom
Nahrungsquelle darstellten“ – insofern auffallend als Krebse in der Kashrut, den jüdisch-religiösen Speisegesetzen, als treif, also unkoscher, gelten.158 Die hier skizzierten Beispiele widersprechen sichtlich dem bis heute etablierten Stereotyp der vermeintlichen jüdischen Antipathie gegenüber oder gar eines Verbotes der bildlichen Symbolik. 3.4
Zum Vergleich: Die Grabsteine des Stephansfreithofs beim Stephansdom
Die fast ausschließlich religiöse Sprache und Inhalte der Grabinschriften in der Seegasse, die dem individuellen sowie dem gemeinschaftlichen Gedenken dienten und die die individuelle Stellung innerhalb der oft nur amorphen Wiener jüdischen Gemeinschaft zum Ausdruck brachten, bergen spannende Parallelen sowie starke Kontraste gegenüber der nur in selten Fällen erhaltenen christlichen Sepulkralepigraphik dieser Jahrhunderte. Die folgenden Beispiele stammen aus dem ehemaligen Stephansfreithof, eine Begräbnisstätte beim Stephansdom in der Inneren Stadt, der spätestens aus dem 13. Jahrhundert stammte, also zeitgleich mit dem zerstörten jüdischen Friedhof vor dem Kärntnertor und seine in den Mauernischen in der Seegasse erhaltenen Grabsteine.159 1732 wurden hier weitere Begräbnisse verboten, und der Friedhof wurde schließlich, wie alle weiteren Friedhöfe innerhalb des Linienwalls mit Ausnahme der Seegasse, 1783 komplett aufgelassen. Nur einige imposante Grabdenkmäler wurden an der Fassade des Stephansdoms angebracht. Sie sind somit bloß herausragende Beispiele besonders prominenter, wohlhabender Wiener BürgerInnen der Frühen Neuzeit, bilden insofern allerdings doch ein Pendant zum Friedhof in der Seegasse, der vielfach mit ebensolchen imposanten Grabsteinen hochangesehener Individuen protzte. Die Inschriften der Denkmäler am Stephansdom waren meist sowohl spezifisch wie grandios in ihren Hinweisen auf individuelle Ämter und Errungenschaften der katholischen Verstorbenen. Diese wurden oft, wie beispielsweise der 1539 verstorbene Achatzy Müllner (7. Grabstein rechts des Hauptportals), als „Bürger zu Wienn“ genannt, eine Bezeichnung, die sich die Wiener Jüdinnen und Juden erst Jahrhunderte später aneignen durften. Die langen Ketten von Ehrenbezeichnungen, die viele der prunkvollen jüdischen Grabsteine verzierten, fanden in der christlichen Epigraphik in gewisser Weise ihr Pendant,
158 Grüner Klub im Rathaus (Hg.): Jüdischer Friedhof Seegasse. Rundgang durch den ältesten erhaltenen jüdischen Friedhof Wiens, Wien 2006, S. 12. 159 Vgl. Pleyel, Peter: Friedhöfe in Wien vom Mittelalter bis heute, Wien 1999, S. 17, 73.
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so beispielsweise der bereits erwähnte „Erbar und Beschaiden Achatzy Müllner“ oder der auf dem gleichen Grabstein verewigte „Ersamb und Füernemb Wolff Bluemb“. Diese erschienen manchmal gleichermaßen tautologisch wie ihre jüdischen Gegenüber, so beispielsweise die Grabinschrift des 1567 tödlich verunglückten „Ernuesten und Erbarn Fridrich Schmides“, der „ihm zweiund zwanzigsten Jar seines Alters bei Klosternauburg den 6. tag Juny 1567. Jar mit einem ros in die Dhonau gefallen iemerlich ertruncken, den dritten tag her nach zu Stadlau ihm Wasser gefunden, und zu Kageran ihn der Kirche begraben worden“ (4. Grabstein links des Hauptportals) – man bemerke übrigens hier die Nennung der spezifischen Todesursache, aber auch das Nennen lediglich des Sterbedatums, wie in der jüdischen Epigraphik. Allerdings konnten diese Männer im Gegensatz zu ihren jüdischen Zeitgenossen auch in Bezug auf tatsächliche, weltliche Ämter und Berufungen genannt werden, welche nicht bloß als Ehrentitel fungierten. So war Wolff Bluemb in Wien „Burger und [Mitglied] des aussern Rats daselbst“, so wie der 1556 verstorbene Wolffganng Lindtner „Bürger und des aüsern Ratts allhie zu Wienn“ war (1. Grabstein rechts des Hauptportals). Sehr ausgefeilt ist indes die Inschrift des 1570 verstorbenen „Hochgelertn Herrn Iacoben Himlreich“, welcher „beder Rechten Doctor“ gewesen ist (also kirchliches und weltliches Recht – ähnlich der oben angeführten Unterscheidung der Wege der Tora und der Erde) sowie „Kaiiser Ferdinanden [Ferdinand I.] hochsaligster Gedachtnus gewesnem Rath und Statrichter auch Eltistem des Innern Statrats elhie zu Wienn“ (8. Grabstein rechts des Hauptportals). In der Inschrift des 1609 verstorbenen Georg Prugl wird ein äußerst spezifisches, weltliches Amt genannt: „Alda ligt begraben der edl unnd vest Herr Georg Prugl des inner Statt Raths unnd Superintendens des Burgerspitals welcher den 28. Iulii anno 1609 im 64 Iar seines Alters in Gott Selikhlich verschiden Ist“ (5. Grabstein rechts des Hauptportals). Diese Beispiele führen deutlich die Verwurzelung der christlichen, ab dem 17. Jahrhundert hauptsächlich katholischen BürgerInnen (zumeist jedoch Männer) Wiens in der Gesellschaft und der Verwaltung der Stadt vor. Im Gegensatz dazu musste die Wiener jüdische Bevölkerung zwangsläufig einen Gemeinschaftssinn durch einen nach Innen gerichteten Blick konstituieren, gegründet in ihrer individuellen Stellung unter ihresgleichen sowie durch Errungenschaften wie Gelehrsamkeit und Wohltätigkeit. Dieser Gemeinschaftssinn wurde nicht nur direkt durch Eheschließungen und Verwandtschaften untermauert, sondern darüber hinaus in der positiven Identifizierung mit dem Judentum als Glaubensgemeinschaft sowie im negativen Sinn als Schicksalsgemeinschaft, welche des Schutzes ihrer einflussreichsten Mitglieder zum Überleben bedurfte, im Kontext einer meist feindlich gesinnten christlich/katholischen Mehrheitsgesellschaft. Die Werte der wandelbaren Judenheiten dieser Zeit waren offenbar das Festhalten an der jüdischen Religion sowie Gelehrsamkeit und Wohltätigkeit,
Zum Vergleich: Die Grabsteine des Stephansfreithofs beim Stephansdom
was die Verbundenheit zur eigenen jüdischen Gemeinschaft in Ermangelung von Verbindungen zur äußeren Gesellschaft verstärkte. Die christliche/katholische Epigraphik dieser Zeit zeigte aber auch durchaus viele Parallelen zur jüdischen auf, von denen ein paar schon genannt wurden. So wurden des Öfteren in den christlichen Grabinschriften biblische Zitate vorgeführt, freilich meist aus dem Neuen Testament, so beispielsweise aus Johannes 11,25 auf dem Grabstein des Wolffganng Lindtner oder aus Offenbarung 14,13 auf dem Grabstein des Fridrich Schmid: „Beati Mortui Qui in Domino Moriuntur“ (Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben). Im Gebrauch des Lateinischen in diesem letzteren Fall (siehe diesbezüglich auch den Grabstein des Georg Prugl) findet sich zudem ein katholisches Pendant zum Gebrauch des Hebräischen unter den mit aller Wahrscheinlichkeit vorwiegend nicht hebräischsprechenden Jüdinnen und Juden dieser Zeit. Überhaupt gründet sich in der christlichen Sepulkralepigraphik der Sinn einer christlichen Glaubensgemeinschaft, die als religiösen Zugehörigkeitsbezug durchaus mit dem der jüdischen Epigraphik vergleichbar ist. So heißt es beispielsweise auf dem Grabstein des Ernuest Sewastian Khobler (Sterbedatum unbekannt, 4. Grabstein rechts des Hauptportals): „der sel Gott genedig sey und mit Allen Christ glaubigen sellin ein freliche Aufrstehung Verleyhen“. Auf dem Grabstein des Wolffganng Lindtner und seiner 1561 verstorbenen Frau Juliana Lindtnerin heißt es ähnlich: „der allmechtig Barmherzig Gott wille inen und uns allen Cristglaübigen verleirhen ein selige und freliche Auferstehung“. Somit wird wiederholt in fast allen erhaltenen Beispielen auf die Zugehörigkeit zu der Gemeinschaft „allen Cristgläubigen“ verwiesen, während das individuelle Gedenken stets in biblischen Zitaten und Gottesloben verankert wird, genauso wie die jüdische Glaubensgemeinschaft und das jüdische Schrifttum stets in den Grabsteinen in der Seegasse evoziert wurden. Ausgeprägt zeigen diese erhaltenen Beispiele die reichliche Symbolik der christlichen Bestattungskultur dieser Epoche, so etwa in Darstellungen biblischer Szenen, in denen Christus und die Kreuzigung oft eingebunden wurden, so zum Beispiel auf den Grabsteinen von Achatzy Müllner und Fridrich Schmid. Engel kamen auch oft zur Darstellung, wie auf dem Grabstein von Georg Prugl. Weitere Parallelen finden sich in den christlich/katholischen Grabinschriften in Bezug auf das Gedenken an Frauen. So war die 1561 verstorbene Juliana Lindtnerin „die Tugenhaft Frau“ Wolffganng Lindtners, nicht unähnlich der eshet chajil aus Sprüche 31,10, der man so häufig in der Seegasse begegnet – man bemerke hier auch die auffallende Verweiblichung des Nachnamens als „Lindtnerin“. Erkennbar ist hier somit auch das allmähliche Heranwachsen an Familiennamen, wird so beispielsweise die 1573 jung verstorbene Walburch, Frau des Georg Prugl, als „eingeborne Öberlin“ genannt; „sein andere Hausfrau“ Barbara (Sterbedatum unbekannt), mit der er laut Inschrift „13 Khinder“
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in die Welt brachte, war eine „eingeborne Puefingin“. Mit Hinblick auf die Wertstellung von Ämtern und Titeln unter den christlichen Männern dieser Zeit, die untergeordnete Rolle ihrer „tüchtigen“ Frauen und die alles umfassende metaphysische sowie gesellschaftliche Bedeutung des Glaubens scheint wahrlich nicht vieles die christliche von der jüdischen Sepulkralepigraphik zu unterscheiden. Unterschiedlich waren also nicht unbedingt Wertvorstellungen oder Weltanschauungen, sondern Rechtsstand und Lebensumstände sowie die Möglichkeit, im Leben auf bestimmte Ämter und eine gesicherte Stellung in der Gesellschaft zu gelangen. 3.5
Schlussbemerkungen
Der Friedhof in der Seegasse entstand über mehrere Jahrhunderte und reflektiert die sukzessiven Judenheiten, die den Großteil ihrer Existenz in der Stadt Wien unter den ärgsten Formen der rechtlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ausgrenzung sowie unter wiederholten Verfolgungen leiden mussten. Indes gelang es manchen, sich als Stützen der jüdischen Gemeinschaft zu etablieren, manchmal sogar mit genug Einfluss am Hof, um die Politik gegenüber ihren GlaubensgenossInnen positiv beeinflussen zu können. Der Friedhof als geschlossener Raum mit seinen hebräisch-religiösen Denkmälern und ihrer Berufung auf die Zugehörigkeit zu einer Glaubens- und Schicksalsgemeinschaft und auf ein Leben jenseits des irdischen Jammertals, repräsentiert somit das segregierte Leben, welches die Judenheiten Zentraleuropas, zumindest laut der gängigen Geschichtsschreibung, durch die langen Jahrhunderte der Vormoderne lebten. Diese Segregation war das Ergebnis der religiösen Klüfte dieser Zeit, die zum Teil von innen heraus kultiviert, jedoch größtenteils von außen über die Judenheiten verhängt wurden. Diese Widerfahrnis wurde allerdings auch mehr oder weniger von den anderen religiösen Minderheiten in den damaligen Ländern unter der Herrschaft der Habsburger geteilt. Somit wäre es kurzsichtig, die Geschichte der Wiener jüdischen Bevölkerung vom breiteren Kontext beispielsweise der Gegenreformation abzusondern, in dem die Unterdrückung und Verfolgung der Jüdinnen und Juden nur einer von verschiedenen Aspekten war. Vielmehr zeugt diese Ära österreichischer und europäischer Geschichte von einer zutiefst multilateralen religiösen Intoleranz und einer ausgefallenen religionsfanatischen Gewalttätigkeit. Dennoch zeugt gerade die tiefe Investition über Generationen hinweg, die Existenz dieses „Hauses der Ewigkeit“ sicherzustellen, wo die „Grabstätte der Väter“ lagen, gleichzeitig von der profunden Verwurzelung der Wiener jüdischen Bevölkerung in der Topographie und der Geschichte der Stadt, trotz allen existenziellen Unbeständigkeiten. Die intertextuell miteinander verwandten
Schlussbemerkungen
Grabinschriften evozieren kontinuierlich einen Gemeinschaftssinn unter sukzessiven Generationen der in Wien lebenden Jüdinnen und Juden, auch in den Zeiten bitterster Not. Das Evozieren religiös-gemeinschaftlicher Zugehörigkeit in der Sepulkralepigraphik ist dabei nicht zufällig, sondern intim mit der gesellschaftlichen Segregation infolge der religiösen Hierarchisierung verbunden und kontrastiert pointiert mit den Evozierungen in der christlichen Sepulkralepigraphik der Gemeinschaft von „allen Cristgläubigen“. In der Tat weisen die jeweiligen epigraphischen Traditionen der Wiener jüdischen bzw. christlichen Gemeinschaften auf eine auffällige Parallelität hin, die sich lange vor der Aufklärung und der Emanzipation und der daraus resultierenden Fragmentierung sozialer Schranken im 19. Jahrhundert erstreckt. Diese strengen Schranken, die in den getrennten Bestattungsräumen zur räumlichen Analogie gelangten und von der hebräischen Epigraphik mit ihren mannigfaltigen Hinweisen auf das jüdische Schrifttum unterstrichen wurden, erklären somit das damit einhergehende Bedürfnis, Anerkennung in den einzigen Bereichen zu bekunden, die den Jüdinnen und Juden dieser Epochen offen lagen: Gelehrsamkeit und Philanthropie, jedoch auffällig weniger im Handel. Insofern erklärt sich aus diesen gesellschaftlichen Trennungen unter der Unterdrückung und Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung auch der starke Drang, der so eloquent in den Grabinschriften zum Ausdruck kommt, nach einem Gemeinschaftsgefühl, selbst in den Zeiten, wo von einer eigentlichen jüdischen „Gemeinde“ noch lange nicht – oder eben nicht mehr – die Rede sein konnte. Im frühen 20. Jahrhundert, vor seiner weitgehenden Vernichtung aus dem Stadtbild während der Shoah, erstreckte sich das erhaltene Areal des jüdischen Friedhofs in der Seegasse über etwa 2.200 Quadratmeter und umfasste knapp 1.000 komplett erhaltene Grabsteine.160 Dieser alte Friedhof wies vielerlei Parallelen zu seinem berühmteren Zeitgenossen in Prag auf, der heute als „alter jüdischer Friedhof “ bekannte Bestattungsraum im Stadtteil Josefov: Auch dieser „alte“ Friedhof war in Wirklichkeit Nachfolger eines älteren, nicht erhaltenen Friedhofs, von dem einige Grabsteine bei Bauarbeiten im 19. Jahrhundert aufgefunden und in Mauernischen im neuen „alten“ Friedhof befestigt wurden. Auch der „alte“ Friedhof in Prag wurde zutiefst von Renaissance und Barock beeinflusst, wie seine imponierenden, mit hebräischer Kalligrafie verzierten Grabdenkmäler bekunden, und auch dieser Friedhof wurde infolge der Josephinischen Friedhofsreformen geschlossen – der ganze Stadtteil trägt seitdem den Namen des in Wien ansässigen Kaisers.161 Allerdings blieb dieser Friedhof gut erhalten und bildet heute sowohl eine berühmte Sehenswürdigkeit Prags 160 O. T., 23. November 1939, AIKGW, A/VIE/IKG/I-II/FH/1/1. 161 Vgl. zu dessen Geschichte Sadek, Vladimír/Šedinová, Jiřina: The Old Jewish Cemetery and the Klausen Synagogue, Prag 1989, insb. S. 3–9.
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wie ein allseits geschätztes historisches Kulturdenkmal. Der Friedhof in der Seegasse genoss zwar früher, bereits ab dem späten 19. Jahrhundert, eine ähnliche wissenschaftliche und populär-kulturelle Aufmerksamkeit. Diese mündete allerdings schließlich in das Interesse von antisemitischen Anthropologen und Stadtplanern unter dem Nationalsozialismus, was zur fast vollkommenen Vernichtung dieses einzigartigen Wiener Kulturdenkmals führte.
4.
„Toleranz“ und Etablierung der Gemeinde. Der Friedhof in Währing von der Epoche der Reform bis zur liberalen Ära
Bereits ab dem 16. Jahrhundert wurden in Wien immer wieder Bestattungsareale innerhalb der Stadtmauer aufgrund von „Geruchsbelästigung und Seuchengefahr“ geschlossen. Doch eine umfassende medizinische Verbindung zwischen der Leichenbestattung und der Seuchengefahr wurde erst im Laufe des 18. Jahrhunderts festgestellt.1 Die ersten kategorischen Regelungen, welche die Leichenbestattung innerhalb von Wohngebieten unterbanden, erfolgten in Frankreich in den 1770er-Jahren.2 In Österreich dekretierte am 7. Februar 1782 dann auch der reformfreudige Kaiser Joseph II., es dürften fortan keine Beerdigungen „in den Kirchengrüften in Wien, noch vor der Stadt“ erfolgen, sprich in den damals noch nicht eingemeindeten Vorstädten innerhalb des „Linienwalls“, der äußeren Befestigungsmauer Wiens. Im folgenden Jahr befahl der Kaiser dann auch die Errichtung neuer Friedhöfe „in entfernteren abseitigen Orten“ außerhalb des Linienwalls.3 Insgesamt wurden zu dieser Zeit neunzehn alte Friedhöfe innerhalb des Linienwalls aufgelassen, die zum Teil überbaut (so beispielsweise der Bürgerspital-Gottesacker im 4. Wiener Gemeindebezirk, wo sich heute das Hauptgebäude der Technischen Universität befindet) und zum Teil in öffentliche Plätze umgewandelt wurden (so beispielsweise der Nikolaifriedhof im 3. Bezirk, wo sich heute der Rochusmarkt befindet).4 In den äußersten Wiener Vororten wurden in der Folge fünf neue, später als „Kommunalfriedhöfe“ bezeichnete Bestattungsareale gegründet, wovon wiederum heute nur mehr der St. Marxer Friedhof auf der Landstraße erhalten ist. Während diese Kommunalfriedhöfe allerdings vorerst nur für KatholikInnen vorgesehen waren, wurden Wiens NichtkatholikInnen nicht außer Acht gelassen. So erhielten die „Türken“ (die muslimische Bevölkerung) und die „Griechen“ (die christlich-orthodoxe Bevölkerung) jeweils neue Bestattungsräume außerhalb des Linienwalls, am Matzleinsdorfer Friedhof bzw. am St. Marxer Friedhof angrenzend.5 Die evangelische Bevölkerung, die bisher am Mariazeller Gottesacker vor dem Schottentor begraben wurde, ließ sich noch einige Jahrzehnte weiterhin in abgesonderten Abteilungen der katholischen Kommunalfriedhöfe beerdigen, ehe es in den 1850er-Jahren zur Errichtung 1 2 3 4 5
Pleyel: Friedhöfe, S. 16. Vgl. Ariès: Geschichte des Todes, S. 608–631. Zit. nach Mikoletzky, Hanns Leo: Österreich. Das große 18. Jahrhundert, Wien 1967, S. 351. Vgl. Ackerl/Bouchal/Schödl: Der schöne Tod in Wien, S. 36. O. V.: Sammlung der Gesetze für das Erzherzogthum Oesterreich unter der Ens. Zwanzigster Theil, 1838, Wien 1840, S. 468.
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„Toleranz“ und Etablierung der Gemeinde
eines eigenständigen evangelischen Friedhofs am Matzleinsdorfer Platz kam. Die Wiener jüdische Bevölkerung, deren jahrhundertealter Friedhof in der Seegasse infolge der Josephinischen Reformen zwar weiterhin erhalten blieb, allerdings für neue Beerdigungen nun auch geschlossen war, erhielt schließlich einen neuen Bestattungsraum zugewiesen, der sich dem neuen Kommunalfriedhof am Rande der Ortschaft Währing anschloss, in unmittelbarer Nähe zur Nussdorfer Linie des Linienwalls. Joseph beließ seine Friedhofsreformen nicht bloß bei der Verlegung der Begräbnisstätten außerhalb der Wohngebiete. Der Kaiser verordnete weiter, es dürften fortan auch Andersgläubige in katholischen Friedhöfen beerdigt werden – ein Präzedenzfall für die spätere Entwicklung der Wiener Sepulkralkultur was überkonfessionelle Bestattungsräume betrifft.6 1784 dekretierte der aufgeklärte Absolutist schließlich, dass alle Toten gleich seien und dass ihnen dieselbe Beerdigung zustünde, nicht zuletzt aus pragmatischen Gründen. Fortan sollten alle Leichen in einem wieder verwendbaren Sarg zu den außerhalb der Städte gelegenen Friedhöfen verbracht, in einen Leinensack eingenäht in ein Massengrab geworfen und mit Kalk als Mittel zur schnellen Verwesung überschüttet werden.7 Diese Prozedere wurde detailgetreu anhand eines der sagenumwobensten Bestattungen in der Sepulkralgeschichte Wiens, der von Wolfgang Amadeus Mozart im Dezember 1791 am St. Marxer Friedhof, im Film Amadeus (1984) nachgestellt. Die angeblich unwürdige Bestattung seiner sterblichen Überreste in einer Schachtgrube führte seinerzeit zur hartnäckigen Fabel, Mozart sei verarmt verstorben und in einem Armengrab begraben worden. Tatsächlich erhielt er aber ein damals gewöhnliches allgemeines Begräbnis. Ein erheblicher Anteil der heute noch erhalten Fläche des St. Marxer Friedhofs besteht aus solchen zumeist ungekennzeichneten „Schachtgräbern“. Die Darstellung im Film von Mozarts Bestattung nach den Josephinischen Vorschriften dürfte allerdings eine Fabel sein: Josephs Friedhofsreformen stießen nämlich rasch auf vehemente Opposition seitens der Wiener Bevölkerung und es folgte „ein wütender Proteststurm“. Dies veranlasste den Kaiser schon im Folgejahr, also 1785, zu deren Aufhebung, und er soll missfallend bemerkt haben: Da ich sehe und täglich erfahre […], daß die Begriffe der Lebendigen leider! noch so materiel sind, daß sie einen unendlichen Preis darauf setzen, daß ihre Körper nach dem Tode langsamer faulen und länger ein stinkendes Aas bleiben: so ist mir wenig daran gelegen, wie sich die Leute wollen begraben lassen.8 6 Berger, Günther: Spuren der Vergänglichkeit. Aufgelassene und verschwundene Friedhöfe in Wien, Wien 1989, S. 4. 7 Mikoletzky: Österreich, S. 351. 8 Zit. nach Veigl: Morbides Wien, S. 142.
„Toleranz“ und Etablierung der Gemeinde
Josephs Leichnam selbst liegt in der Wiener Kapuzinergruft, seinen eigenen Vorstellungen getreu in einem auffällig einfachen Kupfersarg, auffallend vor allem im Vergleich zu den ihn umgebenden prunkvollen, morbid barocken Sarkophagen der restlichen Habsburger, allen voran der kolossale Doppelsarkophag seiner Eltern Maria Theresia und Franz Stephan. Inwieweit seine Bestattungsreformen auch der Wiener jüdischen Bevölkerung auferlegt wurden, ist nicht eindeutig dokumentiert. Es ist aber davon auszugehen, dass die jüdischen Begräbnisse am Währinger Friedhof weiterhin eigenständig von der Chewra Kadisha durchgeführt wurden, die bereits 1763 gegründet worden war. Allerdings machten sich in dieser Zeit weitere Verordnungen bemerkbar, die auch das Bestattungswesen der Wiener Judenheit betrafen. Infolge der Beerdigung eines Scheintoten dekretierte die niederösterreichische Landesregierung am 17. April 1787, „Juden dürf[t]en ihre Toten erst 48 Stunden nach erfolgtem Ableben begraben“. Bei Zuwiderhandlungen drohte eine Geldstrafe.9 Allgemein wurde Wien im 19. Jahrhundert zum Schauplatz bizarrer Erfindungen im Bereich der Leichenbestattung, nicht zuletzt als Strategien, um dem damals europaweit fast pathologisch befürchteten Scheintod auf die eine oder andere Art entgegenzutreten.10 Neben dem hier bereits in früheren Kapiteln diskutierten „Herzstich“, der in vielen Testamenten dieser Zeit verlangt wurde, wäre etwa der „Rettungswecker“ zu erwähnen, der mittels einer Schnur an den Händen der Verstorbenen befestigt werden sollte, damit Scheintote den Friedhofswärter verständigen konnten, sollten sie wieder erwachen – ein solcher Wecker befand sich beispielsweise am Währinger Ortsfriedhof (nicht zu verwechseln mit dem oben erwähnten Währinger Kommunalfriedhof).11 Skurrile Erfindungen beiseite, führte die auch anderswo in Europa zur Bekämpfung der Beerdigung von Scheintoten eingeführte Minimalwartefrist von 48 Stunden nach Todeseintritt in vielen jüdischen Gemeinden zu ersten Konflikten zwischen Anhängern von „Reform“ bzw. „Tradition“ in der Sepulkralkultur, da die Vertreter der letzteren in diesen Verordnungen eine Verletzung der met mitzwa, des Gebotes der schnellen Bestattung empfanden.12 Dies ist ein paradigmatisches Beispiel für den Aufbruch in die Moderne, der von den Reformen der Aufklärung ausgelöst wurde, und für die daraus erfolgenden Entwicklungen sowie Konflikte, welche sich nicht zuletzt in der Sepulkralkultur niederschlugen. Das Jahrhundert nach der Aufklärung – grob das Jahrhundert, in dem der Währinger jüdische Friedhof entstand – war 9 Dekret der N. Ö. Regierung, 17. April 1787, in: Přibram: Urkunden und Akten zur Geschichte der Juden in Wien, Bd. 1, S. 582. 10 Vgl. allgemein Laqueur: The Work of the Dead, S. 506–510. 11 Vgl. Pleyel: Friedhöfe, S. 13–14. 12 Vgl. Katz: Aus dem Ghetto in die bürgerliche Gesellschaft, S. 161.
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geprägt von rasanten und turbulenten Veränderungen in der Struktur der europäischen Gesellschaft, woraus sich schließlich eine neue Massengesellschaft ergab, die sich nach Kriterien wie Klasse, Geschlecht, Bildung und Berufsstand neu organisierte. In dieser Epoche pluralisierte sich die streng nach religiösen und ständischen Hierarchien organisierte Gesellschaft der Frühen Neuzeit, die Schranken zwischen gesellschaftlichen Gruppierungen verschwammen, und es herrschte europaweit ein reges Streben nach politischer, gesetzlicher und sozialer Reform und Emanzipation. Die jüdischen Erfahrungen dieser Zeit bilden einen spezifischen aber nicht exklusiven Aspekt dieses verallgemeinert bezeichneten Modernisierungsprozesses, der innerhalb der europäischen Judenheiten vor allem durch die allmähliche Öffnung des Weges in die säkulare Bildung und der weltlichen Berufszweige charakterisiert war. Das Ergebnis war eine sich ausdehnende Konstellation an Netzwerken zwischen den zunehmend schwer definierbaren „jüdischen“ und „nichtjüdischen“ Gesellschaftssphären, die eine zunehmende gesellschaftliche Interaktion und damit einhergehend eine zunehmend intersektionale Verflechtung von Kulturen und Identifikationsmustern mit sich zog. Diesen Entwicklungen nichtsdestotrotz dauerte die Wahrnehmung der „Jüdischkeit“ als getrennte gesellschaftliche Kategorie unter Jüdinnen und Juden wie unter Nichtjüdinnen und -juden fort, allerdings unter ständiger Neukonzeptualisierung. Dies führte zur andauernden Entwicklung neuer, als „jüdisch“ verstandener Gesellschaftskreise und Milieus sowie zu fortdauernden Konflikten rund um das „wahre“ Judentum einerseits sowie der Zugehörigkeit jüdischer Individuen und Kollektiven zur allgemeinen Gesellschaft andererseits. Die Ära der Emanzipation und des in der Folge aufkommenden liberalen Bürgertums, welche einherging mit der Umdeutung des Stellenwerts der Religion im Alltags- und Gesellschaftsleben, bewirkte nicht zuletzt auch eine Umdeutung des gesellschaftlichen Stellenwerts des Todes, des Gedenkens und damit der urbanen Begräbnisstätten. In Wien sowie europaweit erfolgte schichten- und konfessionsübergreifend der Wandel hin zu den großen Vorstadtnekropolen. Der Tod schied wieder aus den Räumen der Lebenden aus, wurde in den neuen, kolossalen und geplanten Gedenkräumen ausgelagert, wo eine jede Familie sich in monumentalen Denkmälern verewigen ließ.13 Diese allmähliche Verwandlung des Friedhofs des modernen Zeitalters hin zur Nekropole, als Pendant zur Metropole der Lebenden und als monumentaler gemeinschaftlicher Gedenkort, offenbart sich auch in der Bezeichnung des Historikers Gerson Wolf des Währinger jüdischen Friedhof als „Todtenstadt“.14 Nichtsdestotrotz, wie es
13 Vgl. Ackerl/Bouchal/Schödl: Der schöne Tod, insb. S. 23. 14 Wolf: Geschichte der Juden in Wien, S. 197.
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der Schriftsteller Hans Veigl mit Hinblick auf die allgemeine Sepulkralkultur in Wien festhielt: „Der Tod im bürgerlichen Zeitalter wurde zwar gezähmt, separiert und ausgebürgert, seine Präsentation erfolgte jedoch in aller Öffentlichkeit“. Diese Präsentation, welche treu die gesellschaftlichen Realitäten der damaligen Zeit auch am Friedhof reproduzierte, zeigte sich vor allem in der Entwicklung „der mit hohler Symbolik geschmückten Familiengruft, die noch über das Grab hinaus Leben und Sterben nach Klassen als einzig eigenständige kulturelle Errungenschaft dieser liberalen Gesellschaft zu feiern wusste“.15 Die erste Bestattung am neuen jüdischen Friedhof in Währing erfolgte 1784, und dieser Friedhof sollte der einzige Bestattungsraum der Wiener jüdischen Bevölkerung bis zur Eröffnung der ersten „israelitischen“ Abteilung beim I. Tor des Zentralfriedhofs 1879 bleiben. Einzelne Beisetzungen erfolgten noch in den Jahren danach, doch der Währinger Friedhof wurde schon bald darauf zur Gänze stillgelegt. Der Architekt und späteres Vorstandsmitglied der Kultusgemeinde Wilhelm Stiassny fertigte in den 1870er-Jahren, kurz vor dessen Schließung, einen detaillierten Plan des Währinger Friedhofs an, der allerdings seitdem im Archiv der Kultusgemeinde als verschollen gilt. Während der Inventarisierung der Grabsteine in den 1900er-Jahren wurden ca. 10.000 erhaltene Steine katalogisiert und ihre Inschriften abgeschrieben, die heute im Jerusalemer Bestand des Archivs aufbewahrt sind. Es dürften insgesamt bis zu 30.000 Menschen hier bestattet worden sein. In einem Gräberprotokoll, das im Zuge von Sanierungsarbeiten seitens der Kultusgemeinde im frühen 20. Jahrhundert anhand der erhaltenen Grabinschriften erstellt wurde, konnten für den gesamten Zeitraum von 1784 bis 1884 allerdings bloß 8.694 Verstorbene verzeichnet werden.16 Heute sind infolge der Zerstörungen der NS- und Nachkriegszeit nur mehr etwa 7.000 Grabsteine am Friedhof erhalten, die weiterhin zusehends der Verwitterung und dem endgültigen Verfall ausgesetzt sind.17 Vor den schwerwiegenden Schändungen des Friedhofs während der Shoah bildete er ein komplexes Soziogramm der Wiener jüdischen Bevölkerung im Jahrhundert zwischen Aufklärung und Liberalismus. Die sukzessive Emanzipation, die schließlich zur vollkommenen Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit für die Judenheiten im Habsburgerreich führte, und das daraus folgende, rasante Wachstum und die damit einhergehende Pluralisierung der Wiener jüdischen Bevölkerung sind wie kaum an anderer Stelle ausgiebig in den erhaltenen Grabsteinen bzw. -inschriften dieses Friedhofs individuell dokumentiert,
15 Veigl: Morbides Wien, S. 163–164. 16 Gräberprotokoll Währing 1784–1884, 3 Bde., Central Archives for the History of the Jewish People (CAHJP), AU/1741. 17 Vgl. Walzer: Jüdische Friedhöfe in Europa und den europäischen Ländern, S. 64.
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dessen Geschichte bereits in einigen Werken aufgearbeitet wurde.18 Diese Werke fokussierten allerdings vorwiegend auf seine Enteignung und Zerstörung sowie die langwierigen Prozesse rundum seine Restitution und Erhaltung in der Nachkriegszeit. Seine tausenden Grabdenkmäler samt ihren einzigartigen Inschriften wurden bisher nicht analysiert.19 Neben den Abschriften des frühen 20. Jahrhunderts, die nur im Archiv zugänglich sind, wurden bisher nur 63, fast ausschließlich hebräischsprachige Inschriften aus den Jahren 1784 bis 1799 durch den Historiker Max Grunwald transkribiert und veröffentlicht, die somit für die Analyse der Sepulkralepigraphik dieser einschneidenden Ära eine wertvolle Quelle bilden.20 In diesem Kapitel wird die Entstehung des Währinger Friedhofs als moderner Friedhof und als gemeinschaftlicher Gedenkort analysiert. Die Grabinschriften weisen schon von den frühesten Jahren an eine Diversifizierung von Sprache und Inhalt auf, die sich allem voran im Aufkommen der deutschsprachigen Epigraphik niederschlug. Dieser sich wandelnde Kodex der Sepulkralepigraphik veranschaulicht die zunehmende Trennung religiöser und bürgerlich-profaner Lebensbereiche infolge der zunehmenden Verwurzelung der Wiener Judenheit in der mehrheitlich nichtjüdischen Gesellschaft. Emanzipation, Verbürgerlichung sowie der allmähliche Rückzug von Religiosität oder anderer Ausdrucksformen der „Jüdischkeit“ in einer abgesonderten, zunehmend privaten Sphäre standen in direktem Kontrast zur zunehmenden Institutionalisierung und gesellschaftlichen Sichtbarkeit einer selbstsicheren jüdischen Gemeindeorganisation, der Israelitischen Kultusgemeinde. Am Anfang all dieser Entwicklungen standen die Reformen Josephs II.
18 Zu erwähnen wären Keil, Martha (Hg.): Von Baronen und Branntweinern. Ein jüdischer Friedhof erzählt, Wien 2007; Bauer, Eva Maria/Niemann, Fritz (Hg.): Währinger jüdischer Friedhof. Vom Vergessen überwachsen, Wien 2008; Walzer, Tina/Studemund-Halévy, Michael/Weinland, Almut: Orte der Erinnerung. Die jüdischen Friedhöfe Hamburg-Altona und Wien-Währing, Hamburg 2010 und Walzer: Der jüdische Friedhof Währing in Wien. 19 Eine einzige Ausnahme bildet die kurze vergleichende Analyse zweier Grabsteininschriften in Keil, Martha: „... enterdigt aus dem jüdischen Friedhof “. Der jüdische Friedhof in WienWähring während des Nationalsozialismus, in: Fischer, Karl/Gigler, Christine (Hg.): Studien zur Wiener Geschichte. Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien, Bd. 61, Wien 2005, S. 9. 20 Grunwald: Grabschriften. Die Abschriften aus dem frühen 20. Jahrhundert sind erhalten in AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/3, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
Von der Toleranz zur Emanzipation
4.1
Von der Toleranz zur Emanzipation. Die langwierige Etablierung der Israelitischen Kultusgemeinde Wien
Die jüdische Bevölkerung Wiens hatte besonders unter der Herrschaft Maria Theresias und ihrer fanatischen Religionspolitik gelitten. Infolge dieser wohnten am Vorabend der Erlassung des Toleranzpatentes von Kaiser Joseph II. 1781 lediglich 550 Menschen jüdischen Glaubens in der habsburgischen Hauptund Residenzstadt. Der damaligen Hofkammer, der zentralen Finanzbehörde, zufolge waren diese mit Ausnahme der Familien Arnstein, Eskeles und Leidesdorfer „nur verarmte Juden“.21 Der Anstoß zu einer umfassenden Klärung der Rechtslage der diversen Judenheiten sowie anderer konfessioneller Minderheiten unter der Herrschaft der Habsburger ging angesichts dieser unbedeutend kleinen Bevölkerungsgruppe also keineswegs von Wien aus: Der Verlust Schlesiens an Preußen und zugleich die Akquisition Galiziens und der Bukowina in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatten zum Ende einer deutschsprachigen Mehrheit in den habsburgischen Ländern und somit zu einer geographischen, kulturellen und demographischen Umwälzung geführt. Fortan war „Österreich“ auch im Selbstverständnis seiner Herrscher ein Vielvölkerstaat, ein multikulturelles Geflecht, welches auch einen massiven Anstieg seiner jüdischen Bevölkerung erfahren hatte und alleine deswegen schon zutiefst reformbedürftig wurde.22 Vor diesem Hintergrund sind die verschiedenen Toleranzpatente Joseph II. zu verstehen, die zu Beginn auch keineswegs auf die jüdische Bevölkerung abzielten, sondern vorerst nur die nichtkatholische christliche Bevölkerung betrafen. Erst danach erweiterte Joseph II. das Prinzip der „Toleranz“ in einer Reihe von Patenten, die auf die verschiedenen Judenheiten der jeweiligen Herrschaftsgebiete des Hauses Habsburg zugeschnitten waren und insbesondere auf die neuen Territorien im Nordosten mit ihren großen jüdischen Bevölkerungen zielten. Das Patent für Niederösterreich, dessen Hauptstadt Wien damals noch war, war sogar das beschränkteste, das Joseph erließ. An allererster Stelle schrieb es vor, „daß dieselbe [in Wien wohnende Judenschaft] keine eigentliche Gemeinde unter einem besondern Vorsteher ihrer Nazion“ bildeten, und „daß ihr kein öffentlicher Gottesdienst, keine öffentliche Synagoge gestattet“ wurde. An zweiter Stelle unterstrich Joseph, er habe „keineswegs zur Absicht, durch diese neue Verordnung die Zahl der jüdischen Religionsgenossen weder in 21 Grunwald: Vienna, S. 143, siehe auch S. 139–141. 22 Vgl. Kann, Robert: A History of the Habsburg Empire 1526–1918, Berkeley 1974, insb. S. 163, 177–185; Lichtblau (Hg.): Als hätten wir dazugehört, S. 31 sowie jüngst Judson, Pieter: Habsburg. Geschichte eines Imperiums 1740–1918, aus dem Englischen von Michael Müller, München 2017, insb. S. 33–110.
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Wien noch überhaupt in Unseren Staaten zu vergrößern“. Das Patent zielte also auf alles andere als eine Emanzipation der jüdischen Bevölkerung, weder auf einer individuellen Rechtsebene noch auf der Ebene der gemeinschaftlichen Organisation, sondern auf die Straffung der zentralen Macht über die verschiedenen Bevölkerungsgruppen im Habsburgerreich. Vielmehr war das Patent auf wirtschaftliche Förderung ausgerichtet: So verordnete beispielsweise §12, dass „tolerierte“ Juden – also jene, die die „Toleranzsteuer“ zum Aufenthalt in der Haupt- und Residenzstadt aufgebracht hatten – „Großhändler“ werden durften, ein wirtschaftlicher Rang, der sich bald auch gewissermaßen als gesellschaftlicher Ehrentitel niederschlagen sollte, während §13 die Erlaubnis zur „Anlegung von Manufakturen und Fabriken“ festlegte – eine Ausnahme zum sonstigen Verbot der Wiener jüdischen Bevölkerung, Grund und Boden erwerben zu dürfen.23 Gerson Wolf fasste diese sogenannte „Toleranz“ einschlägig wie folgt zusammen: „Was will es sagen, dass man Menschen, die nichts verschuldet haben, blos duldet.“24 Der Historiker Max Grunwald bezeichnete die „Toleranzsteuer“ treffender als „Intoleranzsteuer“.25 Wie absurd die Auswirkungen dieser „Toleranz“ sein konnten, zeigte der Historiker Klaus Lohrmann an der Bandbreite von entsprechenden Anordnungen auf, beispielsweise „von der Erlaubnis, keinen Bart zu tragen, bis zum Verbot, einen Bart zu tragen“.26 Dennoch galt die „Toleranz“ aus der Sicht der Zeit als große Ehre und als unvergleichlicher Fortschritt im Sachverhalt der Wiener Judenheit: „So wenig auch dieses Toleranzpatent den Principien der Gleichberechtigung, wie sie heute in jedem civilisirten Staate gefordert werden, entspricht“, schrieb Wolf 1876, neun Jahre nach Erlass der Dezemberverfassung und damit der tatsächlichen rechtlichen Emanzipation unter anderem der jüdischen Bevölkerung in der österreichischen Reichshälfte, „so war es doch für jene Zeit ein ungeheurer Fortschritt.“27 Anderswo behauptete er, die Bezeichnung „Tolerirte“ hätte unter der Wiener jüdischen Bevölkerung einen solchen „Stolz“ hervorgebracht, dass man „noch auf Grabsteinen als Ehrentitel des Verstorbenen: ‚allhier tolerirt‘“ fand.28 Dies mag zwar stimmen, konkrete Beispiele konnte ich allerdings in den Inschriften am Währinger Friedhof bisher keine finden.
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Toleranzpatent, 2. Jänner 1782, in: Přibram: Urkunden und Akten, Bd. 1, S. 494–500. Wolf: Die jüdischen Friedhöfe, S. 17. Grunwald: Vienna, S. 265. Lohrmann, Klaus: Vorgeschichte. Juden in Österreich vor 1867, in: Botz, Gerhard/Oxaal, Ivar/Pollak, Michael/Scholz, Nina (Hg.): Eine zerstörte Kultur. Jüdisches Leben und Antisemitismus in Wien seit dem 19. Jahrhundert, Wien 2002, S. 41. 27 Wolf: Geschichte der Juden in Wien, S. 86. 28 Wolf: Die jüdischen Friedhöfe, S. 17.
Von der Toleranz zur Emanzipation
In der Geschichtsschreibung werden oft die Reformen Maria Theresias und Josephs II. als eine versuchte „Germanisierung“ der Länder und Völker unter habsburgischer Herrschaft erörtert, was auch ein Eckstein des Assimilationsnarrativs in der jüdischen Geschichtsschreibung darstellt.29 Dies wurde charakteristisch vom Historiker Timothy Blanning folgenderweise beschrieben: „Faktisch sollten Juden aufhören, Juden zu sein, indem sie deutsche Kleidung, deutsche Namen, deutsche Bildung, deutsche Gesetze, deutsche Berufe und nicht zuletzt die deutsche Sprache annahmen.“30 Abgesehen davon, dass es überhaupt schwierig wäre, ein solch kategorisches „Deutschtum“ in den 1780erJahren festzustellen, geschweige denn auf die weitlaufenden, pluralistischen Länder unter habsburgischer Herrschaft anzuwenden, muss eine solche Behauptung auch punktuell zurückgewiesen werden, allein durch die Tatsache, dass es so etwas wie ein einheitliches, national oder ethnisch definiertes „deutsches Recht“ damals nicht einmal ansatzweise gab, oder durch das Faktum, dass viele der österreichischen Judenheiten (worunter auch beispielsweise die böhmischen und mährischen Judenheiten einbegriffen waren) sowieso schon Deutsch als Muttersprache sprachen. Die Frage, was überhaupt unter „deutscher Kleidung“ oder „deutschen Berufen“ zu verstehen sei, wird hier offengelassen, und auf den Themenbereich Namen wird noch zu sprechen sein. Dieses primitive, essenzialistische und dichotome Erklärungsmodell erweist sich in der Historiographie als extrem hartnäckig und wird bis heute mehr oder weniger ausführlich in der Geschichtsschreibung propagiert – sei es auch im vagen Begriff eines „assimilierten Judentums“. Der Soziologe Oscar Jászi widerlegte bereits 1929 ausdrücklich sowohl die Vorstellung, das Habsburgerreich sei auf irgendeine Weise ein „deutsches“ Reich gewesen, ebenso wie die Behauptung, dass die Reformpolitik der Toleranzära auf eine „Germanisierung“ des Vielvölkerstaats gezielt habe: Deutsch wurde in der österreichischen Reichshälfte größtenteils aus Pragmatismus lediglich zur Umgangssprache, wohingegen die ungarische Reichshälfte im Laufe des 19. Jahrhunderts einer viel strengeren „Magyarisierung“ unterzogen wurde.31 Wie es die bereits zitierte, kritischere Historiographie zur Toleranz allgemein feststellt, waren die Patente im Wesentlichen nicht ethnisch-nationalistisch, sondern pragmatisch konzipiert: Sie zielten auf die Straffung der Bürokratie des Staates und somit auf eine Befestigung der staatlichen Kontrolle von Wien aus auf die disparaten Länder und Bevölkerungen der Monarchie sowie auf eine Kräftigung der Wirtschaft. 29 Vgl. als einflussreiches Beispiel Rozenblit: The Jews of Vienna, insb. S. 101. 30 Blanning, Timothy: Joseph II, London 1994, S. 75. 31 Jászi, Oscar: The Dissolution of the Habsburg Monarchy, Chicago 1961, Neuauflage des Originals aus dem Jahre 1929, insb. S. 8, 63–64, 70–71, 136–138, 287–288. Vgl. hierzu jüngst auch Stieg: Sein oder Schein, S. 85–86 sowie Judson: Habsburg, S. 388.
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Wenngleich die Reformen Josephs II. insgesamt nicht die erwünschte Liberalisierung der Rechtslage der Wiener jüdischen Bevölkerung hervorbrachten, so brachten sie doch einige Vorzüge mit sich, die über Generationen hinweg eine profunde Auswirkung haben sollten. Zu erwähnen wäre die Zulassung jüdischer Studenten (vor Ende des 19. Jahrhunderts nur Männer) zur Universität sowie die Einberufung jüdischer Männer zum Wehrdienst, welches zwar nicht unumstritten war, sich aber doch mit der Zeit allgemein als willkommener Einlass in eine angesehene Gesellschaftsschicht erweisen sollte: der k.u.k. Armee als eines der wenigen gesamtstaatlichen, „österreichischen“ Milieus.32 Langfristig leitete die Toleranz einen zwar langwierigen aber letztendlich erfolgreichen Kampf für die Emanzipation ein – politisch, rechtlich, wirtschaftlich und sozial – welches nicht zuletzt in die Etablierung der Kultusgemeinde im 19. Jahrhundert und den rasanten Anstieg der jüdischen Bevölkerung Wiens mündete. Zählte die jüdische Bevölkerung 1789 bloß 72 „tolerierte“ Familien, so florierte sie bereits einhundert Jahre später mit 72.000 Individuen, eine Zahl, die sich in den Jahrzehnten darauf nochmals mehr als verdoppeln würde.33 Wie der Historiker Klaus Hödl darlegte, waren jedoch Migration, Urbanisierung und Modernisierung insgesamt im 19. Jahrhundert, aber vor allem in Wien als Hauptstadt eines Vielvölkerstaats, allumfassende Erfahrungen, bei Weitem nicht auf Jüdinnen und Juden beschränkt.34 Die grundsätzliche, sich durch Jahrzehnte unwandelbare Anschauung der Staatsmacht bezüglich der Toleranz wird eindringlich in folgenden Worten der Hofkanzlei aus dem Jahre 1807 zusammengefasst: „Es sei die Toleranz überhaupt nur eine bloße Gnadensache, worauf keine jüdische Familie einen Anspruch habe.“35 Vor allem unter der über vierzig Jahre bis 1839 dauernden Herrschaft Kaiser Franz I., dessen Namen, so Max Grunwald, als Inbegriff der Reaktion galt, litt die Wiener Judenheit unter einer erstickenden Stagnation ihrer Rechtslage.36 Dennoch wurde Joseph II. schon aufgrund seiner spärlichen „Toleranz“ von weiten Teilen der Wiener christlichen Bevölkerung als „Judenkaiser“ verspottet.37 Auch wurde er noch Generationen später von vielen
32 Vgl. Tietze: Die Juden Wiens, S. 112 und Silber, Michael: From Tolerated Aliens to CitizenSoldiers. Jewish Military Service in the Era of Joseph II, in: Pieter Judson/Marsha Rozenblit (Hg.): Constructing Nationalities in East Central Europe, New York 2005. 33 Vgl. zu diesen Zahlen Familienliste, 31. Dezember 1789, in: Přibram, Urkunden und Akten, Bd. 1, S. 608–610 und McCagg, William: A History of Habsburg Jews 1670–1918, Bloomington 1989, S. 145. 34 Hödl: Wiener Juden – Jüdische Wiener, S. 16. 35 Zit. nach Husserl: Gründungsgeschichte, S. 53. 36 Grunwald: Vienna, S. 169. 37 Ingrao: The Habsburg Monarchy, S. 199.
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Wiener jüdischen Historikern auf unterwürfigste Weise angehimmelt, beispielsweise als „Schätzer der Menschen“, der sich „im Kampfe mit dem damals noch so lebhaften Vorurtheile der Wiener gegen Akatholiken und Juden“ begab.38 Andere hingegen, wie der zionistische Historiker Ludwig Bato, blieben sowohl den „Tolerierten“, diesen „kaiserliche[n] Kammerknechte[n]“ mit ihrer „geradezu byzantinisch anmutende[n] Liebedienerei und Huldigung“, wie dem Kaiser gegenüber zutiefst skeptisch.39 Gerade aufgrund der Bedingungen der Toleranz – und somit den verwerflichen Beschränkungen des jüdischen Lebens in Wien zum Trotz – ergab sich paradoxerweise der Zustand, dass die kleine Gruppe „tolerierter“ Jüdinnen und Juden zugleich zur „Elite der Wiener Gesellschaft“ aufstiegen.40 Die Gemeinschaft der „Tolerierten“ setzte sich, wie aus einer Bittschrift aus dem Jahre 1820 hervorgeht, aus Bankiers, Großhändlern, Fabrikanten, Kaufleuten, Maklern, Künstlern und „graduierten Ärzten und geprüften Wundärzten“ zusammen. Diese kleine aber elitäre Gemeinschaft verfügte über eine internationale Bekanntheit, war in einigen Fällen von „der Allerhöchsten Staatsverwaltung“ beschäftigt und genoss vielerlei Ehrungen, darunter die „Erhebung in mehreren Klassen des Adelstandes, [die] Erteilung von Verdienstmedaillen und Belobungsdekreten [sowie die] Anstellung von Beisitzern und Mitvorsteher[n] von öffentlichen Institutionen, Gremien, Gemeinschaften und christlichen Armenanstalten“. Wenn sich auch die Vertreter der Wiener Judenheit in ebendieser Bittschrift über den Zustand beschwerten, dass diese „Titularbegünstigungen“ in krassem Gegensatz standen zu den „beschränkenden Vorschriften“ der Toleranz, so waren sie zugleich offensichtlich tief stolz auf das Erlangen verschiedenster weltlicher Titel, wie sich in deren ausgiebiger Nennung auf ihren Grabsteinen zeigen sollte.41 Ein eigenartiges Kapitel der Toleranzepoche machten die jüdischen Totengräber aus, die laut einer Angestelltenliste aus dem Jahre 1819 mit fünf Mann das größte Amt innerhalb der jüdischen Gemeinschaft bildeten und „deren Weiber die Leichenwaschung zu besorgen“ hatten.42 Gerson Wolf kommentierte, dass diese nicht nur ihrer Dienste wegen beschäftigt wurden: „Um der Wahrheit die Ehre zu geben, müssen wir bemerken, dass manche als Todtengräber fungirten, um dadurch die Möglichkeit zu erlangen, in Wien wohnen zu dürfen.“43 Mit anderen Worten dienten die wenigen öffentlich zugelassenen 38 39 40 41 42 43
So Jeiteles, Israel: Die Kultusgemeinde der Israeliten in Wien, Wien 1873, S. 11. Bato: Die Juden im alten Wien, S. 112. Vgl. Lichtblau (Hg.): Als hätten wir dazugehört, insb. S. 37. Zit. nach Husserl: Gründungsgeschichte, S. 45–46. Zit. nach Husserl: Gründungsgeschichte, S. 24. Wolf: Geschichte der Juden in Wien, S. 137.
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Ämter der Wiener Judenheit, an erster Stelle die Beschäftigung am Friedhof, mitunter dazu, die offiziell benötigte Zustimmung, die „Toleranz“, zu erlangen. Ein solcher Sachverhalt erinnert an die spätere Lage während der Shoah, als Anstellungen bei der Kultusgemeinde bzw. des Ältestenrats in Wien, darunter oftmals im Friedhofswesen, wenigstens vorübergehend vor der Deportation schützen konnten und somit durchaus begehrt waren. Der langwierige Prozess der Emanzipation der österreichischen Judenheiten, der mit der Toleranz begann – ein Prozess, der in der einen oder anderen Form auch viele andere Bevölkerungsgruppen im habsburgischen Österreich berührte – vollzog sich über Generationen hinweg und in vielerlei lokal unterschiedlichen Kontexten in den verschiedenen Regionen unter habsburgischer Herrschaft. Die Emanzipation war also alles andere als linear oder eindimensional und kann eher als komplexe „Interdependenz von Rechten“ verstanden werden, die sich auf vielen Ebenen auswirkte, darunter die der Bürgerrechte (Religions- und Meinungsfreiheit), der politischen Rechte (Wahlrecht und Versammlungsfreiheit), der sozialen Rechte (das Recht auf Arbeit, Bildung und Chancengleichheit) und weitere Ebenen wie etwa der kulturellen Rechte, Geschlechtergleichstellung und so weiter.44 Alleine an dieser Komplexität der Emanzipationsprozesse, die sich weit über den Kontext der Stellung der jüdischen Gemeinschaften Europas hinaus erstreckte, zeigt sich, wie unzureichend das binäre Assimilationsnarrativ als Erklärungsmuster für die vielfältigen Auswirkungen innerhalb der jüdischen Kultur und Gemeindeentwicklung ist – Auswirkungen, die sich lokal extrem unterschiedlich niederschlugen, so beispielsweise in der in vielerlei Hinsicht einzigartigen Geschichte der Kultusgemeinde in Wien. Die Ursprünge der Israelitischen Kultusgemeinde als repräsentativer Organisation der jüdischen Bevölkerung in Wien sind in der umfangreichen Historiographie zur jüdischen Geschichte Wiens überraschend spärlich aufgearbeitet, und die diesbezüglichen Hinweise sind oft irreführend. So findet man in der Literatur als jeweiliges „Gründungsjahr“ der Kultusgemeinde beispielsweise die Jahre 1822 (Zustimmung zum Bau einer Synagoge), 1852 (Ratifizierung der provisorischen Gemeindestatuten) oder 1867 (Erlass der Dezemberverfassung) genannt.45 1849 ist ein weiteres, oft genanntes Jahr, da hier der junge Kaiser Franz Joseph erstmals von „der israelitischen Gemeinde von Wien“ 44 Zur Theorie dieser Interdependenz der Rechte, vgl. Castles, Stephen/Davidson, Alastair: Citizenship and Migration. Globalization and the Politics of Belonging, London 2000, S. 103–121. Mit spezifischem Bezug auf die Entwicklung innerhalb der jüdischen Geschichte vgl. Bregoli, Francesca/Francesconi, Federica: Tradition and Transformation in Eighteenth-Century Europe. Jewish Integration in Comparative Perspective, in: Jewish History 24/3–4 (2010). 45 Alle Zitate in der Reihenfolge ihrer Nennung: Lohrmann: Vorgeschichte, S. 41; Jeiteles: Die Kultusgemeinde, S. 103; Grunwald: Geschichte der Wiener Juden, S. 69.
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sprach, welches auch als Namen stiftendes Ereignis für die Kultusgemeinde gilt – der Begriff „israelitisch“ ist im Kontext des 19. Jahrhunderts als Betonung der Konfession über das eher ethnisch verstandene „Judentum“ zu verstehen.46 Zu diesen schon weit auseinander liegenden Kandidaten als Gründungsjahr könnte noch 1890 zugefügt werden, als schließlich mit Erlassen des „Israelitengesetzes“ die offizielle Rechtslage der Kultusgemeinde endgültig gesichert wurde – was allerdings auch erst sechs Jahre später endgültig ratifiziert wurde.47 Wie der Rabbiner und Historiker Moses Rosenmann andeutete, stellte wiederum das bereits 1792 seitens des Hofes eingerichtete „Vertretertum“ der in Wien ansässigen jüdischen Bevölkerung gewissermaßen schon das „Protoplasma“ dar, „aus dem nach und nach das jüdische Gemeindewesen hervorgehen sollte“. Ferner bemerkte Rosenmann in Bezug auf die bereits vorhandenen Gemeinschaftseinrichtungen, darunter auch der alte Friedhof in der Seegasse und der wenige Jahre zuvor neu errichtete jüdische Friedhof am Rande der Ortschaft Währing: Obschon die Wiener Judenschaft selbst nach dem Wortlaut des Toleranzpatentes keine Gemeinde bilden, keine Synagoge errichten und keinen Rabbiner bestellen durfte, besaß sie dennoch in dem ererbten alten Friedhof, dann seit 1784 in dem neu erworbenen Währinger Gottesacker, in der 1763 gegründeten Chewra Kadischa und in dem 1792 neuerbauten Spital in der Roßau Rudimente einer Gemeinschaft, deren Ausbau Gegenstand der Fürsorge der Vertreter bildete.48
Wie auch immer betrachtet, erstreckte sich somit die Etablierung der Kultusgemeinde von der frühesten Erlaubnis, offizielle Vertreter zu wählen, bis zur endlichen Ratifizierung eines gesetzlich anerkannten Gemeindestatuts über einen Zeitraum von einem ganzen Jahrhundert, von der Epoche der Reform bis zur liberalen Ära, grob in dem Zeitraum, als der Währinger Friedhof entstand und belegt wurde.49 Der erste gewählte Vertreter der Wiener Judenheit war Michael Lazar Biedermann, der somit gewissermaßen als „Gründervater“ der späteren Kultusgemeinde gilt. „Schöpfer und Vater des Wiener Judentums“, so
46 Ansprache des Kaisers an die Wiener Juden, 9. März 1849, in: Přibram: Urkunden und Akten, Bd. 2, S. 549; siehe die allmähliche Ersetzung des Begriffs „jüdisch“ durch „israelitisch“ ab S. 325. Zu diesen Begriffen allgemein, vgl. Zeitlin, Solomon: Studies in the Early History of Judaism, Bd. 2, New York 1974, S. 460. 47 Gesetz vom 21. März 1890, betreffend die Regelung der äußeren Rechtsverhältnisse der israelitischen Religionsgesellschaft [Israelitengesetz], http://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex? aid=rgb&datum=1890&size=45&page=145, letzter Zugriff: 31. August 2020. Vgl. auch Stern, Alfred: Motiven-Bericht zum Statut, Wien 1896. 48 Rosenmann, Moses: Isak Noa Mannheimer. Sein Leben und Wirken, Wien 1922, S. 48–50. 49 Vgl. auch Budischowsky: Die staatskirchlichenrechtliche Stellung der österreichischen Israeliten.
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Max Grunwald, war jedoch der 1824 aus Kopenhagen als erster „Religionslehrer“ eingeladene Isak Noa Mannheimer – zu dieser Zeit durfte offiziell noch kein Rabbiner in Wien amtieren. Mannheimers Wirken sollte Wien als Drehscheibe des europäischen Judentums etablieren, sowohl auf geographischer wie auf geistig-kultureller Ebene: „zwischen Altgläubigkeit und radikaler Reform, zwischen Ost und West, Pressburg und Prag“.50 Als besonderer Verdienst Mannheimers wird insbesondere die „Einheit und Einigkeit Israels“ gesehen, wie es der spätere Oberrabbiner Adolf Jellinek beschrieb, sprich die Versammlung der gesamten Wiener Judenheit in einer Trägerorganisation, die Kultusgemeinde, die eine historische Einzigartigkeit für eine schließlich so große und heterogene jüdische Gemeinschaft bildet.51 Ludwig Bato, als überzeugter Zionist, stand den Reformbestrebungen der Wiener Judenheit eher kritisch gegenüber, und behauptete von Mannheimer, den „Mann von umfassender europäischer Bildung“, dessen „jüdische Gelehrsamkeit […] weniger geschätzt“ wurde, er habe „redlich seinen Teil zur zeitgenössischen Verwässerung des Judentums“ beigetragen. Doch sogar Bato bewunderte Mannheimer für seinen Lebensverdienst, im Gegensatz zu den anderen großen jüdischen Gemeinden Europas seiner Zeit stets eine Zerspaltung der Kultusgemeinde verhindert zu haben. So hatte Mannheimer „die Genugtuung, von den Amtsbrüdern in Deutschland beneidet, moderner geistiger Führer einer geeinten Gemeinde zu sein“.52 Ein wesentlicher Wendepunkt in der politischen und sozialen Geschichte, welches die jüdischen und nichtjüdischen Bevölkerungen und deren ineinandergreifenden Komplex von Rechten gleichermaßen betraf, jedoch in Wien wie in keiner anderen europäischen Hauptstadt von der jüdischen Bevölkerung vorangetrieben wurde, waren die Revolutionen um das Jahr 1848.53 In Wien brach die Revolution infolge einer Rede Adolf Fischhofs, einem jungen jüdischen Arzt, aus, und viele ihrer geistigen Anführer waren jüdisch. Auch zwei der Opfer der Revolutionskämpfe am 13. März waren jüdisch: Bernhard Herrschmann und Karl Heinrich Spitzer. Dieser Vorfall nimmt eine besondere Position in der Wiener jüdischen Geschichte ein, sowohl für die Geschichte der politischen Emanzipation als auch für die gesellschaftliche Annäherung der verschiedenen Religionsbekenntnisse der Hauptstadt. Vier Tage nach dem tödlichen Ansturm auf das Ständehaus in der Inneren Stadt trafen nämlich nicht nur katholische und evangelische Geistliche, sondern auch der (nun de facto) Oberrabbiner 50 Grunwald: Geschichte der Wiener Juden, S. 40, 42. 51 Jellinek, Adolf: Sieben Zeit-Predigten. Aus der Wiener israelitischen Kultusgemeinde 5624, Wien 1864, S. 1. Vgl. auch Grunwald: Vienna, S. 345. 52 Bato: Die Juden, S. 219–220, 225. 53 Vgl. Mattl, Siegfried: 1848. Die fatale Revolution, Wien 1998, S. 42 und Hanak-Lettner, Werner: Revolution! Ein Drahtseilakt, in: Hanak-Lettner, Werner (Hg.): Unsere Stadt! Jüdisches Wien bis Heute, Wien 2013, S. 155.
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der Wiener Judenheit, Isak Noa Mannheimer, sowie der (de facto) Oberkantor, Salomon Sulzer „in vollem Ornat“ am Schmelzer Kommunalfriedhof ein, um den jüdischen Beerdigungsritus für die zwei verstorbenen jüdischen Revolutionäre durchzuführen. Als der katholische Geistliche Anton Fürster Mannheimer einlud, mit ihm zusammen die Trauerfeier abzuhalten, hielt Mannheimer eine bewegte Rede vor dem gemeinsamen Grab der Revolutionäre, die später in deutscher und tschechischer Sprache abgedruckt und verteilt werden sollte. Darin sprach er vom Blutopfer, den die Gefallenen für ihr „Vaterlande“ Österreich gegeben hatten, und richtete des Weiteren ein Wort an seine „christlichen Brüder“: Ihr habt gewollt, daß die toten Juden da mit Euch ruhen in Euerer, in einer Erde. Sie haben gekämpft für Euch, geblutet für Euch! Sie ruhen in Euerer Erde! Vergönnet nun aber auch denen, die den gleichen Kampf gekämpft und den schwereren, daß sie mit Euch leben auf einer Erde, frei und unverkümmert wie Ihr. […] Nehmet auch uns auf als freie Männer, und Gottes Segen über Euch!
Später hielt Fürster diesen gewichtigen Moment in seinen Memoiren in folgenden Worten fest: „Altes und Neues Testament reihten sich unter die Fahne der Freiheit.“54 Im Jahre 1967 wurde in der Zeitschrift der nach der Shoah neu etablierten Kultusgemeinde ein Artikel veröffentlicht, der Adolf Fischhof als „Österreichs erste[n] Freiheitsheld“ pries und zugleich den Umstand beklagte, den man freilich heute noch feststellen kann, dass „die Tage jüdisch-christlicher Gemeinschaft 1848 im Geschichtsbewußtsein der Österreicher“ weder „weit lebendiger“ waren, noch dass „die Rede des Rabbiners Mannheimer in die Schulbücher Eingang“ fand.55 Die politische und rechtliche Emanzipationsbewegung unterstrich erstmals die Zugehörigkeit aller Bürger (eine vergleichbare Emanzipation der Frauen sollte noch Jahrzehnte dauern), egal welchen Glaubensbekenntnisses, als Ebenbürtige in einem Staat, dem Vielvölkerstaat, und als zugehörig zu einer pluralistischen und zugleich zunehmend verwobenen Gesellschaft. Das gemeinschaftliche Grab, welches 1888 in ein kolossales Ehrengrab in Gruppe 26 im Zentralfriedhof verlegt wurde, unterstrich somit auch die zunehmend verschwommene Grenze zwischen Kulturkreisen in der kurzlebigen konstitutionellen Monarchie, ebenso wie die liberale Haltung der Kultusgemeinde zu jener Zeit, welche heute auf keinen Fall das Begräbnis ihrer Mitglieder in nichtjüdischen Friedhöfen gemeinsam mit Nichtjüdinnen und -juden gutheißen würde. Die von Franz Joseph 1849 erlassenen Reformen, beispielsweise
54 Rosenmann: Isak Noa Mannheimer, S. 76–78. Die Rede ist zitiert nach S. 137–139. 55 Österreichs erster Freiheitsheld – ein Jude, in: Die Gemeinde, 28. Februar 1967, S. 4.
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die allgemeine Religionsfreiheit oder die Aufhebung der „Judensteuer“, wurden zwar in den Reaktionsjahren danach wieder rückgängig gemacht. Doch erwies sich die Emanzipationsbewegung als unaufhaltsam, und nicht zuletzt die katastrophale Niederlage Österreichs in Königgrätz 1866 und die daraus resultierende Schwächung der zentralen Herrschaftsmacht führten schließlich mit dem Erlass der Dezemberverfassung 1867 zur allgemeinen Emanzipation in der österreichischen Reichshälfte.56 1848 gilt somit als entscheidender Wendepunkt, allerdings auch mit einer Schattenseite: Die führende Rolle jüdischer Revolutionäre zettelte erstmals eine durch die Massenmedien weit verbreitete antijüdische Reaktion an, welche sich als Keim des späteren politischen Massenphänomens des Antisemitismus erweisen sollte.57 Das 19. Jahrhundert war zunehmend auf sowohl gesellschaftlicher wie individueller Ebene maßgeblich von Intersektionalität, sprich das Ineinandergreifen verschiedener Sphären der Tätigkeit und Erfahrung, charakterisiert, wie es beispielsweise die Historikerin Marion Kaplan in ihrem bahnbrechenden Werk zu mittelständigen deutschsprachigen jüdischen Frauen herausarbeitete: So wurde die „Jüdischkeit“ nicht mehr als eine ausschließliche oder allumfassende Kategorie verstanden, sondern existierte vielmehr in einer komplexen Vernetzung mit Religion, Geschlecht, Klasse, Bildung, Berufung und weitere Lebenssphären.58 Von der Vielzahl an Entwicklungen dieser Epoche – darunter die Urbanisierung, das Erstarken einer weltlichen Allgemeinbildung, die zunehmende soziale Freiheit, wenn auch noch nicht Emanzipation der Frauen, die Abnahme an traditionellen Formen der Religionsausübung und mehr – bestand wohl der deutlichste Wandel im gesellschaftlichen Aufbau der Wiener Judenheit im Aufkommen der Bourgeoisie, infolge des von der Historikerin Simone Lässig eingehend erforschten „Verbürgerlichungsprozesses“.59 Durch die Aufrechterhaltung der Toleranzsteuer bis Mitte des 19. Jahrhunderts, die jüdische Individuen zahlen mussten, um sich in der Haupt- und Residenzstadt niederlassen zu dürfen, ergab sich eine Gemeinschaft, die überproportional dem Bürgertum zuzuordnen war. Dieses jüdische Bürgertum war auffällig sichtbar in der Wiener Gesellschaft sowie im urbanen Raum, wo es sich und seine Erfolge später mit grandiosen Palais an der neuen Ringstraße feiern sollte.60 Als
56 Vgl. Riedl, Joachim: Jüdisches Wien, Wien 2012, S. 39–41. 57 Vgl. Mattl: 1848, S. 25–34. 58 Kaplan, Marion: Jüdisches Bürgertum. Frau, Familie und Identität im Kaiserreich, aus dem Englischen von Ingrid Strobl, Hamburg 1997. 59 Lässig, Simone: Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert, Göttingen 2004. 60 Vgl. Kohlbauer-Fritz, Gabriele: Ringstrasse. Ein jüdischer Boulevard / A Jewish Boulevard, Wien 2015.
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Pendant zu diesen kolossalen Monumenten fungierten die ebenso prunkvollen Familiengrabstätten am Währinger Friedhof. Charakteristisch für dieses neue jüdische Bürgertum Wiens war das Paar Nathan Adam Freiherr von Arnstein, Nachkommen einer schon länger in Wien ansässigen Familie von ehemaligen shtadlanim, und seine in Berlin geborene Frau Franziska „Fanny“ Freifrau von Arnstein. Nathan gründete zusammen mit Bernhard Eskeles die größte Bank Österreichs vor den österreichischen Rothschilds, und es wurden beide demzufolge 1797 in den Adelsstand erhoben. Nathan war auch einer der frühesten Vertreter der Wiener Judenheit und appellierte des Öfteren im Namen seiner GlaubensgenossInnen und aufgrund ihrer Verdienste um den Staat an die Herrscher für eine Verbesserung ihrer Rechtslage. Insofern fungierten solche Bankiers weiterhin, bis weit in die Moderne hinein wie die shtadlanim von einst. Fanny betrieb derweilen einen der berühmtesten Wiener Salons ihrer Ära, wo sie während des Wiener Kongresses 1814/15 die führenden Würdenträger Europas unterhielt. Sie gilt somit als eine der Vorkämpferinnen der Frauenemanzipation in Österreich, wovon eine beträchtliche Anzahl jüdisch war, wie schon lange anerkannt wird.61 Bezeichnenderweise führte Fanny erstmals einen aus ihrer Berliner Heimat mitgebrachten und heute allgegenwärtig beliebten Brauch in Wien ein: den Weihnachtsbaum. Wie Ludwig Bato polemisierte: „Hand in Hand mit dem Verzicht auf die jüdischen Bräuche geht das Nachäffen fremden Wesens, fremder Sitten“, wobei er explizit auf den Brauch des Weihnachtsbaums verwies. Dann schrieb er aber weiter: „Dieses nach berlinerischer Art veranstaltete Weihnachtsfest gilt in Wien, wo der Christbaum völlig unbekannt ist, als etwas ganz neues“.62 So zeigt sich, wie diese von einer Berliner jüdischen Familie eingeführte Sitte alles andere als ein „Nachäffen“ der Wiener christlichen Kultur war. Wie Klaus Hödl exemplarisch darlegte, ist gerade dies ein Beispiel der interaktiven Gestaltung der wienerischen bzw. österreichischen Kultur zwischen – oder besser gesagt jenseits – des Jüdischen und Nichtjüdischen.63 Um zuletzt auf die Wandlungen im religiösen Leben infolge der Aufklärung zurückzukommen, zeigte der Historiker David Sorkin in einem bahnbrechenden Werk, wie die Aufklärung, eine europaweite und Konfessionen übergreifende Erscheinung, ein vorwiegend religiöses Phänomen war, welches alle 61 So z. B. durch Grunwald: Geschichte der Wiener Juden, S. 37, durch Bato: Die Juden, S. 157–160, 169 oder durch Spiel, Hilde: Jewish Women in Austrian Culture, in: Fraenkel, Josef (Hg.): The Jews of Austria. Essays on Their Life, History and Destruction, London 1967. Vgl. auch Malleier, Elisabeth: Jüdische Frauen in Wien 1816–1938, Wien 2003; Raggam-Blesch, Michaela: Zwischen Ost und West. Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien, Innsbruck 2008 und Rose, Alison: Jewish Women in Fin de Siècle Vienna, Austin 2008. 62 Bato: Die Juden, S. 234. 63 Hödl: Wiener Juden, S. 32–34.
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religiösen Gemeinschaften durchdrang und interaktiv zwischen ihnen ausgehandelt wurde. Es folgte eine Zeit der religiösen Veränderung und Erneuerung und nicht, so betonte er, ein Angriff auf die Stellung der Religion innerhalb der europäischen Kultur – insofern müssen die zeitgenössischen Veränderungen innerhalb des europäischen Judentums, vor allem im Westen und Zentrum Europas, als Teilaspekt der allgemeinen religiösen Reform dieser Zeit betrachtet werden und nicht als bewusster Schub in Richtung einer Anpassung oder „Assimilation“ an die (sowieso nur vage definierte) christliche „Mehrheitsgesellschaft“. Des Weiteren ist diese Entwicklung nicht bloß als „Säkularisierung“ zu verstehen, vor allem nicht im Sinne einer Abnahme der Bedeutung oder der gesellschaftlichen Stellung der Religion, sondern eher als zutiefst rationale Umdeutung ebendieser Bedeutung und Stellung. Die Aufklärung ermöglichte nämlich „neue Iterationen des Glaubens“, und das innerhalb allen religiösen Strömungen Europas, wobei „das Weltliche und das Religiöse nicht zwei verschiedene und fixierte Kategorien waren, sondern so grundsätzlich miteinander verschachtelt, dass sie untrennbar waren“. Eine „religiöse/weltliche Dichotomie“ entstand erst später. In diesem Kontext, so schloss Sorkin, seien die Entwicklungen innerhalb des Judentums im 19. Jahrhundert zu verstehen, darunter das liberale Judentum sowie die neue Orthodoxie, aber auch genuin säkulare Strömungen wie die „Wissenschaft des Judentums“.64 In einer neuen Studie zur modernen Geschichte der zentraleuropäischen jüdischen Kultur zeigte auch der Historiker Scott Spector, inwieweit die Vorstellung in der Geschichtsschreibung einer „Säkularisierung“ infolge der Aufklärung, die eng mit dem Narrativ der „jüdischen Assimilation“ verbunden ist, die weitere Funktion der Religiosität in der Moderne übersieht: So entfaltete sich das Judentum einerseits auch in irreligiösen Weisen weiter, so etwa als Ausdruck einer weltlichen jüdischen Kultur, andererseits wurde die materielle, säkulare Welt oft weiterhin durch überlieferte religiöse Muster und Schablonen gedeutet. Insofern ist die Moderne bloß als Stufe in der historischen Entwicklung des europäischen Judentums zu verstehen, und nicht – mindestens nicht in den allermeisten Fällen – als bewusste Abkehr oder Lossagung.65 Charakteristisch für diesen Befund ist Isak Löw Hofmann von Hofmannsthal, einer der „Gründerväter“ der Kultusgemeinde. Als wichtiger Monopolist am kaiserlichen Hof wurde er 1835 als Edler Hofmann von Hofmannsthal geadelt, ist aber heute bei Weitem weniger bekannt als sein Urenkel, der Schriftsteller 64 Alle Zitate in der Reihenfolge ihrer Nennung: Sorkin, David: The Religious Enlightenment. Protestants, Jews, and Catholics from London to Vienna, Princeton 2008, S. xiii, 3, 21, vgl. auch insb. S. 4–5, 313. 65 Spector, Scott: Modernism without Jews? German-Jewish Subjects and Histories, Bloomington 2017.
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Hugo von Hofmannsthal. Isak Löw war vorrangig ein Kaufmann und kein Gelehrter: Trotzdem war er maßgeblich darin involviert, die religiösen Reformen innerhalb der neuen Kultusgemeinde so zu gestalten, dass sie einen Kompromiss zwischen Orthodoxie und liberalem Judentum darstellen und somit die Einigkeit der Gemeinde aufrechterhalten würden, beispielsweise durch die Einführung von deutschsprachigen Predigten, aber mit Beibehaltung der hebräischsprachigen Liturgie. Auch war er seinen Zeitgenossen zufolge ein ausgezeichneter, wenn auch laizistischer Talmudschüler. Aus diesen Gründen verlieh ihm erst der Prager Oberrabbiner Ezechiel Landau den Titel „chawer“ und später der mährische Landesrabbiner Marcus Benedict den Titel „morenu“, eine ungewöhnliche Auszeichnung, die dennoch das Verwachsen der religiösen mit der weltlichen Kultur veranschaulicht, das wesentliche Merkmal des 19. Jahrhunderts, und eben nicht die „Säkularisierung“ oder der Konflikt zwischen Religion und Reform.66 Die ersten Bethausvorsteher, die am 26. März 1826 im Wiener Stadttempel ernannt wurden, waren Joseph Biedermann, Jakob Löwy, Moritz von Königswarter und Sigmund Edler von Wertheimstein, die zu den wohlhabendsten bürgerlichen jüdischen Familien ihrer Zeit zählten.67 Somit war die jüdische Gemeinde von Anfang an nach Innen und Außen, auch im religiösen Bereich durchaus von Männern bürgerlichen und weltlichen Ranges vertreten. Allerdings zeigten sich auch schon von den frühesten Jahren der Etablierung der Kultusgemeinde religiöse Unstimmigkeiten, welche grob gesagt in jeweils orthodoxen und liberalen Fraktionen Ausdruck fanden – in der damaligen Zeit nach ihrem vorwiegenden Sprachgebrach „Polen und Deutsche“ genannt. Erste Spannungen ergaben sich schon ab dem Revolutionsjahr 1848, als orthodoxe ImmigrantInnen aus Oberungarn, der heutigen Slowakei, insbesondere aus Pressburg, nach Wien kamen und somit zu einer ersten „Orthodoxisierung“ der bisher zum Großteil aus den deutschsprachigen „Tolerierten“ zusammengesetzten Wiener jüdischen Bevölkerung führte: ein Prozess, der sich in den nächsten zwei Jahrhunderten noch eingreifender wiederholen sollte. Die frühere, bei Weitem kleinere Gemeinde hatte wenig Wissen oder Interesse an der formalen Ausführung der Religion, was sich nicht zuletzt in den weltlichen Belangen der zutiefst säkularen Wiener Geschäftsmänner zeigte, die in diesen Jahren die Kultusgemeinde von Grund auf aufbauten. Die Neuankömmlinge waren hingegen meist, wie es Moses Rosenmann zusammenfasst, „Gelehrte und Halbgelehrte, Rabbinatskandidaten und Religionslehrer, die eine Fülle talmudischen Wissens besaßen“.68 66 Vgl. Rosenmann: Isak Noa Mannheimer, S. 123 und Grunwald: Vienna, S. 207–208. 67 Wolf: Geschichte der Israelitischen Cultusgemeinde, S. 23. 68 Rosenmann, Moses: Dr. Adolf Jellinek. Sein Leben und Schaffen, Wien 1931, S. 73, 75.
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Dies führte nur wenige Jahre nach der Anstellung Isak Noa Mannheimers zur Aufnahme des in der bayerischen Oberpfalz geborenen und eher orthodox ausgerichteten Rabbiners Lazar Horowitz, der allerdings wie sein Kollege Mannheimer stets Ausgleich und Kompromiss anstrebte.69 Horowitz gründete 1836 die „Lazzenschul“ im Fischhof in der Inneren Stadt, in unmittelbarer Nähe zum Stadttempel in der Seitenstettengasse. 1854 kam es zur Gründung eines polnisch-israelitischen Bethauses und schließlich 1892, lange nach Horowitz’ Tod im Jahre 1868, zur Gründung der „Polnischen Schul“ in der Leopoldsgasse im 2. Bezirk.70 Die Polnische Schul stellte fortan als Pendant zum Stadttempel auch symbolisch das Gegengewicht der ärmeren orthodoxen Schicht der Wiener Judenheit zur bürgerlichen Führungsschicht der Honoratioren der Kultusgemeinde dar. Bereits in den 1850er-Jahren versuchte der in Pressburg geborene Rabbiner der „polnischen“ Fraktion, Ignaz Deutsch, eine „Zentralsynagoge für die Altgläubigen“ als Strategie zu gründen, um „die orthodoxen Juden aus dem Rahmen der Wiener Gemeinde auszuschalten“, allerdings ohne Erfolg.71 Die selbsternannte „autonome orthodoxe israelitische Religionsgemeinde“ scheiterte in ihren Bestrebungen, in den frühen 1870er-Jahren als unabhängige Religionsgemeinschaft anerkannt zu werden, und gruppierte sich in den darauf folgenden Jahren aufs Neue unter dem Mantel einer „altgläubigen israelitischen Religionsgenossenschaft“. Schon der Name verkündete das Programm: Es sollte im Gegensatz zum Wesen der offiziellen Kultusgemeinde durch eine vermeintlich althergebrachte „Tradition“ die Authentizität und damit die Überlegenheit der Orthodoxie unterstreichen.72 Eine letzte und oft übersehene Gruppe innerhalb des jüdischen Kollektivs, jedoch außerhalb der Kultusgemeinde, bildete die sephardische Minderheit, die 1840 insgesamt 569 Menschen zählte und somit stets nur ein Bruchteil der Wiener jüdischen Bevölkerung ausmachte.73 Inwiefern die sephardische Gemeinde ein Spezifikum bildete, zeigt sich beispielsweise an der Tatsache, dass, während die Aschkenasim den Geburtstag des österreichischen Kaisers im Stadttem69 Vgl. Wolf: Geschichte der Israelitischen Cultusgemeinde, S. 88, 91. 70 Vgl. den entsprechenden Eintrag in Geneé, Pierre/Martens, Bob/Schedl, Barbara: Jüdische Andachtsstätten in Wien vor dem Jahre 1938, in: David. Jüdische Kulturzeitschrift 59 (Dezember 2003). 71 Rosenmann: Dr. Adolf Jellinek, S. 88. Zu Ignaz Deutsch und den Konflikten rund um die Orthodoxie vgl. auch Wistrich, Robert: Die Juden Wiens im Zeitalter Kaiser Franz Josephs, aus dem Englischen von Maria-Therese Pitner und Susanne Grabmayr, Wien 1999, S. 93–95. 72 Wolf: Geschichte der Juden in Wien, S. 204. 73 Vgl. hierzu allgemein Papo, Manfred: The Sephardi Community of Vienna, in: Fraenkel, Josef (Hg.): The Jews of Austria. Essays on Their Life, History and Destruction, London 1967; Milchram: Die sefardische Diaspora in Wien sowie jüngst Stechauner: The Sephardic Jews of Vienna.
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pel feierten, die Sephardim zudem auch den Geburtstag des osmanischen Sultans begingen.74 Vor der endgültigen Emanzipation der aschkenasischen Bevölkerung waren die meisten Sephardim aufgrund ihrer osmanischen Staatsbürgerschaft vergleichsweise privilegiert, was weiterhin im 19. Jahrhundert dazu führte, dass prominente aschkenasische Familien bei Gelegenheit auch die osmanische Staatsbürgerschaft erwarben. So verwies Ludwig Bato höhnisch auf jene „türkisch-israelitischen“ Familien in Wien mit germanisch-anmutenden Namen wie „Frankl, Gutmann, Spitzberger und so ähnlich“.75 Über solche Spaltungen innerhalb der Gemeinde täuscht der vereinte und vereinigende Raum des gemeinschaftlichen Friedhofs in Währing samt seinen oft noch im überlieferten Diskurs des religiösen Judentums verankerten Grabinschriften hinweg. Seine bindende Kraft für die damalige Gemeinde, nicht zuletzt durch Rückgriff auf das gemeinsame historische, religiöse und kulturelle Erbe, unterstrich Oberrabbiner Adolf Jellinek bei einer Rede zum Anlass des 50. Jahrestags der Gründung des Tempels in der Seitenstettengasse 1876. Hierin rief er sämtliche Gemeindemitglieder auf, „die Gräber der Väter dieses Tempels, der Väter unserer Gemeinde aufzusuchen, um zu hören am heutigen Jubelfeste das Wort der Toten an die Lebenden und dann vernehmen die Antwort der Lebenden an die Toten – zwischen Vergangenheit und Gegenwart“.76 Somit bediente sich Jellinek des traditionellen Brauchs, die Grabstätten der Väter vor den Hohen Feiertagen aufzusuchen als Bindeglied, um die Einheit und Einigkeit der Gemeinde in der Gegenwart zu untermauern, und unterstrich somit die einzigartig bindende Kraft der „Grabstätten der Väter“ als ein alle Jüdinnen und Juden, wie auch immer definiert, einigender Ort. Bis 1869, zwei Jahre nach Erlass der Dezemberverfassung und nur wenige Jahre vor der endgültigen Schließung des Friedhofes, zählte die inzwischen (wenigstens provisorisch) institutionalisierte Kultusgemeinde einen k.k. Hof- und Ministerialrat, zwei Reichsratsabgeordnete, einen Major in der k.u.k. Armee, zwei außerordentliche Professoren sowie sechzehn adelige, vier freiherrliche und 24 ritterliche Familien zu ihren Mitgliedern.77 Gegen Ende der liberalen Ära, und somit auch zur Zeit, als sich der Währinger Friedhof allmählich seiner Schließung näherte, hatte die Wiener Kultusgemeinde an überregionaler Bedeutung stark gewonnen und fungierte somit auch als Förderin für kleinere, nahegelegene Kultusgemeinden, wie beispielsweise die in der Ortschaft Floridsdorf, welche die Kultusgemeinde nach der Eingemeindung der Ortschaft 1905 dann auch komplett einverleibte. Erst seit dieser Zeit gehörte somit auch 74 75 76 77
Berkley: Vienna and its Jews, S. 48. Bato: Die Juden, S. 127. Zit. nach Rosenmann: Dr. Adolf Jellinek, S. 149. Jeiteles: Die Kultusgemeinde, S. 105.
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der jüdische Friedhof in Floridsdorf offiziell der Kultusgemeinde in Wien an. Nur zwei Erinnerungsorte in der Wiener Stadtlandschaft zeugen heute noch eindringlich von der Kultusgemeinde in ihrer Entstehungszeit und von ihrer aufkommenden, tief in der habsburgischen Haupt- und Residenzstadt verwurzelten jüdischen Gemeinschaft: Der erste ist der Verwaltungskomplex samt Synagoge der Kultusgemeinde in der Seitenstettengasse im 1. Bezirk, der zweite ist der heute stark verfallene Friedhof im 18. Bezirk Währing. 4.2
Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Währinger Friedhofs bis 1879
Die wenigen im Wien des ausgehenden 18. Jahrhunderts ansässigen, „tolerierten“ Jüdinnen und Juden bildeten zunächst nach wie vor keine geschlossene Gemeinschaft und lebten auch nicht abgesondert in einem bestimmten Stadtteil, wie es in der Mitte des 17. Jahrhunderts der Fall gewesen war. Insofern dürfte der Standort des neu anzulegenden Friedhofs, der den Josephinischen Anordnungen zufolge jedenfalls außerhalb des Linienwalls zu errichten war, relativ gleichgültig gewesen sein. Schließlich wurde der Wiener Judenheit als Bestattungsraum ein kleines Areal außerhalb der Ortschaft Währing angrenzend an den neuen Kommunalfriedhof zugewiesen.78 Dieser Friedhof lag an der Grenze zur Ortschaft Döbling, dem später eingemeindeten 19. Bezirk, was verwirrenderweise dazu führte, dass der Währinger jüdische Friedhof in späteren Akten und Schriften nicht selten auch als „Döblinger jüdischer (bzw. israelitischer) Friedhof “ bezeichnet wurde. Das Kapital für die Errichtung des neuen Friedhofs, insgesamt 7.000 Gulden, wurde durch Spenden von Mitgliedern der offiziell nicht anerkannten jüdischen Gemeinde aufgebracht.79
78 Vgl. grundlegend Walzer: Der jüdische Friedhof Währing in Wien, S. 15–25. 79 Die Vertreter der Judenschaft an die N. Ö. Regierung, 5. Oktober 1791, in: Přibram: Urkunden und Akten, Bd. 1, S. 564.
Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Währinger Friedhofs bis 1879
Abb. 9 Der katholische Friedhof (links) und der jüdische Friedhof (rechts) außerhalb des Linienwalls. Detailansicht aus dem Plan von Wien von Georg Adam Zürner, 1811. © Österreichische Nationalbibliothek
Fast ein Jahrhundert später verwies Gerson Wolf auf die Bewilligung 1811 zur Errichtung eines Hauses „für die Wohlthätigkeitsanstalten“ der Wiener Judenheit als zukunftsträchtiges Moment im langen Prozess der formellen Etablierung einer öffentlich anerkannten Gemeindeorganisation, da es der Judenheit hier zuvor noch verboten war, Grund und Boden käuflich zu erwerben.80 Insofern muss also der Erwerb des Areals in Währing für den Friedhof als ein noch früheres solches Moment gelten, wobei dieser Friedhof, wie so oft in der jüdischen Geschichte, wieder als Merkzeichen sowohl des jüdischen Gemeinwesens wie dessen Verwurzelungen im Boden seiner Heimatstadt fungiert. Die Einrichtung neuer christlicher (präziser gesagt katholischer) und jüdischer Bestattungsräume Seite an Seite und nur durch eine Mauer getrennt – das erste Mal in der aufgezeichneten Geschichte Wiens, wo jüdische und christliche Grabstätten nebeneinander lagen – ist ein nicht zu unterschätzender Hinweis auf die langsam heranwachsende Akzeptanz der jüdischen Bevölkerung in Wien sowie deren Annäherung zur dominanten katholischen Gesellschaftsschicht: Die beiden Währinger Friedhöfe waren eine räumliche Ausprägung dieser politischen und gesellschaftlichen Entwicklung in der jüdischen/nichtjüdischen Beziehung. So einschränkend waren allerdings die Toleranzbedingungen nach den 1780er-Jahren für die Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit, dass das kleine Areal in Währing über Jahrzehnte den Bedürfnissen der demnach so kleinen jüdischen Bevölkerung entsprach. Erst in den Jahren zwischen 1821 und 1855 sollte sich die jüdische Bevölkerung Wiens um das Vierzigfache vermehren. 80 Wolf: Geschichte der Israelitischen Cultusgemeinde, S. 2.
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Dieser exponentielle Anstieg, vor allem nach den Revolutionsjahren 1848/49, zeigte sich in der räumlichen Entfaltung des Friedhofs, wonach er in den 1830er-Jahren gleich zweimal erweitert wurde. Tatsächlich wurde fast die Hälfte des endgültigen Areals (die östliche Hälfte) erst 1856 erworben, und war wiederum zwei Jahrzehnte später fast vollkommen belegt.81 Am 12. Juli 1833 stellte die k.k. Polizeioberdirektion fest, dass es bei den Israeliten eine aus religiösen Urkunden hergeleitete und von den allerfrühesten Zeiten her bestehende Einrichtung sei, die Gräber unangetastet zu lassen und nicht mehr zu öffnen; auch habe die Staatsverwaltung von jeher und in allen Provinzen den Israeliten gestattet, ihre Grabstätte ungestört erhalten zu dürfen […] besonders im Jahre 1784.82
Hier zeigt sich eine wichtige Anerkennung einer staatlichen Behörde der jüdisch-religiösen Bräuche sowie der Erhaltung von jüdischen Bestattungsräumen, mit explizitem Verweis auf die Erhaltung des Friedhofs in der Seegasse nach seiner Schließung 1784. Letzteres gilt somit als wichtiger Präzedenzfall in der Geschichte des rechtlichen Verhältnisses zwischen der Wiener Judenheit und der staatlichen Obrigkeit. Allerdings waren nicht alle Auseinandersetzungen mit der Obrigkeit so rosig, wie die Historikerin Tina Walzer feststellte. So erhob das für Währing zuständige Kreisamt Einspruch gegen das erste Ersuchen zur Friedhofserweiterung 1833 mit der Begründung, dass die im Judentum gängige „ewige“ Erhaltung der Grabstätten „mit den Jahren ins Unendliche gehen und Quadratmeilen verschlingen müsste“. Dieses banale Argument wurde mit dem Zusatz bekräftigt, es handle sich hier sowieso nur um eine „disziplinäre“ Frage, „deren Modifizierung und Aufhebung umso mehr in der Willkür der Staatsverwaltung stehe, als die israel. Religion nur eine geduldete sei“.83 An diesem Beispiel zeigen sich eindringlich die Grenzen der „Toleranz“ sowie das dumpfe, Jahrhunderte überdauernde Ressentiment gegenüber dem Judentum in der christlichen Wiener Gesellschaft. Die erste Erweiterung des Friedhofs wurde aber doch von Kaiser Franz I. per Hofkanzleidekret am 13. Dezember 1834 bewilligt, wobei er auch der Wiener Judenheit gestattete, die am Friedhof gelegene Zeremonienhalle, die in ihrer ursprünglichen Form vermutlich aus den 1820er-Jahren stammte, weiter auszubauen. Diese Bewilligung seitens der höchsten Instanz war deshalb nötig, da die Erweiterung so nahe am Linienwall und somit dicht am militärischen
81 Vgl. hierzu den Plan in Walzer: Der jüdische Friedhof Währing in Wien, Abbildung zwischen S. 136 und S. 137. 82 Zit. nach o. T., 23. November 1939, AIKGW, A/VIE/IKG/I-II/FH/1/1. 83 Zit. nach Walzer: Der jüdische Friedhof Währing in Wien, S. 17.
Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Währinger Friedhofs bis 1879
Festungsgebiet der kaiserlichen Haupt- und Residenzstadt lag.84 Die schlichte, zweistöckige Zeremonienhalle, die heute noch, 2012 umfassend restauriert, in der Schrottenbachgasse am Friedhofsgelände steht, wurde vom einflussreichen Wiener Biedermeierarchitekten Joseph Kornhäusel entworfen, der auch den Stadttempel und den darum gelegenen Häuserkomplex samt Kornhäuselturm entwarf. Dies mag als Vorzeichen gelten für die spätere Entfaltung von Prachtbauten und Denkmälern der Wiener Judenheit im Stadtgewebe Wiens, teils von jüdischen und teils von nichtjüdischen Stararchitekten entworfen, welche die ausgeprägte Kultur und gesellschaftliche Stellung der Wiener jüdischen Bevölkerung verkörperten, wovon allerdings seit der Shoah größtenteils nur mehr die Friedhöfe bestehen. Als einziges Zierelement an der Währinger Zeremonienhalle findet sich im Ziergiebel über dem Haupteingang eine barocke geflügelte Sanduhr als Zeichen der Vergänglichkeit am „Haus der Ewigkeit“. Nach der Erweiterung 1856 erwarb die „Türkisch-Israelitische“ (sephardische) Gemeinde ihre eigene Abteilung im Friedhof zu einem Preis von 5.000 Gulden. Am 4. Juni 1857 veranstaltete Oberrabbiner Mannheimer gemeinsam mit der Chewra Kadisha ein Festmahl, um die Kosten dieser letzten, enormen Erweiterung des Friedhofgeländes sowie für den Neubau der Zeremonienhalle zu decken. Insgesamt spendeten die anwesenden Mitglieder der inzwischen de facto organisierten Kultusgemeinde ca. 25.000 Gulden.85 Diese wiederholten Spenden unterstreichen die Eigenständigkeit der Wiener jüdischen Gemeinde bei der Schaffung ihrer Bestattungsräume und somit auch den profunden Wert, der stets generationenübergreifend in diese Räume investiert wurde. In seiner Ästhetik, seiner Auslegung und dem Geist seiner Denkmäler weist der Währinger Friedhof tiefe Parallelen zu den zeitgenössischen Entwicklungen in der nichtjüdischen Sepulkralkultur auf. Das 19. Jahrhundert war vor allem von einer allgemeinen Tendenz hin zur Säkularisierung geprägt, wobei eher die Trennung der religiösen und weltlichen Sphären gemeint ist und nicht die Abschaffung des Religiösen per se. Dies hatte nicht zuletzt zur Folge, dass man in dieser Epoche erstmals von einer mehr oder weniger universellen Sepulkralkultur in Europa und darüber hinaus sprechen kann.86 Diese war vor allem gekennzeichnet von der fast allgegenwärtigen Ausbreitung des Neoklassizismus und später des Historizismus sowie auf eher lokaler Ebene von architektonischen Stilentwicklungen wie dem Biedermeier. Allgemein weist die räumliche Entfaltung des Währinger Friedhofs auf einen Aufbruch von, gewissermaßen 84 Hofkanzleidekret an die N. Ö. Regierung, 13. Dezember 1834, in: Přibram: Urkunden und Akten, Bd. 2, S. 454–456. 85 Wolf: Die jüdischen Friedhöfe, S. 25. Vgl. auch o. T., 23. November 1939, AIKGW, A/VIE/IKG/I-II/FH/1/1. 86 Vgl. z. B. die Studie zur zeitgenössischen Sepulkralkultur in Budapest von Tóth, Vilmos: Grabmalkunst, Budapest 2006, insb. S. 40.
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aber auch eine Weiterentwicklung der überlieferten Praxis aus den Zeiten des Friedhofs in der Seegasse. Dies zeigt sich beispielsweise in der Anlage großer Familiendenkmäler entlang der Friedhofsmauer: Galten früher die zentralen Parzellen als die vornehmeren, und arrangierte sich der Friedhof allgemein um die Honoratioren der Gemeinde (wenngleich nicht formell anerkannt) wie die Rabbiner und shtadlanim, so zeigt die Entwicklung in Währing eine Dezentralisierung der individuellen Orientierung weg von der Gemeinschaft als Ganzes und hin zur Kernfamilie als wichtigstem Bezugspunkt. Gleichzeitig wies die Monumentalität dieser Familiendenkmäler, die oft aus reichen Materien und von begabten Steinmetzen angefertigt wurden, samt ihrer zunehmend in deutscher Sprache verfassten Inschriften auf die zunehmende Verbürgerlichung der Wiener jüdischen Bevölkerung und ihre damit einhergehende Verwurzelung in der Wiener Gesellschaft. Mit seiner Auslegung als geplanter, parkartiger moderner Friedhof und als gemeinschaftlicher Gedenkort zugleich, der zum Besuch einlud, bildete der Währinger Friedhof somit ein jüdisches Pendant zu den Kommunalfriedhöfen dieser Zeit, wovon nur mehr der erstaunlich ähnliche St. Marxer Friedhof erhalten ist, der somit auch später zum Vergleich herangezogen wird. Über die Einwirkung der Reformen des 19. Jahrhunderts kommentierte Gerson Wolf 1876: „Die Reformen Mannheimer’s erstreckten sich auch auf den Gottesacker und so [demzufolge] kann die Art und Weise der Leichenbestattung in der Wiener israelitischen Cultusgemeinde als mustergiltig angesehen werden.“87 Nur wenige Jahre später beklagte er allerdings ebensolche Reformen, wie etwa die allgemeine Verwendung von Särgen statt der einfachen Erdbestattung in einem Leichentuch, die von der staatlichen Obrigkeit auferlegte Wartefrist von 48 Stunden vor der Beerdigung oder den Gebrauch von Blumen als Grabschmuck.88 Die insgesamt liberale Haltung der Kultusgemeinde im 19. Jahrhundert zeigte sich jedenfalls beispielhaft an der Tatsache, wie die Historikerin Martha Keil bemerkte, dass mindestens 33 Selbstmordopfer am Währinger Friedhof zur Bestattung gelangten.89 Zusammengefasst ist der Begriff „Säkularisierung“, wie das Narrativ der „Assimilation“, schlicht unzulänglich, um den mannigfaltigen, komplexen Entwicklungen in der Sepulkralkultur des 19. Jahrhunderts gerecht zu werden. Während das Jahrhundert nach der Aufklärung freilich von einer einschneidenden Wende hin zu einem irreligiösen Diskurs des Gedenkens charakterisiert war, beispielsweise durch die Vermehrung epigraphischer Hinweise auf weltli87 Wolf: Geschichte der Juden in Wien, S. 148. 88 Wolf: Die jüdischen Friedhöfe, S. 49. 89 Keil: „... enterdigt aus dem jüdischen Friedhof “, S. 8. Diese wurden auch verzeichnet im Gräberprotokoll Währing 1784–1884, 3 Bde., CAHJP, AU/1741.
Grabsteine, Sepulkralepigraphik und Symbolik im Währinger Friedhof
che Titel und Errungenschaften und die zunehmende Betonung auf die Familie statt der (hauptsächlich religiös definierten) Gemeinschaft als Maßstab der Zugehörigkeit, schlossen sich religiöse und weltliche Sprachformeln nicht gegenseitig aus. Das Aufkommen der Zweisprachigkeit in den Grabinschriften und die damit einhergehende Trennung religiöser und weltlicher Laudationes reflektierte vielmehr die Trennung verschiedener Lebenssphären und die zunehmende Intersektionalität, die das Leben im damaligen Wien, auch unter der nichtjüdischen Bevölkerung, charakterisierte. Gleichzeitig wurden viele religiöse Bräuche beibehalten, oder es entstanden neue religiöse Bräuche in gewandelter Form. So wurden die Leichen meist gegen Osten begraben, egal in welche Richtung sich die Grabstätten bzw. Grabsteine wendeten, und in vielen der Fälle, wo der Grabstein mit beiden Sprachen, Hebräisch und Deutsch, beschriftet wurde, zeigte die hebräische Inschrift nach Osten, also (grob) gegen Jerusalem, und die deutsche (ebenso bezeichnenderweise) nach Westen. Somit zeigte sich eine Diversifizierung der jüdischen Kultur in Wien, wobei das religiöse Leben zu fragmentieren begann, der Grabstein zum Ausdruck verschiedener Lebenssphären herhielt und der Friedhof allgemein in seiner Auslegung die komplexe Unterteilung jüdischer Gesellschaftskreise innerhalb der einheitlichen Kultusgemeinde reflektierte. In diesem räumlichen, architektonischen und sprachlichen Geflecht konnte die „Jüdischkeit“ in mannigfacher Form und in unzähligen Kombinationen mit anderen Identifikationsund Zugehörigkeitsmustern stets aufs Neue zum Ausdruck kommen. 4.3
Grabsteine, Sepulkralepigraphik und Symbolik im Währinger Friedhof
Insgesamt ist festzustellen, dass die gesamte Wiener Sepulkralkultur des 19. Jahrhunderts – jüdische wie christliche – tief von den allgemeinen kunsthistorischen Entwicklungen der Zeit geprägt war, insbesondere des Neoklassizismus und Historizismus. Die „Neomanie“ des 19. Jahrhundert – Neoklassizismus, Neorenaissance, Neogotik und so weiter – war eine europaweite Entwicklung, die sich durch alle Länder und Kulturen zog, auch über die Grenzen Europas hinaus. Von einer „Assimilation“ an eine vermeintlich christliche Leitkultur kann hier nicht die Rede sein, gerade auch weil diese sich synchron entfaltenden Stilprägungen in allen religiösen und säkularen Kontexten Anwendung fanden.90 So fanden sich Säulen, Stelen, Obelisken, Sarkophage und weitere 90 Vgl. z. B. Nahon, Gérard: Jewish Cemeteries in France, in: ICOMOS Deutschland und Landesdenkmalamt Berlin (Hg.): Jüdische Friedhöfe und Bestattungskultur in Europa, Berlin 2011, S. 79–80.
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aus der Antik geerbte oder wiederbelebte Stilmerkmale in allen Wiener Friedhöfen dieser Zeit, wie sie augenscheinlich in den erhaltenen Friedhöfen in Währing und St. Marx wie in den erhaltenen Steinen auf den Gräberhainen etwa im Währinger Park oder im Schubertpark zu sehen sind. Wenn sich ein allgemeiner Unterschied zwischen der jüdischen und der christlichen Grabmalkunst bemerkbar machte, dann im Hang des ersteren hin zu langen, ausgefeilten weil oft auch zweisprachig hebräisch-deutschen Inschriften, und im letzteren hin zu explizit christlich-religiöser Ornamentik wie beispielsweise Kreuzen und Engeln.91 Eine weitere Unterscheidung fand sich des Weiteren in der sephardischen Grabkunst, die in Währing größtenteils abgesondert in der „Türkisch-Israelitischen Abteilung“ zu finden und markant von orientalisierten bzw. neomaurischen Stilmerkmalen geprägt ist.92 Die zunehmend üppige Sepulkralkultur dieser Zeit führte aber schon bald zu Spannungen, vor allem in Bezug auf die sich hier manifestierenden Klassenunterschiede, welche vermeintlich die angeblich althergebrachte – eigentlich weitgehend im 19. Jahrhundert rückblickend verklärte – jüdische Tradition der ästhetischen Gleichheit des Friedhofs als Ausdruck der Gleichheit im Tod widersprach – unbeschadet den massiven Schichtenunterschieden der Grabkunst vergangener Jahrhunderte, wie der Friedhof in der Seegasse deutlich bekundete.93 Viele der Grabdenkmäler in Währing bestehen aus Weichsteinen, vorwiegend Kalksandstein, oft mit Inschriftentafeln versehen, die einerseits dem Friedhof ein auffällig helles Aussehen verliehen, anderseits jedoch besonders der Verwitterung ausgesetzt sind.94 Als Gesamtheit betrachtet zeigen die Grabsteine in Währing eine breitere Formenvielfalt auf, als es in der Seegasse der Fall war, was sowohl als Ausdruck der Diversifizierung der Gemeinde wie ihres zunehmenden Wohlstandes und ihrer gesellschaftliche Stellung gesehen werden kann. Viele der frühesten Steine aus der Zeit ungefähr vor 1800 bestanden aus einem marmornen Quadrat mit zwei prominenten Schultern, die fast durchweg mit hebräischer Kalligraphie verziert waren und somit sichtlich eine Torarolle nachahmten. Diese befinden sich vorwiegend in der Gruppe 4. Sie sind somit die zutiefst religiösen Denkmäler, die in Währing aufzufinden sind, obwohl die Inschriften auch schon wesentliche Wandlungen aufzeigen im Gegensatz zu ihren Vorgängern in der Seegasse.
91 Vgl. zu St. Marx Veigl: Morbides Wien, S. 142. 92 Vgl. Studemund-Halévy, Michael: Grenzenlos und globalisiert. Sefardische Grabkunst in der Alten und der Neuen Welt, in: Theune, Claudia/Walzer, Tina (Hg.): Jüdische Friedhöfe. Kultstätte, Erinnerungsort, Denkmal, Wien 2011, S. 131–157. 93 Vgl. z. B. Jeiteles: Die Kultusgemeinde, S. 124. 94 Pliessnig: Bestands- und Zustandsanalyse, S. 112. Vgl. auch Walzer/StudemundHalévy/Weinland: Orte der Erinnerung, 10.
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Hingegen weisen vor allem die späteren Steine aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, die den Großteil der heute noch erhaltenen Grabsteine ausmachen, deutliche Parallelen in der Steinmetzarbeit und in den Inschriften auf zu den Grabsteinen im St. Marxer Friedhof; manchmal sind diese sogar identisch. Zu diesen zählen etwa die Quader mit angebrachten Inschriftentafeln, auf deren Architraven deutsche Worte wie „Wiedersehen“ oder „Unvergesslich“ eingemeißelt sind. Ersteres veranschaulicht eine ganz allgemeine Jenseitsvorstellung, die sowohl im Christentum wie im Judentum Resonanz finden könnte, wobei Letzteres eine eher agnostische Betonung auf die Erinnerung im Diesseits setzt, die charakteristisch ist für die zunehmend postreligiöse Moderne.95 Jedoch sind besonders im Währinger Friedhof viele dieser Inschriftentafeln so verwittert, dass sie inzwischen manchmal zur Gänze unleserlich geworden sind – so beispielsweise der mit dem Wort „Wiedersehen“ versehenen Grabstein der 1859 verstorbenen Johanna Hollitscher (1-46). Solche Steine wurden in St. Marx oft mit explizit christlicher Grabkunst wie Kreuzen oder Engeln ergänzt, die selbstverständlich in Währing nicht zu finden sind, so beispielsweise das Grabdenkmal der 1859 verstorbenen Anna Schönmann und Familie – die Verstorbenensuchmaschine der Friedhöfe Wien GmbH umfasst aufgelassene Friedhöfe wie St. Marx nicht, daher können die Grabstellennummern hier nicht angegeben werden. Von der Grabplastik abgesehen, lassen die identischen Formen und Sprachmuster darauf schließen, dass viele der Grabsteine in Währing und St. Marx von den gleichen Steinmetzen angefertigt wurden.
95 Vgl. Laqueur: The Work of the Dead, S. 280, 304.
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Abb. 10 Grabstein der 1795 verstorbenen Francisca Edle von Hönigsberg (4-385). Weißer Marmor mit deutschsprachigem Textbogen und Wappen. © Autor
Die ältesten Grabsteine des Währinger Friedhofs weisen selbstverständlich eine durchgängige Kontinuität mit ihren unmittelbaren Vorgängern in der Seegasse auf. Der zweitälteste von Max Grunwald verzeichnete Stein, welcher der 1785 verstorbenen Breindl Königswart gedenkt, weist eine Inschrift auf, die für
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diese Zeit sowohl in seiner Religiosität wie in seinen Geschlechtsvorstellungen typisch war für die allgemeine hebräischsprachige Epigraphik bzw. für die Stellung jüdischer Frauen: Hier ist verborgen eine ehrliche Frau, die bescheidene und verherrlichte gewira, eine tüchtige Frau, sie war eine Krone zu Haupten ihres Mannes. Sie weinte für die Armen und Bedürftigen des Volkes. Das war die bescheidene Frau Breindl, Tochter des großen Rabbiners Mendel Königswart, seligen Andenkens, und die Frau des gelehrten katzin und nadiw Sanwil Königswart, bewahre ihre Form und erhalte ihr Leben [umschrieben aus Psalm 41,3].96
Der in Prag geborenen Breindl Königswart wurde somit charakteristisch mit Verweis auf ihren Vater – wohlbemerkt allerdings ihren Schwiegervater – und Mann aus der angesehen Familie Königswart gedacht, welche hier mit der eigentümlichen Abkürzung „kuf-waw-waw“ (transkribiert „KW“) gekennzeichnet wurde. Die klassische Geschlechtsrolle wurde mit dem Verweis auf Sprüche 12,4 untermauert, allerdings erhielt Breindl auch die Ehre, unabhängig von ihrem als „katzin“ und „nadiw“ geehrten Mann, vergleichsweise in weiblicher Form als „gewira“, als angesehene Dame, genannt zu werden. Merkwürdig ist hier auch der Verweis auf das jüdische Volk durch den Begriff „mebnei“ (des Volkes). Eine vergleichbar traditionelle Inschrift eines verstorbenen jüdischen Mannes ist die klassische Inschrift des 1795 verstorbenen Jehuda ben Zwi Hirsch, aus Proßnitz/Prostějov in Mähren, dem als „ehrlicher, koscherer und gläubiger Mann“ gedacht wurde (4-250).97 Die frühesten Inschriften waren somit, wie in der Seegasse zuvor, ausschließlich auf Hebräisch verfasst und gedachten den Verstorbenen weiterhin durch einen primär innerjüdischen religiösen Diskurs. Die ehemals hoch angesehene, aus dem Rabbinertum abgeleitete Abkürzung „hei-reish-reish“ (sprichwörtlich „der große Rabbiner“) war inzwischen in den Grabinschriften zum geläufigen, dem deutschen „Herr“ entsprechenden Begriff geworden. Nicht nur die Prominenz innerhalb der noch nicht offiziell anerkannten Gemeinde, sondern auch die besonderen Verdienste der „Fürsprecher“ wurden weiterhin ausgiebig in den Grabinschriften durch hebräische Ehrentitel gekennzeichnet. So verzeichnete Max Grunwald in den Inschriften des ausgehenden 18. Jahrhunderts die Erwähnung des Titels katzin (eine führende Person, fünfzehn Mal), gaon (ein Genie, meist im rabbinischen Zusammenhang, zwei Mal), torani (ein religiös Gelehrter, elf Mal), shtadlan (ein Fürsprecher, fünf Mal), aber auch neuartige Titel wie rosh kahel (Gemeindevorsteher, zwei Mal) und ewen masdot (sprichwörtlich „Eckstein“, vergleichbar mit rosh kahel, ein Mal). Die 96 Grunwald: Grabschriften, S. 363. 97 Grunwald: Grabschriften, S. 389.
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komplexe Abkürzung für ordinierte Rabbiner, „unser Lehrer und Rabbiner, der große Rabbiner“, verzeichnete er vierzehn Mal.98 Somit ergibt sich eine beachtliche Kontinuität mit dem Erinnerungsdiskurs der Epigraphik in der Seegasse. Gleichzeitig aber zeugen vor allem die neueren Titel von einer zunehmenden Autonomie der Wiener jüdischen Gemeinde in der Ära der Toleranz. Ein exemplarisches Beispiel ist der Grabstein des 1785 verstorbenen shtadlan Asher Anshil Arnstein, Vater des berühmten Nathan Adam Freiherr von Arnstein (4-464).99 Hierauf ist zu lesen: Hier ist begraben einer der Gläubigen, ein Eckstein, ein Grundstein, Vater den Elenden, Wohltäter der Wohltäter, er half und unterstützte die zerbrochenen Herzens [Jesaja 61,1 und Psalm 34,19], die ihr Brot mit Sorgen essen [Psalm 127,2], er wird betrauert und beklagt werden von den vielen Armen. Das ist der aluf und berühmte shtadlan, der tifsar und nagid, der katzin, der große Rabbiner Asher Anshil.
Die Jahresangabe („taw-kuf-waw-mem“, 546 der kleinen Zeitrechnung) zum Schluss der Laudatio bildet zugleich das Chronogramm „erhebe dich“ in Verbindung mit einer Anspielung auf Psalm 102,14: „erhebe dich und erbarme dich über Zion“. Ähnlich bezeichnend dafür, dass sich allmählich ein Gemeinwesen, eine jüdische Gemeinde herauszukristallisieren begann, ist die Inschrift für den 1786 verstorbenen Samuel Wertheimer, Enkel des berühmten shtadlan Samson Wertheimer (4-311): „Weh, die Krone ist von unserm Haupt gefallen [Klagelieder 5,16], unser Ruhm und das Haupt unserer Gemeinde [rosh kahelnu], eintausend Generationen sollen deiner noch gedenken“.100 Samuel, der als „unser Lehrer und Rabbiner, der große Rabbiner“ und somit wohl als ordinierter Rabbiner angeführt wurde, war laut der Inschrift „aus der Familie Wertheim“, wobei Wertheim abgekürzt mit „waw-waw-hei“ angeführt wurde. Diese eigentümlich epigraphische Abkürzung eines Familiennamens, wie im oben genannten Beispiel der Breindl Königswart, unterstreicht die wachsende Bedeutung prominenter Abstammungslinien unter der verbürgerlichten Wiener Judenheit, die sich bis in das 20. Jahrhundert erstrecken sollte. Sehr bald zeigte sich eine revolutionäre Entwicklung in den Währinger Grabinschriften, die zweifellos mit der Aufklärung, den Josephinischen Reformen und der Eröffnung des Weges der kleinen Gemeinschaft „tolerierter“ Jüdinnen und Juden in die Wiener Gesellschaft zusammenhing: Inschriften in deutscher Sprache, zuerst in einer Übergangsphase mit hebräischen Schriftzeichen eingemeißelt, doch bald auch in lateinischen Buchstaben erscheinend. Gleichzeitig,
98 Grunwald: Grabschriften, S. 403. 99 Grunwald: Grabschriften, S. 364. 100 Grunwald: Grabschriften, S. 369.
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und damit tief verbunden, wandelte sich auch der Diskurs weg von rein religiösen Zusammenhängen hin zur Nennung weltlicher Titel, darunter erstmals auch adeliger Titel, und kaiserlicher Privilegien. Der erste österreichische Jude, der in den Adelsstand erhoben wurde, war im Jahre 1789 der 1724 geborene Israel Hönig Edler von Hönigsberg aus Kuttenplan/Chodová Planá in Böhmen.101 Israel war der Patriarch eine der bedeutendsten jüdischen Familien Wiens dieser Zeit, von denen viele Angehörige in Währing begraben wurden; er war auch der Großonkel des Schriftstellers Ludwig August Frankl. Der Grabstein von Israels 1787 verstorbenen jüngeren Bruders Aharon Moshe Hönig ist ein Beispiel eines die Torarolle nachahmenden Denkmals (4-389). Hier finden sich zum ersten Mal in der Geschichte der Wiener jüdischen Sepulkralepigraphik deutsche Worte (im Zitat kursiv hervorgehoben) als Teil der sonst recht traditionellen, ausschließlich in hebräischen Schriftzeichen verfassten Laudatio: Rein ist der Gedanke, sauber die Leidenschaften der Tora, und groß der Ruhm und bescheiden die Huld und die Wahrheit, zusammen küssen sie sich. Herr k.k. Bankal-, Tabakund Siegelgefäll Direktor, das ist der aluf, der berühmte katzin, der große Rabbiner Aharon Moshe, Sohn des großen Rabbiners Jehuda Leib, seliges Andenken, aus Kuttenplan, genannt Hönig, seine Seele schwand in Reinheit am Montag, den 13. Elul im Jahre 547 der kleinen Zeitrechnung [tantzaba], das ist das Jahr 547 seit der Schöpfung.102
In dieser Inschrift findet sich das kaiserliche Privilegium, das verschiedenen Mitgliedern der Familie Hönig verliehen wurde, als eigenständige Zeile, Buchstabe für Buchstabe ins Hebräische transkribiert. Somit erscheint diese Zeile linguistisch betrachtet fast wie Jiddisch – es ist aber ausdrücklich der deutschsprachige Titel in hebräischen Schriftzeichen wiedergegeben. So wird beispielsweise das Wort „Herr“ mit „hei-ain-reish-reish“ und die unverkennbare Abkürzung „k.k.“ mit „kuf.kuf.“ wiedergegeben. Auffällig ist hier auch die Jahresangabe, welche als Chronogramm in der inzwischen allgegenwärtigen Schlussformel „tantzaba“ (möge seine Seele im Bündel des Lebens gebündelt sein) integriert wurde: Die Zahlenwerte der Buchstaben „taw-nun-tzadi-bet-hei“ ergeben nämlich auch die Jahreszahl 547, die kleine Zeitrechnung des Jahres 5547 im jüdischen Kalender (1787 im gregorianischen Kalender). Auffällig ist zuletzt die Abkürzung „hei-reish-reish“ (haraw rawi, der große Rabbiner), die sowohl für Sohn als auch Vater angewandt wird. Dieser Ehrentitel fungierte zu dieser Zeit bereits als allgemeine Anrede gleich dem deutschen „Herr“, und wird (vielleicht nicht einmal zufällig) im Hebräischen auffällig ähnlich geschrieben (transkribiert „HRR“). Wohlgemerkt wird hier explizit auf den bürgerlichen 101 Singer/Templer: Hönig, Israel, S. 457. 102 Grunwald: Grabschriften, S. 369.
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Familiennamen verwiesen, allerdings noch in Abgrenzung zum hebräischen synagogalen Namen, ein Zeichen der allmählichen Verankerung von bürgerlichen Namen unter der österreichischen Judenheit zu dieser Zeit.
Abb. 11 Transkription und Übersetzung der Inschrift auf dem Grabstein des 1787 verstorbenen Shmuel Goldshmid (4-248). © Autor
Ein ausgefeilteres und einzigartiges Beispiel, somit wohl das interessanteste dieser deutsch-hebräischen Inschriften, findet sich auf dem Grabstein des nur knapp zwei Monate später verstorbenen Shmuel Goldshmid.103 Obwohl ausschließlich mit hebräischen Schriftzeichen beschriftet, enthält dieser Grabstein nicht nur zahlreiche deutschsprachige Namen, Worte und Satzteile, es sind sogar bestimmte Begriffe synthetisiert, sodass sich eine regelrecht deutschhebräische Hybridinschrift ergibt. Zu den einfachen deutschen Namen bzw. Begriffen gehören die Ortsnamen Königsberg und Preußen (wobei zweiteres erst mit dem hebräischen Zusatz bemedinat zum „Lande Preußen“ wird) und der Familienname Goldshmid. Das „Land Polen“ ist hingegen ausschließlich hebräisch (bemedinat Polin). Wie in der Inschrift des Aharon Moshe Hönig, wird auch Shmuel Goldshmids gesamter kaiserlich privilegierter Titel auf Deutsch genannt: „Direktor der kaiserlich-königlich[en, im Original abgekürzt] SalzRegie“. Der gesamte Hinweis auf Joseph II. ist auch bemerkenswert, und nicht 103 Grunwald: Grabschriften, S. 370–371. Für seine Hilfe bei der Deutung dieser durchaus einzigartigen und deswegen sprachlich nicht unkomplizierten Inschrift danke ich Paul Radensky.
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nur, weil der Kaiser hier namentlich genannt wird. Transkribiert liest sich hier: Shmuel asher matza chen be’einei hakaiser Josephus hasheni jorem hoda. Das deutsche Wort „Kaiser“ bekommt hier den hebräischen bestimmten Artikel ha („der“), Josephs Name wird latinisiert als „Josephus“, während der erste Satzteil ein direktes Zitat aus 1. Moses 6,8 darstellt: „[Noach] fand Gnade in den Augen des [Herrn]“. Kaiser Joseph II. wird so in der Grabinschrift aufgrund seiner Verleihung des Handelsprivilegs namentlich geehrt, durch die Latinisierung als Christ und als Heiliger Römischer Kaiser gekennzeichnet und darüber hinaus noch fast vergöttlicht. Dies geschieht durch die Anwendung eines Zitates, welches ursprünglich Gottes Namen beschwor – wobei diese aus 1. Moses 6,8 abgeleitete Redewendung im Hebräischen als Ehrenbezeichnung nicht unüblich ist. Des Weiteren ist die Verwendung hier der traditionellen hebräischen Ehrentitel bachur, katzin und raw bemerkenswert sowie der Hinweis auf die shtadlanut (Fürsprache), welche zu dieser Zeit auf die Stellung und den Einfluss solcher Handelsleute verwies, die zwar nicht mehr genau als „Hofjuden“ fungierten aber dennoch eine wichtige Vertreterrolle seitens der Judenheit einnahmen. Zuletzt ist die unübliche Nennung der Jahrtausendzahl in der „großen Zeitrechnung“ nennenswert: Dies war eine Eigenart des ausgehenden 18. Jahrhunderts, die manchmal in Form der Abkürzung „lamed-fei-gimmel“ (große Zeitrechnung; samt Jahrtausendangabe) erschien anstatt der sonst üblichen „lamed-fei-kuf “ (kleine Zeitrechnung; ohne Jahrtausendangabe), so hier „5548 der großen Zeitrechnung“ statt „548 der kleinen Zeitrechnung“. Manchmal wurde die volle Jahresangabe auch mit dem Wort lejetzira (seit der Schöpfung) verbunden.104 Solche Inschriften blieben einzigartig, denn schon innerhalb von wenigen Jahren erfolgte eine weitere revolutionäre Wende in der Wiener jüdischen Sepulkralepigraphik: Deutschsprachige Inschriften in lateinischen Buchstaben. Das erste solche Beispiel findet sich auf dem Grabstein eines weiteren Mitglieds der Familie Hönig, des 1790 verstorbenen Carl, Sohn des Patriarchen Israel (4386).105 Die oberste Zeile seines die Torarolle nachahmenden Steins nennt ihn auf Deutsch: „Herr Herr [sic] Carl Honig Edler v. Honigsberg“ (ohne Umlaut – interessanterweise ist auch das zweite „N“ umgekehrt), rundum das in der Mitte angebrachte Wappen der inzwischen geadelten Familie. Auffallend ist hier die zweifellos absichtliche Wiederholung der Ansprache „Herr“. Das deutsche Wort ähnelt, wie bereits angedeutet, nicht nur phonetisch der hebräischen Abkürzung „hei-reish-reish“, die Wiederholung ähnelt vielmehr noch dem Wortpaar raw rawi, „der große Rabbiner“. Beide Wörter entstammen derselben Wurzel und bezeichneten im übertragenen Sinne zu dieser Zeit selbstverständlich nicht 104 So z. B. die Inschrift des 1788 verstorbenen Josef de Majo, Grunwald: Grabschriften, S. 371. 105 Grunwald: Grabschriften, S. 373.
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einen ordinierten Rabbiner, sondern dienten lediglich als formelle Anrede: haraw rawi, „der Herr Herr“. Hier zeigt sich eindringlich, dass dies weder eine Um- noch eine Abkehr war, sondern eine gewandelte Kontinuität einer jahrhundertealten hebräischen epigraphischen Tradition mit ihren Wurzeln in der religiösen Sprachwelt des Judentums. Dies gilt sowohl für den sprachlichen Übergang aus dem Hebräischen ins Deutsche wie für den inhaltlichen Übergang aus religiösen in weltliche Ämter. Dennoch verbleibt die ansonsten exklusiv hebräischsprachige Inschrift Carl Hönigs eine hoch traditionelle Laudatio dieses angesehenen männlichen Mitglieds der Obrigkeit der Wiener Judenheit, von dem berichtet wird: Hier ist verborgen ein Mann aus dem Geschlecht der gewirim, aus dem Hause Israel, wie einer der sarim [Psalm 82,7]. Der Verstorbene hat die Welt nach der Hälfte seiner Tage verlassen, er hinterließ einen Segen für alle Generationen: Eine Stiftung für die Armen seines Volkes wie auch für Fremde. Das war der katzin, haraw rawi Elieser Kuttenplan, sein Andenken lebt in der kommenden Welt, Sohn des nagid, des berühmten katzin, haraw rawi Israel der sar, der im respektierten Namen hoch erhoben wurde vom Kaiser Josephus II., Edler von Hönigsberg, möge er gute Tage vor sich haben, seine Seele schwand am heiligen Shabbat und er wurde begraben am Samstagabend, den 13. Adar im Jahre 550 der kleinen Zeitrechnung, möge seine Seele im Bündel des Lebens gebündelt sein.
Obwohl hier wieder die üblichen hebräischen Ehrentitel auftauchen, beginnen sie doch, mehr als leere Tautologien eine tatsächliche Bedeutung anzunehmen: Israel, der als „Edler von Hönigsberg“ geadelte Patriarch, ist somit ein wahrer sar (etwa ein Edelmann), und sein früh („nach der Hälfte seiner Tage“) verstorbener Sohn Carl (hier nicht nur mit synagogalem Namen Elieser sondern auch mit Toponymen Kuttenplan genannt, die Herkunftsstadt der Familie), der den Titel erbte, ist somit wahrlich „ein Mann aus dem Geschlecht der gewirim“, „wie einer der sarim“: gewir, sar, katzin und nagid werden hier alle als Synonyme für den deutschen Titel „Edler“ verwendet. Es kommt der familiäre, aus der Bibel abgeleitete Diskurs zur Verwendung; allerdings beginnt er einen durchaus neuen Sachverhalt im Leben der Wiener Judenheit zu beschreiben. Wie in der Inschrift des Shmuel Goldshmid taucht hier auch Joseph II. in seiner teils hebräisch-hybridisierten, teils latinisierten Gestalt auf, als Kaiser, der die große Ehrung des Adelstitels verlieh (mehakaiser, vom Kaiser). Markant ist die eigenartige Nennung des Toponymen „Kuttenplan“ als Quasifamilienname, trotz des eigentlichen Familiennamens „Hönig“. Auffallend ist hier auch der zweifache Hinweis auf die Zugehörigkeit zur Judenheit, erstens durch den Begriff des „Hauses Israel“, was allerdings auch ein spezifischer Verweis auf den Patriarchen Israel Hönig ist, zweitens durch den Begriff „seines Volkes“. Diese Inschrift sticht aber auch heraus, weil sie über die Judenheit hinaus die „fremden“, sprich nichtjüdischen, EmpfängerInnen von Carls Wohltätigkeit mit
Grabsteine, Sepulkralepigraphik und Symbolik im Währinger Friedhof
einbezieht. Die unschätzbar große Ehre der Nobilitierung des Vaters, die über die Familie hinaus auf die gesamte Judenheit erstrahlt, ist offensichtlich, und diese Einbindung in die führende Schicht der habsburgischen Gesellschaft wird eben mit Wohltätigkeit auch für Nichtjüdinnen und -juden vergolten. Liest man die kompilierten Testamente der Wiener Judenheit aus dem Vormärz, so erscheinen diese wie eine Apologie, die die gängigen antijüdischen Vorurteile durch Verweise auf die ausgiebige Wohltätigkeit der wohlhabenden jüdischen Familien Wiens zu widerlegen versuchen. Einerseits bezeugen diese von der weitläufigen wirtschaftlichen Selbstständigkeit der Wiener jüdischen Bevölkerung, die durch philanthropische Spenden und Einrichtungen ihren ärmeren GlaubensgenossInnen unter die Arme griffen, andererseits aber auch von der Förderung der gesellschaftlichen Gleichstellung. So ordnete beispielsweise die 1818 verstorbene Franziska Wertheim (4-145) in ihrem Testament an, dass 300 Gulden an Armen einerlei welchen Glaubensbekenntnisses ausgezahlt werden sollten, während der 1822 verstorbene (und nicht unmittelbar verwandte) Emanuel Wertheim (4-25) veranlasste, dass aus seinem Nachlass jährlich 50 Gulden an jedes Spital und jede philanthropische Einrichtung ausgezahlt werden sollten, welche nicht auf Basis des Glaubensbekenntnisses diskriminierten.106 Der erst einige Jahre nach seinem Sohn 1808 verstorbene Familienpatriarch Israel wurde in deutscher Sprache auf seinem Grabstein gelobt als „Israel Hönig Edler von Hönigsberg, k.k.n.ö. Regierungsrat, Tabak- u. Siegelgefalls-Direktor, Herr der Herrschaft Vellm in Österreich“ (ursprüngliche Grabstelle unbekannt, 1941 zum IV. Tor überführt, 14A-13-18).107 Letzteres war ein Verweis auf die Religionsfondsherrschaft in Velm an der östlichen Grenze Niederösterreichs, die Israel 1789 käuflich erwarb. Diese Grabsteine der frühen Hönig von Hönigsberger, mit ihren langen Nennungen von Ämtern und Titeln in deutscher und hebräischer Sprache, waren wegweisend für die weitere Entwicklung der jüdischen Sepulkralepigraphik in Wien im folgenden Jahrhundert. Diese spannenden Entwicklungen waren allerdings kein Wiener Spezifikum: Die Historikerin Martina Strehlen stellte fest, dass viele der Grabinschriften für shtadlanim im Zentraleuropa des späten 18. Jahrhundert „deutsch in hebräischen Buchstaben“ beinhalteten. Allerdings meinte sie weiter, der Inhalt verwies „fast ausschließlich auf innerjüdische (Gemeinde-)Funktionen, Ämter und Titel“, was in Währing nachweislich nicht der Fall war. Gerade die Wiener Grabinschriften, so Strehlen, seien aber auffallend „überschwänglich und 106 Taglicht, Israel: Nachlässe der Wiener Juden, II. Teil, 1786–1848, in: Goldmann, Arthur/Wachstein, Bernhard/Taglicht, Israel/Grunwald, Max: Nachträge zu den zehn bisher erschienen Bänden der Quellen und Forschungen zur Geschichte der Juden in Österreich, Wien 1936, S. 235, 241. 107 O. T., o. D. [Transkription der Grabinschrift Israel Hönigs], AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/3, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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übertrieben“ gewesen, ein Hinweis auf ihre Eigentümlichkeit im Gesamtkorpus der zentraleuropäischen jüdischen Sepulkralepigraphik.108 In diesem Kontext erweisen sich wiederum Grabsteine der wirtschaftlichen Prominenz der Wiener Judenheit, die kaiserlich privilegierten und immer häufiger geadelten Großunternehmer, als wegweisend in der Sepulkralepigraphik. Am 30. Jänner 1786 wurde seitens der Hofkanzlei dekretiert, dass jüdische Großhändler vom Magistrate „den christlichen gleichzuhalten“ seien, und das Wort „Jud“ sei „aus den gerichtlichen Zitaten und Intimationen wegzulassen“. Ursache dafür war, wie der Historiker Alfred Francis Přibram erklärte: „Der Großhändler Nathan Arnsteiner [sein Geburtsname, später Freiherr von Arnstein] hatte sich beschwert, daß der Magistrat in den Vorladungen das Wort ‚Jud‘ gebrauche und das Wort ‚Herr‘ auslasse.“109 Wie viel an diesen Titeln hing, geht deutlich aus diesem Zusammenhang hervor: Nicht nur das Wort „Herr“, sondern auch die sonst eher pragmatische Bezeichnung „Großhändler“ waren wichtige Kennzeichen der gesellschaftlichen Stellung der „tolerierten“ Wiener jüdischen Geschäftsleute. Am 21. Juni 1807, in einer Zeit der andauernden Stagnation hinsichtlich des Rechtsstatus der Wiener Judenheit, wurde des Weiteren dekretiert, „dass die Toleranz nur Grosshändlern verliehen werden soll. Es war zwar das Bestreben, die Bildung der Juden zu fördern; doch die Männer der Kunst und Wissenschaft hatten als solche keinen Anspruch darauf, in Wien wohnen zu dürfen“.110 Am 30. April 1811 dekretierte die Hofkanzlei, dass die „Großhandlungsbefugnis“ auch an Witwen und Söhne vererbt werden durfte.111 Es konstituierte sich somit über die Jahre eine Art ökonomische Nobilitierung durch diesen Großhändlertitel, der somit auch den gehobenen gesellschaftlichen Status der „Tolerierten“ vermitteln sollte. Wie sehr der Stand des Großhändlertums mit dem „Vertretertum“ und somit der Spitze der Wiener Judenheit verwachsen war, zeigt ein Dekret der Polizei Ober-Direction vom 10. Juni 1820, in welchem die damaligen Vertreter, darunter Nathan Adam Freiherr von Arnstein, Michael Lazar Biedermann und Max Hönig Edler von Hönigsberg, Israels Sohn und Carls Bruder, nicht mehr wie ehemals üblich als „die Juden“, sondern als „die Großhändler“ geführt wurden.112 Das Ansehen, welches innig mit diesem Titel verbunden war, spiegelt sich auch in den Vorschriften wieder, um diesen zu erlangen. So bedurfte 108 Strehlen, Martina: Spuren der Realität in der Erinnerung? Zu Grabsteininschriften und Memorbucheinträgen für Hofjuden, in: Ries, Rotraud/Battenberg, Friedrich (Hg.): Hofjuden. Ökonomie und Interkulturalität – Die jüdische Wirtschaftselite im 18. Jahrhundert, Hamburg 2002, S. 179, 188. 109 Hofkanzleidekret, 30. Jänner 1786, in: Přibram: Urkunden und Akten, Bd. 1, S. 575. 110 Wolf: Geschichte der Juden in Wien, S. 104. 111 Hofkanzleidekret, 30. April 1811, in: Přibram: Urkunden und Akten, Bd. 2, S. 196. 112 Dekret der P. O. D., 10. Juni 1820, in: Přibram: Urkunden und Akten, Bd. 2, S. 306.
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das Unternehmen ab 1817 eines Mindestkapitalwerts von 50.000 Gulden, ab 1833 60.000 Gulden, um den Titel „Großhändler“ führen zu dürfen.113 Wie bedeutend dieser Titel war, zeigt schließlich seine weite Verbreitung in der zeitgenössischen Sepulkralepigraphik in Währing, so beispielsweise auf dem recht monumentalen Grabstein des 1836 verstorbenen Siegfried Philipp Wertheimber (archaische Schreibweise mit „b“), wo er als „k.k. priv. Grosshändler“ benannt wird (2-102). Ein auffälliges, wenn auch spätes Beispiel ist die neobarocke Stele des prominent als „Grosshändler“ gedachten, 1872 verstorbenen Sepharden Aron Haim Elias (10-1). Ähnliches lässt sich bei Adelstiteln feststellen.114 Bereits 1809 führte etwa ein Zehntel der „Tolerierten“ einen Adelstitel, was weiter unterstreicht, weshalb den „Tolerierten“ auch dieser letztere Begriff eher ein „Ehrentitel“ als eine Schandbezeichnung war, „der selbst“, wie Moses Rosenmann bestimmt in Anlehnung an Gerson Wolf behauptete, „auf den Grabsteinen zur Verewigung angebracht wurde“.115 Wie der Germanist Karlheinz Rossbacher festhielt, ging es den geadelten jüdischen Familien in der Vorführung ihrer Titel nicht „primär um finanziellen, sondern um reputativen Erfolg“. Diese Titel unterstrichen ihre Zugehörigkeit zur Wiener Bourgeoisie ebenso wie zur deutschsprachigen Kultur Zentraleuropas. Hier vermischten sich „Ahnenstolz und liberaler Bürgerstolz“.116 Die Nobilitierung jüdischer Individuen galt nicht zuletzt „gewissermaßen als Auszeichnung des gesamten jüdischen Kollektivs“, und war auch aus diesem Grund nennenswert.117 Diese prominenten Nennungen von Nobilitierungen oder kaiserlichköniglichen Privilegien wurden zunehmend ergänzt mit Hinweisen auf weltliche Ämter, Professionen und Berufszweige. In einem frühen Beispiel, in einer noch ausschließlich auf Hebräisch verfassten Inschrift, wurde der 1791 im Alter von nur 34 Jahren verstorbene Abraham ben Ephraim aus „Großpolen“ (polin gadol; Wielkopolska) gedacht als „der erhabene bachur [lediger Mann], der Experte in Sprachen und im medizinischen Wissen, genannt der große Rabbiner [„hei-reish-reish“; Herr] Abraham, Sohn des Ephraim“ (1-219).118 Dies verweist zweifellos auf den neu errungenen Zugang jüdischer Männer zum Studium des Rechts und, wie in diesem Fall, der Medizin an österreichischen Universitäten, und ahnt die weite Verbreitung akademischer Titel 113 Hofkanzleidekret an die N. Ö. Regierung, 19. Februar 1833, in: Přibram: Urkunden und Akten, Bd. 2, S. 460. 114 Vgl. hierzu den Katalog geadelter jüdischer Familien in Österreich seit dem Jahre 1726 in Schön: Geadelte jüdische Familien. 115 Rosenmann: Isak Noa Mannheimer, S. 46. 116 Rossbacher: Literatur und Bürgertum, S. 237. 117 Niedhammer: Nur eine „Geld-Emancipation“?, S. 177. 118 Grunwald: Grabschriften, S. 376.
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in der Sepulkralepigraphik des 19. Jahrhunderts voraus. Auf Dauer ragten solche weltlichen Titel und Errungenschaften in vielen der Inschriften über alles andere hinaus und ersetzten somit langsam den überlieferten Kodex hebräischer Ehrentitel vergangener Jahrhunderte, manchmal sogar in den hebräischsprachigen Inschriften selbst. Die Marmorstele des 1869 ebenfalls recht jung verstorbenen Edmund Lewinger nannte ihn beispielsweise in der deutschsprachigen, gegen Westen orientierten Inschrift „Dr. Edmund Lewinger, Hof u. Gerichts Advocat, Gemeinderath der Stadt Wien“, während ihn die hebräischsprachige, gegen Osten orientierte Inschrift „Doktor Itzik Lewinger“ nannte – eine phonetische Transkription seines weltlichen deutschen (besser gesagt: lateinischen) Doktortitels ins Hebräische (5-24). Der Kommunalpolitiker Sigmund Mayer schrieb 1917 in seiner Geschichte Die Wiener Juden über Edmund Lewinger, einem der ersten jüdischen Gemeinderäte in der Wiener Geschichte, er habe „den Juden gerade so ferne […] wie den Chinesen“ gestanden, eine typische Auffassung der damaligen dichotomen Sicht dessen, was als „jüdisch“ oder „unjüdisch“ galt.119 Doch zeigt gerade dieser Grabstein mit seiner zweisprachigen Inschrift und seiner Ost/West Ausrichtung genau die ausgeprägte Intersektionalität des Verstorbenen: Jude, wenn auch schon durchaus säkular, und Wiener zugleich. Charakteristisch für diese Intersektionalität und die damit einhergehende Aufteilung der unterschiedlichen Lebensbereiche, die die Sepulkralepigraphik dieser Zeit prägten, vor allem durch die Trennung in eine hebräisch- und eine deutschsprachige Inschrift, waren die Grabmale der frühen Vertreter der damals noch nicht etablierten Kultusgemeinde, allen voran ihr erster (wenngleich inoffizieller) Oberrabbiner, Isak Noa Mannheimer. In seiner Rede am Fest zu seinem 70. Geburtstag soll der zu Tränen gerührte Mannheimer – wie Moses Rosenmann schrieb – gesagt haben: „Er habe an den Gräbern der Väter und an den Wiegen ihrer Söhne gestanden; hier habe er eine Heimat, einen Wirkungskreis gefunden, darum wolle er hier bleiben und in dem Grab ruhen, das ja schon offen für ihn gehalten werde.“ Wieder einmal unterstrich Mannheimer somit die Bedeutung des Friedhofs als Ort der Verwurzelung, sowohl in der Erbschaft der Geschichte der „Väter“ wie in der eigenen Lebensgeschichte in der Stadt Wien. Zwei Jahre später, am 20. März 1865, wurde Mannheimer in einem Ehrengrab der Kultusgemeinde in Währing bestattet. Dass dies, so Rosenmann, „die Ruhestätte eines großen in Israel“ sei, wurde auf Mannheimers grandiosen, als Sarkophag auf einem massiven Sockel geformten Grabdenkmal eindringlich, aber „in schlichten Worten“ in der deutschsprachigen Inschrift verkündet: „Isak Noa Mannheimer, geb. 17. Oct. 1793, gest. 18. März 1865. Dem
119 Mayer, Sigmund: Die Wiener Juden 1700–1900, Wien 1917, S. 375.
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Prediger und Lehrer die dankbare Gemeinde.“120 Der hebräischsprachige Teil verkündete ausführlicher: „Hier ruht [po jenuach, eine für die Wiener hebräische Sepulkralepigraphik eigentümliche Redewendung] Jitzchak Mannheimer, Religionslehrer in der Gemeinde Jeshurun zur Stadt Wien“, und schloss mit einem direkten Zitat aus Psalm 40,9–10: „Deinen Willen zu tun, mein Gott, macht mir Freude, deine Weisung trage ich im Herzen. Gerechtigkeit verkünde ich in einer großen Gemeinde. Herr, du weißt es!“ Durch den Begriff der „Gemeinde Jeshurun“ wurde auf eine archaische und gehobene biblische Bezeichnung für das Volk Israel zurückgegriffen, die bezeichnenderweise die Einheit eben dieses Volkes unterstreicht (vgl. 5. Moses 32,15; 33,5 und 33,26 sowie Jesaja 44,2). In Verbindung mit der Erwähnung auf Deutsch der „dankbaren Gemeinde“ sowie auf Hebräisch der „großen Gemeinde“ aus Psalm 40 heben beide Teile der Inschrift die Kultusgemeindeorganisation als Einheitsgemeinde als größte Errungenschaft Mannheimers hervor und verkünden ihn zugleich als einer deren „Gründerväter“. Nicht zuletzt ist die Nennung der „Stadt Wien“ markant: Mit der zunehmenden Akzeptanz der jüdischen Bevölkerung und ihrer immer tieferen Verwurzelung in der Wiener Gesellschaft fanden sich immer häufiger im 19. Jahrhundert Erwähnungen der „Vaterstadt“ in den Grabinschriften. Mannheimers Grabdenkmal, ehemals am Währinger Friedhof gelegen (5-2), war eines von nur zwei, die während der Shoah samt den dazu gehörigen sterblichen Überresten vor der Zerstörung durch NS-AnthropologInnen gerettet und beim I. Tor des Zentralfriedhofs wieder aufgestellt bzw. bestattet wurden (6-0-8) – das andere gehörte seinem Rabbinatskollegen Lazar Horowitz (6-0-9). Beide Rabbiner liegen heute in der gleichen Reihe wie Arthur Schnitzler. Die weiteren „Gründerväter“ waren durchaus weltlicher, meist wohlhabende Bankiers, die gewissermaßen, jedoch in gewandelter Form, als shtadlanim für die „tolerierte“ Judenheit ihrer Zeit fungierten. Die Grabinschrift des 1838 verstorbenen Bankiers und Vertreters Nathan Adam Freiherr von Arnstein lobte ihn beispielsweise auf Deutsch als „k.k. priv. Grosshändler, königl. schwed. Consul und Ritter des königl. schwedischen Wasa – Ordens“, wobei es in der hebräischen Inschrift hieß: „Hier ruht [po shuchan, ebenfalls eine einzigartige Redewendung] der aluf, der merumam und mefursam der an allen Ecken des Landes bekannt war“ (4-87, 1941 zum IV. Tor überführt, 14A-14-8).121 Michael Lazar Biedermann war laut seiner hebräischsprachigen Inschrift „der aluf und der nagid, der rosh alfei von Israel“ – der letztere Titel hieß im übertragenen Sinne so viel wie „Oberhaupt der Judenheit“ – während ihn die deutschsprachige 120 Rosenmann: Isak Noa Mannheimer, S. 100–101, 105. 121 O. T., o. D. [Transkription der Grabinschrift Nathan Adam Freiherr von Arnsteins], AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/3, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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Inschrift pries als „k.k. Hofjuwelier und Grosshändler, Vertreter der Israeliten zu Wien“ (4-87-465, 1941 zum IV. Tor überführt, 14A-13-23).122 Der Wandel hin zur tiefen Eingebundenheit in das Staatsleben, der schon in den frühen Beispielen der Familie Hönig bemerkbar war, zeigt sich ausdrücklich in der deutschsprachigen Inschrift des 1825 verstorbenen Salomon Edler von Herz: „In kühler Tiefe ruht der gerechteste der Menschen, der Staat verliert in ihm einen verdienstlichen Bürger, die Dürftigen einen Beschützer, viele Kinder, Enkel, Urenkel den besten der Väter“ (4-86, 1941 zum IV. Tor überführt, 14A-13-24). Beachtenswert ist hier auch das Gedenken mit Verweis auf die Nachkommen: War dieses familiäre Gedenken ehemals Frauen vorbehalten, so zeigt sich hier selbst unter prominenten Mitgliedern der männlichen Führungsschicht ein Wandel von der Identifizierung mit der Gemeinschaft hin zur engeren Familie. Ein besonders ausgefeiltes Beispiel der Häufung von weltlichen Titeln und Errungenschaften dieser Zeit ist die Inschrift des 1849 verstorbenen Isak Löw Hofmann, die sich fast wie ein Lebenslauf liest. So war er: kais. kön. privilege. Grosshändler seit 1791, Vorsteher und Repräsentant der israel. Gemeinde seit 1806, Inventur- und Schützungskommissär seit 1804, ArmenBezirksdirektor d. Pfarre Am Hof seit 1820 wirkte er als Mensch und Staatsbürger unter 6 Regenten und wurde seiner vielen Verdienste wegen von Kaiser Ferdinand dem Gütigen im Jahre 1835 in den Adelsstand erhoben.
Man beachte hier nicht nur die Nennung des Kaisers und der weiteren „Regenten“ zu Hofmanns Lebzeiten, sondern auch seine Fürsorgetätigkeit in Zusammenarbeit mit der katholischen Pfarre am Hof in der Inneren Stadt. Die Verflechtung von Lebens- bzw. Zugehörigkeitssphären zeigt sich zudem in seiner Bezeichnung als „Vorsteher und Repräsentant der israelitischen Gemeinde“, als „Staatsbürger“ und als „Mensch“. Im hebräischsprachigen Teil wurde er hingegen ausschließlich in einem innerjüdischen Diskurs gelobt als „den Juden ein großer sar, der Doyen und einer der respektierten Männer seiner Generation, der bekannte katzin der sich in der Ehrung der Tora erfreute, unser Lehrer und Rabbiner Isak Löw Hofmann Edler von Hofmannsthal“ (5-77, 1941 zum IV. Tor überführt, 14A-14-13).123 Wieder einmal zeigt sich, wie die überlieferten, ehemals rein symbolischen und gleichbedeutenden hebräischen Titel nun als Pendant zu den tatsächlichen, weltlichen deutschsprachigen Titeln fungierten. Somit standen die deutschen, 122 O. T., o. D. [Transkription der Grabinschrift Michael Lazar Biedermanns], AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/3, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 123 O. T., o. D. [Transkription der Grabinschrift Isak Löw Hofmanns], AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/3, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
Grabsteine, Sepulkralepigraphik und Symbolik im Währinger Friedhof
eher „säkularen“ Inschriften keineswegs in Konflikt mit den hebräischen, eher „religiösen“ Inschriften: Vielmehr ergänzten sie sich und spiegelten sich in ihrer Nennung persönlicher Verdienste innerhalb des habsburgischen Staates einerseits und der jüdischen Gemeinde andererseits, im übergreifenden Zeichen des Humanismus des frühen 19. Jahrhunderts. Der langsame Rückgang des Hebräischen, wie es beispielsweise der Historiker Gérard Nahon mit Bezug auf jüdische Friedhöfe im Frankreich des 19. Jahrhundert feststellte, zeugte auch nicht von einer bewussten Abkehr von der „Jüdischkeit“, da gleichzeitig ein Aufschwung an neuen jüdischen Stilmerkmalen zu erkennen war, so etwa der bald allgegenwärtig gewordene Davidstern.124 Insgesamt zeugt die vermeintliche „Säkularisierung“ dieser Epoche also eher von der zunehmenden Aufspaltung unterschiedlicher Lebenssphären und Zugehörigkeiten die, wie bereits gezeigt, sich treffend in der Aufteilung in hebräisch- und deutschsprachige Inschriften veranschaulichen ließen. Diese Intersektionalität zeigte sich auch in einem mit den Grabinschriften durchaus vergleichbaren Quellenkorpus dieser Zeit, nämlich der nachgedruckten Grabreden. Die Grabrede des späteren Oberrabbiners Moritz Güdemann für den am 25. Dezember 1871 verstorbenen ehemaligen Vertreter der Wiener Judenheit, Jonas Freiherr von Königswarter, unterstrich charakteristisch die Aufspaltung des persönlichen Wirkens in verschiedenste Bereiche: „Mögen wir ihn von welcher Seite immer betrachten, als Menschen, als Bürger, als Israeliten – als Vater, als Verwandten, als Mann seines Berufs, überall zeigt er ein eigenthümliches Gepräge, das der Tod nicht verlöschen kann.“ Der Werdegang Jonas von Königswarters war recht typisch für einen wohlhabenden jüdischen Bankier und „Tolerierten“ seiner Zeit: Aus Frankfurt am Main nach Wien emigriert, leitete er in der kaiserlichen Haupt- und Residenzstadt eine Bank, ließ an der Ringstraße ein repräsentatives Palais erbauen, wurde 1860 geadelt und 1868 zum Präsidenten der inzwischen etablierten Kultusgemeinde gewählt. Die Grabrede Moritz Güdemanns lobte ihn für seine auffallend jüdisch-religiösen Tugenden: „Wahrhaftigkeit“, „Liebe“ und „Wohltätigkeit“, die alle drei in hebräischer Form (josher, ahawa, tzedaka) auch in der hebräischsprachigen Sepulkralepigraphik anzutreffen sind. Dennoch betonte Güdemann zum Schluss seiner Rede wieder die offensichtliche Intersektionalität von Königswarters Leben und Wirken: „So hat er als Mensch, als Bürger, als Familienvater, als Mann seines Berufes in der That eine edle und große Persönlichkeit entfaltet.“125 Die zunehmende Verwurzelung der Wiener Judenheit in der Wiener Gesellschaft zeigte sich auch in der inhaltlichen Rückwirkung aus der deutschspra124 Nahon: Jewish Cemeteries in France, S. 80. 125 Güdemann, Moritz: Grabreden während der letzten fünfundzwanzig Jahre in der Wiener israelitischen Kultusgemeine gehalten, Wien 1894, S. 1–4.
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chigen Titulatur in die hebräischen Inschriften. So wurde beispielsweise der 1864 verstorbene Samuel Pollak, der seiner deutschen Grabinschrift zufolge ein „Doctor der Medizin“ war, in der sonst recht schablonenhaften hebräischen Inschrift als „ärztlicher Spezialist“ gepriesen (15-128). Ein auffälliges, jedoch eher ungewöhnliches Beispiel dieser Intersektionalität – jüdisch und wienerisch bzw. österreichisch zugleich – findet sich im Architrav des Grabhäuschens des sephardischen, 1873 verstorbenen Großhändlers Menachem Abram Russo, wo seine Lebensdaten zwar ausschließlich im jüdischen Kalender, allerdings in lateinischen Buchstaben angegeben wurden: „geboren d. 26. Kislew 5577 [16. Dezember 1816], gestorben d. 7. Nissan 5633 [4. April 1873]“ (10-54). Auffällig ist hier überhaupt die Nennung des Geburtsdatums, was in früheren Epochen in der jüdischen (sowie wohlgemerkt auch in der christlichen) Sepulkralepigraphik nicht erfolgte. Somit veranschaulichen solche knappen Inschriften die allgemeine Tendenz dieser Epoche nicht in Richtung einer Säkularisierung, geschweige denn einer „Assimilation“, sondern hin zu Ausdrücken der Religiosität und der „Jüdischkeit“ in gewandelter Form. Ein einzigartiges und eindringliches Beispiel einer ausschließlich deutschsprachigen und säkularen Inschrift ist die des 1862 verstorbenen Anthropologen und Arztes Eduard Schwarz (manchmal auch als Edmund angeführt), der als Schiffsarzt in den Jahren 1857 bis 1859 die einzige Weltumsegelung der österreichischen Marine auf der SMS Novara mitmachte. Diese lobte: „Dem Forscher, dem Freunde, von seinen Reisegefährten und Kameraden, Dr. Eduard Schwarz, Korvettenarzt in der österr. Kriegsmarine, Mitglied der Novara-Expedition“ (Grabstelle unbekannt, 1942 zum IV. Tor überführt, 14A-14-15).126 Dennoch zeugt sogar ein solch außergewöhnliches, fast „unjüdisch“ anmutendes Beispiel nicht unbedingt von einer Abkehr vom Judentum: Alleine die Bestattung in einem jüdischen Friedhof zeugte von eine grundsätzliche Zugehörigkeit, und wie die vielen Beispiele der Vertreter zeigen, galt der weltliche Ruhm des oder der Einzelnen zugleich als Ehrung für die gesamte Judenheit. Seit der Jahrhundertwende 1799/1800 breiteten sich also die Anzahl und der Umfang deutschsprachiger Inschriften rasant aus, allerdings zumeist in Kombination mit hebräischsprachigen Inschriftenteilen. Ein greifbares Merkmal dieser Zweisprachigkeit und der damit einhergehenden Trennung religiöser und zivilgesellschaftlicher Sphären liegt in der häufigen Unterscheidung in der Sepulkralepigraphik zwischen dem bürgerlichen und dem synagogalen Namen, ein Brauch, der bis heute weltweit im religiösen Judentum fortgesetzt wird. Letzteres wurde meist aus einem hebräischsprachigen bzw. biblischen Kontext abgeleitet, Ersteres hingegen aus einem meist deutschsprachigen kulturellen 126 O. T., o. D. [Transkription der Grabinschrift des Eduard Schwarz], AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/3, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
Grabsteine, Sepulkralepigraphik und Symbolik im Währinger Friedhof
Kontext. Ein solches Beispiel wurde bereits genannt: Elieser bzw. Carl Hönig. Oft waren die zwei Namen phonetisch aufeinander abgestimmt, so beispielsweise bei der 1870 verstorbenen Chana bzw. Johanna Todesco (3-320). Manchmal waren diese Namen auch (fast) identisch, da es ja eine wesentliche Überschneidung von „jüdischen“ und „christlichen“ Namen gibt, die beide aus der Bibel abgeleitet wurden, so beispielsweise Josef oder Jakob. Ein ausgefeiltes Beispiel einer solchen Namensunterscheidung in einer zweisprachigen Inschrift findet sich auf dem die Torarolle nachahmenden Grabstein samt Wappen der 1795 verstorbenen Francisca Edle von Hönigsberg, der Schwiegertochter des Israel Hönig (4-385).127 Hier wird sie auf Deutsch genannt als „die Frau Francisca Edle v. Hönigsberg gebohrne Dobruska“. Auf Hebräisch heißt sie hingegen „die geliebte Frau Frodl, seligen Andenkens, Frau des katzin, des geliebten großen Rabbiner Wolf Elieser von Hönigsberg“. Diese Zweisprachigkeit und die Veranschaulichung verschiedener Facetten des persönlichen Lebens (das weltliche wienerische/österreichische und das religiöse jüdische), welche diese bot, zeigte sich auch im bereits erwähnten Brauch, die im frühen 19. Jahrhundert so beliebten Stelen jeweils auf der einen Seite mit einer hebräisch- und auf der anderen mit einer deutschsprachigen Inschrift zu versehen, die oft jeweils nach Osten bzw. Westen ausgerichtet waren, eine sichtliche Zurschaustellung der intersektionalen Identifikation. Auch hier gab es allerdings Ausnahmen: So zeigen die deutschsprachigen Seiten der Zwillingsstelen der nebeneinander begrabenen, 1855 bzw. 1856 verstorbenen Geschwister Henriette Forchheimer (2-69) und Vincenz Landauer (2-70) nach Osten und die hebräischsprachigen Seiten nach Westen, vermutlich damit die deutschsprachige Inschrift als die den BesucherInnen des Friedhofs verständlichere vom Weg her gelesen werden konnte.128 Auf Dauer kamen verschiedene standardisierte deutschsprachige Epitaphien immer häufiger zur Verwendung, so beispielsweise das auch in der zeitgenössischen christlichen Epigraphik übliche „Friede seiner/ihrer Asche“, wobei dies in beiden Fällen – christlich und jüdisch – selbstverständlich nur im übertragenen Sinne gemeint war: Konfessionsübergreifend wurden in Wien vor dem 20. Jahrhundert ausnahmslos die Leichen der Verstorbenen in der Erde bestattet. Beispiele dieses Epitaphs im Währinger Friedhof finden sich in den Grabinschriften der 1868 verstorbenen Theresia Rosenthal (1-292), des 1870 verstorbenen Josef Hertzka (19-254) und sogar in niederländischer Sprache in der Inschrift der 1890 beigelegten Anna Teixeira de Mattos (1-126: „hier rust de asch van Jonkvrouw [weibliche Form von Junker] Anna Teixeira de Mattos“). Im St. Marxer Friedhof finden sich Beispiele in den Grabinschriften 127 Grunwald: Grabschriften, S. 387. 128 Ich danke Tina Walzer, die bei einem Durchgang des Friedhofs diese Beobachtung machte.
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der 1859 verstorbenen Elisabeth Mayer, der 1859 verstorbenen Maria Schaller und ihrer 1874 verstorbenen Schwester Katharina. Im Zusammenhang mit der auffallenden Ähnlichkeit der Grabmonumente dieser Zeit in beiden Friedhöfen, Währing und St. Marx, untermauert dies die Vermutung, dass die Steinmetze ein und dieselben waren und somit nicht nur Grabsteinformen, sondern auch Epitaphien häufig wiederverwendeten. Bestimmte hebräische Epitaphien blieben aber weiterhin durch das 19. Jahrhundert in der jüdischen Sepulkralepigraphik üblich, so beispielsweise „ihre Seele ist im guten Namen [bashem tow] geschieden“, in anderen Worten: Es genoss die Verstorbene einen guten Ruf, so zum Beispiel in der Inschrift der 1877 verstorbenen Therese Auspitz, 5-104A, die des Weiteren auch stereotypisch als „tüchtige Frau“ und „ihrem Mann eine Krone“ genannt wurde. Die Inschrift der Therese Auspitz, der Mutter des Großindustriellen Rudolf Auspitz, die zusammen mit der Großfamilie das Palais Auspitz-Lieben an der Ringstraße gegenüber der Universität bewohnte, weist aber auch eine Neuigkeit auf, die sich bis in den heutigen Tag in der hebräischsprachigen Epigraphik fortsetzt: das Matronym. So schließt ihre Inschrift mit den Worten: „und der Name ihrer Mutter war Jehudit Lewinger“. In der hebräischsprachigen Inschrift des 1864 verstorbenen Großindustriellen Leopold Epstein, dessen Sohn Gustav das Palais Epstein an der Ringstraße gegenüber vom Volksgarten erbauen ließ, wird das wohl zunehmende Ansehen der Matriarchin dieses Jahrhunderts mit den Worten unterstrichen: „er ehrt den Namen seiner Mutter“ (1-126). Ein merkwürdiger Verweis findet sich in der Grabinschrift der 1799 verstorbenen Fradche Gaubitsch, die „hier verborgen liegt im Zelte“ (ba’ohel).129 Wobei er hier wohl als Umschreibung der Grabstätte zu verstehen ist, fand der Begriff ohel in späteren Generationen zumeist als Verweis auf die Rabbinerhäuschen Anwendung, die insbesondere im Chassidismus üblich wurden, im Gegensatz zum traditionellen Begriff matzewa mit Hinblick auf die üblichen Grabsteine. Selbstverständlich finden sich auch aus späteren Jahren noch traditionell religiöse, hebräischsprachige Inschriften, so beispielsweise die des 1827 verstorbenen Simajo de Majo, dessen gedacht wurde als „ein ehrlicher Mann unter den Edelmütigen, der einen guten Weg gegangen ist. All sein Tun war koscher, seine Seele hielt an der Ehrlichkeit fest. Sein Körper ruht in der Erde und seine Seele ist im Garten Eden“ (2-153).130 Noch Jahrzehnte nach der Aufklärung wurde der 1836 verstorbenen Marianna Wertheimer durch einen der Torarolle nachgeahmten Grabstein gedacht, wobei der hebräische Teil der Inschrift – anmutend an die Steine in der Seegasse – oben gerundet ist und der deutsche 129 Grunwald: Grabschriften, S. 396. 130 Laut Polizeibericht (…) De Majo Simajo türk. Handelsmann aus Castoria Macedonien 39 J. alt, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2/2, Gr. II 153.
Grabsteine, Sepulkralepigraphik und Symbolik im Währinger Friedhof
Teil weiter unten folgt (2-108). Insgesamt weisen aber die hebräischsprachigen Inschriften durch das gesamte 19. Jahrhundert eine zunehmende Vereinfachung und Vereinheitlichung auf und wurden fortan oft auf die Namen der Verstorbenen, ihre Lebensdaten und eine Anzahl hebräischer Standardepitaphien (vor allem die bereits wohlbekannten Abkürzungen „pei-tet“ und „pei-nun“ sowie „tantzaba“) reduziert. Aber auch die etwas komplexere Kodifizierung beispielsweise von biblischen Hinweisen oder Chronogrammen findet sich weiterhin in der hebräischsprachigen Sepulkralepigraphik des 19. Jahrhunderts. Ein charakteristisches Beispiel ist die zweisprachige Marmorstele, heute umgefallen, aber noch erhalten, die des 1870 verstorbenen Josef Hertzka gedenkt (19-254). Die hebräische Inschrift, am oberen Ende der Stele bogenförmig angebracht in einer ästhetischen Anspielung auf die geläufigen Formen der Grabsteine und Inschriften der Seegasse, beginnt mit den Worten: „Und Josef Menachem zog hinauf, seinem himmlischen Vater entgegen“, eine Anspielung auf 1. Moses 46,29. Hierauf folgt ein Satz, der sprichwörtlich übersetzt bekundet: Josef starb am „6. Ijar und ein Gerechter freut sich und hat Wonne“. Dies ist eine Umschreibung aus Sprüche 29,6 und zugleich ein ungewöhnlich komplexes Chronogramm, wobei die Zahlenwerte der Buchstaben aus „freut sich und hat Wonne“ zusammengerechnet die Jahreszahl 630 der kleinen Zeitrechnung (1870) ergeben. Die deutschsprachige Inschrift bekundet lediglich: „Josef Hertzka gest. den 6. Mai 1870 im 69. Jahre seines Lebens. Friede seiner Asche.“ Ein markantes Merkmal, das nur auf sephardischen Grabsteinen vorkommt und somit zu ihrer sofortigen Identifizierung verhilft, ist die Eröffnung der Inschrift mit den hebräischen Worten matzewet kwarot (Grabdenkmal des/der…; siehe beispielsweise die Inschrift im Mausoleum der 1877 verstorbenen Mirjam Russo, 10-114). Dies fungiert also als Pendant zu den in den aschkenasischen hebräischsprachigen Inschriften eher üblichen Abkürzungen „pei-tet“ oder „pei-nun“ (hier ist verborgen/begraben). Unter den sephardischen Grabsteinen in Währing findet sich auch ein vereinzelter Hinweis auf Urheberschaft, nämlich im deutschsprachigen Teil der Grabinschrift des 1877 verstorbenen Ignatz Wolf: „Hier ruht tief betrauert Herr Ignatz Wolf […]. Dieses Denkmal setzten die Kinder dem teuern Vater als Zeichen ihrer inniger Liebe und Verehrung. Friede sei mit ihm!“ Der Name Ignatz Wolf klingt zwar nicht sonderlich sephardisch, das Grabmal ist allerdings auffallend orientalistisch in seiner Gestaltung, ein kleines Mausoleum gekappt mit einer stilisierten Torarolle (5-619). Eine onomastische (namenkundliche) Untersuchung der Grabinschriften in Währing eröffnet einen spannenden Einblick in den Wandel, kulturell wie geographisch, der Wiener jüdischen Bevölkerungen dieser Epoche.131 Von
131 Vgl. Muthsam, Maria Pia: Jüdische Namen und ihre Bedeutung, Wien 1986.
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Österreich ausgehend, wurden im 18. und 19. Jahrhundert europaweit Verordnungen zur Annahme von Familiennamen unter der jüdischen Bevölkerung erlassen. Das weitverbreitete Mythos der Zuordnung entsetzlicher Namen für die jüdische Bevölkerung seitens höhnischer habsburgischer Beamten wurde in onomastischen Studien bereits hinlänglich widerlegt, sowie das Argument, die Namenspatente hätten zu einer „Assimilation“ der jüdischen Bevölkerung beigetragen.132 Vielmehr zeichnen sich im Großen und Ganzen keine wesentlichen Unterschiede in der jüdischen und nichtjüdischen Namensgebung aus. Es hatten sich vor diesem Zeitpunkt, wie in der Epigraphik der Seegasse, schon wenigstens rudimentäre Familiennamen etabliert, allen voran aus Patronymen abgeleitet sowie Toponyme. Des Weiteren etablierten sich hiernach auch aus jüdischen Gemeindefunktionen abgeleitete Standesnamen, wie Rabbinowitsch (eigentlich auch ein Patronym aus dem slawischen, „Sohn des Rabbiners“), Chasan oder deren deutschsprachige Äquivalente Kantor. Hinzu kamen Namen von äußerlichen Merkmalen, Berufen, Pflanzen, Farben usw. hergeleitet, die somit auch nicht deutlich von nichtjüdischen deutschsprachigen Namen zu trennen sind. Manche Namen scheinen germanischen Ursprungs zu sein, könnten aber auch aus hebräischen Abkürzungen entstanden sein, so etwa Katz (eventuell von „kaf-tzadi“, kohen tzadik, sprichwörtich: „gerechter Kohen“). Andere wiederum sind unklaren Ursprungs: So könnten Varianten wie Kohn, Kahn, Kuhn und so weiter sowohl germanischen wie hebräischen Ursprungs sein. Ein Beispiel dieser kulturell-sprachlichen Verflechtung findet sich im hebräischsprachigen Teil der Inschrift der 1878 verstorbenen Charlotte Kohn, auf einem kleinen Grabstein in Form einer Torarolle, wobei ihr Familienname aus dem Deutschen mit den hebräischen Buchstaben „kuf-alef-hei-nun“ transkribiert wurde, statt der eigentlichen hebräischen Wurzel „kaf-hei-nun“ (12-366). Zugleich weist die hebräischsprachige Inschrift Charlotte als bat lewi aus, als „Lewitentochter“, was der deutschsprachigen Inschrift „Charlotte Kohn geb. Löwy“ entspricht und somit darauf hindeutet, dass Charlotte des lewitischen Stamms entsprang und nicht der Kohanim. Die Gräberprotokolle, die heute im Jerusalemer Bestand des Archivs der Kultusgemeinde aufbewahrt werden, verzeichnen nicht nur die Namen, sondern auch die Herkunftsorte der 8.694 darin aufgezählten Verstorbenen, und ermöglichen somit eine allgemeine Skizze der topographischen Verflechtung der sich neu zusammensetzenden Wiener Judenheit im Jahrhundert von 1784 132 Vgl. insb. Bering, Dietz: Der Name als Stigma. Antisemitismus im deutschen Alltag 1812–1933, Stuttgart 1987 sowie Albrecht-Weinberger, Karl: Zur Geschichte der „jüdischen Namen“, in: Steines, Patricia: Hunderttausend Steine. Grabstellen großer Österreicher jüdischer Konfession auf dem Wiener Zentralfriedhof Tor I und Tor IV, Wien 1993, insb. S. 336–344.
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bis 1884.133 Demzufolge waren viele der im Währinger Friedhof Bestatteten bereits in Wien geboren; viele der restlichen Bestatteten kamen aus anderen Ortschaften im Herrschaftsbereich der Habsburger, darunter Orten wie Prag, Pressburg, Lemberg, Brody, Jaroslaw, Budapest (vor 1873 Ofen oder Pest) und Nikolsburg. Eine große Anzahl der ausländischen Jüdinnen und Juden stammte aus anderen deutschsprachigen Ländern; so finden sich beispielsweise die Ortschaften Berlin, Fürth, Regensburg, Breslau und Mainz in der Liste. Die Nachnamen bilden zu diesen Herkunftshinweisen ein markantes Pendant: §2 der kaiserlichen Namensreform aus dem Jahre 1787 verbot zwar ausdrücklich Namensgebungen „nach dem Orte, wo sich einer entweder für beständig oder auch nur auf eine Zeit aufgehalten“, also Toponyme, „z. B. Schaulem Töplitz, Joachim Kollin etc.“ (diese vermutlich fiktiven Beispiele stammen beide aus Böhmen).134 Offensichtlich wurde diese Vorschrift allerdings nicht rigoros umgesetzt, wie aus den vielen toponymischen Familiennamen aus dem Währinger Gräberprotokoll hervorgeht.135 So lassen sich viele der bis in das 19. Jahrhundert als Familiennamen etablierte Toponyme in den deutschsprachigen Ländern verorten, darunter beispielsweise die Namen Arnstein, Bacharach, Bamberg, Berlin, Epstein, Frankfurt, Fürth, Hamburger, Königsberg, Koblenzer, Kreilsheim, Landauer, Landsberger, Mannheimer, Marburg, Münster, Nassau, Oppenheim, Passau, Wertheim und Würzburg. Zu diesen Ortschaften kommen auch Landestoponyme wie beispielsweise Deutsch, Engländer, Magyär [sic], Österreicher, Preuss, Schlesinger und Schweitzer hinzu. Spezifisch aus Österreich (im damaligen zisleithanischen Sinne) stammen die Namen Krakauer, Lemberger, Prager, Preßburg und selbstverständlich Wien bzw. Wiener. Unter den aschkenasischen Jüdinnen und Juden finden sich als Herkunftsländer neben Österreich, Ungarn und verschiedenen deutschsprachigen Ländern auch Polen, Russland, Rumänien, England und die Ukraine. Eine auffallende Ausnahme bilden die Verstorbenen mit sephardischen Namen, die aus den europäischen Zentren der sephardischen Judenheiten nach Wien emigrierten, darunter beispielsweise aus Bukarest, Triest, Amsterdam und Belgrad. Unter den sephardischen Einwanderern verzeichnete Herkunftsländer waren Griechenland, Mazedonien und Serbien – die Konzentration lag also auf den vorwiegend sephardischen Ländern des Balkans, die unter ehemaliger Hoheit des Osmanischen Reiches standen. Eine toponymische Ausnahme in diesem Zusammenhang bildet der Name Jerusalem, der eigentlich besser 133 Gräberprotokoll Währing 1784–1884, 3 Bde., CAHJP, AU/1741. 134 Patent Kaiser Joseph II., 23. Juli 1787, in: Přibram: Urkunden und Akten, Bd. 1, S. 582. 135 Vgl. hierzu Moses, Leopold: Jüdische Familiennamen – deutsches Kulturgut [1932], in: Steines, Patricia (Hg.): Leopold Moses Spaziergänge. Studien und Skizzen zur Geschichte der Juden in Österreich, Wien 1994, insb. S. 243.
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in eine andere onomastische Kategorie passen würde, die der archetypisch „jüdischen“ Namen. Hierzu zählen (auch in verdeutschter Form) die KohanimNamen Cahn, Cohen, Cohn und Kohn; die lewitischen Namen Levi, Lion, Löb, Löw und Löwy; sowie des Weiteren Kadisch (vom Gebet), Mendelsohn (ein jiddischstämmiger Patronym), Moses (als Nachname) und Rabinowitz. Auch viele stereotyp, weitläufig als „jüdisch“ verstandene Namen finden sich im Gräberprotokoll wieder, so beispielsweise Gold, Goldbaum, Goldfarb, Goldfinger, Goldlust und Goldstein oder Rosenberg, Rosenfeld, Rosenthal und Rosenzweig, wobei nicht nur die Präfixe „Gold“ und „Rosen“ als stereotypisch jüdisch gelten, sondern auch die Suffixe „Baum“, „Stein“, „Berg“ usw. Zu den eindeutig sephardischen Namen zählen die Namen ibero-romanischen Ursprungs wie Elias, de Majo, Margoles, Materas, Russo, Safarti, Teixeira de Matto, Todesco und Ventura, worunter sich auch das Toponym Perugia (eine Stadt in Mittelitalien) findet. In diesem onomastischen Überblick sind jene Familiennamen noch von Interesse, die durch bestimmte Träger später Berühmtheit erlangen sollten, wobei diese nicht unbedingt von einer Verwandtschaft zeugen (viele der berühmten NamensträgerInnen wanderten erst später nach Wien ein oder waren in Wien nie ansässig), so beispielsweise Adler, Bethauer, Bloch, Eisner, Frankl, Freud, Friedländer, Herzl, Kafka, Mahler, Popper, Strauss und Schnitzler. Ähnlich veranschaulichen die Ortshinweise in der Epigraphik des Währinger Friedhofs die eigentümliche Vernetzung der vorwiegend im Handel Tätigen der Wiener Judenheit in der Ära der Toleranz. So verweist die Inschrift des 1788 verstorbenen Josef de Majo auf seine Geburt „in der Stadt Kastoria“ (Griechenland) sowie die Tatsache, dass er „Bürger der Stadt Belgrad war“ (1-263) – ein bedeutsamer Hinweis, da jüdische Individuen zu dieser Zeit noch vom Bürgertum der Stadt Wien ausgeschlossen waren und in Österreich stets als Fremde behandelt wurden, was wiederum auf das besondere Privileg sephardischer Individuen wie Josef de Majo verwies, die im Osmanischen Reich einen bei Weitem besseren Stand genossen als ihre aschkenasischen Gegenüber in Österreich.136 Ähnlich zeigt sich auch die Inschrift des oben bereits erwähnten Simajo de Majo, ein Nachkommen der gleichen Familie, der als „Bürger der Stadt Manastir“ genannt wurde, der albanische Name des heutigen Bitola in Mazedonien. Auch unter der aschkenasischen Mehrheitsbevölkerung finden sich solche Hinweise, so beispielsweise in der Grabinschrift der 1789 verstorbenen Beila Sinzheim – wobei der Familienname schon offensichtlich als Toponym auf die Ortschaft in der damaligen Markgrafschaft Baden verwies, und wohl von einem entfernten Ahnen ihres Mannes stammte. Beila war die „Tochter des respektierten großen Rabbiners, Anshil Hahn aus Frankfurt“ und die „geliebte 136 Grunwald: Grabschriften, S. 371.
Grabsteine, Sepulkralepigraphik und Symbolik im Währinger Friedhof
Frau des Lewiten Simeon Sinzheim aus Landau“ (1-203).137 Vergleichbar ist in diesem Zusammenhang auch die Inschrift des 1793 verstorbenen Moshe Berlin, dessen toponymischer Familienname im Gegensatz steht zum Hinweis, dass er „aus der heiligen Gemeinde Trebitsch“ (Třebíč in Mähren) stammte (4-317).138 Ein neuartiger und vorausahnender Verweis findet sich in der Inschrift der 1797 verstorbenen Toltze Landesmann, deren Vater mit Nachnamen Mattersdorf wie die Stadt im damaligen Westungarn hieß, von der es allerdings hieß, dass sie „am heiligen Shabbat, am 7. Tammus [5]557 in Wien“ verstorben sei (4-186).139 In diesem Verweis auf die Stadt ihres Todes, umgedeutet auch der Lebensmittelpunkt, lässt sich der später weitverbreitete Ausdruck der Verwurzelung der Wiener Judenheit in der Reichshaupt- und Residenzstadt ahnen. Eine der markantesten Erneuerungen der jüdischen Sepulkralkultur am Währinger Friedhof ist mit dem Aufkommen der Kernfamilie im 19. Jahrhundert verbunden und schlägt sich hier in imposanten Familiengrüften nieder – was wiederum die zunehmende Säkularisierung und das Zurückdrängen des Religiösen in die Privatsphäre zeigt.140 Die europäischen Friedhöfe dieser Zeit, so der Historiker Philippe Ariès, entwickelten sich insgesamt zu „wahre[n] Museen liebevoller Familienbeziehungen“, allerdings wohlgemerkt nur unter den „Grabmälern der Reichen“, die sich eine solch prunkvolle Zurschaustellung leisten konnten.141 In Währing finden sich viele dieser Grüfte zumeist prominenter Familien entlang der Friedhofsmauer, vor allem am westlichen und nördlichen Rand des Friedhofs, so beispielsweise die des bereits erwähnten, 1871 verstorbenen Bankiers und Familienpatriarchen Jonas Freiherr von Königswarter (1-65, 1941 zum IV. Tor überführt, 14A-14-3). Häufig im neoklassizistischen Stil gehalten, waren die wertvollen Monumente geadelter Familien meist mit deren Wappen verziert. Freistehende Mausoleen finden sich vor allem in der sephardischen Abteilung, so beispielsweise das des bereits erwähnten Großhändlers Menachem Abram Russo. Die zunehmende Stellung dieser teils adeligen oder bloß wohlhabend bürgerlichen Abstammungslinien zeigt sich exemplarisch im ursprünglichen Grabmal des 1864 verstorbenen und später beim I. Tor des Zentralfriedhofs (8-62-49) umgebetteten Industriellen Joachim Ephrussi, der Stammvater dieser berühmten Familie, die im Zentrum von Edmund de Waals Bestseller Der Hase mit den Bernsteinaugen steht. Diese wird angeführt als „Matzewa [Denkmal] zum Grabe Ephrussi, das ist Herr Chaim […] aus dem Hause Ephrussi“ (18-7). 137 138 139 140 141
Grunwald: Grabschriften, S. 372. Grunwald: Grabschriften, S. 384. Grunwald: Grabschriften, S. 393. Vgl. zu dieser Thematik Hödl: Wiener Juden, S. 98–100. Ariès: Bilder, S. 273.
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Familien ließen sich auch zunehmend in geschlossen Parzellen, manchmal mit Gittern umzäunt, bestatten, deren Mitgliedern dann entweder auf einem und demselben oder mehrfach nebeneinander stehenden Grabsteinen gedacht wurde. Ein charakteristisches Beispiel ist die Grabstätte der Familie Epstein (1-126). Vier der Familienangehörigen, darunter der Großindustrielle Leopold und seine 1856 verstorbene Frau Caroline, deren 1859 im Alter von nur 28 Jahren verstorbener Sohn Josef und deren 1876 im Alter von nur 17 Jahren an Tuberkulose verstorbener Enkel Friedrich Josef, wird gemeinsam auf einer Marmorstele gedacht.142 Zutreffend kennzeichnet die Inschrift diese mit einem Eisengitter umfriedete Parzelle als „Ruhestätte der Familie Epstein“. Bloß der Familienpatriarch Leopold erhielt eine verhältnismäßig traditionelle hebräischsprachige Inschrift, die ihn als „gewir“ und „Rabbiner“ lobte, wobei Letzteres bloß abgekürzt mit einem „reish“ erscheint und somit eher die Bedeutung „Herr“ vermittelt, samt der zunehmend verbreiteten Formel „und er ehrt den Namen seiner Mutter“. Die in Deutsch und Hebräisch geteilte Laudatio vermittelt auch ein weiteres Beispiel der Unterscheidung des bürgerlichen vom synagogalen Namen, in diesem Fall Elieser bzw. Leopold. Seiner Frau Caroline wird hingegen nur auf Deutsch gedacht, mit der auffallend persönlichen Inschrift: „Sie war der gute Engel ihrer Familie, Ihr grosser Geist, ihr edles Gemüth, erwarben ihr die Verehrung Aller die sie kannten“. Ihr 1879 verstorbener und beim I. Tor des Zentralfriedhofs (6-1-7) beerdigter Sohn Gustav wurde 1866 in den Ritterstand erhoben, somit wird der hier in der Familiengruft begrabene Enkel Friedrich Josef auch stolz „Ritter von Epstein“ genannt. Des Weiteren offenbart ein persönlicher Zusatz, wie sehr der frühe Tod des Enkels die Familie bedrückte: „Er war der Stolz, die Freude, die Hoffnung der Seinen, Nun ist der früh Entrissene ihr unheilbarer Schmerz.“ Auffallend auf diesem Grabstein ist die Nennung der Geburts- und Todesorte, welche die internationale Verflechtung solcher Großindustriellenfamilien veranschaulicht. Caroline wurde demnach 1799 in Prag geboren und verstarb in Venedig, Leopold wurde 1798 ebenfalls in Prag geboren und verstarb in Wien. Gerade die Nennung Wiens als Geburts- bzw. Todesstadt wurde nach dieser Zeit zu einer deutlichen Trope in der Wiener jüdischen Sepulkralepigraphik. Die Vernetzung verlief aber noch tiefer und noch interkultureller: Vor der Stele befinden sich noch zwei flachliegende Gedenktafeln, die der 1890 verstorbenen, hier beigesetzten Tochter Anna und ihres 1898 verstorbenen und hier beigesetzten Ehemanns Joseph Henry Teixeira de Mattos gedenken. Der „Jonkheer“ (Junker) Joseph Henry – der seinem Familiennamen nach eindeutig Sepharde war – stammte aus Amsterdam, deswegen sind auch seine Inschrift 142 Vgl. Die Spuren der Familie Epstein bis heute, http://www.parlament.gv.at/GEBF/EPSTEIN/ FAMILIEEPSTEIN/Spurenbisheute/, letzter Zugriff: 31. August 2020.
Grabsteine, Sepulkralepigraphik und Symbolik im Währinger Friedhof
sowie die seiner Frau auf Niederländisch verfasst. Seine Gedenktafel vermittelt, dass er „Ritter verschiedener Orden“ war sowie „Generalkonsul zu Budapest“. Alle diese Inschriften, sogar die hebräischsprachige Inschrift Leopolds, sind vollkommen irreligiöser Natur, beziehen sich ausschließlich auf die familiären Beziehungen und vermitteln den Schmerz des Verlustes der einzelnen Familienmitglieder, so beispielsweise auch Annas niederländische Inschrift, die vom „tiefen Schmerz ihres Mannes und ihrer Kinder“ berichtet. Das Schwinden explizit religiöser Diskurse ging Hand in Hand mit deren Ersatz durch zunehmend ausgefeilte, oft in die Pathetik übertriebene und meist auf Deutsch verfasste Nachrufe, manchmal in Form längerer Gedichte. Eine solche Pathetik identifizierte Philippe Ariès ebenso in zeitgenössischer christlicher bzw. nichtjüdischer Sepulkralkultur, wo sie auch von einer Abnahme des Stellenwerts der religiösen Weltanschauung bekundet und zugleich die Verlegung der Schwerpunktsetzung hin zur Familie und zur Erinnerung im Diesseits.143 Ein Beispiel einer solchen pathetischen, vom Inhalt recht säkular wirkenden Inschrift ist die auf dem massiven Sarkophag der 1870 verstorbenen Johanna Todesco: „Zu schweren Leiden warst du auserlesen, Nun wird dir Ruhe unter’m kalten Stein; Wie den Geschwistern du stets treu u. hold gewesen, So wirst du ihnen unvergesslich sein!“ (3-320). Es finden sich in dieser Inschrift keine Hinweise auf Religiosität diesseits oder auf ein Weiterleben im Jenseits, lediglich von der „Ruhe unter’m kalten Stein“ wird gesprochen, wobei dies auch eine Wandlung der häufigen Selbstbezüge auf den Grabsteinen aus der hebräischen Epigraphik darstellt. Bezeichnend ist hier auch der Hinweis auf die Geschwister, welches wieder den aufkommenden Familienbezug anstatt des allgemeineren Gemeinschaftsbezugs des 19. Jahrhunderts unterstreicht. Nicht zuletzt bildet das Wort „unvergesslich“ nicht nur ein Merkmal der abnehmenden Religiosität dieser Ära – das Weiterleben bewegt sich fortan eher in der Erinnerung der Überlebenden im Diesseits und nicht mehr im wie auch immer vorgestellten Jenseits – dieses Epitaph findet sich auch häufig in der zeitgenössischen christlichen (oder in diesem Kontext eben besser gesagt nichtjüdischen) Epigraphik. Die hebräischsprachige Inschrift auf Johanna Todescos Sarkophag unterstreicht zwar doch eine gewisse „Jüdischkeit“ der Verstorbenen, insbesondere durch den Gebrauch ihres synagogalen Namens samt Verweis auf ihren Mann: „Die respektierte Chana, Frau des respektierten gewir, der große Rabbiner Zwi, bekannt als Hermann Todesco, seine Seele ruht im Garten Eden“, wobei allerdings die Nennung im Hebräischen seines bürgerlichen deutschen Namens auffällig ist. Auffällig ist nebenbei bemerkt auch die Unterscheidung des Todes- und
143 Ariès: Bilder, S. 264.
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Bestattungsdatums: Sie ist „gestorben am Dienstag, den 7. Adar Rishon und beerdigt am Donnerstag im Jahre 630 der kleinen Zeitrechnung“. Eng mit dieser Entwicklung hin zu familiären, zunehmend persönlichen und oft pathetischen Erinnerungsformen verbunden ist das aufkommende Gedenken an verstorbene Kinder, ein Phänomen, dass hinsichtlich der viel größeren Kindersterblichkeitsrate vor dem 20. Jahrhundert recht häufig vorkam. Wurden Kinder in früheren Jahrhunderten meist in den Grabstätten von Familienangehörigen beigesetzt und, wenn überhaupt, bloß auf deren Grabinschriften erwähnt (eine ergreifende Ausnahme wurde im vorherigen Kapitel im Falle der Geschwister Gela und Jentl besprochen), so verwies Philippe Ariès auf die europaweite Entwicklung individualisierter Kindergräber und ein explizites Gedenken an verstorbene Kinder im 19. Jahrhundert.144 Des sephardischen Jungen Jakob de Majo, 1793 im Alter von nur sieben Jahren von einer Kutsche überfahren und getötet, wurde in einem frühen solchen Beispiel in seiner hebräischsprachigen Grabinschrift mit folgenden Worten gedacht: „Hier ist verborgen ein Schätzchen, ein netter und angenehmer Schüler, ein junger Weiser [Verweis auf Kiddushin 32b], das war Jakob, Sohn des respektierten Herrn Josef de Majo, seliges Andenken, aus Kastoria [Griechenland]“ (1-228).145 Das talmudische Zitat wies den Jungen implizit als religiösen Schüler aus. Bei verstorbenen Säuglingen, beispielsweise die 1865 im Alter von knapp einem Jahr verstorbene Valerie Pressburger, findet sich vielleicht nur mehr ein Name, aber dennoch ein eigener, kleiner Grabstein, in ihrem Fall ein schlichtes aber dennoch barock anmutendes Steinchen, mit ihrem Namen in gotischer Schrift verziert (12-3). Bei älteren Jugendlichen, so beispielsweise bei der 1798 im Alter von 22 Jahren verstorbenen Anna Spitz und ihrem mit 19 Jahren nur wenige Tage später verstorbenen Bruder Philipp (1-122A/B) finden sich aufwendigere Inschriften. In diesem Fall werden die Verstorbenen auf Hebräisch jeweils als „Jungfrau“ und „Junggesellen“ ausgewiesen, was auf die Tatsache deutet, dass beide zwar erwachsenen Alters, jedoch noch nicht zu verheirateten, unabhängigen Gesellschaftsmitgliedern herangewachsen waren. Dies wird auch durch das prominente Patronym in beiden Fällen unterstrichen, welches auf den Vater, den „großen Rabbiner [sprich: Herr] David Spitz“, verwies.146 Dieser nicht einzigartige Fall des Ablebens zweier Geschwister innerhalb der gleichen Woche lässt eine Seuche vermuten. In manchen Fällen war das Gedenken an die Kindern nach wie vor dem der Eltern bzw. des Vaters untergeordnet, so beispielsweise bei der Grabinschrift des 1877 verstorbenen Jungen Wilhelm Kraus, die am Fuße des Grabsteins seines zwei Jahre zuvor verstorbenen Vaters 144 Ariès: Bilder, S. 264. 145 Grunwald: Grabschriften, S. 378. 146 Grunwald: Grabschriften, S. 395.
Grabsteine, Sepulkralepigraphik und Symbolik im Währinger Friedhof
Moritz graviert wurde, obwohl die beiden in nebeneinander gelegenen Grabstätten bestattet wurden (8-10A und 8-11B). Ein bewegendes Gedicht findet sich auf dem doppelten Grabstein der beiden 1872 innerhalb weniger Tage verstorbenen Kinder Olga und Richard Sonnenthal: „Als Blumen konnten Sie gelten, Die uns hier auf Erden entzückt, Jetzt hat Sie der Herr aller Welten In seinen Garten gepflückt“ (7-377). Nicht zuletzt zeugte das Gedenken an jüdische Frauen am Währinger Friedhof von einem komplexen Wechselspiel von Kontinuität und Bruch in der Wiener jüdischen Sepulkralkultur dieser Epoche. Auf den ersten Blick zeugen viele der Inschriften durch das 19. Jahrhundert von einer nach wie vor untergeordneten Rolle der Frau im Erinnerungsdiskurs der Sepulkralepigraphik, wie die bereits erwähnten Zwillingsstelen der Geschwister Henriette Forchheimer und Vincenz Landauer anschaulich beweisen. So erklärt die lange Laudatio auf Henriettes Grabstein: „Wie als Tochter treu und wahr / Gattin sie und Mutter war / Mutter auch sie Kindern hiess / Die sterbend ihr die Schwester liess“, und verband mit ihr des weiteren Substantive wie „Zärtlichkeit“ und „Liebe“. Die Laudatio ihres jüngeren Bruders Vincenz kennzeichnete ihn hingegen als „k.k. Ober Ingenieur“, der zwar vergleichbar mit seiner Schwester durch sein „warmes Herz“ und „reiches Gemüthe“ ausgezeichnet war, allerdings auch explizit für Errungenschaften wie seine „unbegrenzte Güte“, seinen „Beruf “ und sein „Wissen“ und zuletzt durch seinen „Kranz am Ziel vom edlen Streben“ gelobt wurde. Somit wurde die Femininität im Falle der Schwester durch persönliche, emotionale Tugenden unterstrichen sowie durch ihre mütterliche Rolle im erweiterten Familienkreis (so auch gegenüber den Kindern ihrer verstorbenen Schwester), während die Maskulinität im Falle des Bruders durch traditionelle Leistungen wie Gelehrsamkeit, Professionalismus und Philanthropie unterstrichen wurde. In diesen durchaus pathetischen, deutschsprachigen Inschriften verschmolzen somit die Werte der neuen, heraufstrebenden weltlichen Bourgeoisie mit denen des religiösen Judentums vergangener Jahrhunderte: Gewandelt hat sich bloß die Sprache. Gerade die vorrangig mütterliche Rolle der Frau im Bürgertum des späten 19. Jahrhunderts zeigt sich prägnant in der Inschrift der 1883 verstorbenen Louise Singer, eine von drei ausschließlich deutschsprachigen, insgesamt irreligiösen Inschriften der Hirschler/Singer Familie, die gemeinsam auf deren monumentalen Grabstein an der Friedhofsmauer angebracht sind: „Sie wollt nur Eines, Eins allein, Die allerbeste Mutter sein“ (11-8A-D). Die geschlechtsspezifische Gedenkkultur der Wiener Judenheit des 19. Jahrhunderts zeigt sich ebenso in überlieferten Grabreden, die einen inhaltlich, thematisch und stilistisch durchaus vergleichbares Pendant zu den Grabinschriften bilden. So spendete am 14. Jänner 1866 der Oberrabbiner Adolf Jellinek in seiner „Rede am Sarge der Frau Therese Brandeis geb. Cohn, Tochter des R. [von reish, Abkürzung für „Rabbiner“; in diesem Kontext „Herrn“] Meschullam
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Salman Cohn“ (man beachte das Patronym bereits im Titel) fast so viele Worte für ihren Vater als für Therese selbst – die wiederum dadurch gelobt wurde, dass sie das Leben ihres Gatten „durch ihre großen Tugenden, köstliche Gabe, Liebe und Zärtlichkeit verschönert hatte“, bevor sie „im Kreise ihrer Kinder, Enkel und Urenkel“ ihre letzten Jahre auslebte. Charakteristisch schloss Jellinek die Grabrede mit den Worten: „Ja, wir preisen Dich, biedere Tochter eines frommen Vaters, Du wackere Mutter ausgezeichneter Kinder, Du gläubige Israelitin und Zierde echt jüdischer Frauen.“147 Somit wurde nicht nur die Femininität überhaupt, sondern vor allem das „jüdische Frausein“ klar umrissen: Selbstlose Hingabe zum Vater, zum Ehegatten und zu den Kindern. Die Grabstätte der Therese Brandeis konnte ich nicht identifizieren. Ähnlich gestalteten sich die Grabreden für jüdische Frauen des zweiten Oberrabbiners, Moritz Güdemann: So nannte er die am 11. Jänner 1874 verstorbene Julie Ladenburg (18-6) in Anlehnung an die biblische Noomi ein „Urbild echter Weiblichkeit“. Zu ihren Tugenden zählten „Einfachheit“ und „Keuschheit“, klassische Zuschreibungen der Weiblichkeit in diesem Zeitalter. Allerdings erwähnte Güdemann auch die „Freunde und Freundinnen“, denen ihr Haus ein wichtiger „Sammelpunkt“ war – so zeigt sich, wie die Salons jüdischer Frauen im 19. Jahrhundert sowie ihre Tätigkeit im sozialen und philanthropischen Bereich ein Pendant bildeten zur beruflichen Sphäre ihrer Ehegatten.148 Andererseits wurde Frauen bereits in den frühesten Inschriften in Währing zunehmend im Zusammenhang mit ihrer Philanthropie gedacht, einer Tätigkeit, die wie ein Ersatz des ihnen weiterhin verwehrten beruflichen Lebens oder einer höheren Bildung fungierte. So finden sich bereits auf dem eine Torarolle nachahmenden Grabstein der 1797 verstorbenen Barbara Königswart erstmals eigenständige Titel für eine jüdische Frau. So heißt es in der hebräischsprachigen Inschrift: „Hier ist verborgen eine aufrichtige Frau, die katzina und gewira, Frau Blümle“ (4-387).149 Des Weiteren wurde ihrer in einer auffällig detaillierten Laudatio gedacht: Klagt zutiefst, ihr großzügiges Volk, weinet laut in Trauer für die gewira, die Gerechtigkeit suchte, die gerecht handelte, hier verweilt sie im Grabe. Ihre Tage in diesem Leben verbrachte sie als Hochburg und Zuflucht für Alle, die vorbeigingen. Von ihrem Brot gab sie den Armen, aus ihrer Tasche gab sie den Bedürftigen. Die Herzen der Waisen und Witwen und den Liebhabern der Tora machte sie glücklich mit den Früchten ihres
147 Jellinek: Reden, S. 114–120. 148 Güdemann, Moritz: Grabreden, S. 6–8. 149 Grunwald: Grabschriften, S. 393. Vgl. das Photo und die Diskussion zu diesem Grabstein in Corbett, Tim: A „Capable Wife“ or a „Woman of Valor“? Reading Gendered Discourses and the Commemoration of Women in Vienna’s Jewish Cemeteries, in: Nashim 32 (2018), S. 86–87.
Grabsteine, Sepulkralepigraphik und Symbolik im Währinger Friedhof
Handelns. Nun ist sie gegangen ins Land des Lebens um das Gute zu sehen, das in ihrem Schicksal aufbewahrt ist.
Solch komplizierte hebräischsprachigen Laudationes, die jüdischen Frauen mit Ehrentiteln für ihre Philanthropie gedachten, entsprachen noch die begrenzten Vorstellungen „weiblicher“ Tugenden, die im religiösen Judentum bisher fest verankert waren, doch sprachen sie in diesem Ausmaß und in der Eigenständigkeit der hier angeführten Errungenschaften zugleich vom zunehmenden Sichtbarwerden jüdischer Frauen zu dieser Zeit. Diese lange Laudatio der Blümle Königswart ergibt übrigens aus den ersten Buchstaben jeder Zeile („bet-lamed-jud-mem-lamed-hei“) ein Akrostichon ihres Vornamens. Eine revolutionäre Inschrift findet sich in diesem Zusammenhang auf dem Grabstein der 1793 verstorbenen Leibe Königsberg, nach der Inschrift von Carl Hönig erst die zweite Inschrift mit einem deutschsprachigen Teil in Währing. Zum Schluss der Laudatio steht: „L. Königsberg, geborne Horwitz, sie starb zu frühe für Tochter und Freunde“ (4-384).150 Diese Inschrift ist nicht nur auffällig, weil zum ersten Mal in deutscher Sprache mehr als nur der Name genannt wurde: Diese deutlich persönliche und insofern irreligiöse Laudatio stellt auch das erste Beispiel dar, wo einer jüdische Frau außerhalb des Familienkreises gedacht wurde, nämlich auch durch ihre „Freunde“, zugleich ein prägnanter Hinweis auf die zunehmend wichtige Rolle jüdischer Frauen im Wiener Gesellschaftsleben dieser Zeit. Eine Inschrift, die die verschiedensten Elemente der Wiener jüdischen Sepulkralepigraphik des 19. Jahrhunderts in sich vereinigt, findet sich auf dem Grabstein der 1871 verstorbenen Nina Goldsand (19-75). Diese befindet sich auf einer Marmorstele und ist auf der westlichen Seite in einer deutsch- und auf der östlichen in einer hebräischsprachigen Inschrift geteilt, die somit die weitverbreitete Intersektionalität der damaligen Judenheit unterstreicht: österreichisch und jüdisch zugleich, wobei das weltliche mit dem sakralen kontrastiert, diesem aber nicht widerspricht. Charakteristisch für eine jüdische Frau dieser Zeit wurde Nina Goldsand in einer höchstpersönlichen, pathetischen Inschrift mit Verweis auf ihre Familie gedacht, in auffallend irreligiösen Tönen: „Geliebte Mutter, theure Gattin, Ob auch der Zahn der Zeit zerbröckeln diesen Stein, Dein theurer Name wird geprägt in unsre Herzen sein. Die Erde nahm nur, was die Erde gab, Der Mutter Liebe überdauert weil das Grab.“ Wieder einmal findet sich kein Hinweis auf ein Fortbestehen über das Grab hinaus, mit Ausnahme der des „theuren Namen“ und der „Mutter Liebe“, sprich Ruf und Erinnerung. Die klassische Geschlechtsrolle wird im Hebräischen unterstrichen durch die charakteristische Bezeichnung als „tüchtige Frau“. 150 Grunwald: Grabschriften, S. 381.
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Der Währinger Friedhof, vor allem in den letzten Jahrzehnten seiner Benützung als Bestattungsareal, zeugte zusammengefasst von der fortschreitenden Emanzipation der jüdischen Gemeinde, deren stetiges Wachstum durch Zuwanderung, insbesondere aus dem Habsburgerreich, und der allmählichen Festigung der sozialen und wirtschaftlichen Stellung innerhalb der Wiener Gesellschaft. Nicht zuletzt zeugen davon die prunkvollen Grabdenkmäler selbst, die diesen als einen der weltweit einzigen erhaltenen Biedermeierfriedhöfe kennzeichnen. So mag es nicht verwundern, dass der Währinger jüdische Friedhof in seiner räumlichen Prägung, in seinen Grabdenkmälern sowie in seinem sepulkralepigraphischen Erinnerungsdiskurs tiefe Parallelen zum zeitgenössischen St. Marxer Kommunalfriedhof auf der Landstraße aufweist, der fälschlicherweise oft in der Geschichtsschreibung, in Reiseführern sowie am Friedhofsgelände selbst als „letzter Biedermeierfriedhof der Welt“ angeführt wird. Dies weist auf eine mehr oder weniger gezielte Ausgrenzung des Währinger Friedhofs aus dem Bewusstsein der Stadtlandschaft und somit der jüdischen Geschichte aus dem Bewusstsein der Stadtgeschichte, wie hier in späteren Kapiteln aufgezeigt wird. 4.4
Zum Vergleich: Der St. Marxer Kommunalfriedhof
Der St. Marxer Friedhof im 3. Bezirk wurde, wie der Währinger Friedhof, im Zuge der Josephinischen Friedhofsreformen 1784 eröffnet und bereits 1874, einige Jahre vor Währing, infolge der Eröffnung des neuen Zentralfriedhofs für Beerdigungen geschlossen. Er bleibt als einziger der im Josephinischen Zeitalter angelegten Kommunalfriedhöfe fast zur Gänze erhalten. Auch er formt eine Art Soziogramm, das die damalige, vorwiegend katholische Gesellschaft spiegelt: So finden sich in den Grabmonumenten, zumeist klassizistische Steine mit angebrachten Inschriftentafeln, Militärbeamte, Großindustrielle, Bankiers, Architekten sowie selbstverständlich Komponisten verewigt, darunter Wolfgang Amadeus Mozart, Julius Egghard und Josef Strauss (1909 auf den Zentralfriedhof überführt, 32A-44) – auf die dort bestatteten Frauen komme ich noch zu sprechen. Hinzu kommt eine ausgeprägte kleinbürgerliche Schicht, die sich deutlich mit Pseudotiteln auswies, die beispielsweise mit der Abkürzung „bürgl.“ gefolgt etwa von einer Berufung, gekennzeichnet waren, und die oft durch Frauen bzw. Witwen von ihren Männern übernommen wurden.151 Die Titulatur in den Grabinschriften des St. Marxer Friedhof erreichte somit durchaus amüsante Ausmaße, wie der Publizist Johannes Kunz aufzeigte, so beispielsweise die Hinweise auf eine „fürstl. esterhazy’sche Oberbuchhalterswitwe“, einen „K.u.K. 151 Veigl: Morbides Wien, S. 143.
Zum Vergleich: Der St. Marxer Kommunalfriedhof
Hoffriseur“ oder einen „Lust- und Küchengärtner“.152 Man beachte allerdings in den folgenden Beispielen den durchaus späten Zeitraum: Im Gegensatz zur jüdischen Sepulkralkultur wurden hier die Grabstätten grundsätzlich immer wieder neu belegt und sind somit weitgehend jüngeren Datums. Es wird auch daran erinnert, dass die Verstorbenensuchmaschine der Friedhöfe Wien GmbH aufgelassene Friedhöfe wie St. Marx nicht umfasst, daher können hier keine Grabstellennummern angegeben werden. Ungewöhnlich im Vergleich zur zeitgenössischen jüdischen Sepulkralepigraphik waren die Hinweise auf Grundbesitz, so etwa in der Inschrift des 1855 verstorbenen „Magiestratische[n] Markt-Ober-Comissär“ Joseph Fromm, der zugleich „Miethauseigenthümer auf der Landstrasse Nro 170“ war. Solche Hinweise finden sich nicht am Währinger Friedhof, obwohl die jüdische Bevölkerung spätestens mit der Dezemberverfassung 1867 auch bezüglich des Grundbesitzes ihren katholischen Gegenübern gleichberechtigt war. Ähnlich häufig sind in St. Marx die Verweise auf die Ansässigkeit in der Haupt- und Residenzstadt, so beispielsweise in der Inschrift des 1858 verstorbenen Josef Lemberger (man beachte das galizische Toponym), dessen mit dem Wort „Unvergesslich“ verzierten und von seiner „tieftrauernden Frau Johanna Haala“ geweihten Grabstein seiner gedenkt als „Logenmeisters des k.k. Hofburgtheaters und Bürgers von Wien“. Der Hinweis auf das Bürgertum tauchte später auch häufig in den jüdischen Grabinschriften beim I. Tor des Zentralfriedhofs auf. Noch spezifischer sind hier allerdings die St. Marxer Inschriften mit ihren Hinweisen sogar auf bestimmte Bezirke, wie oben im Falle des Miethauses, sogar mit Hausnummer, auf der Landstraße, oder in der Grabinschrift der 1859 verstorbenen Elisabeth Mayer, der „bürgl. Rauchfangkehrermeisters Gattin in der Leopoldstadt“, die „unvergesslich“ war „ihrem tieftrauernden Gatten und ihren vier Kindern“. Diese Inschrift schließt exemplarisch mit der geläufigen Formel: „Friede ihrer Asche“. In einem Fall findet sich sogar eine Wohnungsadresse, nämlich in der Inschrift des 1873 verstorbenen Laurenz Beilner, „Hauseigenthümer auf der Landstraße Sechskrügelgasse 19/2“. Dennoch sind die Gemeinsamkeiten zwischen den zwei Friedhöfen und ihren Grabinschriften größer als die Unterschiede. So findet man in St. Marx wie in Währing fast allgegenwärtig Hinweise auf Titel, vor allem Adelstitel, Berufszweige, die Zugehörigkeit zu bestimmten Orden oder sonstige Auszeichnungen. Ein repräsentatives Beispiel ist die Inschrift des 1859 verstorbenen Andreas Lanser, „jubil. Vice. Bürgermeisters der Haupt- und Residenzstadt Wien“, oder die Inschrift des 1858 verstorbenen Josef Kotschy, „jubil. k.k. Finanz Rath und Gefallen-Oberamts Director [und] Ritter des Franz-Josef-Ordens“. 152 Zit. nach Kunz, Johannes: „Der Tod muss ein Wiener sein…“. Morbide Geschichten und Anekdoten, Wien 2009, S. 134.
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Ebensolche k.k. Titel sowie Ordenstitel fanden sich später auch häufig beim I. Tor wieder. Wie in den jüdischen Inschriften hatte sich in den christlichen eine Wandlung hin zur Irreligiosität vollzogen, wobei die Steine nicht mehr wie früher, wie es am Stephansfreithof etwa der Fall war, ein Wiedersehen im Jenseits heraufbeschworen, sondern die Erinnerung an die Verstorbenen im Diesseits, vorwiegend spezifisch im engeren Familienkreis evozierten. Dennoch finden sich in St. Marx noch viele, meist schlichte Hinweise auf den christlichen Glauben, so etwa in der Inschrift des 1858 verstorbenen Franz Schröder, die mit den Worten „Hier ruhet in Gott“ öffnet und mit der Abkürzung „R.I.P.“ (requiescat in pace, Ruhe in Frieden) schließt. Im Gebrauch der lateinischen Abkürzung hier könnte man ein katholisches Pendant zum weiteren Gebrauch von hebräischen Abkürzungen in Grabinschriften in Währing erkennen, so vor allem „tantzaba“. Herausstechend ist auf dem Grabstein des 1861 verstorbenen „Schlossermeister“ und „Hausinhaber in Erdberg“ Michael Schmidt ein Hexagramm, das einen Davidstern anmutet aber gewiss keinen Hinweis auf Jüdischkeit darstellt: Dies unterstreicht die relative Neuartigkeit des Hexagramms als eindeutig jüdisches Symbol. Auch das monumentale Friedhofsportal birgt im Giebel – unter einem Kreuz – ein Hexagramm. Die Zweisprachigkeit in den Inschriften am St. Marxer Friedhof war sogar bei Weitem vielfältiger als das Hebräische/Deutsche in Währing: So finden sich in St. Marx ferner Inschriften auf Englisch, Französisch, Griechisch, Polnisch, Russisch, Serbisch und Ungarisch. Die ungarischsprachige Inschrift des 1859 verstorbenen Dániel Almási Rudics nennt ihn beispielsweise, vergleichbar mit den deutschsprachigen Inschriften: „cs. kir. [k.k.] Hofrat, ehemaliger Vorsitzender des Gerichtshofes zu Pest, Ritter des Ordens der Eisernen Krone“. Überhaupt zeugen die Grabdenkmale im St. Marxer Friedhof von einer weitreichenden internationalen Vernetzung vieler der hier Bestatteten, so beispielhaft in der Grabinschrift des Ehepaars Joseph und Anna Luise Auguste Zdekauer, 1845 und 1846 „in Wien“ verstorben, jedoch „in Prag“ bzw. „in London“ geboren. Der „Migrationshintergrund“ war keineswegs eine spezifisch „jüdische“ Erscheinung im Wien des 19. Jahrhunderts. Die Intersektionalität von Sprache, Herkunft, Stand, Berufung sowie nicht zuletzt Konfession zeigt sich paradigmatisch im deutschsprachigen Teil der griechisch-deutschen Inschrift auf der mit einem Kreuz geschmückten Marmorstele des 1857 verstorbenen Peter Pappa Georg, „Grosshändler aus Krusioro [womöglich das heutige Kruševo] in Macedonien“, die somit ein christlich-orthodoxes Pendant zu den oben besprochenen Grabstätten der sephardischen Großhändlerfamilie de Majo aus Mazedonien im Währinger Friedhof darstellt. Das in Währing erkennbare, ambivalente Wechselspiel der zunehmenden gesellschaftlichen Stellung der Frau und ihrer gleichzeitig fortdauernden Unterordnung ihren männlichen Verwandten bzw. Gatten gegenüber kommt auch in
Schlussbemerkungen
St. Marx deutlich zum Ausdruck. So werden auf ein und demselben Grabstein, eine klassizistische Stele samt Engel, beide Ehefrauen des 1874 verstorbenen „Herr Mathias Schönmann, Bürger und Hauseigenthümer“ jeweils als „Bürgers und Hausinhabers-Gattin“ genannt, nämlich seine erste, 1859 verstorbene Frau „Anna Schönmann geborne Lemle“ und seine zweite, 1870 verstorbene Frau „Maria Schönmann geborne Frühwirth“. Wiederum pathetisch erscheint die Benennung der 1863 im Alter von nur fünf Jahren verstorbenen Ludmilla Uherek als „k.k. Majors Tochter“, wobei dies auch ihr männliches Pendant findet in der Benennung des 1864 im Alter von nur eineinhalb Jahren verstorbenen Georg Höck als „Gastwirths-Sohn“. Eher eigenständig erscheint die 1859 verstorbene Anna Holzwarth, deren mit einigen Exemplaren in Währing fast identischer, „von ihrem Gatten“ gewidmeter Grabstein samt der Inschrift „Unvergesslich!“ in der Architrave sie als „Frau Anna Holzwarth geborene Back, Hausinhaberin Leopoldstadt N. 450“ kennzeichnet. Wegweisend ist in diesem Zusammenhang die Inschrift des bereits erwähnten Laurenz Beilner, „dessen Gattin Frau Sabine Beilner“, ein Jahr zuvor verstorben, in der gleichen Grabstätte liegt: Ihre gemeinsame Inschrift endet mit den Worten „Friede ihrer vereinten Asche!“ Somit verschob sich die Schwerpunktsetzung der Inschrift auf das Paar und ihre Liebe, wobei Mann und Frau gleichgestellt in den Inschriften gedacht wurden, wie es im Zentralfriedhof in den folgenden Jahrzehnten zunehmend der Fall sein sollte. 4.5
Schlussbemerkungen
Der Währinger jüdische Friedhof war der erste jüdische Bestattungsraum in der Wiener Geschichte, der Seite an Seite mit einem christlichen Friedhof errichtet wurde, fast wie eine jüdische „Abteilung“ neben der christlichen „Abteilung“. Dies reflektierte die stetige Annäherung ehemals nach Konfessionen getrennter gesellschaftlicher Schichten im Verlauf des Jahrhunderts nach den Toleranzpatenten, verkörperte allerdings zugleich räumlich die fortdauernde Segregation konfessioneller bzw. kultureller Kollektive. Das Verhältnis der Wiener jüdischen zur nichtjüdischen Bevölkerung wie das der Kultusgemeinde zum Staat blieb weiterhin, trotz Annäherung, von einer gewissen Ambivalenz und teilweise von Abneigung geprägt. Dennoch zeugt die Sepulkralkultur dieser Ära, sowohl in jüdischen wie in christlichen Friedhöfen, von einer wachsenden Verflechtung der verschiedensten Gesellschaftsgruppen in Wien als Mikrokosmos des zu dieser Zeit endgültig plurikulturell geprägten Habsburgerreiches sowie der inzwischen unaufhaltbaren Dynamik der Emanzipationsbewegung in all ihren Facetten: rechtlich, politisch, sozial, wirtschaftlich, religiös, kulturell und nicht zuletzt mit Bezug auf die gesellschaftliche Stellung der Frau.
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Diese tiefgreifenden Veränderungen zeigten sich in einer wachsenden Intersektionalität des individuellen wie gemeinschaftlichen Lebens der Wiener Judenheit, die markant in den Grabinschriften zum Ausdruck kamen. So wurden aus der religiösen hebräischsprachigen Epigraphik überlieferte Traditionen zum Teil weitergeführt und zum Teil aufgegeben, zum Teil aber auch in gewandelter Form neu gestaltet, vor allem in den aufkommenden deutschsprachigen Inschriften. Zu den überlieferten Ehrentiteln und Laudationes kamen neue Titel, vor allem weltliche Titel, Adelstitel und Amtstitel, und die ehemals fast ausschließlich religiöse, jenseitsbezogene Laudationes wurden zunehmend von weltlichen, diesseitsbezogenen Laudationes ergänzt oder sogar ersetzt. So kam eine wachsende Anzahl an Zugehörigkeitssphären in der Sepulkralepigraphik zum Ausdruck, darunter nicht nur das religiöse Judentum und das (inzwischen fest organisierte) jüdische Gemeindewesen, sondern auch die Zugehörigkeit zur Wiener bzw. zur habsburgischen Gesellschaft, zum Bürgertum und zum Adel sowie nicht zuletzt die zunehmende Betonung der Zugehörigkeit im Familienkreis. Der stetige inhaltliche und sprachliche Wandel der Inschriften zeugt somit nicht von einem Bruch mit jüdischen kulturellen und gemeinschaftlichen Identifizierungsmustern, sondern von deren fortdauernden Neuverhandlung durch diese Epoche des gewaltigen Umbruchs. Das Religiöse und Weltliche, Hebräisch- und Deutschsprachige, Jüdische und Wienerische/Österreichische kommt in den Grabinschriften in Währing nicht als Paradox oder Konflikt zum Ausdruck, sondern als zutiefst harmonisches und facettenreiches Ganzes. Somit wurde die „Jüdischkeit“ zunehmend in bestimmten Kontexten und zu unterschiedlichen Graden betont und existierte nun Seite an Seite mit neuen Sphären der Zugehörigkeit und Identifikation. Gerade die Zweisprachigkeit vieler der Grabinschriften erlaubte diese harmonische Veranschaulichung heterogener Zugehörigkeiten und Lebenssphären. Wie die letzte Analyse zeigte, zeugt dieser Aufbruch tiefe Parallelen auf mit der zeitgenössischen Entwicklung in der nichtjüdischen Wiener Sepulkralkultur. Gleichzeitig weist der Währinger Friedhof starke Parallelen zu anderen zeitgenössischen jüdischen Friedhöfen Zentraleuropas auf, so beispielsweise zum alten jüdischen Friedhof in Žižkov, Prag: Obwohl er zwar bereits im späten 17. Jahrhundert angelegt wurde, war dieser Friedhof infolge der Josephinischen Friedhofsreformen ab 1787 und der damit einhergehenden Schließung des berühmten alten Friedhofes im Stadtteil Josefov bis in das späte 19. Jahrhundert der Hauptfriedhof der jüdischen Gemeinde Prags und somit vergleichbar mit dem Währinger Friedhof. Hier wurden sogar mehrere Familien beerdigt, die auch in Wien verzweigt waren und dessen Angehörige auch in Währing beerdigt wurden. Laut der Historikerin Martina Niedhammer wurde Wien ein so wichtiger Bezugspunkt für die Prager Judenheit, dass sie sich „immer häufiger in Wien bestatten ließen, auch wenn sie den größten Teil ihres Lebens in Prag
Schlussbemerkungen
verbracht hatten“. Ihrer Studie zu diesem Friedhof zufolge trat auch hier ab etwa 1800 eine allgemeine Zweisprachigkeit auf, vor allem Hebräisch/Deutsch, wobei Letzteres vor allem Verweise auf „weltliche Namensbezeichnungen und Leistungen“ ermöglichte sowie eine „in der Sprachdoppelung zum Ausdruck kommende Teilung der Lebenssphären […] in einen jüdischen und nichtjüdischen Bereich“. Reflektierte Ersteres nur mehr das „religiöse, gemeindliche Leben“, verrät Letzteres eine „soziale Selbstpositionierung“, die des Weiteren auch die persönliche Individualität verstärkt von der kollektiven Zugehörigkeit unterschied. Signifikanterweise unterstrich auch Niedhammer, dass die damalige, offensichtliche „Teilung in einen religiösen und einen säkularen Lebensbereich“ zudem auch als „konfessionsübergreifenden Phänomen“ verstanden werden muss, das der christlichen und jüdischen Bevölkerung gemein war.153 Ähnliche Befunde zeigte auch die Historikerin Christiane Müller mit Hinblick auf den zeitgenössischen jüdischen Friedhof in der Schönhauser Allee in Berlin: So wurde beispielsweise Hebräisch für religiöse und Deutsch für weltliche Ämter innerhalb der jüdischen Gemeinde eingesetzt, offensichtlich nicht wegen einer „Assimilation“ an eine als „christlich“ verstandene und unveränderliche „Leitkultur“, sondern als Unterscheidung der verschiedenen Lebens- und Tätigkeitsbereiche innerhalb ein und derselben jüdischen Gemeinde. Mit Bezug auf das frühe Auftreten des Deutschen in hebräischen Schriftzeichen bemerkte Müller ausdrücklich, dass es sich hier keineswegs um Jiddisch handle, was ohnehin nicht von der damaligen Berliner jüdischen Bevölkerung gesprochen wurde. Der Wandel vom Hebräischen hin zum Deutschen zeigte insgesamt „mehr Kontinuität als erwartet“, wobei beide Varianten von „Einleitungsformel, Namen und Familienstand, Daten, und dem abschließenden Segenswunsch“ geprägt waren. Auch Müller lehnte somit den Begriff der Assimilation als „nicht befriedigend“ ab, und schloss, dass es sich hier um „das sich im 19. Jahrhundert radikal verändernde Lebensgefühl, das sich genauso in christlichen Inschriften der Zeit spiegelt“, handelte: Beide Sepulkralkulturen zeigten einen Wandel „von mittelalterlicher Knappheit hin zum langatmigen biographischen Bericht“, ein Wandel, der geprägt war von „Säkularisierung und zunehmende[r] Diesseitsbezogenheit“.154 Der Währinger Friedhof, der dem massiven Zuwachs der Wiener jüdischen Bevölkerung zufolge in den 1870er-Jahren fast vollkommen belegt war, wurde 1879 geschlossen, obwohl einige Beisetzungen in bestehenden Familiengrüften 153 Alle Zitate in der Reihenfolge ihrer Nennung: Niedhammer: Nur eine „Geld-Emancipation“?, S. 235, 248, 240, 242, 244, 246. 154 Alle Zitate in der Reihenfolge ihrer Nennung: Hüttenmeister/Müller: Umstrittene Räume, S. 283, 288, 291, 299–300.
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noch in den Jahren danach erfolgten. Ersetzt wurde er als Bestattungsraum der inzwischen etablierten und hoch angewachsenen Israelitischen Kultusgemeinde von der ihr zugewiesenen Abteilung beim I. Tor des neuen städtischen Zentralfriedhofs in Simmering, dem 11. Bezirk. Nach seiner Schließung umfasste der Währinger Friedhof etwa 15.000 Quadratmeter und etwa 12.000 Grabstätten.155 Wie der St. Marxer Friedhof erfuhr er in den darauf folgenden Jahrzehnten ein wiederholtes Ringen zwischen Aufmerksamkeit und Vergessen sowie zwischen der Erhaltung und der versuchten Zerstörung. Der Währinger Friedhof sollte während der Shoah den weitläufigsten Schikanen der NS-Behörden und der rassistischen Wissenschaft zum Opfer fallen und sollte erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts in den österreichischen Erinnerungsdiskursen als einer der umstrittensten jüdischen Gedenkräume der Zweiten Republik auftauchen.
155 O. T., 23. November 1939, AIKGW, A/VIE/IKG/I-II/FH/1/1.
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Emanzipation und einheitliche Vielfalt. Der Zentralfriedhof Tor I von der liberalen Ära bis zum Zerfall
Der Wiener Zentralfriedhof ist einer der größten Friedhöfe der Welt und rangiert nur knapp hinter dem zeitgenössischen Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg als größter Friedhof Europas. Das Friedhofsgelände erstreckt sich über 2,5 Quadratkilometer, fast so groß wie der 1. Wiener Gemeindebezirk, der historische Kern der Stadt, und enthält an die 330.000 Grabstätten. Darin wurden seit seiner Errichtung in den 1860er-Jahren über drei Millionen Menschen bestattet, fast zweimal so viele wie die heute lebende Einwohnerzahl der österreichischen Bundeshauptstadt.1 So groß ist diese Nekropole, dass sie über eine eigene interne Buslinie verfügt: die 106. Einer Stadtlegende zufolge versuchte einmal ein Besucher, sich an der Ausschilderung am Friedhof zu orientieren, und entkam demnach niemals mehr lebend dieser „steinernen Ode“.2 Der Zentralfriedhof bildet ein massives Soziogramm der ehemaligen Hauptund Residenzstadt und heutigen Bundeshauptstadt, wie sie sonst nicht in einem doch so kleinen Raum aufzufinden ist. Der Schriftsteller Hans Veigl erläuterte: In Reihen und Gräbergruppen nach sozialen Gesichtspunkten geschichtet, von der Ehrengruft bis zum Massengrab, und streng konfessionell getrennt, liegen die Toten hier bestattet, als gelte es, eine vorläufige Sortierung für das Jüngste Gericht durch die Magistratsabteilung 43 [seit 2008 Friedhöfe Wien GmbH] amtlich vorwegzunehmen.3
Die Entstehung des Zentralfriedhofs verwandelte seinerzeit den 11. Bezirk entlang der Simmeringer Hauptstraße in einen Korso von Bestattungsunternehmen, Steinmetzen und Blumengeschäften, die bis heute noch das Straßenbild entlang des Friedhofsgeländes prägen. „Die Simmeringer Hauptstraße“, so der Schriftsteller Alfred Poglar, „ist die traurigste Straße Wiens. Sie beginnt mit Kaserne und Krankenhaus und endet mit dem Friedhof […]. Sie ist lang, entsetzlich lang. So lang wie eine schlaflose Nacht“.4 Laut dem Heimatforscher Hans Havelka trugen in der Hochphase der „schönen Leich“ die ständigen Trauerzüge an der Hauptstraße entlang „sehr zum Leidwesen der Gemeinde Simmering“ bei.5 Heute aber zählt der Zentralfriedhof zu den populärsten und meistbesuchten Touristenattraktionen der Hauptstadt. Neben einem Bestat-
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Ackerl/Bouchal/Schödl: Der schöne Tod, S. 40. Veigl: Morbides Wien, S. 244. Veigl: Morbides Wien, S. 244. Zit. nach Veigl: Morbides Wien, S. 240. Havelka, Hans: Zentralfriedhof, Wien 1983, S. 13.
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tungsmuseum gibt es auf dem Friedhofsgelände inzwischen sogar, in guter Wiener Tradition, ein Kaffeehaus. Die im späten 19. Jahrhundert dominante bürgerliche Gesellschaft kam vor allem in den monumentalen Nekropolen dieser Ära dem Drang nach, sich in sichtbaren Denkmälern zu verewigen. Diese Städte der Toten zeugten von einer tiefgreifenden Demokratisierung – und damit einhergehend einer Kommerzialisierung – der Gedenkkultur: Jede(r) Einzelne hatte nun einen Anspruch auf sein/ihr eigenes, individuelles Denkmal, wenngleich die Ausmaße und die Üppigkeit der Grabdenkmäler wie nie zuvor den gesellschaftlichen und insbesondere den wirtschaftlichen Rang der Verstorbenen reproduzierten. Wie der Philosoph Michel Foucault darlegte, kann das Entstehen dieses weitverbreiteten „Todeskults“ im 19. Jahrhundert, der sich besonders in kolossalen urbanen Nekropolen samt monumentalen Grabdenkmälern niederschlug, vor allem als Zeichen einer stetig wachsenden Gottlosigkeit in diesem Zeitalter oder zumindest als zunehmender Agnostizismus und einer damit einhergehenden Diesseitsbezogenheit gedeutet werden: Sobald man nicht mehr ganz sicher ist, daß man eine Seele hat, daß der Leib auferstehen wird, muß man vielleicht dem sterblichen Rest viel mehr Aufmerksamkeit schenken, der schließlich die einzige Spur unserer Existenz inmitten der Welt und der Worte ist. Jedenfalls hat seit dem 19. Jahrhundert jedermann ein Recht auf seinen kleinen Kasten für seine kleine persönliche Verwesung.
Gleichzeitig wurden die europäischen Friedhöfe – so auch in Wien – an den äußeren Rand der Stadt verlegt, wo sie fortan „nicht mehr den heiligen und unsterblichen Bauch der Stadt“ bildeten, so schloss Foucault, „sondern die ‚andere Stadt‘, wo jede Familie ihre schwarze Bleibe besitzt.“6 Die Nekropole ist das Pendant zur modernen Metropole, die Stadt der Toten vis-à-vis der Stadt der Lebenden: „An Nachmittagen mit schönem Wetter“, so der Schriftsteller Italo Calvino poetisch, „besucht die lebende Bevölkerung die Toten und entziffert ihre eigenen Namen auf deren Grabplatten […]: die Schritte hallen unter den leeren Gewölben; die Fragen werden stumm formuliert, und immer geht es bei dem, was die Lebenden fragen, um sie selbst“.7 Der Historiker Joachim Jacobs beobachtete in Bezug auf die jüdischen Friedhöfe des 19. Jahrhunderts die gleichen Entwicklungen, wie sie Foucault bei den christlichen bzw. nichtjüdischen Begräbnisstätten konstatiert hatte: „[M]it ihren Alleen, großen Plätzen, Straßenkreuzungen und der räumlichen Abtrennung der Gräberklassen“ stellten die neuen Friedhöfe „eine treue Abbildung 6 Foucault: Andere Räume, S. 41–42. 7 Calvino, Italo: Die unsichtbaren Städte, aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber, Frankfurt am Main 2013, S. 147–148.
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der Welt der Lebenden“ dar. Verbürgerlichung, eine ausgeprägte Bürokratie und die zunehmende Betonung von Leichenfeiern als gemeinschaftliches Ereignis erklären allesamt die neue Monumentalität dieser Friedhöfe und ihrer Bauten. Der berühmte, zu Beginn des 19. Jahrhunderts errichtete Friedhof von Père-Lachaise in Paris gilt als Vorläufer der monumentalen Nekropolen Europas wie der Wiener Zentralfriedhof – und verfügte zunächst über eine eigene, durch eine Mauer abgesonderte jüdischen Abteilung.8 In der entschieden säkularen Republik Frankreich ging es aber schließlich so weit, dass konfessionelle Friedhöfe 1881 insgesamt abgeschafft wurden: Alte Friedhöfe wurden zwar beibehalten, die Trennungsmauern wurden aber abgetragen und in neuen Friedhöfen wurden, wenn überhaupt, lediglich religiös-kulturelle divisions (Abteilungen) eingerichtet.9 Diese revolutionäre Entwicklung in der europäischen Sepulkralkultur machte sich bald auch in Wien bemerkbar. Wie der Historiker Thomas Laqueur resümierte, reflektierten diese neuen Bestattungsräume nicht mehr die engere „Gemeinschaft“, sondern die breitere „Gesellschaft“, über jene Trennlinien von Klasse, Gesinnung und Zugehörigkeit hinweg, nach denen sich die Lebenden segregierten.10 Mit dem rasanten Wachstum der Haupt- und Residenzstadt Wien ab der Mitte des 19. Jahrhunderts holten die Nachbarschaften der Lebenden die 1783 angelegten Kommunalfriedhöfe allmählich wieder ein: „[D]ie Leichen waren zu den Lebenden zurückgekehrt.“11 Zugleich bedeutete das Bevölkerungswachstum, dass diese weniger als ein Jahrhundert zuvor errichteten Bestattungsräume langsam zu überfüllen drohten, eine Folge nicht zuletzt der Entwicklung, insbesondere unter der christlichen Bevölkerung, nach der jedes Individuum nun im Gegensatz zu vergangenen Jahrhunderten eine eigene Grabstätte erhielt samt einem eigenen, persönlichen Grabdenkmal, was zu einem rasanten Anstieg der belegten Fläche der Friedhöfe führte. Es war höchste Zeit, eine dauerhaftere Lösung für das Leichenproblem der österreichischen Haupt- und Residenzstadt zu finden. So beschloss der zu dieser Zeit liberal dominierte Gemeinderat, das Problem ein für alle Mal mit der Schaffung eines großen, „zentralen“ (im Sinne von „hauptsächlichen“) Friedhofs zu lösen. Das Projekt warf sofort eine Reihe von Fragen auf, zum Teil pragmatischer Natur, beispielsweise bezüglich des Standortes eines solch monumentalen Bestattungsraumes – Wien wuchs ja in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer der damals größten Metropolen der Welt an; der neue Friedhof musste also entsprechend groß angelegt werden. Andererseits waren die Fragen 8 Jacobs: Houses of Life, S. 110–117. 9 Nahon: Jewish Cemeteries in France, S. 78. 10 Laqueur: The Work of the Dead, S. 212–213. 11 Veigl: Morbides Wien, S. 250.
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ideologisch geprägt, so beispielsweise ob dieser neue Friedhof in der immer noch überwiegend katholischen Stadt einen sakralen oder überkonfessionellen Charakter erhalten sollte. Die Stadt priorisierte zunächst die eher pragmatischen Überlegungen, wie es Gemeinderat Josef Nikola in der Planungsphase zusammenfasste: Heute soll nicht entschieden werden, ob Wien eine Weltstadt wird oder nicht, denn unter allen Verhältnissen werden wir die Leute begraben müssen. Mögen was immer für Zeiten kommen, so werden die bestehenden Friedhöfe zu klein sein, wir haben dafür zu sorgen, einen entsprechenden Friedhof zu bekommen.12
Von verschiedenen, außerhalb der damaligen Stadtgrenzen gelegenen Ortschaften, die mit Land für das neue Nekropolenprojekt warben, wurde die damals mehrere Kilometer jenseits der südöstlichen Stadtgrenze Wiens gelegene Gemeinde Kaiserebersdorf (die erst 1892 als Teil des Bezirks Simmering eingemeindet wurde) ausgewählt, weil der Standort flussabwärts eine verminderte Seuchengefahr für die Großstadt darstellte und weil sich die lokale Erde zudem für die Leichenverwesung als besonders geeignet erwies.13 Raumanalytisch und stadthistorisch gesehen wird Zentralität gegenüber Peripheralität normalerweise als Statuszeichen gedeutet.14 Das Anlegen eines „Zentralfriedhofs“ nicht nur am Stadtrand, sondern damals sogar weit vor der Stadtgrenze, erscheint in Hinsicht auf die Bedeutung dieses Großprojektes als Wahrzeichen der wachsenden Metropole also paradox: Doch ein wichtiges Projekt und ein Wahrzeichen war es nichtsdestotrotz. Die Eröffnung des monumentalen Zentralfriedhofs samt seiner jüdischen Abteilung beim I. Tor (der Haupteingang zum allgemeinen Friedhof befindet sich beim II. Tor) in den 1870er-Jahren folgte auf den Füßen von nicht weniger monumentalen Ereignissen in der österreichischen Geschichte, allen voran dem Erlassen der liberalen Dezemberverfassung für die österreichische Reichshälfte infolge des Ausgleichs mit Ungarn 1867. Der Zentralfriedhof stellte eines von verschiedenen grandiosen Stadterneuerungsprojekten dar, die die teils noch auf einem mittelalterlichen Muster basierende Haupt- und Residenzstadt in das neue Zeitalter hereinziehen und als Metropole von Weltruf etablieren sollten. Ab 1858 fielen zuerst die alten Stadtmauern, um Platz zu schaffen für die neue, prachtvolle Ringstraße und um die seit 1850 eingemeindeten Vorstädte in den historischen Kern Wiens einzubinden. In den 1870er-Jahren wurde dann die Donau reguliert, um den jahrhundertelang immer wieder tosenden Hochwassern und Überschwemmungen ein Ende zu setzen. Wie der Historiker Helmut 12 Zit. nach Havelka: Zentralfriedhof, S. 5. 13 Veigl: Morbides Wien, S. 245. 14 Vgl. Schroer: Räume, Orte, Grenzen, S. 241.
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Konrad andeutete, war die Ära des aus retrospektiver Sicht langsamen „Zerfalls“ der Habsburgermonarchie – der schon seit mindestens 1848 prophezeit wurde – paradoxerweise auch das Zeitalter, in dem das meiste entstanden ist, was heute nachhaltig mit dem Wesen „Alt-Österreichs“ assoziiert wird: von Infrastruktur und Architektur über Kunst und Kultur bis hin sogar zur Wiener Küche.15 Dies erklärt, wieso der Name des letzten großen Kaisers – Franz Joseph I. – in seiner ehemaligen Residenzstadt sowie in anderen Städten der ehemaligen Monarchie fast allgegenwärtig ist. Zu diesen grandiosen Wahrzeichen „AltÖsterreichs“ aus der Ära des „Zerfalls“ zählt der Wiener Zentralfriedhof, dessen Portal ebenfalls den Namen Franz Josephs trägt. Die ideologischen Dimensionen des neuen Friedhofsprojekts verschwanden allerdings nach Überwindung der ersten pragmatischen Fragen nicht. In einem Gemeinderatsbeschluss vom 28. Dezember 1869 wurde verkündet: „Es ist ein allgemeiner, für alle Konfessionen zugänglicher Friedhof zu errichten, doch ist in dem Projekte darauf Rücksicht zu nehmen, daß den einzelnen Konfessionen auf ihren Wunsch separate Abteilungen überlassen werden.“16 Dies war ein Zeichen sowohl der vorherrschenden liberalen Politik als auch, allgemeiner betrachtet, der säkularisierenden Tendenz – im Sinne der zunehmenden Verlagerung der Religion in die private Sphäre – unter breiten Teilen der damaligen Gesellschaft. Am 13. Oktober 1874, wenige Wochen vor der Eröffnung des neuen Friedhofs, verkündete der Gemeinderat weiter: „Nachdem der Zentralfriedhof einen konfessionellen Charakter trägt, da nicht nur Katholiken, sondern auch Protestanten, Griechen [Christlich-Orthodoxe] etc. dort zur Beerdigung kommen, ist von der Einweihung desselben Abstand zu nehmen.“17 Es folgte Aufruhr seitens der katholischen Kirche: Den daraus resultierenden Kampf mit dem fürsterzbischöflichen Ordinariat nannte der Heimatforscher Hans Pemmer einen „Kleinkrieg“,18 Hans Veigl augenzwinkernd einen „Grabenkampf “.19 Wie der zeitgenössische Schriftsteller und Satiriker Daniel Spitzer witzelte, konnte der Name „Central-Friedhof “ wohl nur „im ironischen Sinne gemeint sein, denn nach den erbitterten Kämpfen, zu welchem derselbe Anlaß gegeben, mußte wol Jedem die Bezeichnung ‚Central-Schlachtfeld‘ weit angemessener erscheinen“. Die „Schlacht“ beschrieb Spitzer als „eine arge Fehde zwischen den Vätern der Stadt und dem unverheirateten Consistorium“: 15 Konrad, Helmut: Zerfall, in: Feichtinger, Johannes/Uhl, Heidemarie (Hg.): Habsburg Neu Denken. Vielfalt und Ambivalenz in Zentraleuropa – 30 Kulturwissenschaftliche Stichworte, Wien 2016, S. 245, 247. Vgl. grundlegend Judson: Habsburg. 16 Zit. nach Pemmer, Hans: Der Wiener Zentralfriedhof. Seine Geschichte und seine Denkmäler, Wien 1924, S. 10. 17 Zit. nach Havelka: Zentralfriedhof, S. 9. 18 Pemmer: Der Wiener Zentralfriedhof, S. 13. 19 Veigl: Morbides Wien, S. 246.
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Die Väter wollten Jeden, der sich mit dem Todtenpaß ausweisen könne, ohne Rücksicht darauf, wie und ob er getauft sei, auf dem neuen Friedhofe begraben lassen, während das Consistorium wieder von jedem zu Beerdigenden ein katholisches Taufzeugnis verlangte, ohne Rücksicht darauf, ob er todt sei oder nicht.20
Ein wesentlicher Streitpunkt in diesem „Grabenkleinkrieg“ bezog sich auf die Verhandlungen zwischen der Stadt Wien und der Kultusgemeinde, die seit Anfang der 1870er-Jahre um die Absonderung eines Teils des neu anzulegenden Zentralfriedhofs für jüdische Begräbnisse geführt wurden; ein Streitpunkt, der deutliche antisemitische Züge trug. Darauf wird diese Kapitel noch ausführlicher eingehen. In dieser Affäre kommentierte die Neue Freie Presse, dass „die Engherzigkeit der Religionsparteien Scheidewände aufrichtet zwischen den Todten“.21 Es sollte nicht das letzte Mal sein, dass Mauern in der Debatte über die zwischengemeinschaftlichen Beziehungen in der Residenzstadt metaphorisch evoziert wurden. Freilich reflektierte dieser Streit mitunter den Bedeutungs- und Machtverlust, den die katholische Kirche in dieser Zeit der Liberalisierung und teilweise der Säkularisierung erlebte.22 Ihre Reaktion zeigt allerdings auch, wie giftig hegemonische Parteien agieren können, wenn ihre Hegemonie durch Gleichberechtigung infrage gestellt wird. Letztendlich wurde der Friedhof dann doch, in Abstimmung mit dem damaligen Bürgermeister Cajetan Felder, und um die katholische Fraktion zu besänftigen, zwei Tage vor seiner Eröffnung zu Allerheiligen am 1. November 1874 am frühen Morgen in einer kleinen Zeremonie diskret eingeweiht. Dennoch behält der Friedhof im Allgemeinen einen überkonfessionellen Charakter. Zu den konfessionellen Abteilungen zählt heute neben den zwei jüdischen Friedhöfen (der alte beim I. und der neue beim IV. Tor) auch ein evangelischer Friedhof beim III. Tor. 1904 an der östlichen Grenze des Zentralfriedhofs angelegt, wird dieses ummauerte Bestattungsareal autonom und gemeinsam von den beiden evangelischen Gemeinden verwaltet und bildet damit in Wirklichkeit einen separaten Friedhof. Das Gleiche sollte für den später beim IV. Tor angelegten „Neuen Israelitischen Friedhof “ gelten. Ferner gibt es zwei islamische Abteilungen (Gruppen 25 und 27A/B), verschiedene christlich-orthodoxe Abteilungen (Gruppen 21, 30A, 38 und 68B) und eine buddhistische Abteilung (Gruppe 48A). Die fünf alten Kommunalfriedhöfe in den Vorstädten wurden infolge der Eröffnung des Zentralfriedhofs geschlossen.
20 Spitzer, Daniel: Wiener Spaziergänge, in: Neue Freie Presse, 1. November 1874, S. 6. 21 Zit. nach Bauer: Wiener Friedhofsführer, S. 96. 22 In seinem neuen Werk zur Habsburgermonarchie postulierte Pieter Judson, dass in Österreich in dieser Ära wie im neuen Deutschen Reich ein kirchlicher „Kulturkampf “ stattfand, wenngleich nicht im selben Ausmaß wie in Deutschland. Judson: Habsburg, S. 361–370.
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Der neue Friedhof war aber in seinen ersten Jahren noch nicht der prachtvolle Ort mit von Bäumen gesäumten Alleen und etlichen Monumentalbauten, der er heute ist. Im Gegenteil: Nach seiner Eröffnung war er ein kahles und als trostlos empfundenes, weit von der Stadt entferntes Ödland, mit nur sehr wenigen Grabdenkmälern auf seiner riesigen, leeren Fläche. Von der Ästhetik abgesehen, erwies sich seine Lage zudem als durchaus problematisch: In einem der ersten, besonders harten Winter nach seiner Eröffnung gab es Berichte von Leichenzügen, die auf der Simmeringer Haide im Schnee stecken blieben. Ein erschütternder Bericht erzählt von einem Mann, der alleine im Schneesturm die Leiche seiner Tochter in seinen Armen zum Friedhof tragen musste. Darüber hinaus wurde die abgelegene Stätte des Todes in ihren ersten Jahren zum „Tummelplatz unterkunftsloser Landstreicher und Tagediebe“, sodass die Gemeinde sich gezwungen fühlte, Sicherheitspersonal anzustellen, um den Friedhof zu überwachen. Nicht zuletzt wurde der so hochstilisierte „Zentralfriedhof der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien“ seiner einfachen Holztore und -bauten wegen verspottet. Diese waren freilich eine Sparmaßnahme infolge des Börsenkrachs von 1873 gewesen, allerdings war man sich zunehmend einig, dass etwas Monumentaleres gefragt war.23 Um den Übergang zum Zentralfriedhof reibungsloser zu gestalten, gestattete der Gemeinderat für eine Dauer von zehn Jahren Leichenüberführungen aus den Kommunalfriedhöfen. Schließlich beschloss der Gemeinderat zudem, um den Zentralfriedhof aufzuwerten, die Leichen berühmter Verstorbener auf den Zentralfriedhof zu überführen – wodurch umgekehrt die Kommunalfriedhöfe, vielleicht unabsichtlich, abgewertet wurden. So entstanden allmählich die heute vielbesuchten Ehrengräbergruppen, inmitten des Friedhofs gelegen, wo über die Jahre solche Berühmtheiten wie Ludwig van Beethoven, Franz Schubert (beide 1888 vom Währinger Ortsfriedhof überführt, Grabstellen 32A-29 und 32A-28), Johann Nestroy (1890 ebenfalls vom Währinger Ortsfriedhof überführt, 32A-6) sowie Johann Strauss Vater und Joseph Lanner (beide 1904 vom alten Döblinger Friedhof überführt, 32A-15 und 32A-16) in Ehrengräber umgebettet wurden – die herausragende Rolle der Musik im Wiener Kulturleben vor der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird hier offensichtlich. Der einzige Leichnam, der hier fehlte, war zugleich wohl der wichtigste: Wolfgang Amadeus Mozart, der aufgrund seiner Bestattung in einem Josephinischen Massengrab am St. Marxer Friedhof nicht mehr auffindbar war. Es wurde trotzdem symbolischerweise sein Ehrengrabmal von St. Marx auf den Zentralfriedhof überführt, wo es bis heute mit seiner vagen, bloß aus Namen und Lebensdaten bestehenden Inschrift TouristInnen reinlegt, es liege Österreichs berühmtester Komponist darunter 23 Alle Zitate in der Reihenfolge ihrer Nennung: Schulte-Kettner, Gabriele: Der Wiener Zentralfriedhof als historische Quelle, Wien 1979, Dissertation, S. 41–42, 45, 36.
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begraben. Die List hat anscheinend funktioniert, und über ein Jahrhundert später kommentieren HistorikerInnen, dass sich der Friedhof nun liest „wie ein who is who [wer ist wer] der Wiener Stadtgeschichte“.24 Anfangs war es noch möglich, im allgemeinen Teil des Zentralfriedhofs Grabstellen auf Friedhofsdauer zu erwerben, doch dies wurde schließlich 1950 mit Ausnahme der (teuren) Arkadengruften und selbstverständlich der Ehrengräber abgeschafft, „da man die Erfahrung machte, daß ein Familiengrab meistens ab der dritten Generation nicht mehr gepflegt wird und auch kein Interesse an einer Weiterführung der Grabstelle mehr besteht“.25 Hierin liegt weiterhin einer der größten Unterschiede zwischen der jüdischen und nichtjüdischen Sepulkralpraxis in Wien, da in der jüdischen Abteilung die Grabstellen ausnahmslos den dort Bestatteten auf „Ewigkeit“ – vertraglich gesehen allerdings zuerst auf Friedhofsdauer – gehörten. Somit bilden die alten jüdischen Gräber beim I. Tor auch den Großteil der noch aus dem späten 19. Jahrhundert erhaltenen Grabdenkmäler am Zentralfriedhof. 1907 kam die Leichenbestattung in Wien in städtische Hand, sodass allmählich auch sämtliche Bestattungsunternehmen dem städtischen Friedhofsamt einverleibt wurden: Das letzte wurde 1951 von der Wiener Städtischen Bestattung aufgekauft.26 Auch hierin zeigt sich ein Unterschied, da die Leichenbestattung auf jüdischen Friedhöfen nach wie vor intern von der Kultusgemeinde durchgeführt wird. Doch eine ähnliche Zentralisierung der Friedhofsverwaltung sollte sich nach der Eröffnung des Friedhofs beim I. Tor auch innerhalb der Kultusgemeinde vollziehen. 1901 erfolgte die Eröffnung einer elektrifizierten Straßenbahnlinie, die das Zentrum der Stadt mit dem Zentralfriedhof verband. Diese Linie trägt seit 1907 die Nummer 71, und seitdem heißt eine Fahrt mit der 71 im Wiener Idiom so viel wie sterben. Die 71, Endstation Zentralfriedhof (inzwischen nach Kaiserebersdorf verlängert), stellt somit sowohl die assoziative wie die materielle Verbindung zwischen der Metropole und der Nekropole dar, zwischen dem Wien der Lebenden und dem Wien der Toten. Die neue Straßenbahn erleichterte den Personen- sowie den Leichenverkehr, und es kam schließlich nicht zur Umsetzung des – für Wien typisch skurrilen – Plans, Leichen aus der Innenstadt per „pneumatischer Post“ (druckluftbetätigter Röhre) an den Zentralfriedhof zu transportieren. In den darauf folgenden Jahren wurde der Friedhof auch zunehmend ausgebaut und architektonisch aufgewertet: 1905 wurde am Haupteingang beim II. Tor ein monumentales Portal errichtet; es folgten Aufbahrungshallen, Gruftarkaden und schließlich die im Jugendstil errichtete Karl-Borromäus-Kirche als Blickpunkt und Anlaufstelle des gesamten 24 Ackerl/Bouchal/Schödl: Der schöne Tod, S. 43. 25 Schulte-Kettner: Der Wiener Zentralfriedhof, S. 57. 26 Pleyel: Friedhöfe, S. 105.
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Geländes. Somit wuchs die zunehmend architektonisch konzipierte und gärtnerisch gestaltete Nekropole mit ihren imposanten, von berühmten Architekten entworfenen und finanziell fast unerschwinglichen Baudenkmälern zu einem klassischen Beispiel der europäischen Nekropole als „Museum“ heran, wie sie der Historiker Philippe Ariès zeichnete: „als Museum der schönen Künste und Ahnengalerie illustrer Persönlichkeiten“.27 Bis in das 19. Jahrhundert war die heute oft gerühmte „Morbidität“ der WienerInnen schon ausgeprägt – genauso wie ihre Nostalgie für ein vermeintlich verschwundenes „Alt-Wien“.28 So schrieb beispielsweise das Fremdenblatt am 1. Juni 1862 nach dem Tod Johann Nestroys und in Bezug auf die Abtragung der alten Stadtbefestigungen: „Wien begräbt seine Lieblinge […] seine Basteien, seine Stadtgräben, seine Glacis.“29 Wo manche allerdings einem verklärten „Alt-Wien“ nachtrauerten und die neue Ringstraße noch lange nicht das Ansehen genoss, das sie heute hat, sahen andere das Abtragen der Stadtbefestigungen metaphorisch durchaus anders, so beispielsweise der Rabbiner und Historiker Max Grunwald: „Mit Wiens Wällen und Basteien fielen die Mauern des unsichtbaren, aber ihnen [der jüdischen Bevölkerung] umso schmerzlicher fühlbaren kirchenpolitischen Ghettos“.30 Nostalgie hin oder her, die Morbidität der Wiener Kultur erreichte im ausgehenden 19. Jahrhundert derartige Proportionen, dass sogar renommierte Zeitungen wie die Neue Freie Presse der Gräberausschmückung ganze Feuilletons widmeten, die mitunter so ausgefeilt waren wie die Opernkritiken.31 Die zum Wiener Klischee gewordene „schöne Leich“ beschrieb der Schriftsteller Otto Friedländer 1946 zurückblickend wie folgt: „[G]anze Reihen von vier- und sechsspännigen Leichenwagen, von Blumenwagen, die wie riesige schwarze Blumenkörbe auf Rädern aussehen, und von feierlichen Trauerkutschen ziehen Tag für Tag die endlose Simmeringer Hauptstraße entlang zum Zentralfriedhof “. Über die WienerInnen fuhr er fort, sie hielten „viel auf ihre Gräber“: Fortwährend pilgern sie den weiten Weg zum Zentralfriedhof: über eine Stunde mit der Pferdebahn oder zwei Stunden zu gehen. Viele gehen zu Fuß und tragen dabei Kränze oder Blumen. Manche nehmen sich Klappsessel und Mundvorrat mit und sitzen dann stundenlang am Grab des lieben Toten […]. In Wien gibt es viele Menschen, die die
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Ariès: Geschichte des Todes, S. 638–639. Vgl. hierzu Kos/Rapp (Hg.): Alt-Wien. Zit. nach Veigl: Morbides Wien, S. 19. Grunwald: Geschichte der Wiener Juden, S. 57. Vgl. Morton, Frederic: Schicksalsjahr Wien 1888/89, aus dem Englischen von Karl Erwin Lichtenecker, Wien 1981, S. 138.
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Nähe der Toten suchen. Sie gehen auf dem stillen, großen Friedhof, über den immer eine frische Luft weht und über dem der Himmel so hell und so weit ist, spazieren.32
Bestimmt trugen jüdische Trauernde keine Klappsessel oder Mundvorrat, obwohl vielleicht doch Kränze und Blumen; auf alle Fälle wurde auch der neue jüdische Friedhof beim I. Tor bewusst als Ort angelegt, der zum Besuch einlud, nicht zuletzt durch seine gärtnerische Schmückung und seine monumentalen, von Stararchitekten entworfenen Grabdenkmäler. Das Areal des jüdischen Friedhofs beim I. Tor umfasst ca. 232.500 Quadratmeter, und es wurden dort je nach Quelle bis zu 100.000 Menschen in über 52.000 Gräbern bestattet.33 Der Friedhof beim I. Tor ist der größte jüdische Bestattungsraum in Wien nach Anzahl der dort Bestatteten und der sich dort befindlichen Grabdenkmäler und ist flächenmäßig nur etwas kleiner als der jüngere jüdische Friedhof beim IV. Tor. Doch ist seine Geschichte bisher bloß in einer Monographie behandelt worden, die im Wesentlichen aus einer biographischen Aufzählung berühmter dort bestatteter Persönlichkeiten, zumeist Männern, besteht.34 In diesem Kapitel wird seine Errichtung parallel zur und in gleichgestellter Verbindung mit den nichtjüdischen Teilen des Zentralfriedhofs analysiert. Seine Einbindung in die organisatorische Suprastruktur des allgemeinen Friedhofs steht seinem Charakter als räumlich und soziokulturell segregierter jüdischer Ort gegenüber. Die räumliche Konstellation des Zentralfriedhofs verkörpert die gesellschaftliche Zusammensetzung der letzten Jahrzehnte der Habsburgermonarchie, insbesondere die Verflechtung verschiedener soziokultureller Gruppierungen: Über die Residenzstadt wie über die Kronländer der Monarchie zerstreut, doch vereint durch verfassungsrechtliche Gleichberechtigung wurden darunter Zugehörigkeiten dennoch nach Kriterien wie Kultur, Religion, Sprache und Weiteres unterteilt, wobei die „Jüdischkeit“ nur eine von verschiedenen ineinandergreifenden Kategorien der Identifikation darstellte. Trotz der offensichtlichen Variabilität und Veränderlichkeit der Kategorie „Jüdischkeit“ in diesem Zeitalter, setzte sie auch die Kodierung bestimmter Formen gemeinschaftlicher Zugehörigkeit voraus, die sich lesbar im Sepulkraldiskurs am Friedhof einschrieben. So finden sich die komplexen Netzwerke der Wiener Judenheit des (breit definierten) Fin de Siècle vereint an diesem Ort wieder, allerdings unterschieden nach Klasse, Wohlstand, religiöskulturellem Milieu, Gesinnung, Weltanschauung und anderen Kriterien. Der
32 Zit. nach Kunz: „Der Tod muss ein Wiener sein…“, S. 92, 97. 33 Vgl. hierzu o. T., 23. November 1939, AIKGW, A/VIE/IKG/I-II/FH/1/1 sowie Steines: Hunderttausend Steine, S. 39 und Das Friedhofsamt, in: Die Gemeinde, November 2009, S. 6–7. 34 Steines: Hunderttausend Steine.
Von der Emanzipation zum Zerfall
Friedhof beim I. Tor bildet zweifellos den größten, vielfältigsten und gleichzeitig zutiefst einheitlichsten Gedenkort der kaleidoskopisch fragmentierten jüdischen Gemeinschaft in den kulturell beispiellos fruchtbaren, aber überaus konfliktreichen letzten Jahrzehnten der Habsburgermonarchie. 5.1
Von der Emanzipation zum Zerfall. Wiener Mikrokosmen habsburgischer Judenheiten
Österreichs katastrophale Niederlage gegen Preußen im Deutschen Krieg 1866, die Aufhebung des Deutschen Bunds und die weitgehenden Konzessionen an Ungarn, die schließlich 1867 im „Ausgleich“ und in der Etablierung der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie mündeten, sollten die letzte große Umwälzung im wechselvollen Leben des habsburgischen Staatswesens vor dem Ersten Weltkrieg und seiner endgültigen Auflösung darstellen. Die österreichische Hälfte der Monarchie – auch als Zisleithanien („diesseits der Leitha“, der damaligen Grenze zwischen den Reichshälften) bekannt – erhielt im Dezember 1867 eine liberale Verfassung und bildete fortan eine konstitutionelle Monarchie. Dieses „Österreich“ erstreckte sich über die disparaten Länder von den Ostalpen und der Halbinsel Istrien über das Donautal bis zum Erzgebirge und über die Nordkarpaten hinaus bis zur Podolischen Platte und umfasste über ein halbes dutzend „Völker“ – offiziell definiert nach Sprache – die über die österreichischen Erbländer hinaus in den Kronländern Dalmatien, Böhmen, Mähren, Schlesien, Galizien und der Bukowina zu Hause waren. Die neue Verfassung dekretierte die Gleichstellung aller österreichischen StaatsbürgerInnen vor dem Gesetz (§2), gewährte die Amtsfähigkeit eines jeden Staatsbürgers (§3; gemeint waren gerade in dieser Hinsicht ausschließlich Männer), die Freizügigkeit von Personen und Vermögen innerhalb des Staatsgebiets (§4), die Freiheit aller StaatsbürgerInnen, Grundeigentum zu erwerben und sich überall im Staatsgebiet niederzulassen (§6), sowie nicht zuletzt die „volle Glaubens- und Gewissensfreiheit“ (§14).35 In ein Wort gefasst, bedeutete dies für die jüdische Bevölkerung Österreichs Emanzipation. Doch nicht nur für die jüdische Bevölkerung stellte diese neue Rechtslage eine gewaltige Liberalisierung ihrer Existenz dar, und es folgte eine jahrzehntelang anhaltende Binnenmigration aus nahezu allen österreichischen Kronländern in die Hauptund Residenzstadt Wien, die sich über die folgenden Jahrzehnte rasant auswei-
35 Staatsgrundgesetz vom 21. December 1867, http://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?apm=0 &aid=rgb&datum=18670004&zoom=2&seite=00000394&x=10&y=7, letzter Zugriff: 31. August 2020.
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tete, sich industrialisierte, ihre Infrastruktur und Verwaltung modernisierte und sich kulturell stark diversifizierte. Die riesige und äußerst vielfältige jüdische Bevölkerung der Doppelmonarchie umfasste gut ein Fünftel der jüdischen Bevölkerung der Welt und verteilte sich ziemlich gleichmäßig auf die beiden Reichshälften. Was man in dieser Zeit vorsichtig als „österreichische (zisleithanische) Judenheit“ beschreiben könnte, von der alleine etwa drei Viertel in Galizien und der Bukowina wohnten, war von einer kaleidoskopischen Vielfalt geprägt: reich und arm, religiös und weltlich, liberal und konservativ, teils kosmopolitisch und teils tief eingebunden in ihre heimatlichen Lokalitäten. Aus dieser kaleidoskopischen Vielfalt setzte sich sukzessive infolge der massiven Urbanisierung des späten 19. Jahrhunderts eine neue Wiener Judenheit zusammen, die bald zu einer der größten jüdischen Gemeinschaften Europas, gar der Welt heranwuchs. Diese neue Wiener Judenheit stellte einen Mikrokosmos der habsburgischen Judenheiten dar, so wie die Kultusgemeinde – als einheitliche Dachorganisation – einen Mikrokosmos des habsburgischen Staatsapparats bildete, mit der gleichermaßen enormen Aufgabe, diese fast unüberschaubare Vielfalt paritätisch zu verwalten. Bis zum Jahre 1880, ein Jahr, nachdem der alte jüdische Friedhof in Währing geschlossen und der neue beim I. Tor eröffnet wurde, hatte sich die jüdische Bevölkerung Wiens bereits innerhalb einer Generation um ein Achtzehnfaches vermehrt und zählte nun 72.000 Mitglieder, eine Zahl, die sich im Laufe der nächsten Generation nochmals mehr als verdoppeln sollte.36 Insgesamt waren um 1880 nur 38,5 Prozent der BürgerInnen Wiens in der Haupt- und Residenzstadt geboren, bei Weitem weniger als heute, wo von rechter Seite dennoch wiederholt von einer „Überfremdung“ Wiens gesprochen wird – in Wirklichkeit war Wien schon immer eine Migrationsstadt. Zwischen 1857 und 1900 waren ganze 20 bis 25 Prozent aller WienerInnen in Böhmen oder Mähren geboren: Dabei bleibt es bis heute eine rätselhafte Eigentümlichkeit der Geschichtsschreibung, dass die vielen nichtjüdischen BöhmInnen und MährerInnen, vor allem die tschechischsprachigen, von denen viele innerhalb von ein paar Generationen einfach „ÖsterreicherInnen“ wurden, niemals wie ihre jüdischen ZeitgenössInnen als „assimiliert“ vorgeführt werden.37 Wie der Kulturhistoriker Hans Tietze bereits in den 1930er-Jahren bemerkte, gab es nichts Außergewöhnliches an der Mobilität oder der Einwanderung von Jüdinnen und Juden im 19. Jahrhundert: Wien (wie Zentraleuropa insgesamt) „war 36 Grab, Walter: Das Wiener Judentum. Eine historische Übersicht, in: Plat, Wolfgang (Hg.): Voll Leben und Tod ist diese Erde. Bilder aus der Geschichte der jüdischen Österreicher (1190 bis 1945), Wien 1988, S. 54. 37 Vgl. zur Bevölkerungsstatistik John, Michael/Lichtblau, Albert: Schmelztiegel Wien – Einst und Jetzt. Zur Geschichte und Gegenwart von Zuwanderung und Minderheiten, Wien 1990, S. 13–14, 33, 288.
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eben kompliziert und kosmopolitisch geworden“; die daraus entstehende Metropole war geprägt durch das „vielfarbig schillernde Neuwienertum“.38 Indes war die Frage der „Identität“, wie der Historiker Albert Lichtblau zeigte, in der Hochphase des Liberalismus ab 1867 eher „eine Privatsache“ geworden und konnte mehr oder weniger „frei gewählt werden“. Das erklärt auch die rasante Fragmentierung von kulturellen und politischen Strömungen dieser Zeit, die in eine so reiche Vielfalt mündete. Diese „bewegliche Identität“, laut Lichtblau eine wesentliche „Errungenschaft dieser Zeit“, hatte „eine äußerst befruchtende und befreiende Wirkung auf der einen Seite“, bewirkte jedoch „auf der anderen Verunsicherung, Dekadenz und Sehnsucht nach stabilen Verhältnissen“ – eine der weltweit verbreitetsten Aus- oder Nebenwirkungen der Modernisierung. Schließlich wurden eben diese vielfältigen „Identitäten“ bis 1900 stark „ideologisiert“, was sich nicht zuletzt in einem gewaltigen generationellen Unterschied in Ansichten und Zugehörigkeiten vom späten 19. bis in das frühe 20. Jahrhundert zeigte, wie es innerhalb der jüdischen politischen Kultur beispielsweise im Aufkommen des Zionismus reflektiert wurde.39 Die Historikerin Marsha Rozenblit stellte 2001 ein Modell auf, das bis heute in der Historiographie oft zitiert wird, wodurch die gewaltige Heterogenität der habsburgischen Judenheiten dieser Ära in einem einfachen Schema festgehalten werden sollte. Laut Rozenblit besaßen die habsburgischen Jüdinnen und Juden mehr oder weniger bewusst eine „dreigliedrige Identität“: So waren sie vermeintlich „österreichisch in ihrer politischen Treue, deutsch (oder tschechisch oder polnisch) in ihrer kulturellen Zugehörigkeit und jüdisch in einem ethnischen Sinne“. Im Gegensatz zu anderen europäischen Imperien, vor allem im Westen Europas, die zu dieser Zeit in mächtigen Projekten der staatlichen Nationenwerdung verwickelt waren, ließen hingegen die eher plurikulturellen Zustände der Habsburgermonarchie ihrer jüdischen Bevölkerung die „Freiheit, so jüdisch zu sein wie sie wollten“.40 Obwohl Letzteres gewiss zutrifft, und das hier aufgestellte Schema der „dreigliedrigen Identität“ in gewissen Einzelfällen zutreffen mag, ist dieses Modell insgesamt von Problemen durchdrungen. Erstens kann man die disparate deutschsprachige Kultur jenseits des Deutschen Reiches – vorwiegend in den österreichischen Stammländern sowie in Böhmen, Mähren, Galizien oder Siebenbürgen – nicht ohne Weiteres mit einer monolithisch verstandenen „deutschen Kultur“ im „reichsdeutschen“ Sinne gleichsetzen. Es wäre anzuzweifeln, ob es selbst innerhalb des erst um 38 Tietze, Hans: Die Juden Wiens, Wien 2007, Neuauflage des Originals aus dem Jahre 1933, S. 206, 222. 39 Lichtblau, Albert (Hg.): Als hätten wir dazugehört. Österreichisch-jüdische Lebensgeschichten aus der Habsburgermonarchie, Wien 1999, S. 84, 86, 88. 40 Rozenblit, Marsha: Reconstructing a National Identity. The Jews of Habsburg Austria During World War I, Oxford 2001, S. 15, 4.
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1870/71 gegründeten Deutschen Reiches so etwas gab. Zweitens gab es viele Strömungen unter der jüdischen Bevölkerung, allen voran den Zionismus, den Chassidismus oder gar die kosmopolitische Intelligenz in den Metropolen wie Wien, Budapest oder Prag, die ein solches Modell aus verschiedensten Gründen entschieden abgelehnt hätten. Ein weiteres Problem bezieht sich auf Rozenblits enge Auswahl an Kriterien: Staatsbürgerschaft, Kultur und Ethnie. Gerade die letzten beiden sind ungeheuer schwierig zu definieren, während diese Kriterien fast unendlich erweitert werden könnten, wenn ein jedes Individuum in all seinen Aspekten erfasst werden sollte. In ihrer Studie zu jüdischen Frauen im Wien des Fin de Siècle schlug beispielsweise Alison Rose vor, man könne Rozenblits Modell mit dem Kriterium „Geschlecht“ zu einer „viergliedrigen Identität“ ausbauen.41 Dieses Vorhaben könnte ad absurdum geführt werden. Wieso sollten nicht auch Aspekte wie Bildungsgrad, politische Gesinnung, ökonomischer Stand, religiöse Anschauung, sexuelle Orientierung oder andere mit einbezogen werden? Besser, man betrachtet Menschen eben nicht als Summe von drei oder vier Facetten ihrer „Identität“, sondern als komplexe Persönlichkeiten mit unzähligen, ineinandergreifenden und sich dauernd fortentwickelnden lebensweltlichen Facetten. Wie komplex diese Persönlichkeiten sein konnten, zeigt sich eindringlich und einzigartig in der Sepulkralkultur beim I. Tor, vorausgesetzt, man betrachtet diese Kultur nicht von vorneherein durch das Prisma eines solch eng gefassten Modells. Der Kulturhistoriker William Johnston stellte in einem bahnbrechendem Werk zum „österreichischen Menschen“ eine andere Dreifaltigkeit dar, und zwar drei Typen von „ÖsterreicherInnen“ vor 1918, die sich alle bezeichnenderweise von den „Reichsdeutschen“ grundsätzlich unterschieden: erstens im „banalen Sinne“ alle, egal welcher sonstigen Zugehörigkeit, die jemals in diesem dehnbaren geographischen Bereich lebten und wirkten; zweitens im kulturell „deutschen“ Sinne alle Germanophonen/philen, aber eben nicht „Reichsdeutschen“; oder drittens im „engeren“ k.u.k. Sinne die Beamtenklasse, egal welcher Sprache, die „zwischen 1700 und 1918 das Habsburgerreich am Leben erhielt“.42 Gerade die österreichisch/zisleithanische Judenheit muss Johnstons Sinne folgend entschieden von ihrem deutschen Gegenüber getrennt werden: Zu oft werden diese aufgrund ihrer einigenden Sprache miteinander verschränkt (was zugleich jene „österreichische“ Judenheiten ausblendet, deren Muttersprache nicht Deutsch war), oder es wird sogar die österreichische in der deutschen Judenheit aufgelöst – zweifellos ein Symptom fortdauernder nationalistischer,
41 Rose: Jewish Women, S. 4. 42 Johnston: Der österreichische Mensch, S. 16.
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essenzialisierender Züge in der Geschichtsschreibung.43 Gleichzeitig – und gerade im Kontrast zur deutschen Judenheit der Kaiserzeit – herrschte unter den österreichischen Judenheiten vieler Ausrichtungen, nicht nur unter der später aufkommenden und in Wien vorerst sowieso nicht besonders erfolgreichen zionistischen Bewegung, eine ausgeprägte Vorstellung eines jüdischen „Volkstums“, was sich auch in den Grabinschriften beim I. Tor zeigt. Der Wiener Oberrabbiner Adolf Jellinek erkannte beispielsweise „stammesspezifische Eigenartigkeiten“ in der Judenheit, wenngleich keine „nationalen Eigenschaften“. In dieser Hinsicht waren sich sogar die liberalen und orthodoxen Fraktionen innerhalb der Kultusgemeinde weitgehend einig.44 Wie auch immer ihre politischen Gesinnungen sonst geartet waren, war darüber hinaus dem Historiker David Rechter zufolge „fast das ganze politische Spektrum der österreichischen Judenheit auffallend abgeneigt, eine politische Identität gegen oder außerhalb der Monarchie zu definieren, und sie verblieb überwiegend kaisertreu ganz bis zum Schluss“, sprich: bis Oktober 1918.45 In diesem Zusammenhang war die jüdische Bevölkerung der Habsburgermonarchie, genauer gesagt in der zisleithanischen Reichshälfte, wohl am tiefsten im „Österreich-Gedanken“ verankert – wenngleich der Historiker Pieter Judson jüngst zeigte, dass die verschiedenen Bevölkerungen der Doppelmonarchie insgesamt viel enger an das Habsburgerreich gebunden waren als bisher in der Historiographie zugestanden.46 Dieser „Österreich-Gedanke“ war weder „national“ noch „ethnisch“ definiert und kann somit eher mit dem später vom Philosophen Jürgen Habermas entwickelten Konzept des „Verfassungspatriotismus“ verglichen werden: Loyalität gegenüber dem Staat aufgrund eines verfassungsrechtlichen Gesellschaftsvertrags, ähnlich dem Ethnien übergreifenden
43 Vgl. paradigmatisch Titel und Inhalt von Timms, Edward/Hammel, Andrea (Hg.): The German-Jewish Dilemma. From the Enlightenment to the Shoah, Lewiston 1999, worin auch die österreichische Judenheit einbezogen wird. 44 Vgl. Wistrich, Robert: Zionism and Its Religious Critics in Fin-de-Siècle Vienna, in: Jewish History 10/1 (Spring 1996), S. 94. 45 Rechter: The Jews of Vienna, S. 7. Die Kaisertreue der Wiener Judenheit zeigt sich in einer Fülle von Stellungnahmen, Publikationen und Widmungen, besonders jene im Auftrag der Kultusgemeinde. Siehe z. B. die Widmungen an Kaiser Franz Joseph I. zu verschiedenen Anlässen in Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Bericht des Vorstandes der israel. Cultusgemeinde in Wien über seine Thätigkeit in der Periode 1896–1897, Wien 1898, S. 5; Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Bericht des Vorstandes der israel. Cultusgemeinde in Wien über seine Thätigkeit in der Periode 1898–1899, Wien 1900, S. 6; Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Bericht des Vorstandes der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien über seine Tätigkeit in der Periode 1906–1907, Wien 1908, S. 3 usw. 46 Judson: Habsburg.
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Patriotismus in den USA.47 Charakteristisch war in dieser Hinsicht der in Galizien geborene Rabbiner, Reichsratsabgeordneter, Publizist und Mitbegründer der Österreichisch-Israelitischen Union, Joseph Samuel Bloch.48 Der Historiker Steven Beller kritisierte gerade an Rozenblits dreigliedrigem Modell, dass es eigentlich nur eine Verallgemeinerung von Blochs eigentümlicher Philosophie darstellt – „ethnisch“ jüdisch und „politisch“ österreichisch (in Rozenblits Modell eben auch kulturell „deutsch“) – die in dieser exklusiven Weise aber nicht vom größten Teil der Wiener Judenheit geteilt wurde.49 Die Heterogenität der österreichischen Judenheiten spiegelte die allgemeine Heterogenität der Monarchie: Stellte die Wiener Kultusgemeinde einen Mikrokosmos der habsburgischen Judenheit dar, so war diese nur lose als Kollektiv definierbare Judenheit – die im Gegensatz zu den anderen „Völkern“ überall in der Monarchie zerstreut lebte – gewissermaßen auch eine Verkörperung der Monarchie. Spätestens nach deren Zerfall bemerkten verschiedene BeobachterInnen, jüdische wie nichtjüdische, die „einzig wahren Österreicher“ seien vor 1918 die jüdischen ÖsterreicherInnen gewesen.50 Das „Österreichertum“ ist in diesem Kontext nicht von der Monarchie zu trennen und steht hingegen im deutlichen Unterschied fast im Gegensatz zur „reichsdeutschen“ Kultur. Dieser übernationale Gedanken passte, wie der Antisemitismusforscher Shmuel Almog zeigte, auch gewissermaßen in ein antisemitisches Klischeebild des Judentums als einerseits vom „Partikularismus behaftet“ und paradoxerweise gleichzeitig „den Archetyp des Universalismus schlechthin“ verkörpernd: Die europäische Judenheiten wurden weit und breit im 19. Jahrhundert als „antinationale Nationalität“ wahrgenommen, und die Ablehnung der Judenheit als dem gegebenen „Volkskörper“ nicht zugehörig war – und ist heute immer noch oft – in verschiedenen Graden fast allen nationalistischen Bewegungen Europas inhärent. In Reaktion auf den Liberalismus und die Emanzipation und vom Börsenkrach 1873 angefeuert, breitete sich das neue Programm des politischen „Antisemitismus“ (der Begriff entstand erst in den 1860er-Jahren) in vielen Ländern Europas aus, sollte aber gerade in Österreich Ende des 19. Jahrhunderts 47 Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt am Main 1992, S. 642–643. Der Vergleich mit den USA bildete auch die Grundlage reformatorischen Denkens in der späten Monarchie. Vgl. dazu Jászi: The Dissolution of the Habsburg Monarchy, S. 123–124. 48 Vgl. Reifowitz, Ian: Imagining an Austrian Nation. Joseph Samuel Bloch and the Search for a Multiethnic Austrian Identity 1846–1919, Boulder 2003. 49 Beller: Knowing Your Elephant, S. 20. 50 Vgl. Corbett, Tim: Once „the Only True Austrians“. Jews and Austrian Culture in the Early Twentieth Century, in: Butler, Diane/Pell, Owen/Corbett, Tim/Pages, Neil Christian/Barzman, Karen: The Binghamton Nuvolone. Restoring an Object in Six Parts, Binghamton 2019, insb. S. 33.
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seine ersten, maßgeblichen Erfolge feiern.51 Im Kontext des Nationalismus, des politischen Antisemitismus und der daraus entstehende Identitätskrise verwundert es nicht, dass der Pionier der zionistischen Bewegung, Theodor Herzl, ein durch und durch „habsburgischer Jude“ war – und zudem ein Wahlwiener. Doch vorerst schien der rasante Emanzipationsschub der 1850er- und 1860erJahre für die bisher so lange unterdrückte Wiener Judenheit nur Gutes zu verheißen. „Kein Wunder“, bemerkte der Rabbiner und Historiker Moses Rosenmann im Rückblick, „daß diese Epoche publizistisch wie homiletisch als ‚neue Zeit‘ behandelt und begrüßt wurde“ – ein Begriff, den beispielsweise der damals noch inoffizielle Oberrabbiner Adolf Jellinek bei seiner Pessachpredigt 1863 verwendete.52 Bereits 1855 hatte das Ministerium des Inneren angeordnet, „dass die Judenordnungen aufgehoben seien“ und „dass das Gemeindegesetz für alle Confessionen Giltigkeit habe und dass die Juden österreichische Staatsbürger seien“. Infolge des Februarpatents 1861 durften auch Juden im Wiener Gemeinderat, im niederösterreichischen Landtag sowie im Reichsrat kandidieren: Unmittelbar danach wurde beispielsweise Ignaz Kuranda, der spätere Präsident der Kultusgemeinde, auf der Liste der Verfassungspartei in den Landtag gewählt. Wie der zeitgenössische Historiker Gerson Wolf betonte, waren es in diesen prägenden Jahren der sich damals langsam konstituierenden Kultusgemeinde eben „nicht die religiösen, sondern die politischen Glaubensbekenntnisse, die bei den Wahlbesprechungen in den Vordergrund traten“. Wie liberal die Selbstauffassung der neuen Kultusgemeinde damals war, zeigt die Auffassung Wolfs, es wäre die Organisation nie auf den Gedanken gekommen, „auch nur die leiseste Pression auf jene zu üben, die seine Ansichten auf religiösem Gebiete nicht theilten“, eine wesentliche Konsequenz der Entstehung der formellen Kultusgemeindeorganisation in der Blütezeit der Liberalismus.53 Erst mit der Dezemberverfassung 1867 gab es eine Rechtsgrundlage für eine endgültige, formelle Institutionalisierung der Kultusgemeinde, die aufgrund der Schwierigkeit, eine Vereinbarung zwischen den vielen zum Teil entgegengesetzten Fraktionen einer ständig wachsenden und ohnehin schon zutiefst 51 Almog, Shmuel: Nationalism & Antisemitism in Europe, 1815–1945, Oxford 1990, S. 23. Zu den historischen Ursprüngen des politischen Antisemitismus in der Habsburgermonarchie und deren Auswirkungen, siehe Wladika, Michael: Hitlers Vätergeneration. Die Ursprünge des Nationalsozialismus in der k.u.k. Monarchie, Wien 2005 und Hamann, Brigitte: Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators, München 2012. Vgl. jüngst Enderle-Burcel, Gertrude/ReiterZatloukal, Ilse (Hg.): Antisemitismus in Österreich 1933–1938, Wien 2018, insb. zur Vorgeschichte den Beitrag von Albrich, Thomas: Vom Antijudaismus zum Antisemitismus in Österreich. Von den Anfängen bis Ende der 1920er Jahre. 52 Rosenmann: Dr. Adolf Jellinek, S. 90–91, 151. 53 Alle Zitate in der Reihenfolge ihrer Nennung: Wolf, Gerson: Zur Culturgeschichte in Österreich-Ungarn (1848–1888), Wien 1888, S. 38–41, 49, 48, 119.
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pluralistischen Gemeinschaft zu finden, sich aber noch jahrelang hinziehen sollte. Am 21. März 1890 wurde schließlich das heute noch rechtswirksame „Gesetz […] betreffend die Regelung der äußeren Rechtsverhältnisse der israelitischen Religionsgesellschaft“, als „Israelitengesetz“ bekannt, erlassen, das sich über alle jüdischen Gemeinschaften Zisleithaniens, nicht bloß in Wien, erstreckte.54 §1 definierte zwar als primäre Aufgabe der nun offiziell benannten „Cultusgemeinde“ die „Befriedigung der religiösen Bedürfnisse ihrer Mitglieder“, doch der Aufgabenkreis, der danach umrissen wurde, war wesentlich umfassender. Das Gesetz schrieb die Bestellung eines Vorstands vor, der alle Kultusangelegenheiten zu verwalten hatte. Das genaue Prozedere sollte durch ein Statut geregelt werden, das von der Kultusgemeinde in Vereinbarung mit dem Staat ausgehandelt werden sollte (§28–29). Für die Vorstandswahlen galten die gleichen Regelungen wie bei den Gemeindewahlen: So durften beispielsweise „nur Angehörige der Cultusgemeinde berufen werden, welche österreichische Staatsbürger sind und im Vollgenusse der bürgerlichen Rechte stehen“. Insofern bildete die Kultusgemeinde eine weitgehend autonome Gemeindeorganisation innerhalb ihres politischen Sprengels (§9). Allerdings behielt sich der Staat das Recht vor, über die Entscheidungen des Vorstands „zu wachen“ und diese bei Bedarf zu „beheben“ bzw. im Notfall „die betreffenden Vertretungskörper auf[zu]lösen“ oder Individuen „des Amtes zu entsetzen“ (§30–31). Für die jüdische sowie die allgemeine religionspolitische Geschichte Österreichs von großer Bedeutung – man denke an die Diskussionen vergangener Jahren betreffend des „Islamgesetzes“ – war die Bestimmung laut §2, dass eine jede Kultusgemeinde „ein örtlich begrenztes Gebiet“ umfasse und dass „in demselben Gebiete […] nur eine Cultusgemeinde bestehen“ durfte. Des Weiteren gehörte „[j]eder Israelite […] der Cultusgemeinde an, in deren Sprengel er seinen ordentlichen Wohnsitz hat“. Somit gibt es bis heute in Österreich nur eine Kultusgemeinde für die gesamte jüdische Bevölkerung eines politischen Sprengels, zu der bis 1918 alle Jüdinnen und Juden unbenommen ihrer Staatsbürgerschaft gehörten, die nicht offiziell aus dem Judentum ausgetreten bzw. konvertiert waren. Die Errichtung von neuen Kultusgemeinden bedurfte überhaupt „der staatlichen Genehmigung“ (§7). „Die freie Betätigung der religiösen Überzeugung, insbesondere auch in ritueller Beziehung“ durfte aber laut §25 „nicht behindert werden“. Es musste also bei der Einrichtung von Bethäusern und Vereinen „den verschiedenen in der Gemeinde üblichen Ritualformen thunliche Rücksicht“ getragen werden (§25–26). 54 Gesetz vom 21. März 1890, betreffend die Regelung der äußeren Rechtsverhältnisse der israelitischen Religionsgesellschaft [Israelitengesetz], http://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?aid=rgb &datum=1890&size=45&page=145, letzter Zugriff: 31. August 2020. Vgl. auch Budischowsky: Die staatskirchlichenrechtliche Stellung der österreichischen Israeliten, insb. S. 20, 106.
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Somit wurde der einheitliche Charakter einer jeden Kultusgemeinde in Zisleithanien gesetzlich festgeschrieben, sowie ihre Pflicht, die diversen Gesinnungen ihrer Mitgliedschaft zu schützen und zu fördern, und nicht zuletzt schloss das Israelitengesetz durch die ausschließliche offizielle Anerkennung der Obrigkeit der Kultusgemeinde jede andere offizielle Form der gemeinschaftlichen Organisation der zisleithanischen Judenheiten aus.55 Die Bestimmungen des Israelitengesetzes zogen demnach nicht zuletzt tiefgreifende Veränderungen im Gemeindewesen der sephardischen Bevölkerung Wiens mit sich, die nach wie vor einen Bruchteil der jüdischen Bevölkerung ausmachte.56 Die Autonomie der Sephardim wurde sukzessiv von der Kultusgemeinde eingeschränkt, und ihr Status wurde von dem einer „Gemeinde“ auf den eines bloßen „Verbands“ herabgesetzt. Fortan war das sephardische Kollektiv nur eine Verwaltungseinheit innerhalb der Kultusgemeinde.57 Der auf dem Israelitengesetz basierende Einheitscharakter der zisleithanischen Kultusgemeinden war eine einzigartige Erscheinung im modernen Europa, wo gerade zu dieser Zeit viele jüdische Gemeinschaften sich in unterschiedliche religiöse Fraktionen aufteilten. Joseph Samuel Bloch, der stets bemüht war um „die Idee einer Einheit, die aus der Vielheit entsteht“, versuchte seinerzeit vergeblich, einen Dachverband aller 427 Kultusgemeinden in Zisleithanien zu gründen.58 Vor allem die Wiener Kultusgemeinde, als eines der größten und vielfältigsten jüdischen Gemeinden Europas und als Leitmodell der zisleithanischen Kultusgemeinden, stellte stets die Einigkeit vor alle anderen ideologischen Überlegungen. In Transleithanien, der ungarischen Reichshälfte, war das Gegenteil zu beobachten, wo schließlich drei offizielle Hauptströmungen – „orthodox“, „neolog“, und „status-quo“ – entstanden.59 Als einzige staatlich anerkannte „Erscheinungsform des religionsgenossenschaftlichen Lebens der Israeliten“ wurden der Wiener Kultusgemeinde fortan „die besonderen Rechte einer öffentlichen Körperschaft“ zugestanden.60 Der Kultusgemeinde wurde somit die Verantwortung für die gesamte Organisation des gemeinschaftlichen Lebens der jüdischen Bevölkerung übertragen, die sie durch eine besondere „Kultussteuer“, das Pendant zur christlichen Kirchensteuer, zu finanzieren hatte. Dazu zählte auch die Verantwortung, die gesamten Matrikel zu führen, das heißt die Geburts-, Eheschließungs- und Sterberegister 55 Vgl. Budischowsky: Die staatskirchlichenrechtliche Stellung der österreichischen Israeliten, S. 63, 95. 56 John/Lichtblau: Schmelztiegel Wien, S. 34. 57 Vgl. Papo: The Sephardi Community of Vienna, S. 343. 58 Weitzmann: Politik der jüdischen Gemeinde Wiens, S. 191–192. 59 Vgl. Meyer: Antwort auf die Moderne, insb. S. 279. 60 Stern, Leopold: Der Haushalt der israelitischen Kultusgemeinden nach dem geltenden österreichischen Rechte, Wien 1914, S. 1.
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sowie die Register über Ein- und Austritte aus dem Judentum. Selbstverständlich verwaltete die Kultusgemeinde neben verschiedenen Fürsorgeeinrichtungen, Spitälern und Altersheimen auch das gemeinschaftliche Bestattungswesen. Dies mündete in eine umfassende Zentralisierung bzw. Institutionalisierung der gemeinschaftlichen Verwaltung zu dieser Zeit – wenngleich diese auch eine gewisse „wandelnde Kontinuität“ aus älteren Formen der embryonischen Gemeindeorganisation wie das „Vertretertum“ des ausgehenden 18. Jahrhunderts darstellten. Auch im Bestattungswesen vollzog sich eine strenge Zentralisierung und Institutionalisierung. Ab 1890 wurden alle paar Jahre Berichte über diese Verwaltungstätigkeit veröffentlicht, die somit eine höchst wertvolle Quelle des Gemeindewesens darstellen.61 Es sollte nach dem Erlass des Israelitengesetzes noch einmal sechs Jahren und 39 Sitzungen bedürfen, bis ein Statutenentwurf seitens aller Interessengruppen innerhalb der Kultusgemeinde sowie in Abstimmung mit „Vertrauensmännern“ des Staates zugestimmt worden war, ein Zeichen der stetigen Pluralisierung der zu diesem Zeitpunkt bereits beträchtlich angewachsenen Wiener Judenheit. Vor allem die orthodoxen Fraktionen hatten wiederholt den Inhalt der Statuten infrage gestellt. Der spätere Präsident der Kultusgemeinde, Alfred Stern, unterstrich in einem „Motiven-Bericht“ zu den Statuten, die er als „Werk eines mühevollen und schwierigen Compromisses, eines Compromisses verschiedener religiöser Richtungen [und] divergierender Interessen“ charakterisierte, die Grundanschauung, dass Verschiedenheiten in den religiösen Richtungen der Vereinigung derselben in eine Cultusgemeinde durchaus nicht entgegenstehen. Diese Verschiedenheiten im Judenthume beruhen eben keineswegs auf irgend welchen Unterschieden in dem Bekenntnisse; sondern bestehen nur in der Art und Weise, wie das religiöse Leben bethätigt wird, beziehentlich wie Juden einzeln oder gruppenweise ihre Lebensführung den Religionsvorschriften mehr oder minder anzupassen finden.
Dadurch wurde die einheitliche Vielfalt der Wiener Judenheit unterstrichen sowie die Hegemonie der Kultusgemeinde als ihre einzige öffentlich-rechtliche Repräsentativkörperschaft. Paradigmatisch kommt das Wort „Einheitlichkeit“ im Motiven-Bericht mehrmals vor. Trotz des administrativen und insofern eher weltlichen Charakters der von eher politisch als religiös orientierten Männern geleiteten Kultusgemeinde beinhalteten diese ersten Statuten bereits wichtige Konzessionen gegenüber dem religiösen, insbesondere dem orthodoxen Judentum, beispielsweise indem 61 Der erste dieser Tätigkeitsberichte war Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Bericht des Vorstandes der israel. Cultusgemeinde in Wien über seine Thätigkeit in der Periode 1890–1896, Wien 1896, samt einem Bericht des Friedhof-Comités, o. S.
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„ein die rituellen Vorschriften nicht beachtender Jude“ nicht beanspruchen dürfte, „Functionen, welche auf diesen Vorschriften beruhen, zu vollziehen“. Umgekehrt wurde betont, dass das Rabbinat nur über „die religiösen und rituellen Fragen“ zu urteilen hatte, selbst wenn sich der Vorstand vornahm, auf „das Rabbinat zu hören“, wenn deren Meinung relevant erschien. Somit wurde die herkömmliche Stellung der religiösen Gemeinschaftsführer zwar zu einem bestimmten Grad aufrechterhalten, es bestand aber kein Zweifel, wer die federführende Hand in der neuen Gemeindeorganisation hatte: der säkulare Vorstand, genauso wie in früheren Zeiten das säkulare Vertretertum und davor die säkularen shtadlanim. Diese Entwicklung zeigt eindringlich die wandelnde Kontinuität von der Zeit der frühesten „Hofjuden“ hindurch zur modernen Kultusgemeinde. Darüber hinaus hielten die Statuten mit Bezug auf den „die rituellen Vorschriften nicht beachtende[n] Jude[n]“ des Weiteren fest, dass „seine Zugehörigkeit zum Judenthume“ durch sein Ungeeignetsein für religiöse Funktionen „nicht beeinträchtigt“ sei. Somit wurde die Religions-, Gewissens- und Ausübungsfreiheit zu dieser Zeit noch völlig offen gelassen – die „Zugehörigkeit zum Judenthume“ wurde seitens der Kultusgemeinde zuerst nicht mit bestimmten Praktiken verknüpft, wie es später im Verlaufe des 20. Jahrhunderts zunehmend der Fall sein sollte. Ein wichtiger Aspekt der Statuten betraf schließlich die gemeinschaftliche Philanthropie gegenüber den Unbemittelten der Gemeinde, somit waren „[d]ie Trauung, das rituelle Bad, das rituelle Begräbniss, die Grabstätte für immerwährende Zeiten etc. etc. […] für Unbemittelte und deren Angehörige gratis“.62 Die Statuten zählten in §3 zu den Aufgaben der Kultusgemeinde neben dem Erhalt der religiösen Institutionen, der Anstellung von Rabbinern, der religiösen Erziehung und der Fürsorge auch die Verantwortung für den Bestand und die Erhaltung eines israelitischen Friedhofes, für die immerwährende und unantastbare Erhaltung bestandener und aufgelassener israelitischer Friedhöfe, für die den Ritus entsprechende Beerdigung der Verstorbenen, unbeschadet der diesbezüglich bestehenden Gesetze und Vorschriften.
Vorstandspositionen waren unbesoldet, und nur jene Mitglieder, die die Kultussteuer bezahlten, waren wahlberechtigt (§10).63 In einer der wenigen ausführlichen Studien zur Politik der Kultusgemeinde vor dem Ersten Weltkrieg behauptete der Historiker Walter Weitzmann, die gesetzliche Verpflichtung eines jeden nicht konvertierten oder ausgetretenen jüdischen Individuums, 62 Alle Zitate in der Reihenfolge ihrer Nennung: Stern: Motiven-Bericht, S. 53–56, 7–8, 16, 7–8, 10. 63 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Statut der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien, Wien 1920.
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offizielles Mitglied der Gemeinde zu sein, machte aus der Kultusgemeinde „ein[en] Mikrokosmos jüdischen Lebens in Wien“. Freilich stimmt eher, dass die Kultusgemeinde – der Verwaltungsapparat, der nicht identisch war oder ist mit der jüdischen Bevölkerung – bloß ein Mikrokosmos der wirtschaftlichen und religiösen Elite der damaligen, unvergleichlich vielfältigen Judenheit war. Wie Weitzmann selbst (wenngleich überspitzt) fortfuhr, gab es nämlich Abertausende, „die damit einverstanden waren, als Juden bezeichnet zu werden, denen aber jegliches Gefühl einer jüdischen Identität fehlte“.64 Das wurde nicht zuletzt reflektiert in der sehr niedrigen Zahl derer, die die Kultussteuer entrichteten, daher in den Vorstandswahlen wählen durften, die Synagoge besuchten oder Mitglieder in den kulturellen und sozialen Organen der Kultusgemeinde waren. Bloß an den Hohen Feiertagen kam es zu einem Ansturm auf die Synagogen, sodass die Kultusgemeinde notdürftig Konzerthallen und sonstige öffentliche Räume anmieten musste, um die Überzahl unterzubringen, und es herrschte oft ein Chaos, was den Vorwürfen der antisemitischen Öffentlichkeit sehr gelegen kam.65 Um die Jahrhundertwende traten an die 500 Personen pro Jahr aus der Kultusgemeinde aus: Die Mehrheit konvertierte zum Protestantismus oder wurde konfessionslos.66 Andererseits zählte zur Mitgliedschaft eine Vielzahl von orthodoxen Jüdinnen und Juden, die häufig so arm waren, dass sie die Kultussteuer nicht entrichten konnten und deswegen sowie aufgrund der allgemeinen Ablehnung der strengen Orthodoxie seitens des Vorstandes einfach marginalisiert wurden. Wie Weitzmann schloss, repräsentierte die Kultusgemeinde also eigentlich nur einen „Kern der Wiener Juden“.67 Der Kultusvorstand setzte sich demnach auffallend stark von Mitgliedern des führenden Wirtschafts- und Bildungsbürgertums dieser Zeit zusammen. Eine weitere aussagekräftige Statistik ist, dass rund vierzig Prozent der Vorstandsmitglieder vor und nach dem Ersten Weltkrieg promoviert hatten.68 Wie sich wiederholt erwies, war es stets eines der größten Errungenschaften der Kultusgemeinde, die Vielfalt der Wiener Judenheit in einer einheitlichen Organisation zu bewahren, doch freilich führte diese Einheitlichkeit auch zu Konflikten. Diese versuchte der letzte Präsident vor dem Ersten Weltkrieg, Alfred Stern, als bloße Meinungsunterschiede über religiöse Praxis und darüber, wie das Budget auszuteilen war, abzutun. Doch Weitzmann deutete rückblickend darauf hin, dass die Mitgliedschaft der Kultusgemeinde so ständig 64 Weitzmann: Politik der jüdischen Gemeinde, S. 183. 65 Vgl. Weitzmann: Politik der jüdischen Gemeinde, S. 198. 66 Ascher, Arnold: Die Juden im statistischen Jahrbuche der Stadt Wien für das Jahr 1911, Wien 1913, S. 9–10. 67 Weitzmann: Politik der jüdischen Gemeinde, S. 184. 68 Freidenreich, Harriet: Jewish Politics in Vienna 1918–1938, Bloomington 1991, S. 39.
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anwuchs und sich so stetig diversifizierte, dass die aufkommenden Konflikte doch eher als wachsende Unstimmigkeiten – politisch und religiös – gegenüber der alten liberalen Ideologie der „[Kultusgemeinde]-Establishment“ zu deuten sind.69 Freilich waren nämlich nicht alle Gruppierungen innerhalb der Kultusgemeinde liberal oder kosmopolitisch ausgerichtet: In Reaktion auf den vermeintlichen Traditionsverlust der neueren Zeit sowie auf den immer stärker aufkommenden politischen und gesellschaftlichen Antisemitismus formten sich auch Strömungen innerhalb des Judentums, die von einem jüdischen Partikularismus geprägt waren. Zwei dieser Strömungen, die auch in Wien und in den Wiener jüdischen Friedhöfen einen deutlichen Einfluss hatten, waren auf religiöser Ebene orthodoxe Bewegungen wie der Chassidismus und später auf politischer Ebene der Zionismus. Es ist ein Klischee der Geschichtsschreibung, dass diese Strömungen klar eine Ost-West-Dichotomie, spezifischer unterteilt zwischen den deutschsprachigen, „assimilierten“ Juden „Westeuropas“ (wo Wien nicht ganz nachvollziehbar mit einbegriffen wird) und den unreformierten, jiddischsprachigen „Ostjuden“ aus Galizien, darstellten.70 In Wirklichkeit gab es schon seit der Aufklärung Gruppierungen in den „westlichen“ Gemeinschaften (darunter eben auch in Böhmen, Wien und Ungarn), die durchaus den modernen, reformatorischen Bestrebungen abgeneigt waren, während Galizien schon längst Schauplatz einer tiefen Auseinandersetzung zwischen diversen „modernen“ und „traditionellen“ Bewegungen war.71 Doch liegt es auf der Hand, dass samt einer breiten Diversität und einer regen kulturellen Kreativität auch die damit einhergehenden Konflikte rundum gemeinschaftlicher, politischer und religiöser Selbstauffassungen mit den Migrationswellen von Galizien nach Wien ab den 1880er-Jahren mitgebracht wurden.72 Die im einschneidenden Zeitraum von 1867 bis 1918 entstehende Wiener Judenheit war in der Folge regelrecht kaleidoskopisch: Sie bestand aus unüberschaubar vielfältigen, disparaten „jüdischen“ Gruppierungen, die dennoch durch die Einheitsorganisation der Kultusgemeinde miteinander verbunden wurde. Der Kultusgemeinde gelang es durch diese Ära der taumelnden Veränderungen hindurch, die einheitliche Vielfalt zu bewahren und bildete – ihrer fast unvergleichlichen Diversität zum Trotz – somit die einzige große jüdische Gemeinschaft ihrer Zeit, die in einer einheitlichen Gemeinde gebündelt war. Nirgendwo kommt diese einheitliche Vielfalt oder vielfältige 69 Weitzmann: Politik der jüdischen Gemeinde, S. 194–195. 70 Vgl. zu diesem Ost/West Diskurs Aschheim, Steven: Brothers and Strangers. The East European Jew in German and German Jewish Consciousness, 1800–1923, Madison 1982. 71 Vgl. Mahler, Raphael: Hasidism and the Jewish Enlightenment. Their Confrontation in Galicia and Poland in the First Half of the Nineteenth Century, Philadelphia 1985. 72 Vgl. Hödl, Klaus: Als Bettler in die Leopoldstadt. Galizische Juden auf dem Weg nach Wien, Wien 1994.
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Einheit prägnanter zum Ausdruck als am gemeinschaftlichen Friedhof beim I. Tor, der infolge ein einzigartig kohärentes Soziogramm dieser Gemeinschaft darstellt. Es war also nicht eine ausschließlich religiöse Vereinigung, die sich in der Kultusgemeindeorganisation gründete: Max Grunwald schrieb, dass ihre Etablierung spätestens ab den 1860er-Jahren zur Folge hatte, dass fortan der Präsident der Gemeinde, und nicht der Rabbiner, als wichtigster Repräsentant der Wiener Judenheit an die Öffentlichkeit trat.73 Ein offizielles Rabbineramt hatte es in Wien zu diesem Zeitpunkt überhaupt erst seit wenigen Jahrzehnten gegeben; somit erscheint die Präsidentschaft der Kultusgemeinde als offizielle Vertretung der jüdischen Bevölkerung vielmehr als direkte, wenn auch gewandelte Nachfolgerin der vorherigen Institution des „Vertretertums“ und davor noch der shtadlanut. Die frühen Präsidenten – überhaupt viele der frühen Funktionäre der Kultusgemeinde – waren oft nicht besonders religiös, traten wenigstens nicht vorrangig als „religiöse Vertreter“ an die Öffentlichkeit, und infolge dessen befasste sich die Kultusgemeinde nicht immer an erster Stelle mit religiösen Belangen. Als „gläubig hätte er sich wahrscheinlich nicht bezeichnet“, behauptete der Literaturwissenschaftler Karlheinz Rossbacher beispielsweise über den früheren Vertretern der Wiener Judenheit Leopold von Wertheimstein, der ab 1853 als erster Präsident der neuen Kultusgemeinde fungierte. Bezeichnenderweise wurde Leopold samt seiner Familie nicht einmal in einem Friedhof der Kultusgemeinde begraben, sondern im überkonfessionellen Friedhof in Döbling (I1-G1-1), der zum Schluss dieses Kapitels kurz zum Vergleich herangezogen wird. Auch mit Hinblick auf seine Nachfolger im Präsidentenamt, so beispielsweise Josef Ritter von Wertheimer, Jonas Freiherr von Königswarter und Ignaz Kuranda, die zwar alle in jüdischen Friedhöfen bestattet wurden, meinte Rossbacher, ihre Anstellung zeige, wie sehr der Kultusgemeinde daran gelegen war, „durch angesehene Mitglieder vertreten zu sein“, deren Ansehen sich offensichtlich eben aus ihren weltlichen und weniger ihren religiösen oder jüdisch-gemeinschaftlichen Errungenschaften ableitete. Hier zeigt sich wieder die wandelnde Kontinuität von der Zeit der wohlhabenden shtadlanim, die ihren weltlichen Einfluss zugunsten ihrer GlaubensgenossInnen einsetzten. So schrieb Leopold von Wertheimstein 1871 bezeichnenderweise an Ludwig August Frankl, in Parallelität zur seinerzeitigen Sprache der shtadlanut, er übe seine ehrenamtliche Pflicht in „Erinnerung an längstvergangene Zeiten der Schmach und Erniedrigung“ aus.74 Wie tief die führenden Persönlichkeiten des Wiener jüdischen Gemeindelebens zu dieser Zeit mit der Emanzipationsbewegung und der weltlichen Politik 73 Grunwald: Vienna, S. 365. 74 Rossbacher: Literatur und Bürgertum, S. 71.
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auf jeder Ebene, lokal bis staatlich, verwachsen waren, zeigt sich beispielhaft an der Person des 1811 in Prag geborenen Ignaz Kuranda. 1861 in den niederösterreichischen Landtag gewählt, stieg er schließlich zur Spitze der Deutschliberalen Partei auf, deren Obmannschaft er zwanzig Jahre lang innehaben sollte. 1871 wurde er zum vierten Präsident der Kultusgemeinde gewählt, ein Amt, das er bis zu seinem Tod 1884 innehatte. 1881 wurde er zum Ehrenbürger der Stadt Wien ernannt. Wie Max Grunwald betonte, war Kuranda charakteristisch für das liberale Bürgertum seiner Zeit stets kompromissbereit und hielt so beispielsweise die religiöse Reform innerhalb der Kultusgemeinde in Grenzen, um die orthodoxen Fraktionen zu besänftigen. Grunwald fasste Kurandas Amtszeit zusammen als „die glänzendste Zeit der Wiener jüdischen Gemeinde“, was sich nicht zuletzt an seiner Grabstelle zeigt: Der 1884 verstorbene Kuranda liegt am Ausgangspunkt der „Zeremonienallee“ beim I. Tor (6-1-1), inmitten der Großen und Mächtigen des jüdischen Gemeindelebens seiner Zeit.75 In seiner Trauerrede zu Ehren Kurandas betonte der spätere Oberrabbiner Moritz Güdemann dessen „Bürgerlichkeit“ über alles andere: „Wie er in der Oeffentlichkeit das Bürgerthum vertrat, so kannte er auch für sich persönlich keinen höheren Ehrgeiz, als den, ein Bürger zu sein und anspruchslos und bescheiden wie ein Bürger zu leben.“ Zu Kurandas höchsten Tugenden zählten Güdemann zufolge „sein Bürgersinn, seine Biederkeit, seine Pietät“; es „wurden ihm die Stadt und das Vaterland so theuer wie sein Haus“ und „er hat der Stadt, er hat dem Vaterlande, er hat der Menschheit gedient“. Etwas religiöser fiel die Gedächtnisrede aus, die Güdemann im Leopoldstädter Tempel hielt, in der er Kurandas „höchste, idealste Absichten“ als „kiddusch haschem“ (Heiligung Gottes Namen) bezeichnete. Diese Ideale waren jedoch zutiefst weltlich und dehnten sich weit über die Grenzen der jüdischen Lebenswelt hinaus, denn Kuranda arbeitete „im Dienste der Volksfreiheit, der Volksrechte, des Volkswohls“. Erst durch diese weltlichen Errungenschaften hat er „das Judenthum zu Ehren gebracht“: Einmal in den Augen der Welt: denn wenn die Welt sieht, daß das Judenthum solche Männer hervorbringt und großzieht, dann muß sie sich sagen – mag sie es eingestehen oder nicht – daß eine göttliche Kraft darin enthalten ist. Dann aber hat er auch, was fast noch mehr ist, das Judenthum bei seinen eigenen Bekennern zu Ehren gebracht. Denn so lange es einem Juden möglich ist, das zu erreichen, was Ignaz Kuranda erreicht hat – dieses allgemeine Ansehen im Leben und diese allgemeine Trauer im Tode – so lange darf Keiner sagen, das Judenthum hindere ihn in seiner Laufbahn.76
75 Grunwald: Vienna, S. 369–371. 76 Güdemann: Grabreden, S. 19, 21, 23–24.
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So eindeutig und optimistisch diese Geschichte des persönlichen und gemeinschaftlichen Aufstiegs klingen mag, sprach Kuranda 1881 bei der Feier zu seinem 70. Geburtstag die Sorge aus, „dass der morgige Tag all das, was wir insgesamt geschaffen haben, zerstören werde“.77 In den späten Jahren seines Lebens erlitt auch Adolf Jellinek eine „schwere Enttäuschung“, als er zusehen musste, wie seine „rosige Vorstellung von der ‚neuen Zeit‘“ zusehends zerfiel.78 Der in Mähren geborene und 1856 von Leipzig nach Wien bestellte Prediger sollte eine der prägenden Persönlichkeiten der neuen und ständig wachsenden Kultusgemeinde werden, und wurde 1892, nach Verabschiedung des Israelitengesetzes, zusammen mit seinem Kollegen Moritz Güdemann als deren offizieller Oberrabbiner ernannt. Wie im Falle Isak Noa Mannheimers und seines Adjutanten Lazar Horowitz eine Generation zuvor, wurde der in Hildesheim geborene Güdemann 1866 vom Vorstand aufgrund seiner eher konservativen Ausrichtung neben dem eher liberalen Jellinek angestellt und verblieb nach Jellineks Tod 1893 der alleinige Oberrabbiner. Seitdem wird dieses Amt nur mehr von jeweils einem Rabbiner ausgeübt.79 Jellineks Bruder Hermann war einer der Revolutionäre, die 1848 hingerichtet wurden, doch Adolf selbst blieb solche radikale Politik fern. Der Historiker Samuel Joseph Kessler zeigte, inwiefern es Jellinek verstand, das überlieferte Judentum mit den Gegebenheiten der „neuen Zeit“ zu vereinen sowie das religiöse Leben nicht abgetrennt von den sozialen Realitäten des Alltags zu betrachten. Insofern stand Jellineks Form des „jüdischen Liberalismus“ nicht nur im Zeichen des allgemeinen politischen Liberalismus seiner Zeit, sondern reflektierte eben eine bewusst jüdische Auseinandersetzung mit den Forderungen des modernen Zeitalters.80 Diese Tätigkeit Jellineks verkörperte auch die Leitlinie der Kultusgemeinde als umfassende Organisation für alle Belange ihrer jüdischen Anbefohlenen – sozial, fürsorglich, kulturell und eben nicht ausschließlich religiös. Auch seine ZeitgenossInnen fassten Jellineks Wirken nicht als „Assimilation“ im Sinne einer Aufhebung des „wahren Judentums“ auf, sondern als zeitgemäße Synthese des Alten und des Neuen, der Überlieferung mit der Moderne. So pries Moritz Güdemann in seiner Grabrede seinen Kollegen Jellinek als den „vielgerühmte[n] Prediger einer alten Zeit und doch hinwiederum einer neuen, aus jener die Waffen holend für diese“.81 Die Probleme, vor denen die Reformer allerdings standen, zeigen sich in den abfälligen Bewertungen späterer 77 Zit. nach Grunwald: Geschichte der Wiener Juden, S. 67. 78 Rosenmann: Dr. Adolf Jellinek, S. 90–91, 151. 79 Vgl. Fraenkel, Josef: The Chief Rabbi and the Visionary, in: Fraenkel, Josef (Hg.): The Jews of Austria. Essays on Their Life, History and Destruction, London 1967, S. 113–114. 80 Kessler: Translating Judaism, insb. S. 399, 401. 81 Güdemann: Grabreden, S. 65.
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Historiker wie des Zionisten Ludwig Bato, der ihnen eine „schale Menschheitsduselei“ vorwarf.82 Nach Jellineks Tod wandten sich aber sogar aus Amerika jüdische Zeitschriften an die Kultusgemeinde mit der Bitte, seine Werke nachdrucken zu dürfen, ein Zeichen seines nachhaltigen und weitreichenden Einflusses.83 Sein Erbe sollte sich sogar weit über das Judentum erstrecken: Sein Sohn Emil entwickelte einen neuen Automotor, den er nach seiner Tochter Mercédès nannte. Seither gilt Adolf Jellineks Enkelin als Namenspatronin für die Mercedes-Automarke. Mercédès wurde 1929 in einem Familiengrab im allgemeinen Teil des Zentralfriedhofs bestattet (59C-26). Die Ära des Liberalismus und der damit einhergehende Optimismus sollten sich als von kurzer Dauer herausstellen, wie der Börsenkrach 1873 und der in den darauf folgenden Jahren aufkommende politische Antisemitismus zeigen sollten. Der wachsende Antisemitismus in der österreichischen Haupt- und Residenzstadt, der 1893/95 in der Wahl bzw. der Ernennung Karl Luegers zum Bürgermeister gipfelte, erzeugte die unterschiedlichsten Reaktionen seitens der jüdischen Bevölkerung, von positiver Selbstbehauptung, so etwa im ÖsterreichPatriotismus, den insbesondere die Kultusgemeinde bis zum Ende vertrat, hin zur reaktiven Selbstbehauptung in Form von partikularistischen Bewegungen wie der (religiösen) Orthodoxie oder des (politischen) Zionismus.84 Von solchen kollektiven Identifikationsmustern abgesondert, drückten auch viele, gerade die säkulare Bildungselite, ihre Selbstauffassung in Form von radikalem Individualismus oder Kosmopolitismus aus, wie sich nachdrücklich in der Kulturelite des Fin de Siècle zeigen sollte. Jüngst wies der Historiker Klaus Hödl darauf hin, wie gerade im Bereich der Populärkultur des Fin de Siècle, die trotz ihrer gesellschaftlichen Ausbreitung bisher kaum in der Historiographie beachtet wurde, die Verflechtung von Jüdinnen/Juden mit Nichtjüdinnen/Nichtjuden sowie des „Jüdischen“ mit dem „Nichtjüdischen“ diese Kategorien nahezu auflöste.85 Die komplizierte Dynamik dieser Ära, die zwischen den verschiedensten und vielschichtigsten Erfahrungen von Zugehörigkeit und Ausgrenzung pendelte, inskribierte sich eindringlich im Sepulkraldiskurs beim I. Tor – mit dem Vorbehalt, dass alle dort Bestatteten, egal was ihre Ansichten zu Lebenszeiten gewesen sein mochten, im Tode auf irgendeiner Ebene als „jüdisch“ vereint hier bestattet wurden. Unmittelbar verhieß das liberale Zeitalter allerdings rosige Aussichten für die Wiener Judenheit und vor allem das Wiener Bürgertum. Die Entstehung 82 Bato: Die Juden im alten Wien, S. 203. 83 Grunwald: Vienna, S. 362. 84 Vgl. Rabinovici, Doron: Angesichts von Hass und Hetze. Jüdische Strategien gegen den Antisemitismus, in: Enderle-Burcel, Gertrude/Reiter-Zatloukal, Ilse (Hg.): Antisemitismus in Österreich 1933–1938, Wien 2018. 85 Hödl: Zwischen Wienerlied und Der Kleine Kohn, insb. S. 10, 19.
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einer soliden, einflussreichen Bourgeoisie Mitte des 19. Jahrhunderts durch einen weitreichenden „Verbürgerlichungsprozess“ wurde hinlänglich von der Historikerin Simone Lässig analysiert.86 Das Großbürgertum, das so prägend war für die Wiener Gesellschaft in der Doppelmonarchie, stellte zunehmend eine „zweite Gesellschaft“ dar, ein „neuer Beamten- und Geldadel“ gegenüber der „Führungsschicht von Gestern“, der insbesondere durch den kaiserlich verliehenen Titel „Ritter von“ gekennzeichnet und somit auch kaisertreu und staatstragend war. Auch das zumeist nicht geadelte Bürgertum versuchte, es mit ihren Prachtbauten und durch ihr „großzügiges Mäzenatentum“ dem Ritterstand gleichzutun.87 Vom neuen jüdischen Bürgertum sagte man: „Sie halten die Speisegesetze nicht ein, sie halten den Shabbat nicht ein. Sie halten die Neue Freie Presse ein.“88 Trotz der profunden Diversität der Wiener Judenheit im Fin de Siècle sowie der Tatsache, dass ein Großteil unter der Armutsgrenze lebte, wurden sowohl die Kultusgemeinde wie ihre Mitgliedschaft weitgehend als politisch liberal und ökonomisch mittelständisch wahrgenommen, in anderen Worten: mit dem Großbürgertum identifiziert. Machten sie bloß zehn Prozent der Gesamtbevölkerung aus, so lag der Anteil von Juden unter den Anwälten und Ärzten der Stadt bei rund der Hälfte, unter den Journalisten sogar bei drei Vierteln.89 Wie Steven Beller bemerkte: „Das Problem der antisemitischen Angriffe auf die ‚jüdische Presse‘ lag darin, daß dies, zumindest in Wien, schlicht und einfach den Tatsachen entsprach. Die Eigentümer oder Herausgeber der großen Tageszeitungen der liberalen Presse waren durchwegs jüdischer Abstammung“.90 Im Laufe der Zeit wurden auch immer mehr Juden nicht nur in den Adelsstand erhoben, eine wichtige symbolische Errungenschaft, sondern gelangten auch in führende Positionen des öffentlichen und politischen Lebens. Bahnbrechend war die Ernennung 1861 von Anselm Freiherr von Rothschild, Sohn des Eisenbahnindustriellen Salomon Freiherr von Rothschild, durch Kaiser Franz Joseph I. in das Herrenhaus des Reichsrates; ihm folgten bald weitere Juden wie der Bankier Moritz von Königswarter und der Großindustrielle Julius von Gomperz. Der materielle Reichtum und die immaterielle Stellung, die diese Errungenschaften mit sich brachten, sollten einen tiefen Eindruck
86 Lässig: Jüdische Wege ins Bürgertum. 87 Csáky, Moritz: Die Gesellschaft, in: Kühnel, Harry (Hg.): Das Zeitalter Kaiser Franz Josephs – 2. Teil 1880–1916. Glanz und Elend, Wien 1987, S. 40, 48. Vgl. jüngst Judson: Habsburg, insb. S. 80–91. 88 Zit. nach Elon, Amos: Herzl, London 1975, S. 99. 89 Tietze: Die Juden Wiens, S. 203–204. 90 Beller, Steven: Wien und die Juden 1867–1938, aus dem Englischen von Marie Therese Pitner, Wien 1993, S. 46–47.
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in der Sepulkralkultur beim I. Tor machen, wo die sowieso schon ausgeprägte Intersektionalität der Wirkungsbereiche prominenter Jüdinnen und Juden, wie sie in den Grabinschriften des Währinger Friedhofs zum Ausdruck kam, aufgrund dieser Entwicklungen noch einmal einen gewaltigen Schub erfuhr. Somit waren jüdische Individuen bei Weitem nicht mehr, wie es Jahrhunderte zuvor in der Seegasse durchwegs der Fall war, überwiegend bloß in einer streng abgekapselten innerjüdischen Welt vernetzt, sie waren nun Teil – ein wichtiger Teil – der Wiener und der österreichischen Gesellschaft. Dies kommt charakteristisch zum Ausdruck in der Grabrede Moritz Güdemanns für den 1894 verstorbenen Politiker und Reichsratsabgeordneten Heinrich Jacques, ein Hof- und Gerichtsadvokat sowie liberaler Reichsratsabgeordneter für die Innere Stadt, der allerdings im überkonfessionellen Hietzinger Friedhof (11-118) bestattet wurde: Und nicht blos wir beklagen diesen Verlust, sondern Tausende und aber Tausende: unsere Stadt, deren langjähriger hochgeachteter Vertreter im Parlament er war, unsere Glaubensgemeinde […], zahlreiche Verwaltungen, gelehrte und wohlthätige Vereine, die Männer der Rechtswissenschaft und die Freunde der Kunst.91
Neben dem Friedhof beim I. Tor ist das wohl imposanteste Denkmal des neuen Bürgertums und des „jüdischen Adels“ die im späten 19. Jahrhunderten mit dutzenden Prachtbauten entstandene Ringstraße. So jüdisch konnotiert war die Ringstraße schon bei ihrer Bebauung, dass sie in einer antisemitischen Satire aus dem Jahre 1873 als „Zionstraße von Neu-Jerusalem“ verhöhnt wurde.92 Der Schriftsteller Edmund de Waal zitierte in seinem Bestseller Der Hase mit den Bernsteinaugen den Stararchitekten Adolf Loos, der wiederum in Anlehnung an den russischen General Grigori Alexandrowitsch Potemkin über die Ringstraßenbauten meinte, „diese Juden hatten perfekte Fassaden – sie verschwanden einfach. Es war eine Potemkinsche Stadt, und sie waren Potemkinsche Einwohner“. Gleichzeitig jedoch beteuerte de Waal mit Verweis auf die einschlägige Historiographie die allseits erkannte „Jüdischkeit“ der „Zionstraße“. Diesen Widerspruch von de Waals Auffassung der „verschwindenden“, „assimilierten“ Judenheit, die sich zugleich unverkennbar in der „Zionstraße“ zur Schau stellte, tritt performativ in seiner Schilderung des grandiosen Ballsaals im Palais Ephrussi am damaligen Franzensring (heute Universitätsring) hervor, „der einzige Raum in einem jüdischen Haushalte, […] den die nichtjüdischen Nachbarn bei gesellschaftlichen Anlässen zu Gesicht bekamen“. Hier findet sich nämlich
91 Güdemann: Grabreden, S. 67. 92 Zit. nach John/Lichtblau: Schmelztiegel Wien, S. 142. Hervorhebung im Original.
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eine Reihe von Deckenmalereien mit Szenen aus dem biblischen Buch Esther: Esther wird zur Königin Israels gekrönt, sie kniet vor dem Hohen Priester in seinen Rabbinergewänden, sie wird gesegnet, hinter sich die kniende Dienerschaft. Und dann ist da die Niederwerfung der Söhne Hamans, des Feindes der Juden, durch jüdische Krieger.
De Waal fasste zusammen: „Hier an der Zionstraße ein kleines bisschen Zion.“ Etwas später behauptete er allerdings schon wieder, die „Familie Ephrussi ist so perfekt assimiliert, dass sie im Gewebe der Stadt verschwunden ist“.93 Dieser verwirrte Versuch, sich mit der „Jüdischkeit“ des recht säkularen Bürgertums des Fin de Siècle auseinanderzusetzen, veranschaulicht bündig die Problematik des Assimilationsnarrativs – auf diese Form des „Lesens“ der Architektur wird in der Grabsteinanalyse unten eingehend zurückgekommen, wo auch das Mausoleum der Familie Ephrussi besprochen wird. Entgegen der männlich-dominierten Geschichtsschreibung der Emanzipationsbewegung sieht freilich die Geschichte der Frauenrechte wesentlich anders aus. Manche der großen Emanzipationskämpfer, so beispielsweise der einflussreiche jüdische Revolutionär und Politiker Adolf Fischhof, lehnten sogar das Stimmrecht für Frauen grundsätzlich ab. Dies sollten österreichische Frauen – jüdische wie nichtjüdische – erst 1918 erhalten. Als Frauen aber Ende des 19. Jahrhunderts erstmals Eintritt in die Universität gewährt wurde, prägten sie fortan diese Sphäre eindringlich, allen voran die bürgerliche Schicht aus jüdischen Haushalten. Diese erhielten nämlich, wie die Historikerin Elisabeth Malleier belegte, „häufig mehr Unterstützung in der Ausbildung ihrer intellektuellen Fähigkeiten“ als ihre christlichen bzw. nichtjüdischen Gegenüber. So erreichte beispielsweise der Anteil von Jüdinnen unter den weiblichen Studierenden an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien ihren Höhepunkt im Studienjahr 1918/19 mit erstaunlichen 52 Prozent, gegenüber ihrem Anteil an der allgemeinen Bevölkerung Wiens von nur etwa zehn Prozent.94 So war bekanntlich die jüdisch geborene Philologin Elise Richter die erste Frau in der Geschichte Österreichs, die 1905 habilitierte und 1921 als „Außerordentlicher Professor“ (sic) ernannt wurde. Richter kam 1943 im Konzentrationslager Theresienstadt um. Ihre Biographie ist somit ein paradigmatisches Beispiel für die soziokulturelle Entfaltung dieser Generation der zentraleuropäischen Judenheit, der schließlich durch Genozid ein Ende gesetzt wurde. Über die Universität und das Berufsleben hinaus gab es auch andere Bereiche, in denen sich Frauen (egal, ob jüdisch oder nicht) im öffentlichen Leben behaupten konnten, so vor allem im philanthropischen Bereich. Betrachtet 93 Alle Zitate in der Reihenfolge ihrer Nennung: Waal, Edmund de: Der Hase mit den Bernsteinaugen, aus dem Englischen von Brigitte Hilzensauer, Wien 2011, S. 129, 127, 134, 160. 94 Malleier: Jüdische Frauen, S. 197, vgl. auch S. 42–43.
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man die vielen Frauenvereine in der Metropole Wien des 19. Jahrhunderts, so stößt man auf viele Namen großbürgerlicher Familien der Wiener Judenheit wie Wertheim, Biedermann, Rothschild, Königswarter, Kompert, Gutmann, Ephrussi, Gomperz und Wertheimer.95 Die oft überkonfessionellen Vereine, wie der Frauen-Erwerb-Verein, waren Treff- und Austauschpunkte für jüdische und nichtjüdische Frauen und stellten somit einen wesentlichen Aspekt der Verschmelzung des jüdischen und nichtjüdischen Lebens im damaligen Wien dar. Diese öffentlichen Tätigkeiten – eigentlich Quasiberufe – wurden aber in der damaligen Gesellschaft wie oft in der späteren Geschichtsschreibung nicht als solche wahrgenommen. Ebenso zeigt der Sepulkraldiskurs der damaligen Zeit oft eine zutiefst geschlechterspezifische Vorstellung des beruflichen öffentlichen Lebens des Mannes vis-à-vis der privaten häuslichen Sphäre der Frau. Dies war sowohl eine Frage des Standes wie der Kultur und der Religiosität: Die konstruierte Unterscheidung zwischen dem professionellen Mann und der häuslichen Frau war eine vorwiegend bürgerliche, liberale Erscheinung in Zentraleuropa; in den eher traditionellen religiösen Milieus der osteuropäischen Judenheiten war es hingegen nicht ungewöhnlich, dass die Frau die Alleinverdienerin ihrer Familie war, damit sich ihr Mann der religiösen Lehre widmen konnte.96 Die Welt des späten 19. Jahrhunderts hatte sich innerhalb weniger Generationen radikal verändert: Industrialisierung, Modernisierung und außereuropäische Expansionspolitik hatten die Welt verkleinert, verbunden und beschleunigt; Migration und Urbanisierung führten zu einem weitverbreiteten Verlustgefühl und mündeten in einer nostalgischen Verklärung der Vergangenheit.97 Diese Nostalgie – wie bereits in der Kunst und Literatur der Romantik bezeugt – fand nicht selten ihren Ausdruck im kulturellen Medium des Friedhofs. So bediente sich auch der inzwischen betagte Schriftsteller und ehemalige Kultusgemeindefunktionär Ludwig August Frankl, der zwei Jahre später sterben und beim I. Tor begraben werden sollte (5B-35-58), der zu seiner Zeit bestehenden Wiener jüdischen Friedhöfe, um seiner Nostalgie Ausdruck zu verleihen. Dabei fungierte der alte, inzwischen geschlossene Friedhof in Währing als Sinnbild der guten alten Zeit, in der die Welt heil und das Judentum noch rein gewesen war: Dort standen „Steine flach, wie weiße Hände / Einfach gemeißelt nach dem Brauch des Ahnen“. Hier wurden die frommen Verstorbenen 95 Vgl. Rose: Jewish Women, S. 47–49. 96 Vgl. Malleier: Jüdische Frauen, S. 45, 180–182. 97 Vgl. Fritzsche, Peter: Specters of History. On Nostalgia, Exile and Modernity, in: The American Historical Review 106/5 (Dezember 2001). Vgl. in Bezug auf die jüdische Kultur Cohen, Richard: Nostalgia and „Return to the Ghetto“. A Cultural Phenomenon in Western and Central Europe, in: Frankel, Jonathan/Zipperstein, Steven (Hg.): Assimilation and Community. The Jews in Nineteenth-Century Europe, Cambridge 1992.
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noch von der „heil’ge[n] Bruderschaft“, der Chewra Kadisha, zu ihrer letzten Ruhe begleitet: „Die letzte Lieb’ erwies sie noch der Leiche / Nicht feile Hände durften sie bekleiden / Und bettete sie sanft nach Erdenleiden / Zum letzten Schlaf im dunklen Todtenreiche.“ Demgegenüber standen die „neue[n], künftige[n] Geschlechter“, die der hebräischen Sprache und insgesamt des Judentums nicht mehr geläufig waren: „Kaum können Spruch und Namen sie noch lesen / Wer sind die längst Vermoderten gewesen? / Vergessenheit sitzt da als Todtenwächter“. Der neue Friedhof beim I. Tor fungierte dabei stellvertretend für den sittlichen Verfall der Ära: „Bald aufgebraucht sind alle Marmorbrüche / Für Mausoleen, d’rauf viel gold’ne Sprüche / Geplündert wird ein ganzer Lenz zu Kränzen. / Doch ebenbürtig sind die in den Särgen / Und nicht beschämt erröthen soll der Todte.“ Das Gedicht des alten jüdischen Wieners schloss mit einer Ermahnung der neuen Zeit und einem Nachruf auf eine verklärte Vergangenheit: „Ihr, jetzt von bess’rer Zeiten Licht beschienen / Schmückt nur mit reichem Pomp die Gruft der Euren / Die Sitte aber der Altvordern Theuern / Die fromme Bruderliebe stirbt mit ihnen!“98 Ironischerweise protzt auch Frankls marmornes Gradenkmal zwar nicht mit einer vergoldeten Inschrift, aber doch mit reichlichen weltlichen Titeln und Verzierungen. In diesem späten Gedicht zeigt sich jedenfalls, inwiefern innerhalb weniger Jahrzehnte die vermeintlichen Schattenseiten der so lange ersehnten Emanzipation erkennbar wurden: Die Befreiung aus dem „Ghetto“ (gerade in Wien ein eher rechtliches und geistliches und kein materielles Konzept) bedeutete schließlich nichts als Traditionsverlust, die Gleichberechtigung hat sich als Abstieg in den Materialismus entblößt. In den letzten Jahren vor dem „Anschluß“ schrieb Max Grunwald abfällig, die Wiener Judenheit im ausklingenden 19. Jahrhundert sei eine „heterogene Masse“ gewesen, „zusammengesetzt aus Ästheten, Poseuren und Modeliebhabern“. Dieser „verrückte Karneval ungezügelten Judentums“, so schloss er bissig, hätte „die zwangsläufige Reaktion“, den politischen Antisemitismus, vorausahnen sollen.99 Von den subjektiven Wertungen der Kultur des Fin de Siècle abgesehen, ist dies ein charakteristisches Beispiel einer Täter-Opfer-Umkehr: Es wird den Opfern wie auch immer gearteter Verfolgung aufgrund von vermeintlichen Verhaltensdefiziten selbst die Schuld für ihre Verfolgung zugeschoben. Umgekehrt deutet die Nachwelt längst eben diese Heterogenität, diese Vielfalt, diesen „verrückte[n] Karneval ungezügelten Judentums“ als Urquelle der nun weltweit gerühmten und einflussreichen Kultur der Wiener Moderne. 98 Frankl, Ludwig August: Der alte und neue Friedhof der Juden, in: Oesterreichische Wochenschrift, 4. März 1892, S. 173. Vgl. hierzu allgemein den Abschnitt Lyrik und Prosa über den Zentralfriedhof, in: Exenberger, Herbert: Gleich dem kleinen Häuflein der Makkabäer. Die jüdische Gemeinde in Simmering 1848 bis 1945, Wien 2009, insb. S. 139. 99 Grunwald: Vienna, S. 405, 418.
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Der Friedhof beim I. Tor samt seinen zehntausenden Grabdenkmälern stellt einen der einzigen erhaltenen Orte der Dokumentation und des Gedenkens dieser riesigen und weltweit bedeutenden, aber später fast vollkommen vernichteten jüdischen Gemeinschaft dar. Seine historische Bedeutung wird umso mehr durch die Tatsache verschärft, dass viele der dort Bestatteten ansonsten durch das Rad der Zeit oder den Zerstörungen der Shoah vollkommen aus der Geschichtsschreibung verschwunden wären: In vielen Fällen bildet ein Grabstein den einzigen Beweis eines Menschenlebens, der bis heute überdauert hat. Der Friedhof erlaubt eine tiefgreifende Neubewertung dieser Gemeinschaft sowie der Reaktionen ihrer einzelnen Mitglieder auf die einschneidenden Entwicklungen dieser Epoche der österreichischen und europäischen Geschichte: Die Grabsteine bekunden nicht nur die Interaktionen der Wiener Jüdinnen und Juden mit der – nun in der rechtlich verankerten und offiziell anerkannten Kultusgemeinde verkörperten – jüdischen Gemeinschaft, sondern weit darüber hinaus die breitere Gesellschaft, in der sie als (größtenteils) gleichberechtigte BürgerInnen lebten, sowie ihre tiefgreifende Teilhabe am öffentlichen, wirtschaftlichen, kulturellen, professionellen, juridischen und politischen Leben dieser Gesellschaft. Wie es der Schriftsteller und Journalist Joachim Riedl festhielt: Es [das Wiener Judentum] ist nicht weniger gespalten und fraktioniert als der Rest der Bevölkerung. Es ist in Teilen fromm und treu der Traditionen verhaftet, es lebt in Teilen gottesfern und dem Erbe der Väter entfremdet. Es gibt sich teils staatstragend und teils aufrührerisch. Ist einerseits eine Religionsgemeinschaft von Honoratioren, süchtig nach Anerkennung und Prestigemonumenten, und anderseits ein Bettlerglaube, gleichgültig gegenüber allen irdischen Symbolen.100
In diesem Kontext erweist sich die „Jüdischkeit“ als bloß eine von vielen Kategorien in einem komplexen, intersektionalen Geflecht, aus dem sich sowohl die breitere kollektive wie auch die individuelle „Identität“ permanent neu gründete. Doch verlor diese Gemeinschaft trotz Emanzipation, Säkularisierung und weiteren Entwicklungen nie ihre allgemeine Kohäsion, wenngleich die Grenzen der Zugehörigkeit zu einem imaginären „jüdischen“ Kollektiv außerordentlich dehnbar waren. Diese vage, aber dennoch einheitliche Zugehörigkeit war verkörpert in der Institution der Kultusgemeinde und im urbanen Raum des Friedhofs: Nirgendwo ist der kaleidoskopische Charakter der „Jüdischkeit“ dieser Ära anschaulicher verkörpert als in diesem Einheitsfriedhof. Egal ob religiös oder agnostisch, liberal oder konservativ, orthodox oder reformiert, zionistisch oder kaisertreu; ob sie aktiv am Leben der jüdischen Gemeinde
100 Riedl: Jüdisches Wien, S. 9.
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teilnahmen oder fern von jüdischen Belangen lebten, ließen sich die allermeisten als „Juden“ und „Jüdinnen“ geborenen WienerInnen zwischen 1879 und 1918 am jüdischen Friedhof beim I. Tor begraben, was eine geringstenfalls oberflächliche Identifikation mit dem jüdischen Kollektiv andeutet, genauso wie verhältnismäßig wenige aus der Kultusgemeinde austraten, obwohl ihnen seit 1867 diesbezüglich nichts mehr im Weg stand. Dieser Friedhof vermittelt eine deutliche Erfolgsgeschichte der Kultusgemeinde und ihrer positiven Selbstbehauptung innerhalb der österreichischen Gesellschaft. Dennoch zeigten sich auch bald, spätestens ab der Jahrhundertwende, erste Bruchlinien, die sich schon bald im Diskurs über die „Jüdischkeit“ und der angemessenen Sepulkralpraxis beim I. Tor bemerkbar machen sollten. 5.2
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Der Friedhof beim I. Tor ist ein deutlich durchgeplanter Raum. Seinen Umgangsnamen verdankt er der Tatsache, dass er beim I. Tor des Zentralfriedhofs (eines von ehemals zwölf) an deren nordwestlichen, der Stadt am nächsten gelegenen Ecke seine Ausgangsposition hatte: Hier stand von 1879 bis zu ihrer Verwüstung in den Novemberpogromen 1938 und ihrer endgültigen Abtragung 1978 eine monumentale Zeremonienhalle. Hier hatten alle Leichenfeiern ihren Ausgangspunkt, und von dieser Stelle aus verläuft die zentrale Achse des Friedhofs, gebräuchlich die „Zeremonienallee“ genannt, Richtung Süden, bis zu ihrem Ende beim XI. Tor. Wohl bemerkt sind Pläne des Zentralfriedhofs meist gegen Süden gerichtet, mit dem Blickwinkel von dem an der nördlichen Seite, an der Simmeringer Hauptstraße gelegenen Haupttor aus gerichtet. Somit erscheint Tor I „unten“ und die Zeremonienallee verläuft auf den Plänen „hoch“ zum XI. Tor. Auf verschiedenen Friedhofsplänen ist zu sehen, dass das am Weichseltalweg, zwischen den Gruppen 51 und 52A gelegene XII. Tor entlang der westlichen Friedhofsmauer bis in die 1950er-Jahre noch offen stand: Heutzutage kann man den jüdischen Friedhof nur mehr durch die an die allgemeinen Friedhofsabteilungen angrenzenden Tore I und XI betreten.101 Auch ein zwischen den Gruppen 20 und 51 gelegenes „provisorische[s] Holztor“, genannt „Tor A“, wurde in der Zwischenkriegszeit zugemauert.102 Um etwa die Zeit, als der neue jüdische Friedhof in Planung war, fand auch die Verlegung 101 Vgl. z. B. Freytag & Berndts Plan des Wiener Zentralfriedhofes, 1927, Österreichische Nationalbibliothek (ÖNB), KI 100515 und Wiener Zentralfriedhof, 1953, ÖNB, KI 104092. 102 Zusammenstellung, 12. April 1927, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/1/8, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Friedhofs beim I. Tor bis 1917
der neuen Aspangbahn entlang der südwestlichen Grenze des Zentralfriedhofs statt: Diese hielt die zukünftige Erweiterung des Friedhofs in Grenzen und sollte auch verheerende Folgen für den Friedhof während des Bombenkriegs 1944/45 bedeuten.103 Obwohl der Friedhof von der Kultusgemeinde angelegt und autonom verwaltet wurde, ist die Nummerierung der Gräbergruppen – wie überhaupt die Infrastruktur, die Wege, die Friedhofsmauer und weiteres – in das allgemeine System des Zentralfriedhofs eingebunden. So fangen die jüdischen Gräbergruppen mit den Nummern 5B bis 8 im Norden an (5A ist nichtjüdisch), fahren mit 19 und 20, dann 49 bis 53B fort (53A ist nichtjüdisch) und enden im Süden mit der Gruppe 76B, die zugleich die jüngste Abteilung des jüdischen Friedhofs darstellt (76A ist nichtjüdisch). Die um die Zeremonienhalle (Gruppen 5B und 6) und entlang der Zeremonienallee sowie der westlichen Friedhofsmauer gelegenen Grabstellen gehören zu den prominentesten: Dort stehen somit auch die imposantesten Grabdenkmäler. Der Friedhof verfügt auch über verschiedene offizielle und inoffizielle Untergliederungen, so beispielsweise über einige Gruppen sephardischer Gräber – vieler Pläne zum Trotz, die die Gruppe 20 als „Türkisch-Israel. Abteilung“ kennzeichnen, sind die meisten Gräber dieser Gruppe nicht sephardisch, und die meisten sephardischen Gräber befinden sich nicht in dieser Gruppe, sondern größtenteils in der Gruppe 52, die aber nicht offiziell als sephardische Abteilung bezeichnet wird. Die räumliche Auslegung des Friedhofs beim I. Tor reproduziert sowohl die Erhabenheit wie auch die komplexe Gliederung der Wiener Judenheit im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert.
103 Plan für die hergestellte Erweiterung der israelitischen Abtheilung am Wr. Zentralfriedhofe, Juli 1877, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/1/8, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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Abb. 12 Plan des Wiener Zentralfriedhofs, 1953, mit dem alten jüdischen Friedhof beim I. Tor (rechts) und den neuen beim IV. Tor (links unten), beide hell schattiert. © Freytag-Berndt und Artaria KG
Spätestens in den 1860er-Jahren wurde klar, dass der alte Friedhof der Kultusgemeinde in Währing nicht mehr erweitert werden konnte und bald nicht mehr den Bestattungsbedarf der rasant wachsenden Gemeinschaft befriedigen würde. Durch mehr als einen Zufall – dieser Zustand waltete ja durch die gesamte Haupt- und Residenzstadt – teilte die Stadt Wien zum Jahresende 1868 mit, dass sie „einen grossen Leichenhof “ plane und ermitteln wolle, „ob die verschiedenen Religionsgemeinden nicht etwa bereit sind, sich mit ihren Begräbnisstätten dem Wiener Kommunal-Leichenhof anzuschliessen“. Die Zustimmung der Kultusgemeinde verzögerte sich aufgrund der ablehnenden Haltung der Chewra Kadisha, die Bedenken hegte über einen kommunalen, also nicht ausschließlich jüdischen Bestattungsraum – eine Vorahnung des Konfessionsstreits, der bald folgen sollte. Der Plan fand allerdings Zustimmung im Vorstand der Kultusgemeinde, sodass die Verhandlungen mit der Stadt Wien 1871 einsetzten. Diese wurden von prominenten Vorstandsmitgliedern geführt, darunter Ignaz Kuranda, Ludwig August Frankl und der Schriftsteller und Kultusgemeindefunktionär Leopold Kompert – allesamt Männer, die in späteren Jahren an prominenten Stellen auf
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dem neuen Friedhof in Ehrengräbern der Kultusgemeinde bestattet werden sollten. Die Stadt Wien lehnte von vornherein den Wunsch der Kultusgemeinde ab, ihren „Anteil am Zentralfriedhof eigentümlich zu erwerben“, und die Verhandlungen um eine Regelung des Eigentumsverhältnisses zogen sich in der Folge bis 1877 hinaus. Man einigte sich schließlich auf einen Pachtvertrag, wodurch die Kultusgemeinde ihren Teil durch eine Anzahlung von 37.000 Gulden „auf Friedhofsdauer“ erwarb. Des Weiteren verpflichtete sich die Kultusgemeinde, einen jährlichen Beitrag für die allgemeinen Verwaltungskosten des Zentralfriedhofs zu zahlen. Dieser wurde vorerst auf einen Anteil von 20,5 zu 346,5, also etwa 5,9 Prozent, festgelegt, was sowohl der Größe des neu erworbenen Areals im Verhältnis zum Gesamtfriedhof wie ungefähr das der jüdischen zur Gesamtbevölkerung Wiens darstellte.104 In anderen Worten gehörte das Land, auf dem der Friedhof angelegt wurde, weiterhin der Stadt Wien, die theoretisch jederzeit den Zentralfriedhof samt allen seinen Abteilungen – inklusive beim I. Tor – auflassen konnte. Der Kultusgemeinde gehörten lediglich die sich darauf befindlichen, von ihr in Auftrag gegeben Bauten und Grabdenkmäler. Dies stellt eine erstaunliche Neuerscheinung in der jüdischen Sepulkralgeschichte dar, in Wien oder anderswo, galt es doch seit jeher als fundamentales Gebot in Anlehnung an die frühesten biblischen Überlieferungen (beispielsweise 1. Moses 23,19), die Grabstätte bzw. später den Bestattungsraum käuflich zu erwerben, um so die ungestörte Ruhe der Toten zu gewährleisten.105 In einer von der Kultusgemeinde herausgegebenen „Denkschrift“ aus dem Jahre 1928 wurde der vertragliche Wortlaut „auf Friedhofsdauer“ als de facto „Eigentumserwerb“ erörtert – ein Wunschdenken, wie sich zehn Jahre später herausstellen sollte.106 Die Rechtsverhältnisse rund um den neuen Friedhof wurden schließlich 1891 infolge der Verabschiedung des Israelitengesetzes vertraglich zwischen der nun vollständig etablierten Kultusgemeinde und der Stadt Wien abgeschlossen. §9 des Vertrags unterstrich den Tatbestand, dass der jüdische Friedhof kein selbstständiges Areal, sondern Teil einer Verwaltungseinheit darstellte: „Die Einheit des Centralfriedhofes als eines unzertrennlichen Ganzen ist, sowohl was die äußere Anordnung, als was die innere Eintheilung des Raumes betrifft, nach einem von der Gemeinde Wien zu bestimmenden allgemeinen Plane aufrecht zu erhalten.“ Zentral war demnach auch §12, wonach das Recht der Kultusgemeinde
104 O. T., 23. November 1939, AIKGW, A/VIE/IKG/I-II/FH/1/1. 105 Vgl. dazu auch Cohn: Der jüdische Friedhof, S. 5. 106 O. V.: Der neue israelitische Friedhof in Wien und seine Bauten – Denkschrift, Wien 1928, S. 5.
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auf Leichenbestattung mit der Auflassung des ganzen Centralfriedhofes aufhört, daß aber die Widmung des der israelitischen Cultusgemeinde überlassenen Theiles als Ruhestätte der Todten insolange aufrecht zu erhalten ist, als nicht der Centralfriedhof seiner Bestimmung als Ruhestätte für Todte überhaupt entfremdet wird.
Der Sinn wurde noch einmal separat in §15 unmissverständlich ausgedrückt, „daß mit gegenwärtigem Vertrage der israelitischen Cultusgemeinde kein Eigenthums- oder Servitutsrecht […] eingeräumt wird“. §5 legte die Verpflichtung der Kultusgemeinde fest, „zu den der Gemeinde Wien erwachsenden Kosten der allgemeinen, nicht einem blos confessionellen Bedürfnisse dienenden Administration des Centralfriedhofes“ einen proportionalen Beitrag zu leisten. Diese Kosten deckten unter anderem „Einrichtungen“, „Anlagen, Wege und Baulichkeiten“ sowie „Einfriedungen“ auf dem Gesamtfriedhof, die sich natürlich auch auf und um das Areal beim I. Tor erstreckten.107 Die Verpachtung eines Teils des neuen, monumentalen städtischen Zentralfriedhofs an die Israelitische Kultusgemeinde stieß auf manchen Seiten auf vehemente Opposition. Wenn aber der oben geschilderte „Grabenkleinkrieg“ zwischen Stadt und Kirche sich um die Einweihung, also die „Katholizität“ des Friedhofs drehte, dann ging es bei der Opposition zum jüdischen Friedhof eher um die Frage, ob der Zentralfriedhof konfessionslos oder interkonfessionell sein sollte. So hätten laut dem Schriftsteller und Satiriker Daniel Spitzer „außer dieser k.k.k. [kaiserlich-königlich-katholischen] Behörde“ – gemeint war die Statthalterei, die eine Einweihung des Friedhofs befürwortete – „die Kreuzfahrer ganz unerwartete Verbündete gefunden, indem zu ihnen ein Fähnlein israelitischer Reisiger gestoßen war“: Der Vorstand der jüdischen Gemeinde wollte nämlich auch in der Todtenstadt seine eigene Ringstraße haben und von einer allgemeinen Begräbnißstätte nichts wissen. Da gingen jüdische Orthodoxe mit den Clericalen friedlich Hand in Hand, nur um nicht nach dem Tode neben einander ruhen zu müssen.108
Mit anderen Worten waren sich Kirche und Kultusgemeinde einig, dass ihre jeweiligen Abteilungen durchaus konfessionelle Räume darstellen sollten – wobei freilich nicht nur „Orthodoxe“ unter der Judenheit diese Sicht vertraten. Die Kritiker aber, wie es der zeitgenössische Historiker Gerson Wolf schilderte, so beispielsweise „Journale, welche sonst die Sache der Juden als die des Rechtes vertreten“ (gemeint war unter anderem die Neue Freie Presse), betrachteten die Akquisition eines Teils des Friedhofs durch die Kultusgemeinde als Hindernis, „dass der Centralfriedhof confessionslos erklärt werde“. Sicherlich 107 Vertrag, 12. Jänner 1891, AIKGW, A/VIE/IKG/III/PRÄS/3/1. 108 Spitzer, Daniel: Wiener Spaziergänge, in: Neue Freie Presse, 1. November 1874, S. 6.
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lässt die Akquisition eines spezifisch „jüdischen“ Raums, vor allem in Hinsicht auf den offensichtlich relativ säkularen Charakter des neuen „jüdischen“ Friedhofs, vorerst die Frage noch offen, ob es sich hier um einen religiösen („konfessionellen“), kulturellen oder gar ethnisch-gemeinschaftlichen Raum handelte – wie bereits angedeutet, lag der wesentlichste Unterschied zwischen den jüdischen und nichtjüdischen Grabstätten am Zentralfriedhof darin, dass erstere auf „Ewigkeit“ angelegt wurden, während nichtjüdische Gräber in der Regel nach ein paar Generationen aufgelassen werden. Jedenfalls betonte Wolf, selbstverständlich im Sinne des Liberalismus seiner Ära, die „Religionsfreiheit“, nach der es der jüdischen Gemeinde durchaus zustand, ihren eigenen Friedhof zu erwerben. Wolf vertrat also wie die Stadt Wien die Ansicht, dass der Zentralfriedhof nicht allgemein konfessionslos sein sollte; lieber sollte „eine Parcelle für diejenigen, die confessionslos begraben sein wollen, ausgeschieden“ werden, aber man kann keinen Christen zwingen, neben einen Juden beerdigt zu werden oder umgekehrt. Sagen wir es auch ganz offen, mancher Jude, der das Grab eines theuern dahingeschiedenen Glaubensgenossen besucht, würde sich in seiner Stimmung beirrt fühlen, wenn er daneben ein Kreuz aufgestellt sehen möchte.
Ähnlich „würde doch mancher Christ nicht den ewigen Schlaf neben einem Juden schlafen wollen. Tragen wir also“, so schloss Wolf, „nicht den Streit und den Hader auf die Stätte des Friedens und gönnen wir den Todten die Religionsfreiheit, die wir für die Lebenden in Anspruch nehmen“.109 Wie ein Artikel in der in Leipzig herausgegebenen Allgemeinen Zeitung des Judenthums zur Konfessionsfrage am Wiener Zentralfriedhof bemerkte, war „die Confessionalität der Friedhöfe überhaupt und die Sonderung des jüdischen Friedhofes speciell“ bei Weitem nicht auf Wien beschränkt. Quer durch Frankreich, Belgien und Deutschland war es üblich, entweder eigene jüdische Friedhöfe oder abgesonderte jüdische Abteilungen zu errichten. Der anonyme Autor verwies auf lediglich einen Fall jeweils in Deutschland und der Schweiz, wo die dortige jüdische Gemeinde einem allgemeinen, überkonfessionellen Friedhof zustimmte. „Daß über diese Zustände sich überhaupt eine Frage erhob“, so fuhr er fort, war „wesentlich der kathol. Geistlichkeit zuzuschreiben“, die besonders streng regelte, wer der Bestattung in ihren Friedhöfen würdig war: Ausgeschlossen waren zum Beispiel weiterhin Abtrünnige und SelbstmörderInnen. Alle Toten „in Reih und Glied“ bestatten zu lassen – wie es Kaiser Joseph II. schon ein Jahrhundert zuvor vergeblich versucht hatte –, galt als „radical“, vor allem im Kontext des damaligen Kulturkampfes im neu gegründeten 109 Wolf: Geschichte der Juden, S. 197–198.
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Deutschen Reich. Der Autor verwies auf die Tatsache, dass sich der Konflikt in Wien nur deshalb auf die jüdische Gemeinde bezog, da die Evangelischen und Christlich-Orthodoxen noch weiterhin über ihre eigenen Friedhöfe verfügten: „Der allgemeine Friedhof verblieb also vorläufig nur den Katholiken“. Der Autor verwies auch auf die Schmach, dass die Katholiken ohnehin noch über ausreichende, exklusiv katholische Bestattungsräume in Wien und der Umgebung verfügten (gemeint waren die vielen Vorortsfriedhöfe): Somit entlarvte sich diese Auseinandersetzung wieder als Reaktion seitens der katholischen Mehrheit gegen den Angriff auf ihre Hegemonie. Der Autor des Artikels kritisierte somit aufs Schärfste die heimtückische katholische Einweihung des Zentralfriedhofs als „Inbesitznahme“ durch das „Concordat“: Er sah in dieser Handlung einen untragbaren „Religionszwang“. Er stellte die These auf, „daß das Begräbniß, wenn nicht ein religiöser Act, doch mit der Religion in engster Beziehung stehend und deshalb mit religiösen Einrichtungen und Ceremonien zu verbinden ist“, und untermauerte dies mit dem Verweis auf die Tatsache, dass sowohl der Oberrabbiner Adolf Jellinek wie das Vorstandsmitglied Leopold Kompert – „die wahrlich nicht zum orthodoxen Theile der Gemeinde gehören“ – besonders um den Erwerb der jüdischen Abteilung beim I. Tor gekämpft hatten. Hier findet sich ein markanter Widerspruch zum Assimilationsnarrativ: Trotz der liberalen Gesinnung der Elite der Kultusgemeinde und der zunehmenden Säkularisierung eines großen Teils der Wiener jüdischen Bevölkerung war es allseitig ein wichtiges Anliegen, eine jüdische Begräbnisstätte errichtet zu wissen. Egal, was sie sonst im Leben glaubten oder taten: Die allermeisten jüdisch geborenen Menschen im Wien des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts ließen sich weiterhin im „Haus der Grabstätten der Väter“ bestatten, eine wenigstens oberflächliche Identifizierung mit der „Jüdischkeit“, wie auch immer sie diese verstanden. Wie Gerson Wolf verwies der Autor dieses Artikels auf das stichhaltige Argument, der künstliche Aufruhr um die getrennten Bestattungsareale täusche über die Tatsache hinweg, dass, wenn „die Juden in Reihe und Glied mit ihnen begraben werden sollten, […] diese drei Confessionen [katholisch, evangelisch und christlich-orthodox] noch zu einem größeren Sturmanlaufen angeregt“ gewesen wären. Das Problem war demnach auch ein finanzielles: In Wien hatte man also der katholischen Geistlichkeit zu sagen: willst Du einen Friedhof, worüber Du allein zu disponiren hättest, so erwirb Dir einen solchen aus Deinen Mitteln, wie dies die Juden, Protestanten und Griechen gethan haben; wir haben nur für einen allgemeinen, Jedem offen stehenden Friedhof zu sorgen.
Der Autor verwies auf die Vorwürfe einer der kritischen Stimmen gegenüber der Kultusgemeinde seitens der ansonsten recht jüdisch-freundlich, aber doch
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eher liberal-säkular gesinnten Neue Freie Presse, die der Kultusgemeinde vorwarf, „nicht im Geiste der Emancipation gehandelt“ zu haben, und dass diese vermeintliche „Exclusivität“ eines eigenen Friedhofs „eine eintretende Reaction sie um so leichter der Gleichstellung wieder berauben würde“ – wieder eine Täter-Opfer-Umkehr, indem die jüdische Bevölkerung für ihre Gleichberechtigung dankbar sein und nicht für Aufruhr sorgen sollte. Darüber hinaus handelte es sich hier um das Missverständnis, die neuerdings gewährte Religionsfreiheit müsse zu einer Auflösung der religiösen Institutionen führen, wobei ja gerade, wie bereits hinlänglich vorgeführt wurde, die schrittweise Emanzipation viel eher zu einer proportional heranwachsenden Autonomie der jüdischen Gemeinde und zur Etablierung eigener, segregierter jüdischer Institutionen führte. Gerade die Orthodoxie war ebenfalls in diese Religionsfreiheit mit einbezogen, wie der Autor des Artikels argumentierte: „Wir sind also mit unserer ganzen Orthodoxie in die Emancipation eingetreten und nur so hat jene auch nur einen Sinn.“ Wie der Autor weiter anmerkte, wurde die jüdische Bevölkerung nicht aufgrund irgendeines „großmüthigsten Gerechtigkeitssinn[s]“ seitens der nichtjüdischen Gesellschaft emanzipiert, sondern hatte selbst ihre Rechte durch langwierige Kämpfe erworben. Wesentlich ist hier auch der Hinweis, der in der jüdischen Historiographie oft vergessen wird, dass in Österreich „nicht blos die Juden, sondern alle Nichtkatholiken emancipirt“ wurden: Die größeren Fragen, die im Konfessionsstreit um den Zentralfriedhof aufgeworfen wurden, waren demnach nicht bloß Fragen des Jüdischen/Nichtjüdischen in der Gesellschaft, und dass sie dennoch oft so dargestellt wurden, kann als Merkmal des weitverbreiteten Antisemitismus verstanden werden. Abschließend konstatierte der Autor, die Behandlung der jüdischen BürgerInnen, gerade auch der Orthodoxen, sei „der Prüfstein des Rechtssinnes“ im Staate.110 In dieser profunden Erkenntnis zeigt sich weiterhin die Ambivalenz der Ära zwischen Liberalisierung und Gleichberechtigung einerseits und Antisemitismus andererseits. Der antisemitische Ton, der diese Diskussion begleitete, zeigte sich eindringlich in einer 1979 an der Universität Wien abgeschlossenen Dissertation zum Zentralfriedhof, in der die Autorin Gabriele Schulte-Kettner diesen Ton zum Teil auch reproduzierte. Sie schob etwa der Kultusgemeinde durch die „Durchsetzung“ des Erwerbs des Areals beim I. Tor die Schuld zu, dass der Friedhof „seinen interkonfessionellen Charakter […] verlor“ – obwohl sie selber darauf verwies, dass „ihre [gemeint sind „die Juden“] religiöse Anschaung [sic, …] eine Bestattung auf katholische Art“ nicht zuließ. Durch diese implizierte „Auf110 Der Centralfriedhof in Wien, in: Allgemeine Zeitung des Judenthums, 17. November 1874, S. 787–789.
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dringlichkeit“, so zitierte Schulte-Kettner den Österreichischen Volksfreund, eine katholisch-konservative Zeitschrift, wollte „man [sprich: „die Juden“] den Katholiken ihre letzte Zufluchtsstätte nehmen, oder vielmehr, man [wollte] sie entweihen, durch eine Vergewaltigung“. Den katholischen BeobachterInnen ging es also letztendlich weniger darum, dass der Friedhof nicht „konfessionslos“ blieb, sondern vielmehr, dass die katholische Hegemonie in der Residenzstadt durch die neue verfassungsrechtliche Gleichberechtigung einen schweren Rückschlag erlitten hatte. „In den trübesten Epochen der Geschichte“, so fuhr die Polemik des Volksfreundes in einem offensichtlichen Verweis auf das hier in Kapitel 4 diskutierte gemeinschaftliche Begräbnis der jüdischen und nichtjüdischen Revolutionäre 1848 am Schmelzer Friedhof fort, „sah [man] auf den Kirchenhöfen Leichenfeiern, wo der Rabbiner im Bunde mit weniger verdächtigen Priestern aller christlichen Konfessionen funktionierte“; ein „Skandal“, der sich nun offenbar am Zentralfriedhof wiederholte. Der von Schulte-Kettner ausgiebig und unkritisch zitierte Artikel schloss mit der Auffassung: „Der katholische Kirchhof ist wie die Kirche ein geweihter Ort“, wodurch klar bekannt gegeben wurde, dass das Begräbnis von Jüdinnen und Juden hier unerwünscht war. Der Zentralfriedhof sollte ein Ort für katholische ÖsterreicherInnen bleiben: „Sind etwa die Protestanten, Griechen, Juden der Haupt- und Residenzstadt Wien nicht zahlreich und wohlhabend genug, um einen eigenen Begräbnisplatz zu schaffen?“ Die „reichen und aufdringlichen Juden“, so der Ton, sollten sich gefälligst woanders begraben lassen. In einem weiteren hier zitierten Artikel des Volksfreundes hieß es deutlich antisemitisch, „Der Jude Frankl“ (gemeint war wahrscheinlich der liberale Gemeinderat Wilhelm Frankl) sei der eigentliche Strippenzieher dieses Plans zur „Entweihung“ des Friedhofs gewesen. Diese Ansichten vertraten damals Schulte-Kettner zufolge die „Mehrzahl der Katholiken“ und auch die Autorin verwendete in ihren eigenen Worten fragliche Redewendungen, so beispielsweise in ihrer Behauptung, die Kultusgemeinde „verlangte die Bewilligung, ihren Teil mit Taxusbäumen bepflanzen zu dürfen, weil dies zu ihrer Religion besser passe“. So wurde die Judenheit wieder als „aufdringlich“ dargestellt, wobei es sich um eine reine Formalität handelte, dass die Kultusgemeinde der Stadt Wien als Grundbesitzerin um Erlaubnis bitten musste, bevor sie den Boden ihres gepachteten Areals bepflanzte. Was Taxusbäumen mit der jüdischen Religion oder der jüdischen Sepulkralkultur zu tun haben sollen, bleibt offen. Schließlich widersprach sich die Autorin, in dem sie behauptete, der Gemeinderat hätte der Kultusgemeinde nur allzu gerne ihre eigene Abteilung zugestanden, da sie „gegen die Gebräuche der Juden“ im Gegensatz etwa zu jenen der Evangelischen, „mißtrauisch“ eingestellt sei.111 Diese 111 Alle Zitate in der Reihenfolge ihrer Nennung: Schulte-Kettner: Der Wiener Zentralfriedhof, S. 33, 39, 46.
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Dissertation, die zwar bis heute aufgrund ihrer umfassenden Quellengrundlage eine der empirisch fundiertesten Studien zum Zentralfriedhof darstellt, zeigt gleichzeitig eine Sorgen erregende Tendenz auf, problematische Essenzialismen oder gar antisemitisches Gedankengut in der Wissenschaft weiter zu propagieren. Auf dieses Werk wird hier im letzten Kapitel in Bezug auf die Historiographie der Nachkriegszeit zur Wiener jüdischen Sepulkralgeschichte näher eingegangen. Dem Konfessionsstreit zum Trotze entwickelten sich die Verhandlungen zwischen der Kultusgemeinde und der Stadt Wien, bis 1877 der Pachtvertrag abgeschlossen wurde. Es begann sogleich die Planung der Anlage des neuen Friedhofs samt einer neuen Zeremonienhalle, die ein Prachtbau ersten Ranges werden sollte, ein Ausdruck der gehobenen Stellung und der selbstsicheren Überzeugung der neuen Kultusgemeinde sowie Anlaufstelle und Ausgangspunkt des neuen Friedhofs zugleich.112 Die später in den Novemberpogromen stark beschädigte und heute nicht mehr existente Zeremonienhalle direkt vor dem I. Tor wurde vom berühmten und gefragten Architekten Wilhelm Stiassny entworfen, der zugleich die allgemeine Anlage des Friedhofs entwarf und 1910 selbst in einem Ehrengrab entlang der Zeremonienallee bestattet wurde (201-25). Die Architektin Isabella Marboe unterstrich, dass die „in dem für die damalige Zeit typischen historisierenden Stil“ und aus „Wiener Ziegeln“ erbaute Zeremonienhalle durchaus vergleichbar ist mit den zeitgenössischen Ringstraßenbauten, von denen mehrere ebenfalls von Stiassny entworfen wurden. Marboe verstand die Wahl des nüchternen neoklassizistischen Stils als bewusst neutral, „in der zwar auf abendländische Stilvorlagen zurückgegriffen, jedoch die Assoziation mit christlichen Sakralbauten aus Gotik und Barock vermieden werden sollte“.113 Die Grabdenkmäler rund um der Zeremonienhalle sollten jedoch jede damals gängige Stilrichtung – von Neoklassizismus über Barock und Gotik bis zum neomaurischen und ägyptischen Stil – reproduzieren. Der Bau der Zeremonienhalle wurde im November 1878 abgeschlossen, und es folgte die offizielle Eröffnung des neuen Friedhofs am 5. März 1879. Die „Feierlichkeit“ des Ereignisses wurde dadurch getrübt, wie ein späterer Bericht der Kultusgemeinde anmerkte, dass gleich „an diesem Tag 4 Kinderleichen beerdigt“ wurden.114 Der neue Friedhof war eben beides: eine greifbare Verkörperung der neuen Kultusgemeinde und ihrer Gleichstellung in der nun kosmopolitisch werdenden Haupt- und Residenzstadt, aber gleichzeitig ein Ort 112 Vgl. den Abdruck Der neue israelitische Friedhof, Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW), 08389. 113 Marboe, Isabella: Die israelitischen Zeremonienhallen am Wiener Zentralfriedhof, in: David. Jüdische Kulturzeitschrift 5 (Juni 1990), S. 8–9. 114 O. T., 23. November 1939, AIKGW, A/VIE/IKG/I-II/FH/1/1.
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der Trauer und des Gedenkens. Betont wurde allerdings bei der Eröffnung vor allem Ersteres: der Friedhof als monumentaler Gedenkort der Kultusgemeinde, ein Ausdruck ihrer neuen Autonomie und Selbstsicherheit, ihrer kulturellen Errungenschaften und ihrer Zugehörigkeit zur Leitgesellschaft der Habsburgermonarchie, wie es in der Rede Adolf Jellineks zum Anlass der Eröffnung des Friedhofs zum Ausdruck kam: Drei Friedhöfe besitzt unsere Gemeinde, die uns drei Phasen unserer Geschichte vergegenwärtigen. Der älteste Friedhof in der Roßau erinnert an die Zeit tiefster Erniedrigung und unsäglicher Leiden, da Israel, nach dem Worte des Dichters, nichts sein Eigen nennen konnte, als – die Gruft! Freuen wir uns, daß dieses Blatt unserer Geschichte zu verwittern und unleserlich zu werden beginnt, wie die Denksteine in der Roßau. Der Währinger Friedhof gehört den Tagen des Ringens und Kämpfens, da man begann für eine gesicherte Rechtsstellung, und fortfuhr, für das volle, ungeschmälerte Bürgerrecht im Staate in Wort und Schrift öffentlich aufzutreten. […] Der Central-Friedhof bezeichnet die moderne Zeit, unsere Siege auf der ganzen Linie des staatlichen Lebens. Mit seinen stummen Leichensteinen wird er den Beginn einer neuen Geschichtsphase verkünden. Denn wer hielt es noch vor einem Vierteljahrhundert für möglich, daß ein einziger Friedhof in der Residenz Oesterreichs den Entschlafenen aller Confessionen eine einzige Ruhestätte bieten würde? [… D]ie Thatsache läßt sich nicht in Abrede stellen, daß ein Central-Friedhof nur im modernen Rechtsstaate, wo das politische Leben keine Gesetzesschranken zwischen Confessionen aufrichtet, geplant und verwirklicht werden konnte, derselbe daher den Triumph der modernen Staatsideen proclamirt!115
Jellinek zog somit die jüdischen Friedhöfe zur Konstruktion eines metaphorischen Leitnarrativs der Wiener jüdischen Geschichte heran. Dieses Narrativ – die Vergangenheit als Geschichte, mit Anfang, Ende und Moral – zeugte von einem für Jellineks Epoche charakteristischen teleologischen sowie optimistischen Fortschrittsglauben. Dieser Optimismus war prägend für die Historiographie zur jüdischen Geschichte Wiens dieser Zeit: So hatte auch der zeitgenössische Gerson Wolf nur ein Jahr zuvor beteuert, es sei die gesamte Entwicklung der Wiener jüdischen Geschichte vom 12. bis in das 19. Jahrhundert nur ein „Kampf “ gewesen „aus der tiefsten finstern Nacht zum – wir dürfen es sagen – hellen, lichten Tage“.116 Noch pathetischer fasste es Wolf im Schlusswort eines früheren Werks aus dem Jahre 1864, wohl bemerkt zur Geschichte des Wiener „Ghettos“ im 17. Jahrhundert, zusammen: „Möge der schöne Morgen der Gleichberechtigung, der am Himmel der österreichischen Staatsbürger auf-
115 Toast auf die Mitglieder der Chewra Kadischa, 1879, zit. nach Steines: Hunderttausend Steine, S. 43. 116 Wolf: Geschichte der Juden, S. 215.
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gegangen, wolkenlos und ungetrübt sich zum hellen lichten Tage der Freiheit und Brüderlichkeit gestalten und segenbringend für alle Bewohner sein“.117 In seinem einschlägigen Werk zum Fin de Siècle stempelte Steven Beller diesen Optimismus der jüdischen Liberalen als einen „naiven Glauben an die Zukunft“ ab.118 Zum einen ist aber diese negative Wertung im Rückblick auf die Shoah nicht weniger teleologisch als Jellineks Geschichtsauffassung, indem die Entwicklungen späterer Jahrzehnte hin zur Shoah als unausweichlich und der jüdische Liberalismus infolge als zutiefst verfehlt dargestellt werden. Zum anderen, wie der Historiker Peter Fritzsche ausführlich analysierte, war dieses Bejubeln des „Geistes unserer Zeit“ im 19. Jahrhundert nicht bloß in jüdischen Kreisen, sondern weithin verbreitet: Fritzsche interpretierte dies als Zeichen einer Epoche, die sich ihrer Rolle als „Ära des Wandels“ durchaus bewusst war, als „unverkennbare Epoche, in der die Unterschiede von Heute und Gestern sowie Heute und Morgen sichtbar dramatisiert und als einschlägig betrachtet wurden“.119 Die „Worte des Dichters“, die Jellinek lakonisch zitierte, bezogen sich übrigens auf ein Gedicht des britischen Dichters Lord Byron, „Oh, Weep for Those“ (Oh beweint sie, 1815), in dem er beklagte: „Die Taube hat ihr Nest, der Fuchs die Kluft, der Mensch die Heimat, Juda – nur die Gruft“. Dieses Zitat entnahm Jellinek vermutlich einem frühen Werk zur Wiener jüdischen Sepulkralgeschichte von Ludwig August Frankl.120 Nach Jellinek ergriff auch sein Rabbinatskollege Moritz Güdemann das Wort: Man wird zugeben, daß diese bisher unerhörte Einrichtung erst in der neuesten Zeit möglich gewesen ist. Es mußten erst die confessionellen Gruppen im Leben friedlich nebeneinander bestehen lernen, ehe daran gedacht werden konnte, ihre Grabstätten durch eine Umfassungsmauer zu vereinigen. Nachdem die Scheidewand zwischen den Lebenden gefallen, mochte auch die Annäherung der Todten, soweit sie bei der Verschiedenheit der Riten natürlich ist, erfolgen. Insoferne ist der neue Friedhof ein monumentales Zeugniß von dem Geiste unserer Zeit […]. Das charakteristische Symptom des Geistes unserer Zeit ist der Gedanke der Gleichberechtigung.121
Die gleiche Selbstsicherheit und den gleichen Optimismus wie Jellinek betonend, deutete Güdemann des Weiteren auf die symbolische Kraft des Fehlens einer Scheidemauer zwischen dem jüdischen Bestattungsraum und der darum liegenden nichtjüdischen Abteilungen. Dieses Fehlen stellte eine erstaunliche
117 118 119 120 121
Wolf: Die Juden in der Leopoldstadt, S. 67. Beller: Wien und die Juden, S. 156. Fritzsche: Specters of History, S. 1602. Frankl: Zur Geschichte der Juden in Wien 1. Der alte Judenfreithof, S. 2. Toast auf die Mitglieder der Chewra Kadischa, 1879, zit. nach Steines: Hunderttausend Steine, S. 43–44.
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Besonderheit in der jüdisch-europäischen Sepulkralgeschichte dar, zusätzlich zu den einzigartigen Eigentumsverhältnissen, die den Friedhof beim I. Tor prägten.122 Wie bereits mehrmals gezeigt, wurde das „Fallen der Mauern“ in Wien – einerseits der alten Stadtmauern und andererseits der Friedhofsmauern – von ZeitgenossInnen als zutiefst symbolisch für die neuerliche Gleichberechtigung der jüdischen Bevölkerung in Zisleithanien und deren rasche Einbindung in die allgemeine Gesellschaft der Haupt- und Residenzstadt gedeutet. Zu diesen ohnehin schon revolutionären Neuerungen in der Wiener jüdischen Sepulkralkultur dieser Ära kam eine komplette Neuordnung des Bestattungswesens. Ludwig August Frankl, seinerzeit Sekretär der Kultusgemeinde, hatte bereits 1850 eine Reform der gemeinschaftlichen Begräbnisordnung in Angriff genommen. Diese mündete schließlich 1879, dem Jahr der Eröffnung des neuen Friedhofs, in die Etablierung eines Friedhofsamtes innerhalb der Kultusgemeinde, die fortan „die Leitung der Friedhofsangelegenheiten“ übernahm. Wie im ersten Tätigkeitsbericht der bis dahin gesetzlich verankerten Kultusgemeinde aus dem Jahre 1896 berichtet wurde, übernahm das neue Friedhofsamt „in Folge eines Uebereinkommens mit der Chewra-Kadischa […] das gesammte Beerdigungs- und Friedhofswesen in die unmittelbare Verwaltung, während der Chewra-Kadischa die Obsorge für die mit der Bestattung verbundenen rituellen Gebräuche zugewiesen wurde“.123 Der Chewra Kadisha verblieben nun lediglich ihre klassischen Aufgaben als philanthropischer Verein: die „Kostenbeteiligung bei uneinbringlichen Forderungen“ der Kultusgemeinde, das „Errichten und Restaurieren von herrenlosen Grabsteinen, Gedenktafeln und Gedenkstätten“ und das „Bereitstellen von Minjan-Leuten [das zur Ausführung der religiösen Gebete benötigte Quorum von mindestens zehn gläubigen Juden oder Jüdinnen] und Beschilderung des Friedhofs“. Mitglieder des Friedhofsamts durften nicht gleichzeitig Vorstandsmitglieder der Chewra Kadisha sein, um Interessenskonflikte zu vermeiden.124 Die hohe Stellung des neuen Friedhofsamtes innerhalb der Kultusgemeinde bezeugte die Einräumung einer eigenständigen Rubrik für Friedhofsangelegenheiten in den Tätigkeitsberichten der Kultusgemeinde. Zu ihren Aufgaben zählten unter anderem das Anlegen von Ehrengräbern sowie insgesamt die
122 Die konfessionellen Abteilungen der zeitgenössischen Zentralfriedhöfe in Sofia und Zagreb sind auch nicht durch Mauern getrennt, was auf die weitläufige Plurikulturalität Zentral- und Osteuropas im späten 19. Jahrhundert deutet. Vgl. Klein: Metropolitan Jewish Cemeteries, S. 335. 123 Bericht des Friedhof-Comités, in: Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Bericht [1896], o. S. 124 Bericht des provisorischen Vorstandes der Chewra Kadischa, in: Die Gemeinde, 6. Mai 1992, S. 28–29.
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architektonische und landschaftsgestalterische Ausrichtung des Friedhofs, was nicht zuletzt bedeutete, dass zu den maßgeblichen Vorstandsmitgliedern, die im Friedhofsbereich tätig waren, auch einige der prominentesten Namen in der damaligen Architektur zählten. Nach der endgültigen gesetzlichen Verankerung ihrer Statuten mit dem Israelitengesetz gliederte sich die Kultusgemeinde in sogenannte „Kommissionen“, die jeweils über einen spezifischen Tätigkeitsbereich verfügten, so beispielsweise die „Commission für Friedhöfe und BeerdigungsAngelegenheiten“. Die Kommissionsmitglieder wurden aus den Reihen des Vorstands für jeweils ein Jahr gewählt – ein System, das nicht besonders demokratisch war und auch dazu führte, dass die Listen der Kommissionsmitglieder offensichtlich der des Vorstands ähnelten.125 Im Kultusvorstand des Jahres 1907 finden sich beispielsweise neben langjährigen Funktionären wie Alfred Stern und Gustav Kohn und Großindustriellen wie David Ritter von Gutmann und Moriz (auch Moritz geschrieben) Edler von Kuffner auch die Architekten Wilhelm Stiassny und Oskar Marmorek. Letzterer war zu dieser Zeit auch verantwortlich für „Friedhofs- und Beerdigungsangelegenheiten“.126 Von Depressionen geplagt, erschoss er sich zwei Jahre später am Grab seines Vaters beim I. Tor (20-17-5), wo er in der Folge auch bestattet wurde – ein ungewöhnlich dramatischer Zwischenfall in diesem „Haus der Grabstätten der Väter“. 1913 war dann auch der profilierte Synagogenarchitekt Jakob Gartner sowohl Mitglied des Vorstandes als auch Mitglied der Kommission für Friedhofs- und Beerdigungsangelegenheiten.127 Mit der Etablierung des Friedhofsamts kam es 1879 auch erstmals zur Festlegung einer offiziellen „Leichenhof-Ordnung“, die erste von vielen, die heute, nach 140 Jahren eine ganze Quellengattung bilden, anhand derer die Entwicklung der offiziellen Bestimmungen zur Wiener jüdischen Sepulkralkultur nachvollzogen werden kann. Unter anderem regelte diese erste Ordnung den Übergang vom Währinger Friedhof zum I. Tor: So sollten Personen, die eine Grabstelle in Währing bereits erworben, aber vor dem 5. März 1879 nicht belegt hatten, eine neue Grabstelle beim I. Tor zugewiesen werden. Beisetzungen in bereits bestehenden Grabstätten in Währing hatten zum 1. März 1884 aufzuhören (§6). Der philanthropische Aspekt der gemeinschaftlichen Begräbnisse, die ehemals von der Chewra Kadisha unternommen wurden, zeigte sich beispielsweise in §3: „Jeder Beerdigung wird, ohne Rücksicht auf die Classe, ein würdiger Functionär der Cultusgemeinde assistiren und am Grabe ein Gebet 125 Vgl. §5 in Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Israelitische Cultusgemeinde Wien. Geschäfts-Ordnung für den Cultus-Vorstand, das Vertreter-Collegium und die Commissionen, Wien 1901, S. 5. 126 Israelitische Kultusgemeinde Wien 1907, YIVO Institute for Jewish Research, 55442. 127 Vgl. o. V.: Israelitische Kultusgemeinde 1913, Wien 1913, S. 3, 6.
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sprechen.“ Des Weiteren war die Ordnung pragmatisch ausgelegt und regelte beispielsweise die Unterscheidung der möglichen Begräbnisse nach „Classen“, wie es im nichtjüdischen Brauch in Wien auch der Fall war: Begräbnisse der „Erste[n] Classe“ erhielten unter anderem einen Leichenzug mit „Gallawagen mit 4 Pferden“ und eine Zeremonie an der Grabstätte samt Prediger und Kantor. Hingegen bekamen die „Gratisleichen“ bloß einen Holzsarg zugewiesen samt einen talit (Gebetsmantel) für Männer sowie einen Funktionär, der „die üblichen Gebete“ am Grab sprach. Nicht nur die Grabstätten selbst, je nach ihrer Sichtbarkeit im Friedhof, was vor allem durch ihre Stelle und die Monumentalität ihrer Denkmäler erwirkt wurde, sondern auch die Trauerpraxis reproduzierte somit die ausgeprägte Klassengesellschaft des späten 19. Jahrhunderts in der Haupt- und Residenzstadt (Anhang I). Begräbnisse waren am Shabbat und an Hohen Feiertagen untersagt (Anhang II, §5), und Leichenwagen hatten die Ringstraße vermutlich aus verkehrstechnischen Gründen (Anhang II, §6) zu meiden. Allgemein wurden metallene oder hölzerne Särge vorgeschrieben (Anhang II, §3), während Anhang II, §10 allgemeine Vorschriften zu den Dimensionen der erlaubten Grabsteine enthielt. Anhang II, §13 zeigt, dass die vielen Mausoleen dieser Ära – wie die Sarkophage vergangener Jahrhunderte – reine Zierbauten waren, denn die darunter liegenden Grüfte wurden nach wie vor – unter Einhaltung der überlieferten jüdischen Bestattungspraxis – in der Erde angelegt, waren aber ausgemauert und mussten deshalb hermetisch verschlossen sein. Wurden Grüfte nicht ordentlich angelegt, so würde „der Vorstand der isr. Cultusgemeinde nöthige Verfügungen treffen“, wie es in einem frühen, aber noch vereinzelten Beispiel institutionellen Eingreifens in der Bestattungspraxis hieß. Solche Eingriffe sollten sich mit zunehmender Regulierung in den folgenden Jahrzehnten verschärfen. Ähnlicherweise behielt sich die Kultusgemeinde das Recht vor, baufällig gewordene Grabdenkmäler zu entfernen (Anhang II, §16). Eines der wenigen ausdrücklichen Verbote dieser Ordnung bezog sich auf das Anpflanzen von Obstbäumen: Dies war „unter keiner Bedingung erlaubt“ (Anhang II, §18). Gerade diese letzte Vorschrift wird oft als ein aus dem Talmud abgeleitetes, also als durchaus „jüdisches“ Verbot verstanden, das im Shulchan Aruch festgeschrieben ist, da man – von der rituellen Unreinheit des Grabes abgesehen, wovon man also keine Lebensmittel beziehen sollte – auf keiner Weise irgendeinen Profit von einer Grabstätte beziehen soll.128 Allerdings schrieb auch §25 der städtischen Friedhofsordnung Anfang des 20. Jahrhunderts, die in allen von der Stadt Wien verwalteten Friedhöfen galt, vor,
128 Vgl. Karo, Joseph (Hg.): Schulchan Aruch. Die Halacha. 2. Teil: Jore Dea. Lehre der Weisheit, Wien 2005, S. 263.
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dass Obstbäume „unter keiner Bedingung erlaubt“ waren.129 Somit war dies keinesfalls ein ausschließlich oder spezifisch „jüdisches“ Verbot. Zu den Themenkreisen Bekleidung (spezifisch die Kopfbedeckung bei männlichen Friedhofsbesuchern), Bestattungspraxis (mit Ausnahme der wenigen oben angeführten Punkte) oder inhaltliche bzw. symbolische Gestaltung der Grabdenkmäler und ihrer Inschriften schrieb die Ordnung nichts vor: Diese Liberalität mündete schließlich in einer ausgeprägten Vielfalt an Sepulkralformen und -diskursen, die am Friedhof beim I. Tor aufzufinden sind und die vor Anbruch des 20. Jahrhunderts kaum umstritten waren.130 An dieser Stelle muss aber auch erwähnt werden, dass es unter den vielen Steinmetzen und Gärtnereien um den Zentralfriedhof vor der Shoah freilich auch zahlreiche jüdische Firmen gab.131 Somit war das Friedhofsamt der Kultusgemeinde damals überhaupt nur bedingt imstande, das Einhalten ihrer Vorschriften zu überwachen.
Abb. 13 Die vom Standpunkt der ehemaligen Zeremonienhalle aus gesehen unendliche Zeremonienallee, mit den Ehrengräbern von Salomon Sulzer, Adolf Jellinek und Adolf Fischhof (links) sowie von Ignaz Kuranda und Leopold Kompert (rechts). © Autor
129 Begräbnis- und Gräberordnung für die Friedhöfe der Stadt Wien, 19. März 1920, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/1/9, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 130 Leichenhof-Ordnung für den Central-Friedhof (Abtheilung der isr. Cultusgemeinde), 14. Dezember 1879, Jüdisches Museum Wien (JMW), MA 988. 131 Exenberger: Gleich dem kleinen Häuflein der Makkabäer, S. 143.
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Zu den wesentlichsten Entwicklungen beim I. Tor zählt die Errichtung seitens des „Friedhof-Comités“ von „Grabmälern für ausgezeichnete, um die Wiener Cultusgemeinde besonders verdiente Männer auf Kosten dieser Gemeinde“, die auch die entsprechenden „Entwürfe zu solchen Denkmälern“ prüfte „und die Ausführung der letzteren“ überwachte. Man beachte die geschlechterspezifische Sprache in dieser Befugnis: Bis heute gibt es so gut wie keine Ehrengräber für Frauen. Im ersten Tätigkeitsbericht aus dem Jahre 1896 wurden als erste prominente Beispiele die Ehrengräber des 1890 verstorbenen Oberkantors Salomon Sulzer (5B-1-1), des 1893 verstorbenen Oberrabbiners Adolf Jellinek (5B-1-2), des ebenfalls 1893 verstorbenen Politikers Adolf Fischhof (5B-1-3) und des 1894 verstorbenen Schriftstellers Ludwig August Frankl (5B-35-58) genannt.132 Die Häufigkeit des Vornamens „Adolf “ unter den Wiener Juden des ausgehenden 19. Jahrhunderts – in der Friedhofsdatenbank der Kultusgemeinde erscheint er mehr als 2.500 Mal – mag übrigens auffallen. Tatsächlich war es in diesen Jahren nicht nur ein beliebter Vorname im deutschsprachigen Raum, sondern auch bei Weitem üblicher unter Juden als Nichtjuden.133 Wie aus der Aufzählung oben hervorgeht, war die Gruppe 5B, insbesondere die ersten Reihen vor der Zeremonienhalle und an der Zeremonienallee entlang, ein zentraler Gedenkort im neuen Friedhof für die verstorbenen Prominenten der Kultusgemeinde, sowohl ihrer religiösen Funktionäre als auch ihrer kulturellen und politischen Persönlichkeiten. Es sollte sich in der Folge, wie in der Analyse der Grabsteine unten ausführlicher gezeigt wird, über die Jahrzehnte eine Kluft bilden zwischen dem offiziellen Gedenken der Kultusgemeinde und den zerstreuten Gedenkkulturen ihrer vielfältigen Mitgliedschaft, die schließlich auch zu Konflikten mit der Hegemonie der Kultusgemeinde unter anderem rund um die Frage der „Jüdischkeit“ des Friedhofs führen sollte. Der Friedhof beim I. Tor wurde allein in den Jahren 1887 bis 1891 dreimal erweitert, eine Auswirkung des damals explodierenden Bevölkerungswachstums in Wien und dem damit einhergehend rasanten Anstieg an Todesfällen. 1891, nach Abschluss des offiziellen Vertrags mit der Stadt Wien, wurde der Friedhof wieder massiv erweitert: Die Anzahlung betrug dieses Mal fast das Gleiche wie bei dem ursprünglichen Erwerb 1877, und der Beitrag der Kultusgemeinde zu den Gesamtkosten des Zentralfriedhofs wurde auf einem Anteil von 39 zu 346,5 oder 11,2 Prozent erhöht, was auch den proportionalen Anstieg in der jüdischen Bevölkerung Wiens widerspiegelte.134 Die Nekropole mit ihren Straßen und Mausoleen und abertausenden „EinwohnerInnen“ stellte insofern tatsächlich das Pendant zum Wien der Lebenden dar. Die letzte Erweiterung 132 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Bericht [1896], o. S. 133 Vgl. Albrecht-Weinberger: Zur Geschichte der „jüdischen Namen“, S. 341. 134 O. T., 23. November 1939, AIKGW, A/VIE/IKG/I-II/FH/1/1.
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des Friedhofs beim I. Tor fand 1912 mit dem Erwerb für 10.000 Kronen der etwa 8.500 Quadratmeter großen Gruppe 76B am südlichen Ende des Friedhofs, beim XI. Tor, statt. Dies erhöhte den Anteil der Kultusgemeinde an den allgemeinen Betriebskosten des Zentralfriedhofs auf insgesamt 12 Prozent.135 Mit der Gruppe 76B hatte der Friedhof beim I. Tor sein vollständiges Ausmaß erreicht, und ein neuer Friedhof – der spätere Friedhof beim IV. Tor – war zu dieser Zeit bereits in Planung. Es konnte die Kultusgemeinde dennoch weder ahnen, wie schnell der alte Friedhof beim I. Tor in den darauffolgenden Jahren aufgefüllt würde, noch, dass die neu erworbene Gruppe 76B größtenteils mit gefallenen Soldaten belegt werden sollte. Der Erste Weltkrieg bedeutete eine gewaltige Zäsur in der Geschichte Wiens, die sich auch am Zentralfriedhof deutlich bemerkbar machte und schließlich dazu führte, dass sich der Fokus der jüdischen Sepulkralkultur auf das andere Ende des Zentralfriedhofs beim IV. Tor verlagerte. 5.3
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In Dimensionen, Form, Stil und Inschrift weisen die Grabdenkmäler beim I. Tor die größte Bandbreite der Wiener jüdischen Sepulkralkultur auf, mit Ausnahme höchstens in Bezug auf die hebräischsprachige Epigraphik. Infolge grundsätzlicher Aufräumarbeiten am Friedhof und einiger Restaurierungsprojekte in den vergangenen Jahren sowie aufgrund ihres relativ jungen Alters im Vergleich zu den Grabsteinen in Währing oder in der Seegasse sind die Grabdenkmäler beim I. Tor allgemein gut erhalten und zugänglich und ihre Inschriften meist lesbar. Im Gegensatz zu den älteren Friedhöfen wurden allerdings bisher keine Transkripte der über 50.000 Inschriften hergestellt: Trotz vieler Photographien, die im Internet zu finden sind, aber dennoch nur einen Bruchteil der Grabsteine (meist prominenter Persönlichkeiten) darstellen, sind diese Denkmäler weitestgehend unbekannt und unerforscht. In diesem Kapitel werden sie einer erstmaligen Analyse unterzogen, die sich vor allem mit Fragen der Kontinuität, des Wandels und der Diversität in der Sepulkralkultur beim I. Tor in der Ära von der Emanzipation bis zum Zerfall der Habsburgermonarchie beschäftigt. Dabei soll ein breit angelegtes Porträt der verschiedenen, sich über Jahrzehnte des politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Wandels entwickelnden Kodierungen von Zugehörigkeiten und Identifikationen vermittelt werden. 135 Vertrag, 18. Juli 1912, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/1/8, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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Insgesamt weist der Korpus von Grabinschriften beim I. Tor eine komplexe und vielschichtige Verflechtung von individuellen, familiären, gemeinschaftlichen und sonstigen Netzwerken auf, die vor allem von der Fragmentierung dieser riesigen Gemeinschaft in viele soziokulturelle Gruppierungen zeugt. Die individuellen Auseinandersetzungen mit der „Jüdischkeit“ in der Gedenkkultur des Friedhofs zeigen recht unterschiedliche Auffassungen dessen, was es in der späten Habsburgermonarchie bedeutete, „jüdisch“ zu sein. Zudem verdeutlichen sie die jeweilige Beziehung der individuellen „Jüdischkeit“ zu anderen Identifikationssphären wie Stand, Geschlecht, Familie, Bildung, Berufung, gesellschaftlichen Status und Weiterem. Die Versammlung aller dieser ansonsten sehr unterschiedlichen Menschen in einem als „jüdisch“ angelegten und wahrgenommenen Raum unterstreicht aber gleichzeitig die Einheitlichkeit der Kultusgemeindeorganisation, die diesen Raum gestaltete und verwaltete. Vereint sind alle hier Bestatteten allein im Bewusstsein, Teil einer vage definierten und trotzdem zusammenhängenden jüdischen Gemeinschaft gewesen zu sein. Das Verständnis der „Jüdischkeit“ ist beim I. Tor also kaleidoskopisch: singulär und mannigfaltig zugleich. Im späten 19. Jahrhundert wurde in vielen Friedhöfen Zentraleuropas aufgrund der neuen Eisenbahnnetzwerke zunehmend der importierte dunkle Hartstein für Grabdenkmäler verwendet, so auch beim I. Tor. Der Friedhof nahm somit ein dunkleres Erscheinungsbild an im Vergleich zu den früheren jüdischen Friedhöfen in der Seegasse oder Währing, in denen weißer Marmor und Sandsteindenkmäler dominierten. Stilistisch war die Marmorstele mit einer gravierten und in weißer oder goldener Farbe bemalten Inschrift am weitesten verbreitet. Familiengräber, ob bescheiden oder protzend, waren im späten 19. Jahrhundert zum Normalfall geworden, wobei einzelne, einfache wie massive Grabsteine oft ganzen Generationen einer Familie gedachten im Gegensatz zu den individualisierten Grabsteinen, die in früheren Zeiten eher gebräuchlich waren. Dies zeigt die zunehmend dominante Stellung der Familie als Bezugspunkt in der Anonymität des modernen, großstädtischen Lebens, entgegen der früher allgemein gängigen Bezugnahme auf die Gemeinschaft, die inzwischen unüberschaubar geworden war, und entgegen der Annahme, die Moderne habe zu einer völligen Individualisierung geführt. Wie der Historiker Thomas Laqueur jüngst zeigte, entstanden europaweit die großen allgemeinen Friedhöfe als „proteische Räume“, die viel weniger herkömmliche Sitten und Traditionen, insbesondere die Religiosität reflektierten als die „emotionale Ökonomie der Familie“.136 Nicht per Zufall erlebte diese Ära der Loslösung der familiären von der gemeinschaftlichen Erinnerungskultur auch die Kodifizierung der ersten
136 Laqueur: The Work of the Dead, S. 212.
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Friedhofsordnungen, die wie auch immer geartete „Traditionen“ aufs Neue zu etablieren versuchten. Reichtum, Einfluss und Zeitgeschmack führten zur Entstehung von extravaganten, von berühmten Architekten entworfenen Denkmälern, regelrechten „Häusern der Toten“, die als ewige Ruhestätten für ganze Dynastien angelegt wurden. Der wohl führende jüdische Grabdenkmalarchitekt seiner Zeit war Max Fleischer, der 1905 in einem selbstentworfenen Mausoleum, einem Ziegelbau im frühgotischen Stil, beim I. Tor bestattet wurde (5B-35-85). 1841 im mährischen Proßnitz/Prostějov geboren, wurde Fleischer vor allem für seine Synagogenbauten bekannt, die in Wien alle infolge der Novemberpogrome zerstört wurden. Die von ihm entworfenen Denkmäler beim I. Tor zählen also zu seinen letzten erhaltenen Werken in Wien, vor allem seine ausdrücklich „jüdischen“ Werke im Vergleich beispielsweise zu den von ihm entworfenen Wohnhäusern.137 Seine Grabdenkmäler gehören zu den kunstvollsten im gesamten Zentralfriedhof und wurden von Rabbinern, Künstlern, Politikern und Geschäftsleuten oder deren Angehörigen bzw. oft auch ehrenhalber von der Kultusgemeinde in Auftrag gegeben: Somit reflektieren sie die Elite der Wiener jüdischen Gemeinschaft in ihrer Blütezeit. Während diese zu den bekanntesten Grabdenkmälern beim I. Tor zählen, die deshalb oft in der Literatur sowie im Internet abgebildet und besprochen werden, reflektieren sie einen obwohl wichtigen, doch zahlenmäßig minimalen Teil der jüdischen Gemeinschaft und bedürfen somit dringend einer Kontextualisierung in Bezug auf die zehntausenden Grabdenkmäler weniger prominenter Menschen. Der Architekturhistoriker Rudolf Klein deutete Fleischers gotisches Mausoleum jüngst als Fallbeispiel der „Assimilation“ in der Sepulkralarchitektur, zeigte sich aber selbst erstaunt, dass „trotz all dieser expliziten Assimilation der erste Text auf der marmornen Namentafel hebräisch ist“.138 Dieser scheinbare, aber nicht wirkliche Widerspruch zwischen „Assimilation“ und „Tradition“ in der modernen jüdischen Sepulkralkultur erfolgt also offensichtlich nur aus den falschen Annahmen dieses kunsthistorischen Determinismus – ganz egal, dass die Gotik bereits seit Jahrhunderten auch bei jüdischen Sakralbauten angewandt wurde, so am berühmtesten im Falle der Altneuschul in Prag, die aus dem 13. Jahrhundert stammt. Wie der Architekturhistoriker William Whyte darlegte, kann die Architektur eben nicht einfach oberflächlich als „Text“ gelesen werden in der gleichen Weise, „wie man einen Roman, ein Porträt oder sogar eine archäologische Fundstätte lesen kann“. Es ist sogar ein „naiver Determinismus und ein problematischer Positivismus“, der viele HistorikerInnen 137 Vgl. den Katalog seiner Werke unter Max Fleischer, http://www.architektenlexikon.at/de/ 142.htm, letzter Zugriff: 31. August 2020. 138 Klein: Metropolitan Jewish Cemeteries, S. 348.
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zur Anschauung verführt, eine bestimmte Stilrichtung als gleichbedeutend mit einer bestimmten ideologischen Ausrichtung zu erörtern. Es bedarf vielmehr einer differenzierteren kontextuellen Verortung, um ein architektonisches Bauwerk als „Text“ lesen zu können.139 Dieser Befund ist wichtig für eine Auswertung des architektonischen Erbes beim I. Tor: Zusammen mit den von seinem Kollegen Wilhelm Stiassny entworfenen Grabdenkmälern tauchen Fleischers Entwürfe nämlich tatsächlich oft in architektonischen und kunsthistorischen Analysen der Werke jüdischer Architekten auf. Allerdings enden diese ebenso oft in zutiefst problematischen Schlussfolgerungen, wie im genannten Beispiel von Rudolf Klein. Paradigmatisch führte Satoko Tanaka in einer Dissertation, die bisher umfassendste Studie zu Wilhelm Stiassny, diesen Stararchitekten schlicht als „Zionist“ vor und stellte dessen Werk sowohl ideologisch als stilistisch seinem Zeitgenossen Max Fleischer gegenüber aufgrund des einfachen Arguments, Stiassny hätte im Gegensatz zu Fleischer den neomaurischen Stil bevorzugt. Stiassny war in seiner wechselvollen Karriere nicht nur einer der gefragtesten Architekten in Wien, er vertrat auch über viele Jahre sowohl im Wiener Gemeinderat als Mitglied der Liberalen Partei wie im Vorstand der Kultusgemeinde architektonische und städtebauliche Belange. Er stand zwar in seinen späten Jahren, wie viele im Kontext der Luegerschen Bürgermeisterschaft, der zionistischen Bewegung recht nahe, ihn dennoch ohne Weiteres als „Zionist“ zu beschreiben, ist eine schlichte Übervereinfachung. Vor allem ist es problematisch, die Anwendung des neomaurischen Stils, gerade zur Zeit des Historismus, einfach als Merkmal einer zugrundeliegenden zionistischen Weltanschauung zu deuten, nicht zuletzt deswegen, da in dieser Interpretation die vielen nichtmaurischen Werke Stiassnys einfach ausgeblendet werden. Eines von Stiassnys größeren architektonischen Projekten in Wien – dazu noch ein gewaltiger Repräsentationsbau der Kultusgemeinde –, nämlich seine neoklassizistische Zeremonienhalle beim I. Tor, wurde von der Autorin genauso wie seine Wahl des Klassizismus bei großen, repräsentativen Grabdenkmälern auf diesem jüdischen Friedhof kaum erwähnt, so etwa das der Familie Rothschild (6-29-51), wo unter anderen die Brüder Nathaniel und Albert (1905 und 1911 verstorben) bestattet liegen, vermutlich, weil diese ihrer Argumentation widersprechen. Max Fleischer wurde von Tanaka wiederum als „Gegner des Orientalismus“ charakterisiert, der „die wenig auffallenden, assimilierend-historischen romanischen und gotischen Stile“ bevorzugt habe. Tatsächlich bediente sich Fleischer einer ganzen Bandbreite an historistischen Stilen, darunter aber nicht zuletzt der
139 Whyte, William: How do Buildings Mean? Some Issues of Interpretation in the History of Architecture, in: History and Theory 45 (Mai 2006), S. 154, 166.
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neomaurischen, durchweg „orientalisch“ konnotierten Formsprache, die vor allem bei sephardischen Familien in Wien schon früher große Beliebtheit genoss, wie anhand der sephardischen Grabstätten im Währinger Friedhof zu sehen ist. Der neomaurische Stil wurde in Wien auch nicht ausschließlich in jüdischen Kreisen oder zur Zurschaustellung der „Jüdischkeit“ verwendet: Eines der einzigartigen städtebaulichen Denkmäler Wiens ist die Zacherlfabrik in Döbling, der 19. Bezirk, die offensichtlich einer orientalischen Moschee nachempfunden wurde. Sie wurde von einem in München geborenen österreichischen Fabrikanten, Johann Zacherl, in Auftrag gegeben und vom katholischen Architekten Hugo von Wiedenfeld entworfen, der auch den berühmten Türkischen (sprich sephardischen) Tempel in der Leopoldstadt entwarf. Wiedenfelds Entwurf der Zacherlfabrik wurde schließlich vom katholischen Architekten Karl Mayreder realisiert. Die Wahl des neomaurischen Stils wie auch anderer Baustile hatte also weder zwangsläufig etwas mit Abstammung noch mit politischer Überzeugung zu tun, sondern spiegelte den Zeitgeschmack der Auftraggeber und beteiligten Künstler wider. Wie Tanaka selbst andeutete, wurde die europaweite orientalistische Bewegung dieser Zeit in Kunst und Wissenschaft unter anderem durch das florierende Interesse an der Antike vorangetrieben und war spezifisch in Bezug auf die jüdische Kultur mit der damals gängigen, in ihrem Wesen aber recht rassistischen, dem Antisemitismus unterliegenden Vorstellung verknüpft, die Jüdinnen und Juden seien ein „semitisches Volk“ – eine Ansicht, die allerdings auch weitgehend von zeitgenössischen jüdischen WissenschaftlerInnen gefördert wurde. Dass solche Ansichten damals auch unter den Jüdinnen und Juden Europas verbreitet waren, sollte heute jedoch nicht dazu veranlassen, diese Ansichten unkritisch und unhinterfragt zu übernehmen, zumal der „Semitismus“ ausschließlich in der Sprachwissenschaft eine reale Anwendung findet. Darüber hinaus ist der „maurische“ Stil, den Tanaka selbst als vage Bezeichnung für architektonische Formsprachen anführte, die von Marokko bis Indien und vom Mittelalter bis in die Moderne reichen, und der sowieso zuerst durch die islamische Kultur über Iberien nach Europa kam, schlicht gesagt kein „authentisch jüdischer“ Stil, ja überhaupt kein „jüdischer“ Stil. Tanaka widersprach zudem ihrer eigenen These mit dem Hinweis, dass dieser Stil zum ersten Mal im europäischen Synagogenbau durch nichtjüdische Architekten wie dem bayerischen Hofbaumeister Friedrich von Gärtner oder dem international tätigen Stararchitekten Gottfried Semper angewandt wurde, um eben den (erfundenen) „orientalischen Charakter“ des Judentums hervorzuheben.140 140 Alle Zitate in der Reihenfolge ihrer Nennung: Tanaka, Satoko: Wilhelm Stiassny (1842–1910). Synagogenbau, Orientalismus und jüdische Identität, Wien 2009, Dissertation, S. 9, 23, 27, 9, 115–116.
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Auch im hier bereits in Kapitel 2 angesprochenen Werk des Architekturhistorikers Fredric Bedoire finden sich solche bedenklichen Interpretationen der jüdischen Grabmalkunst. So behauptete Bedoire zum Beispiel, man sehe im Währinger Friedhof die charakteristische „Begierde, die jüdische Identität in orientalischen, maurischen Entwürfen zu verkörpern“. Dabei handelt es sich gerade bei den neomaurischen Denkmälern in Währing ausschließlich um sephardische Grabstätten: Diese können also höchstens als Ausdruck eines „orientalischen“ Gemeinschaftsgefühls unter den Sephardim verstanden werden, die zumeist aus dem Osmanischen Reich stammten, aber nicht als allgemeinen Ausdruck der „Jüdischkeit“ – tatsächlich könnte dies vielmehr als bewusste Abgrenzung gegenüber ihren aschkenasischen, also europäischen GlaubensgenossInnen gelesen werden. Dass Bedoire ausgiebig die jüdischen Palais an der Ringstraße in seiner Diskussion über „jüdische Architektur“ mit einbezog – hauptsächlich um sie als Paradebeispiele einer bewussten „Assimilation“ vorzuführen – ist des Weiteren problematisch, da diese fast ausschließlich von nichtjüdischen Architekten in den gängigen historistischen Stilen der Zeit entworfen wurden. Es lässt sich also schwer ein vermeintlicher Grad an „Jüdischkeit“ an diesen Beispielen ablesen. Bedoire schrieb sogar offensichtlich überrascht, dass die Innenausrichtung dieser Palais „viel eher eine Studie der florentinischen Renaissance darstellten, als dass sie ausgestattet waren wie Paschazelte oder wie die Alhambra“. Orientalistischer (im Sinne Edward Saids) könnte diese Anschauung nicht sein, die einer heterogenen kulturellen Gruppe, die seit mindestens einem Jahrtausend, wenn nicht länger, in Nord- und Zentraleuropa zu Hause war, unterstellt, sie würden sich in einem Zelt in Anatolien eher zu Hause fühlen als in einem bürgerlichen Palais in Wien.141 Darüber hinaus ist es einfach verblüffend, wieso überhaupt türkische Paschazelte oder die islamische Alhambra mit dem aschkenasischen Judentum als vermeintlich „authentisch jüdische“ Erscheinungen in Verbindung gebracht werden. Bedoire widmete auch einige Seiten dem Friedhof beim I. Tor, wobei seine Thesen hier nicht weniger fraglich sind. So behauptete der Architekturhistoriker, die Tendenz der Grabmalkunst, vornehmlich von Stararchitekten wie Max Fleischer, zeige das „große Bedürfnis, die jüdische Eigenart zu vermeiden“, was ihm zufolge erklärt, wieso man „zum christlichen Idiom der Gotik angezogen war“. Vor allem das auffallende Mausoleum der Familie Gutmann in der ehrenvollen Gruppe 5B, das Bedoire zwar richtigerweise als „einer Kathedrale würdig“ bezeichnete, zeige aber angeblich, dass „der gläubige Jude so weit wie möglich ging in der Aneignung der christlichen Tradition“.142 141 Vgl. den Orientalismusbegriff bei Said, Edward: Orientalismus, aus dem Englischen von Hans Günter Holl, Frankfurt am Main 2009. 142 Alle Zitate in der Reihenfolge ihrer Nennung: Bedoire: The Jewish Contribution, S. 306–307, 310–318, 325, 327–330.
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Dieses imposante, von Max Fleischer entworfene Denkmal beim Eingang am I. Tor erstaunt wahrlich aufgrund seiner Gestaltung: Es wirkt wie eine neogotische Kapelle mit vier kleinen Türmchen samt tierförmigen Wasserspeiern, ein Maßwerkfenster mit Buntglas, drei spitzbogigen Öffnungen an der Vorderseite und einem Innenraum, der mit einer reich bemalten Kassettendecke überdacht ist.143 Die Inschrift des 1878 geadelten und 1895 verstorbenen Wilhelm Ritter von Gutmann, ehemaliger Präsident der Kultusgemeinde, ist allerdings alles andere als „assimilatorisch“: Darin wird diesem einflussreichen Mann ausgiebig auf Hebräisch samt einem rabbinisch anmutenden Titel und mit Patronymen gedacht als „unser Lehrer, der Rabbiner Jitzchak Ze’ew, Sohn unseres Lehrers, der Rabbiner Meir Leib Gutmann, gestorben am Freitag den 23. Ijar im Jahre 655 der kleinen Zeitrechnung, tantzaba [möge seine Seele im Bündel des Lebens gebündelt sein]“. Die deutschsprachige Inschrift nannte ihn hingegen schlicht „Wilhelm Ritter v. Gutmann, geb. in Leipnik [Lipník nad Bečvou, Mähren], 13. Aug. 1826, gest. in Wien, 17. Mai 1895. RIP“. Letzteres, eine Abkürzung des lateinischen requiescat in pace (ruhe in Frieden), wirkt als Pendant zur hebräischen tantzaba. Diese eher traditionelle Inschrift weist Gutmann unmissverständlich und zuvorderst als hoch angesehenes Mitglied der Elite der Wiener Judenheit aus, der zudem auch eine angesehene Stellung in der Wiener Gesellschaft genoss. Wie bei so vielen „assimilatorischen“ Erklärungen widersprach sich Bedoire auch zum Schluss seiner Analyse, als er meinte, die Grabdenkmäler in diesem Friedhof stünden „als ewige Denkmäler für jene, die einst die Reichsstadt Wien aufbauten“.144 Wie in ähnlichen Argumenten mit Betracht auf die Kultur des Fin de Siècle, stellt sich die Frage, wie sich eine Gruppe in eine Kultur assimilieren konnte, die sie selbst zu einem wesentlichen Grad schuf. In einem letzten wichtigen, weil einflussreichen Beispiel behauptete die Kunsthistorikerin Hannelore Künzl in ihrem ansonsten bahnbrechenden Werk zur jüdischen Grabkunst, das auffallende Mausoleum der aus Bukarest stammenden sephardischen Familie Elias beim I. Tor (52A-2-21), die von einer im neomaurischen Stil entworfenen, aus weißem Marmor gestalteten Kuppel samt Davidstern gekrönt ist, sei „nach dem Vorbild des Taj Mahal“ gebaut und „weist sicherlich auf die Herkunft des Verstorbenen hin“.145 Dieses Bau143 In der Datenbank der Kultusgemeinde sowie in Steines, Hunderttausend Steine, S. 100 wird die Grabstelle als 5B-1-1 angegeben: Dies ist jedoch die Grabstelle Salomon Sulzers, es liegt also ein Fehler vor. 144 Bedoire: The Jewish Contribution, S. 341. 145 Künzl: Jüdische Grabkunst, S. 179. Diese Behauptung scheint auf Steines: Hunderttausend Steine, S. 70, zu beruhen, wo das Denkmal ohne jeden Beweis als „[d]em Taj Mahal nachempfunden“ vorgeführt wurde. Jüngst wiederholte sich dieser Fehlschluss in Walzer, Tina: Vier Jahrhunderte zwischen Anpassung und Selbstbewusstsein. Grabmonumente Sefardischer
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werk kann jedoch lediglich durch seine weiße Kuppel und dann auch nur im oberflächlichsten Sinn mit dem Taj Mahal verglichen werden. Wenn schon die Gleichsetzung des aus dem mittelalterlichen westislamischen Raum in Nordafrika und Iberien stammenden maurischen Stils mit der frühneuzeitlichen Mogularchitektur in Indien einen Hauch orientalistischen Beigeschmack hat (wieder im Sinne Edward Saids), dann stimmt dies umso mehr für Künzls These, diese moderne, sephardische, aus Rumänien nach Österreich migrierte Familie habe auf irgendeine Weise ihre Herkunft im islamischen Indien. Abschließend zu dieser Diskussion muss festgestellt werden, dass es so was wie einen „jüdischen“ Stil in der Architektur einfach nicht gibt: Insofern erklärt sich schon die Tatsache, dass die Architekten des 19. Jahrhunderts bei ihren Grabdenkmalentwürfen – gerade auch im Kontext des Historismus – auf gängige Stile zurückgriffen. Die Gestaltung der Grabsteine lässt sich sowohl formal wie auch hinsichtlich der Wahl ihrer Architekten, die oft zugleich auch die Urheber der berühmten Synagogen in Wien und andernorts waren, mit der damaligen Synagogenarchitektur im Habsburgerreich und in Deutschland vergleichen. Der Architekturhistoriker Anthony Alofsin zeigte, dass der „orientalisierende“, in manchen Fällen pseudo-ägyptische Stil meist von nichtjüdischen Architekten als Versuch umgesetzt wurde, eine neue „jüdische“ Formsprache in Anlehnung an zeitgenössische Vorstellungen des Jerusalemer Tempels zu finden. Wurden Neogotik und Neoromanik tatsächlich in breiten Kreisen als Art „deutsch-jüdischer ‚Nationalstil‘“ verstanden, so war das Neomaurische noch immer nicht ein archetypisch „jüdischer“ Stil, sondern eben der Ausdruck der sephardischen Kultur entgegen der aschkenasisch-„deutschen“. Darüber hinaus diente das Neomaurische in Ermangelung einer überlieferten, spezifisch „jüdischen“ Baukunst aus der Antike höchstens als Ersatz. Dies erklärt auch, wieso die jüdische Sakralarchitektur (nicht nur in Österreich, wohlbemerkt) grundsätzlich „die ikonischen Formen anderer Religionen“ spiegelt.146 Wie schon beim Währinger Friedhof bemerkt, war der Klassizismus im 19. Jahrhundert eine recht universelle Formsprache, die, so der Historiker Vilmos Tóth in seiner Studie zur Grabmalkunst von zeitgenössischen Friedhöfen in der zweiten habsburgischen Residenzhauptstadt Budapest, die Grabmalkunst „trotz Familien auf jüdischen Friedhöfen in Wien, in: den Boer, Harm/Menny, Anna/Wilke, Carsten (Hg.), Caminos de leche y miel. Jubilee Volume in Honor of Michael Studemund-Halévy, Bd. 1, Barcelona 2018, S. 109, wo das Denkmal als „die wie eine Miniaturausgabe des indischen Taj Mahal wirkende Familiengrablege der Familie Menachem Elias“ vorgeführt wurde – gemeint ist der 1923 verstorbene Großindustrielle und Philanthrop Jacques Menachem Elias. 146 Alofsin, Anthony: Architektur beim Wort nehmen. Die Sprache der Baukunst im Habsburgerreich und in seinen Nachfolgestaaten, 1867–1933, aus dem Englischen von Brigitte Willinger und Wolfgang Astelbauer, Salzburg 2011, S. 53–54.
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konfessioneller Unterschiede einheitlich erscheinen“ ließ. Dazu zählten Familienmausoleen, architektonisch ausgefallene Denkmäler und Arkadenreihen, wie sie auch alle in den Wiener Friedhöfen – jüdische wie nichtjüdische – dieser Zeit aufzufinden waren.147 Freilich waren die architektonischen Ausprägungen beim I. Tor nicht eine rein „jüdische“ Erscheinung: Wie Philippe Ariès zeigte, waren europäische Friedhöfe in dieser Zeit insgesamt geprägt von „Stelen mit Urnen, Pyramiden, Obelisken, vollständige[n] oder geborstene[n] Säulen und auch Pseudo-Sarkophage[n]“. Die neueste Modeerscheinung stellte zudem „die Grabkapelle“ dar. Diese Formen unterstrichen die damalige „besondere Vorliebe für sichtbare und dauerhafte Grabmäler“, die sich nekropolenhaft bald über ganze Landstriche außerhalb der europäischen Metropolen erstreckten.148 Ein charakteristisches Beispiel dafür ist das wahrscheinlich höchste Grabdenkmal beim I. Tor, und sicherlich eines der imposantesten, nämlich das an der Zeremonienallee gelegene und mit einer verfliesten Kuppel überdachte Steinmausoleum des 1909 verstorbenen Großindustriellen Marcus Engel und seiner Familie (7-1-11). Das Mausoleum verfügt über einen monumentalen Eingang zwischen dorischen Zwillingssäulen unter einem Dreiecksgiebel aus schwarzem Marmor mit einem doppelbogigen Schmiedeeisengitter, in das das Monogramm „E“ eingraviert ist. Der Innenraum ist leer: Die Familienmitglieder sind allesamt unter massiven Grabplatten im Boden bestattet. Am Fußende des rechten äußeren Sockels steht die Signatur des Urhebers: „Architekt Max Fleischer“. Ähnlich beschrieb Edmund de Waal das Familienmausoleum der Ephrussis (8-62-49) als kleiner dorischer Tempel, den [Ignaz Ephrussi] mit charakteristischer Voraussicht im jüdischen Teil des Zentralfriedhofs für die Ephrussi-Sippe hat errichten lassen; sein Vater, der Patriarch Joachim, war dorthin umgebettet worden. Sehr biblisch, denke ich, mit seinem Vater zusammen begraben zu sein und Platz für die Söhne vorzusehen.
Viktor, der Sohn von Ignaz und Edmunds Urgroßvater, starb am 12. März 1945 im Exil in Tunbridge Wells im Vereinigten Königreich, wo auch sein Grab liegt, „weit weg von dem seines Vaters und Großvaters im Mausoleum mit den dorischen Säulen in Wien, errichtet voller Zuversicht, in diesem neuen kaiserlichen österreichisch-ungarischen Heimatland würde es den dynastischen EphrussiClan auf immer beherbergen.“149 Letztendlich fanden unter dem grandiosen dorischen Mausoleum beim I. Tor nur drei Mitglieder der Ephrussi-Dynastie ihre letzte Ruhe: der 1864 verstorbene und von Währing umgebettete Joachim, der 1871 geadelte und 1899 verstorbene Ignaz und seine 1900 verstorbene Frau 147 Tóth: Grabmalkunst, S. 10, 13, 29–30. 148 Ariès: Geschichte des Todes, S. 684, 689. 149 Waal, de: Der Hase mit den Bernsteinaugen, S. 145, 272.
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Emilie. So zeugen viele der Familienmausoleen und Gedenksteine beim I. Tor von der gewaltigen Zäsur der Shoah, die diese so tief verwurzelte Gemeinschaft fast zur Gänze zerstörte. Ein großer, senkrechter, schlichter jedoch mit geblümter Architrave versehener Kalkstein war beispielsweise aufgrund der einzigen, winzigen Inschrift auf seiner ansonsten leeren Oberfläche wahrscheinlich für eine ganze Familie geplant, gedenkt jedoch nur dem 1873 als Sohn eines Rabbiners im mährischen Brünn/Brno geborenen, 1918 im Alter von nur 44 Jahren verstorbenen Oswald Placzek (53B-29-35). Seine Frau Pauline und Kinder Adolf und Susanne flüchteten während der Shoah in die USA und wurden nach ihrem Tod allesamt in New York bestattet. Auffallend ist Oswalds Inschrift, die aus nur drei deutschen Worten besteht: „Arbeit – Pflicht – Liebe“, die Dreifaltigkeit des säkularen Bürgertums des frühen 20. Jahrhunderts. „Charakteristische Tendenz der Epoche“ des Fin de Siècle, so stellte Vilmos Tóth fest, „war die Säkularisierung, sowohl bei den christlichen als auch bei den jüdischen Bestattungen“.150 Die hebräisch/deutsche Zweisprachigkeit herrschte in der Sepulkralepigraphik beim I. Tor immer noch vor, wenngleich die Anzahl rein deutschsprachiger Inschriften stetig wuchs, überlieferte Praktiken der hebräischsprachigen Epigraphik wie das Nennen des Patronyms oder die Ausklammerung des Geburtsdatums hingegen abnahmen. Die Sepulkralepigraphik dieser Zeit war insgesamt von einer allgemeinen Vereinfachung und Standardisierung geprägt, was in erstarrten Formeln mündete wie in den in fast allen hebräischsprachigen Inschriften der letzten paar Jahrhunderte vorkommenden Abkürzungen „pei-nun“ oder „pei-tet“ (hier ist begraben oder verborgen) und „tantzaba“ (möge seine/ihre Seele im Bündel des Lebens gebündelt sein). Es kamen auch standardisierte Charakterisierungen wie „ish/a jekar/a“ (ein/e liebe/r Mann/Frau) vor (siehe beispielsweise die Inschrift des 1890 verstorbenen Samuel König, 19-16-21). In der deutschsprachigen Epigraphik sind vergleichsweise häufig Phrasen wie „tief betrauert“, „unvergesslich“ oder „Friede seiner/ihrer Asche“ zu finden (siehe beispielsweise die Inschriften des 1891 verstorbenen Josef Zerner, 8-61-41, oder der 1893 verstorbenen Emilie Wertheimber, 19-15-69 – man bemerke die archaische Schreibweise mit „b“). Letzterer Ausdruck war freilich nach wie vor rein symbolisch gemeint: Vor den 1920er-Jahren gab es in Wien keine Feuerbestattungen. Die allgemeine Abnahme an hebräischsprachigen Inschriften im deutschsprachigen Raum in dieser Ära wird häufig als charakteristisches Symptom einer vermeintlichen kulturellen „Assimilation“ angeführt.151 Doch muss es viel
150 Tóth: Grabmalkunst, S. 40. 151 So z. B. in Schoeps, Julius: The Abortive Emancipation, in: Timms/Hammel (Hg.): The German-Jewish Dilemma, S. 97.
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eher als Symptom einer Verlagerung in den Hinweisen auf kulturelle Identifikation und Zugehörigkeit unter der jüdischen Bevölkerung sowie der wachsenden intersektionalen Verflechtung der individuellen „Jüdischkeit“ mit anderen Faktoren und Kategorien im alltäglichen Leben verstanden werden, sowie nicht zuletzt als Zeichen der radikalen Abnahme in der Kenntnis der hebräischen Sprache. Im Folgenden wird gezeigt, dass Säkularisierung nicht unbedingt einen Verlust an „Jüdischkeit“ bedeuten musste, genauso wie rein deutschsprachige Inschriften nicht explizite Verweise auf eine wie auch immer verstandene „Jüdischkeit“ per se ausschlossen: im Gegenteil. Gleichzeitig bestand die Religiosität samt hebräischsprachiger Epigraphik auf vielen Grabdenkmälern weiterhin fort. Der zunehmend säkulare Charakter vieler Grabdenkmäler, insbesondere ihrer Inschriften, die Abnahme in der Verwendung der hebräischen Sprache sowie die häufig vorkommenden Fehler in hebräischsprachigen Inschriften aufgrund eines offensichtlichen Mangels an Sprachkenntnissen führten allerdings bald zu einer zunehmenden Bestürzung seitens mancher Gruppierungen innerhalb der Kultusgemeinde, die demnach das Bedürfnis empfand, diesen Zuständen durch eine strengere Regulierung zuvorzukommen. Erste Konflikte bezüglich einer angemessenen Grabkunst am neuen jüdischen Friedhof machten sich bereits 1898 in einem der ersten Tätigkeitsberichte der Kultusgemeinde bemerkbar, wenn vorerst nur unterschwellig: Der Cultusvorstand hat sich, den Wünschen vieler Gemeindemitglieder Rechnung tragend, mit der Angelegenheit der Ausschmückung von Gräbern und Grüften auf dem Central-Friedhofe eingehend befasst. Die Gräberausschmückungen werden unter den gleichen Bedingungen vorgenommen, welche die Stadt Wien für die analogen Leistungen am Central-Friedhofe normiert hat.152
Der Vorstand der Kultusgemeinde sprach hier nur grundsätzlich die Frage der „Gräberausschmückung“ an und orientierte sich nach dem damals allgemein üblichen Prozedere der nichtjüdischen Friedhofsverwaltung, wobei er sich deutlich von „den Wünschen vieler Gemeindemitglieder“ abgrenzte, deren Ansichten er zwar zur Kenntnis nahm aber offensichtlich nicht vertrat. Innerhalb von wenigen Jahren spitzte sich allerdings dieser Konflikt um eine angemessene Sprache (ob wörtlich oder förmlich) der Sepulkralkultur zusehends zu und zwang die Kultusgemeinde zunehmend zu einer Stellungnahme, wie im folgenden Beispiel aus dem Jahre 1908: Seit einigen Jahren wird die Wahrnehmung gemacht, daß auf der Israel. Abteilung des Zentralfriedhofes viele Grabsteine aufgestellt werden, welche ausschließlich deutsche In152 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Bericht [1898], S. 30.
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schrift tragen. Zur Wahrung des konfessionellen Charakters des Friedhofes richtet der Vorstand an die Parteien das Ersuchen, neben dem deutschen Text zumindest einige hebräische Zeichen oder Worte an dem Grabsteine anbringen zu lassen. Die bestehenden hebräischen Grabinschriften weisen manchesmal sinnstörende Fehler auf; um solche Fehler in Hinkunft zu vermeiden, wurde ein sachverständiges Organ bestellt, welches vor Anbringung der hebräischen Inschriften dieselben auf ihre Richtigkeit zu prüfen hat.153
Insgesamt zeigt der riesige Korpus der Grabinschriften beim I. Tor, mit ihren tausenden rein deutschsprachigen und inhaltlich völlig säkularen Laudationes, dass es vorerst bei einer Bitte blieb. Vor dem Ersten Weltkrieg gab es auch keine Schritte seitens der Kultusgemeinde, diese Aspekte durch Vorschriften zu kontrollieren. Freilich muss wieder betont werden, dass deutschsprachige, säkulare Inschriften keineswegs eine gewisse „Jüdischkeit“ ausschlossen, nur wurde diese oft neu verhandelt bzw. trat in gewandelten Formen auf. Eine bemerkenswerte Inschrift ist in diesem Zusammenhang die des 1905 nur zwei Tage nach seinem achten Geburtstag verstorbenen Jungen Friedrich Salomon Adler, die seine Lebensdaten zwar vordergründig nach dem jüdischen Kalender, dennoch in lateinischen Buchstaben nennt: „Friedrich Salomon Adler, geb. am 2. Cheschwan 5658 (28. Oktober), gest. am 1. Cheschwan 5666 (30. Oktober)“ (6-20A-10A). Hier zeigt sich paradigmatisch, dass der Übergang zur rein deutschsprachigen Inschrift nicht zwangsläufig eine Abkehr vom traditionellen Judentum bedeutete. Die Diskussion rund um die hebräischsprachige Epigraphik und damit einhergehend den „jüdischen Charakter“ des Friedhofs war nichtsdestotrotz das Vorzeichen eines Konflikts, der sich in der Zwischenkriegszeit innerhalb der Kultusgemeinde zwischen religiösen und nichtreligiösen bzw. orthodoxen und liberalen Vorstellungen von „authentisch jüdischer“ Tradition und Praxis offen entfachen sollte, was allgemeiner auch ein implizites Ringen zwischen der individuellen Gesinnungsfreiheit gegenüber dem zunehmenden Gemeindezwang in Bezug auf die Gedenkkultur darstellte. Jahrhundertelange Entwicklungen in der sepulkralepigraphischen Ehrung verstorbener Individuen anhand von Titeln und Ehrenbezeichnungen setzten sich in der Gedenkkultur beim I. Tor fort. Zu den überlieferten religiösen Ehrenbezeichnungen vergangener Zeiten kam nun eine ganze Bandbreite neuer weltlicher Titel aus den bürgerlichen, adeligen, akademischen und professionellen Bereichen hinzu. Ein paradigmatisches Beispiel für die Intersektionalität dieser verschiedenen Lebens- und Tätigkeitsbereiche ist der Grabstein des 1886 verstorbenen Schriftstellers und Kultusgemeindefunktionärs Leopold Kompert (6-1-2).154 Das von der Kultusgemeinde gewidmete Ehrengrab, eine klassizistische weiße Marmorstele auf einem schwarzem Sockel, steht am Ausgangspunkt 153 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Bericht [1908], S. 38–39. 154 Vgl. das Photo zu diesem Grabstein in Corbett: A „Capable Wife“, S. 90.
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der Zeremonienallee: Kompert wurde somit unter einer kleinen Gruppe der „Gründerväter“ der modernen Wiener Kultusgemeinde bestattet, neben Ignaz Kuranda und gegenüber von Salomon Sulzer, Adolf Jellinek und Adolf Fischhof. Die Stele ist mit einer Harfe und einem Palmenast verziert, Hinweise auf Komperts schriftstellerische Tätigkeit. Am Fuß der Stele ist eine weiße Marmortafel in Form einer Schriftrolle angebracht mit einer Inschrift für Komperts 1892 verstorbene Frau Marie – auf sie und ihren Anteil an diesem Denkmal wird unten ausführlicher eingegangen. Die ausschließlich auf Deutsch verfasste Inschrift lautet vollständig: „Leopold Kompert, Phil. Dr., k.k. Regierungsrath. Bürger und Gemeinderath der Stadt Wien, n.ö. Landes-Schulrath. Vertreter der isr. Cultusgemeinde, Ritter h. Orden etc., geb. 15. Mai 1822, gest. 23. November 1886“. Hier kommt die breite Verflechtung verschiedenster Lebens- und Tätigkeitsbereiche zum Ausdruck: akademisch („Phil. Dr.“), politisch („k.k. Regierungsrath“, „Gemeinderath der Stadt Wien“), professionell („n.ö. Landes-Schulrath“), gemeinschaftlich („Vertreter der isr. Cultusgemeinde“) und gesellschaftlich/adelig („Ritter [mehrerer] h[oher] Orden“). Dieses intersektionale Geflecht an Identifikationsmustern im Zeichen des fast allgegenwärtigen „k.k.“ bzw. seltener „k.u.k.“ (das erste ausschließlich auf die zisleithanische Reichshälfte und das zweite auf die gesamte Doppelmonarchie bezogen) erinnert somit freilich an Robert Musils Mann ohne Eigenschaften: Musil zufolge hatten nämlich die BewohnerInnen der Habsburgermonarchie (nach „k.k.“ genannt „Kakanien“) „mindestens neun Charaktere, einen Berufs-, einen National-, einen Staats-, einen Klassen-, einen geographischen, einen Geschlechts-, einen bewußten, einen unbewußten und vielleicht auch noch einen privaten Charakter“.155 Die Vielfältigkeit der Zugehörigkeiten in Komperts Inschrift wird durch das einfache Wort „etc.“ unterstrichen, eine in der damaligen Wiener jüdischen Sepulkralepigraphik weit verbreitete, jedoch subtile Anspielung auf den über 100 Wörter langen österreichischen Kaisertitel, der durchwegs mit dem Wort „etc.“ interpunktiert war und mit „etc. etc.“ endete.156 Im St. Marxer Friedhof findet sich sogar eine Inschrift mit drei „etc.“ auf dem Grabstein des 1842 verstorbenen Johann Limbeck, Freiherr von Lilienau, „Vice Kanzler der k.k. vereinigten Hofkanzlei etc. etc. etc.“ Unter der beeindruckenden Auflistung von Komperts Amtstiteln und Ehrentiteln, die sich fast wie ein Lebenslauf lesen, findet sich auch das einfache, aber kraftvolle Epitheton „Bürger der Stadt Wien“, das die Aufnahme der jüdischen 155 Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften, Köln 2013, Neuauflage des Originals aus den Jahren 1930/33, S. 37. 156 Vgl. Großer Titel des Kaisers von Österreich, https://austria-forum.org/af/AustriaWiki/ Gro%C3%9Fer_Titel_des_Kaisers_von_%C3%96sterreich, letzter Zugriff: 31. August 2020.
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Bevölkerung in die Wiener bürgerliche Gesellschaft nach Jahrhunderten der Unterdrückung zum Ausdruck brachte. Diese bereits in Jahrhunderten zuvor auf christlich/katholischen Grabsteinen auffindbare Bezeichnung war in den Grabinschriften beim I. Tor weit verbreitet, so beispielsweise auch in der Inschrift des 1892 verstorbenen Benjamin Scheiner (7-28-49). Auf subtilere Weise zeigte sich diese Tendenz in der neuartigen Praxis, Wien in der Inschrift als Geburts- bzw. (gerade bei so vielen aus anderen Kronländern der Habsburgermonarchie nach Wien Zugewanderten) als Sterbeort zu nennen, etwa in der Inschrift der 1899 verstorbenen Rosalie (laut ihrer Inschrift „Rosalia“) Edle von Kuffner, der zweiten Ehefrau des Brauereibesitzers und Bürgermeisters von Ottakring Ignaz Edler von Kuffner, „geboren in Stampfen“ (Stomfa/Stupava im damaligen Oberungarn), aber „gestorben in Wien“ (7-1-19). Ihr Mann wurde im mährischen Lundenburg/Břeclav bestattet. Die aus dieser Zeit überlieferten Grabreden bilden ein aufschlussreiches Pendant zu den Grabinschriften, vor allem in Bezug auf die Intersektionalität. So feierte Oberrabbiner Moritz Güdemann den 1881 verstorbenen Friedrich Freiherr Schey von Koromla (8-62-1), einen aus der ungarischen Grenzregion stammenden Bankier, der das Palais an der Ecke Opernring und Goethegasse erbauen ließ, eindeutig nach seinen intersektionalen Wirkungsfeldern: Zuerst rühmte ihn Güdemann aufgrund seiner weltlichen und professionellen Errungenschaften und nannte ihn „eine vornehme Persönlichkeit, die auch ohne Adel den Eindruck des Adels machte“, einen „Bürger in Gesinnung und Haltung“ und nicht zuletzt einen „Familienvater“. In der Betonung des familiären Bereichs zeigt sich hier auch eine Umkehrung der überlieferten Geschlechterrollen, hier wird nämlich des einflussreichen, geadelten Vaters gewissermaßen durch seine Töchter gedacht: „Ihre Bildung, ihr humanes Wirken, ihre geachtete Berufsthätigkeit zeugen am lautesten für den Vater.“ Nur zum Schluss kam Güdemann auf die „Jüdischkeit“ des Verstorbenen zu sprechen: „Zuletzt erwähne ich, ob es gleich nicht das Letzte ist, daß er auch seinem Glauben und seinen Glaubensgenossen treu ergeben war. Er war nicht fremd in jüdischen Dingen, nicht kühl gegen jüdische Interessen und er hat auch dafür gesorgt, daß seine Söhne Beides nicht geworden sind“, wobei Letzteres bedeutete, dass seine Söhne nicht offiziell aus dem Judentum austraten. Ähnlich gedachte Güdemann des 1885 verstorbenen Max Freiherr von Springer (5B-1-4), dessen Tugenden er hervorhob als „Kunst und Wissenschaft“, „Bildung“, „Wohlthun“ und „Wohlthätigkeit“, aber fast nur nebenbei sein Festhalten an dem „Judenthum“.157 Die Verschmelzung von unterschiedlichen Lebenssphären – in diesem Fall die Zugehörigkeit zum religiösen Judentum respektive zum jüdischen Volk
157 Alle Zitate in der Reihenfolge ihrer Nennung: Güdemann: Grabreden, S. 10–12, 27.
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mit weltlichen Errungenschaften im Bereich der Medizin – zeigt sich eindringlich in der Inschrift des 1910 verstorbenen Syphilidologen und Urologen Josef Grünfeld (7-1-10). Diese öffnet mit einer inhaltlich traditionellen und doch maßgeschneiderten hebräischsprachigen Laudatio: „Jehuda, dich werden deine Brüder preisen [1. Moses 49,8], du warst eine Erleichterung und Unterstützung für die Armen deines Volkes.“ Nach diesem Verweis auf seinen biblischen Namenspatron und auf seine Zugehörigkeit zur Judenheit wird Josef weiter genannt: „unser Lehrer, der Rabbiner Jehuda, Sohn unseres Lehrers und Rabbiners Jehoshua Arieh Grünfeld, und der Name seiner Mutter war Frau Rachel, Friede sei mit ihr“. So traditionell diese Inschrift erscheinen mag, vor allem in den rabbinisch anmutenden Titeln für Vater und Sohn zeigen sich auch Neuerungen durch den Verweis auf die Volkszugehörigkeit sowie im Verweis auf die Mutter, der dem traditionellen Patronym folgt. Auch inhaltlich sind dies nicht bloß schmeichelnde Worte, sondern bilden ein deutliches, hebräischsprachiges Pendant zur deutschsprachigen Inschrift: Dr. Josef Grünfeld, Universitätsdozent, 19. November 1840 – 14. Mai 1910. Nicht kalter Stein und tote Schrift kann deines Lebens hohen Wert bekunden, Du hast in tausend Herzen längst ein schön’res Denkmal schon gefunden. Dir wird wer je Dir nahe stand stets zärtliches Gedenken weih’n, Dein edler Geist ist nicht entrückt, nur deinen Körper deckt der Stein.
Unter dieser Laudatio des im Wiener medizinischen und universitären Bereich verdienstvollen Vaters folgt die ausschließlich deutschsprachige Laudatio des am 1. Oktober 1914 im Alter von 38 Jahren aufgrund seiner Kriegsverletzungen im mährischen Göding/Hodonín verstorbenen „Dr. Richard Leo Grünfeld, k.k. Oberarzt i.E. […] Er starb im Dienste des Vaterlandes in der Vollkraft eines freudenspendenden, von Pflichtbewusstsein erfüllten Lebens als Opfer seines Berufes im Kriegsjahre 1914. Mit ihm schwand unsere Sonne, unser Glück und unsere Freude“. Hier zeigt sich eindringlich ein generationeller Wandel in Stil und Inhalt von der hebräischsprachigen (wenn auch in gewissen Zügen neuartigen), teils religiösen Laudatio mit Verweis auf das jüdische Volkstum des Vaters hin zur ausschließlich deutschsprachigen Laudatio des Sohnes, die seine weltlichen Titel als Arzt und Offizier nennt samt seiner Aufopferung für das österreichische „Vaterland“. Bemerkenswert ist auch das in diesem Kontext zugespitzt als „bourgeois“ zu verstehende Lob seiner Aufopferung für seinen „Beruf “ als Soldat. In manchen Fällen ging die Verschmelzung der Inschriftenteile wie im Falle Josef Grünfelds so weit, dass der hebräischsprachige Teil samt biblischen Zitaten alleine dazu diente, die in deutscher Sprache ausgedrückte weltliche Stellung der Verstorbenen zu bekräftigen, so beispielsweise auf dem einfachen Stein des 1912 verstorbenen Josef Spitzberger (20-1-30). Die ansonsten rein auf Deutsch
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verfasste, in Jugendstilschrift gemeißelte Inschrift beginnt mit einem hebräischsprachigen Zitat aus Psalm 8,3: „Aus dem Mund der Kinder und Säuglinge hast du ein Bollwerk errichtet“, das ergänzt wird durch die deutschsprachige Laudatio: „Gründete zum Andenken an seine Mutter Emma Spitzberger das Kinder Spital der Israelitischen Kultusgemeinde Wien.“ Ein wesentlicher Aspekt der Sepulkralepigraphik beim I. Tor war also nach wie vor die Titulatur, wenngleich sich diese zutiefst gewandelte hatte und sich viel eher auf den weltlichen Bereich bezog. Adelstitel vermehrten sich reichlich in den Grabinschriften der Ära Kaiser Franz Josephs, vor allem „Edle(r) von“ und „Ritter von“, seltener auch „Freiherr von“, so beispielsweise bei sämtlichen der auf der oben zitierten kolossalen Stele der Familie Springer gedachten Männern. Besonders beliebt waren Laudationes, Auszeichnungen oder Ehrungen seitens des Kaisers bzw. des Staates, so paradigmatisch auf der schwarzen Marmorstele des 1899 verstorbenen Israel Wellisch, die ihm als „k.u.k. Vorstand im militär-geogr. Institute. Besitzer des. gold. Verdienstkreuzes und der kaiserl. gold. Medaille ‚Viribus unitis‘ etc.“ gedachte (20-14-58). Diese Inschrift deutet die weite Verbreitung militärischer Auszeichnungen auf den Grabsteinen von im Ersten Weltkrieg gefallenen Soldaten um einige Jahre an. „Viribus unitis“ (mit vereinten Kräften) war der Wahlspruch Kaiser Franz Josephs und unterstreicht markant die Stellung von Kaiser, Monarchie und Militär im „Österreichertum“ eines großen Teils der damaligen Wiener Judenheit. Der 1890 verstorbene Baron Alois von/de Kuffner, der Bruder Ignaz von Kuffners, war laut der Inschrift auf seiner schwarzen Marmorstele als „Alois Cavaliere de Kuffner“ sogar in den französischen Adelstand erhoben worden, war zugleich aber auch „Ritter des oesterr. Franz-Josef-Ordens“ (5B-35-18). Offizielle Ämter wurden ebenso prominent zitiert, ein Indiz für die neue Stellung der jüdischen Wiener im öffentlichen Leben der Haupt- und Residenzstadt. Deutlich wird dies etwa auf dem Grabstein des Adolf Schwab, ein aus schwarzem Marmor gestaltetes Denkmal mit Jugendstilverzierungen (862-14). Schwab, 1833 in Prag geboren und 1897 in Wien verstorben, wird in der Inschrift als „Mitglied des Abgeordnetenhauses des oesterr. Reichsraths 1873–1897“ angeführt. Tatsächlich verbrachte Schwab sein Leben überwiegend in Prag, wenngleich er als Reichsratsabgeordneter sicherlich häufig nach Wien pendelte. Hier bestätigt sich der Befund der Historikerin Martina Niedhammer, es hätten sich zu dieser Zeit zunehmend prominente jüdische PragerInnen in Wien begraben lassen.158 Die Nennung von Ämtern und Titeln reflektierte insgesamt den kometenhaften Aufstieg dieser Gemeinschaft von zuvor teilweise verarmten und meist von den Kronländern eingewanderten Menschen und ihre rasche Verwurzelung in 158 Niedhammer: Nur eine „Geld-Emancipation“?, S. 248.
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der zisleithanischen Hauptstadt. Auf einer einfachen Stele wird beispielsweise des 1897 verstorbenen Friedrich Breitenfeld schlicht als „Bürger der Stadt Wien“ gedacht, in diesem Fall eine Art Ehrenbezeichnung in Ermangelung von sonstigen Titeln (8-62-22). Die tiefe Einbettung der Wiener jüdischen Bevölkerung in der Gesellschaft und das öffentliche Leben der Stadt sowie der Stolz, mit dem jüdische WienerInnen ihre gesellschaftliche Stellung in ihren Grabdenkmälern verewigten, zeigt sich also keineswegs nur unter der Elite. Auch die mittleren Schichten brachten diese Einbettung im professionellen und gesellschaftlichen Leben Wiens in der Sepulkralepigraphik pointiert zum Ausdruck, so beispielsweise die Familie Magyar auf ihrer schwarzen Marmorstele (19-1-45): Familie Magyar. Herr Ludwig D. Magyar, Bureauchef der Vers. Ges. „Der Anker“, geb. 21. Mai 1840 zu Budapest, gest. 19. September 1880 zu Wien. Ihm folgte seine Mutter: Frau Katharina Magyar, Grosshändlerswitwe, geb. 8. April 1815 zu Baja, gest. 12. April 1889 zu Wien. Ihr folgte deren Sohn, Herr Alexander D. Magyar Realitätenbesitzer, geb. 23. Juli 1843 zu Budapest, gest. 14. December 1899 zu Wien.
Die hier angeführten Epithetone, vor allem die Katharinas als „Grosshändlerswitwe“, erinnern ausdrücklich an die kleinbürgerlichen Laudationes der katholischen Grabinschriften am St. Marxer Friedhof, die hier in Kapitel 4 analysiert wurden: Sie demonstrieren das Ankommen der jüdischen Bevölkerung in der Mitte der Wiener Gesellschaft, zeigen aber gleichzeitig deren „Migrationshintergrund“ auf, nicht bloß implizit, wie hier im Familiennamen, sondern explizit in der Nennung ihrer Geburtsstädte, in diesem Fall in der transleithanischen Reichshälfte. Ähnlich nennt die schwarze Marmostele der „Familie Jacques Rubinstein“ das Familienoberhaupt als „Banquier aus Galatz“ (Galați in Rumänien); des Übrigen ist dieser Grabstein exemplarisch für das neuartige Gedenken ganzer Familien auf einem Denkmal. Insgesamt wird fünf Familienmitgliedern auf diesem einen Stein gedacht (20-24-201). Das (klein-) bürgerliche Gedenken an Berufe, Berufungen und gesellschaftliche Stellung fand auch seinen Widerhall im religiösen Bereich, so beispielsweise auf der Marmorstele entlang der Zeremonienallee des 1904 verstorbenen Samuel Hammerschlag, des einstigen Religionslehrers von Sigmund Freud (20-1-84). Nach einem schlichten Satz auf Hebräisch – „hier ist begraben der große Rabbiner Shmuel Hammerschlag“ – wird er im deutschsprachigen Teil der Inschrift genannt als „Religionslehrer der israel. Gymnasialjugend und Bibliothekar“, der „nach einem Leben voll Liebe und Aufopferung für seine Familie und seinen Beruf “ verstarb. Die Ehrengräber, die vom offiziellen Gedenken der Kultusgemeinde ihrer verstorbenen Funktionäre künden, bilden eine eigene Kategorie in der Sepulkralkultur beim I. Tor. Ein vielseitiges Beispiel findet sich im Falle ihres 1915
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verstorbenen Ersten Vizepräsidenten, Gustav Kohn. Der 1840 in Prag geborene Gemeindefunktionär wurde 1885 in den Vorstand gewählt, der ihn 1891 an den niederösterreichischen Landesschulrat entsandte. 1904 wurde er zum Ersten Vizepräsidenten der Kultusgemeinde gewählt. Das zum ersten Jahrestag seines Ablebens herausgegebene Memorbuch, das hier schon teilweise in Kapitel 2 untersucht wurde, bündelte Erinnerungen von verschiedenen führenden Gemeindemitgliedern samt einer ausführlichen Beschreibung seiner Leichenfeier. Markant ist allein schon der Titel, der wie eine Grabinschrift den Verstorbenen samt einer lebenslaufartigen Auflistung seiner verschiedenen Titel nennt. Auch ästhetisch erinnert die Titelseite an einen Grabstein, verziert mit klassizistischen und barocken Elementen der Grabmalkunst wie eine in einem Schleier verwickelte Sanduhr, eine gebrochene und mit Efeu bewachsene Säule, Zypressen, Lorbeerkränze und Palmenzweige. Die Seite darauf bildet eine Rötelzeichnung ab, die nächste Seite eine Photographie des Verstorbenen unter einem Davidstern.
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Abb. 14 Titelseite eines Gedenkbuchs für Gustav Kohn, 1917. Selbstverlag von Max Schwager.
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Das Buch, das vom Verfasser Max Schwager „[d]em hochverehrlichen Vorstande der israelitischen Kultusgemeinde Wien in Ergebenheit gewidmet“ war, öffnet mit einem vom angesehenen Rabbiner Max Grunwald verfassten Nachruf, gefolgt von „Worte[n] des Gedenkens“ des „k.k. akad. Maler[s]“ David Kohn (keine offensichtliche Verwandtschaft). Dieser erwähnte auch das Ehrengrab an der Zeremonienallee beim I. Tor: „Doch nur seinen Körper haben wir ins Grab gesenkt – sein goldenes Herz findet in unser aller Herzen ein Ehrengrab, bemiwchar kwareinu [unter unseren vornehmsten Gräbern; ein Verweis auf 1. Moses 23,6]. Keiner von uns wird ihm dieses Ehrengrab verweigern.“ Die Praxis der Stiftung von Ehrengräbern wurde somit nicht nur mittels der Bibel als althergebrachte „jüdische“ Praxis erörtert, sondern auch metaphorisch ausgedehnt: „Auch unsere Jugend, insbesondere die Schüler der Talmud-ThoraSchule, werden Doktor Gustav Kohn ein Ehrengrab in ihren jungen Herzen bewahren.“ Es folgt die Beschreibung der Leichenfeier, die einen einzigartigen Einblick in ein solch prominentes Begräbnis in den letzten Jahren der Monarchie gibt, die vermutlich nicht untypisch für eine „schöne Leich“ dieser Zeit war. Das Gedenkbuch schließt mit einer langen Liste der Anwesenden, darunter dutzende Kultusgemeindefunktionäre, Rabbiner und Mitglieder der Chewra Kadisha sowie jüdische Prominente und etliche (nichtjüdische) Funktionäre der Stadt Wien und des niederösterreichischen Schulrates. Insgesamt werden hier hunderte von Leuten über mehrere Seiten aufgelistet.159 Diese Aufzählung von Würdenträgern und die Menge an ehrenden Lobeshymnen für den Verstorbenen werden von der vergleichsweise lakonischen, aber doch verhältnismäßig ausschweifenden Grabinschrift auf Kohns Ehrengrab, einem schwarzen Marmorstein samt Kohanimhänden, ergänzt, die sich durch ihre Vielschichtigkeit auszeichnet (52A-1-12). Die Inschrift besteht aus zwei gleich langen hebräisch- und deutschsprachigen Teilen. Der hebräischsprachige Teil erinnert an den Sepulkraldiskurs in der Seegasse und nennt Kohn „einen lieben, intellektuellen und respektierten Mann, parnas und manhig unserer Gemeinde, unser Lehrer und Rabbiner Naftali hakohen [sprichwörtlich: der hohe Priester], seliges Andenken“. Der deutschsprachige Teil erinnert hingegen an die weltlichen Inschriften seiner säkularen Zeitgenossen und ähnelt einem Lebenslauf sowie dem Titel des oben zitierten Gedenkbuchs: „Dr Gustav Kohn, Hof- und Gerichts-Advokat, Mitglied des k.k.n.ö. Landesschulrates, Ritter des Ordens der Eisernen Krone und des Franz-Josefs-Ordens, I Vice-Präsident der Wiener israelitischen Kultusgemeinde.“ Das Hebräische verkündete: „Er befasste sich mit den Bedürfnissen seines Glaubens, und die Armen waren Kinder seines Hauses […] deshalb wird sein Name und sein Zeugnis nie vergessen 159 Alle Zitate in der Reihenfolge ihrer Nennung: Schwager (Hg.): Zum Gedächtnis, S. 4, 6–7, 17–22, 26, 28, 31–43.
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werden.“ Das Deutsche lautete hingegen schlicht: „Die Wiener israelitische Kultusgemeinde ihrem unvergesslichen ersten Vice-Präsidenten.“ In beiden Inschriftenteilen wurde Kohn für seine intellektuellen Begabungen bzw. seine Errungenschaften gepriesen, und beide Inschriftenteile verkündeten seine gehobene Stellung innerhalb der jüdischen Gemeinschaft einerseits sowie im breiteren Sinne, wie aus dem deutschsprachigen Teil hervorgeht, in der Elite der Wiener Gesellschaft andererseits. Beide Laudationes betonten die Dauerhaftigkeit seiner Erinnerung. Diese Inschrift zeigt paradigmatisch, wie das Religiöse und das Weltliche, das Innerjüdische und nicht ausschließlich Jüdische sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern sich absolut ergänzen, was vor allem in der Zweisprachigkeit der Inschrift eindringlich dargestellt wird. Auch das Gedenken an führende Persönlichkeiten der Kultusgemeinde, deren Lebenswerke sich zutiefst mit jüdischen Belangen befassten, zeugt somit von einer ausgeprägten Intersektionalität der verschiedenen Sphären des öffentlichen und privaten Lebens im Wien der letzten Jahre der Monarchie. Nicht zuletzt zeigt Kohns Inschrift, inwiefern die Kultusgemeinde zu dieser Zeit bereits eine fast hegemonische Rolle in der Gedenkkultur auf ihrem Friedhof einnahm, eine Facette ihrer sonstigen Hegemonie über die sozialen, kulturellen und religiösen Aspekte des jüdischen gemeinschaftlichen Lebens in Wien. In der Tat häuften sich wie auf Gustav Kohns Grabstein explizite Hinweise auf die Kultusgemeinde im Sepulkraldiskurs beim I. Tor im Gegensatz zu den eher ätherischen Gemeinschaftsbezügen vergangener Jahrhunderte. Die tiefe Verwurzelung der jüdischen Bevölkerung Wiens im öffentlichen und gesellschaftlichen Leben der Stadt bedeutete also auch keine teleologische Entwicklung in Richtung völliger Säkularisierung, genauso wie das allgemeine Überwiegen der deutschsprachigen Epigraphik keinen pauschalen Verlust des Zugehörigkeitsgefühls zum jüdischen Kollektiv bedeutete – ob religiös, kulturell oder gemeinschaftlich ausgelegt. Die Intersektionalität dieser Ära erlaubte vielmehr eine großzügige Bandbreite in der Kodierung von Identifikationen in der Sepulkralepigraphik. Dies wird prägnant im Grabdenkmal des 1906 verstorbenen Emanuel Weber ersichtlich, einer Marmorstele mit prominentem Davidstern und einer zweisprachigen Inschrift (51-17-69). Der hebräischsprachige Teil lautet: Tzijun lenefesh [sprichwörtlich „Zeichen einer Seel“; gleichbedeutend „Grabdenkmal des“. Vgl. zum Begriff 2. Könige 23,17 und Ezechiel 39,15] Ein respektierter Weiser […]. Er ist seinem Volke treu und seine Religion ist die Liebe zu Zion. Im Namen aller Juden rühmt unseren Lehrer, Herr Menachem Sohn des Herrn Abraham, sain-lamed [seliges Andenken], Weber. Jud-nun [seine Seele schied] am Dienstag den 24. Kislew, das ist der verstorbene Menachem, der jüdische Richter!
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Die deutschsprachige Inschrift verkündet hingegen: „Hier ruht Herr Dr. Emanuel Weber, k.k. Landesgerichtsrat, gest. am 11. Dezember 1906 im 54. Lebensjahre. Tief betrauert von seiner Gattin und seinen Kindern.“ Die hebräischsprachige Inschrift klingt rabbinisch anmutend, doch war Weber weder ein Rabbiner noch sonst ein Funktionär der Kultusgemeinde, sondern ein Richter – laut der deutschsprachigen Inschrift ein Richter beim Landesgericht und laut der hebräischen ein „jüdischer Richter“, mit Ausrufezeichen. Ob die hebräischsprachige Inschrift im klassischen Sinne „religiös“ ist, steht zur Debatte: Man könnte die Kombination von Davidstern, den Verweis auf „seinem Volke“ sowie seine „Liebe zu Zion“, besonders angesichts des Sterbejahres im frühen 20. Jahrhundert, auch als Ausdruck einer politisch zionistischen Gesinnung verstehen, die sich in diesen Jahren zunehmend auch in Wien verbreitete. Auf alle Fälle verflicht die Laudatio in ihrer Gesamtheit harmonisch die persönliche Religiosität, wie auch immer verstanden, des Verstorbenen, seine politische Gesinnung, sein weltliches Richteramt und seine Volkszugehörigkeit in einer nahtlosen Matrix von Zugehörigkeiten und Attributen. Im späten 19. Jahrhundert machte sich insgesamt eine tiefgreifende Umdeutung des Wesens der „Jüdischkeit“ bemerkbar, die mit ebenso veränderbaren Auffassungen von Volkstum, Gemeinschaft und Zugehörigkeit verbunden war. „Jüdischkeit“ wurde in diesem Kontext keineswegs zwangsweise religiös gedeutet. Dies zeigt sich beispielsweise in der Grabinschrift des 1921 verstorbenen Isidor Kaufmann – dessen Sterbedatum zwar bereits in der Zwischenkriegszeit liegt, dessen Lebenswerk allerdings tief im Kontext des Fin de Siècle verbunden war. Der Grabstein stammt auch schon aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, da er ursprünglich für Kaufmanns 1912 verstorbene Frau Juliette errichtet wurde (52A-1-64). Der schlichte Stein aus weißem Marmor birgt eine goldene Inschrift, die verkündet: „Maler Isidor Kaufmann, geboren 22. März 1853, gestorben 14. November 1921. Der grosse Mensch und Meister dessen Kunst dem Judentum gewidmet war. Tantzaba“. Der in Arad im ungarisch-rumänischen Grenzgebiet geborene Isidor Kaufmann, der spätere Vizepräsident des Jüdischen Museums in Wien, war bekannt für seine verklärenden Darstellungen traditionellen osteuropäischen jüdischen Lebens, die heute als Zeugnisse dieser später in der Shoah weitgehend zerstörten Kultur gelten. Insofern kann der Begriff „Judentum“ in dieser hoch lobenden Laudatio wohl über die Religion hinaus als Verweis auch auf die Kultur und das „Volkstum“ verstanden werden. Die Verflechtung nicht nur von innerjüdischen mit weltlichen, Wienerischen bzw. österreichisch-habsburgischen Identifikationen und Zugehörigkeiten im Sepulkraldiskurs beim I. Tor, sondern auch von unterschiedlichen Konzeptionen und Schichten der „Jüdischkeit“, zeigt sich am deutlichsten in weiteren Ehrengräbern von Kultusgemeindefunktionären, von denen sich die meisten entlang der Zeremonienallee befinden. Das erste am Ausgangspunkt der Zere-
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monienallee auf der linken Seite sich befindliche Grabdenkmal, dort, wo sich ehemals die Zeremonienhalle befand, ist die monumentale, von Max Fleischer entworfene, bereits zitierte Stele des 1890 verstorbenen Oberkantors der Kultusgemeinde, Salomon Sulzer. In einer alteingesessenen Familie in Hohenems im abgelegenen Westen Österreichs geboren, wuchs der 1825 von Isak Noa Mannheimer als Kantor nach Wien berufene Sulzer zu einem der bekanntesten jüdischen Sakralmusiker aller Zeiten heran, insbesondere aufgrund seiner zwischen 1840 und 1866 herausgegebenen liturgischen Liedersammlung Schir Zion (Zionslieder). Sulzers Kompositionen, die ähnlich wie Mannheimers liturgische Reformen moderne Musikstile mit traditioneller hebräischsprachiger Liturgie verbanden, sind somit charakteristisch für den kompromissbereiten, moderaten Charakter der Kultusgemeinde des 19. Jahrhunderts, die es verstand, unterschiedliche religiöse und kulturelle Strömungen innerhalb des Judentums zu vereinen. Dieser Charakter ist sichtbar in Sulzers Grabdenkmal verkörpert, eine mit Eisengitter umfriedete, vierseitige klassizistische Stele, gekappt durch eine Harfe und von einer Kuppel überdacht. Somit wird Sulzers musikalische Berufung in einer Form ausgedrückt, die sich auch auf zeitgenössischen Grabdenkmälern von weltlichen bzw. irreligiösen Komponisten, Schriftstellern und Dichtern findet. Die Vorderseite der Stele birgt eine lange weiße Tafel mit vergoldeter Inschrift, die zweisprachig verkündet: [Deutsch:] Errichtet von der israelitischen Cultusgemeinde in Wien. [Hebräisch:] Tzijun kwarot [sprichwörtlich: Grabzeichen]. Liebling der Lieder Israels [2. Samuel 23,1], unser Lehrer und Rabbiner, der Rabbiner Shlomo, Sohn des Herrn Josef [Jakob] Sulzer halewi [der Lewite], shin-tzadi [shaliach tzibur, ähnlich wie chasan, Kantor] zu Ehren und zum Ruhme der Gemeinde Wien in den Jahren 586 bis 641. Das Schir Zion wurde unmittelbar zur größten der Chormelodien. Seine Lieder wurden in allen Gemeinden aufgeführt. Er brach auf, um Israel zu beleuchten am zweiten Zwischentag von Pessach 564 und seine Klänge hörten auf am 25. Tewet 650 der kleinen Zeitrechnung. Seine Erinnerung sei für immer gesegnet. [Deutsch:] Professor Salomon Sulzer, Ober-Cantor der Cultusgemeinde in Wien von 1826 bis 1881, Meistersänger, Gründer des veredelten Cultus und Chorgesanges, Verfasser des Schir Zion, geb. 30. März 1804, gest. 17. Janu. 1890. Sein Angedenken ein ewiger Segen.
Diese Inschrift verdeutlicht die Konsolidierung des Wiener jüdischen Gemeindelebens gegen Ende des 19. Jahrhunderts: im Hebräischen durch den Ausdruck adat Wina (religiöse Gemeinde Wiens) und im Deutschen durch die expliziten Hinweise auf die „Cultusgemeinde“. Auch der Ehrentitel „shaliach tzibur“, bereits im Mittelalter eine hohe Würde, deutet hier nicht nur auf Sulzers spezifisches Amt in der Gemeinde als Oberkantor, sondern auch auf seine überragende, fast einzigartige Stellung in der Geschichte der Gemeinde hin. Die
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Inschrift ist auffallend spezifisch im Vergleich zu vielen der hebräischsprachigen Inschriften im Korpus der Wiener jüdischen Sepulkralepigraphik, die oft eher vage formuliert sind, vor allem der Hinweis auf Sulzers Meisterwerk Schir Zion. Eher ehrenbezeichnend ist die abgekürzte Anrede von „unser Lehrer und Rabbiner“, da Sulzer kein Rabbiner war. Das Gleiche gilt für den deutschsprachigen Titel „Professor“, den ihm keine Universität verlieh. In seiner Grabrede zum Gedenken an Sulzer kehrte Moritz Güdemann bemerkenswerterweise die normative Wertstellung der Titulatur ausnahmsweise um: Wir meinen gewöhnlich in dem Titel, den Einer führt, auch sein Wesen, seine Größe, den ganzen Umfang seiner Bedeutung ausgedrückt zu sehen. Während indessen Titulaturen sehr oft den Kleinen vergrößern, verkleinern sie den Großen. Denn in die Schablone paßt nur, was nach der Schablone ist […]. Sulzer war kein erster Kantor und kein Oberkantor, sondern er war einzig.
Im Gegensatz zu vielen seiner Grabreden aus dieser Zeit, die wohlgemerkt der prominenten, wohlhabenden und eben nicht besonders religiösen Elite der Wiener Judenheit gedachten, pries Güdemann Sulzer für seine ausdrücklich „jüdischen“ Tugenden, sowohl die religiösen wie gemeinschaftlichen: „Sulzer war es vorbehalten, das Geheimniß der jüdischen Volksseele zu erlauschen und den entsprechenden Ausdruck für das gemeinsame Andachtsbedürfnis zu finden.“160 Doch hatte auch Sulzers Wirken nicht ausschließlich einen Einfluss auf die innerjüdische Welt, was sich daran zeigt, dass ihm Kaiser Ferdinand I. 1842 einen Brillantring in Anerkennung seines Schir Zion schenkte, oder daran, dass niemand geringerer als Franz Schubert im Auftrag Sulzers Psalm 92 vertonte.161 Um auf die Inschrift zurückzukommen, ist nicht zuletzt die enge Parallelität der beiden Teile auffällig: Im Gegensatz zu vielen zweisprachigen Inschriften, die oft dazu dienten, zwischen religiösen und weltlichen Ämtern, Attributen und Errungenschaften zu differenzieren, waren die beiden Inschriftenteile im Falle Sulzers eng aufeinander abgestimmt, so etwa die Nennung seiner Eckdaten und die abschließende Zeile in beiden Teilen. In dieser 2008 restaurierten Grabinschrift findet sich allerdings ein Fehler, und zwar in der ersten Zeile, wo jetzt im Zitat von 2. Samuel „na’iw“ statt „ne’im“ steht. Dies geht zweifellos auf die Verwechslung des Buchstaben mem sofit mit dem ähnlich aussehenden bet zurück, vermutlich durch die Verwitterung der linken senkrechten Linie im Buchstaben mem. Dies deutet darauf hin, dass die RestauratorInnen kein Hebräisch sprachen.
160 Güdemann: Grabreden, S. 46–47. 161 Bato: Die Juden, S. 200.
Grabsteine, Sepulkralepigraphik und Symbolik im Friedhof beim I. Tor
Eine ebenso bündige Verschachtelung von religiösen und weltlichen, jüdischen und – in diesem Fall – österreichischen Attributen findet sich in der zweisprachigen Inschrift auf dem oben zitierten Grabstein eines der wichtigsten Funktionäre in der Geschichte der Kultusgemeinde, dem des 1893 verstorbenen Revolutionärs Adolf Fischhof. Diese ebenso von Max Fleischer entworfene, aber noch monumentalere Stele befindet sich auch an prominentester Stelle am Ausgangspunkt der Zeremonienallee. Sie enthält mehrfache Inschriften und steht auf einem rechteckigen Sockel aus Steinquadern, der mit weiteren, auf schwarzen, bogenförmigen Marmortafeln eingemeißelten und vergoldeten Inschriften versehen ist. Auf der Vorderseite steht oben: „Doctor Adolph Fischhof “ (man bemerke die archaische Schreibweise seines Vornamens) und darunter: „Dem Vorkämpfer für Freiheit und für Recht gewidmet von Freunden u. Verehrern MDCCCLXXXXV“. Auf der rechten Seite steht oben: „Arzt und Publicist, geboren in Alt-Ofen [Óbuda, Ungarn] am 8. Dezember 1816, gest. in Emmersdorf [Kärnten] am 23. März 1893“ und darunter ein Zitat aus seiner Rede am Vorabend der Revolution von 1848: „‚Eine übelberathene Staatskunst hat die Völker Österreichs bisher auseinandergehalten; sie müßen sich jetzt brüderlich zusamenfinden u. ihre Kräfte durch Vereinigung erhöhen‘. 13. März 1848.“ Auf der linken Seite steht oben: „Erste Freiheitsrede Wien, Landhaus 13. März 1848. Präsident d. Sicherheitsausschusses 1. Juni – 17. Juli 1848, Reichstagsabgeordneter der Stadt Wien 1848–1849“ und darunter auf Hebräisch: Hier ist begraben ein lediger Mann des Volkes, möge sein Name ewig sein, unser Lehrer und Rabbiner, der Rabbiner Awraham, Sohn von Josef Fischhof, seliges Andenken. Er ist in seine Ewigkeit eingetreten am 6. Nissan und wurde in großer Ehre bestattet am 11. Nissan 653 lamed-fei-kuf [der kleinen Zeitrechnung. Von typographischem Interesse ist, dass diese drei Buchstaben in ein Monogramm integriert sind, ein Gravurstil, der zu dieser Zeit öfters angewandt wurde]. Tantzaba. Ich will deinen Namen verkünden von Geschlecht zu Geschlecht; darum werden die Völker dich preisen auf immer und ewig [Psalm 45,18].
Das Nennen von Fischhofs Lebensdaten spiegelt sich in den zwei Sprachen nicht bloß in Hinsicht auf den jüdischen bzw. den gregorianischen Kalender, sondern auch sprachlich wider: Das numerologische lateinische MDCCCLXXXXV (1895, das Jahr der Errichtung des Denkmals) fungiert als direktes Pendant zum hebräischen „taw-reish-nun-gimmel“ (653, Fischhofs Sterbejahr). Die Widmung „von Freunden u. Verehrern“ lässt indes darauf schließen, dass das Denkmal von einem breiteren Kreis, vermutlich auch von nichtjüdischen Förderern und nicht allein vom Vorstand der Kultusgemeinde gestiftet wurde. Ähnlich wie im Falle Sulzers erhält Fischhof, der weder Rabbiner noch sonst ein religiöser Funktionär war, das Epitheton eines ordentlichen Rabbiners
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„mem-hei-waw-reish-reish“; auf Deutsch wird er hingegen nach seinen Berufen „Arzt und Publicist“ sowie mit den kurzlebigen Ämtern „Präsident des Sicherheitsausschusses“ und „Reichstagsabgeordneter“ betitelt. Am profundesten ist in Bezug auf Fischhofs Leben und Wirken wohl die hebräischsprachige Inschrift, die ihn einerseits als „Mann des Volkes“ ausweist, was in diesem sprachlichen Zusammenhang wohl nicht bloß im revolutionären Sinn gemeint ist, sondern spezifischer als Verweis auf seine Zugehörigkeit zum jüdischen Volke. Dies kontrastiert pointiert mit dem biblischen Zitat zum Schluss, das dessen „preisen“ durch „die Völker“ (amim) unterstreicht: Bedeutet dies im ursprünglichen biblischen Kontext schlicht „die Menschheit“, so kann es hier wohl auch als Verweis auf die Völker Österreichs verstanden werden, vor allem in Verbindung mit dem deutschsprachigen Zitat seiner Rede, in der er eben „die Völker Österreichs“ ansprach. Nirgendwo sonst ist im Sepulkraldiskurs beim I. Tor die ganz spezifisch jüdische Auffassung des „Österreichertums“ der späten Habsburgermonarchie so explizit und eindringlich in Worte gefasst. Hier ist die Judenheit mehr als bloß eine Religion, sondern ein Volk, das zugleich Teil einer großen „Völkerfamilie“ im habsburgischen Zentraleuropa darstellt: eine perfekte Harmonie von Jüdischkeit und Österreichertum, das erste im zweiten verschachtelt. In seiner Grabrede gedachte Moritz Güdemann Fischhof auf ausgesprochen politische Weise: Er war „zum Helden des Tages, zu einem Helden der Freiheit“ geworden, „ein Märthyrer seiner Ueberzeugung“, doch musste er Güdemann zufolge miterleben, wie der „Baum der Freiheit, den er mit gepflanzt“ hatte, zu „welken und sich [zu] entblättern“ begann – ein für die 1890er-Jahre typischer Ausdruck des politischen Pessimismus. Güdemann verglich Fischhof mit Moses und Aharon und ihrem Flehen an den Pharao, er möge das Volk Israel ziehen lassen.162 Somit beschwor er ein biblisches Leitmotiv des jüdischen Leidenswegs herauf, das allerdings einen wesentlichen Sinn von Fischhofs Wirkens verfehlte: nämlich die politische Emanzipation aller „Völker“ der Habsburgermonarchie, nicht nur der Judenheit, die fortan vereint sein sollten in „Brüderlichkeit“. Güdemann malte ein bedrückendes Bild des ausgehenden 19. Jahrhunderts, als der aufkommende politische Antisemitismus, gerade in Wien unter Karl Lueger, die Hoffnungen des liberalen Zeitalters zu enttäuschen begann. In der Zwischenkriegszeit betonte Max Grunwald rückblickend, dass Fischhof in seiner kurzlebigen Rolle als Präsident des Sicherheitsausschusses 1848 eine Machtrolle inne hatte wie kein Jude in der gesamten Geschichte Österreichs zuvor, und beklagte, dass diesem wegweisenden Politiker nie ein Denkmal
162 Güdemann: Grabreden, S. 54–55.
Grabsteine, Sepulkralepigraphik und Symbolik im Friedhof beim I. Tor
für seine prägende Rolle in der politischen Reformation Österreichs gesetzt wurde.163 Auch weniger bekannten Kultusgemeindefunktionären wurde ausgiebig in ihren Grabinschriften gedacht, wie im Fall des 1905 verstorbenen Salomon Rosner (20-1-95). Der hebräischsprachige Teil nennt ihn einen „lieben, intellektuellen Mann von hoher Intelligenz, sein ruhmvoller Name sei respektiert“. Auf Deutsch wurden hingegen seine Ämter wie in einem Lebenslauf aufgelistet: Hier ruht Salomon Rosner, Vorstandsmitglied der isr. Kultusgemeinde Wien. Obmann des Bethaus Vorstandes f.d. XVI. [und] XVII. Bez. [Ottakring bzw. Hernals], vorher Präses der ehemaligen Gemeinden Hernals-Ottakring-Neulerchenfeld und Ehrenmitglied sämtlicher isr. Wohltätigkeits Vereine in diesen Bezirken, gestorben 13. September 1905 im 58. Jahre seines dem Wohle seiner Familie, seiner Gemeinde und deren Anstalten unermüdlich gewidmeten Lebens.
Somit ist diese Inschrift den bürgerlich/weltlichen Inschriften dieser Zeit auffallend ähnlich, gedenkt Rosner allerdings ausschließlich in einem innerjüdischen Kontext. Eine ungewöhnlich ausgefeilte, fast ausschließlich hebräischsprachige Inschrift eines Gemeindefunktionärs findet sich auf der heute umgestürzten Marmorstele des 1905 verstorbenen, aus dem oberungarischen Neustadt an der Waag/Vágújhely/Nové Mesto nad Váhom stammenden Rabbiners Salomon Wolf Freund (20-19A-11). Diese verkündet: Hier ist begraben ein respektierter greiser Mann, ein Rabbiner und Prediger, der gekrönt war mit großem Wissen über und Ehrfurcht vor der Tora, ein Prediger in der Synagoge Torat Emet, unser Lehrer, der Rabbiner Salman Wolf Freund […]. Er liebte und war beliebt von allen [seinen] Kindern […]. Seine Lehre war sein Trost.
Die deutschsprachige Inschrift, die ihn schlicht als „Rabbiner“ anführte, fügte noch hinzu, er sei „betrauert von seinen Kindern, Enkeln, Urenkeln, Verwandten und allen die ihn kannten“. Auch die Vertreter anderer Kultusgemeinden in der Habsburgermonarchie fanden eine entsprechende Würdigung im Friedhof beim I. Tor, wie beispielsweise der 1917 verstorbene Josef Münz aus Siret/Sereth in der Bukowina. Auf seiner schwarzen Marmorstele findet sich eine klassische zweisprachige Inschrift, die verkündet: [Hebräisch:] Pei-nun [hier ist begraben] reish [sprichwörtlich „Rabbiner“, umgeschrieben „Herr“] Josef, Sohn des reish Zwi Münz, sain-lamed [seliges Andenken], rosh und parnas dalet-kuf-kuf [der heiligen Gemeinde] Siret/Sereth (in der Bukowina), gestorben den 16. Kislew 678. Tantzaba. [Deutsch:] Hier ruht Josef Münz, Kultusvorstand aus Sereth (Bukowina), gest. am 1. Dezember 1917. 163 Grunwald: Vienna, S. 262.
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Wie selbstbezogen die Gedenkkultur der Kultusgemeinde im engeren Sinne beim I. Tor sein konnte, zeigt sich im monumentalen Ehrendenkmal des 1910 verstorbenen, aus Jassy/Iași in Rumänien stammenden Gustav Gropper mit seiner ausgefeilten, zweisprachigen Inschrift (51-1-35). Der hebräischsprachige Teil verkündet, der Verstorbene habe „sich einen ewigen Namen beschaffen durch das Vermächtnis seines Reichtums an unserer Gemeinde und an ihren verschiedenen wohltätigen Einrichtungen“. Auf Deutsch kam dies noch expliziter zum Ausdruck: „Durch Widmung seines Nachlasses für die israelitische Kultusgemeinde Wien und ihre Wohltätigkeitsanstalten sicherte er sich ein dankbares Andenken.“ Insbesondere die deutschsprachige Inschrift verdeutlicht, dass nicht die „Gemeinschaft“ allgemein gemeint war (im Hebräischen einfach „lekehilateinu“), sondern explizit die Kultusgemeindeorganisation und ihre Einrichtungen. Die Urheberschaft des Grabsteines samt Inschrift wurde auch klar mit einer Unterschrift signiert: „Der Kultus-Vorstand“. Zu den Leitmotiven des Sepulkraldiskurses beim I. Tor gehören also der „Migrationshintergrund“ vieler der dort Bestatteten, freilich zumeist infolge einer Binnenmigration aus den Kronländern der Monarchie, sowie ein allmählicher Wandel hin zum säkularen Gedenken. Dies zeigt sich gebündelt als Art doppelte, generationelle „Migrationserfahrung“ auf dem Grabstein der Familie Scheiner (7-28-49). Auf dieser Marmostele mit einer Kanne als Zeichen der Zugehörigkeit zur lewitischen Priesterklasse wird des aus Lemberg stammenden und 1892 in Wien verstorbenen Familienpatriarchen mit einer zweisprachigen Inschrift gedacht. Die hebräische Schriftzeile ist bogenförmig, wie es auf den alten Grabsteinen in der Seegasse der Fall war, und verkündet: „Pei-nun [hier ist begraben] mem-hei-waw-reish [unser Lehrer und Rabbiner, der Rabbiner] Binjamin Ze’ew, Sohn des kaf-hei [respektierten Rabbiners] Arieh halewi [der Lewite], seine Seele schied am shin-kuf [heiligen Shabbat] 6. Adar 652 lamed-fei-kuf [der kleinen Zeitrechung].“ Der deutschsprachige Teil nennt ihn hingegen schlicht: „Benjamin Scheiner, Bürger von Wien“. Seine Laudatio wird mit dem hebräischsprachigen Satz beendet: „Bis hierher sollst du kommen und nicht weiter“, ein Zitat aus Hiob 38,11. Hingegen wird seines Sohns Josef gedacht mit einer rein deutschsprachigen Inschrift als „k.k. Regierungsrat Dr. Josef Scheiner gest. am 4. April 1916“ und seiner Frau ebenfalls schlicht auf Deutsch als „Lea Scheiner geb. Melzer, gestorben am 14. Juli 1899 im 75. Lebensjahr“. Die Inschrift des Vaters ist explizit traditionell gestaltet, samt der Aneignung von rabbinischen Laudationes. Was hingegen mit dem Hiobszitat gemeint ist, steht zur Debatte: Eventuell könnte dies angesichts seines „Migrationshintergrunds“ als Hinweis auf seine dauerhafte Niederlassung in Wien verstanden werden. Diese Niederlassung und der dazu gehörende Sinn von Verwurzelung zeigen sich weiter im einfachen Epitheton „Bürger von Wien“. Die zweite „Migration“ zeigt sich im genera-
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tionellen Wandel vom hebräischen, rabbinisch anmutenden Titel des Vaters hin zum österreichischen Amtstitel des Sohns, der zudem auf keine Weise in seiner Inschrift als „jüdisch“ konnotiert wird, mit Ausnahme des Auslassens seines Geburtsjahres, eine Praxis der jüdischen Sepulkralepigraphik, die zur Zeit des Friedhofs in der Seegasse noch allgegenwärtig war. Eine eigentümliche Redewendung findet sich in diesem Zusammenhang in der Inschrift auf der schwarzen Marmorstele des 1906 verstorbenen Felix Signer, welche mit einem äußerst langen deutschsprachigen Gedicht „dem edelsten Märtyrer und selbstlosesten Menschenfreunde gewidmet“ war (51-1-3). Der Diskurs des Märtyrertums war zuletzt in der Seegasse auffindbar, wo jenen Menschen gedacht wurde, die aufgrund ihrer Jüdischkeit ermordet wurden. Vor der Shoah sollte er eigentlich nicht mehr in der Wiener jüdischen Sepulkralepigraphik Verwendung finden. In diesem Fall muss dies vermutlich als Hinweis auf die Selbstlosigkeit des Verstorbenen verstanden werden. Selbst explizit partikularistische Ausdrücke von Jüdischkeit bzw. Judentum beim I. Tor, die im eindeutigen Kontrast zur nichtjüdischen Umwelt konstruiert wurden, schlossen nicht unbedingt gleichzeitig Ausdrücke der Verwurzelung in der Stadt Wien aus – war Wien doch in dieser Zeit zu einer der größten jüdischen Gemeinden der Welt herangewachsen. Dies zeigt sich eindringlich in der zweisprachigen Inschrift des 1905 verstorbenen Jonas Kraemer und seines 1912 verstorbenen Schwiegersohns Isidor Schapira, eingraviert in einer schwarzen Marmorstele samt Lewitenkanne (20-1-90). Der hebräischsprachige Teil verkündet: Wehe! Jona ging zu den gestrandeten Schiffen hinab [umschrieben aus Jona 1,3] und sagte, ich bin ein Hebräer in einem fremden Land [umschrieben aus Jona 1,9, …]. Ein Löwe [hebräisch: arieh] brüllt im galut [Diaspora, …]. Jona fand Frieden in der Versammlung die er aufgebaut, hei-hei [ehrerbietige Abkürzung für hashem, sprichwörtlich „der Name“; Gott] hat sein Licht in Wien [jiddisch transkribiert: waw-waw-jud-ain-nun], der Hauptstadt plötzlich ausgelöscht.
Diese eigentümliche Inschrift wird auf Deutsch weitergeführt: Hier ruht in Frieden nach unermüdlichem Schaffen der edle Menschenfreund, der väterliche Wohltäter seiner armen Glaubensbrüder in Smyrna, Jonas Kraemer, geb. in Kolomea, gest. in Wien im 70. Lebensjahre am 17. Juni 1905. Unvergesslich seinen dankbaren Kindern. Ehre seinem Andenken! Vereint mit seinem Schwiegersohne Isidor Schapira, geb. zu Brody am 19. Jänner 1848, gest. zu Wien am 22. Juni 1912, welcher das fromm begonnene Werk seines Schwiegervaters, die Unterstützung armer, hilfsbedürftiger Glaubensbrüder in Smyrna, mit unbegrenzter Güte fortsetzte. Tief betrauert von seiner Gattin und seinen Kindern. Friede seiner Asche!
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Die umschriebenen Zitate des Namenspatrons von Jonas und der Verweis auf den brüllenden Löwen in der Diaspora – eine Anspielung auf seinen Zweitnamen Arieh – zeichnen unmissverständlich ein Bild partikularistischer Zugehörigkeit zu einem geschlossenen jüdischen Volk, das sich überall „in fremden Ländern“ aufhielte. Doch gleichzeitig wird ausdrücklich die Zugehörigkeit zu „Wien, [der] Hauptstadt“ bekräftigt, wenngleich damit die „Versammlung“ (knesset) Wiens, sprich die jüdische Religionsgemeinschaft, gemeint ist und nicht die allgemeine Wiener Gesellschaft. Die deutschsprachige Inschrift erklärt diese auffallend partikularistische Inschrift allerdings durch die Tatsache, dass es sich hier um eine aus den galizischen, heute ukrainischen Städten Kolomea (heute Kolomyja) bzw. Brody eingewanderte und womöglich sephardische Familie handelte (wenngleich die Familiennamen beider Männer eher aschkenasisch klingen), wie die Verweise auf die „Glaubensbrüder in Smyrna“ (heute İzmir in der Türkei) implizieren. Im Laufe des 19. Jahrhunderts hatte sich die deutschsprachige Sepulkralepigraphik großbürgerlicher, meist geadelter jüdischer Familien hin zu immer längeren, komplexeren und weltlicheren Laudationes entwickelt, die auf imposanten, historistischen Grabdenkmälern erschienen. Diese dienten der Zurschaustellung der stolzen Selbstwahrnehmung der dort bestatteten Familien, ihres Reichtums und ihrer prominenten Stellung in den gehobenen Kreisen der habsburgischen Gesellschaft. Oftmals ging dies Hand in Hand mit der Andeutung ihrer zunehmenden Irreligiosität oder mindestens des Mangels an formeller Religionsausübung. Ein charakteristisches und extravagantes Beispiel ist das monumentale, an der westlichen Friedhofsmauer gelegene neoklassizistische Mausoleum des 1886 verstorbenen Bankiers Eduard Wiener von Welten (6-29-43). Das von Max Fleischer entworfene Grabdenkmal wird getragen von geriffelten dorischen Säulen, die Dachkonstruktion ist verziert mit dem Wappen der Familie und ihrem heute kaum mehr lesbaren Wahlspruch: „In Treue und Beharrlichkeit“. Darunter steht im Architrav eingemeißelt: „Familie Wiener von Welten“. Die Vorderseite des Denkmals ist mit einem schmiedeeisernen Gitter abgeschlossen, der Innenraum ist verziert mit einer von Rosetten geschmückten Kassettendecke und einer großen Inschriftentafel aus schwarzem Marmor samt vergoldeter Inschrift. Diese lautet: Hier ruhen Eduard Ritter Wiener von Welten, k.k.pr. Großhändler, kön. portug. General-Consul, Präsident des Verwaltungsrathes der k.k.pr. österr. Credit-Anstalt für Handel und Gewerbe, Präsident des Administrationsrathes der Ersten k.k.pr. DonauDampfschiffahrts-Gesellschaft, Comthur des Franz Josef Ordens, Ritter des Ordens der eisernen Krone III. Classe, Commandeur des kön. portug. Ordens von Villa Vicosa, des kön. Portug. Christus Ordens und des kön. span. Ordens Karls III., etc. etc., geboren
Grabsteine, Sepulkralepigraphik und Symbolik im Friedhof beim I. Tor
in Prag am 8. Juli 1822, gestorben in Hietzing am 14. Octob. 1886, und dessen Sohn Alfred Ritter Wiener von Welten, k.u.k. Bezirksvorsteher in Banjaluka [Bosnien], k.k. Oberlieutenant der Reserve, Besitzer der Kriegsmedaille, geboren in Wien am 4. Februar 1854, gestorben in Doboj (Bosnien) 13. Juni 1886. Friede ihrer Asche.
Der 1822 in Prag geborene Eduard Wiener gründete in Wien zunächst sein eigenes Bankhaus, stieg später zum Präsidenten erst der Österreichischen Creditanstalt und dann der Donau-Dampfschiffahrts-Gesellschaft auf und wurde schließlich 1867 als „Ritter Wiener von Welten“ in den Adelsstand erhoben. Er ließ sich ein Palais am Schwarzenbergplatz erbauen, wo heute noch der kleinste Weingarten der Stadt wächst. Ihm widmete der Kommunalpolitiker Sigmund Mayer ein paar schnippische Zeilen in seiner Geschichte Die Wiener Juden, in der Mayer verschiedene Individuen anhand ihrer „Jüdischkeit“ bewertete. Über Wiener von Welten schrieb er: Als Jude fühlte und gab er sich auch bis zu seinem Ende, doch hatte dies nicht gehindert, daß seine beiden Töchter Gattinen von Christen und zwar wirklichen Aristokraten wurden. Das Haus fand nach seinem Tode keine Fortsetzung; in der Judengemeinde und ihren öffentlichen Interessen hinterließ er keine Spur und kein Andenken.164
Dass sein Haus keine „Fortsetzung“ fand, hat freilich nichts mit Eduards Grad an „Jüdischkeit“ zu tun: Sein ältester Sohn Alfred starb nach einem Duell 1886 in Bosnien, sein jüngerer Sohn Rudolf beging nach dem „Anschluß“ 1938 Selbstmord. Ersterer liegt im väterlichen Grab beim I. Tor, letzterer wurde am überkonfessionellen Hietzinger Friedhof bestattet (19-167). Interessant ist im Übrigen Mayers Hinweis auf die „wirklichen“, also vermutlich alteingesessenen christlichen AristokratInnen im Vergleich zu den erst in jüngerer Zeit nobilitierten Jüdinnen und Juden. Tatsächlich wirkt diese mit der kaiserlich anmutenden Abkürzung „etc. etc.“ versehene Inschrift, die des im schicken Vorort Hietzing beheimateten Großindustriellen gedenkt, vorerst vollkommen „unjüdisch“, konzentriert sie sich ausschließlich auf seine kaiserlichen Privilegien und seine weltliche Titel und Zugehörigkeiten, inklusive im „kön[iglich] Portug[iesischen] Christus [!] Orden“, ohne jeden Hinweis auf „Jüdischkeit“ oder die Kultusgemeinde. Nicht einmal ein hebräisches Zeichen oder ein Verweis auf den jüdischen Kalender findet sich auf diesem massiven Grabdenkmal wieder. Doch ein direkter Vergleich mit einem ganz anderen Grabdenkmal zeigt, dass sogar jene Ausprägungen der jüdischen Sepulkralepigraphik beim I. Tor, die beim ersten Blick einander vollkommen entgegenstellt wirken, so gerade jene, die vermeintlich
164 Mayer: Die Wiener Juden, S. 290.
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die antithetischen Pole „Tradition“ und „Assimilation“ darstellen, bei einer genaueren Analyse tiefe Parallelen aufweisen. Etwas weiter südlich liegt ebenfalls an der westlichen Friedhofsmauer das ohel oder Grabhäuschen zweier chassidischer Rabbiner aus dem heutigen Gebiet der Ukraine, der 1883 verstorbene Menachem Nachum Dow von Sadigora und der 1916 verstorbene Lewi Jitzchak (7-30-95, nicht mit dem in einem anderen Grabhäuschen beim I. Tor bestatteten und tatsächlich verwandten Jitzchak von Bojan und seinem Sohn Menachem Nachum von Czernowitz zu verwechseln, 52A-14-40A). Das ohel besteht aus einem kleinen weißen Häuschen, modern gestaltet aber mit klassizistischen Zügen, inklusive eines Dreiecksgiebels über einer Rundbogentür, dazwischen ein Architrav mit der Inschrift: „Tzijun [Zeichen; Grabdenkmal] des gerechten Rabbiners, botzine [aramäisch: das heilige Licht; ein Begriff aus dem Sohar], unser Lehrer und Rabbiner, der große Rabbiner Menachem Nachum Dow, sain-lamed-hei-hei [sein Andenken wird leben in der kommenden Welt].“ Links vom ohel steht ein vermutlich später errichtetes, kleines Nebenhäuschen für das Grab Lewi Jitzchaks. Auf dem Architrav ist ein Davidstern abgebildet samt den Buchstaben „pei-nun“ und darunter die etwas längere Inschrift: Alef-dalet-mem-waw-reish [unser Herr, Lehrer und Rabbiner], der heilige und reine Rabbiner, unser Lehrer und Rabbiner, Lewi Jitzchak, sain-tzadi-waw-kuf-lamed-hei-hei [sein gerechtes und heiliges Andenken wird leben in der kommenden Welt], aus Osierno [Oserna], Enkel der großen Tamariske, der göttliche Mann, die Krone Israels aus Ruzhin [Ruschyn], sain-lamed-hei-hei [sein Andenken wird leben in der kommenden Welt].
Im Innenraum des Hauptgebäudes befindet sich der Scheinsarkophag Menachem Nachum Dows vor einer langen mit einem großen Davidstern versehenen Inschriftentafel. Die lange Inschrift beginnt mit den Worten: „Großer Kummer für die Juden, Weinen und Klagen für die Chassidim“, und gedenkt wie in den obigen Zitaten des verstorbenen Wunderrabbiners in ausgefallenen Redewendungen, so beispielsweise: „seine Gerechtigkeit ist wie die Barmherzigkeit Gottes und seine Güte ist dem Volke Israels ein heiliges, frommes Licht“. Menachem Nachum Dow wird weiter genannt als „Sohn unseres großen, gerechten und heiligen Lehrers und Rabbiners, der Rabbiner Shalom Josef [von Sadigora], sein Andenken wird leben in der kommenden Welt, Sohn unseres großen, gerechten, heiligen und berühmten Lehrers und Rabbiners, der Rabbiner Israel von Ruzhin“. Beide Rabbiner waren Enkelkinder des großen Rabbiners Israel aus Ruzhin, einer der Schlüsselfiguren in der Entwicklungsgeschichte des Chassidismus.165 165 Vgl. Assaf, David: Ruzhin Hasidic Dynasty, in: Hundert, Gershon (Hg.): The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe, Bd. 2, New Haven 2008.
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Allerdings war Menachem Nachum Dow als Sohn Shalom Josefs, der älteste Sohn und Hauptnachfolger Israels, wohl prominenter als sein Cousin Lewi Jitzchak, der von einer von Israels Töchtern abstammte, Gittel Towa von Berditschew.166 Die Stellung des Großvaters ist deutlich erkennbar nicht nur in seiner wiederholten Nennung (im Gegensatz zum „Patronym“ hat die Nennung des Großvaters in der englischsprachigen Namenskunde ihre eigene Bezeichnung: „avonymic“), sondern auch in seinen einzigartigen Laudationes als „göttlicher Mann“ oder „Krone Israels“. Der Begriff eshel (Tamariske) ist unklar; diese Bäume wachsen allerdings häufig im östlichen Mittelmeerraum, also auch im antiken Israel, und werden mehrmals in der Bibel erwähnt; es handelt sich also vermutlich um eine Ehrenbezeichnung. Menachem Nachum Dow hielt sich zufällig in Wien auf, als er 1883 verstarb und infolge dessen beim I. Tor bestattet wurde: Dieses ohel verblieb also jahrelang eine zutiefst eigenartige Kuriosität in der Wiener jüdischen Sepulkralkultur, ein Ausdruck der osteuropäischen chassidischen Kultur, die in Wien nicht beheimatet war. Allerdings deutet sie auf eine ausgedehnte chassidische Subkultur in Wien voraus, die sich langsam ab den 1880er-Jahren mit zunehmender Einwanderung aus Galizien zu etablieren begann, bevor sie einen raschen Wachstumsschub erfuhr infolge der Kämpfe, die während und nach dem Ersten Weltkrieg in Galizien und der Bukowina wüteten. Es befinden sich mehrere ohelim von nach Wien geflüchteten chassidischen „Wunderrabbinern“ beim IV. Tor, die im nächsten Kapitel eingehend besprochen werden. Wichtig ist hier die Sprache der Inschriften, die mit Bezug auf Komplexität und Prahlerei zu ihren deutschsprachigen, säkularen Gegenübern durchaus in Konkurrenz stehen: Alleine die Nennung der Verstorbenen an der Außenseite des ohel umfasst mehrere Zeilen, worin die Rabbiner mit langen Reihen von zumeist ehrenhalber verliehenen Titeln gepriesen werden. Auffällig ist hier die Abkürzung „alef-dalet-mem-waw-reish“ (adoneinu morenu werawinu, unser Herr, Lehrer und Rabbiner; als „admor“ ausgesprochen), eine spezifisch chassidische Rabbinerbezeichnung, die die erste Erweiterung seit Jahrhunderten des bisher längsten und ehrenvollsten Rabbinertitels, „mem-waw-hei-reishreish“ (morenu werawinu haraw rawi, unser Lehrer und Rabbiner, der große Rabbiner), darstellt, der bereits zur Zeit des Friedhofs in der Seegasse standardisiert worden war. Dieses neuerliche Übertreffen an Ehrenbezeichnungen unterstreicht den chassidischen Anspruch auf ihre Stellung an der Spitze des Judentums; ihre admorim sind, wie diese Inschrift ausweist, das „göttlichste“ auf Erden. Das Fehlen in diesen ausgedehnten Inschriften jeglicher Hinweise auf nichtjüdische Attribute – sogar der bürgerliche Familienname der Nachkommen Israels von Ruzhin, Friedman(n), kommt nie vor, die Individuen werden 166 Vgl. Biale et al.: Hasidism, S. 370
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stattdessen durch Patronyme bzw. avonymics und Herkunftsorte identifiziert – oder jeglicher nichthebräischer Inschriftenteile (abgesehen von einigen sprachlichen Einflüssen aus dem Jiddischen und Aramäischen) hebt diese Individuen als rein jüdisch hervor, was zudem durch wiederholte Hinweise auf das Volks Israels unterstrichen wird. In Menachem Nachum Dows Inschrift wird sogar zwischen „Juden“ und „Chassidim“ unterschieden: eine Verschachtelung, sogar eine Art Intersektionalität, innerhalb des ansonsten als einheitlich und exklusiv dargestellten Judentums, die zudem den Chassidismus nochmals hervorhebt. Die Lebenswelt, die hier zum Ausdruck kommt, könnte nicht ferner von adeligen WienerInnen wie Eduard Wiener von Welten liegen. Diskursiv betrachtet, unterscheiden sich jedoch die Grabdenkmäler und Inschriften der chassidischen „Wunderrabbiner“ nicht so sehr von den neoklassizistischen Mausoleen reicher Großindustriellen, wie es auf der Oberfläche erscheinen mag: Auch Eduard Wiener von Welten wird mit einer langen, mehrere Zeilen umfassenden und mit Abkürzungen interpunktierten Liste von Titeln und Ehrenämtern gedacht und so als herausragende Prominenz innerhalb seiner Gemeinschaft – nicht der des galizischen Chassidismus, sondern der des Wiener Großbürgertums – hervorgehoben. Seine Inschrift ist so lang, dass sie mit „etc. etc.“ schließt – ein ehrenvoller Verweis auf den Kaiser Franz Joseph, ähnlich wie die ehrenvollen Verweise auf den chassidischen Patriarchen Israel von Ruzhin auf dem besprochenen ohel. In der Tat könnte die offensichtliche Vorliebe für komplexe Ehrentitel, die in den chassidischen ohelim so deutlich zum Ausdruck kommt, augenzwinkernd als zutiefst „österreichisch“ interpretiert werden. Eduard Wiener von Weltens Laudatio ist so wienerisch-säkular wie die Inschrift Menachem Nachum Dows chassidisch-religiös ist: Beide verweisen auf den jeweiligen kulturellen Ursprung der Verstorbenen, die sich gegenseitig gleich fremd sind. Gerade Eduard Wiener von Weltens Inschrift mag durch ihren säkularen Charakter und das völlige Fehlen von explizit „jüdischen“ Merkmalen „assimilatorisch“ wirken, vor allem in der wahrlich einzigartigen Nennung seiner Zugehörigkeit zum königlichen portugiesischen Christus-Orden. Der im Prager Ghetto geborene Eduard Wiener von Welten heiratete jedoch eine jüdische Frau, Henriette aus der bekannten Bankierfamilie Goldschmidt (die erst nach seinem Tod konvertierte und am Hietzinger Friedhof bestattet wurde, 19-167), und ließ ein Familienmausoleum für seinen einige Monate vor ihm verstorbenen Sohn Alfred am jüdischen Friedhof errichten. Dabei hätte er, wie manche seiner ZeitgenossInnen, seine Frau und sein jüngster Sohn es taten, sich und seine Familie an einem der vielen überkonfessionellen Friedhöfe der Stadt bestatten lassen. Wenigstens oberflächlich zeugt seine Wahl von einem Bekenntnis zur eigenen „Jüdischkeit“ bis zum Letzten. Die Grabdenkmäler des Großindustriellen und des Wunderrabbiners repräsentieren zwei extreme Positionen im breiten Spektrum der „Jüdischkeit“, doch spiegeln sie sich
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diskursiv zugleich. Was solche Beispiele darstellen sind eben die verschiedensten kulturellen Milieus unter der Wiener jüdischen Bevölkerung – Wiener Mikrokosmen der habsburgischen Judenheiten – und die unterschiedlichsten Auseinandersetzungen mit der eigenen „Jüdischkeit“, die im späten 19. Jahrhundert vorherrschten. Das eine über das andere als „mehr authentisch jüdisch“ hervorzuheben, hieße nicht nur bei subjektiven Selbstwahrnehmungen vergangener Zeiten Partei zu ergreifen, sondern auch ein verzerrtes historisches Bild der unterschiedlichen, historisch gewachsenen Strömungen des Judentums im modernen Europa zu verbreiten. Zudem gibt es auch einige Ausnahmen bei der Mehrheit der deutschsprachigen, nichthebräischsprachigen Inschriften in der Epigraphik beim I. Tor, wie zum Beispiel die ausschließlich auf Polnisch verfasste Inschrift des 1909 verstorbenen Leon Boral, die verkündet: „Hier liegt Dr. Leon Boral, Anwalt aus Stanisławów“, Stanislau, heute Iwano-Frankiwsk in der Ukraine. Die Inschrift schließt mit der persönlichen Laudatio: „Du bist unsere Zuflucht. Du bist unser geliebter Lorbeer und unser Glück. Du bist ein leuchtender Geist“ (50-58-59). Ähnlich lautet die Inschrift der 1911 verstorbenen Josefine Kaufmann, wobei ihr mit einer zweisprachigen, sich genau gleichenden polnisch/deutschen Inschrift gedacht wurde, die jeweils mit einer hebräischen Formel begonnen und beendet wird: „Pei-tet [hier ist verborgen] Tu spoczywa w bogu Józefina Z Jollesów Kaufmannowa ur 9 Sierpnia 1844 um 23 Lutego 1911. Hier ruht in Gott Josefine Kaufmann geb. Jolles, geb. am 9 August 1844 gest. am 23. Februar 1911. Tantzaba“ (52-1-3). In einem anderen Beispiel findet sich auf dem Grabstein des offensichtlich sephardischen, 1912 verstorbenen Abraham Mosseri nach einer langen hebräischsprachigen Inschrift auch die folgende französischsprachige: „Hier liegt A. S. Mosseri, ein Makler aus Saloniki, ein Philanthrop und eine wohltätige Seele […]. Betet für ihn!“ (52A-5-15). Überhaupt bilden die sephardischen Gräber beim I. Tor nach wie vor eine eigene Kategorie in der damaligen Wiener jüdischen Sepulkralkultur. Ein charakteristisches Beispiel ist der byzantinisch anmutende Stein samt maurischem Hufeisenbogen der 1899 verstorbenen Helene Russo (7-1-38). Die Inschrift ist auffallend irreligiös, ausschließlich in deutscher Sprache gehalten und ohne jeden Hinweis auf „Jüdischkeit“: „Hier ruht in Frieden Helene Russo geb. Elias, ein edles Mutterherz, nach einem nur dem Wole [sic] ihrer Kinder geweihtem Leben sanft entschlummert am 21. Juni 1899. Auf Wiedersehen!“ Der hebräischsprachige Teil der Inschrift des 1907 verstorbenen Victor Adutt beginnt mit der Formel „mem-tzadi-kuf “ (matzewet kadosh, heiliges Grabdenkmal), dass zu dieser Zeit häufig in sephardischen Inschriften anstelle der sonst in aschkenasischen Inschriften üblichen Abkürzungen „pei-nun“ oder „pei-tet“ verwendet wurde. Diese Formel identifiziert somit unmittelbar die Grabstätte als sephardisch. Die Laudatio für Victor Adutt ist zudem auffallend
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aufgrund des seltenen und unmissverständlichen Hinweises auf ihre Urheberschaft: „An diesem Grab, mein Teuerstes umschliessend, hängt unentwegt mein thränumflorter Blick, dein trauernd Weib hat Alles hier begraben. Mit dir den Traum von einst’gem Erdenglück. Bertha“ (52A-2-14). Bertha Adutt liegt in einer Grabstätte neben ihrem Mann und hat einen eigenen Grabstein (52A-2-15). Die Formel „mem-tzadi-kuf “ findet sich auch auf dem Grabstein des 1914 verstorbenen Abraham Isack, der zudem in der hebräischsprachigen Inschrift den ungewöhnlichen und ausgefeilten Verweis auf sein Sterben in Form der Abkürzung „nun-lamed-bet-ain“ (verstorben zu seinem Haus der Ewigkeit) enthält (52A-5-19). Das im Kontext der Geschichte der sephardischen Gemeinde wohl wichtigste Grabdenkmal ist ein an der Zeremonienallee gelegener, orientalisch wirkender, senkrechter Stein mit maurischem Bogen, Zinnenkranz und Kuppel, das Michael und Manfred Papo, Vater und Sohn, jeweils zu ihrer Zeit Oberrabbiner (obwohl dieser Titel in diesem Zusammenhang nicht offiziell verwendet wurde) der „türkischen“ Gemeinde (52A-1-37), gedenkt. Neben dem Stil des Grabmals weist wieder einmal die Abkürzung „mem-tzadi-kuf “ das Grab sofort als sephardisch aus. Der hebräischsprachige Teil der Inschrift des 1918 verstorbenen Vater Michael preist ihn in folgenden Worten: Ein gerechter Mann fürchtet hei [ehrerbietige Abkürzung für hashem; Gott] für immer. Glauben und Bildung geeint [also nur in Verbindung zueinander] waren für ihn vollständig. Hei-hei [das ist] der Rabbiner und gerechte Lehrer der sephardischen Religion, heichet-hei-shin [der Weise und Vollkommene], kaf-mem-waw-hei-reish [unser respektierter Lehrer und Rabbiner, der Rabbiner] Michael Papo, sain-tzadi-waw-kuf-lamed [sein gerechtes und heiliges Andenken sei ein Segen… Er war] die Sonne im Rabbineramt in unserer Stadt, das ist die Stadt Wien, jud-ain-alef [schütze sie, oh Herr].
Der deutschsprachige Teil fügt lediglich hinzu: „Michael Papo, Rabbiner der Türk. Sephardischen Gemeinde, geb. 15. Dezember 1843, gest. 29. Januar 1918“. Die zweisprachige Inschrift seines 1966 verstorbenen Sohns Manfred ist vergleichsweise schlicht. Der hebräische Teil nennt ihn „Menachem, Sohn von Michael Papo, Rabbiner und Lehrer in Israel“, wobei Letzteres auf die Religionsgemeinschaft und nicht das Land verweist. Der deutschsprachige Teil lautet: „Rabbiner Prof. Dr. Manfred Papo, 17. X. 1898 – 15. V. 1966. In Memoriam Laura Papo, geb. 1862, Rachel Papo, geb. 1894, Elfriede Papo, geb. 1896“; das waren Manfreds Mutter und Schwestern, die der Shoah zum Opfer fielen. Solche „In Memoriam“-Inschriften sollten in jüdischen Friedhöfen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts infolge der Shoah allgegenwärtig werden. Die hebräischsprachige Inschrift Michael Papos wurde offensichtlich in den letzten Jahren nachgezeichnet: Es finden sich nämlich in der vierten Zeile zwei Fehler (daw
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statt raw, „Rabbiner“, und tzerek statt tzedek, „gerechte“), wobei im ersten Fall ein dalet mit einem reish verwechselt wurde und im zweiten Fall umgekehrt. Solche Fehler häufen sich in den letzten Jahren, was auf nicht fachkundige Arbeit unter den (wohlgemerkt zumeist freiwilligen) Arbeitskräften, die immer wieder einzelne Grabsteine restaurieren, schließen lässt. In einem letzten sephardischen Beispiel findet sich eine inhaltlich imposante, zweisprachige Inschrift auf der schwarzen Marmorstele des 1915 verstorbenen Tevfik Davoud, „II. Sekretär der kaiserl. Ottomanischen Botschaft in Wien, geb. am 31. August 1884 in Konstantinopel, gest. am 9. Oktober 1918“. Abschließend verkündet die Inschrift, er sei „tief betrauert von seiner Mutter, Geschwistern, Verwandten und Freunden“, ein familienorientierter Diskurs, der ein Jahrhundert zuvor fast ausschließlich in den Laudationes für Frauen aufzufinden war (52A-5-21). Ein charakteristisches Beispiel des Lebens einer bürgerlichen Frau im Wien des 19. Jahrhunderts war das der Marie Kompert. Zwar übte sie nicht im formellen Sinne einen „Beruf “ aus, doch führte sie ein reges öffentliches Leben: Sie war Gründungs- und später Vorstandsmitglied – unter anderen philanthropischen Einrichtungen – des im November 1866 gegründeten Wiener Frauenerwerbvereins, der sich zum Ziel machte, „den Witwen und Waisen nach den im Kriege Gefallenen zu Arbeit und Brot zu verhelfen“ (gemeint war der vor Kurzem für Österreich katastrophal ausgegangene Krieg gegen Preußen).167 Hier war sie besonders aktiv in der Schulkommission für die gewerbliche Zeichenschule. Sie übte also nicht nur eine wichtige Funktion im Bildungswesen und im öffentlichen Leben aus, mit der dazu gehörigen öffentlichen Anerkennung, sie betätigte sich auch aktiv in einer patriotisch gesinnten und sozial orientierten Organisation. Das Österreichische Biographische Lexikon fasste dies so zusammen: „Dem unermüdlichen, fast 25 Jahre dauernden Wirken K[ompert]s war damit ein schöner Erfolg beschieden“.168 Doch solche außerhäuslichen, öffentlichen Tätigkeiten von Frauen blieben im bürgerlichen Berufs- und Berufungsklima des 19. Jahrhunderts meist unerkannt.169 Oben wurde die Inschrift des Ehrengrabs ihres Manns Leopold analysiert. Dessen herrschaftliche Inschrift mit ihrer Aufzählung aller seiner Ämter und Titel samt dem Zusatz „etc.“ steht im 167 Frauenbildung und die großen Frauen in Mariahilf, http://www.bezirksmuseum.at/de/ bezirksmuseum_6/bezirksmuseum/geschichtstexte/contentfiles/641/Bezirke/Bezirk-06/ Frauenbildung_-_Text_29.09.2015.pdf, letzter Zugriff: 31. August 2020, S. 2. 168 Kompert, Marie, https://www.biographien.ac.at/oebl/oebl_K/Kompert_Marie_1821_1892. xml, letzter Zugriff: 31. August 2020. 169 Vgl. hierzu grundlegend Bock, Gisela/Duden, Barbara: Arbeit aus Liebe – Liebe als Arbeit. Zur Entstehung der Hausarbeit im Kapitalismus, in: Gruppe Berliner Dozentinnen (Hg.): Frauen und Wissenschaft. Beiträge zur Berliner Sommeruniversität für Frauen, Berlin 1977, S. 118–199 sowie Sachße, Christoph: Mütterlichkeit als Beruf. Sozialarbeit, Sozialreform und Frauenbewegung 1871–1929, Weinheim 2003. Ich danke Jessica Richter für diese Hinweise.
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markanten Gegensatz zu der kleinen, am Fuße des Grabsteins angebrachten Tafel für seine Frau Marie. Diese verkündet einfach: „Marie Kompert geb. Löwy verw. Pollak, geb. 4. November 1822, gest. 29. März 1892“. Marie Kompert ist beispielhaft für die jüdischen Frauen Wiens im späten 19. Jahrhundert, die in der Geschichtsschreibung der männlich dominierten Gemeinde kategorisch ignoriert wurden. Somit ist dieser Grabstein auch exemplarisch für das Wertesystem in der Gedenkkultur der Kultusgemeinde, das hier zum Ausdruck kommt: Ihr Mann, nicht sie, verdiente ein Ehrengrab samt ehrenvoller Widmung; sie verdiente bloß die Erwähnung ihres Namens und ihrer Lebensdaten. Insgesamt waren die vielen Frauen, deren Geschichten in Studien der letzten Jahre wie beispielsweise von der Historikerin Michaela Raggam-Blesch aufgearbeitet wurden, in den Augen der damaligen Kultusgemeinde nicht des ehrenvollen Gedenkens würdig.170 Vor dem Jahre 1926, als der Opernsängerin Elise Frei ein Ehrengrab am neuen jüdischen Friedhof beim IV. Tor gewidmet wurde (3-4-3), erhielt nicht eine einzige jüdische Frau in Wien diese Anerkennung. Seitdem scheint auch nur eine weitere Frau diese Ehre erhalten zu haben, nämlich die 1989 verstorbene Theaterleiterin Stella Kadmon (IV. Tor, 16A-13-5). Frauen wie Marie Kompert wurden in den Ehrengräbern ihrer Männer beigesetzt und wurden der Erinnerung ihrer Männer untergeordnet. Sogar das Geburtsjahr wurde in Marie Komperts Inschrift irrtümlich angemerkt: Sie wurde 1821, nicht 1822, geboren. Ein Gegenbeispiel ist das an der Zeremonienallee gelegene Grabdenkmal der 1907 verstorbenen Berta Krüger, Mitbegründerin und erste Präsidentin des Kaiserin Elisabeth-Lehrmädchenhorts, das nach 1918 in Dr. Krüger-Heim für Lehrmädchen und jugendliche Arbeiterinnen umbenannt wurde und sich in der Malzgasse in der Leopoldstadt befand. Das Heim erfuhr infolge des Ersten Weltkriegs eine rasche Erweiterung und diente schließlich unter dem abgekürzten Namen „Krügerheim“ als „Zentralstelle für die Erziehung und Fortbildung jüdischer Mädchen“. Es wurde unmittelbar nach dem „Anschluß“ enteignet und aufgelöst.171 Innerhalb der jüdischen Gemeinde genoss Krüger großes Ansehen, wie aus dem statistischen Jahrbuch von Ascher Arnold aus dem Jahre 1911 hervorgeht, wo er „der leider allzu früh verschiedenen, unvergeßlichen Frau kais. Rat Dr. B. Krüger“ gedachte.172 Die Inschrift auf ihrem Grabstein lautet: „Tief betrauert von ihrem Gatten und ihren Kindern ruhet hier Berta Krüger, Begründerin und erste Praesidentin des Kaiserin Elisabeth Lehrmädchen und Arbeiterinnen Heim, gestorben am 3. April 1907. Es lauschte Deine Menschlichkeit dem Hohelied vom Menschenleid“ (51-1-11). Somit wurde 170 Raggam-Blesch: Zwischen Ost und West. 171 Vgl. Malleier: Jüdische Frauen, S. 127–129. 172 Ascher: Die Juden, S. 21.
Grabsteine, Sepulkralepigraphik und Symbolik im Friedhof beim I. Tor
Berta Krügers Philanthropie und ihr Lebenswerk in markantem Gegensatz zum Grabstein Marie Komperts gewürdigt, doch bezeichnenderweise handelt es sich hier nicht um ein Ehrengrab der Kultusgemeinde, was sich alleine schon in der Inschrift zeigt: Waren die von der Kultusgemeinde in Auftrag gegebenen Ehreninschriften gekennzeichnet von ausschweifend formellen Laudationes der Verstorbenen als Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, zeichnet sich die Inschrift für Berta Krüger durch ihren deutlich persönlichen Charakter ab, nennt sie zwar deren Errungenschaften, aber doch erst an zweiter Stelle nach der familiären Botschaft ihrer Angehörigen, die vermutlich auch die UrheberInnen der Inschrift waren. Somit ist dieses Gedenken des Wirkens Berta Krügers – stellvertretend für viele ihrer Zeitgenossinnen im öffentlichen Leben Wiens – nicht repräsentativ für die offizielle Gedenkkultur der Kultusgemeinde. Auch in den Grabreden Moritz Güdemanns aus dem späten 19. Jahrhundert zeichnet sich ein Frauenbild ab, das sich seit der Zeit des Währinger Friedhofs wenig geändert zu haben schien. So gedachte er paradigmatischer Weise der 1892 verstorbenen Bettina Freifrau von Rothschild (6-29-51) mit den Worten: „Was sie gewesen ist, das künden Worte überhaupt nicht; das fühlt der Gatte, das fühlen die Eltern, die Kinder und Geschwister.“173 Im Gegensatz zu ihren männlichen Zeitgenossen stand man ihr keine Anerkennung irgendwelcher Leistungen außer der Tatsache zu, dass sie Ehefrau und Mutter war. Dennoch zeugt der Sepulkraldiskurs beim I. Tor auch von einer weitgehenden Angleichung im Gedenken von Männern und Frauen, gerade durch die wachsende Betonung der Familie über die Gemeinschaft als wichtigster persönlicher Bezugspunkt. Diese zunehmende Geschlechtergleichstellung ging zudem Hand in Hand mit dem allmählichen Schwinden der traditionellen religiösen Sprache der Erinnerung. Es häuften sich die Fälle, in denen die Inschriften ausschließlich aus persönlichem, emotionalem Inhalt bestanden und oft dem verstorbenen Ehepaar statt den einzelnen Männern und Frauen gedachten. So wurden beispielsweise der 1905 verstorbene Julius Löwy und seine 1928 verstorbene Frau Rosa zusammen auf ihrer gemeinsamen Marmorstele mit der einfachen Laudatio genannt: „diese Kette reisse nie“. Über den Namen und die Daten der Verstorbenen ist ein Zirkel innerhalb einer Kette eingemeißelt (19-56-34). Der in Böhmen geborene Julius Löwy war seinerzeit in Wien ein bekannter Journalist, dennoch wurde ihm in der Inschrift nicht mehr als seiner Frau gedacht, wie es etwa in den Ehrengräbern von Kultusgemeindefunktionären üblich gewesen war. Ähnlich zeigt sich der gemeinsame Grabstein des 1906 verstorbenen Simon Schablin und seiner 1936 verstorbenen Frau Lucie: Unter zwei in Kupfer geschlagenen und ineinandergreifenden
173 Güdemann: Grabreden, S. 51.
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Bäumen, die zwar an das antike jüdische Grabsymbol des etz cha’im (Lebensbaum) erinnern mögen, wurde die (wenigstens im formellen Sinne) irreligiöse und ausschließlich persönliche Inschrift „Eine Seele, Eine Liebe, Eine Kraft“ angebracht (51-17-40A).174 Die wie in diesen Beispielen ausschließlich auf Deutsch verfasste Inschrift der 1918 verstorbenen Sophie Schnitzer und ihres 1928 verstorbenen Manns Adolf zitierte zudem eine leicht umgeschriebene Passage aus Friedrich Schillers „Elegie auf den Tod eines Jünglings“ (1781): „Erde mag zurück in Erde stäuben, Fliegt der Geist doch aus dem morschen Haus, Deine Asche mag der Sturmwind treiben, Deine Liebe dauert ewig aus“ (53B-29-55). Die Säkularisierungstendenzen der Ära führten mitunter auch zu Grabdenkmälern, die weder aufgrund des Stils noch der Sprache auf irgendeine Weise religiös gedeutet werden können oder überhaupt irgendeine Art der „Jüdischkeit“ ausdrücken. Zum Teil überwog das künstlerische Element gegenüber dem sprachlichen Gedenken, vor allem bei den Denkmälern von Kulturschaffenden und Kunstmäzenen, von denen viele dennoch im jüdischen Friedhof begraben wurden. Charakteristisch für diese Tendenz ist der Grabstein des 1907 verstorbenen Komponisten Ignaz Brüll, einem Kollegen und Freund von Johannes Brahms, und seiner 1932 verstorbenen Frau Marie (20-1-23). Der einfache, weiße Stein, der Oskar Marmorek als Architekten ausweist, ist mit einer kupfernen Harfe versehen, ein Hinweis auf Brülls Beruf, und enthält ansonsten nur die schlichte Inschrift: „Ignaz Brüll, geboren 7. Nov. 1846, gestorben 17. Sept. 1907. Marie Brüll geb. Schosberg, 24. Mai 1861, 27. Nov. 1932“. Neben dem völligen Fehlen religiöser oder explizit „jüdischer“ Attribute ist das Denkmal vor allem ein Beispiel für das egalitäre Gedenken von Mann und Frau – selbst die Nennung des Mannes vor seiner Frau ist auf seinen früheren Tod zurückzuführen. Weitere Beispiele irreligiöser, kunstvoller Grabdenkmäler sind das neoklassizistische Denkmal der Familie Nirenstein, dessen 1921 verstorbener Patriarch Jacob die allererste Ausstellung der Werke Egon Schieles organisierte und auch Oskar Kokoschka förderte (5B-1-7), oder das ebenso neoklassizistische Denkmal der Familie des 1905 verstorbenen Moritz Bauer, dessen 1925 verstorbene Tochter Adele, die unter ihrem Ehenamen Bloch-Bauer und als Modell für die wohl berühmtesten Gemälde Gustav Klimts bekannt wurde (19-1-83). Adele wurde allerdings nach ihrem Tod eingeäschert – eine völlig neue und äußerst progressive Bestattungsart im Wien der 1920er-Jahre und ein wahrhaftiger Bruch mit der jüdischen „Tradition“. Ihre Asche wurde im Urnenhain der wenige Jahre zuvor errichteten Feuerhalle bestattet (MR-47-1G). Diese
174 Vgl. das Photo und die Diskussion zu diesem Grabstein in Corbett: A „Capable Wife“, S. 93.
Grabsteine, Sepulkralepigraphik und Symbolik im Friedhof beim I. Tor
Entwicklungen in der Wiener jüdischen Sepulkralkultur (inklusive die Feuerbestattung), wenngleich sie nur einen Teil der Gemeinschaft der Toten betrafen, sollten sich als Kristallisationspunkte in Konflikten über „authentische“ und daher angemessene „jüdische“ Bestattungspraktiken in den folgenden Jahren herausstellen. Diese Ära sah auch die Entwicklung von zunehmenden Grabsteinverzierungen, die auch immer künstlerischer gestaltet wurden. Der Grabstein der 1906 verstorbenen Josefine Mendl besteht beispielsweise aus Kalkstein und ist ausschließlich bildlich graviert – mit Blumen und einer Sonne, deren Strahlen hinter einer Wolke und einem Ast hervorleuchten (20-1-96). Einzig die davor liegende Grabplatte ist mit einer einfachen deutschsprachigen Inschrift versehen, die zudem am Fußende das wappenähnliche Monogramm „HFM“ birgt: Dies war das Logo der Wiener Brot- und Gebäck-Fabrik, die Josefine Mendls 1917 hier beigesetzter Sohn Heinrich mitbegründet hatte und die 1938 als Anker Brot Firma „arisiert“ wurde. HFM steht für die Initialen der Begründer Heinrich und Fritz Mendl. Somit finden die in diesem Zeitalter so beliebten Nennungen von Professionen und Adelstiteln hier ihr Pendant in der bildlichen Symbolik. Fritz wurde nach seinem Tod 1929 laut Todesanzeige eingeäschert, es findet sich aber kein Hinweis auf eine Grabstätte. Auf zahlreichen Grabsteinen des Fin de Siècle fungierte ferner die Jugendstilschrift als Verzierungselement, so beispielsweise auf der einfachen schwarzen Stele des 1907 verstorbenen k.u.k. Polizei-Bezirks-Arztes Ignaz Steinberger (50-58-7). Ein ausgefeiltes, modernes und sichtlich vom Jugendstil inspirierte Denkmal ist das marmorne und mit metallenen Blumen verzierte Grabdenkmal des 1914 verstorbenen, aus Fulnek in Mähren stammenden Großindustriellen Friedrich Pollak, das von der Firma Wulkan & Neubrunn geschaffen wurde (7-1-18). Pollak war Inhaber eines der größten Modewarengeschäfte Österreichs. Seine Töchter, Ida und Bertha, kamen beide 1943 in Theresienstadt um. Außergewöhnlich sind die Bukranien auf dem von Max Fleischer entworfenen Denkmal der Familie des 1906 verstorbenen Bernhard Steinhof an der Zeremonienallee: Solche Abbildungen lebender Formen ragen sogar in den säkularsten jüdischen Friedhöfen heraus (7-1-31). Das seltsamste Symbol beim I. Tor ist jedoch zweifellos das in Lorbeeren gehüllte Christogramm – die Kombination der griechischen Buchstaben chi und rho, die Anfangsbuchstaben des Namen Christus – auf dem monumentalen, neobarocken Marmorstein des 1903 verstorbenen Heinrich Bloch (7-30-44). Was dieses Symbol hier bedeutet, steht zur Debatte; auf alle Fälle unterstreicht es den Grad an Säkularität sowie den Liberalismus vieler der hier Bestatteten. Ähnlich herausragend, wenngleich nicht ganz so seltsam ist das alleinstehende lateinische Wort pax auf dem Architrav des monumentalen, neoklassizistischen Mausoleums des 1917 verstorbenen Norbert Wechsler (20-24-90).
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Es finden sich beim I. Tor auf mehrfachen Grabsteinen Winkelmaß und Zirkel, was in der Historiographie oft kategorisch als Freimaurersymbol dargestellt wird.175 Dies mag in manchen Fällen zutreffen, waren solche Vereine im späten 19. Jahrhundert doch recht weit verbreitet, doch in bestimmten Fällen ist dies offenkundig eine Fehlinterpretation, so beispielsweise auf dem monumentalen schwarzen Marmorstein des 1908 verstorbenen Carl Mayer, der in seiner Inschrift explizit als „Architekt und Stadtbaumeister“ ausgewiesen wird (51-1-94). Insbesondere mit Hinsicht auf die antisemitischen Klischees einer vermeintlichen Verbindung zwischen Juden, Freimauerei und Verschwörungen sollte solchen Interpretationen vorsichtig begegnet werden. All diese Entwicklungen zogen freilich nicht das Schwinden religiöser Symbolik mit sich: Die zu diesem Zeitpunkt als traditionellste, spezifisch „jüdisch“ wahrgenommenen Symbole – so etwa die Kohanimhände, der Lewitenkrug und inzwischen auch der Davidstern – finden sich überall am Friedhof beim I. Tor. Vor allem der Davidstern konnotiert ein sehr breites Verständnis der „Jüdischkeit“ und kann sowohl religiös, gemeinschaftlich oder sogar nationalistisch gedeutet werden. Für die Interpretation, wie oben beispielhaft am Fall Emanuel Webers dargelegt, ist die Inschrift wegweisend. Diese Ära der jüdischen Sepulkralepigraphik war auch von der Wiederbelebung antiker jüdischer Symbolik (wenn auch nicht zwingend ausschließlich jüdisch) geprägt: Hierzu gehören vor allem die menora, der siebenarmige Leuchter, wie beispielsweise auf dem Grabstein der 1881 verstorbenen Sarah Melzer (6-19-27), oder die Palmenbäume respektive -zweige wie etwa auf dem bereits erwähnten Grabstein Ludwig August Frankls, der allerdings auch reichlich mit anderen Symbolen ausgeschmückt ist, darunter Helme, die auf seinen Rittertitel, oder die Schale der Hygieia, die auf seine Ausbildung als Arzt hinwiesen – die Üppigkeit seines Grabdenkmals ist etwas ironisch angesichts seines oben zitierten Hohns gegenüber der modernen Grabdenkmäler beim I. Tor.176 Wie der Sprachwissenschaftler Michael Studemund-Halévy argumentierte, kann das „Wiederentdecken“ antiker Sepulkralsymbolik sowohl als Konstruktion einer „normativen“, „jüdischen“ Vergangenheit gedeutet werden wie auch als Bruch mit der (eigentlichen) seit dem Mittelalter sich fortlaufend entwickelnden jüdischen Sepulkraltradition.177 Insofern ist wieder Vorsicht geboten, bevor die Wiener jüdische Sepulkralkultur des Fin de Siècle einfach zwischen den binären Positionen „Tradition“ und „Assimilation“ wegerklärt wird: Vielmehr zeigen diese Beispiele, so auch das vermeintliche „Wiederentdecken“ einer antiken 175 So z. B. in Ackerl/Bouchal/Schödl: Der schöne Tod, S. 120 und in Steines: Hunderttausend Steine, S. 328. 176 Vgl. allgemein hierzu Cohn: Der jüdische Friedhof, S. 37–38. 177 Studemund-Halévy: Grenzenlos und globalisiert, S. 131–135.
Zum Vergleich: Der Döblinger Friedhof
Tradition, die der inzwischen fast 700 Jahre alten Wiener jüdischen „Tradition“ nie eigen war, dass die „Jüdischkeit“ andauernd, das heißt von Generation zu Generation neu ausgehandelt wurde. Die Frage nach „jüdischer“ respektive „unjüdischer“ Symbolik sollte in der Friedhofsverwaltung der Zwischenkriegszeit allerdings zum wesentlichen Streitpunkt werden. 5.4
Zum Vergleich: Der Döblinger Friedhof
Der Döblinger Friedhof im 19. Bezirk, auf dem noch viele prunkvolle Grabdenkmäler des Fin de Siècle erhalten sind, ermöglicht einen aufschlussreichen Vergleich mit dem jüdischen Friedhof beim I. Tor – sowohl aufgrund der Gemeinsamkeiten wie auch der Kontraste. Der Döblinger Friedhof wurde 1885 als überkonfessioneller Friedhof eröffnet, einer aus einer Reihe von Friedhöfen, die aufgrund des Mangels an Bestattungsräumen trotz der Eröffnung des Wiener Zentralfriedhofs im späten 19. Jahrhundert in den damals noch nicht eingemeindeten Vororten errichtet wurden.178 Döbling war damals wie heute ein wohlhabender, bürgerlicher Wohnbezirk. Somit sollte der neue Friedhof das Prestige der Döblinger BürgerInnen reflektieren.179 Unter den vielen, oft durchwegs säkularen bürgerlichen Familien, die dort bestattet wurden, waren auch viele mit jüdischen oder teiljüdischen Wurzeln, wie beispielsweise die Familien Wertheimstein, Todesco, Gomperz, Bettelheim und Kuffner, darunter Großindustrielle, KunstmäzenInnen und sogar Kultusgemeindevorsteher. Zu den Personen mit (teil-)jüdischen Wurzeln – wobei diese Identifizierung in Döbling manchmal schon problematisch wird –, die in fast siebzig Ehrengräbern der Stadt Wien auf diesem Friedhof liegen, zählen die 1946 verstorbene Schriftstellerin Helene Bettelheim (30-4-5), der 1912 verstorbene Philosoph und Philologe Theodor Gomperz (17-6), die 1925 verstorbene Opernsängerin Caroline von Gomperz-Bettelheim (32-3-22), der 1936 verstorbene Politiker Josef Redlich (34-1-15) und – zweifellos der berühmteste von allen – der 1904 verstorbene Publizist und Begründer des zionistischen Kongresses Theodor Herzl (I1-G130; die Leiche Herzls wurde 1949 nach Israel überführt, das Ehrengrab der Stadt Wien besteht aber heute noch). Allein der Familie Wertheimstein, die eine herausragende Rolle im Döblinger Gemeindeleben spielte (das Bezirksmuseum befindet sich beispielsweise heute in der ehemaligen Villa Wertheimstein), sind drei Ehrengräber gewidmet, nämlich für die 1890 verstorbene Rosalia samt fünf weiteren Angehörigen (I2-3-5/5A), den 1883 verstorbenen Leopold 178 Vgl. Ackerl/Bouchal/Schödl: Der schöne Tod, S. 41. 179 Vgl. Pemmer, Hans/Lackner, Ninni: Der Döblinger Friedhof. Seine Toten, seine Denkmäler, Wien 1947.
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– wohlgemerkt der erste Präsident der Kultusgemeinde, der erstaunlicherweise nicht in einem Friedhof der Kultusgemeinde bestattet wurde – samt vier weiteren Angehörigen (I1-G1-1) und den 1899 verstorbenen Wilhelm samt seiner 1923 verstorbenen Frau Josefine (I5-6-2). Die Grabdenkmäler dieser großbürgerlichen Familie wurden von den bekanntesten Wiener Architekten ihrer Zeit entworfen, darunter an erster Stelle Max Fleischer. Am Döblinger Friedhof wird die komplexe Verflechtung von Gemeinschaften, von kulturellen und sozialen Milieus und von Netzwerken der Zugehörigkeit des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts wie an kaum einer anderen Stelle in Wien greifbar. Hier ist die Grenze zwischen dem „Jüdischen“ und dem „Nichtjüdischen“ verschwommen, wenn nicht gar verwischt. Heute stellt dieser Bestattungsraum immer noch einen über- bzw. nichtkonfessionellen Friedhof dar, obgleich die Mehrzahl der Grabstätten und somit die überwiegende Erscheinung des Friedhofs christlich ist, wie sich am Vorherrschen von Grabkreuzen zeigt. Nach jeder jüdisch-religiösen Regelung stellt dieser keinen jüdischen Friedhof dar, obwohl er bis heute noch auf offiziellen Plänen mit einer „israelitischen Abteilung“ gekennzeichnet ist, wie auch aus dem „I“ bei einigen der oben genannten Grabstätten ersichtlich ist. Ein Tätigkeitsbericht der Kultusgemeinde nach der Shoah stellte klar, es wurde „lange vor 1938 […] zwischen der Kultusgemeinde und der Stadt Wien eine Vereinbarung getroffen, wonach ein kleiner Teil dieses Friedhofes nur für die Beerdigung von Juden verwendet werden soll[te]“.180 Dieses am östlichen Ende des Friedhofs gelegene Areal ist nicht von den es umgebenden Gruppen durch eine Mauer oder sogar einer Hecke abgetrennt und besteht aus einer Mischung von jüdischen, christlichen und nicht zuordenbaren Grabstätten. Andererseits, wie auch die oben genannten Ehrengräber sowie eine Vielzahl an Grabstätten mit unmissverständlich jüdischen Symbolen und Diskursen zeigen, wurden Jüdinnen und Juden auch in allen anderen Abteilungen des Friedhofs bestattet. Genauso finden sich heute am Döblinger Friedhof verstreut muslimische, chinesische und andere Grabstätten. Die „israelitische Abteilung“ ist also weder ausschließlich jüdisch noch wurde sie jemals von der Kultusgemeinde verwaltet, sondern vom Friedhofsamt der Stadt Wien, heute die Friedhöfe Wien GmbH. Die Vereinbarung zwischen der Kultusgemeinde und der Stadt Wien legte fest, dass Grabstätten entweder auf Friedhofsdauer erworben werden konnten oder dass der Pachtvertrag alle zehn Jahre erneuert werden musste. Sollte dies nicht geschehen oder „aber auch wenn das Grab nicht gepflegt wird“, so fiel sie an die Stadt Wien, die die
180 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Die Tätigkeit der Israelitischen Kultusgemeinde Wien 1960 bis 1964, Wien 1964, S. 169.
Zum Vergleich: Der Döblinger Friedhof
Grabstätte auflassen und wieder verwenden durfte.181 Diese Praxis – von der räumlichen Organisation bis hin zur Bestattungspraxis – kann nicht einmal im liberalsten Sinne als „jüdisch“ verstanden werden, wenn „Jüdischkeit“ nach traditionellen religiösen Normen verstanden wird. Viele der Grabdenkmäler sind weder mit christlichen noch jüdischen Symbolen oder Diskursen gekennzeichnet, und die meisten Inschriften sind ausschließlich in deutscher Sprache verfasst. Die Epigraphik verweist auf Adelstitel und patriarchalische Dynastien, so beispielsweise bei der „Ruhestätte der freiherrlichen Familie Eduard von Todesco“ (I1-G1-2) oder auf professionelle und akademische Titel, so beispielsweise auf dem Grabstein der Familie Jerusalem, darunter der 1923 verstorbene „Dr. Wilhelm Jerusalem, Professor a.d. Universität Wien“ und „In Memoriam“ sein 1942 in Auschwitz ermordeter Sohn „Oberlandesgerichtsrat Dr. Erwin Jerusalem“ (I6-19). Unter der Symbolik findet man Wappen geadelter Familien, etwa auf dem Grabstein des eben erwähnten Leopold von Wertheimstein. Viele der kunstvollen Denkmäler brechen insgesamt mit jeder zumindest religiösen Vorstellung „jüdischer“ Grabmalkunst, so auch die überlebensgroße Statue des 1903 verstorbenen Geschäftsmannes Heinrich Munk (I1-G1-31). Manche Grabsteine wurden wiederum mit explizit jüdischer Symbolik verziert, wie jener der 1913 verstorbenen Franziska Loewit (I2-2-7), der segnende Priesterhände trägt, oder die „tantzaba“-Formel in der Inschrift der 1914 verstorbenen Julie Kohn (I4-1-10). Am prominentesten tritt in diesem Zusammenhang der Davidstern auf, wobei gerade an der Grabstätte Theodor Herzls dieser in Betracht seines Lebens und Wirkens wohl eher als „nationales“, denn als religiöses Symbol gesehen werden sollte. Es ist wohl kein Zufall, dass Herzl, ein Kosmopolit, wenngleich jüdischer „Nationalist“, der aber völlig zerstritten war mit dem jüdischen „Establishment“ seiner Zeit, allen voran der Kultusgemeinde, seinen 1902 verstorbenen Vater Jacob und dann zwei Jahre später sich selbst in diesem überkonfessionellen Friedhof begraben ließ.182 Freilich finden sich in Döbling auch eher traditionelle zweisprachige Inschriften auf jüdischen Grabdenkmälern wie beispielsweise auf dem Grabstein des Ehepaars Adolf und Elisabeth Neurath (1891 bzw. 1937 verstorben, I2-8-3), wobei dennoch die Bestattung in einem nach religiösen Kriterien „nichtjüdischen“ Friedhof in solchen Fällen beachtenswert ist. Weiterhin gibt es eine Reihe von Grabsteinen, auf denen verschiedener Generationen bzw. Individuen, mal mit jüdischen, mal mit christlichen Symbolen 181 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Die Tätigkeit der Israelitischen Kultusgemeinde Wien 1960 bis 1964, S. 169. 182 Vgl. Corbett, Tim: „Was ich den Juden war, wird eine kommende Zeit besser beurteilen…“. Myth and Memory at Theodor Herzl’s Original Gravesite in Vienna, in: S:I.M.O.N. – Shoah: Intervention. Methods. Documentation 3/1 (2016).
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gedacht wurde, beispielsweise der Grabstein des 1888 verstorbenen Moritz Ritter von Goldschmidt und Familie samt Davidsternen und Kreuzen (I1G1-20). Das ausführlichste Beispiel, das in diesem Zusammenhang genannt werden muss, ist der Grabstein der Familie Engel von Jánosi (I1-G1-33). Des 1903 verstorbenen Familienpatriarchs Adolph und seiner 1914 verstorbenen Frau Anna wird jeweils mit einer eher traditionellen zweisprachigen Inschrift samt Bibelzitaten gedacht, während an ihren Sohn, „Leutnant i.d.R.“ Rudolf, „Bes. d. Militärverdienstkreuzes III. mit Kriegsdek. u. Schwerten d. silbernen Tapferkeitsmedaille u.d. Karl-Truppenkreuzes“, der 1917 „im Sturmangriff bei Koniuchy [Litauen] den Heldentod“ fand, mit einer lateinischen Laudatio erinnert wird: „Dulce et decorum est pro patria mori“ (Es ist süß und ehrenwert, für sein Land zu sterben). Der 1975 im amerikanischen Exil verstorbene, aber im Familiengrab beigesetzten Schwiegertochter Marie wird mit den englischen Worten „Going home“ ([Sie] kehrt heim) gedacht – nicht bloß ein Verweis auf das Sterben, sondern auch eine ergreifende Deutung der Beisetzung im Familiengrab als Rückkehr in die „Grabstätte der Väter – während für den 1978 in Wien verstorbenen Enkel „DDr.Dr.h.c. Friedrich Engel-Jánosi“ unter einem Kreuz auf Italienisch gedacht wird: „comporre la sua vita“ (er hat sein Leben komponiert). Der Döblinger Friedhof reflektiert somit eine säkulare, bürgerliche Wiener Kultur, vor allem im Fin de Siècle, in der es nicht mehr nützlich oder gar möglich war, zwischen dem „Jüdischen“ und „Christlichen“ respektive „Nichtjüdischen“ in der Sepulkralkultur zu differenzieren, obgleich viele der dort Bestatteten offensichtlich noch ein tiefes Zugehörigkeitsgefühl zum Judentum oder zu einer wie auch immer gearteten jüdischen Kultur hegten. Dieses orientierte sich aber hier bereits außerhalb der Sphäre der institutionalisierten Gemeinde. 5.5
Zwischenepochal: Die Soldatengräber beim I. Tor, Gruppe 76B
Die k.u.k. Armee wird schon lange als eine der wenigen wahrhaft übernationalen und zentripetalen Kräfte in der Habsburgermonarchie erkannt, weshalb es nicht überrascht, dass sich in der Sepulkralepigraphik beim I. Tor oft Hinweise auf den Militärdienst finden.183 Diese breiteten sich quantitativ mit dem Ersten Weltkrieg enorm aus und sind vor allem auf den Grabdenkmälern des jüngsten Teils des Friedhofs in der Gruppe 76B zu finden, die sich zu einer Art jüdischen Soldatenfriedhof wandelte. Vor allem das Offizierskorps, wie der Historiker Daniel Unowsky darlegte, „war übernational in seiner Ideologie
183 Das Konzept „zentripetaler Kräfte“ wurde geprägt von Jászi: The Dissolution, S. 134, 144.
Zwischenepochal: Die Soldatengräber beim I. Tor, Gruppe 76B
und multiethnisch in seinem Personal. Treue gegenüber der Person des Kaisers lag am Herzen des dynastischen Patriotismus, der in den Mitgliedern der Streitkräfte gedrillt wurde“.184 Wie beliebt die Armee als Prüfgelände für den Patriotismus und die Zugehörigkeit jüdischer Österreicher in den späten Tagen der Monarchie war, zeigte sich in der Tatsache, dass gute zehn Prozent der etwa 300.000 im Ersten Weltkrieg in der k.u.k. Armee dienenden Juden Offiziere waren. Dies war auch ein wechselseitiges Verhältnis, da der Staat und nicht zuletzt der Kaiser sich dieses jüdischen Patriotismus durchaus bewusst waren, wie es der Historiker Robert Wistrich festhielt: „Regelmäßig lobte der Kaiser die Haltung der tapferen ‚Israeliten‘ als ‚sehr patriotisch‘ und ‚schwarz-gelb‘ […]. Der Kaiser als Inkarnation des Patriotismus diente um 1900 nicht zuletzt als einigendes Band untereinander.“185 Der Militärhistoriker Erwin Schmidl zählte mindestens sieben jüdische Generäle in den letzten Jahren des Bestehens der k.u.k. Armee.186 Unter den jüdisch-österreichischen Soldaten im Ersten Weltkrieg befanden sich auch viele der später mit der österreichischen Kultur der Zwischenkriegszeit so verbundenen Persönlichkeiten wie Joseph Roth, Arnold Schönberg, Franz Werfel und Stefan Zweig.187 Ihre Kriegserfahrungen sowie die Erinnerung an den Staatspatriotismus in der Monarchie sollten eine große Rolle in ihren unterschiedlichen Weltanschauungen danach spielen, die vom Kosmopolitismus bis zum Österreich-Patriotismus reichten. Charakteristisch für den gipfelnden Patriotismus der Jahre 1914/18 ist die Inschrift für den in den ersten Kriegswochen im Alter von 29 Jahren gefallenen Oberleutnant Wilhelm Elias, die verkündet: „Hier ruht k.u.k. Oberleutnant Wilhelm Elias, geboren im Jahre 1885 in Wien. Er fand am 23. Oktober 1914 bei Jaroslau [Jarosław, Galizien] den Heldentod für das Vaterland. Von seiner Gattin fern, Elias seinen Eltern und Geschwistern aufs schmerzlichste betrauert. Friede seiner Asche!“ (76B-1-14A). Wilhelms Brüder Adolf und Leo wurden 1928 bzw. 1958 ebenfalls in diesem Grab beigesetzt. Der Vaterlandsdiskurs ist in den Inschriften der Kriegsgräber dieser Jahre fast allgegenwärtig, so auch auf dem Grabstein des 1914 „seinen im Kampfe für das Vaterland erlittenen schweren Verletzungen erl[e]gen[en]“ Emil Ornstein, „k.u.k. Kadett i.d. Res. des bosn. herz. Inf. Rgt. No. 2“, dessen Grab sich allerdings nicht in der Gruppe 184 Unowsky, Daniel: Staging Habsburg Patriotism. Dynastic Loyalty and the 1898 Imperial Jubilee, in: Judson, Pieter/Rozenblit, Marsha (Hg.): Constructing Nationalities in East Central Europe, New York 2006, S. 148. 185 Wistrich, Robert: Aufstieg und Fall des Wiener Judentums, in: Patka, Marcus (Hg.): Weltuntergang. Jüdisches Leben und Sterben im Ersten Weltkrieg, Wien 2014, S. 36–37. 186 Schmidl, Erwin: Jüdische Soldaten in der k.u.k. Armee, in: Patka, Marcus (Hg.): Weltuntergang. Jüdisches Leben und Sterben im Ersten Weltkrieg, Wien 2014, S. 49. 187 Vgl. hierzu den Anhang Biografien, in: Patka, Marcus (Hg.): Weltuntergang. Jüdisches Leben und Sterben im Ersten Weltkrieg, Wien 2014, S. 239–242.
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76B befindet, sondern in einem Familiengrab, wo seine Eltern Filip und Anna später auch beigesetzt wurden (51-18-95). Ähnlich findet sich der Begriff des „Heldentods“ auf unzähligen Grabsteinen, so beispielsweise des 1916 im Alter von 22 Jahren in Vodil Vrh in Slowenien an der italienischen Front gefallenen „stud. jur., Fähnreich des Geb. Art. Rg. 2., Bes. d. silb. u. bronz. TapferkeitsMedaille“ Julius Flinker (76B-1-8). Diese Verweise auf Vaterland und Heldentod sowie die Auflistung der vielen im Kriegsdienste gewonnenen Ehrenabzeichen, die oft neben bürgerlichen Titeln und Ämtern angeführt wurden, bringen das ausgeprägte „Österreichertum“ dieser Generation eindringlich zum Ausdruck. Eine markante Neuerscheinung aus den Kriegsjahren sind die „In Memoriam“-Inschriften, so beispielsweise auf dem Grabstein der 1916 verstorbenen Julie Wachsler, deren 1918 in Kiew verstorbener und offensichtlich dort bestatteter Sohn Siegfried lediglich mit der Zeile: „In Memoriam Oblt. Siegfr. Wachsler, geb. 1883 – gest. Kriegsjahr 1918 in Kiew“ (52-18-39) erwähnt wird. Dieser Hinweis wurde bestimmt durch den Vater Jakob beigefügt, der 1934 ebenfalls in diesem Grab beigesetzt wurde. In diesen Jahren schon schrecklich genug als Verweis auf die junge Generation, die ihr Leben in weit von ihrer Heimat entfernten Schlachtfeldern ließen und oft dort bestattet wurden, sollten sich die „In Memoriam“-Inschriften nach 1945 fast allgegenwärtig auf den Grabsteinen von Angehörigen der Opfer der Shoah ausbreiten. In manchen Fällen scheinen allerdings die Überreste von fern verstorbenen Kriegern nach Hause gebracht und dort bestattet worden zu sein, so beispielsweise im Fall des 1917 in der Zweiten Isonzoschlacht verwundeten und in Laibach/Ljubljana im damaligen Krain verstorbenen Zugführers August Fantl (76B-3-11). Eine in Hinsicht sowohl auf den Inhalt wie auf die Urheberschaft auffallend persönliche, dennoch nicht weniger patriotische Inschrift findet sich auf dem Grabstein des 1917 gefallenen Siegfried Klein (Gruppe 76B, Grabnummer unbekannt). Auffallend sind hier auch die einleitenden Buchstaben „pei-nun“, die abgekürzt „hier ist begraben“ bedeuten, aber keinen sprachlichen Sinn mit der darauffolgenden deutschsprachigen Inschrift ergeben. Dies steht exemplarisch dafür, wie die Formel „pei-nun“ sich am Anfang von jüdischen Grabinschriften im frühen 20. Jahrhundert zu einem einfachen und vagen Verweis auf die „Jüdischkeit“ der Verstorbenen wandelte, eine oberflächliche oder rein förmliche Anerkennung der Zugehörigkeit, die darüber hinaus bloß vom Unwissen dieser Generation über die hebräische Sprache und vielleicht insgesamt über die jüdische Religion zeugt. Die Inschrift lautet: Pei-nun Der furchtbare Weltkrieg raubte uns unser Glück und unser Kind, Lt. Siegfried Klein, Besitzer der gold. u. silb. Tapferkeitsmed. u. des eisernen Verdienstkreuzes mit den Schwertern, gefallen am 26. Mai 1917 bei Duino [nahe Triest] im 20. Jahre seines sonnigen Lebens. Beweint von seinen Eltern u. Geschwistern. Beigesetzt in Heimatserde am
Zwischenepochal: Die Soldatengräber beim I. Tor, Gruppe 76B
22. Okt. 1922. Ihm folgte nur zu bald sein Vater Ignatz Klein, gest. am 30. Okt. 1922 im 65. Lebensjahre. Tief betrauert von seiner Gattin und seinen Kindern.
Sogar der kriegerische, patriotische Diskurs schloss keineswegs Ausdrücke der Religiosität oder der „Jüdischkeit“ aus: im Gegenteil. Auf dem mitten in der Kriegsgräbergruppe stehenden schwarzen Marmorstein des 1914 verstorbenen „Leutnant i.d.R.“ Karl Kohn befindet sich eine Abbildung zweier lebensechter, zugleich gespensterhafter Hände, die die brachat kohanim, den priesterlichen Segen, ausführen, in Verweis auf die Zugehörigkeit des Verstorbenen zur Priesterklasse (76B-1-1). Die Inschrift, die auf Deutsch verkündet, Karl sei „infolge einer im Felde erlittenen Verwundung“ verstorben, schließt mit der hebräischen tantzaba. Eine recht traditionelle, religiöse Inschrift findet sich auf der Stele des 1916 im Alter von 21 Jahren gefallenen Theodor Fruchter (76B-1-12A). Ein längerer hebräischsprachiger Teil nennt ihn nach seinem synagogalen Namen samt Patronymen als „den netten und ledigen jungen Mann, der respektierte Towijahu, Sohn des Herrn Lewi Fruchter hakohen“. Der letzte Ausdruck bezeichnet in diesem Fall keinen Namen, sondern die Zugehörigkeit zur Priesterklasse. In der Tat sind am oberen Ende der Stele Markierungen, die auf eine früher angebrachte Verzierung, vermutlich die segnenden Priesterhände, schließen lassen. Im Gegensatz zur traditionellen, aus der Frühen Neuzeit überlieferten hebräischen Laudatio, nannte diese Inschrift explizit die Ursache seines Todes: „Towijahu stieg zum Himmel hinauf, denn der Tod traf ihn im großen Krieg [bemilchama gedola]“, eine direkte Übersetzung ins Hebräische des damals gängigen Namens für diesen Krieg, der noch nicht der „Erste“ Weltkrieg war. Auf der Grabstätte des 1918 verstorbenen Arpad Kohn findet sich eine die Torarolle anmutende, weil doppelbogige Kalksteinstele samt segnenden Priesterhänden, mit der ansonsten recht diesseitsbezogenen Laudatio: „In unseren Herzen lebst du ewig fort“ (Gruppe 76B, Grabnummer unbekannt). Die deutschsprachige Inschrift verweist darauf, dass er den Tod „in treuer Pflichterfüllung“ fand. In den Inschriften vieler Kriegsgräber fügte sich der militärische Rang gut in das bereits bestehende Geflecht von intersektionalen Lebenssphären ein: Fortan war der Militärdienst bloß eine weitere „Berufung“, die in das Lebenslaufschema des Sepulkraldiskurses aufgenommen werden konnte, wobei Rang und Ehrenabzeichen sich an bereits bestehende akademische Grade oder Adelstitel reihten. So gedenkt eine schwarze Marmorstele des 1915 verstorbenen „Bahnkommissär[s] Dr. Arthur Löbl, k.k. Landsturmoberleutnant“, der „den Heldentod [fand] am 15. Juni 1915 bei Laszki Zawiazane [Galizien]. Nun ruht er aus nach treu getaner Pflicht“ (52-18-17). Ähnlich wurde des 1915 mit 27 Jahren „a.d. russ. Front“ gefallenen Hugo Fadenhecht gedacht, als „stud. jur. Oblt. im k.k. Landw. Inf. Reg. Nr. 35 Bes. d.gr. silb. Tapf. Med. d.kl silb. Tapf.-
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Med. d. Signum laud. u.d. Verd. Kreuz 1. Kl. a. Bande d. Tapf. Med.“ (76B-1-6A). Diese auf einer weißen Stele samt Natursteinsockel angebrachte Inschrift ist vermutlich so knapp, weil Steinmetze pro Buchstaben verrechneten und solche Denkmäler schnell teuer wurden – was auch die breite Homogenisierung von Grabdenkmälern infolge des Massentodes im Ersten Weltkrieg erklärt. Nicht nur mit der professionellen, auch mit der privaten Welt ließ sich die Wehrpflicht vereinen, so beispielsweise in der Inschrift des 1918 im Alter von 53 Jahren gefallenen Norbert Hirschhaut, „k.u.k. Obrstlt. im schw. Art. Rgt. No 10 Ritter d. Ord. d. his. Krone III Kl. mit. d. Kriegsder u.d. Schwert in etc. etc.“, dessen Laudatio mit den Worten schließt: „Er war ein pflichttreuer Soldat und Familienvater“ (76B-2-29A). Das Wort „Kriegsder“ soll wohl „Kriegsdek.“ heißen, kurz für „Kriegsdekoration“. Viele der Inschriften auf den Kriegsgräbern weisen heute infolge von Restaurierungsarbeiten Fehler auf.
Zwischenepochal: Die Soldatengräber beim I. Tor, Gruppe 76B
Abb. 15 Grabstele des 1915 verstorbenen Heinz Koch (76B-1-4A). Deutschsprachige Inschrift in schwarzer Farbe teils fehlerhaft nachgezogen, hebräischsprachige Inschrift verblasst. © Autor
Der Grabstein, der am anschaulichsten die komplizierte Verflechtung der Judenheiten in den alten habsburgischen Kronländern und die ebenso komplizierte Verflechtung von Lebenssphären, Zugehörigkeiten und Identifikationen
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jüdischer Individuen in den Dämmerjahren der Monarchie darstellt, ist der Grabstein des 1915 gefallenen Heinz Koch (76B-1-4A). In der oberen Spitze der auf einem Natursteinsockel gestellten Kalksteinstele befindet sich ein Davidstern, der die Abkürzung „pei-nun“ birgt. Der hebräischsprachige Teil der auf einer angebrachten Tafel inskribierten Inschrift liest sich durchgängig also: „Hier ist begraben Jekutiel, Sohn von Jitzchak, seine Seele schwand am 23. Nissan 5675“ – die Jahresangabe wird hier in arabischen Ziffern samt Jahrtausendzahl angegeben. Die Inschrift fährt auf Deutsch fort: Hier ruht unser Liebling Heinz Koch, Kadett-Asp. d. F.J.B. No 23, Beamter d. k.k. pr. Oest Kredit-Anstalt, Ehrenmitglied der Neure Jehuda. Ausgezeichnet m. d. silb. Tapferkeits Med. I Kl., geb. 7. April 1893 zu Saaz [Žatec] Böhmen. Gefallen v. d. Feinde i. d. Karpaten 7. April 1915 in treuer Pflichterfüllung für seinen Kaiser, sein Vaterland und sein jüdisches Volk.
Dieser junge Mann, der an seinem 22. Geburtstag an der Front fiel, ist stellvertretend für eine gesamte jüdische Erfahrungswelt, die vom habsburgischen Zentraleuropa geprägt war: In Böhmen geboren und offensichtlich deutschsprachig aufgewachsen, arbeitete der junge Mann in der zisleithanischen Hauptund Residenzstadt an der größten Bank Österreich-Ungarns, die aus einem von Salomon Freiherr von Rothschild gegründeten Vorgänger hervorging, und war gleichzeitig Mitglied der zionistischen Jugendorganisation Neure Jehuda (Jugend von Jehuda). Als Kadett-Aspirant in einer ungarischen Feldjägerbattailon fiel er im Gebirgswall der Karpaten in der (aus der Sicht der Habsburgermonarchie) Verteidigung seines „Vaterlandes“. Diese tiefgreifende, vielschichtige Intersektionalität wird zum Schluss der Laudatio bündig zusammengefasst: „für seinen Kaiser, sein Vaterland und sein jüdisches Volk“. Für Heinz Koch waren diese Welten unzertrennlich: Er war Österreicher – im zisleithanischen Sinne – und Jude zugleich. Die bemalte und infolgedessen schnell verwitternde Inschrift wird heute immer wieder mit neuer Farbe nachgezogen, jedoch von nicht fachkundigen Personen, weshalb sie immer wieder Fehler aufweist. Ein Grabstein, der nicht in der Gruppe 76B steht und scheinbar nichts mit dem Krieg zu tun hatte, außer dem Sterbejahr 1916 des Ehepaares Wilhelm und Mathilde Flesch, die dort bestattet liegen, scheint nichtsdestotrotz eine ergreifende Botschaft für die sich zum Tode kämpfende Nachwelt hinterlassen zu haben: „Tote Gruppen seid Ihr wenn Ihr euch hasset, Götter, wenn Ihr Euch in Liebe fasset!“ (52-55-72). Ergreifend wird hier der Zeitgeist ausgedrückt, inmitten eines Krieges, der das Ende einer fast Jahrtausend alten Dynastie bedeuten sollte sowie das Ende des komplexen geographischen und kulturellen Geflechts, in dem sich Millionen von Jüdinnen und Juden über Jahrhunderte verwurzelt hatten.
Schlussbemerkungen
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Schlussbemerkungen
Die Wiener Kultur in den letzten Jahrzehnten der Habsburgermonarchie wurde durch das Zusammentreffen diverser Gruppen aus dem gesamten Gebiet unter habsburgischer Herrschaft und darüber hinaus geprägt, die jeweils auf ihre Weise diese Kultur veränderten und deren Grenzen erweiterten. Wie in den letzten Jahren ausgiebig in der Historiographie dargestellt und diskutiert, gilt dies insbesondere für die unüberschaubar diverse jüdische Bevölkerung, eine der größten jüdischen Gemeinschaften der Welt im frühen 20. Jahrhundert. Vieles, was seinerzeit als „entartet“ diffamiert wurde, aber heute höchst erfolgreich als „österreichische“ Kultur vermarktet wird, stammte entweder von jüdischen oder jüdisch geborenen Personen oder wurde von ihnen gefördert. Wie der 1923 in Wien geborene und 1938 vertriebene John Emanuel Ullmann später in einer unveröffentlichten Denkschrift beteuerte: „Wir waren stets unsere eigenen guten Kunden; tatsächlich unterstützten wir sehr oft auch die Leistungen anderer, wenn das ihre eigenen Brüder nicht taten.“188 Die Verwurzelung der jüdischen Bevölkerung in der österreichischen Kultur – das alte Österreich der Monarchie – und in der zisleithanischen Haupt- und Residenzstadt wird an keinem materiellen Ort so eindringlich und so vollständig erfasst wie am monumentalen jüdischen Friedhof beim I. Tor. Beim Ausbruch des Kriegs 1914 schon fast vollständig belegt, sollte dieser Friedhof innerhalb weniger Jahre von einem neuen, am anderen Ende des Zentralfriedhofs gelegenen Bestattungsraum abgelöst werden. Auf dem Friedhof beim I. Tor sollten zwar weiterhin – in Einzelfällen bis heute sogar – Beisetzungen in bereits bestehenden Gräbern durchgeführt werden, doch dieser Friedhof bleibt in seinem Wesen ein Gedenkort des jüdischen Wiens in den letzten Jahrzehnten der Habsburgermonarchie. Dieser Friedhof, der durch keine Mauer von dem ihn umliegenden nichtjüdischen Friedhof getrennt wird, entstand im Zeichen einer fragmentierten Gemeinschaft, die nur durch ihre gemeinsame „Jüdischkeit“ vereint war: Das Verständnis dessen, was „Jüdischkeit“ bedeutete, war allerdings äußerst verschieden und vielschichtig. Das Gleiche gilt für das Verständnis des eigenen „Österreichertums“ in dieser Zeit, und wie und inwiefern man als Individuum oder Kollektiv zur Wiener bzw. zur österreichischen Gesellschaft gehörte. Religiös und säkular, orthodox und liberal, reich und arm, groß- und kleinbürgerlich; Rabbiner, Politiker, Schriftsteller, Handelsmänner und Soldaten; Hausfrauen, Gesellschaftsdamen und manchmal auch Kinder: Der Friedhof
188 Ullmann, John Emanuel: The Jews of Vienna. A Somewhat Personal Memoir, unveröffentlichte Memoiren, 1993, LBI, AR 10682, S. 41.
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beim I. Tor samt seinen zehntausenden Grabsteinen kündet von der kaleidoskopischen Vielfalt der Wiener Judenheit in ihrer Blütezeit, als sie zu den größten und einflussreichsten jüdischen Gemeinden der Welt zählte. Wie die meisten zeitgenössischen Friedhöfe in Europa und darüber hinaus war dieser Friedhof geprägt von einer tiefgreifenden Säkularisierung, von Verbürgerlichung und von einer reichlichen, zunehmend demokratisierten Gedenkkultur, die sich in monumentalen Grabdenkmälern niederschlug. Angesichts der fast ausnahmslosen Wiederverwendung von Grabstellen im christlichen bzw. nichtjüdischen Brauchtum bildet der Friedhof beim I. Tor überhaupt eines der letzten heute noch erhaltenen Ensembles von Grabsteinen aus dem Fin de Siècle in Wien. Dieser Friedhof war wie die Kultusgemeinde, die ihn angelegt hatte, zudem einzigartig im Vergleich zu vielen zeitgenössischen jüdischen Friedhöfen, die wie ihre Gemeinden, jedenfalls außerhalb Zisleithaniens, bereits in eigene orthodoxe und liberale Räume getrennt waren. Auch in Wien überwogen bald die Unterschiede, beschleunigt durch den Weltkrieg, und bis zur Eröffnung des neuen Friedhofs beim IV. Tor sollte nicht mehr die Einheitlichkeit, sondern die Zerstrittenheit in einem neuen, sich radikal verändernden Österreich vorherrschen, in der die Rolle der Jüdinnen und Juden weder als Kollektiv noch als Individuen sicher war.
6.
Demokratie und zerstrittene Vielfalt. Der Zentralfriedhof Tor IV vom Ersten Weltkrieg bis zum „Anschluß“
Der Erste Weltkrieg war eine erschütternde Katastrophe für die Bevölkerungen Zentral- und Osteuropas. Millionen von zumeist eingezogenen Soldaten wurden im schlammigen Inferno an den Fronten niedergemäht. Ganze Landstriche waren verwüstet, ganze Dörfer und Städte zerstört, ganze Gemeinschaften vertrieben. Es herrschte überall Hungersnot und in wiederholten Wellen brach weltweit die sogenannte Spanische Grippe aus, die bei Weitem mehr Opfer forderte als der Krieg selbst. Dieser Massenkonflikt – der am Anfang einer Reihe von blutigen Massakern im 20. Jahrhundert stand – ist am greifbarsten verkörpert in den unzähligen, über ganz Europa zerstreuten Soldatenfriedhöfen, so auch in Wien. Der Historiker Jay Winter zeigte, wie die kollektive Erinnerung an den Massentod und die Aufopferung der Gefallenen europaweit dazu diente, in den Jahren nach Kriegsende den jeweiligen nationalen oder lokalen Gemeinschaftssinn zu stärken, und deutete dies als grundlegende „Gemeinschaftlichkeit des europäischen kulturellen Lebens in dieser Epoche“.1 Infolge der Erschütterung des Weltkriegs brachen endgültig die Imperien Zentral- und Osteuropas zusammen: Von Deutschland und Österreich über Russland bis in den Nahen Osten war das Kriegsende erst der Anfang einer der tiefgreifendsten Umwälzungen der staatlichen, politischen und sozialen Ordnung in der modernen Geschichte dieser Länder. In manchen Teilen Europas, so beispielsweise in Polen, im Baltikum und in der Ukraine, wüteten noch Jahre nach formalem Ende des Weltkriegs mörderische Bürger- und Unabhängigkeitskriege. In anderen Ländern, so etwa in Österreich, brachte der Herbst 1918, wenn nicht offenen Bürgerkrieg, dann doch einen völligen politischen und gesellschaftlichen Neubeginn in einem neuen Staatsgebilde – in diesem Fall in der kleinen Alpenrepublik, im „Restösterreich“, das nach der Zerstückelung der Habsburgermonarchie übrig blieb. Die komplexen Fragen um die politische und gesellschaftliche Zukunft dieses neuen Staats, die der plötzliche Zusammenbruch der jahrhundertealten Habsburgerherrschaft mit sich brachte, mündeten in tiefgreifende Konflikte, die diese „Erste Republik“ nicht lange überleben sollte. Während im Herbst 1918 Stück um Stück ehemalige Territorien des rasant zerfallenden Habsburgerreiches abbrachen und sich zu neuen „Nationalstaaten“ erklärten, kam für die Bevölkerungen der verbliebenen, mehrheitlich deutschsprachigen Kronländer eine eigenständige österreichische „Nation“ nicht in1 Winter, Jay: Sites of Memory, Sites of Mourning. The Great War in European Cultural History, Cambridge 1998, S. 80, 227.
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Demokratie und zerstrittene Vielfalt
frage. Sie strebten stattdessen einen Anschluss an die gerade neu gegründete Deutsche Republik an – was in diesem Kontext freilich als politische Union verstanden wurde und noch nicht die negative Konnotation besaß, die diesem Begriff nach 1945 zukam.2 In der Ausrufung der Republik Deutschösterreich am 12. November 1918 wurde in Artikel II festgehalten: „Deutschösterreich ist ein Bestandteil der Deutschen Republik“.3 Im Jahr darauf stimmte die Konstituierende Nationalversammlung einstimmig einem Anschluss an Deutschland zu und somit gegen das Fortbestehen eines unabhängigen Österreich – mit einer einzigen Ausnahme: Der zionistische Abgeordnete Robert Stricker, ein Kultusgemeindefunktionär, der 1944 in Auschwitz ermordet werden sollte, stimmte als Einziger gegen einen Anschluss.4 Somit verkörperte Stricker symbolisch die der österreichischen Judenheit in diesen Jahre oft zugeschriebene Charakterisierung als „einzig wahre ÖsterreicherInnen“.5 Seit über einem Jahrhundert hatte sich die jüdische Bevölkerung des habsburgischen Zisleithaniens in einer Vielfalt von weitgehend supranationalen Identifikationsgeflechten zurechtgefunden, die vom jüdisch-religiösen Partikularismus und österreichisch-dynastischen Loyalismus bis hin zum Kosmopolitismus und radikalen Individualismus reichte. Egal was ihre politischen, kulturellen und religiösen Anschauungen sonst waren, hatte sich der Großteil der zisleithanischen Judenheit mit den zentripetalen Kräften der Habsburgerdynastie bzw. des übernationalen österreichischen Staates alliiert, wurde sogar weitgehend als dessen Verkörperung angesehen.6 Mit dem Zerfall der Monarchie hingen alle alten Systeme, Zugehörigkeiten und Identifikationen in der Luft – nicht nur unter der jüdischen Bevölkerung. Die Auswirkungen der turbulenten neuen Zustände und die damit verbundene Unsicherheit auf die 2 Es gibt eine Fülle von Werken zur Rolle des Nationalismus im Zerfall der Monarchie, die seit den frühesten bahnbrechenden Studien zu diesem Thema veröffentlicht wurden, wie etwa Jászi: The Dissolution. Neuerdings wurden allerdings auch das Ausmaß nationalistischer Sympathien sowie die vermeintliche Unausweichlichkeit des Zerfalls zunehmend infrage gestellt. Siehe z. B. Zahra: Imagined Noncommunities und Judson: Habsburg. 3 Gesetz vom 12. November 1918 über die Staats- und Regierungsform von Deutschösterreich, http://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?aid=sgb&datum=19180004&seite=00000004, letzter Zugriff: 31. August 2020. 4 Berkley: Vienna and its Jews, S. 166. Berkley behauptete ferner, dass die Nationalversammlung sich aus „Deutschösterreichern (inklusive sozialistischen Juden und jenen, die glaubten sie wären Deutschösterreicher)“ zusammensetzte, S. 142. Das Paradigma, das er dabei auftat – wo er unter anderem zwischen „Juden“ und „Deutschen“ sowie zwischen „Zionisten“ und „Sozialisten“ differenzierte – steht in völligem Widerspruch zu den grundlegenden Prämissen des vorliegenden Werkes; manchen seiner Schlussfolgerungen sollten also mit Vorsicht begegnet werden. 5 Vgl. Corbett: Jews and Austrian Culture, insb. S. 33. 6 Vgl. Lichtblau (Hg.): Als hätten wir dazugehört, S. 23.
Demokratie und zerstrittene Vielfalt
damaligen ÖsterreicherInnen, in diesem Fall spezifisch auf den Adel und das Bürgertum, wurden pointiert von Joseph Roth in seinem Roman Die Flucht ohne Ende mit dem treffenden Untertitel „Ein Bericht“ in der Figur des Franz Tunda erfasst: War sich Tunda zu Ausbruch des Krieges als Oberleutnant in der k.u.k. Armee seiner Stelle in der Welt bewusst, war er nach dem Krieg nunmehr „ein junger Mann ohne Namen, ohne Bedeutung, ohne Rang, ohne Titel, ohne Geld und ohne Beruf, heimatlos und rechtlos“.7 Die langen Aufzählungen von Ehrentiteln und Ämtern aus der alten Monarchie, die so prägend waren in der Sepulkralepigraphik beim I. Tor, waren ab November 1918 auf einmal faktisch bedeutungslos geworden. War die Unsicherheit über die Zukunft, über die neue Republik und über die Stellung ihrer BürgerInnen ein allgegenwärtiges Phänomen, so traf es die jüdischen BürgerInnen umso härter, je mehr der vermeintlich „deutsche“ und „christliche“ Charakter des Staates seitens maßgeblicher Teile der nichtjüdischen Bevölkerung behauptet wurde. Die Schrecken des Massentods im Weltkrieg und die Verwunderung vieler der nach Österreich zurückgekehrten jüdischen Veteranen über die politische Anfeindung, die sie mit dem erstarkenden Antisemitismus in den darauffolgenden Jahren trotz ihrer patriotischen Aufopferung erleiden mussten, werden prägnant in einem Gedicht von Ernst Waldinger deutlich, das die brisanten Themen des Sterbens, der Erinnerung und der Zugehörigkeit anhand eines Begräbnisses ergreifend problematisiert. Der 1896 in Wien geborene Lyriker war selbst ein Veteran des Großen Kriegs, in dem er 1917 an der Ostfront schwer verletzt wurde. 1938 vor dem Nationalsozialismus in die USA geflohen, wo er 1970 verstarb, schrieb er 1967 das Gedicht „Die Beisetzung Hermann Grafs“ über einen gefallenen Korporal: Sogar das Bundesheer war auch vertreten, / Es hatte einen Korporal – das war / Die Charge des Gefallenen – gesandt, / (Der war ein Jude sichtlich, gabs das noch / In dem Regime von Schuschnigg?) dacht ich mir, / Das also bleibt, der Totenkopf, die Knochen, / So viel nur, daß ein Säuglinssarg [sic] genügte. / Die Witwe hatte den gefallnen Sohn / Durchs Schwarze Kreuz aus dem Soldatenfriedhof / Im südlichen Gebirge holen lassen, / Um ihn im Grab des Gatten und der Tochter / – Das blühende Geschöpf verübte Selbstmord – / An jenem trüben Tage beizusetzen.
Hierbei handelt es sich höchstwahrscheinlich um die Überführung und Beisetzung am 11. September 1930 eines im Frühsommer 1917 bei Pozza di Fassa in den Südalpen gefallenen und vor Ort bestatteten Hermann Graf in der Grabstätte beim I. Tor seines 1908 verstorbenen Vaters Heinrich und seiner 1922
7 Roth, Joseph: Die Flucht ohne Ende. Ein Bericht, Köln 2010, Neuauflage des Originals aus dem Jahre 1927, S. 11.
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verstorbenen Schwester Cäcilie (50-58-13). Das heute noch aktive Österreichische Schwarze Kreuz wurde 1919 in Wien gegründet, um sich um Kriegsgräber innerhalb Österreich sowie um österreichische Kriegsgräber im Ausland bzw. die Überführung österreichischer Gefallener in ihre Heimatorte zu kümmern. Somit ist diese Passage über die Überführung der wenigen erhaltenen Knochenreste eines im Ausland bestatteten österreichischen Soldaten in die „Grabstätte seiner Väter“, wie sie des Öfteren in den Jahren nach dem Krieg stattfanden, durchaus realistisch geschildert. Der Verweis auf Kurt Schuschnigg und das Bundesheer unter der austrofaschistischen Diktatur (1933/34 bis 1938) stellt indes eine rhetorische Frage dar, ob diese sich noch um das Gedenken jüdischer Gefallenen gekümmert hätte – diese Frage ist eindeutig zu bejahen, wie später in diesem Kapitel gezeigt wird. Waldinger identifizierte sich im Gedicht mit dem Gefallenen und nun in heimatlicher Erde wieder Bestatteten vor allem in Bezug auf ihre gemeinsame „Jüdischkeit“, die Waldinger zufolge eine maßgebliche Rolle in ihrem Kriegseifer gespielt hatte – zumindest retrospektiv: „Früh hast du dich gemeldet wie ich auch, / Bevor dein Jahrgang aufgerufen wurde. / Es darf der Jude nicht als Feigling gelten.“ Ergreifend weist dieses Gedicht auf die zerrissenen Zugehörigkeitsgefühle der jüdischen Zwischenkriegsgeneration, die für eine nicht mehr existierende Monarchie gekämpft hatte und sich ihrer Stellung in der neuen Republik bzw. später im austrofaschistischen „Ständestaat“ nicht mehr sicher sein konnte. Wie tief der Riss noch greifen sollte, wird zum Schluss dieses erst Jahre nach der Shoah verfassten Gedichts geschildert: „Die Mutter, niobidenhaft in Trauer / Schon seit dem Tod des Manns, stand regungslos. / Als hohe Greise ward sie Hitlers Opfer. / Denn dies war nicht das Ende, – ach, das Ende, / Seit Hiroshima, ist nicht auszudenken.“8 Hier ging es schließlich um die 1860 geborene Mutter Rosa, die als einziges noch lebendes Familienmitglied 1942 im Vernichtungslager Treblinka ermordet wurde. Die rasante historische Umwälzung vom Weltkrieg und dem Zerfall der Monarchie über die Versuche, ein neues Österreich zu konstruieren, erst in Form einer demokratischen Republik und dann in einer parafaschistischen Diktatur, bis hin zum Nationalsozialismus, einem neuen Weltkrieg und der Massenvernichtung von jüdischen und anderen unerwünschten BürgerInnen, vollzog sich innerhalb von nur drei Jahrzehnten und prägte somit nachhaltig das Leben einer gesamten Generation von ÖsterreicherInnen. Wie so oft in der Geschichte Wiens schrieben sich diese taumelnden Erfahrungen pointiert in den Bestattungsräumen Wiens ein, der
8 Waldinger, Ernst: Die Beisetzung Hermann Grafs [1967], in: Gauß, Karl-Markus (Hg.): Noch vor dem jüngsten Tag. Ausgewählte Gedichte und Essays, Salzburg 1990, S. 142–143. Zu Waldingers Biographie siehe: Zum Tode Ernst Waldingers, in: Die Gemeinde, 25. Februar 1970, S. 11.
Demokratie und zerstrittene Vielfalt
österreichischen Bundeshauptstadt, seit 1920 als eigenständiges Bundesland von Niederösterreich losgelöst. Die Anzahl der Bestattungen in der Metropole Wien hatte über die Jahrzehnte vor dem Krieg stetig zugenommen, ein Indiz des gewaltigen Bevölkerungswachstums in dieser Zeit, inklusive der jüdischen Gemeinschaft. Bis 1906 waren, innerhalb einer Generation, bereits 715.890 Menschen am Zentralfriedhof begraben worden – fast die Hälfte der damals lebenden Bevölkerung der Stadt – und es wurden jedes Jahr über 22.000 weitere Menschen dort bestattet.9 Am jüdischen Friedhof beim I. Tor war die jährliche Anzahl der Bestattungen von 1.187 im Jahre 1879 auf 2.331 im Jahre 1910 gestiegen.10 Im Tätigkeitsbericht der Kultusgemeinde aus dem Jahre 1912 wurde erstmals erwähnt, dass der nicht mehr erweiterbare Friedhof schon bald zur Gänze belegt sein werde, und es wurde somit die Intention des Vorstands angekündigt, sich alsbald um die Anschaffung eines neuen Bestattungsraums zu bemühen.11 Mit Ausbruch des Weltkriegs setzte eine gewaltige Zuspitzung der Begräbnisse – mit 3.393 Bestattungen im Jahre 1915 – ein, die von einer massiven Fluchtzuwanderung, darunter vieler Jüdinnen und Juden, aus den von Kriegshandlungen zerrissenen östlichen Gebieten der Monarchie in die Haupt- und Residenzstadt ausging sowie von der hohen Sterbeziffer von Soldaten. Während des Weltkriegs musste die Kultusgemeinde aufgrund der Mittellosigkeit vieler der Verstorbenen und ihrer Angehörigen für gut die Hälfte der Begräbniskosten auf ihrem Friedhof aufkommen. Darüber hinaus fand ein Drittel der Begräbnisse in der vierten Klasse statt, sodass weniger als ein Fünftel der Begräbnisse in den ersten drei Klassen erfolgte, aus denen das Friedhofswesen wesentlich finanziert wurde, was die enorme Armut unter weiten Teilen der damaligen Wiener Judenheit herausstreicht.12 Erst nach dem Krieg und mit der Abwanderung vieler Geflüchteter ging die Zahl der Bestattungen wieder zurück und erreichte 1923 ein Tief von 884 Bestattungen.13 Der neue jüdische Friedhof beim IV. Tor des Zentralfriedhofs, im Osten, also am anderen Ende des Friedhofs vom I. Tor gelegen, ist der jüngste und heute hauptsächliche Bestattungsraum der Kultusgemeinde. Er wurde noch während des Krieges notdürftig errichtet und erst in den Jahren danach sukzessive mit Infrastruktur und Monumentalbauten ausgebaut. Bis in die 1990er-Jahre wurden hier etwa 70.000 Menschen in 43.000 Grabstätten bestattet, was ihn 9 O. V.: Der Wiener Zentralfriedhof, Wien o. J., S. 3. 10 Pemmer: Der Wiener Zentralfriedhof, S. 170–171. 11 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Bericht des Vorstandes der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien über seine Tätigkeit in der Periode 1910–1911, Wien 1912, S. 7. 12 Berkley: Vienna and its Jews, S. 137. 13 Pemmer: Der Wiener Zentralfriedhof, S. 170–171.
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zu einem der größten jüdischen Friedhöfe Österreichs und überhaupt Zentraleuropas macht.14 Geprägt war dieser Friedhof zuerst von einer Gemeinde, die wenige Jahre später fast zur Gänze vertrieben oder vernichtet sein würde, die vorerst aber noch damit beschäftigt war, sich mit einem erschütternden Weltkrieg auseinanderzusetzen, sich in einer neuen Republik zurechtzufinden und den kolossalen wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen der neuen Ära entgegenzutreten. 6.1
Demokratisierung, „Orthodoxisierung“ und gegenseitige Ausgrenzung. Die Kultusgemeinde zwischen Republik und Nationalsozialismus
Die Zwischenkriegszeit – die Ära der „Ersten Republik“ von 1918 bis 1933/34 sowie des austrofaschistischen „Ständestaats“ von 1933/34 bis 1938 – wurde lange in der Geschichtsschreibung inmitten der vielen Recherchen zum Fin de Siècle und der Habsburgermonarchie auf der einen und zum Nationalsozialismus und der Shoah auf der anderen Seite vernachlässigt. Insbesondere gälte es noch, die Versuche zu erforschen, ein eigenständiges Staatswesen im neuen Österreich zu festigen, eine „nationale Identität“ zu konstruieren und eine vergleichbare Loyalität zu diesem neuen Nationalstaat zu generieren, wie sie in der Monarchie vorhanden war.15 Die Auseinandersetzung mit dem Wesen des „Österreichertums“ in diesen Jahren – so beispielsweise als eigenständige „Staatsnation“, als Erbe der plurikulturellen Monarchie oder als Bestandteil der deutschen „Nation“ – war aber nicht nur von Konflikten geprägt, wie oft in der Historiographie betont wird, in der die Zwischenkriegszeit oft lediglich als Etappe auf dem Weg ins „Dritte Reich“ erscheint. Trotz aller Konflikte und Spaltungen, die letztendlich im Faschismus mündeten, zählten diese Jahre auch zu den produktivsten der modernen österreichischen Kultur, denke man an das Schaffen Prominenter in diesen Jahren wie Arthur Schnitzler, Stefan Zweig, Franz Werfel und Joseph Roth in der Literatur; Sigmund Freud, Alfred Adler, Lise Meitner und Ludwig Wittgenstein in der Wissenschaft; Arnold Schönberg und Erich Wolfgang Korngold in der Musik und so weiter. Alle die hier genannten Individuen – die heute als Paradebeispiele der modernen österreichischen Kultur vorgezeigt werden – stammten aus jüdischen Familien, was nicht bedeutungslos ist: Wie die Historikerin Lisa Silverman zeigte, war die Gesellschaft des neuen Österreich, das sich in dieser Zeit zu 14 Steines: Hunderttausend Steine, S. 267. 15 Siehe als bündige Zusammenfassung der Frage des „Österreichertums“ in der Moderne die Überlegungen von Stieg: Sein oder Schein.
Demokratisierung, „Orthodoxisierung“ und gegenseitige Ausgrenzung
etablieren suchte, geprägt von einem ebenso fruchtbaren wie konfliktreichen Verhältnis zwischen den jüdischen und nichtjüdischen ÖsterreicherInnen, ja zwischen dem „Jüdischem“ und dem „Nichtjüdischem“ in der österreichischen Kultur schlechthin, was Silverman im Begriff der „jüdischen Differenz“ festhielt: ein konstruierter und dehnbarer Maßstab, worum sich viele Diskurse zur österreichischen Kultur und der Zugehörigkeit zu dieser Kultur kreisten. Obwohl, wie Silverman bemerkte, „alle ÖsterreicherInnen gezwungen waren, sich neue Selbstverständnisse zu schaffen aus einer Welt, die sich in politischer, sozialer und ökonomischer Verwirrung befand“, betraf dies dennoch wohl am tiefsten die österreichische Judenheit, deren Zugehörigkeit in der Ersten Republik – im Kontext des wachsenden ethnozentrischen Nationalismus und Antisemitismus – zunehmend seitens breiter Teile der nichtjüdischen Gesellschaft negiert wurde.16 Rückblickend zeigt aber alleine schon die oben angeführte Liste der vielen Kulturschaffenden unter der jüdischen Bevölkerung Österreichs in der Zwischenkriegszeit – wenngleich manche dieser Individuen sich nur vage, wenn überhaupt, als „jüdisch“ verstanden –, dass genau dieses zunehmend ausgegrenzte und stigmatisierte Kollektiv zugleich maßgeblich das erst schufen, was heute weitgehend als moderne „österreichische“ Kultur schlechthin vermarktet wird.17 Die „österreichische“ Judenheit der 1920er-Jahre – nun bloß als jene innerhalb der Grenzen der neuen Republik definiert, die zum Großteil aus den etwa 175.000 Kultusgemeindemitgliedern in Wien bestand – stellte trotz ihrer zahlenmäßig radikalen Verkleinerung nach wie vor ein kaleidoskopisches Geflecht dar, dessen Wurzeln überall in der ehemaligen Monarchie und zum Teil darüber hinaus lagen, und war nach wie vor unterteilt in etliche kulturelle, wirtschaftliche, religiöse und politische Milieus. In der kleinen Republik trat die Wiener Kultusgemeinde nun mehr denn je als Repräsentativkörperschaft dieser geschrumpften österreichischen Judenheit auf, und es sagt viel aus, dass die allermeisten in jüdische Familien geborenen WienerInnen, egal, was sie sonst dachten oder wie sie ihr Leben gestalteten, nach wie vor Mitglieder in dieser Organisation blieben. Im Vergleich zur nichtjüdischen deutschsprachigen Bevölkerung war die österreichische Judenheit, womit ich grundsätzlich jene meine, die durch ihre Mitgliedschaft in der Kultusgemeinde ein wie auch
16 Silverman: Becoming Austrians, hier S. 5–6. 17 Die Problematik von jüdischen Kulturschaffenden und moderner österreichischer Kultur bildet schon lange ein reges aber zutiefst umstrittenes Forschungsfeld. Vgl. hierzu den Klassiker von Beller: Wien und die Juden. Eine andere, kritischere Sicht findet sich im frühen, aber nach wie vor einschlägigen Beitrag von Steinberg, Michael: Jewish Identity and Intellectuality in Fin-de-Siècle Austria. Suggestions for a Historical Discourse, in: New German Critique 43, Special Issue on Austria (Winter 1988).
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immer geartetes Selbstverständnis als „Jüdinnen“ und „Juden“ hegten, weitgehend einem Anschluss an die Deutsche Republik abgeneigt. Dass diese Aussage wiederum nicht etwa auf in jüdische Familien geborene Sozialdemokraten wie Otto Bauer zutrifft, die lautstark einen Anschluss forderten und sich übrigens nicht unbedingt als „Juden“ betrachteten, unterstreicht die Notwendigkeit, bei der Definition der „Jüdischkeit“ und der Umschreibung der „Judenheit“ von der bloßen Abstammung als Kriterium Abstand zu nehmen. Jedenfalls stand die allgemeine Abneigung der österreichischen Judenheit gegenüber dem Deutschnationalismus weitgehend im Gegensatz zum Sachverhalt in Deutschland selbst, wo viele Jüdinnen und Juden glühende NationalistInnen waren. Betont nannte sich die ursprünglich 1884 vom Rabbiner und Politiker Joseph Samuel Bloch mitbegründete Österreichisch-Israelitische Union, eine der größten und einflussreichsten politischen Repräsentativkörperschaften der österreichischen Judenheit, die seit 1918 als Union deutsch-österreichischer Juden bekannt war, 1931 in Union österreichischer Juden um, wodurch sie die Konnotation des „Deutschtums“ im „Österreichischen“ endgültig unterband. Somit stand die Judenheit allerdings umso mehr von Anfang an auf Konfliktkurs mit dem beträchtlichen Teil der nichtjüdischen Bevölkerung, die sich eben als ethnisch „deutsch“, kulturell „christlich“ und so implizit als Antithese zum „Jüdischen“ betrachteten. In seinem treffend betitelten Werk Die Krise der Wiener Judenschaft beschrieb 1919 der Rabbiner und Historiker Samuel Krauss die organische Verbindung der Wiener Judenheit mit den jüdischen Bevölkerungen der ehemaligen Kronländer der Monarchie, nicht bloß in einem geistigen Sinne, sondern auch als Quelle der Zuwanderung. Besonders Galizien beschrieb er, ganz im Gegensatz zur oft in der Historiographie konstatierten Feindlichkeit der deutschsprachigen Wiener „Westjuden“ gegenüber den „ostjüdischen“ EinwanderInnen, als „das unerschöpfliche Reservoir, aus dem wir unsere besten Säfte zogen“. Somit stellte der Zerfall der Monarchie und die Schließung der neuen Grenzen zu den nun meist eher feindlich gesinnten Nachfolgestaaten „einen großen Riß“ im jüdischen Gemeindeleben Wiens dar, dies umso mehr, da es außerhalb Wiens „sozusagen kein jüdisches Leben im Staate Deutschösterreich“ gab. Trotz der geänderten Zustände unterstrich Krauss das gemeinsame „Österreichertum“ – freilich im habsburgischen, „altösterreichischen“ Sinne –, das die Judenheiten der Nachfolgestaaten über die neuen Grenzen hinaus verband, und kontrastierte dies gerade mit der Beziehung zu Deutschland: „mit dem Deutschen Reiche, zu dem wir vermöge Sprache, Kultur und Geschichte am meisten gehören, hatten wir nur in außerordentlichen Fällen gemeinsame Wege“. Pointiert verdeutlichte Krauss hier den Punkt, der immer noch allzu oft in der Historiographie verfehlt wird, dass die österreichische Judenheit weder vor noch nach 1918 mit der deutschen identisch war.
Demokratisierung, „Orthodoxisierung“ und gegenseitige Ausgrenzung
Im Wien des frühen 20. Jahrhunderts, schilderte Krauss, trafen „Ost- und Westjuden zusammen, Assimilanten und Nationaljuden, Fortschrittler und Beharrende, Deutsche und Fremdsprachige, Ortsansässige und Zugereiste, Enthusiasten und Indifferente, zähe Kämpfer und feige Fahnenflüchtige“. Dieses Wien war ein wahrer Schmelztiegel der jüdischen Welten Zentral- und Osteuropas, dessen Heterogenität allerdings auch Konflikte hervorrief: „Die scheinbar noch bestehende Einheit der Gemeinde ist nur eine äußere, innerlich besteht sie schon längst nicht mehr.“ Somit verwies Krauss auf die wachsenden Spannungen zwischen den verschiedenen Ausrichtungen innerhalb des Gemeindelebens auf sowohl politischer (Stichwort Zionismus) wie religiöser (Stichwort Orthodoxie) Ebene. Krauss schloss mit der interessanten Stellungnahme, es sei die „Aufgabe der bestehenden Gemeinde […], die polnischen [gemeint waren vornehmlich galizischen] Elemente sich nach und nach zu assimilieren“, wobei selbstverständlich das Wort „Assimilation“ hier nicht in dem Sinne gemeint ist, wie es die moderne Historiographie verwendet, nämlich als Anpassung an eine monolithisch verstandene nichtjüdische Kultur, sondern an das „einheimische“ Judentum.18 Über neunzig Prozent der jüdischen Bevölkerung der neuen Republik lebte in der Bundeshauptstadt Wien. Die Stadt wurde schon längst aus der Sicht der zutiefst christlichsozialen Provinz „jüdisch“ konnotiert, wurde zugleich aber seitens vieler ihrer nichtjüdischen BürgerInnen als „christliche“ und „deutsche“ Stadt aufgefasst, zweifellos eine Auswirkung der einflussreichen Bürgermeisterschaft Karl Luegers um die Jahrhundertwende. Innerhalb der Bundeshauptstadt wurde und wird heute noch insbesondere der 2. Gemeindebezirk, die Leopoldstadt, „jüdisch“ konnotiert, obwohl weniger als die Hälfte der Bevölkerung dieses Bezirks jüdisch war und obwohl der Großteil der Wiener Judenheit über die anderen Bezirke der Stadt verstreut lebte.19 Der Historikerin Harriet Freidenreich zufolge lebte allerdings der Großteil – geschätzte 60 Prozent – der orthodoxen jüdischen Bevölkerung Wiens in der Leopoldstadt, was auf eine Ballung der jüdischen Orthodoxie und nicht der allgemeinen Judenheit in der Leopoldstadt deutet.20 Dass die Leopoldstadt oft unhinterfragt in der Historiographie als „jüdischer Bezirk“ abgestempelt wird, zeigt also paradigmatisch, inwieweit unhinterfragt die religiöse Orthodoxie oft pars pro toto mit der gesamten jüdischen Kultur gleichgestellt wird, die sicherlich auch durch ihre äußerliche „Differenz“ – vornehmlich durch die dunkle Tracht vieler orthodoxer Juden – stark auffiel. 18 Krauss: Die Krise, S. 2–6, 16. 19 Vgl. Silverman: Becoming Austrians, S. 22–23, sowie Silverman: Leopoldstadt, Judenplatz, and Beyond. Rethinking Vienna’s Jewish Spaces, in: East Central Europe 42 (2015), insb. S. 261–262. 20 Freidenreich: Jewish Politics, S. 122.
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Die massive Zäsur der Shoah führt des Weiteren oft dazu, dass der Antisemitismus insbesondere der Zwischenkriegszeit rückblickend betont wird, während Beispiele des normalen Zusammenlebens von jüdischen und nichtjüdischen WienerInnen und deren soziale und kulturelle Verflechtungen als Anomalie abgetan oder insgesamt ausgeklammert werden. Die Historikerin Elisabeth Malleier erzählte beispielsweise eine lustige Anekdote des 1919 in Wien geborenen Meir Neeman nach, wobei ein nichtjüdisches Mitglied des gemischten Chors in der Synagoge in der Schmalzhofgasse im 6. Bezirk, das einmal zu spät eintraf, laut ausrief: „Jesses Maria, jetzt hob’ I schon des Sch’ma Jisroel [das monotheistische Glaubensbekenntnis aus 5. Moses 6,4] versäumt!“21 Nichtsdestotrotz wurde die Judenheit in der neuen Republik zunehmend zum Sündenbock gemacht. Der bereits aus der Monarchie geerbte Antisemitismus, der inzwischen wenig mit Religion, dafür vieles mit nationalistischen wie rassistisch-biologischen Vorstellungen zu tun hatte, breitete sich immer kräftiger aus. Insbesondere die Fluchtzuwanderung während des Weltkriegs trug dazu bei, dass die Geflüchteten häufig als „Parasiten“ verunglimpft wurden, die das Aufnahmeland Österreich ausbeuteten.22 Die Radikalisierung des Antisemitismus – wie der politischen Gewalt überhaupt – machte sich unter anderem in öffentlichen Krawallen in der Hauptstadt bemerkbar, wo es immer wieder auch zu gezielter Gewalt gegen die jüdische Bevölkerung kam.23 Diese öffentlichen Gewalttaten sollten sich in den frühen 1930er-Jahren zuspitzen und zunehmend tödlich ausfallen.24 Dies mag auch erklären, wieso in der Zwischenkriegszeit immer häufiger Menschen, die zuvor aus dem Judentum ausgetreten waren, der Kultusgemeinde offiziell wieder beitraten, und wieso die Anzahl an Austritten aus dem Judentum insgesamt abnahm, obwohl in der neuen säkularen Republik auch die rechtlich obligatorische Religionszugehörigkeit abgeschafft wurde.25 Das Kollektiv schien Schutz zu bieten, weshalb sich immer mehr Menschen aufgrund ihrer Ausgrenzungserfahrung wieder dem Judentum näherten.26 Das Erstarken des Judentums 21 Malleier: Jüdische Frauen, S. 105. 22 Lichtblau, Albert: Zufluchtsort Wien. Jüdische Flüchtlinge aus Galizien und der Bukowina, in: Patka, Marcus (Hg.): Weltuntergang. Jüdisches Leben und Sterben im Ersten Weltkrieg, Wien 2014, S. 140. Siehe auch Riedl: Jüdisches Wien, S. 75–78. 23 Siehe z. B. Die Sonntagsdemonstration auf dem Franz-Josefs-Kai, in: Neues Wiener Tagblatt, 10. November 1919, S. 5. Vgl. allgemein Botz, Gerhard: Gewalt in der Politik. Attentate, Zusammenstöße, Putschversuche, Unruhen in Österreich 1918 bis 1934, München 1976. 24 Vgl. Berkley: Vienna and its Jews, S. 212. 25 Grab: Das Wiener Judentum, S. 60. 26 Adunka, Evelyn: Die Veränderungen der Wiener jüdischen Gemeinde in der Zwischenkriegszeit 1918 bis 1938, Vortrag auf der Konferenz Jüdisches Wien vom Ende des 1. Weltkriegs bis zur Schoa, 1918–1945, Wien, November 2012, S. 16.
Demokratisierung, „Orthodoxisierung“ und gegenseitige Ausgrenzung
bzw. des Zugehörigkeitsgefühls zum jüdischen Kollektiv in der Ersten Republik – das sowohl als religiöses, kulturelles und politisches Phänomen zu sehen ist – deutet jedenfalls auf die zunehmende Kluft zwischen den jüdischen und nichtjüdischen Gesellschaftssphären und die Definition der Zugehörigkeit zur österreichischen Kultur nach einem zunehmend segregierten Schema der „jüdischen Differenz“. Mit dem Zerfall der supranationalen Imperien, der radikalen Nationalisierung der geopolitischen Lage in Zentraleuropa infolge der Friedensverträge und des 14-Punkte-Programms des US-Präsidenten Woodrow Wilson sowie dem Erstarken des Antisemitismus erfuhr nach Kriegsende auch der politische Zionismus eine plötzlich erstarkte Zugkraft.27 Die 1917 verkündete BalfourDeklaration, womit die britische Regierung kalkuliert die Unterstützung internationaler jüdischer Organisationen auf ihre Seite im Krieg gegen die Mittelmächte dadurch zu gewinnen versuchte, dass sie dem „jüdischen Volke“ eine „nationale Heimstätte“ in Palästina versprach, bewirkte einen Umschwung in der Realisierbarkeit des zuvor recht utopisch erscheinenden zionistischen Projekts, was sich bereits zu Kriegsende in der Gründung von „jüdischen Nationalräten“ in verschiedenen Nachfolgestaaten Zentral- und Osteuropas, darunter auch in „Deutschösterreich“, zeigte.28 Es fühlten sich viele Jüdinnen und Juden nicht nur zunehmend von den oft antisemitisch besetzten nationalen Diskursen in Zentraleuropa ausgeschlossen: Während sich andere gefühlte oder tatsächliche „Minderheiten“ – man denke beispielsweise an Deutsch- und Ungarischsprachige in der Tschechoslowakei – sich auf bestehende Nationalstaaten berufen konnten, hatte die europäische Judenheit, in der Eigen- wie in der Fremdwahrnehmung zunehmend als abgesondertes Kollektiv verstanden, keinen solchen Staat. Der Zionismus versprach einen ebensolchen.29 Die nationale Frage erzeugte unter den Judenheiten schichtenübergreifend pro- bzw. antizionistische Spaltungen: in der Linken zwischen sozialistischen ZionistInnen und SozialdemokratInnen, in der Mittelschicht zwischen Nationalen und Liberalen und in der Orthodoxie zwischen der (prozionistischen) Misrachi-Bewegung und der (antizionistischen) Agudat Israel.30 Das Erstarken des Zionismus auch innerhalb der Wiener Kultusgemeinde der Zwischenkriegszeit zeigte sich in den Vorstandswahlen: Waren die zionistischen Fraktionen vor dem Weltkrieg noch eine schwindende Minderheit, so gewannen sie fortan 27 Vgl. Rechter: The Jews of Vienna, insb. S. 9. 28 Vgl. Rechter, David: Die große Katastrophe. Die österreichischen Juden und der Krieg, in: Patka, Marcus (Hg.): Weltuntergang. Jüdisches Leben und Sterben im Ersten Weltkrieg, Wien 2014, S. 16–17. 29 Almog: Nationalism and Antisemitism, S. 100. 30 Vgl. mit Bezug auf Wien Freidenreich: Jewish Politics, S. 48.
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stets etwa ein Drittel der Stimmen, in stetiger Konkurrenz zu den Liberalen und den Orthodoxen stehend.31 Die neuen Möglichkeiten, die sich nach der Balfour-Deklaration im britisch regierten Palästina aufgetan hatten, mündeten schließlich auch in einer erheblichen Anzahl an alijot (plural von alija, sprichwörtlich „Aufstieg“; die Auswanderung von Jüdinnen und Juden ins Heilige Land): Laut der Historikerin Evelyn Adunka wanderten zwischen 1920 und 1935 knapp 8.500 ÖsterreicherInnen nach Palästina aus.32 Vorbote dieser Wende in der Kultusgemeinde war die Ernennung des ausgesprochenen Zionisten Zwi Perez Chajes als Oberrabbiner im Herbst 1918.33 Sein Vorgänger, Moritz Güdemann, hatte noch in den 1890er-Jahre nach seinem unharmonischen Zusammentreffen mit dem Pionier der zionistischen Bewegung, Theodor Herzl, eines der einflussreichsten, aus dem jüdischen Schrifttum begründeten Traktate gegen das „Nationaljudenthum“ veröffentlicht.34 Dass Güdemann zwanzig Jahre später ausdrücklich den in Galizien geborenen Rabbiner Zwi Perez Chajes als seinen Nachfolger empfahl, zeigt, wie sehr sich die realpolitischen Zustände über diese Jahre gewandelt hatten.35 Diese Anstellung wurde dennoch von vielen Seiten vehement abgelehnt, nicht nur, wie zu erwarten war, seitens der Österreichisch-Israelitischen Union, sondern auch von verschiedenen antizionistischen orthodoxen Gruppen, und nicht nur in Wien, sondern auch seitens jüdischer Gemeinden in anderen Teilen der gerade noch bestehenden Habsburgermonarchie. Insbesondere seine Vorsprache bei Kaiser Karl I. im Oktober 1918 bezüglich dessen Anerkennung der Judenheit als „nationale Minderheit“ in Österreich-Ungarn rief unter einer jüdischen Bevölkerung Empörung hervor, von denen über 300.000 im Krieg für das „österreichische Vaterland“ gekämpft hatten und über 30.000 gestorben waren.36
31 Vgl. die Wahlergebnisse in Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Bericht der Israelitischen Kultusgemeinde Wien über die Tätigkeit in der Periode 1912–1924, Wien 1924, S. 3–4; Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Bericht der Israelitischen Kultusgemeinde Wien über die Tätigkeit in der Periode 1925–1928, Wien 1928, S. 3; Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Bericht der Israelitischen Kultusgemeinde Wien über die Tätigkeit in der Periode 1929–1932, Wien 1932, S. 3; Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Bericht des Präsidiums und des Vorstandes der Israelitischen Kultusgemeinde Wien über die Tätigkeit in den Jahren 1933–1936, Wien 1936, o. S., Abschnitt „Allgemeiner Bericht“. 32 Adunka: Die Veränderungen der Wiener jüdischen Gemeinde, S. 3–5. 33 Vgl. z. B. Fraenkel: The Chief Rabbi and the Visionary, S. 118. 34 Güdemann, Moritz: Nationaljudenthum, Leipzig 1897. Vgl. auch Corbett: „Was ich den Juden war, wird eine kommende Zeit besser beurteilen…“, S. 69. 35 Zu den Ansichten von Chajes und seinem Programm vgl. seine Antrittsrede in Gold, Hugo: Zwi Perez Chajes. Dokumente aus seinem Leben und Wirken, Tel Aviv 1971, S. 25–29. 36 Vgl. die verschiedenen Dokumente in Oberrabbiner Dr. Zwi Perez Chajes, Amtstätigkeit (betr. u. a. seine zionistischen Aktivitäten und die Kritik seiner Gegner), CAHJP, A/W 725,4.
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Trotz seines Zionismus verkörperte aber auch Chajes die komplexe Intersektionalität der damaligen Kultusgemeinde: Gleichermaßen religiös konservativ wie politisch progressiv, setzte er sich ebenso für eine zionistische Politik ein, wie er demokratische Reformen vorantrieb und gleichzeitig die alteingesessenen Liberalen zu besänftigen versuchte.37 Als Chajes am 13. Dezember 1927 verstarb, wurde seine Bedeutung, wie es in einem Tätigkeitsbericht der Kultusgemeinde festgehalten wurde, durch „die ungeheure Anteilnahme der Bevölkerung an den Beerdigungsfeierlichkeiten“ drei Tage später bekundet, die sogar vom österreichischen Bundespräsident Michael Hainisch und Bundeskanzler Johann Schober besucht wurden.38 Am Trauerzug durch die Innenstadt nahmen geschätzt 50.000 Menschen teil.39 Einzigartig in der Geschichte der Wiener jüdischen Friedhöfe war die Überführung seiner sterblichen Überreste nach Israel 1950, da auch sein monumentaler Grabstein mitgenommen wurde: Leichnam und Grabstein befinden sich heute im prominenten Trumpeldor Friedhof im Zentrum von Tel Aviv.40 Das plötzliche Erstarken des politischen Zionismus innerhalb der Kultusgemeinde ist gewiss auch als Folge der massiven Zuwanderung galizischer Jüdinnen und Juden während des Weltkriegs zu deuten. Es wird geschätzt, dass die überwältigende Mehrzahl der etwa 137.000 Geflüchteten, die 1915 aus Galizien in der Haupt- und Residenzstadt Wien eintrafen, jüdisch waren (wobei sich sehr unterschiedliche Zahlen in der Forschungsliteratur finden, die wohl die Wirren dieser erheblichen Fluchtbewegungen reflektieren).41 Die Kriege, die auch in Galizien und der Bukowina zwischen Polen, der Ukraine und der Sowjetunion in den Jahre 1917 bis 1921 tobten, in denen geschätzte 200.000 Jüdinnen und Juden umkamen oder ermordet wurden, machten für viele der Geflüchteten eine Rückkehr in ihre Heimstätten unmöglich.42 Obwohl viele Geflüchtete nach Kriegsende entweder doch nach Hause zurückkehrten oder weiterzogen, beispielsweise nach Palästina oder in die USA, blieben nach 1918 etwa 35.000 galizische Jüdinnen und Juden in Wien. Die Migrationserfahrung vieler dieser Menschen, wie es der um diese Zeit in Wien geborene und vor dem Nationalsozialismus geflüchtete John Emanuel Ullmann später feststellte, war „viel eher eine echte Emigration und eine Abbrechung der [persönlichen] 37 38 39 40
Vgl. Freidenreich: Jewish Politics, S. 124. Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Bericht [1928], S. 6. Berkley: Vienna and its Jews, S. 188. Eine Photographie aus dem Jahre 1945 zeigt seinen wild verwachsenen Grabstein beim I. Tor vor der Überführung: o. T., o. D., LBI, Rothschild Transit Camp Photographs Collection, 1–7 Zentralfriedhof, 4.Tor, ca. 1945, DM 197, Nr. 24. 41 Vgl. Lichtblau: Zufluchtsort Wien, S. 138. 42 Vgl. jüngst Bemporad, Elissa: Legacy of Blood. Jews, Pogroms and Ritual Murder in the Lands of the Soviets, Oxford 2020. Ich danke der Autorin für die Übermittlung der Statistik.
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Verbindungen“ als es für frühere Generationen der Wiener Judenheit der Fall gewesen war, die in ganz anderen Umständen – wie viele Nichtjüdinnen und -juden auch – die Umsiedlung in die damalige Haupt- und Residenzstadt unternommen hatten und im Kontext der Monarchie meist die Verbindungen in ihre Heimatstädte und -länder aufrecht erhalten konnten.43 Diese Zuwanderung erklärt den deutlichen Anstieg der jüdischen Bevölkerungszahl Wiens in der Volkszählung von 1923, als sie ihren historischen Höhepunkt mit etwa 200.000 erreichte, obwohl diese Zahl infolge zunehmender Emigration sowie Austritte aus der Kultusgemeinde bis 1934 wieder auf 175.000 sank.44 Die Volkszählung ergab, dass bloß 38 Prozent der jüdischen EinwohnerInnen in diesem Jahr in Wien gebürtig waren und dass zudem 58 Prozent der Wiener Jüdinnen und Juden nun, da die meisten ehemaligen Kronländer der Monarchie nicht mehr zu Österreich zählten, offiziell im „Ausland“ geboren waren. Dies untermauerte ein altüberliefertes Klischeebild der jüdischen Bevölkerung als „immigriertes“ und daher nicht wirklich zugehöriges Kollektiv, ungeachtet der Tatsache, dass auch ein erheblicher Teil der nichtjüdischen Bevölkerung – damals wie heute – einen ähnlichen „Migrationshintergrund“ aus den Nachbarländern Österreichs hatte. Diese Statistik bezog eben auch eine beträchtliche Anzahl galizischer EinwanderInnen mit ein, ehemalige EinwohnerInnen der österreichischen Reichshälfte, die infolge der geänderten geopolitischen Konstellation Zentraleuropas nun als „polnisch“ galten.45 Die galizische Zuwanderung brachte eine kurzlebige jiddische Subkultur samt Verlagen und Theater mit sich nach Wien, einer Stadt, die ansonsten nie eine ausgeprägte jiddische Kultur beheimatet hatte. Eine solche konnte sich dem Historiker Albert Lichtblau zufolge auch jetzt „nicht wirklich etablieren“, und „viele jiddische Kulturschaffende verließen Wien noch vor 1938“. Dennoch bewirkte die verstärkte Zuwanderung aus Galizien eine weitere Diversifizierung der Kultusgemeinde und zugleich einen Schub in Richtung einer orthodoxen, als „ostjüdisch“ begriffenen Kultur. Vor allem die miteingewanderten chassidischen Gemeinschaften – Anhänger der osteuropäischen „Wunderrabbiner“, eine ganz eigenartige moderne Ausprägung innerhalb des Judentums, von denen Dutzende während des Weltkriegs nach Wien flüchteten und von denen wiederum einige beim IV. Tor bestattet wurden – führten in den Augen der alteingesessenen jüdischen WienerInnen „ein exotisch-archaisch wirkendes religiöses Leben“. Doch wie Lichtblau zutreffend schloss, war diese neue Iteration der Kultusgemeinde gewiss „nichts Neues, sie wurde mit dem Zustrom der
43 Ullmann: The Jews of Vienna, S. 7. 44 Freidenreich: Jewish Politics, S. 17. 45 John/Lichtblau: Schmelztiegel Wien, S. 114, 33–34.
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Flüchtlinge nur anders, eben vielfältiger. So war es auch bei den internen Spannungen, seien sie religiös, kulturell oder habituell bedingt.“46 Allerdings wurde dabei auch das Konfliktpotenzial innerhalb der Einheitsgemeinde beträchtlich erhöht, was sich nicht zuletzt in Streiten rund um die Sepulkralkultur beim IV. Tor niederschlug. Die galizische Bevölkerung im Wien der Zwischenkriegszeit, die in sich recht heterogen war, wird in der Geschichtsschreibung oft mit krassen Klischees in Verbindung gebracht. So behauptete etwa die Historikerin Marsha Rozenblit, die galizische jüdische Bevölkerung „stellte eine abgesonderte und selbstbewusste Gruppe in der Wiener jüdischen Szene dar“, die klar unterscheidbar war von „den eingeborenen böhmischen, mährischen und ungarischen Jüdinnen und Juden“, die wiederum angeblich „eine hoch integrierte“, also im eher üblichen Jargon „assimilierte“ Gemeinschaft bildeten. So zeigt sich, wie die galizische Judenheit nicht nur in der damaligen antisemitischen Vorstellung, sondern auch in der späteren Historiographie als Inbegriff des „wahren“, „unassimilierten“ „Ostjudentums“ fungierte, während alle andere Gruppierungen, die Teil dieser so großen und diversen, in der Kultusgemeinde vereinten Gemeinschaft bildeten, somit auch beispielsweise die orthodoxen Ungarnstämmigen der sogenannten Schiffschul (die Vereinssynagoge in der Großen Schiffgasse im 2. Bezirk), hier bloß als „hoch integriert“, in anderen Worten als „hoch assimiliert“ in einen Topf geworfen werden. Die galizische Judenheit indes lebte laut Rozenblit in der „austrodeutschen Stadt“ Wien weiterhin ihre „‚polnische‘ jüdische Kultur“ aus.47 Auch hier wird eine einfache Dichotomie aufgestellt zwischen den „Ostjuden“ und den (nichtjüdischen) „deutschen“ ÖsterreicherInnen – der breiten Diversität der Wiener Bevölkerung zum Trotz, die sich aus allen Ländern der alten Monarchie zusammensetzte. Dass sich viele der nichtjüdischen WienerInnen in dieser Zeit tatsächlich als „Deutsche“ betrachtet haben dürfen, zeigt auch nur wieder auf, wie konstruiert „Identitäten“ und wie wandelbar Zugehörigkeitsgefühle sind, besonders über Generationen hinweg betrachtet. Umgekehrt muss man nur ein Beispiel wie den in Brody geborenen Schriftsteller Joseph Roth betrachten, um zu sehen, inwiefern auch die galizische Judenheit mitunter „modern“, nicht besonders stereotyp „jüdisch“, aber zutiefst mit der „österreichischen“ Kultur verwachsen war – gelten ja gerade Roths Werke wie Radetzkymarsch (1932), Die Büste des Kaisers (1934) oder Die Kapuzinergruft (1938) heute als Verkörperung des Wesens des Österreichertums im
46 Lichtblau: Zufluchtsort Wien, S. 141. 47 Rozenblit, Marsha: A Note on Galician Jewish Migration to Vienna, in: Austrian History Yearbook 19/1 (Jänner 1983), S. 151–152.
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frühen 20. Jahrhundert. Roth mag verklärend geschrieben haben, dass die „Ostjuden […] nirgends eine Heimat, aber Gräber auf jedem Friedhof “ hatten, und tradierte damit ein ergreifendes Bild des Exilzustands der Judenheiten Osteuropas weiter.48 Allerdings täuscht dieses Bild über die Tatsache hinweg, dass die galizischen „Ostjuden“ vor den Brüchen des 20. Jahrhunderts seit Generationen dort beheimatet gewesen waren, ja sogar dort tiefer verwurzelt als es Jüdinnen und Juden jahrhundertelang in vielen westlichen Ländern, darunter auch in den Stammländern Österreichs, gewesen waren. Nicht zuletzt waren die „Juden auf Wanderschaft“, wie sie Roth nannte, ja unterwegs in einem Österreich, das zu dieser Zeit nicht weniger auf Wanderschaft war. Es vollzog sich in den Jahren nach dem Weltkrieg, zum Teil infolge der Zuwanderung aus Galizien, aber vermutlich auch infolge des zunehmenden Antisemitismus im neuen Österreich, nicht nur eine politische „Zionisierung“ innerhalb der Kultusgemeinde sondern ebenfalls eine religiöse „Orthodoxisierung“, bei der frühere Konflikte rund um den religiösen und „jüdischen“ Charakter der Gemeinde aufgegriffen und verstärkt wurden. Bereits in den 1890er-Jahren, im Zuge der Streitigkeiten rund um die Formulierung der neuen Statuten der Kultusgemeinde infolge des Israelitengesetzes, hatte der spätere Präsident der Kultusgemeinde Alfred Stern die offizielle Stellung bezogen, dass „was heute als ein alter synagogaler Ritus bezeichnet wird, […] einstens […] ein neuer“ war und dass die sogenannten „orthodoxen Riten“ somit im Vergleich zu den reformerischen bzw. liberalen bloß als Praktiken „einer strengeren Observanz“ verstanden werden mussten. Bezeichnenderweise nannte sich die Schiffschul „Synagoge alten Ritus“, während die Synagoge Beth Israel (die sogenannte Polnische Schul) sich als „älteste[r] Verein orthodoxer Richtung in Wien“ bezeichnete – was wiederum seitens der „Vertrauensmänner“ der Schiffschul „bestritten“ wurde.49 Dies verdeutlicht den Authentizitätsanspruch der Orthodoxie als „wahres“ Judentum und als Verkörperung der „ jüdischen Tradition“, gleichzeitig die offensichtliche Konstruiertheit dieses Anspruches sowie nicht zuletzt die kollidierenden Ansprüche zwischen unterschiedlichen orthodoxen Bewegungen über die Frage, welche letztendlich die „authentischste“ war. Mit dem Umbruch 1918 taten sich die Fragen rund um die „richtige“ Form der Observanz innerhalb der Kultusgemeinde erneut auf. In einer Denkschrift 48 Roth, Joseph: Juden auf Wanderschaft [1927], in: Kesten, Hermann (Hg.): Joseph Roth Werke, Bd. 3, Köln 1976, S. 298. 49 Stern: Motiven-Bericht, S. 33–34. Vgl. zu diesen zerstrittenen Synagogenvereinen, die größten orthodoxen Verbände Wiens der Zwischenkriegszeit, Freidenreich: Jewish Politics, S. 116 sowie Burstyn, Ruth: Die „Schiffschul“. Geschichte, Hintergünde, in: Albrecht-Weinberger, Karl/Heimann-Jelinek, Felicitas (Hg.): Judentum in Wien. „Heilige Gemeinde Wien“ – Sammlung Max Berger, Wien 1988, S. 45–49.
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aus dem Jahre 1918 plädierte beispielsweise Moritz Tschiassny vom Wiener jüdischen Organisationskomitee für die Einführung musikalischer Begleitung in die Riten der Kultusgemeinde und begründete dies anhand der „wissenschaftlich erwiesene[n] Tatsache, daß während des Bestandes des ersten und zweiten Tempels [in Jerusalem in der Antike] die gottesdienstlichen Handlungen von Instrumentalmusik begleitet waren“. Hier zeigt sich, dass die Reformatoren ebenso wie die Konservativen ihre gegenwärtigen Anliegen auf eine vermeintliche Historizität und somit Authentizität zu stützen versuchten. Tschiassny beschwerte sich insbesondere über die „meist übliche Darstellungsweise“ des „Hazur-tamim-Gebet[s]“ (das aus 5. Moses 32,4 abgeleitete Trauergebet), die ihm zufolge „durchaus nicht den Empfindungen moderner musikalisch gebildeter Menschen“ entsprach, da sie an einem „Uebermaß des Pathos“ litt und somit „eine störende peinliche Empfindung“ hervorrief. Somit empfahl er, „daß der Kantor dieses Gebet von den Klängen einer Orgel oder wenigstens eines Harmoniums im Piano begleite“. Ebenso empfahl er, es solle „[a]uf die Einrichtung einer Orgel […] bei Erbauung der neuen Friedhofshalle [beim IV. Tor, die damals gerade erst in Planung war] unbedingt Bedacht genommen werden“ – was aber nie geschah. „Allzulange Reden“, so fuhr er fort, „mögen jedenfalls ausgeschlossen sein!“ Tschiassny beklagte, dass bei ärmeren Begräbnisklassen die BesucherInnen „des tröstlichen Zuspruches des Seelsorgers entbehren“ mussten, und forderte somit, „daß bei dem Leichenbegräbnisse ohne Unterschied der Klasse ein Rabbiner zu fungieren habe“ und dass „der Männerchor in angemessener Entfernung von der Grabstätte […] ein Lied in deutscher Sprache […] vortragen möge“.50 Mit anderen Worten forderte Tschiassny eine neuerliche Reform des Ritus, die dem Geschmack der BürgerInnen einer Weltstadt im frühen 20. Jahrhundert entsprechen sollte, zugleich aber angeblich nur eine Wiederbelebung antiker jüdischer Bräuche darstellte. In der Tat entflammte in diesen Jahren eine rege Diskussion rund um die Frage der Einführung von Orgelmusik in den Synagogen sowie bei Begräbnissen, eine Diskussion, die alsbald symbolisch für die Auseinandersetzung um das „wahre“ Judentum und den Streit zwischen Orthodoxie und Liberalismus stehen sollte.51 Interessanterweise bewegte sich aber die Diskussion gerade um die angemessenen Trauerriten am Friedhof, wie aus Tschiassnys Schrift zu entnehmen ist, auch in einem Spannungsfeld zwischen religiöser Observanz und materialistischem Bedenken, da es als unwürdig 50 Tschiassny, Moritz: Jüdische Kultus- und Erziehungsfragen. Eine Denkschrift, Wien 1918, S. 10, 28–29. 51 Vgl. z. B. Grunwald, Max: Der Kampf um die Orgel in der Wiener israelitischen Kultusgemeinde, Wien 1919, in dem der Rabbiner einen halachischen Appell gegen die Einführung der Orgel richtete, die er als „Schibboleth der Assimilation“ bezeichnete, S. 23.
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dargestellt wurde, bei Begräbnissen unbemittelter Personen nur aufgrund der Kosten auf religiöse Funktionäre zu verzichten. Bildeten diverse orthodoxe Gruppierungen zwar einen erheblichen Anteil der Kultusgemeinde der Zwischenkriegszeit – laut Harriet Freidenreich etwa zwanzig Prozent, wobei sie aber die „Orthodoxie“ hier nicht näher definierte – so war sie dennoch stets schwach im Vorstand vertreten, da sie sich nur schwer politisch einigen und mobilisieren konnte, im deutlichen Gegensatz zu anderen Ländern, beispielsweise Polen, wo orthodoxe Vereinigungen eine ernstzunehmende politische Kraft darstellten. Vor allem die infolge des Weltkriegs aus Galizien und der Bukowina nach Wien eingewanderten Chassidim blieben jeglicher Kultusgemeindepolitik fern, interagierten nur innerhalb ihrer eigenen um ihre jeweiligen „Wunderrabbiner“ kreisenden Gemeinschaften und konzentrierten sich voll und ganz auf die Praktizierung ihrer Religion. Darüber hinaus konnten sich viele Orthodoxe die Kultussteuer nicht leisten und waren daher nicht wahlberechtigt.52 Nichtsdestotrotz stellten die Orthodoxen in den oben zitierten Kultuswahlen 1920 – den ersten Wahlen seit Kriegsende – ihre eigene Liste auf – mit der Forderung, die Kultusgemeinde solle nach den (freilich orthodox verstandenen) jüdischen Religionsgesetzen verwaltet werden. Die orthodoxe Liste erlangte zwar nur acht Prozent der Stimmen, dennoch zeigte sich hier eine weitere sich herauskristallisierende politische Kraft innerhalb der Gemeinde. Die zunehmend wichtige Rolle, die Wien als Kristallisationspunkt der Orthodoxie in der Zwischenkriegszeit spielen sollte, zeigte sich exemplarisch darin, dass die Agudat Israel, die weltweit größte ultraorthodoxe Bewegung, in der Zwischenkriegszeit in Wien einen ihrer Hauptsitze gründete.53 1923 kam es in der Wiener Kultusgemeinde dann auch zum ersten Mal seit den 1870er-Jahren wieder zur Gefahr einer orthodoxen Sezession, dieses Mal seitens der Schiffschul, die den zionistischen Oberrabbiner Zwi Perez Chajes nicht anerkennen wollte. Unter anderem forderte die Schiffschul eine abgesonderte Abteilung am jüdischen Friedhof, die ihrem Rabbinat unterstehen sollte – eine Forderung, die Chajes zwar entschieden ablehnte, die aber die Segregationstendenzen der Orthodoxie zu dieser Zeit am Beispiel des Friedhofes klar zur Schau stellte, die noch weitere Folgen haben sollten. Schließlich traten 22 orthodoxe Vereine, darunter die Polnische Schul, gegen die Sezessionisten auf, und es kam zu keiner Spaltung. Eine solche wäre ohnehin rechtlich unhaltbar gewesen, schrieb
52 Freidenreich: Jewish Politics, S. 115. 53 Adunka, Evelyn: Die Israelitische Kultusgemeinde und der jüdische Nationalrat, in: Patka, Marcus (Hg.): Weltuntergang. Jüdisches Leben und Sterben im Ersten Weltkrieg, Wien 2014, S. 157.
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doch das (heute noch rechtswirksame) Israelitengesetz vor, dass in einem politischen Sprengel nur eine Kultusgemeinde bestehen durfte. Sowieso handelte es sich aus der Sicht des Staates hier, wie Harriet Freidenreich festhielt, „um einen Machtkampf um die Kontrolle innerhalb der Kultusgemeinde“, wobei „die Schaffung einer kleinen zweiten Gemeinde nicht der Zweck an sich war, sondern ein Mittel zum Zweck der Schwächung oder gar Zerstörung der größeren Kultusgemeinde“.54 Die steigende religiöse Kluft in der Kultusgemeinde zu dieser Zeit zeigt sich in der Statistik, dass Eheschließungen zwischen Orthodoxen und Nichtorthodoxen ebenso selten waren wie zwischen jüdischen und nichtjüdischen WienerInnen.55 Somit war Wien in der Ersten Republik nicht nur Schauplatz der Auseinandersetzung zwischen dem „Jüdischen“ und dem „Nichtjüdischen“, sondern auch um die Definition dessen, was als das „wahre Judentum“ gelten konnte: Die Abgrenzungsversuche der Orthodoxie sind ein profundes Beispiel der Konstruktion dessen, was Lisa Silverman mit Bezug auf genau diese Ära als „jüdische Differenz“ bezeichnete, hier aber ausschließlich auf „innerjüdischer“ Ebene ausgetragen wurde. In seinem zum Klassiker gewordenen Essay „Juden auf Wanderschaft“ aus diesen wandlungsreichen Jahren schilderte Joseph Roth 1927 die Welt der Orthodoxie, insbesondere des Chassidismus, wie folgt: Nichts dringt an die Außenwelt von dem Eifer, mit dem einzelne Gruppen einander bekämpfen, von dem Haß und der Bitterkeit, welche die Anhänger des einen Wunderrabbis gegen die des anderen aufbringen, und von der Verachtung, die alle frommen Juden gegen jene Söhne ihres Volkes hegen, die sich äußerlich an die Sitten und die Tracht ihrer christlichen Umgebung angepaßt haben.
Freilich tradierte auch Roth hier das Assimilationsnarrativ, dessen sich die Orthodoxen bedienten, indem er die nichtorthodoxe jüdische Kultur bloß als „an die christliche Umgebung angepasst“ auffasste. Dies unterstrich er ferner mit seinem Vorwurf der „Pietätslosigkeit der Juden gegen ihre Namen“, denn laut Roth sei ihr „wirklicher Name […] der, mit dem sie am Sabbat und an Feiertagen zur Thora aufgerufen werden: ihr jüdischer Vorname und der jüdische Vorname ihres Vaters“.56 Nichtsdestotrotz werden hier die Kontroversen rund um das Wesen der „Jüdischkeit“, und somit deren weitgehende Konstruiertheit unter den Judenheiten Zentral- und Osteuropas zu dieser Zeit deutlich, so auch im spezifischen Fall der Wiener Kultusgemeinde, die bald zu gegenseitigen Ausgrenzungsbestrebungen führten – wobei Wien nach wie vor eine Besonderheit in der modernen 54 Freidenreich: Jewish Politics, S. 130–133, 162. 55 John/Lichtblau: Schmelztiegel Wien, S. 239. 56 Roth: Juden auf Wanderschaft, S. 308, 360.
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jüdischen Geschichte Europas darstellte, da diese so große und offensichtlich heterogene Gemeinschaft bis zu ihrer Vernichtung in der Shoah als Einheitsgemeinde fortbestand. Auch die Schiffschul bildet übrigens eine Besonderheit in der Wiener jüdischen Geschichte: Diese verblieb über die Shoah hinaus als Kollektiv beständig, denn ein erheblicher Teil ihrer Mitglieder wurde nicht verstreut, sondern ging nach 1938 gemeinsam in die Emigration und siedelte sich als heute noch bestehender Verein namens Kahal Adas Jereim Wien (Gemeinde der Kongregation der Ehrwürdigen Wiens) in Brooklyn, New York an.57 Inzwischen haben sich die Nachkommen allerdings „chassidifiziert“, sprechen wie die Mehrheit der sie umgebenden orthodoxen Bevölkerung Brooklyns nun Jiddisch und haben somit endgültig die letzten Spuren ihres einstigen „Wienertums“ abgelegt, ein abermaliges Zeugnis der Wandelbarkeit der Kultur in all seinen Facetten. Der riesige Dachverband der Kultusgemeinde setzte sich infolge der radikalen demographischen Veränderungen nach dem Weltkrieg alleine in Hinblick auf die religiöse Observanz aus unzähligen Strömungen zusammen: Unter den 104 seitens der Kultusgemeinde offiziell anerkannten Betvereinen in der Zwischenkriegszeit gab es lediglich sieben offizielle Gemeindesynagogen und 16 assoziierte, also getrennt verwaltete Synagogen. Der Rest bestand aus zumeist kleinen Bethäusern. Von den insgesamt 104 Vereinen waren 85 orthodox – eine Verdoppelung der Anzahl orthodoxer Betvereine, die vor 1918 bestanden hatten – von denen wiederum 81 private, in der Mehrzahl in der Leopoldstadt ansässige Vereine darstellten. Diese massive Überzahl orthodoxer Betvereine, was im umgekehrten Verhältnis zum Anteil der orthodoxen Bevölkerung unter der Wiener Judenheit stand, veranschaulicht den Grad ihrer Anteilnahme in und ihren Einfluss auf das religiöse Leben der Gemeinde, sowie umgekehrt den Grad an Irreligiosität der nichtorthodoxen Kultusgemeindemitglieder, von denen die meisten zu dieser Zeit die Synagoge offensichtlich schlicht nicht besuchten. Dies geht rein zahlentechnisch aus der Tatsache hervor, dass bis 1936 alle Synagogen in Wien zusammengerechnet Platz für 30.000 Menschen boten – in einer Gemeinde, die offiziell um die 175.000 Mitglieder zählte.58 Geschätzte 20 orthodoxe Vereine waren chassidisch, von denen wiederum ganze 16 mit den Sadigora/Czortków-Dynastien verbunden waren, deren verschiedenen Grabhäuschen am Friedhof beim IV. Tor in diesem Kapitel eingehend beleuchtet werden. Signifikanterweise und im Gegensatz zu vielen der anderen orthodoxen Vereine erhielten die chassidischen meist keine Subventionen von der Kultusgemeinde: ein Zeichen ihrer völligen Abschottung, auch von 57 Berkley: Vienna and its Jews, S. 342. 58 Alle Zitate in der Reihenfolge ihrer Nennung: Freidenreich: Jewish Politics, S. 2, 19, 75, 79, 119–121.
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der nichtchassidischen „Mehrheitsgesellschaft“ innerhalb der Kultusgemeinde. Nicht zuletzt in der Sepulkralkultur ihrer Grabhäuschen wird der radikale Partikularismus der chassidischen Subkultur in Wien deutlich. Wie Harriet Freidenreich im bisher einzigen umfassenden Werk zum jüdischen Gemeindeleben im Wien der Zwischenkriegszeit detailliert darlegte, setzte sich also diese Gemeinde insgesamt aus „scheinbaren Widersprüchen“ zusammen, zersplittert in Bewegungen wie liberal, sozialistisch, jüdisch-national und orthodox. Allerdings muss, um Klischees und historischen Mustererklärungen gleich vorzubeugen, festgehalten werden, dass es auch erhebliche Unterschiede innerhalb solcher Strömungen gab, wie soeben bei der Orthodoxie aufgezeigt wurde. Zugleich gab es aber auch erhebliche Überschneidungen zwischen ihnen, so in Bezug etwa auf die Unterstützung respektive Ablehnung des Zionismus seitens einer bestimmten Gruppe. Die daraus resultierende politische, religiöse, soziale und kulturelle Komplexität der Gemeinschaft führte mitunter zu erheblichen Spannungen. Diese drehten sich insbesondere um das Wesen der Gemeindeorganisation: Betrachteten manche, so beispielsweise die alteingesessenen Liberalen sowie viele der Orthodoxen, die Kultusgemeinde hauptsächlich oder sogar ausschließlich als religiöse Institution, ging es den SozialistInnen in ihrem Programm vorwiegend um materielle Überlegungen wie Fürsorge und Arbeit, während wiederum die ZionistInnen den Aufgabenkreis der Gemeinde viel breiter, als Teil eines umfassenden kulturellen und politischen Programms zur Förderung des jüdischen „Volkstums“ auffassten.59 In den Kultusgemeindewahlen 1920 bezichtigten die zionistischen Fraktionen demnach die zuvor in der Mehrheit befindlichen Liberalen „des moralischen Bankrotts, da sie es zugelassen hatten, dass die Kultusgemeinde zu einem bloß administrativen Apparat degeneriert war“, der sich alleine mit der Registrierung von Geburten und Sterbefällen zufrieden gab, statt ein wahres „Zentrum jüdischen Lebens“ zu sein.60 Die zionistische Kritik der Kultusgemeinde in der Zwischenkriegszeit setzte sich auch über die Shoah hinaus fort: So fragte beispielsweise der federführende, in Galizien geborene Philologe Naftali Herz Tur-Sinai in einer Retrospektive der zerstörten Wiener jüdischen Gemeinde 1967: „Und was war die letzte Errungenschaft jener Gemeinde? Die Konstruktion einer üppigen Synagoge am Friedhof, ein Bauwerk, das sie Millionen von Schillingen kostete, während nicht ein Groschen für die Erhaltung kultureller Institutionen bereit stand.“61 Gemeint war hier die monumentale Zeremonienhalle, die inmitten der 1920er-Jahre beim IV. Tor errichtet wurde 59 Freidenreich: Jewish Politics, S. 2–4. 60 Freidenreich: Jewish Politics, S. 75, 79. 61 Tur-Sinai, Naftali Herz: Viennese Jewry, in: Fraenkel, Josef (Hg.): The Jews of Austria. Essays on Their Life, History and Destruction, London 1967, S. 318.
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und tatsächlich ein sehr kostspieliges Projekt für die finanziell herausgeforderte Kultusgemeinde darstellte. Parallel zur Demokratisierung Österreichs trieben ihrerseits die nun im Vorstand relativ stark vertretenen ZionistInnen die Demokratisierung des Wahlrechts innerhalb der Kultusgemeinde voran, was sich in einer Novellierung der Statuten der Kultusgemeinde 1920 zeigte: So erhielten fortan laut §70 und §71 alle Mitglieder das Wahlrecht, „ohne Unterschied des Geschlechtes“, was allerdings nach wie vor an eine Mindestzahlung der Kultussteuer von 20 Kronen gebunden war, sodass von vornherein fast die Hälfte der Mitgliedschaft von den Wahlen ausgeschlossen war.62 Zudem waren die vielen außerhalb der neuen Grenzen Geborenen, deren Staatsbürgerschaften im nunmehrigen Ausland lagen, nach dem Israelitengesetz nicht wahlberechtigt. Immerhin stieg die Zahl der Wahlberechtigten infolge des neuen Wahlrechts von 12.000 in 1920 auf 35.000 in 1924, was ein Fünftel der Mitgliedschaft ausmachte.63 Das veränderte politische und wirtschaftliche Klima der neuen Republik hinterließ auch im Machtgefüge der Kultusgemeinde seine Spuren. So bestand der Vorstand nicht mehr wie vor dem Weltkrieg vorwiegend aus Mitgliedern des teils geadelten Großbürgertums, sondern setzte sich fortan gleichermaßen aus unabhängigen Geschäftsmännern, Angestellten und Unternehmern zusammen.64 Nach wie vor durften allerdings laut §7 der oben zitierten Statuten nur „wahlberechtigte, die österreichische Staatsbürgerschaft besitzende Personen männlichen Geschlechtes“ in den Vorstand gewählt werden. Somit verblieb die Kultusgemeindeorganisation nach wie vor eine von Männern dominierte Institution, was sich auch weiterhin in der offiziellen Gedenkkultur am neuen Friedhof zeigen sollte. Indes verblieb die kleine sephardische Gemeinde laut den novellierten Statuten in der Ersten Republik als „Verband der türkischen Israeliten (Sephardim) zu Wien“ der Kultusgemeinde einverleibt, musste laut §3 zwar keine Kultussteuer verrichten, hatte dafür aber auch kein Wahlrecht und somit keinen wirklichen Einfluss innerhalb des Dachverbands. War das politische Klima in der Ersten Republik schon schwierig für die jüdische Bevölkerung, so verkomplizierte sich ihre politische und gesellschaftliche Lage noch einmal erheblich infolge des Staatsstreiches von Engelbert Dollfuß und der Etablierung des austrofaschistischen „Ständestaats“ 1933/34.65 Die Errichtung einer faschistischen Diktatur war selbstverständlich unhaltbar für viele der liberalen, kosmopolitischen bzw. sozialistischen Jüdinnen 62 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Statut der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien, Wien 1920. 63 Adunka: Die Israelitische Kultusgemeinde, S. 155–156. 64 Freidenreich: Jewish Politics, S. 38. 65 Vgl. grundlegend Tálos, Emmerich: Das austrofaschistische Herrschaftssystem. Österreich 1933–1938, Wien 2013.
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und Juden, und es machte sich bereits ab den frühen 1930er-Jahren eine Abwanderung insbesondere von Kulturschaffenden aus Österreich bemerkbar.66 Seitens der Kultusgemeindeorganisation wurde aber laut Evelyn Adunka die 1934 oktroyierte Maiverfassung „offiziell begrüßt“. Der Vorstand „organisierte einen Festgottesdienst und [der] Präsident Desider Friedmann sagte auf einer Versammlung: ‚Eine Verfassung, die im Namen Gottes verkündet wird, kann nicht gegen uns Juden sein, denn auch wir sind Kinder Gottes‘.“67 Infolge der internen „Säuberung“ des Kultusvorstands 1934 von linken Mitgliedern, die Harriet Freidenreich als „Hexenjagd“ beschrieb, stand die Kultusgemeinde als größte Repräsentativkörperschaft der österreichischen Judenheit der Diktatur offen nahe.68 So wurden auch drei führende Kultusgemeindefunktionäre auf offizielle Posten im neuen Regime berufen: der 1944 in Auschwitz ermordete Präsident Desider Friedmann in den Staatsrat, der 1941 in Wien verstorbene Bibliothekar Salomon Frankfurter in den Kulturrat und das 1938 in Dachau ermordete Vorstandsmitglied Jakob Ehrlich in den Stadtrat. Mit dem zunehmenden Einfluss sowohl der religiösen Orthodoxie wie des politischen Zionismus innerhalb der Gemeinde wurden sogar bestimmte Segregationsmaßnahmen des „Ständestaats“, beispielsweise im Bildungswesen, seitens der Kultusgemeinde willkommen geheißen.69 Diese Befürwortung der Dollfuß-Schuschnigg-Diktatur – Kurt Schuschnigg ersetzte Dollfuß nach dessen Ermordung in einem misslungenen NSPutschversuch im Juli 1934 – seitens der Kultusgemeinde sowie breiter Teile ihrer Mitgliedschaft wird oft in der Historiographie als kalkulierte Strategie abgetan, wodurch die Judenheit im Austrofaschismus das letzte Bollwerk gegen den Nationalsozialismus innerhalb Österreichs, gegen NS-Deutschland außerhalb und, retrospektiv betrachtet, gegen ihre eigene Vernichtung wahrzunehmen glaubte.70 Dabei zeigt sich die Tendenz seitens der Geschichtsschreibung nach der Shoah, einer jüdischen Unterstützung des Faschismus keinen Glauben schenken zu wollen, um vermutlich dadurch das (reale) Opfer der Judenheit im darauffolgenden Genozid nicht zu verwässern. Dieses Geschichtsbild, wonach 66 Vgl. Warren, John: „Weiße Strümpfe oder neue Kutten“. Cultural Decline in Vienna in the 1930s, in: Holmes, Deborah/Silverman, Lisa (Hg.): Interwar Vienna. Culture between Tradition and Modernity, Rochester 2009, S. 32–37. 67 Adunka: Die Veränderungen der Wiener jüdischen Gemeinde, S. 16. Siehe auch Berkley: Vienna and its Jews, S. 219. 68 Freidenreich: Jewish Politics, S. 165–166. 69 Yanovsky, Sara: Jewish Education in Interwar Vienna. Cooperation, Compromise and Conflict Between the Austrian State and the Viennese Jewish Community, in: Bischof, Günter/Plasser, Fritz/Berger, Peter (Hg.): From Empire to Republic. Post-World War I Austria, New Orleans 2010. 70 Vgl. beispielhaft Freidenreich: Jewish Politics, S. 195.
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Jüdinnen und Juden von Natur aus keine FaschistInnen sein konnten bzw. die Geschichtsentwicklung scheinbar vorausahnen konnten, ist nicht nur unhaltbar dichotom und teleologisch: Es zeugt auch von einer ebenso problematischen Tendenz in der Historiographie, jüdische AkteurInnen, ihre Anschauungen und ihre Zugehörigkeitsgefühle nicht ernst zu nehmen bzw. diese immer nur als Teil eines (diesem Narrativ zufolge verfehlten) Assimilationsdrangs zu erörtern. Gerade die breite Unterstützung der österreichischen Judenheit für den Austrofaschismus wurde aber nach dem „Anschluß“ von den NationalsozialistInnen ausgenützt, um ihre Darstellung einer jüdischen Verschwörung gegen die „Einheit und Freiheit“ des „deutschen Volkes“ (in Form einer Annektierung deutschsprachiger Bevölkerungen wie jener Österreichs und des Sudetenlands) unter Beweis zu stellen – ein bemerkenswertes Pendant zur sonst üblichen Verschwörungsphantasie des „jüdischen Bolschewismus“, der sich auch in der Ersten Republik, vor allem in Bezug auf das „Rote Wien“, breitmachte.71 Diese Unterstützung war, der gängigen Geschichtsschreibung zum Trotz, auch nicht einseitig: Die austrofaschistische Diktatur, so ambivalent sie gegenüber der Judenheit gewesen sein mochte, konnte auch nicht deren Unterstützung entbehren, angesichts der tiefen politischen Spaltungen im damaligen Österreich und der relativen Größe der jüdischen Bevölkerung.72 Zwar lehnte der Austrofaschismus dem Historiker Bruce Pauley zufolge offiziell den „‚übertriebenen‘ Rassismus, einschließlich rassischen Antisemitismus, auch ab“, versuchte allerdings – wohlgemerkt als Auswuchs der Christlichsozialen Partei –, sich „die eher traditionelle Art des kulturellen Antisemitismus anzueignen, die bereits von Karl Lueger populär gemacht worden war, wenn auch beinahe alle Juden treue Anhänger des Regimes waren“ – wobei letztere Behauptung eine gewaltige Übertreibung ist. Unter Schuschnigg wurde die Anzahl der Juden im Finanzwesen, in der Justiz und in der Medizin „stillschweigend“ reduziert, „um 71 Vgl. Secklehner, Julia: Bolshevik Jews, Aryan Vienna? Popular Antisemitism, in: „Der Kikeriki“, 1918–1933, in: Leo Baeck Institute Yearbook 63 (2018). 72 Vgl. Pauley, Bruce: Politischer Antisemitismus im Wien der Zwischenkriegszeit, in: Botz, Gerhard/Oxaal, Ivar/Pollak, Michael (Hg.): Eine zerstörte Kultur. Jüdisches Leben und Antisemitismus in Wien seit dem 19. Jahrhundert, Buchloe 1990, S. 240. Ein fast 1.200-seitiger Band betonte jüngst den grassierenden Antisemitismus in Österreich in den Jahren der austrofaschistischen Herrschaft, doch zeigt dies freilich nur eine Seite der Geschichte – eine fundierte Studie der Einbindung der Judenheit im Austrofaschismus steht noch aus. Enderle-Burcel, Gertrude/Reiter-Zatloukal, Ilse (Hg.): Antisemitismus in Österreich 1933–1938, Wien 2018. Vgl. allerdings darin den nuancierten Beitrag von Wohnout, Helmut: Politischer Katholizismus und Antisemitismus – sowie als neuen Forschungsansatz zu den positiven Beziehungen der Judenheit zum Austrofaschismus Corbett, Tim: Once „the Only True Austrians“. Mobilising Jewish Memory of the First World War for Belonging in the New Austrian Nation, 1929–1938, in: Madigan, Edward/Reuveni, Gideon (Hg.): Jewish Experience of the First World War, London 2019.
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ihre Anzahl stärker mit ihrem prozentualen Anteil an der Gesamtbevölkerung Österreichs in Übereinstimmung zu bringen“ während „[d]ie wenigen Juden in den Gemeinderäten, Bundes- und Landesregierungen […] nahezu vollständig ausgeschaltet wurden“.73 So bewirkte die austrofaschistische Diktatur die langsame Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung in der österreichischen Öffentlichkeit: Abgesehen vom politischen, geistlichen und kulturellen Exodus, der bereits nach dem Staatsstreich 1933/34 einsetzte, zeigte sich dies in der Statistik, dass bis 1937 ein Drittel der jüdischen WienerInnen arbeitslos waren, erheblich mehr als der Anteil der nichtjüdischen Arbeitslosen.74 Die wachsende Armut der jüdischen Bevölkerung zeigte sich beispielhaft in der Tatsache, dass die Anzahl der von der Kultusgemeinde finanzierten Bestattungen von Mittellosen von 760 im Jahre 1928 auf 1.508 im Jahre 1935 stieg, was in diesem Jahr etwa 65 Prozent der gesamten Bestattungskosten am Friedhof beim IV. Tor ausmachte.75 Bereits in den 1920er-Jahren hatte sich zudem der Amtsleiter der Kultusgemeinde, Wilhelm Freistadt, darüber beschwert, dass Menschen auf dem Friedhofsgelände bettelten und die BesucherInnen belästigten, ebenfalls ein Indiz für die ökonomische Misere dieser Jahre, die sich auch am Friedhof bemerkbar machte.76 Im Jahre 1930 veröffentlichte die Kultusgemeinde eine „Mitteilung“, mit der sie ihre Mitglieder über ihre „Leistungen“ informieren wollte und „dadurch ihr werktätiges Interesse für das jüdische Fürsorgewesen Wiens zu erwecken“ suchte. Die Rolle der Kultusgemeinde wurde hier als von „nicht nur historische[m] Wert, nicht nur heilige[m]“ angeführt; die Organisation bestand „nicht nur deshalb […] weil es das Gesetz verlangt“, sondern auch weil „deren Bestand für einen Großteil der Judenschaft einen moralischen Rückhalt bedeutet, der heute weniger entbehrt werden könnte, denn je“. Zweifellos sollte diese Mitteilung implizit zur Zahlung der Kultussteuer motivieren, da in diesen Jahren die Kultusgemeinde zunehmend für Wohltätigkeitszwecke – darunter eben auch für die Bestattung von Mittellosen – aufkommen musste. Im Jahr zuvor hatte die Kultusgemeinde beispielsweise 6.300.000 Schilling ausgegeben, aber nur 2.540.000 an Kultussteuern bezogen. Die Mitteilung behauptete, dass die Mitglieder sowohl der Berliner jüdischen Gemeinde wie der österreichischen katholischen und evangelischen Kirchen alle verhältnismäßig mehr Kultus- bzw. Kirchensteuer verrichteten, als es die Mitglieder der Wiener Kultusgemeinde 73 Pauley, Bruce: Der Weg in den Nationalsozialismus. Ursprünge und Entwicklungen in Österreich, aus dem Englischen von Gertraud und Peter Broucek, Wien 1988, S. 158; siehe auch S. 84 sowie Pauley: Politischer Antisemitismus, S. 240–244. 74 Vgl. Freidenreich: Jewish Politics, S. 16–17. 75 Vgl. Freidenreich: Jewish Politics, S. 154 und Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Bericht [1936], o. S., Abschnitt „Friedhofs- und Beerdigungswesen“. 76 Exenberger: Gleich dem kleinen Häuflein der Makkabäer, S. 136.
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taten, die sich dennoch über die Höhe der Steuer beschwerten (eine zum Teil fragliche Behauptung, denn eine offizielle Kirchensteuer wurde in Österreich erst nach dem „Anschluß“ eingeführt). Die Kultusgemeinde erklärte hier, wofür die Steuer unentbehrlich war: für die Jugenderziehung, Altersfürsorge, Arbeitslosenfürsorge sowie Krankenpflege. In diesem Zusammenhang wurde auch das jüdische Altersheim in der Seegasse erwähnt, samt einer aussagekräftigen Deutung des daneben gelegenen Friedhofs: Tiefe Symbolik liegt in diesem Nebeneinander. Will man die Ursachen ergründen, die das Wunder bewirkten, daß ein kleines Volk trotz unsäglicher Leiden und Verfolgungen sich durch Jahrtausende erhalten und alle großen Völker überdauern konnte, so wird gewiß einer der stärksten Gründe in der tiefen Pietät gefunden werden müssen, mit der die Juden ihren Vätern und Müttern und über das irdische Leben hinaus ihren Toten seit undenklichen Zeiten ihre Treue halten.
Somit wurde einmal wieder ein alter jüdischer Friedhof, der zwar mit der Wiener Judenheit des frühen 20. Jahrhunderts wahrlich nicht mehr viel zu tun hatte, dennoch als Sinnbild der Verbindung der Generationen zueinander und zum Judentum erklärt – als „Grabstätte der Väter“ –, um implizit auch zur Bezahlung der Kultussteuer aufzufordern.77 Die Spaltungen, die sich in der Zwischenkriegszeit vornehmlich durch die stetige Zionisierung und Orthodoxisierung der Gemeinde breitmachten, zeigen die zunehmende Komplexität von jüdischen Selbstauffassungen und Zugehörigkeitsgefühlen dieser Zeit auf. Die daraus entstehenden Konflikte wurden gezielt am neuen jüdischen Friedhof beim IV. Tor ausgetragen, sowohl in der natürlichen Entwicklung der Sepulkralkultur in diesen Jahren als auch in den zunehmend strengen Vorschriften der Friedhofsverwaltung, die es sich zum maßgeblichen Ziel machten, den „jüdischen“ Charakter des Ortes zu determinieren und zu verteidigen. Der neue Friedhof sollte – neben dem alten Friedhof beim I. Tor – bereits vor der Shoah alleine durch seine räumliche Ausdehnung sowie insbesondere durch den kolossalen Gebäudekomplex rund um die Zeremonienhalle zum größten und monumentalsten jüdischen Friedhof Österreichs werden: ein einziger Bestattungsraum und ein einheitlicher Erinnerungsort für eine der seinerzeit größten und diversesten jüdischen Gemeinden der Welt. Doch nie zuvor war die jüdische Sepulkralkultur in der österreichischen Hauptstadt so augenscheinlich umstritten, wie es an diesem Friedhof der Fall sein sollte. Dieser Friedhof reflektiert somit die zerstrittene Vielfalt der Wiener Judenheit vor ihrer fast vollkommenen Zerstörung in der Shoah genauso wie die zunehmende Anfechtung ihrer Zugehörigkeit zum staatlichen, 77 Mitteilungen der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, September 1930, YIVO, 15006769, S. 1–3, 12.
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gesellschaftlichen und kulturellen Leben Österreichs in der Ersten Republik. Insofern reflektiert der Friedhof beim IV. Tor, in deutlichem Kontrast zu seinem Vorgänger beim I. Tor, die zunehmende Introspektion der Wiener Judenheit in dieser dynamischen aber konfliktreichen Ära. Dieser Friedhof ist heute der einzige noch aktive Bestattungsraum der Kultusgemeinde – mit Ausnahme von seltenen Beisetzungen beim I. Tor, die zum Schluss dieses Kapitels samt dem dort errichteten Kriegerdenkmal aus der Zwischenkriegszeit besprochen werden – und stellt somit einen der profundesten jüdischen Erinnerungsorte Österreichs aus dem 20. Jahrhundert dar, der die Zeiten vor, während und nach der Shoah dokumentiert. Obwohl die Shoah heute die Gedenkkultur dieses Bestattungsraumes dominiert, liegen die Wurzeln dieser Gedenkkultur weiter zurück, nämlich in den letzten Jahren des Ersten Weltkriegs: Unter dem überwältigenden Narrativ des späteren Genozids ist somit eine weitere Schicht der Erinnerung in diesem räumlichen Palimpsest eingeschrieben, dass die regen Auseinandersetzungen der vormaligen Wiener Judenheit mit ihrer eigenen „Jüdischkeit“ sowie ihrer Positionierung im neuen Österreich in den letzten zwei Jahrzehnten ihres Bestehens aufzeigt. Über die Zäsur der Shoah hinweg zeigt dieser Raum und die sich darin entfaltende Sepulkralkultur eindringlich, dass die Spannungen und Konflikte, die für die neue Kultusgemeinde nach 1945 so prägend werden sollten, ihren Ausgang bereits in der Zwischenkriegszeit hatten. 6.2
Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Friedhofs beim IV. Tor bis 1938
Infolge des regen Bevölkerungswachstums der österreichischen Haupt- und Residenzstadt Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts und der hohen daraus folgenden Anzahl an Bestattungen am jüdischen Friedhof beim I. Tor, der bis 1912 bereits maximal erweitert worden war, befürwortete der Vorstand der Kultusgemeinde bereits im Jänner 1911 die Anlegung eines neuen Friedhofs am anderen, östlichen Ende des Zentralfriedhofs. Das Kultusvorstandsmitglied Siegmund Kauders schlug vor, dass beim neuen jüdischen Friedhof „eine Gedenktafel angebracht werde, welche verzeichnen soll, dass Dank der Initiative des Präsidenten Dr Alfred Stern dieser Friedhof erworben wurde“.78 Eine solche wurde nie errichtet: Als der Friedhof wenige Jahre später inmitten des Weltkriegs angelegt wurde, stand der inzwischen unbeliebte Präsident Stern kurz vor seinem gezwungenen Rücktritt aus dem Amt. Er verstarb am 1. Dezember
78 Plenum, 8. Jänner 1911, AIKGW, A/VIE/IKG/I-II/FH/1/1.
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1918 und wurde beim I. Tor nichtsdestotrotz in einem Ehrengrab nahe dem Ausgangspunkt der Zeremonienallee bestattet (5B-1-19). Im Gegensatz zum Sachverhalt beim I. Tor handelte es sich beim neuen Bestattungsraum nicht um Land, das von der Stadt Wien gepachtet wurde: Das ursprüngliche Areal von 67.000 Quadratmetern, auf dem der neue Friedhof entstehen sollte, wurde vom Großindustriellen Anton Dreher zum Preis von über einer Millionen Kronen gekauft.79 Somit handelte es sich von Anfang an um Land, das der Kultusgemeinde gehörte, und der neue Friedhof stellt demnach streng gesehen keinen wirklichen Teil des von der Stadt verwalteten Zentralfriedhofs dar, obwohl er direkt an diesen angrenzt. Allerdings erhielt auch der neue Friedhofseingang an der Simmeringer Hauptstraße eine der Infrastruktur des Zentralfriedhofs zugeordnete Ziffer. Bis in die 1990er-Jahre hieß dieser eigentlich noch offiziell das V. Tor – die Bezeichnung „IV. Tor“ bezog sich damals noch auf den Eingang zum angrenzenden, kürzlich zuvor angelegten evangelischen Friedhof, um diesen vom wiederum direkt daneben gelegenen Eingang zum allgemeinen Zentralfriedhof am III. Tor zu unterscheiden.80 Beide der letzteren werden heute als III. Tor beschrieben, wobei diese Bezeichnung zumeist als Kurzform spezifisch für den evangelischen Friedhof verstanden wird. Der neue jüdische Friedhof ist schon längst allgemein als Friedhof beim IV. Tor bekannt, erscheint allerdings selten verwirrenderweise in diversen Quellen als „V. Tor“. Vorerst ließ sich der Kultusvorstand bei der Planung des neuen, groß angelegten Friedhofs Zeit. Im April 1913 wurde beschlossen, eine „allgemeine Konkurrenzausschreibung unter sämtlichen jüdischen Architekten Wiens“ auszuloben, um Vorschläge für einen architektonischen und landschaftsgärtnerischen Gesamtplan für den neuen Friedhof anzufordern.81 Als Vorsitzender des Preisgerichts berief der Vorstand den nichtjüdischen österreichischen Architekten Heinrich Goldemund – der sich nach dem „Anschluß“ als überzeugter Nationalsozialist offenbarte und im nationalsozialistischen Wien Karriere machen sollte – sowie Hans Grässel und Heinrich Reinhardt, beides einflussreiche, nichtjüdische Architekten aus Deutschland. Somit war es vor dem Weltkrieg noch offensichtlich kein besonderes Anliegen, dem neuen Bestattungsraum der Kultusgemeinde einen besonderen „jüdischen“ Charakter zu verleihen bzw. diesen der Aufsicht von ausschließlich jüdischen Architekten zu unterwerfen. Ein Monat später wurde eine „Kommission bestehend aus 2 Vorstandsmitgliedern, sowie je einem Beamten des Sekretariates“ berufen, darunter der bekannte Wiener Synagogenarchitekt Jakob Gartner, um eine „sichtigung [sic] 79 Kaufvertrag, 23. Jänner 1911, AIKGW, A/VIE/IKG/I-II/FH/1/1. 80 Vgl. z. B. Wiener Zentralfriedhof, 1953, ÖNB, KI 104092. 81 Plenum, 10. April 1913, AIKGW, A/VIE/IKG/I-II/FH/1/1.
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von Friedhofanlagen in den grösseren Städten Deutschlands“ zu unternehmen und sich dort für das neue monumentale Friedhofsprojekt inspirieren zu lassen. Dass diese Besichtigung in Deutschland stattzufinden hatte, wurde damit begründet, dass Österreich mit Ausnahme des Friedhofs beim I. Tor nicht über solche monumentale moderne jüdische Friedhöfe verfügte.82 Da aber auch in Deutschland nur der jüdische Friedhof im damaligen Berliner Bezirk Weißensee solche Dimensionen hatte wie der neue geplante Friedhof beim IV. Tor, wurde beschlossen, dass das Komitee ebenfalls nichtjüdische Friedhöfe besichtigen sollte: ein weiteres Beispiel der kulturellen Verflechtung der jüdischen und nichtjüdischen Sepulkralkultur in Zentraleuropa vor der Shoah.83 Den Wettbewerb für die Gesamtgestaltung des neuen Geländes gewann schließlich der jüdische Wiener Architekt Adolf Oberländer; aufgrund des Krieges kam es aber nicht zur Ausführung seines Plans. Nach dem Kriegsausbruch 1914 und der massiven Fluchtzuwanderung, die dieser zur Folge hatte, wurde der neue jüdische Friedhof notdürftig und früher als geplant eröffnet. Bereits Anfang 1917 wurden provisorische Mauern sowie eine provisorische Zeremonienhalle errichtet, letztere von Jakob Gartner entworfen und vor der Gruppe 3 realisiert. Die erste Bestattung fand am 19. April statt.84 In einer Jahre später von der Kultusgemeinde herausgegebenen Denkschrift wurde die „stille Feier“ beschrieben, die am 4. April 1917 anlässlich der Eröffnung des neuen Friedhofs in der provisorischen Zeremonienhalle abgehalten wurde. Geleitet wurde sie vom Oberrabbiner Moritz Güdemann, der fast vierzig Jahre zuvor bei der Eröffnung des Friedhofs beim I. Tor ebenfalls eine Rede gehalten hatte (siehe hier Kapitel 5). Bei der Eröffnung des neuen Friedhofs verwies er auf die zwingende Notwendigkeit eines neuen Bestattungsareals aufgrund des Weltkriegs, der „ganz Europa in einen Friedhof zu verwandeln droht[e]“. Hatte sich Güdemanns Rede vier Jahrzehnte zuvor hauptsächlich um die Bedeutung des neuen Zentralfriedhofs als Ausdruck der brüderlichen Annäherung der unterschiedlichen Bevölkerungsschichten der Haupt- und Residenzstadt gedreht, so wandte er sich nun dem neuen Friedhof als geschlossenen „jüdischen“ Raum zu, dessen Wirkungsmacht er zu deuten intendierte: So stumm die Friedhöfe sind, ein so tiefes Schweigen sie bedeckt, so führen sie doch die lauteste und beredtste Sprache für den, der diese Sprache versteht. In diesem Verständnis ist ihre Weihe, ihre Heiligkeit, ihre Unverletzlichkeit begründet. […] Das Archiv der jüdischen Geschichte sind die jüdischen Friedhöfe. Deshalb ist für uns der Friedhof keine 82 Plenum, 4. Mai 1913, AIKGW, A/VIE/IKG/I-II/FH/1/1. 83 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Bericht [1924], S. 47–48. 84 O. V.: Der neue israelitische Friedhof, S. 10; Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Bericht [1924], S. 48.
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Stätte des Todes, sondern das ‚Haus des Lebens‘, keine Stätte der Vergänglichkeit, sondern das ‚Haus der Ewigkeit‘. Ja schon in der Tatsache, daß der Friedhof überhaupt ein Haus genannt wird, ist der tiefere Sinn enthalten, daß er kein Trümmerhaufen ist, sondern daß die Steine, die sich auf den Gräbern befinden, sich zu einem Hause, zu einem Tempel auftürmen […]. Das ist die Sprache der Friedhöfe.
Güdemann hob hier also – wie viele HistorikerInnen in den Jahrzehnten zuvor und danach – den Friedhof als „Archiv der jüdischen Geschichte“ hervor, der eine eigene Sprache führte, die es zu verstehen galt, und untermauerte diese Deutung mit impliziten Verweisen auf biblische Auslegungen, wie hier in Kapitel 2 besprochen, dieser Stätte des Todes als zugleich einer Stätte des Lebens, als Stätte der Erinnerung und des Versprechens einer zukünftigen Erlösung. Explizit stellte er mit Verweis auf Dante Alighieris Credo die Jenseitsvorstellung des Judentums der des Christentums gegenüber, „die den ewig Verdammten die Aufforderung zuruft, alle Hoffnung fahren zu lassen […]. Unsere Religion“, das Judentum, so fuhr er fort, „weiß von keiner Hölle, […] von keiner Hoffnungslosigkeit“. Stand also in seiner Rede vierzig Jahre zuvor die „Annäherung“ der Konfessionen im Mittelpunkt, wurde hier nur mehr der jüdische Glaube betont, wie Güdemann explizit erörterte: Als vor 40 Jahren der Zentralfriedhof eröffnet wurde, da meinten Manche unter uns, die Gemeinsamkeit des Friedhofes bedeute den Morgenanbruch allgemeiner Brüderlichkeit und sie bedauerten nur die noch immer aufrecht erhaltene Trennung der Konfessionen, während von der anderen Seite schon wegen ihrer bloßen Umfriedung durch dieselbe Ringmauer die Einweihung des Zentralfriedhofes wäre verweigert worden. Heute nach 40 Jahren haben nun wieder alle Konfessionen ihre besonderen Friedhöfe und so weihen auch wir heute unseren eigenen jüdischen Friedhof ein und das alles geschieht in allseitigem Einverständnis. Was liegt auch daran? Nicht das Unter- oder NebeneinanderBegrabenwerden wird den Friedenstempel aufrichten, in dem eine Religion, die Liebe, alle Menschen vereint […]. Lassen wir denn alles, was jetzt die Menschen mehr als je entzweit, Haß, Feindschaft und Krieg auf den alten Friedhöfen für immer begraben sein und weihen wir diesen neuen mit den Ausdrucke der Hoffnung ein, daß die heiß ersehnte Zukunft allgemeinen Friedens bald zur Gegenwart werde.85
Es ist für die Geschichtsforschung ein glücklicher Zufall, dass ein und derselbe Oberrabbiner in den Zeremonien zur Eröffnung zweier unterschiedlicher Friedhöfe in einem Abstand von vierzig Jahren sprach: In seinen jeweiligen Reden zeigt sich eindringlich der Wandel dieser brüchigen und geschichtsträchtigen Zeit, in Worten festgehalten von einer der führenden Persönlichkeiten einer der damals weltweit größten jüdischen Gemeinden, der zugleich Autor von zahlreichen Werken über jüdische Religion, Kultur und Geschichte war. Die 85 O. V.: Der neue israelitische Friedhof, S. 10–12.
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Zäsur des Weltkriegs tritt so deutlich in Güdemanns Rede von 1917 hervor, wie es die Emanzipation in seiner Rede von 1879 getan hatte. Gewiss zählte auch er zu diejenigen, die 1879 geglaubt oder gehofft hatten, „die Gemeinsamkeit des Friedhofes bedeute den Morgenanbruch allgemeiner Brüderlichkeit“. In seiner Rede von 1917 trat hingegen implizit die Auffassung hervor, dieser Sinn der allgemeinen Brüderlichkeit habe sich als Täuschung erwiesen, als Illusion, die samt dem alten Europa und der Ära der Habsburger mit dem Krieg in Flammen aufgegangen sei, während sich inmitten des Massentods eine kleine Gruppe jüdischer WienerInnen in einer „stillen Feier“ an ihrem neuen Friedhof – einem erstmals in über einem Jahrhundert segregiert angelegten jüdischen Friedhof – zusammenkam, um sich der Implikationen dieses Wandels zu besinnen. „Was liegt auch daran“, hatte Güdemann gefragt, und antwortete sodann, diese neuerliche Segregation der Begräbnisstätten, eine radikale Umkehrung einer jahrhundertelangen Entwicklung der Annäherung, sei lediglich oberflächlich zu verstehen. Genau seine Betonung dieser neuen Segregation, die „in allseitigem Einverständnis“ geschah, verhieß, dass dies aber alles andere war als oberflächlich. Obwohl sich keiner 1917 das Inferno eines Zweiten Weltkriegs, geschweige denn der Shoah, als nahende Realität hätte vorstellen können, zeugt Güdemanns Rede bei der Eröffnung des neuen Friedhofs von einer pessimistischen Auffassung der zwischengemeinschaftlichen Beziehungen in Zentraleuropa zu dieser Zeit, insbesondere in Bezug auf die Stellung der zentraleuropäischen Judenheiten. Im Gegensatz zum Zustand beim I. Tor stellte der neue Friedhof also, wie es in der Denkschrift aus dem Jahre 1928 betont wurde, für die Kultusgemeinde „ihr volles und unbeschränktes Eigentum“ dar und wurde „von ihr autonom verwaltet“.86 Insofern spiegeln die Eigentumsverhältnisse beim neuen jüdischen Friedhof jene am evangelischen Friedhof beim III. Tor wider, das gemeinsam von beiden evangelischen Glaubensgemeinschaften (augsburgisch und helvetisch) verwaltet wird, zwischen dem jüdischen Friedhof und dem allgemeinen Zentralfriedhof liegt und durch eine umfassende Mauer komplett abgetrennt ist.87 Hier muss wieder betont werden, dass das Fehlen einer trennenden Mauer zwischen dem alten jüdischen Friedhof beim I. Tor und den allgemeinen Teilen des in der Hochphase des Liberalismus angelegten Zentralfriedhofs eine revolutionäre Entwicklung in der modernen Sepulkralkultur Wiens dargestellt hatte, paradigmatisch vom neuen Zentralfriedhof, wie es ein Beitrag in der Kultusgemeindezeitschrift im Jahre 2000 bezeichnete, „als universalistischutopisches Projekt“.88 Die bewusste Abtrennung des neuen jüdischen Friedhofs 86 O. V.: Der neue israelitische Friedhof, S. 6. 87 Vgl. hierzu Schulte-Kettner: Der Wiener Zentralfriedhof, S. 49. 88 Gang über Leichen, in: Die Gemeinde, August 2000, S. 41.
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vom allgemeinen Zentralfriedhof in den 1910er-Jahren – eine offensichtlich bewusste soziokulturelle Segregation, die ihre räumliche Verkörperung in der Friedhofsmauer fand – stellte somit eine radikale Umkehr einer über hundert Jahre langen Entwicklung in Richtung gesellschaftlicher wie räumlicher Annäherung in der Geschichte der Wiener Sepulkralkultur dar, die mit den Josephinischen Toleranzpatenten begonnen hatte. Der Friedhof beim IV. Tor ist somit der räumliche Ausdruck der kulturellen, religiösen und gesellschaftlichen Spaltungen, die der Erste Weltkrieg und der Zerfall der Monarchie mit sich zogen. Diese räumliche Annäherungs- bzw. Segregationstendenzen zeigen sich paradigmatisch in der zeitgenössischen Kartographie. In frühen Plänen des Zentralfriedhofs wurden die allgemeinen Abteilungen homogen dargestellt, als Bestandteile eines einheitlichen Ganzen, wohingegen die „Israelitische Abteilung“ bestenfalls namentlich gekennzeichnet war.89 Die ausführlichen Pläne vom Verlag Freytag & Berndt wiederum zeigten den jüdischen Friedhof beim I. Tor bis in das kleinste Detail: Die Zeremonienhalle, das in den späten 1920erJahren errichtete Kriegerdenkmal sowie eine vermeintliche „Türkisch-Israel. Abteilung“ (in Wahrheit finden sich verschiedene Gruppierungen von sephardischen Gräbern über den Friedhof zerstreut) sind alle auf den Plänen des Verlags markiert, so auch im Plan aus dem Jahre 1927. Hingegen wird auf eben diesem Plan der neue Friedhof beim IV. Tor als Leerraum vermessen, der lediglich mit den Worten „Neuer Israelitischer Friedhof “ gekennzeichnet ist.90 Etwas detaillierter fällt der Plan von Freytag & Berndt aus dem Jahre 1953 aus. Hierauf ist beispielsweise zu erkennen, dass bis dahin nur die Gruppen 2 bis 17 belegt wurden; die Massengräber aus der Shoah und sonstige Gräbergruppen aus der NS-Ära, vornehmlich in den Gruppen 18 bis 22, waren hier noch nicht erfasst.91 Ein undatiertes aber offensichtlich gegen Ende des Weltkriegs verfasstes „Erfordernis-Programm“, in dem die Ausarbeitung eines Gesamtkonzepts beim vorerst nur provisorisch angelegten Friedhof wieder aufgegriffen wurde, ermöglicht einen einzigartigen Einblick in die Planung eines solchen modernen und gewaltigen Friedhofraums. Hierin wurde allerdings das „Hauptgewicht auf die grösste Oekonomie in Bezug auf Herstellungs- und Erhaltungskosten“ gelegt, in starkem Kontrast zu den grandiosen Plänen, die noch wenige Jahre zuvor in Ausblick gestellt worden waren. Die „Projektierung“ hatte zudem „unter strengster Beobachtung der behördlichen Vorschriften insbesondere in sanitäts- und baupolizeilicher Beziehung und unter Berücksichtigung der 89 Vgl. z. B. Zentralfriedhof der Reichshaupt- & Residenzstadt Wien, 1910, ÖNB, KI 118133. 90 Freytag & Berndts Plan des Wiener Zentralfriedhofes, 1927, ÖNB, KI 100515. 91 Wiener Zentralfriedhof, 1953, ÖNB, KI 104092.
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rituellen Vorschriften zu erfolgen“. Welche „rituellen Vorschriften“ hier gemeint waren, wurde nicht erläutert, doch zeigt sich hier, dass von nun an die wie auch immer gearteten religiösen Vorschriften am neuen Friedhof eine stärkere Rolle spielen sollten. Das gesamte Areal wurde zuvor bereits „planiert und ausgeglichen“, und die ersten Bestattungen hatten an der „stadtseits gelegene[n], durch die ganze Tiefe des Grundstückes gehende[n] Hälfte“ zu erfolgen, also etwa in den heutigen Gruppen 1 bis 12. Die andere Hälfte wurde zwar schon vorbereitet, sollte aber vorerst nicht belegt werden. Dies zeigt sich auch daran, dass die ältesten Grabsteine, jene aus der Zwischenkriegszeit, vorwiegend vor der provisorischen Zeremonienhalle, beispielsweise in den Gruppen 3 bis 5, zu finden sind. Etwaige Bauten sollten an der „Stirnseite“, also gegen die Simmeringer Hauptstraße, angelegt werden. „Das gesamte Areal ist schon derzeit durch eine Mauer abzuschliessen“, hieß es ferner, mit Ausnahme der südlichen Grenze, deren genauer Verlauf noch zu klären war: So lakonisch wurde dieser aussagekräftige Beschluss zur umfassenden Umfriedung des neuen Friedhofs hier festgehalten. Auch eine moderne Infrastruktur wurde von vornherein mit eingeplant, so beispielsweise „künstliche Beleuchtung“ für die Abendstunden sowie die „Anlage von Klosetts und Pissoirs“. Dies wurde allerdings nie ausgeführt, heute schließt der Friedhof ohnehin prinzipiell vor Sonnenuntergang. Die Gräberklassen sollten nach der „Dimensionierung“ der Grabstätten, also ihrer relativen Größe, organisiert werden sowie nach ihrer „Situierung“, mit den höheren Klassen an den prominenteren Stellen, beispielsweise entlang der Hauptwege oder nach der relativen Distanz zum Friedhofseingang organisiert. Insgesamt wurden neun Gräbertypen vorgesehen, von „Grüfte[n] für 9 Leichen“, dessen Dimensionen 2,6 mal 3,8 Meter betrugen, bis auf „Kindergräber“ von 0,9 mal 1,5 Meter Größe. Letztere wurden und werden noch vor allem in der Gruppe 3 unmittelbar vor der provisorischen Zeremonienhalle angelegt. Es sollten zu dieser Zeit bereits 150 Ehrengräber der ersten Klasse an der „hervorragendsten Stelle“ angelegt werden. Diese wurde hier zwar nicht spezifiziert, doch liegt die Prominenz der Kultusgemeinde, insbesondere ihre Funktionäre, heute vorwiegend in der Gruppe 7 und 7A, direkt vor dem Ausgang friedhofseits der monumentalen Zeremonienhalle. Auch die Grüfte, also die größeren Familiengräber mit „reicher gärtnerischer Ausgestaltung“, sollten an „hervorragenden Stellen“ an den Hauptwegen entlang gelegen sein, offensichtlich eine aus dem 19. Jahrhundert überlieferte ästhetische Überlegung mit Hinblick auf das gesamte Erscheinungsbild des Friedhofes. Grabstätten der dritten und vierten Klasse sollten an den kleineren Wegen angelegt werden. Trotz dieser sorgfältigen Aufteilung wurde nachdrücklich betont, dass eine „vollständige Teilung nach Klassen“ im Friedhof unerwünscht sei. Zudem sollte alsbald eine Reihe von Bauten geschaffen werden, darunter
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ein Zeremoniengebäude, eine Leichenhalle und ein „Administrationsbeziehungsweise-Wohngebäude“. Ob diese Gebäude miteinander verbunden werden sollten – was im späteren Monumentalkomplex in den 1920er-Jahren tatsächlich geschah – wurde hier offengelassen. Die Zeremonienhalle, die nach Westen zeigen sollte (eine Spezifizierung, dessen Begründung hier nicht erläutert und jedenfalls nicht realisiert wurde), sollte Platz für 500 Personen bieten, mit einem Nebensaal für bis zu 200 Personen. Alle befugten Rabbiner, Kantore, AdministratorInnen und weitere Bedienstete sollten Büroräume zugeteilt bekommen. Des Weiteren sollten Wohnräume mit eingeplant werden, um BeamtInnen, DienerInnen und einen Portier, insgesamt sechs Leute, zu beherbergen. Die Leichenhalle sollte über eine Kapazität für bis zu dreißig Leichen verfügen. Dieses detaillierte Programm wurde mit einer Auflistung aller dieser wesentlichen Punkte abgeschlossen, in denen unter dem Eintrag „Allgemeine Anlage“ die Notiz „Lage der Gräber (Misrach)“ erschien: Mit anderen Worten sollten die Gräber alle nach Osten (hebräisch misrach) schauen.92 Dies ist offenkundig nicht durchgehend der Fall. Mit der Ausführung dieses Programms wurde am 3. Juli 1918 begonnen.93 Erst 1924 war die Kultusgemeinde wieder finanziell in der Lage, sich der Planung einer monumentalen Zeremonienhalle zu widmen, die die provisorische, von Jakob Gartner entworfene und 1917 notdürftig errichtete ersetzen sollte.94 Die provisorische Zeremonienhalle war bewusst einfach gehalten worden. So musste vorerst auch die tahara, die rituelle Leichenwaschung, sowie die Aufbewahrung der Leichen noch in den Räumlichkeiten beim I. Tor stattfinden, wonach die Leichen erst zum Begräbnis zum IV. Tor gebracht wurden, was wiederum nur eine „geringe Zahl von Leidtragenden“ bei den Leichenfeiern zuließ.95 Trotzdem war sogar diese provisorische Zeremonienhalle verhältnismäßig monumental angelegt, mit „Warteraum, Depot und Kanzlei sowie sanitäre[n] Anlagen, ferner Räumlichkeiten mit der Bezeichnung‚ Küche, Zimmer, Bedienstete, Wärter und Funktionäre‘“.96 In den Bauplänen wurden die jeweils nach Norden und Süden gerichteten Portale mit Davidsternen im Gesims versehen, eine auffällige Kennzeichnung des Friedhofs als „jüdischen Raum“, wie sie bei den früheren Zeremonienhallen beim I. Tor und in Währing
92 Erfordernis-Programm für den zu errichtenden Neuen Friedhof der Wiener israelitischen Kultusgemeinde, o. D. [1918], AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien, diverse Adressen/1/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 93 An Herrn Baurat Rudolf Hermann, 3. Juli 1918, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien, diverse Adressen/1/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 94 Errichtung des Zeremoniengebäudes, 1924, AIKGW, A/VIE/IKG/I-II/FH/1/1. 95 O. V.: Der neue israelitische Friedhof, S. 13. 96 Marboe: Die israelitischen Zeremonienhallen, S. 9.
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nicht aufzufinden war. Diese Davidsterne wurden allerdings entweder nicht realisiert oder sind heute nicht mehr vorhanden.97 Die finanzielle Notlage, in der sich die Kultusgemeinde in den ersten Jahren der Zwischenkriegszeit befand, zeigte sich beispielsweise dadurch, dass sie 1922 das Joint Distribution Committee, einer der weltweit größten jüdischen philanthropischen Vereine mit Sitz in den USA, um 10.000 Dollar bitten musste, um sich über Wasser zu halten.98 1924 wurde somit ein „reduziertes Erfordernisprogramm“ festgelegt, das einen neuen Architektenwettbewerb mit dem vergleichsweise bescheidenen Preis von 20.000 Kronen vorsah.99 Von 32 Einreichungen wurde das Projekt „Beth Hachaim XI“ (umgeschrieben: Haus des Lebens im 11. Bezirk) von Ignaz Reiser ausgewählt, einem ehemaligen Studenten Wilhelm Stiassnys, der die Zeremonienhalle sowie die allgemeine Anlage beim I. Tor entworfen hatte.100 Die Monumentalität des innerhalb der nächsten zwei Jahre nach Reisers Plänen errichteten Kuppelbaus, der bereits von der Simmeringer Hauptstraße aus sichtbar ist, wurde durch seine strukturelle Verbindung zu den Gruftarkaden und Nebengebäuden ringsherum noch verstärkt, sodass sich ein Gesamtkomplex um den Friedhofseingang ergibt. Diesen nannte die Publizistin Isabella Marboe neben dem Parzmanitentempel in der Leopoldstadt Ignaz Reisers „bedeutendstes Werk“, ein Vergleich, der seinen architekturhistorischen Wert nicht nur als monumentalste jüdische Zeremonienhalle Österreichs unterstreicht, sondern überhaupt als einer der wenigen monumentalen jüdischen Sakralbauten, die in Österreich die Shoah überdauerten. Architektonisch beschrieb Marboe das Werk als „expressionistische Stilauffassung“, das „dem Trend der Zeit“ entsprach.101
97 Plan zur Erbauung einer provisorischen Zeremonienhalle, 4. Dezember 1916, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/3/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 98 Freidenreich: Jewish Politics, S. 76–77. 99 Errichtung des Zeremoniengebäudes, o. D. [1924], AIKGW, A/VIE/IKG/I-II/FH/1/1. 100 O. V.: Der neue israelitische Friedhof, S. 9, 15. Vgl. die Originalpläne in Steines: Hunderttausend Steine, S. 250. 101 Marboe: Die israelitischen Zeremonienhallen, S. 9.
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Abb. 16 Die monumentale Zeremonienhalle beim IV. Tor. Links sind die spitzbogigen Arkaden sichtbar, rechts das Verwaltungsgebäude. Im Vordergrund stehen die Denkmäler jüngster Zeit für geschändete Torarollen und gefallene jüdische SoldatInnen. © Autor
In der Tat ist der Gesamtkomplex der Zeremonienhalle sowie der Leichenhallen, Verwaltungsräume, Arkaden und Tore rund um das IV. Tor augenscheinlich dem Stil der nur knapp über ein Kilometer entfernten, wenige Jahre zuvor 1921/22 vom Stararchitekten Clemens Holzmeister erbauten Feuerhalle deutlich nachempfunden. Holzmeisters Entwurf für eine Feuerhalle auf dem Gelände des Schlosses Neugebäude gegenüber dem Zentralfriedhof wurde unter anderem deshalb ausgewählt, weil ihre „festungsähnlichen Bauformen“ auf das frühneuzeitliche Schloss Bezug nahm. Wie ein architekturhistorischer Führer zum modernen Wien festhielt, war ihr „romantisch-expressionistische[s] Formenvokabular“ samt ihren „gotisierenden Bögen“ überhaupt charakteristisch für die vielgerühmte Gemeindebauarchitektur im „Roten Wien“ dieser Jahre.102 Betrachtet man insgesamt die über das gesamte Areal des Zentralfriedhofes verstreuten Bauwerke des frühen 20. Jahrhunderts – so das Hauptportal und die älteren Aufbahrungshallen beim II. Tor, 1905 von Max Hegele entworfen, die 1910 fertig gestellte und ebenfalls von Hegele entworfene Karl-BorromäusKirche, die 1922 fertig gestellte Feuerhalle von Clemens Holzmeister und die 1926 fertig gestellte jüdische Zeremonienhalle beim IV. Tor –, so ist eine mehr 102 Blaschke, Bertha/Lipschitz, Luise: Architektur in Wien 1850 bis 1930. Historismus – Jugendstil – Sachlichkeit, Wien 2003, S. 182–183.
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oder weniger lineare Entwicklung zu erkennen, von der Sprache des Jugendstils der ersten beiden Anlagen aus der späten Habsburgerära zum Expressionismus der jungen Republik der letzten beiden. Selbst das Farbenschema der drei Monumentalbauten – Kirche, Feuerhalle und Zeremonienhalle mit ihren weißen Mauern und kupfergrünen Kuppeln – ist auffällig uniform und erinnert zudem an den Stil der vom Stararchitekten Otto Wagner um die Jahrhundertwende entworfenen städtischen Infrastrukturwerke wie die Stadtbahnhöfe entlang des Gürtels oder die Stadtbahnpavillons am Karlsplatz. Die Feuerhalle, dieses in sowohl architektonischer wie funktioneller Hinsicht durchaus moderne Bauwerk, wird trotz seiner Spitzbögen, zackigen Brüstungen und seinem quadratischen Turm meist entsprechend nicht als „maurisch“ oder sonst „orientalisch“ wahrgenommen, sondern vielmehr, wie es etwa der Architekturhistoriker Anthony Alofsin festhielt, als „das wichtigste expressionistische Gebäude in Österreich“ und zudem als wichtiges Denkmal der modernen Baukunst des „Roten Wien“.103 Der Schriftsteller Hans Veigl aber bezeichnete neuerdings die Feuerhalle als „modern und morgenländisch“ – eine auffällig ähnliche Charakterisierung wie die der vermeintlich „jüdischen“ Baukunst, die hier im vorherigen Kapitel besprochen wurde.104 Gerade anhand dieses „nichtjüdischen“, also säkularen Beispiels zeigt sich, wie unhaltbar die „Orientalisierung“ moderner Bauwerke ist. Unter seinen Zeitgenossen war die Stilsprache Ignaz Reisers allerdings auch Diskussionsthema: Der Kunsthistoriker Max Eisler behauptete beispielsweise seinerzeit ebenfalls, die neue Zeremonienhalle sei gekennzeichnet von „ein[em] befremdliche[n] Orientalismus“, die Eisler zufolge „[k]eineswegs aber jüdisch“ sei, da insbesondere die Kuppel sowie die Arkaden und Spitzbögen als durchaus charakteristisch für die christliche Sakralarchitektur zu deuten waren.105 Auch hier zeigt sich also, dass Vorsicht geboten ist beim Hineininterpretieren einer vermeintlichen „Jüdischkeit“ in den Werken jüdischer ArchitektInnen sowie die Fehlinterpretationen, die möglich werden, wenn diese aus ihrem Kontext – so hier aus dem Kontext des allgemeinen Zentralfriedhofs und der zeitgenössischen Architektur des „Roten Wien“ – herausgerissen werden. Die neue Zeremonienhalle wurde schließlich am 9. September 1928 „unter starker Beteiligung von Vertretern der staatlichen und städtischen Behörden“ eingeweiht, wie im Tätigkeitsbericht der Kultusgemeinde festgehalten wurde: Damit ist ein Werk vollendet worden, das noch den späteren Geschlechtern verkünden wird, wie die Wiener Judenschaft und ihre gesetzliche Repräsentanz auch in den schwers103 Alofsin: Architektur beim Wort nehmen, S. 262. 104 Veigl, S. 254. 105 Zit. nach Riedl, Joachim (Hg.): Wien, Stadt der Juden. Die Welt der Tante Jolesch, Wien 2004, S. 79.
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ten Zeiten und unter großen Opfern bemüht war, ihren religiösen Pflichten und der traditionellen Pietät gegenüber ihren Dahingeschiedenen in einer dem Ansehen und der Größe der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde würdigen Weise gerecht zu werden.106
Durch die Betonung der Teilnahme der nichtjüdischen Behörden einerseits und den vagen Verweis auf die „schwersten Zeiten“ andererseits kommt hier implizit aber dennoch deutlich die finanzielle Notlage sowie darüber hinaus die gefühlte Unsicherheit der Stellung der Kultusgemeinde in der Zwischenkriegszeit zum Ausdruck. Der Optimismus der vorherigen Generation von Kultusgemeindevorstehern ist hier längst nicht mehr spürbar; indes zeigt sich in einem zunehmend antisemitischen Klima der Bedarf der Kultusgemeinde, sich durch die staatliche Obrigkeit legitimieren zu lassen.107 Dieser Strategie trat auch in Bezug auf das Gedenken an den Ersten Weltkrieg im Soldatenfriedhof beim I. Tor in Erscheinung. In diesen Jahren breitete sich unter den zentraleuropäischen Judenheiten allgemein ein Gefühl eines angeblichen Traditionsbruches oder -verlustes aus, das auf dem Geschichtsnarrativ einer vermeintlich jüdischen „Assimilation“ basierte. Dies wird beispielhaft aus den großen zeitgenössischen jüdischen Lexika ersichtlich, die mit ihrem mehr oder weniger explizit zionistischen Grundanschauungen auf eine entsprechende Identifikations- und Traditionsstärkung innerhalb des nun mehr denn je einheitlich aufgefassten Judentums zielten. Das in Berlin in den späten 1920er-Jahren herausgegebene Jüdische Lexikon beschrieb beispielsweise die „beträchtlichen […] Durchbrechungen der alten Satzung“ die vermeintlich in den neueren Friedhöfen stattfanden und nannte als Beispiele hiervon die Beisetzung von nichtjüdischen EhepartnerInnen in jüdischen Friedhöfen sowie die Bestattung von Aschenurnen. Diese Entwicklungen wurden als Auslöser für die Abspaltungsversuche orthodoxer Gemeinden gedeutet, die ihre eigenen Friedhöfe verlangten oder wenigstens abgesonderte Abteilungen in bestehenden jüdischen Friedhöfen, die nach strengen Vorschriften angelegt werden sollten.108 So verkündigte auch die Wiener Kultusgemeinde in ihrem Tätigkeitsbericht aus dem Jahre 1928: „Dem Begehren aus dem Kreise der orthodoxen Gemeindemitglieder Folge gebend, wurde auf dem neuen Friedhofe für Verstorbene, welche Zeit ihres Lebens strenge Schabbos [Shabbat] gehalten haben, eine eigene, von einer Hecke umschlossene Abteilung errichtet.“109 Die Erlaubnis zur 106 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Bericht [1928], S. 9. 107 Vgl. hierzu auch die wiederholten Stellungsnahmen der Kultusgemeinde zum Antisemitismus, so z. B. in Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Bericht [1924], S. 6–7. 108 Holländer: Friedhof, S. 818–819. Vgl. allgemein zur Rolle der jüdischen Lexika in der Selbstwahrnehmung der damaligen Judenheiten Engelhardt: Arsenale jüdischen Wissens. 109 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Bericht [1928], S. 34.
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Bestattung in dieser „Abteilung für Fromme“, die in der Gruppe 21 angelegt wurde und in der unter anderem die sogenannte „profane“ Gräberverzierung sowie die deutsche Sprache in der Sepulkralepigraphik streng untersagt waren, oblag der Kultusgemeinde.110 Dies deutete Harriet Freidenreich zwar als charakteristische Behauptung der Entscheidungsmacht der Kultusgemeinde, zugleich aber auch als Zeichen des wachsenden Einflusses der Orthodoxie und der wachsenden Klüfte innerhalb der Kultusgemeinde zu dieser Zeit.111 Aus den Tätigkeitsberichten der Kultusgemeinde geht deutlich hervor, dass die steigenden Unstimmigkeiten rund um den „jüdischen Charakter“ des Friedhofs in diesen Jahren wesentlich von orthodoxer Seite ausgingen, die offensichtlich die „Jüdischkeit“ des Bestattungsraums durch die säkularisierenden Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnten angegriffen sahen. So machte die Kultusgemeinde bereits 1924, als der Großteil des Areals dieses so großzügig angelegten Raums noch unbelegt war, beispielsweise klar, dass bei „der Ausgestaltung des neuen Friedhofes […] auch auf alle jene berechtigten Begehren Bedacht genommen werden [würde], die im Laufe der Zeit von orthodoxer und konservativer Seite an den Kultusvorstand gestellt wurden“.112 Dieser lakonische Satz ist bei näherer Betrachtung sehr aussagekräftig: Alleine im Wort „auch“ (es wurde „auch“ auf alle jene Begehren Bedacht genommen) zeigt sich, dass die orthodoxe Sicht zwar anerkannt und ernst genommen wurde, sie aber dennoch nur als eine von verschiedenen Strömungen innerhalb der vielfältigen Kultusgemeinde aufgefasst wurde. Die Kultusgemeindeverwaltung war in diesen Jahren zwar noch entscheidend nichtorthodox geprägt, hörte und reagierte aber zugleich zunehmend auf die Orthodoxie. Dies sollte sich bald in den Novellierungen der Friedhofsordnung zeigen. In einem ersten, undatierten aber vermutlich aus den frühen 1920er-Jahren stammenden Entwurf einer neuen Friedhofsordnung wurde festgehalten, dass die Kultusgemeinde als eine ihrer zentralen Aufgaben betrachtete, „für den Bestand und die Erhaltung eines israelitischen Friedhofes, für die immerwährende und unantastbare Erhaltung bestandener und aufgelassener israelitischer Friedhöfe, [und] für die den Ritus entsprechende Beerdigung der Verstorbenen“ der Kultusgemeinde zu sorgen. §4 legte die sechs unterschiedlichen Gräberklassen aus, wovon die letzte spezifisch Kindergräber betraf, ein Novum beim IV. Tor, da verstorbene Kinder zuvor in Familiengräbern oder gewöhnlichen Grabstätten bestattet wurden. §11 schrieb vor, dass jede Grabstätte „womöglich mit einem Denkmale versehen werden“ sollte, die allerdings mit Bezug „auf Masse, Form, 110 Vgl. den Plan in: Neuer Friedhof IV. Tor, Oktober 1933, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/8/1, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 111 Freidenreich: Jewish Politics, S. 134. 112 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Bericht [1924], S. 49.
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Material und Inschrift“ die „vorherige Genehmigung des Kultusvorstandes“ bedurfte. §13 genehmigte das „Anpflanzen von Bäumen und Ziersträuchern“, insofern sie nicht den Blick auf die Nachbargräber blockierten; das „Anpflanzen von Obstbäumen auf dem Friedhofe“ war allerdings ausdrücklich verboten. Wie hier im vorherigen Kapitel geschildert, wird diese letzte Vorschrift oft als spezifisch „jüdisches“ Verbot verstanden, das Gleiche wurde aber auch in §25 der städtischen Friedhofsordnung vorgeschrieben.113 Der Entwurf der jüdischen Friedhofsordnung erlaubte Exhumierungen nach §16 nur in Fällen, wo diese „nicht gegen religionsgesetzliche Vorschriften verstösst“, wobei diese Vorschriften hier aber nicht näher definiert wurden. Schließlich schrieb §20 vor, dass das Verhalten am Friedhof auf „eine der Weihe und dem Ernste des Ortes angemessene[n] Weise“ zu erfolgen hatte. Auch die „Friedhofsbediensteten“ wurden ausdrücklich aufgefordert, „den Friedhofsbesuchern mit Anstand zu begegnen“.114 Zum ersten Mal wurde hier somit auch das Benehmen am Friedhof geregelt, ein Indiz, dass die Friedhofsverwaltung und die Kontrolle der Kultusgemeinde über diese zunehmend strenger wurden. Allerdings wurde hier nicht vorgeschrieben, wie es heute beim IV. Tor sowie sonst bei orthodoxen Friedhöfen der Fall ist, dass Männer auf dem Friedhof eine Kopfbedeckung tragen müssen – dies ist in der Wiener jüdischen Geschichte, allen Beschwörung der „Tradition“ zum Trotz, eine durchaus neuartige Erscheinung der Nachkriegszeit. Ebenso aus diesen Jahren erhalten sind die „Taxen und Gebühren“ für Grabstätten und das Errichten von Grabsteinen, die erstmals einen wenigstens teilweisen Einblick in die Entstehung dieser Denkmäler ermöglichen. Die Errichtung eines Grabsteins kostete zwischen 15 Schilling in der fünften Klasse bis 250 Schilling in der ersten sowie bei Grüften; die Ergänzung von Inschriften auf bestehenden Grabsteinen kostete zwischen 5 und 25 Schilling. Deckplatten kosteten extra. Interessant ist hier auch der vorgeschriebene „Fremdenzuschlag“, wonach für jene hier Bestatteten, die nicht Mitglieder der Wiener Kultusgemeinde (aber vermutlich nachweislich jüdisch) waren, ein Aufschlag von fünfzig Prozent zu zahlen war, was in Relation zu den enormen Summen zu verstehen ist, die die Kultusgemeinde in diesen Jahren für das Begräbnis von Mittellosen aus ihrer eigenen Mitgliedschaft aufbringen musste.115 Die Kultusgemeinde hatte 1908 zum ersten Mal ihre Mitglieder gebeten, „zumindest einige hebräische Zeichen oder Worte an dem Grabsteine anbringen 113 Begräbnis- und Gräberordnung für die Friedhöfe der Stadt Wien, 19. März 1920, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/1/9, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 114 Entwurf für eine provisorische Friedhofsordnung für den neuen israelitischen Friedhof in Wien, o. D., AIKGW, A/VIE/IKG/I-II/FH/1/2. 115 Auszug aus dem Tarif für Taxen und Gebühren, 1. April 1927, AIKGW, A/VIE/IKG/III/FH/1/3.
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zu lassen“ und die „hebräischen Grabinschriften“ einem zu diesem Zwecke zu errichtenden „sachverständige[n] Organ“ zu übermitteln, das „dieselben auf ihre Richtigkeit zu prüfen“ hatte.116 Wurde diese Reaktion auf den zunehmend säkular-weltlichen bzw. nicht explizit jüdisch-religiösen Charakter des Friedhofs beim I. Tor in den 1900er-Jahren noch als Bitte formuliert, so schrieb die Kultusgemeinde in ihrer Friedhofsordnung in den 1920er-Jahren bindend vor, wie die Grabsteine und ihre Inschriften auf dem neuen Friedhof zu gestalten waren: Zur Wahrung des konfessionellen Charakters des Friedhofes, muß auf jedem Grab- oder Gruftmonumente mindestens ein hebräisches Wort angebracht werden; in den Abteilungen für Schomre Schabos [Fromme] sind nur hebräische Grabinschriften gestattet. Das Anbringen von Bildern, Büsten und sonstigen Abbildungen auf Monumenten ist nach den bestehenden rituellen Vorschriften nicht gestattet.117
Schomre Schabos (hier in der jiddischen Aussprache gehalten, anderswo auch Schabbos und Schabes geschrieben, sprichwörtlich übersetzt „Hüter des Shabbat“) verwies auf die streng Orthodoxen, deren nunmehr explizite Berücksichtigung in der Friedhofsordnung die weitreichende Orthodoxisierung der Gemeinde zu dieser Zeit genauso veranschaulicht wie der Wunsch nach einer eindeutigen Abtrennung seitens der orthodoxen Gemeinschaft auch innerhalb der jüdischen Gemeinde. Fortan wurde der Friedhof zum Schauplatz ausgedehnter Streitigkeiten um das Verständnis, wie ein „authentisch jüdischer“ Friedhof auszusehen hatte, womit auch das Wesen des Judentums und die „Jüdischkeit“ insgesamt verhandelt wurden. Jene Praktiken, die sich seit über einem Jahrhundert in der Wiener jüdischen Sepulkralkultur entwickelt hatten, wie die deutsch- (oder anders-) sprachige Epigraphik, die Abnahme an hebräischsprachiger Epigraphik und damit einhergehend die Abnahme an explizit religiösen Diskursen sowie die Zunahme an Symbolik, die von religiöser Seite als „profan“ und eben „unjüdisch“ betrachtet wurde, sollten alle zu Kernpunkten im Streit zwischen den orthodoxen und liberalen bzw. säkularen Fraktionen werden. Diese veranschaulichten paradigmatisch die Auseinandersetzung der verschiedenen Gruppierungen innerhalb der Kultusgemeinde mit ihrer eigenen „Jüdischkeit“ sowie die Betonung der vermeintlichen „jüdischen Differenz“ in Bezug auf die als „nichtjüdisch“ empfundene moderne Sepulkralkultur. Insbesondere durch
116 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Bericht [1908], S. 38–39. 117 Auszug aus dem Tarif für Taxen und Gebühren, 1. April 1927, AIKGW, A/VIE/IKG/III/FH/1/3. Siehe zum letzten Punkt auch Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Bericht [1928], S. 35.
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den Partikularismus der erstarkenden Orthodoxie verkörperte die Kultusgemeinde der Zwischenkriegszeit nicht mehr wie früher die Einheitlichkeit trotz Diversität der jüdischen Gemeinschaft, sondern eine zunehmend zerstrittene Vielfalt: So segregierten die Ultraorthodoxen ihre Toten in der Schomre Schabbos Abteilung, wie sie sich auch im Leben in ihren Synagogenvereinen abgekapselt hatten. 1928 wurde zusätzlich zu dieser bereits bestehenden „Abteilung für Fromme“ die Anlegung einer „Kauhanim [Kohanim; Zugehörige der Priesterklasse] Abteilung für Schomre Schabbos“ in der „Gruppe II des Neuen Friedhofes zwischen der westlich der alten Zeremonienhalle gelegenen 4 m [Meter] Zufahrtsstrasse (Autostrasse) u. der Mauer des evangelischen Friedhofes“ besprochen. Durch den breiten Weg, der einen bestimmten Abstand von den Grabstätten gewährleistete, sollte den Kohanim der Friedhofsbesuch unter Beachtung der orthodox ausgelegten Reinheitsgebote ermöglicht werden (siehe 2. Moses 21,1 und 21,11). Entsprechend sollte dieser mit dem Hinweis beschildert sein: „Weg für Kauhanim, Strassenmitte einhalten“.118 Es kam schließlich nicht zu dessen Errichtung. 1932 deutete der Friedhofsamtsdirektor Guido Fuchsgelb, der drei Jahre später beim IV. Tor bestattet werden sollte (3-4-10), auf die Tatsache hin, dass die Friedhofsordnung, die inzwischen „seit vielen Jahren“ in Verwendung stand, „noch immer als provisorische Friedhofsordnung“ galt. Man einigte sich aber, statt eine neue Ordnung aufzustellen, lediglich bestimmte Befugnisse abzuändern bzw. neue einzuführen und „die Bezeichnung ‚provisorisch‘ künftighin wegzulassen“.119 In dieser Novellierung wurde mit §2 das Verhalten am Friedhof weiter geregelt: Fortan waren das Rauchen, das Pflücken von Blumen und das Einführen von Haustieren sowie „Betteln, Hausieren und Agentieren“ und „Bekritzeln und Beschädigen von Grabdenkmälern“ ausdrücklich verboten.120 In einer Mitteilung aus demselben Jahr wurde dann seitens des Friedhofsamtes in Bezug auf die Grabsteine erstmals auch semantisch zwischen „Pyramiden“ und „Mazewen“ (von matzewa, Denkmal) differenziert, ohne jedoch den Unterschied zu erklären. Vermutlich handelte es sich um eine seitens des Friedhofsamtes konstruierte Unterscheidung zwischen den eher üblichen quaderförmigen Grabsteinen (Mazewen) im Gegensatz zu aufwendigeren Denkmälern (Pyramiden). Letzteres könnte womöglich als Verweis auf
118 Protokoll, 12. November 1928, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/3/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 119 Plenum, 16. Juni 1932, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/1/9, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 120 Friedhofsordnung für den Neuen israelitischen Friedhof in Wien, 16. Juni 1932, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/1/9, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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die damals üblich gewordenen Grabhäuschen der chassidischen „Wunderrabbiner“ verstanden werden.121 Im Archiv der Kultusgemeinde befindet sich ein undatierter „Auszug aus den Vorschriften über Grabsteinaufstellung“, der aufgrund des Inhaltes sowie der Ähnlichkeit der Dokumente vermutlich die anderswo erwähnte, aber dort nicht erhaltene Beilage zur Friedhofsordnung aus dem Jahre 1932 darstellt. Hierin wurde festgehalten: Es wird besonderer Wert darauf gelegt, daß der Friedhof auch aus der Form der Grabdenkmäler den jüdischen Charakter erkennen läßt. Dieses Ziel wird am besten durch Benützung der auf den alten jüdischen Friedhöfen wie in Wien, Prag, Frankfurt, Worms usw. üblichen, eine künstlerische Ausgestaltung ermöglichenden Mazeweform erreicht werden.
Die Kultusgemeinde verbat ferner jene Grabdenkmäler, deren „Dimensionen den hä. [sic] Vorschriften nicht entsprechen, oder wenn der Entwurf erkennen läßt, daß der Grabstein oder das Bauwerk den künstlerischen Eindruck der Gesamtanlage des Friedhofes stören würde“. Insbesondere wurde vorgeschrieben, dass das „Anbringen von Bildern, Büsten und sonstigen Abbildungen auf Monumenten […] nach rituellen Vorschriften nicht gestattet“ sei, was also ein kategorisches Verbot der bildlichen Symbolik darstellte. Fortan bedurften auch alle Inschriften und Embleme der Bewilligung des Friedhofsamtes. Die Vorschriften wiederholten diesmal noch detaillierter die zuvor zitierte Aufforderung: Dem konfessionellen Charakter des Friedhofes entsprechend, muß auf jedem Grab- oder Gruftmonument eine hebräische Inschrift oder mindestens ein hebräisches Wort angebracht werden. Auf der Abteilung für „Schomre Schabes“ werden Beilegungen, Schmückungen, deutsche Grabinschriften, sowie Geburts- und Sterbedaten nach gewöhnlicher Zeitrechnung nicht bewilligt.
Somit wurde eine zutiefst orthodoxe Ordnung der „Frommenabteilung“ vorgeschrieben, wonach als „unjüdisch“ angesehene Praktiken wie die Beisetzung von mehr als einer Leiche in einem Grab oder die Verwendung von jeglichen Sprachen außer dem Hebräischen ausdrücklich verboten wurden – eine erzwungene „Rückkehr“ zu einer seit mindestens zwei Jahrhunderten nicht mehr üblichen Sepulkralkultur, die selbst nicht zeitlos, sondern historisch gewachsen und längst weiterentwickelt war. Bei der Lieferung von Grabsteinen, bei denen diese Vorschriften nicht eingehalten wurden, war „die Einfahrt in den Friedhof 121 Mitteilung, 12. September 1932, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/1/9, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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unbedingt zu untersagen“, und die Kultusgemeinde behielt sich des Weiteren das Recht vor, solche Grabdenkmäler, die doch unerlaubt errichtet wurden, „auf Kosten der Partei, auch ohne vorhergehende Verständigung derselben zu entfernen“.122 Innerhalb von einem Jahrzehnt wandelte sich also die Bestattungspolitik beim IV. Tor hin zu einer strengen Regulierung der Sepulkralkultur durch das Friedhofsamt der Kultusgemeinde, die von einem starren, deutlich orthodoxen Verständnis inspiriert war, wie eine „authentisch jüdische“ Sepulkralkultur auszusehen hatte. Die Konstruiertheit der hier zum Teil „erfundenen Traditionen“ zeigte sich schon im Verweis auf die sogenannte „Mazeweform“, der als Hinweis auf die vor allem in der Seegasse üblichen rundbogenförmigen Grabdenkmäler verstanden werden muss, die aber nachweislich nicht irgendein Urtyp „jüdischer“ Grabkunst darstellen, sondern eine spezifisch in der Frühen Neuzeit durch ganz Europa weit verbreitete Grabdenkmalform. Nur retrospektiv verklärend konnte diese im 20. Jahrhundert als „traditionell jüdisch“ aufgefasst werden. In diesen Vorschriften zeigte sich das zunehmende Maß an Kontrolle, das die Orthodoxie innerhalb der Kultusgemeinde auszuüben begann, sowie die zunehmend restriktive Hegemonie der Gemeindeorganisation in der Erinnerungskultur am Friedhof, trotz der weiterhin ausgeprägten Vielfalt der jüdischen Gemeinschaft, von der sich die meisten Individuen aber nach wie vor in einem jüdischen Friedhof bestatten lassen wollten – wobei ihnen nur die beiden Bestattungsräume der Kultusgemeinde beim I. und IV. Tor zur Verfügung standen. Die Vorschriften ergänzend, führte das Friedhofsamt in diesen Jahren „Gesuchsbeilagen“ ein, die von den Angehörigen der am IV. Tor zu Bestattenden auszufüllen waren. Charakteristisch enthielten diese nochmals unmissverständlich die Aufforderung: „Zur Wahrung des konf[essionellen] Charakters des Friedhofes muß auf jedem Grabmonumente oder an Grüften mindestens ein hebräisches Wort angebracht werden.“123 Auch wurde ein Formular eingeführt für „Ansuchen um Erteilung der Bewilligung [im Folgenden auszuwählen] zur Aufstellung eines Grab-/Gruft Monumentes / zur Anbringung einer Nachschrift / zur Anbringung einer Namenstafel“. Die frühesten Beispiele dieser Formulare enthielten das auszufüllende Datum „193_“ und mussten mit Namen und Daten der Verstorbenen, Standort und Material des Denkmals, Angaben der beauftragten Firma sowie Kopien der Inschrift in He-
122 Auszug aus den Vorschriften über Grabsteinaufstellung, o. D., AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 123 Siehe z. B. Gesuchsbeilage der Familie Katscher, o. D., AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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bräisch und Deutsch ausgefüllt werden.124 Zum Vergleich schrieb zwar auch die zeitgenössische städtische Friedhofsordnung, die in allen von der Stadt Wien verwalteten Friedhöfen galt, in §22 vor, dass Grabinschriften „der Weihe und dem Ernste des Friedhofes nicht widersprechen“ durften, wobei dies aber nicht näher erläutert wurde und sonst keine Restriktionen in Bezug auf Sprache oder Symbolik beinhaltete.125 Ein weiterer Streitpunkt um den jüdischen Friedhof in der Zwischenkriegszeit drehte sich um die Feuerbestattung. Das erste zweckgebaute Krematorium Europas wurde 1876 in Mailand fertiggestellt, obwohl die gerade in Italien so dominante katholische Kirche sich zu dieser Zeit noch vehement gegen die Feuerbestattung aussprach. Mit der Zunahme an Feuerbestattungen in den darauf folgenden Jahren verbot die katholische Kirche schließlich 1892 die Bestattung von Ascheresten in ihren Friedhöfen – erst 1963 sollte sie die Feuerbestattung endlich bewilligen. Im ebenfalls überwiegend katholischen Wien hatte sich bereits 1874 ein Verein zur Förderung der Feuerbestattung etabliert; 1885 wurde dann der Verein „Die Flamme“ gegründet, der angesichts des fortbestehenden Verbots der Feuerbestattung in Österreich die Einäscherung von Leichen ihrer verstorbenen Mitglieder in Deutschland und deren anschließende Bestattung zurück in Österreich organisierte. Erst 1921 mit der Demokratisierung und Säkularisierung der Gemeindeverwaltung im „Roten Wien“ wurde die Konstruktion einer städtischen Feuerhalle genehmigt. Die christlichsozial dominierte Bundesregierung versuchte zwar, den Bau zu unterbinden, doch der Wiener Gemeinderat setzte sich vor dem Verfassungsgericht durch.126 Zu den berühmtesten Feuerbestatteten der Zwischenkriegszeit zählten vornehmlich sozialdemokratische Politiker sowie der liberale, 1925 von einem Nationalsozialisten ermordete Schriftsteller Hugo Bettauer (ALI-47) und die berühmte, 1925 verstorbene Salonnière Adele Bloch-Bauer (MR-47-1G). Die letzten beiden stammten aus jüdischen Familien, doch war Bettauer schon früh zum evangelischen Glauben konvertiert, und gerade die Feuerbestattung von Bloch-Bauer und die Bestattung ihrer Asche nicht im Familiengrab beim I. Tor (19-1-83), sondern am Urnenhain bei der Feuerhalle verweisen unmissverständlich auf den Grad ihres Bruches mit dem religiösen Judentum. Wie in der katholischen Kirche war die Feuerbestattung in der Kultusgemeinde ein umstrittenes Thema, was entgegen der oft tradierten Annahme, es hätte in der jüdischen Sepulkralkultur nie Feuerbestattungen gegeben, eben 124 Ansuchen, o. D., AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/1/9, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 125 Begräbnis- und Gräberordnung für die Friedhöfe der Stadt Wien, 19. März 1920, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/1/9, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 126 Veigl: Morbides Wien, S. 252–255.
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darauf hindeutet, dass auch diese Form der Leichenbestattung unter der damaligen jüdischen Bevölkerung praktiziert wurde. Zu diesem Thema bezog die Kultusgemeinde nach Eröffnung der Feuerhalle entsprechend Stellung: Es kann kein Zweifel darüber obwalten, dass dem jüdischen Religionsgesetze, der traditionellen und der geschichtlichen Ueberlieferung einzig und allein die Erdbestattung des Leichnams entspricht. Die Leichenverbrennung galt und gilt als unjüdisch. Wohl widerspricht es dem Geiste des Judentums, einen Zwang zur Einhaltung religionsgesetzlicher Vorschriften auf die Glaubensangehörigen auszuüben, doch ist es selbstverständlich, dass gewisse religiöse Zeremonien nicht bei einem Akte vorgenommen werden dürfen, der im Gegensatze steht zum Religionsgesetze.
Trotz der offen konservativen Haltung der Kultusgemeinde bezüglich dieser Frage wurde also die Bestattung von Ascheurnen beim IV. Tor explizit erlaubt, unter der alleinigen Bedingung, dass solche Begräbnisse „ohne rabbinische oder kantorale Funktion“ zu erfolgen hatten.127 Die Chewra Kadisha, die nach wie vor verantwortlich war für die rituelle Vorbereitung der Leichen und die Einhaltung der religiösen Vorschriften bei Begräbnissen, erklärte sich nur bereit, die Leichen vor der Feuerbestattung abzuholen und die rituelle Leichenwaschung auszuführen, weigerte sich aber, das Begräbnis selbst abzuhalten.128 Zeugt auch dieses Thema also von einem zunehmenden Konflikt zwischen zeitgenössischen Vorstellungen von „jüdischen“ und „unjüdischen“ Praktiken in der Sepulkralkultur, so muss auch der verhältnismäßige Liberalismus seitens der Kultusgemeinde und der Chewra Kadisha sowie deren Kompromissbereitschaft betont werden, da allen Mitgliedern, auch den Feuerbestatteten, ein Begräbnis im gemeinschaftlichen jüdischen Friedhof nicht verwehrt werden sollte. Allein die religiösen Zeremonien sollten den eher „frommen“, sprich orthodoxen, Gemeindemitgliedern vorbehalten sein. Freilich änderte sich die Grundeinstellung auch von irreligiösen Jüdinnen und Juden zur Feuerbestattung infolge der Shoah, als die Leichen von Millionen Opfer pietätlos verbrannt und ihre Asche anonym zerstreut wurde. Die grundsätzliche Akzeptanz der Feuerbestattung seitens der damaligen Kultusgemeinde kam noch einmal 1933 zum Ausdruck, als sich herausstellte, dass „[i]n den letzten Jahren […] Leichen von Israeliten“, die zur Feuerbestattung vorgesehen waren, „durch verschiedene Leichenbestattungsunternehmungen zur Abholung gelangten“. In einem Schreiben an sämtliche städtische Kliniken, Sanatorien und Bestattungsunternehmen beschwerte sich die Kultusgemeinde, dass ihr dadurch die Ausführung „der ihr gesetzlich obliegenden Aufgabe“ der
127 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Bericht [1924], S. 7. 128 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Bericht [1928], S. 37.
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Sorge um jüdische Leichen „unmöglich“ gemacht wurde. Diese Fehlhandlung beruhte auf dem „Missverständnis“, wonach „jüdische Leichen, die zur Kremation bestimmt sind, von der Kultusgemeinde nicht übernommen werden“, was „unrichtig“ sei. Solche Leichen in ihre Obhut zu nehmen, bedeutete seitens der städtischen Behörden „einen Eingriff in die Kompetenz und den Aufgabenkreis der Kultusgemeinde“, insbesondere ihre „Verpflichtungen“ vis-à-vis des „Religionsgesetz[es]“. Die Kultusgemeinde bat daher, dass in allen Fällen, wo es sich um die Leiche eines oder einer jüdischen Verstorbenen handelte, das Friedhofsamt der Kultusgemeinde sofort informiert werden sollte, sodass sie sich um die Leichenabholung und die Ausführung der rituellen Gebote kümmern konnte.129 Es wurden in diesen Jahren nicht nur auf orthodoxer Seite Unzufriedenheiten über den neuesten Bestattungsraum der Kultusgemeinde laut. Am 25. März 1932 richtete eine „Frau Dir. Guth“, wohnhaft in der Ausstellungsstraße 45/1/10 im 2. Bezirk, eine Petition mit über einem Dutzend meist unleserlicher Unterschriften an die Friedhofsverwaltung bezüglich der nebeneinander liegenden Gräbergruppen 12 und 17 am hinteren, südlichen Ende des Friedhofs, wo die Unterzeichneten alle „teure Toten“, also verstorbene Verwandte liegen hatten, die sie „wöchentlich 2 bis 3 Mal“ besuchten. „Sehr schwer ist es nun, nach starkem Regen und Schneefällen, sich diesem Kult zu widmen, da grundlose Wege, knöcheltief im Morast, dies beinahe unmöglich macht.“ Die Unterzeichneten behaupteten, dass im Vergleich zu anderen Gruppen dieser angeblich ungepflegte Teil des Friedhofs seitens der Verwaltung „stiefmütterlich behandelt“ werde und beschwerten sich des Weiteren über „Diebstähle an Gräberschmuck, der Blumen, ja ganze Bäumchen“, die „durch die nahe Planke“ (die Friedhofsmauer) erleichtert wurden. Diese „Kalamitäten“ beschrieben die Unterzeichneten als „pietätlose Unbilden“.130 Hier zeigt sich die Kehrseite der so streng durchgesetzten Unterscheidung zwischen bestimmten Klassen und Gräbergruppen, die offenkundig zur Vernachlässigung der Grabstätten mancher weniger prominenter Verstorbener führte. Eine solche Disparität beim IV. Tor wird heute noch beklagt, vor allem durch Nachkommen von Vertriebenen und Ermordeten aus dem Ausland. Bei der „Frau Dir. Guth“ handelt es sich offenkundig um eine 1932 unter dieser Adresse ansässigen Direktorswitwe Marie Guth, deren weiteres Schicksal ich allerdings nicht eruieren konnte. Es liegen drei in den Jahren zuvor verstorbene Männer mit Nachnamen Guth in der Gruppe 12 bestattet, von denen einer vermutlich ihr Ehemann war: die 129 An die Direktionen der Spitäler, Sanatorien und Leichenbestattungsunternehmen, 6. März 1933, AIKGW, A/VIE/IKG/I-II/FH/1/3. 130 An die Friedhofsverwaltung, 25. März 1932, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/7/4, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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1927 verstorbenen Emil (12-10-61) und Theodor (12-22-18) und der 1928 verstorbene Alexander (12-23-4). Hinweise zu Diebstählen sind auch in internen Mitteilungen der Friedhofsverwaltung aus diesen Jahren zu finden: So beklagte 1926 der Friedhofsamtsdirektor Guido Fuchsgelb die Diebstähle, „besonders in den Nachstunden [sic]“, wobei allerdings „weder von der Polizei noch vom Magistrat irgendwelche Maßnahmen getroffen“ wurden. Was gestohlen wurde, wurde hier nicht angegeben, allerdings handelte es sich vermutlich um kostbare Metallverzierungen, die oft auf den aufwendiger ausgestatteten Grabdenkmälern verwendet wurden. Da sich diese Mitteilung auf den Magistrat der Stadt Wien berief, also mit Bezug auf die allgemeine Verwaltung des Zentralfriedhofs, handelte es sich hier offensichtlich um den Friedhof beim I. Tor, der ein riesiges, offen zugängliches aber kaum überwachtes Areal darstellte.131 Diese Beschwerde über die Widerspenstigkeit der städtischen Verwaltung, entsprechende Maßnahmen zur Sicherung des unter ihrer Obhut stehenden jüdischen Friedhofs zu treffen, ist ein frühes Beispiel einer Thematik, die seit der Shoah bis in den heutigen Tag wiederholt in Kontroversen gemündet hat. Bereits in der Zwischenkriegszeit führte die komplexe Vereinbarung zwischen der Kultusgemeinde und der Stadt Wien rund um Eigentum, Verwaltung und Finanzierung des Zentralfriedhofs zu Spannungen. So verlangte im Juni 1937 die inzwischen austrofaschistisch regierte Stadt Wien aufgrund der aus dem Vertrag von 1891 fortbestehenden Verpflichtung der Kultusgemeinde, einen Beitrag zur allgemeinen Verwaltung des Zentralfriedhofs zu leisten, dass sie einen Teil der Kosten für die Konstruktion einer neuen Aufbahrungshalle im allgemeinen Friedhof in Höhe von 184.000 Schilling aufbringe. Die Kultusgemeinde, die ja ihre eigenen, ohnehin teuren Zeremonienhallen in ihren Friedhöfen unterhielt und die allgemeinen nicht für ihre Begräbnisse verwendete, erhob Einspruch gegen dieses Verlangen mit der entsprechenden Begründung, dass dieses neue Bauwerk „nach ihrem Zweck und ihrer Verwendung in keinerlei Zusammenhang mit dem Friedhofwesen der Kultusgemeinde“ stehe. Darüber hinaus führte sie an, dass sich die Zustände am Zentralfriedhof seit dem Vertragsabschluss 1891 ohnehin gewaltig verändert hätten: Einerseits fand der jüdische Friedhof beim I. Tor, auf den sich dieser Vertrag bezog, kaum mehr Verwendung, da er fast vollständig belegt war, andererseits unterhielt die Kultusgemeinde inzwischen einen neuen, vollkommen selbstständig verwalteten Friedhof beim IV. Tor, womit sich ihre Kosten auch enorm erhöht hatten, und das in einer Ära der erheblichen finanziellen Not.
131 Mitteilung, 17. Dezember 1926, AIKG, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/1/8, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Friedhofs beim IV. Tor bis 1938
In diesem an Bürgermeister Richard Schmitz gerichteten Brief ersuchte Kultusgemeindepräsident Desider Friedmann daher, den relevanten Teil des Vertrags von 1891, nämlich §5, demzufolge sich die Kultusgemeinde verpflichtete, „zu den der Gemeinde Wien erwachsenden Kosten der allgemeinen, nicht einem blos confessionellen Bedürfnisse dienenden Administration des Centralfriedhofes“ einen proportionalen Beitrag zu leisten (siehe hier Kapitel 5), außer Kraft zu setzen. Nicht zuletzt berief sich Friedmann in seiner Begründung auf die enormen Kosten der Bestattung von Mittellosen, dessen Grabstätten auf Friedhofsdauer angelegt wurden, was die Kultusgemeinde als ihre selbstverständliche religiöse Pflicht gegenüber ihrer Mitgliedschaft betrachtete. Solche Begräbnisse machten inzwischen schon gute sechzig Prozent aller Bestattungen in den Friedhöfen der Kultusgemeinde aus, ein gewaltiger Anteil, der die ökonomische Misere dieser Jahre veranschaulicht. Nicht zuletzt verwies Friedmann auf die Tatsache, dass „die Kultusgemeinde im Gegensatz zu den römisch-katholischen und evangelischen Kirchen vom Bund keinen Beitrag für die Erfüllung ihrer statutarischen Aufgaben“ erhielt.132 Im Namen des Bürgermeisters antwortete die Stadt Wien, dass sie angesichts der Tatsache, dass die Kultusgemeinde sich um „die kostenlose Beerdigung von [jüdischen] Mittellosen“ kümmerte, bereit sei, nur einen Beitrag von ungefähr 8.500 Schilling zu verlangen, was sie als „einmalige[s] ausserordentliche[s] Entgegenkommen“ betrachtete. Allerdings verwies die Stadt auch auf den vertraglichen Wortlaut, dass die Kultusgemeinde für die „allgemeine – nicht einem bloss konfessionellen Bedürfnisse dienende – Administration des Zentralfriedhofes“ aufzukommen habe. Mit Ausnahme der angeschlossenen Kapelle sah die Stadt die neue Aufbahrungshalle schließlich doch darin miteinbezogen.133 Bereits seit dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hatte sich die Kultusgemeinde an den Beitragskosten für den allgemeinen Friedhof gestoßen. 1909 beschwerte sich der damalige Kultusgemeindepräsident Alfred Stern über die Tatsache, dass seit der Festlegung 1891 des von der Kultusgemeinde aufzubringenden Anteils – der das damalige Größenverhältnis zwischen den jüdischen und nichtjüdischen Teilen des Zentralfriedhofs reflektierte – der nichtjüdische Teil im Gegensatz zum jüdischen „eine beträchtliche Erweiterung“ erfahren habe, was natürlich das Verhältnis der Inanspruchnahme ändere. Indes hatten sich die Beiträge der Kultusgemeinde zur allgemeinen Friedhofsverwaltung verdreifacht.134 Ab Mitte der 1920er-Jahre versuchte die Kultusgemeinde aktiv, 132 An den Herrn Bürgermeister der Stadt Wien, 8. Juni 1937, AIKGW, A/VIE/IKG/IIII/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/1/8, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 133 An die Israelitische Kultusgemeinde, 22. Juli 1937, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/ Österreich/1/3, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 134 An den löblichen Magistrat der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt, 20. September 1909, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/1/8, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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dementsprechend §5 aus dem Vertrag von 1891 zu streichen. In einer Aktennotiz aus dem Jahre 1925 fragte ein unbenannter Kultusgemeindefunktionär, wie man sich in den 1870er- und 1880er-Jahren überhaupt auf den Beitrag von zwölf Prozent geeinigt hatte: Eine Generation später war dies schon aus dem Gedächtnis des Verwaltungsapparats verschwunden.135 Bereits in diesem Jahr musste die Kultusgemeinde über 87.000 Kronen – eben zwölf Prozent der Gesamtkosten – für eine neue Aufbahrungshalle im allgemeinen Friedhof aufbringen, obwohl sie diese nicht verwenden sollte, wie in einem Brief an die Stadtverwaltung festgehalten wurde: Nun ist es doch allgemein bekannt, dass für jüdische Leichen auf der israel[itischen] Abteilung des Zentralfriedhofes eine von der Kultusgemeinde errichtete Leichenhalle sich befindet, dass jüdische Leichen ausschliesslich hierher gebracht werden, dass evangelische Leichen in die Leichenhalle des evangelischen Friedhofes geschafft werden, also die von der Gemeinde Wien im Jahre 1923 errichtete Leichenhalle rein katholischkonfessionellen Zwecken, keinesfalls aber jüdischen Zwecken nutzbar gemacht wird.136
In einem weiteren Schreiben stellte die Kultusgemeinde tabellarisch fest, was ihr für enorme Kosten durch das Abholen, Waschen und Bekleiden der Leichen, ihre Sargeinbettung und das Ausheben, Belegen und Einfüllen der Grabstätten in beiden Friedhöfen beim I. und IV. Tor entstanden. Diesen Brief schloss sie mit der Feststellung: Die Opferwilligkeit und Opferfreudigkeit der Wiener Judenschaft, welche bekanntermassen auch für interkonfessionelle Zwecke sich stets bewährt, ist für die Institutionen der Kultusgemeinde und für die sonstigen jüdischen Wohlfahrtsinstitutionen bis an die äusserste Grenze in Anspruch genommen.137
Die Kultusgemeinde verwies beispielhaft auf die Tatsache, dass ihre Beiträge unter anderem dem „Dienstauto des Direktors der [städtischen] Leichenbestattung“ im allgemeinen Friedhof sowie den „Friedhofserweiterungen, welche lediglich die nichtjüdische Beerdigungsfläche betreffen“, zugute kämen. Ihrem Schreiben fügte die Kultusgemeinde eine tabellarische Auflistung ihrer stetig wachsenden Beiträge der letzten Jahre sowie umgekehrt der stetigen Abnahme von Bestattungen beim I. Tor bei – von 2.501 Bestattungen im Jahre 1913 (vor
135 Bericht, 7. Jänner 1925, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/1/8, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 136 O. T., o. D., AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/1/8, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 137 An den Magistrat, Abteilung 13 A der Stadt Wien, 7. April 1925, AIKGW, A/VIE/IKG/IIII/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/1/8, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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dem Ausnahmezustands des Weltkriegs) bis auf 744 in 1926.138 Die Beiträge hätten sich aber im Vergleich seit dem Jahr 1923 fast verdoppelt.139 Die Stadt lehnte das Ersuchen ab, §5 des Vertrags außer Kraft zu setzen, und zeigte sich lediglich bereit, den Beitrag der Kultusgemeinde angesichts der neuerlichen Vergrößerung des allgemeinen Friedhofs (es handelte sich um die Gruppen 101 bis 183, die sich hinter dem neuen jüdischen Friedhof beim IV. Tor erstrecken) zu senken – von 11 auf 9,4 Prozent.140 Der Streit um den Vertrag von 1891 sollte sich noch über die Shoah hinaus erstrecken. Die Wiener Judenheit stellte in der Zwischenkriegszeit nach wie vor eine der größten jüdischen Gemeinden der Welt dar. Somit wurde angesichts der Unantastbarkeit der belegten Grabstätten schon zwei Jahrzehnte nach der Eröffnung des neuen Friedhofs beim IV. Tor deutlich, dass es einer Erweiterung bedurfte. 1936 erwarb die Kultusgemeinde somit von der katholischen Liebfrauenkirche in Schwechat weitere 71.000 Quadratmeter für einen Kaufpreis von 150.000 Schilling, der bis 1942 in Raten bezahlt werden sollte.141 Hierbei handelte es sich um einen schmalen Streifen Land am östlichen Rand des Friedhofs beim IV. Tor, der in späteren Akten als „Liebfrauengründe“ bezeichnet wurde.142 Ursprünglich wollte die Kultusgemeinde noch mehr von diesem Land erwerben, was allerdings die Magistratsabteilung 22 – die damalige städtische Friedhofsverwaltung – „in eine Missstimmung versetzte, weil die Gemeinde Wien nun selbst die gegenständlichen Gründe für Friedhofszwecke erwerben“ wollte.143 Nach dem „Anschluß“ 1938 sollte auch dieser Vertrag um die Liebfrauengründe der Kultusgemeinde zum Verhängnis werden.
138 Beitrag für die Erhaltung und Verwaltung des Zentralfriedhofes, o. D., AIKGW, A/VIE/IKG/IIII/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/1/8, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 139 An Sr. Hochwohlgeboren, dem Herrn Karl Seitz, 9. Mai 1926, AIKGW, A/VIE/IKG/IIII/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/1/8, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 140 Magistrat Wien, Abteilung 13 a, 27. Juni 1929 und An den Wiener Magistrat, Abteilung 13 a, 7. November 1929, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/1/8, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 141 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Bericht [1936], o. S., Abschnitt „Erweiterung des Friedhofes“. Siehe auch Beschluß-Nr. 4494, 16. Juni 1936, A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/Österreich/1/12, AIKGW, zit. in USHMM, AJCV-VCC. Der undatierte Kaufvertrag (eigentlich 7. Juli 1936) samt Plänen, die die Dimensionen der Liebfrauengründe östlich des jüdischen Friedhofs angeben, ist erhalten in A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/Österreich/2/5, AIKGW, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 142 Vgl. Referatsbogen, 10. März 1936, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/5/6, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 143 Erwerbung von Friedhofsgründen, 5. Mai 1936, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/5/7, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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6.3
Grabsteine, Sepulkralepigraphik und Symbolik im Friedhof beim IV. Tor
Nach dem Ersten Weltkrieg setzte eine breite Homogenisierung des Erscheinungsbilds der europäischen Friedhöfe ein, teilweise unter dem Einfluss der fast allgegenwärtigen Soldatenfriedhöfe mit ihren unzähligen standardisierten Grabsteinen, aber auch aufgrund der inzwischen vollzogenen Demokratisierung der europäischen Sepulkralkultur, wonach jedes Individuum bzw. jede Familie eine eigene, gekennzeichnete Grabstätte zugewiesen bekam und die Denkmäler weitgehend Massenherstellungsprodukte darstellten.144 Nicht zuletzt bewirkten auch die andauernden ökonomischen Krisen der Zwischenkriegszeit einen radikalen Rückgang in der Üppigkeit der Grabdenkmäler, wie sie ehemals die Reichen und Mächtigen anfertigen ließen. Infolgedessen ist auch das Erscheinungsbild des Friedhofs beim IV. Tor deutlich bescheidener als die Prominentenreihen beim I. Tor, wenngleich viele der älteren Grabdenkmäler nach wie vor elegant im historistischen Stil entworfen und aus edlem Material hergestellt wurden. Eine weitere umfassende Entwicklung der Zwischenkriegszeit in der europäischen Sepulkralkultur war die weitläufige Resakralisierung der Friedhöfe.145 Diese lässt sich auch in der Wiener jüdischen Sepulkralkultur, die sich beim IV. Tor entfaltete, feststellen, die zunehmend explizite Verweise auf die Religiosität der Verstorbenen zeigte, ebenso wie in der Ausbreitung orthodox ausgelegter Praktiken, beispielsweise in der Zuweisung nebeneinander liegender Einzelgrabstätten samt eigenen Grabstellennummern für verstorbene Ehepaare anstatt der zuvor beim I. Tor eher üblichen Anlegung von Familiengrüften. Ein für diese Zeit charakteristisches Beispiel der expliziten Zurschaustellung der Jüdischkeit ist die Inschrift des in Galizien geborenen und 1930 verstorbenen Markus Duldig, die mit den hebräischen Worten „Zeichen am Grabe des treuen Juden [jehudi ne’eman], der im Herzen unschuldig war“ eröffnet. Dieser Steinquader enthält zudem, wie so viele der Steine beim IV. Tor, einen deutschsprachigen „In Memoriam“-Zusatz für seine Frau Adele, deren Sohn Ignaz und dessen Frau Fanny, „als Opfer erschossen 1942 in Przemysl – Galizien“, der Geburtsstadt von Markus und seinen Kindern (10A-1-1). Bei Ignaz handelte es sich um jenen Ignaz Duldig, der vor seiner Ermordung als Leiter des „Judenrats“ in Przemyśl fungierte. Seinem jüngeren Bruder Karl „Karol“ Duldig gelang die Flucht nach Australien, wo er ein bekannter Bildhauer wurde. Das Schicksal dieser von Galizien nach Wien eingewanderten und offensichtlich 144 Vgl. z. B. Ariès: Geschichte des Todes, S. 703–704. 145 Vgl. z. B. zu Wien Podbrecky, Inge/Kristan, Markus: Menschen – Schicksale – Monumente. Döblinger Friedhof Wien, Wien 1990, S. 12 oder zu Budapest Tóth: Grabmalkunst, S. 42.
Grabsteine, Sepulkralepigraphik und Symbolik im Friedhof beim IV. Tor
selbstbewussten jüdischen Familie, die in der Shoah zum Teil vertrieben und zum Teil ermordet wurde, ist stellvertretend für die Erfahrung dieser ganzen Generation von Wiener Jüdinnen und Juden.146 Die allgemeine Resakralisierung dieser Zeit ging innerhalb der Kultusgemeinde Hand in Hand mit einer stetigen Orthodoxisierung, die sich auch deutlich in der Sepulkralkultur beim IV. Tor niederschlug. Ein charakteristisches Beispiel eines zutiefst orthodoxen Grabsteins ist die schwarze Marmorstele mit vergoldeter Inschrift samt Kohanimhände des 1924 verstorbenen Jehuda Deutsch, dessen ausschließlich hebräischsprachige Inschrift verkündet: Pei-nun [hier ist begraben] ein koscherer und furchtsamer Mann, der chawer [allgemein Gebildeter, aber nicht rabbinisch Ordinierter], reish [in diesem Kontext „Herr“] Jehuda Deutsch, cohen [hier sprichwörtlich gemeint als „hoher Priester“] zum allmächtigen Gott mem-kuf-kuf [aus der heiligen Gemeinde] Budapest, gestorben ain-shin-kuf [am Vorabend des heiligen Shabbat] am Monatsanfang Aw und bestattet in großer Ehre und Ruhm am Sonntag den 3. Aw 684 lamed-fei-kuf [der kleinen Zeitrechnung; ohne die Jahrtausendangabe].
In dieser knappen Inschrift finden sich alle wesentlichen Merkmale der Sepulkralepigraphik der Frühen Neuzeit wieder: die formelhaften Abkürzungen; die hebräischsprachigen, rabbinisch abgeleiteten Ehrentitel; die Nennung in Wort und Symbolik der Zugehörigkeit des Verstorbenen zur Priesterklasse und das Weglassen seines Geburtsdatums. Eigentümlich ist hingegen die explizite Nennung von Gott: „l’el elion“ (4-4-5). Eine Besonderheit der jüdischen Abteilungen des Wiener Zentralfriedhofs sind die Grabhäuschen der chassidischen „Wunderrabbiner“, im Hebräischen ohelim genannt (sprichwörtlich „Zelte“, singular ohel), die sich über verschiedene Abteilungen des Friedhofs verstreut befinden. Der Chassidismus entwickelte sich innerhalb der modernen Orthodoxie als Bewegung um die sogenannten tzadikim (Gerechten, singular tzadik), wie die chassidischen Rabbiner ursprünglich genannt wurden. Die Bezeichnung „Chassidim“ (sprichwörtlich „Fromme“, singular chassid) wurde schnell zum Inbegriff für die Anhängerschaft dieser Rabbiner, wobei der Begriff „Wunderrabbiner“ wiederum auf die magischen Kräfte verweist, die diesen Anhängern der jüdischen Mystik nachgesagt werden: Sie gelten bis heute noch als „Vermittler zwischen ihren chassidim und Gott“.147 Auf ihre himmlische Vermittlerrolle wird unten im Zusammenhang mit der Sepulkralkultur noch ausführlicher eingegangen. Vor allem im Hebräischen, 146 Vgl. zur Familiengeschichte Jong-Duldig, Eva de: Bis ans andere Ende der Welt, https:// www.nationalfonds.org/files/content/documents/nf/Leseprobe_Eva%20De%20JongDuldigLosRes_LG_udsbr.pdf, letzter Zugriff: 31. August 2020. 147 Vgl. Biale et al.: Hasidism, S. 1.
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Jiddischen und Englischen wird heute die Bezeichnung rebbe, ursprünglich einfach die jiddische Aussprache vom hebräischen rawi (Rabbiner), meist als Bezeichnung chassidischer Rabbiner verstanden. War der Chassidismus in seinen Anfängen in der Mitte des 18. Jahrhunderts noch eine „moderne“ Bewegung, im Sinne, dass sie sich, wie die Reform, wenngleich in einer diametral entgegengesetzten Richtung, für eine Erneuerung des Judentums einsetzte, so trat im 19. Jahrhundert laut dem Historiker Raphael Mahler eine „negative Entwicklung“ ein, geprägt vom „Kult des tzadik, von der arroganten Herrschaft der [rabbinischen] Dynastien und dem Verlust jeder Spur sogar des Willens für religiöse Erneuerung und sozialer Reform“.148 Heinrich Graetz, einer der einflussreichsten Historiker des Judentums des 19. Jahrhunderts, bezeichnete diese Bewegung sogar als komplett „unjüdisch“.149 Diese Sicht ist in einer neuen, bisher umfassendsten Studie zum Chassidismus zwar relativiert worden.150 Doch ist die Einschätzung zeitgenössischer Historiker wie Graetz und später Simon Dubnow und Raphael Mahler nachvollziehbar: Im Chassidismus hatte sich in der Tat bis in das 19. Jahrhundert eine patriarchalisch-dynastische Nachfolgeregelung entwickelt, wonach bestimmte Familien über Generationen hinweg und in Konkurrenz zueinander nicht nur eine geistliche, sondern auch weltliche Macht über ihre Anhängerschaft ausübten. Diese Dynastien funktionierten laut David Assaf, dem federführenden Historiker einiger der wichtigsten dieser Dynastien, wie „jede Organisation mit einem bürokratischen Apparat, der geschaffen wird, um seine eigene Existenz fortzusetzen“. Hierin, so Assaf, unterschieden sich die chassidischen Dynastien allerdings nicht so sehr von den säkularen Anführern jüdischer Gemeindeorganisationen, welche schon „immer auf einer kleinen Oligarchie von reichen, wohlgeborenen Familien ruhte“, wie die im vorliegenden Werk ausgiebig genannten, zumeist adeligen Namen der Kultusgemeindefunktionäre des 19. Jahrhunderts in Wien auch belegen.151 Ein herausragendes und für die Entwicklungsgeschichte der Sepulkralkultur in den Wiener jüdischen Friedhöfen wichtiges Beispiel ist der 1796 im damaligen Russischen Reich, der heutigen Ukraine geborene Rabbiner Israel Friedmann (heute meist als Friedman anglisiert, wobei die Chassidim ihre bürgerlichen und als von außen aufgezwungen empfundenen Familiennamen zumeist scheuen), der später seinen Beinamen „Israel von Ruzhin“ von der Stadt Ruzhin (Ruschyn) herleitete, wo er seinen ersten „Hof “ errichten sollte.152 148 Mahler: Hasidism, S. xiv. 149 Zit. nach Biale et al.: Hasidism, S. 2. 150 Biale et al.: Hasidism, insb. S. 2–5 sowie allgemein Section 2 – Golden Age. The Nineteenth Century. 151 Assaf: The Regal Way, S. 48–49. 152 Vgl. Biale et al.: Hasidism, S. 285, 361–370.
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Israel war der Urenkel von Dow Beer, der „Maggid [Erzähler] von Mesritsch“ (heute Welyki Meschyritschi in der Ukraine), der Hauptanhänger des 1760 verstorbenen Baal Schem Tow, der wiederum im Nachhinein zum Begründer der chassidischen Bewegung stilisiert wurde. Somit präsentierte sich Israel von Ruzhin als Nachfolger einer königlich anmutenden Rabbinerdynastie, nicht zuletzt durch die Behauptung, der Maggid von Mesritsch stamme wiederum von König David ab, was Israels Gefolgschaft ein ausgeprägtes „messianisches Bewusstsein“ verlieh.153 Israel entwickelte eine Philosophie der jüdischen Religionslehre, die sich auf den „positiven religiösen Wert“ stützte, „der im alltäglichen, irdischen Leben verborgen lag, wie essen und trinken, sexuelle Beziehungen und den Verdienst des Lebensunterhalts“. Sein „Hof “ in Ruzhin, in dem er in einer allmählich für etliche jüdische Siedlungen Osteuropas typischen palastartigen Synagoge als Art geistlicher Fürst über seine Anhängerschaft „regierte“, war demzufolge geprägt von „einer protzenden Zurschaustellung des materiellen Wohlstands und des Luxus, in dem der tzadik und seine Familie lebten“.154 Assaf zufolge stieß Israels Reichtum und sein „extravaganter“ Lebensstil an seinem Hof auf großer Feindseligkeit seitens vieler jüdischer Kritiker, verschärft durch die Tatsache, dass er angeblich „keine wirkliche Torabildung“ besaß, seinen Kritikern zufolge sogar Analphabet war. Nichtsdestotrotz zog er eine breite Anhängerschaft an, die ihn von weit und breit an seinem Hof aufsuchte, um sich von ihm beraten zu lassen, und Israel entwickelte sich so mit der Zeit zu einem der einflussreichsten Anführer des Chassidismus. Er wurde so mächtig, dass er schließlich den Zorn des Zaren Nikolaus I. auf sich zog. Nach fast zweijähriger Haft floh Israel 1842 samt seinem Hof über die Grenze in die österreichische Bukowina, wo er sich in Sadigora niederließ (heute Sadhora, außerhalb Czernowitz gelegen), was fortan bis zum Ersten Weltkrieg als Zentrum des chassidischen Friedmann-Imperiums fungieren sollte: Durch seine sechs Söhne und vier Töchter – letztere vermählte Israel geschickt in andere chassidische Rabbinerdynastien – entstand somit ein weit verzweigtes Netzwerk.155 Seine Nachfolger ließen sich jeweils an unterschiedlichen Orten nieder, deren Namen den jeweiligen Rabbiner bzw. Familienzweig identifizierten. Zu den bedeutendsten Orten und Dynastien, deren Namen als Toponymen heute in zahlreichen Grabhäuschen am Wiener Zentralfriedhof aufzufinden sind, gehörten Sadigora, Bojan (Bojany), Czortków (Tschortkiw) und Husjatyn,
153 Assaf: The Regal Way, S. 60–61. 154 Assaf, David: Yisra’el of Ruzhin, in: Hundert, Gershon (Hg.): The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe, Bd. 2, New Haven 2008, S. 2087. Vgl. Heshel, Jacob: The History of Hassidism in Austria, in: Fraenkel, Josef (Hg.): The Jews of Austria. Essays on Their Life, History and Destruction, London 1967, S. 350. 155 Assaf: Yisra’el of Ruzhin, S. 2087–2088.
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allesamt dicht beieinander liegende Städte im äußersten Osten Galiziens und der Bukowina. Aus der Familie Friedmann sollten bis in das 20. Jahrhundert dutzende chassidische admorim (abgekürzt „unsere Herren, Lehrer und Rabbiner“; ein in chassidisch-rabbinischen Grabinschriften allgegenwärtiger Titel) hervorgehen. Mit den Verwüstungen ihrer Heimatländer in Galizien und der Bukowina infolge des russischen Einmarsches 1914 und der gezielten Zerstörung der chassidischen Höfe, gerade auch jenen in Sadigora, Bojan und Husijatin, flohen viele dieser admorim wie so viele ihrer galizischen MitbürgerInnen in die Hauptund Residenzstadt Wien, wo die meisten entweder bis zu ihrem Tod oder bis zum „Anschluß“ verblieben.156 Die Verlegung so vieler chassidischen Höfe Richtung Westen infolge des Ersten Weltkriegs mag zwar unmittelbar durch den Krieg ausgelöst worden sein, doch stellte Assaf den Verdacht in den Raum, diese sei auch verbunden gewesen mit dem „Wunsch, der enormen finanziellen Last der Aufrechterhaltung ihrer Höfe in ihren ursprünglichen Ortschaften“ zu entkommen, weswegen die „Wunderrabbiner“ auch nach Kriegsende in Wien verblieben „und sich nicht anstrengten, ihre Höfe wieder in ihren ehemaligen Heimstätten zu errichten“. Der bedeutendste dieser Rabbiner in Wien, der 1933 verstorbene Israel von Czortków, ein Enkel von Israel von Ruzhin, war beispielsweise schon vor dem Krieg nach Wien übergesiedelt und weigerte sich bis zu seinem Tod, trotz der Appelle seiner Anhängerschaft, nach Czortków zurückzukehren. Der Verfall der Höfe und insgesamt der chassidischen Kultur im Osten Europas setzte somit bereits mit dem Ersten Weltkrieg ein, die Shoah sollte dann fast die endgültige Vernichtung dieser Kultur und dieser Bevölkerungsgruppe bedeuten.157 Heute existieren nur mehr zwei der von Israel von Ruzhin abstammenden Dynastien, und zwar beide in Israel: die Sadigora-Dynastie in Bnei Berak außerhalb von Tel Aviv und die vereinte Bojan-Ruzhin-Dynastie in Jerusalem.158 In deren heutigen Fortleben zeigt sich übrigens eine faszinierende Umkehr des klassischen Exilbegriffs im Judentum: Im modernen Israel leben die Chassidim, die weitgehend antizionistisch eingestellt sind und den säkularen Staat Israel ablehnen, sozusagen im „Exil“ von der osteuropäischen Heimat, sprechen nach wie vor Jiddisch als Umgangssprache und organisieren sich nach wie vor in geschlossenen, nach ihren osteuropäischen Heimatstädten benannten Ge-
156 Vgl. Biale et al.: Hasidism, S. 579–583. 157 Assaf: The Regal Way, S. 308–309. Siehe zu Israel von Czortków Fußnote 105 auf S. 404. Allgemein zur weitgehenden Auslöschung des Chassidismus in den beiden Weltkriegen und seiner Neuetablierung vor allem in New York und Jerusalem vgl. Biale et al.: Hasidism, S. 575–806. 158 Assaf: Ruzhin Hasidic Dynasty, S. 1639.
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meinschaften – ein prägnantes Beispiel der modernen Erfindung einer eigenen „Tradition“.159 Auch der Patriarch Israel hatte sich angeblich seinerzeit in der Habsburgermonarchie nicht zu Hause gefühlt, sehnte sich sein restliches Leben lang nach Ruzhin und verglich seine Flucht vor dem Russischen Reich nach Österreich mit der Flucht des biblischen Josef von Israel nach Ägypten.160 Vor 1914 hatte es praktisch keine chassidische Kultur in Wien gegeben – die „Wunderrabbiner“, die im vorherigen Kapitel besprochen wurden, stellten damals noch eine völlige Ausnahme dar. Somit muss die kurzlebige chassidische Subkultur, die sich in der Zwischenkriegszeit in der österreichischen Bundeshauptstadt etablierte und von der noch zahlreiche Grabhäuschen am Zentralfriedhof übrig geblieben sind, als völlig atypisch für die Wiener jüdische Geschichte gesehen werden. Auch muss betont werden, dass sich größtenteils eben ein sehr spezifischer, untereinander zutiefst verzweigter Ast des Chassidismus in Wien niedergelassen hatte, nämlich unter anderen die Ruzhin/Sadigora/Czortków-Dynastien der Familie Friedmann aus Ostgalizien und der Bukowina, zudem zu einem Zeitpunkt, als ihr Einfluss insgesamt schon stark im Begriff des Dahinschwindens war. Zuletzt sollte diese hochspezifische Bewegung nicht mit der damaligen galizischen Zuwanderung insgesamt oder überhaupt mit der Orthodoxie gleichgestellt werden, geschweige denn mit der Vorstellung eines „authentischen“ Judentums, wenngleich sich die Anhänger der Wunderrabbiner als Inbegriff eines solchen verstanden. Dies allem nichtsdestotrotz hatten die chassidischen Rabbiner während ihres Wienaufenthalts, wo mehrere von ihnen verstarben und begraben wurden, eine auffällige Präsenz.161 Diese Präsenz wurde in einer 1960 in der Kultusgemeindezeitschrift nacherzählten und seltsamen – aber angeblich wahren – Geschichte veranschaulicht: Diese erzählt vom Schriftsteller Hermann Bahr, der als junger Mann gleichzeitig mit Theodor Herzl Mitglied der Burschenschaft Albia war, doch anders als Herzl damals antisemitisches Gedankengut vertrat. Als Bahr mit einigen Studentenfreunden auf einer Reise in Czernowitz in der Bukowina angetrunken unterwegs war, kamen sie auf die Idee, den „Wunderrabbi von Sadagora“ (der deutschsprachige Name der Stadt; um welchen Rabbiner aus der Dynastie es sich hier handelte, wurde nicht präzisiert) zu besuchen, um ihm einen Streich zu spielen. Schließlich aber zeigte sich Bahr so bewegt von den weisen Worten des Rabbiners (die aber auch nicht nacherzählt wurden), dass er augenblicklich „von seinem Antisemitismus geheilt und befreit“ war. Später, das steht allenfalls
159 Vgl. Biale et al.: Hasidism, S. 10. 160 Assaf: The Regal Way, S. 137. 161 Vgl. Heshel: The History of Hassidism in Austria, S. 355
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fest, wurde er ein guter Freund Herzls und ein ausgesprochener Kritiker des Antisemitismus.162 Wie erwähnt, wurden den chassidischen tzadikim eine direkte Verbindung zu Gott sowie magische Heilkräfte nachgesagt, weswegen sie auch als „Wunderrabbiner“ bekannt waren. Als Grundlage dieses Glaubens gilt eine Anekdote aus 2. Könige 13,20-21, in der ein Toter wieder zum Leben erweckt wurde, als seine Leiche in Berührung mit den Gebeinen des Propheten Elisa kam. Aus diesem Glauben entwickelte sich der chassidische Brauch, am Todestag einen jom hillula (Feiertag) am Grab des verstorbenen tzadik abzuhalten, der sich vom sonst üblichen jahrzeit (Todestag) erstens durch sein Ausmaß und seine Feierlichkeit, aber wichtiger noch durch sein Stattfinden am Friedhof unterscheidet. Hieraus entwickelte sich wiederum der Brauch, ein kleines Bauwerk – das ohel – über die Grabstätte zu errichten, das bei jedem Wetter mehrere Leute, bestenfalls einen minjan (Quorum), unterbringen kann. David Assaf behauptete zwar, dieser spezifisch chassidische Brauch des Grabbesuchs übersteigert bei Weitem die normative Einstellung gegenüber Gräbern und Grüften in der aschkenasisch-jüdischen Tradition […]. Vor der zweiten Generation der Chassidim [in der Mitte des 19. Jahrhunderts] gibt es keine Information zur Verehrung von Grüften in Europa – sogar nicht bei den ausgewiesensten Gelehrten der Tora oder der Kabbala.
Tatsächlich wurde auch dieser unter den Chassidim entstehende Brauch zuerst von breiten Teilen des Judentums verunglimpft.163 Ein Eintrag im Jewish Encyclopedia aus dem Jahre 1902 bemerkte beispielsweise noch, dass der Friedhof traditionell als „Objekt der Angst und des Aberglaubens“ fungierte, „da er als Bleibe von Geistern und Dämonen angesehen wurde“. Interessanterweise verwies dieser Artikel dabei nicht nur auf Jesaja 65,4 – ein Paradebeispiel der rituellen Unreinheit sowie der Unheimlichkeit der Grabstätte im Judentum – sondern auch auf Matthäus 8,28, womit eine Verbindung zu einer vergleichbaren Ansicht im Christentum hergestellt wurde.164 Doch der Historiker Avriel Bar-Levav zitierte wiederum aus dem Talmud verschiedene Stellen, wo der Friedhof also noch vor dem Mittelalter „als Kommunikationsraum“ angeführt wurde, als „Ort, wo Information von der jenseitigen Welt erlangt werden kann“,
162 Herzl, Bahr und der Wunderrabbi von Sadagora, in: Die Gemeinde, 24. Juni 1960, S. 4. Vgl. allgemein zum bemerkenswerten Wandel von Bahrs politische Gesinnung Stieg: Sein oder Schein, S. 86–92. 163 Assaf: The Regal Way, S. 321–323. Vgl. auch Biale et al.: Hasidism, S. 426–428. 164 Executive Committee of the Editorial Board/Kohler: Cemetery, S. 640.
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ein Ort, der „als Verbindung“ dient, „um Bitten an den Himmel weiterzuleiten“.165 Unter dem Einfluss des Chassidismus erfuhren jüdische Friedhöfe in den letzten zwei Jahrhunderten jedenfalls eine allmähliche Umwertung in „geweihte Erde“, wodurch nachhaltig „das Verhältnis von Judenheiten durch die gesamte Welt zu den Grabstätten der Toten“ umgewandelt wurde. Freilich untermauerte der chassidische Glaube, der Geist des tzadik „schwebe über dem Grab“, zugleich die dynastische Legitimation der Rabbinerfamilien.166 Insofern spiegelt die Wallfahrt zu ihren Grabstätten gewissermaßen die Wallfahrt zum lebenden tzadik. Damit verbunden entwickelte sich die Praxis, bei diesen Grabbesuchen kwitlach (Zettelchen; singular kwitl), die ursprünglich als Art Bekenntnis an den Rabbiner als höchste geistliche Autorität seiner Anhängerschaft dienten, und die sich zunehmend in eine Art Bittschrift wandelten, an der Grabstätte zu hinterlassen: „Das kwitl galt als exklusiver Kommunikationskanal, der die absolute Loyalität des Chassiden gegenüber ‚seinem‘ tzadik ausdrückte sowie seine Überzeugung, dass nur sein rebbe ihm helfen konnte“. An dieser Stelle muss aber wieder betont werden, dass es sich auch hier um eine ausschließlich chassidische Praxis handelt und nicht, wie manchmal fälschlicherweise in der Literatur dargestellt wird, um eine allgemein orthodoxe oder insgesamt „jüdische“. Der chassidische Brauch des Grabbesuchs besteht heute noch, setzte nach der Wende 1989/90 sogar verstärkt in den ehemaligen Herkunftsländern des Chassidismus wie der Ukraine neu ein, wo inzwischen jährlich zehntausende Chassidim aus der ganzen Welt zu Rosh Hashana, dem jüdischen Neujahrsfest, nach Uman zum wiederhergestellten Grab des Rabbi Nachman von Brazlaw, einem Nachkommen des Baal Schem Tow, pilgern. Auch in Wien sind die vielen ohelim der im frühen 20. Jahrhundert eingewanderten „Wunderrabbiner“ längst zu Pilgerstätten für international anreisende Chassidim geworden. Dass die sich in Sadigora befindliche Grabstätte des Israel von Ruzhin bereits während des Ersten Weltkriegs zerstört wurde, mag auch die Anziehungskraft der Grabhäuschen seiner Nachkommen in Wien erklären.167
165 Bar-Levav: We Are Where We Are Not, S. 27. Vgl. auch Schwarzfuchs: The Medieval Jewish Cemetery, S. 172–173. 166 Biale et al.: Hasidism, S. 199–201. 167 Assaf: The Regal Way, S. 310, 316–317, 323–324.
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Abb. 17 Innenansicht des ohel des 1933 verstorbenen „Wunderrabbiners“ Israel von Czortków, samt Sessel, Schrank für Gebetbücher und Kerzen für BesucherInnen (21-16-30). © Autor
Das wohl prominenteste ohel beim IV. Tor gehört dem bereits erwähnten, vor dem Ersten Weltkrieg nach Wien eingewanderten und 1933 dort verstorbenen Israel von Czortków (bürgerlicher Name Israel Friedmann), ein Mitbegründer der transnationalen orthodoxen Vereinigung Agudat Israel und einer der einflussreichsten chassidischen Rabbiner des frühen 20. Jahrhunderts. Sein „Hof “ in Wien befand sich zuerst in der Roßauer Lände, bevor er sich in der Heinestraße in der Leopoldstadt niederließ, „ein Czortków in Miniatur“, wie es der Rabbiner Jacob Heshel beschrieb. Hier sammelte sich nicht nur seine Anhängerschaft, es trafen auch täglich hunderte von Briefen aus den osteuropäischen Heimatstädten der Chassidim ein.168 Die Einmündung der Großen Stadtgutgasse in die Heinestraße, wo sich Israels Hof befand, heißt seit 2008 ihm zu Ehren Rabbiner-Friedmann-Platz. Bei seinem Begräbnis am 3. Dezember 1933 reihten sich tausende schwarz bekleidete orthodoxe Männer in der Heinestraße, ein beeindruckender Ausdruck im öffentlichen Raum der inzwischen so beträchtlich gewachsenen chassidischen Subkultur Wiens in der Zwischenkriegszeit und ein Bild, wie es der Publizist Joachim Riedl beschrieb, „wie man 168 Heshel: The History of Hassidism in Austria, S. 354.
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es heute höchstens aus den chassidischen Vierteln in Brooklyn oder aus Mea Sharim, der Hochburg der Orthodoxie in Jerusalem, zu kennen meint“.169 Sein ohel inmitten der „Schomre Schabbos Abteilung“ (21-16-30) sticht architektonisch bereits durch seinen Zinnenkranz heraus, was ästhetisch an die Architektur der chassidischen „Hofsynagogen“ in Galizien erinnert, so etwa wie die klassizistischen Mausoleen beim I. Tor diesem Friedhof den Hauch einer Ringstraße in Miniatur verleihen. Über der Eingangstür befindet sich eine Tafel mit der Inschrift: „Tzijun [Zeichen, im Sinne „Grabdenkmal“] des großen, gerechten, heiligen admor, unser Lehrer und Rabbiner Israel, sein seliges Andenken sei ein Segen, Sohn des großen, gerechten, heiligen admor, unser Lehrer und Rabbiner David Moshe, sein seliges Andenken sei ein Segen, aus Czortków.“ David Moshe von Czortków war einer der Söhne Israel von Ruzhins; somit trug Israel Friedmann den Namen seines Großvaters, des Familienpatriarchen. Wie alle der ohelim beim IV. Tor, sind die Inschriften hier ausschließlich auf Hebräisch gehalten, wobei dieses eher liturgische Hebräisch in vielen Fällen auch jiddische und sogar aramäische Züge aufweist: Ersteres zeigt sich in der Schreibweise der Eigennamen der Rabbiner und der Ortsnamen, die im Verzicht auf bürgerliche (in diesem Kontext als nichtjüdisch wahrgenommene) Familiennamen (in diesem Fall „Friedmann“) dazu dienten, die gegebene, nach ihrem Herkunftsort benannte „Dynastie“ zu identifizieren. Der aramäische Einfluss ist wiederum auf die Zitierung in den Inschriften mystischer Texte wie der Sohar zurückzuführen. Inhaltlich zeigt sich ein gewaltiger Rückgang auf einfache Formeln, die aus Patronymen und rabbinischen Titeln bestehen, insbesondere das spezifisch chassidische admor. Auffällig ist im Innenraum dieses ohel die Inschriftentafel, die Israels Frau Ruchma Shewa bat Awraham Jakob gedenkt und deren Laudatio offenkundig dazu dient, Ruchma Shewas eigene Abstammung aus einer großen chassidischen Dynastie zu verkünden und somit stellvertretend ihrer Vorfahren zu gedenken: Hier ist begraben die fromme rabbinische Frau, Frau Ruchma Shewa, Tochter des frommen und heiligen admor, unser Lehrer und Rabbiner Awraham Jakob, sein seliges Andenken sei ein Segen, aus Sadigora, Frau des frommen und heiligen admor, unser Lehrer und Rabbiner Israel, sein seliges Andenken sei ein Segen, aus Czortków.
Ruchma Shewa war also die Tochter von Awraham Jakob von Sadigora, somit die Enkelin von Israel von Ruzhin und somit Israel Friedmanns Cousine ersten Grades, was die enge Verwobenheit dieser chassidischen Dynastien aufweist, etwa wie Königshäuser. Auch aus Ruchma Schewas Inschrift wird der zutiefst 169 Riedl: Jüdisches Wien, S. 78. Der Trauerzug ist photographisch festgehalten auf S. 79.
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formelhafte Charakter der chassidischen Sepulkralepigraphik ersichtlich. Eine bemerkenswerte Laudatio findet sich zuletzt auf der Inschriftentafel für den ebenfalls unter diesem ohel bestatteten Sohn Israels und Ruchma Shewas, den 1936 verstorbenen Dow Friedmann, dessen „letzter Wunsch war das keine Beschreibung von ihm geschrieben werde“, eine einzigartige Erinnerung aus jüngster Zeit der talmudischen Aufforderung: „für Fromme errichtet man keine Grabmale, denn ihre Worte […] bilden ihre Denkmäler“ (Shekalim 2; siehe hier Kapitel 2).170 Im Innenraum dieses ohel befinden sich ein Sessel sowie Schränke für Gebetbücher, und es brennen oft Kerzen, was auf regelmäßige Besuche des Rabbiners durch seine heutige Anhängerschaft deutet. Auch wurden Betende bei diesem Grabhäuschen in bereits veröffentlichten Photographien festgehalten.171 In der Gruppe 21, der „Abteilung für Fromme“, befindet sich auch das tatsächlich zeltförmige ohel des während des Ersten Weltkriegs nach Wien geflohenen und dort 1935 verstorbenen Jitzchak Meir Heshel (21-25-34). Er war der Begründer der Kopitschinitz-Dynastie (aus dem heutigen Kopytschynzi in der Ukraine) und Nachkomme des 1825 verstorbenen chassidischen Rabbiners Awraham Jehoshua Heshel, der wiederum erlesener rabbinischer Abstammung war und neben dem Baal Schem Tow in Medschybisch in der Ukraine, der Wiege des Chassidismus, bestattet ist. Man bemerke bei dieser Familie, im Vergleich zur Familie Friedmann, den gängigen Gebrauch des Familiennamens „Heshel“, vermutlich weil dies „jüdischer“ erscheint als „Friedmann“. Auf der Eingangstür des ohel, das mit Solarmodulen zur Beleuchtung des Innenraums ausgestattet ist – ein auffallend modernes Merkmal für eine so archaisierende Kulturerscheinung – hing früher eine Papieranzeige, die in vier Sprachen (Hebräisch, Jiddisch, Deutsch und Englisch) BesucherInnen bat, die Tür beim Verlassen des ohel zu schließen. Bei einem Friedhofsbesuch im Jahr 2016 fiel auf, dass der untere Teil dieser Anzeige – der Teil mit den „nichtjüdischen“ Sprachen – offensichtlich gezielt abgerissen wurde, was als aktive Behauptung des partikularistischen „jüdischen“ Charakters des Friedhofraums gedeutet werden kann. Im Innenraum befindet sich ein Tisch mit einem Photo des verstorbenen Jitzchak Meir – eine auffallend profane Verehrung des „Wunderrabbiners“, werden Photographien von Verstorbenen ja sonst als zutiefst „unjüdisch“ betrachtet und auch durch die Friedhofsordnung der Kultusgemeinde auf Grabsteinen verboten. Das Photo ist oft mit Kerzen und kwitlach umringt. Im Innenraum wird auch „Moshe [Heshel], Sohn des admor, der fromme und heilige Rabbiner, unser Lehrer und Rabbiner Jitzchak Meir“ gedacht, der am „8. Cheschwan 700 170 Zit. nach Roth: Zur Halachah des jüdischen Friedhofs II, S. 97. 171 Hanak, Werner (Hg.): Heute in Wien. Fotografien zur jüdischen Gegenwart von Harry Weber, Wien 1996, S. 158.
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[21. Oktober 1939] ermordet wurde ain-kuf-hei [al kiddush hashem, zur Heiligung von Gottes Namen] in Buchenwald“ – tatsächlich sind seine Aschenreste hier bestattet. Die Abkürzung „ain-kuf-hei“ sollte sich nach der Shoah in den Grabinschriften beim IV. Tor gewaltig vermehren; auf ihre Bedeutung wird in Kapitel 9 ausführlich eingegangen sowie auf den Umstand der Bestattung von Aschenresten aus Konzentrationslagern. In der Gruppe 16 befinden sich einige weitere ohelim eines Teils der Kopitschinitz-Dynastie, so beispielsweise das der 1933 verstorbenen „frommen rabbinischen Frau die hei [Abkürzung von hashem, „der Name“; Gott] fürchtete, Frau Gittel von Kopitschinitz, ihr gerechtes Andenken sei ein Segen, Tochter des admor, der fromme, heilige, gerühmte Rabbiner, unser Lehrer und Rabbiner, der Rabbiner Mordechai Shraga von Husjatyn“. Mordechai Shraga war einer der jüngsten Söhne Israel von Ruzhins, der in Husjatyn in der heutigen Ukraine seine Dynastie gründete; Gittel war somit Israels Enkelin. Wie in den hier in Kapitel 3 analysierten Inschriften von jüdischen Frauen aus dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit diente Gittels Inschrift hauptsächlich dazu, ihrer männlichen Verwandtschaft zu gedenken. Ihr ohel fällt allerdings zusätzlich dadurch auf, dass auch hier Pilger zum Beten herkommen, wie Gebetsbücher, Kerzen und kwitlach im Innenraum bekunden. Das hier an der Grabstätte einer Frau in der zutiefst patriarchalischen Kultur des Chassidismus auf dieselbe Weise wie bei den „Wunderrabbinern“ gebetet wird, ist aufgrund ihrer direkten Abstammung von Israel von Ruzhin zu verstehen. So wird sie auf einer Inschriftentafel im Innenraum ferner die „fromme, gerühmte rabbinische Tochter der kadoshim“ (der Heiligen) genannt. Rund um Gittels ohel befinden sich die Grabstätten ihrer Verwandten sowie von Anhängern ihrer Dynastie. Die Identifikation dieser Grabstellennummern wird dadurch erschwert, dass sie ausschließlich auf Hebräisch beschriftet sind und nur synagogale Namen nennen, während sich die Friedhofsdatenbank der Kultusgemeinde zumeist nach bürgerlichen Namen richtet. Die familiäre und topographische Vernetzung, die hier zum Ausdruck kommt, ist jedenfalls beachtenswert. So bekundet beispielsweise die lange Inschrift des 1943 verstorbenen Moshe Shalom ben Jehoshua Chaim Grüßgott, er sei rosh kahel [Gemeindehaupt] und einer der Mitbegründer des kollel [wie eine jeshiwa] der Gemeinde von Ohel Moshe und einer der größten Unternehmer in unserer Stadt [irinu], er war der Liebling seines Lehrers, der fromme gaon [Weise], unser Lehrer und Rabbiner Jehuda Ze’ew sain-gimmel-lamed [segen lewia, Priesterassistent; „segal“ ausgesprochen], sein seliges und heiliges Andenken sei ein Segen, rosh [Haupt der] jeshiwa zu Manchester.
Die „Gemeinde von Ohel Moshe“ bezieht sich auf einen Bethausverein in der Lilienbrunngasse im 2. Bezirk, der nach der Shoah neugegründet wurde und
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heute noch besteht. Neben den hochspezifischen Verweisen auf Ämter, die Moshe Shalom innehatte, ist der Verweis auf sein Unternehmertum für eine chassidische Laudatio auffällig weltlich. Bemerkenswert ist auch der Verweis auf „unsere Stadt“, ein für chassidische Inschriften ungewöhnlicher Verweis auf den Wohnort Wien, beziehen sich die topographischen Verweise doch sonst ausschließlich auf die Herkunftsländer und -städte der Chassidim im Osten Europas. Bemerkenswert ist nicht zuletzt der Verweis auf den rosh jeshiwa zu Manchester, den 1993 verstorbenen Jehuda Ze’ew Segal als seinen Lehrer, da Segal zur Zeit des Ablebens von Moshe Shalom gerade erst 33 Jahre alt war. Der Lewitentitel „segal“ ist in diesem Fall übrigens gleichzeitig auch dessen bürgerlicher Familienname. Eine weitere an das ohel der Gittel von Kopitschinitz angrenzende Grabstätte gedenkt des 1995 verstorbenen Menachem Kraus, „Sohn unseres Lehrers und Rabbiners Mordechai Arieh Halewi Kraus, seliges Andenken, shochet [koscherer Schächter] und bodek [Kontrolleur der Einhaltung der Speisegesetze beim Schächten] in der orthodoxen Gemeinde zu Budapest“. So zeigt sich, inwieweit die chassidischen ohelim nicht nur als Pilgerstätten, sondern auch als kulturtopographische Knotenpunkte innerhalb des Friedhofs fungierten, wie begehrt die Grabstellen rund herum waren und welche internationale orthodoxe Prominenz an solchen Stellen bestattet wurde. In der Gruppe 10 befinden sich vier kleine, efeubewachsene Betonhäuschen samt vergitterten Fenstern: die ohelim eines Teils der Familie Rabinowitsch aus Jampil/Jampol in der heutigen Ukraine, an der Grenze zu Moldawien, so beispielsweise das ohel des 1929 verstorbenen „gerechten Rabbiners“ Zwi Hirsch Rabinowitsch, (10-6-50) – man beachte auch hier den „jüdischen“ Familiennamen. Die Rabbiner aus Jompoli bildeten wiederum einen Teil der Skolje-Dynastie (aus dem heutigen Skole in der Ukraine), die vom Rabbiner Jitzchak Rabinowitsch aus Drohobytsch/Drohobycz in Galizien abstammten, einem der Anhänger des Baal Schem Tow: Somit stellten sie gewissermaßen eine Konkurrenz zur berühmteren Familie Friedmann dar, die am IV. Tor so prominent vertreten ist. Ein weithin beschildertes ohel beim IV. Tor gedenkt des Verwandten und 1920 verstorbenen Rabbiners Baruch Pinchas Rabinowitsch aus Skolje, Sohn des Elieser Chaim Rabinowitsch aus Jampol (4-18-70). Es handelt sich um ein kleines, weißes und mit zahlreichen Davidsternen verziertes Häuschen, verbunden mit einem Zwillingshäuschen, wo der Rabbiner Josef Engel bestattet liegt, ein wichtiger Vertreter der orthodoxen Vereinigung Agudat Israel, der während des Ersten Weltkriegs nach Wien floh und dort bereits 1919 verstarb.172 Die zwei ohelim unterscheiden sich durch das Walmdach im ersten und das Giebeldach im zweiten Fall. In einer Inschriftentafel an der Außenwand
172 Vgl. Burstyn: Die „Schiffschul“, S. 48.
Grabsteine, Sepulkralepigraphik und Symbolik im Friedhof beim IV. Tor
wird Baruch Pinchas ausgewiesen als „admor“ und als „Vorbild einer Generation“, als „Feuersäule, das reine Licht, der große Kabbalist, bet-nun-shin-kuf [Sohn der Heiligen]“ und als „maran [rabbinischer Ehrentitel] Baruch Pinchas, sein seliges und heiliges Andenken sei ein Segen in der kommenden Welt, aus Skolje, jud-tzadi-waw [bewahre seine Form und schenk ihm Leben, umschrieben aus Psalm 41,3]“. Dieses heute offensichtlich oft besuchte ohel ist somit im sprachlichen Vergleich zu den anderen hier bestatteten „Wunderrabbinern“ eigenartig. Ähnlich, mit sogar aufwendigeren Titeln und Abkürzungen, wird auf der Außenwand seines ohel Josef Engel ausgewiesen als der geniale, heilige Rabbiner, Vorbild einer Generation, reish-shin-kaf-bet-hei [Rabbiner von allen Kindern der galut (Diaspora)], kaf-kuf-shin-taw [Respekt seinem geheiligten Namen], mem-waw-hei-reish-reish [unser Lehrer und Rabbiner, der große Rabbiner] Josef Engel sain-tzadi-lamed [das Gedächtnis des Gerechten bleibt im Segen], reish-alefbet-dalet [rosh aw beit din; Haupt des rabbinischen Gerichts] dalet-kuf-kuf [in der heiligen Gemeinde] Krakau.
Eine weitere Tafel nennt ihn abgekürzt „bet-ain-hei-mem-chet-samech“ (ba’al hamachber sefer, Urheber der Schriften) und listet „neben hundertundeins Aufsätze über Offenbartes und Verstecktes“ – einen Verweis auf „offenbarte“ Texte wie die schriftliche Tora und „versteckte“ Texte wie die mündliche Tora – „sowie Kommentare des Babylonischen wie des Jerusalemer Talmud“ auch etliche Titel seiner hebräischsprachigen Traktate und Exegesen auf (wobei manche der Titel Aramäisch sind). Diese ungewöhnliche, lebenslaufartige Auflistung der Werke dieses rabbinischen Gelehrten schließt mit den ebenso auffällig spezifischen Worten: Dieser tzadik [Gerechte, im erweiterten Sinne eben auch ein großer chassidischer Rabbiner] wurde geboren im Jahre 619 der kleinen Zeitrechnung [1859] in der Stadt Tarnów [Galizien] und seine reine Seele stieg zum Himmel auf am Ersten des Monats Marcheshwan im Jahre 680 der kleinen Zeitrechnung [25. Oktober 1919].
Die Schilder rund um den Friedhof, die zu diesen ohelim führen, wurden um 2016 erneuert und enthalten jetzt mehr Informationen zur Auffindung der Standorte, was als Zeichen ihrer wachsenden Bedeutung innerhalb der zunehmend orthodoxen Gemeinschaft in Wien sowie für PilgerInnen von außerhalb gedeutet werden kann. Die Schilder nennen nun auch ein Komitee für die Erhaltung dieser tziunei tzadikim (sprichwörtlich: „Zeichen der Gerechten“). Ebenso formelhaft wie in ihren Grabinschriften werden auf diesen hebräischsprachigen Schilder die bestatteten Rabbiner vorgeführt, so beispielsweise im Verweis auf das „ohel des heiligen Rabbiners, Rabbiner Chaim Aharon, Sohn
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des heiligen Rabbiners, Rabbiner Israel aus Czortków, sein seliges Andenken sei ein Segen“, also der 1926 verstorbene Chaim Aharon Friedmann, Sohn des 1933 verstorbenen Israel von Czortków. Auch das hier im vorherigen Kapitel besprochene ohel der Rabbiner Menachem Nachum Dow von Sadigora und Lewi Jitzchak beim I. Tor (7-30-95, nicht mit dem unten besprochenen, tatsächlich verwandten Jitzchak von Bojan und seinem Sohn Menachem Nachum von Czernowitz zu verwechseln) ist zu einer offenbar wichtigen Pilgerstätte geworden, wie eine umfassende Restaurierung 2010 bekundete. Eine Tafel an der Wand im Innenraum erklärt: Ohel mem-nun-waw-chaf [Zelt, wo in achtungsvollem Frieden ruht] hei-reish-hei-kuf [der heilige Rabbiner], Rabbiner Nachum Dow von Sadigora, sain-jud-ain [sein Wert beschütze uns], renoviert im Monat Siwan 770 [Mai/Juni 2010] lamed-ain-nun [für die Erhebung der Seele] der wichtigen Frau, Tochter der Heiligen, Frau Perl, ain-hei [Friede sei mit ihr], Tochter pei-ain-chet [der Frucht des Baums des Lebens], maran admor von Pashkan [Pașcani, Rumänien] sain-jud-ain. All ihre Tage bemühte sie sich um die Förderung ihres Nachwuchses in der Wiege und um die Heiligkeit ihrer Väter, und mit Stolz tragen wir ihren edlen Namen, den Namen der rawnit [Rabbinerfrau] Perl alef-chet [eshet chajil, entlehnt aus Sprüche 31,10, meist als „tüchtige Frau“ übersetzt; siehe hier Kapitel 3] des Rabbiner Nachum Dow, sain-jud-ain. Nun-lamed-bet-ain [sie ist verstorben zu ihrem Haus der Ewigkeit] am 26. Adar Alef [der erste Monat Adar im Schaltjahr] 768 [3. März 2008].
Die Instandsetzung erfolgte also im Namen der zwei Jahre zuvor verstorbenen Perl, Tochter des „maran admor von Pashkan“, einem chassidischen Rabbiner und Oberhaupt seiner Dynastie im rumänischen Pașcani. Der Ehrentitel maran, der oben bereits erwähnt wurde, entstammt ursprünglich dem sephardischen Judentum, wurde aber in den letzten zwei Jahrhunderten vornehmlich vom Chassidismus besetzt. Bei dem hier erwähnten Rabbiner handelt es sich, nach den genannten Lebensdaten zu schließen, vermutlich um den 1956 in Tel Aviv verstorbenen Jakob David Friedmann, genannt der „admor von Pașcani“, Enkel des Rabbiners Jitzchak von Bohush (Buhuși, Rumänien), Urenkel Rabbiners Shalom Josef von Sadigora und somit Ururenkel des Israel von Ruzhin. Perl Friedmann, in deren Namen das ohel wieder instand gesetzt wurde, entstammte also direkt diesem bedeutenden Anführer der chassidischen Bewegung. Diese Tafel dient somit stellvertretend seinem Gedenken und der Lobpreisung seiner Dynastie. Perls genannter Mann war unmöglich der 1883 verstorbene und hier bestattete Menachem Nachum Dow. Hier handelt es sich also vermutlich um eine gleichnamige Person, vielleicht einem Nachkommen des hier bestatteten Rabbiners. In dieser Inschrift findet sich zuletzt eine interessante Wandlung im traditionellen Gedenken an Frauen im Chassidismus: Einerseits wird Perls Inschrift bezeichnenderweise eingesetzt, um stellvertretend ihres Vaters, Mannes
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und ihres „Nachwuchses“ zu gedenken, andererseits diente die Instandsetzung des ohel explizit ihrem Andenken. Auf alle Fälle unterstreicht die vor wenigen Jahren erfolgte Instandsetzung die nachhaltige Bedeutung dieses Rabbinerhäuschens als offensichtlich internationale Pilgerstätte: Im Innenraum steht ein Sessel, auf dem Besucher Platz nehmen können, neben dem Scheinsarkophag des älteren Rabbiners Menachem Nachum Dow, der mit Kerzen und kwitlach bedeckt ist. Die Zettelchen enthalten Bittschriften, die an den „Wunderrabbiner“ als Sprachrohr zu Gott gerichtet sind. Im Folgenden ein anonymisiertes Beispiel, das 2014 im ohel hinterlassen wurde (direkt aus dem Englischen übersetzt; hebräische und jiddische Wörter kursiv und in Klammern übersetzt): Bet-samech-dalet [besijata dishmaja, mit der Hilfe des Himmels] Ich [anonymisiert], Sohn des [anonymisiert], bitte Gott für Heilung von meiner Besorgnis, dass meine beiden bubbies [Großmütter; anonymisiert], Tochter der [anonymisiert], und [anonymisiert], Tochter der [anonymisiert], sowie [anonymisiert] Sohn der [anonymisiert] gesund sein sollen. Der moshiach [Messias] soll kommen. Ich soll geshmak haben in meinem Lernen. Ich soll eine siwug hagun [Seelenverwandte] finden und Kinder, talmidai chachamim und tzadikim [weise und gerechte Schüler]. Ich soll einen parnasa berawuach [üppigen Lebensunterhalt] haben. Bitte behüte mich vor sämtlichen Schäden, körperlich, geistlich und emotional. Ich soll nachas [Segen] bringen für meine Eltern und für Dich.
Diese Bittschrift ist in einem grammatikalisch mangelhaften Englisch geschrieben, dessen Originalton ich hier zu reproduzieren versuchte, übersät mit jiddischen und hebräischen Begriffen in lateinischen Buchstaben nach jiddischer Aussprache transkribiert. Die in hebräischem Kursivschriftzeichen gehaltene Einleitungsformel „bet-samech-dalet“ ist eine aramäisierte, in ultraorthodoxen Kreisen übliche Überschrift für Texte (sowohl in Büchern wie auf Inschriftentafeln), welche die sonst in der Orthodoxie üblichen, fast gleichbedeutende Überschrift bet-hei-shin (be’esrat hashem, mit Hilfe Gottes) ersetzt. Die Bittschrift ist direkt an Gott gerichtet, ein auffälliges, weil im Judentum ungewöhnliches Charakteristikum, wodurch deutlich zum Ausdruck kommt, inwiefern die „Wunderrabbiner“ bzw. ihre Grabstätten im Chassidismus als Verbindung zu Gottes Ohr betrachtet werden. Ansonsten sind die Belange des Bittstellers – offensichtlich ein junger, lediger Mann – durchaus gewöhnlich: Hoffnung für das Wohlbefinden seiner Nächsten und für seine private wie professionelle – in diesem Fall religiös-gelehrte – Zukunft. Ende 2019 fiel bei einem Friedhofsbesuch auf, dass das Tor zu diesem ohel inzwischen mit einem Vorhängeschloss verriegelt ist. Scheinbar sollen nur mehr Eingeweihte das ohel betreten dürfen. Ein weiteres, beim I. Tor gelegenes und oft besuchtes ohel ist jenes des 1917 verstorbenen Jitzchak von Bojan, Sohn des Awraham Jakob, des ersten Rabbi-
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ners der Sadigora Dynastie, Enkel des Israel von Ruzhin (52A-14-40A). Hier liegt auch sein 1936 verstorbener Sohn, der Rabbiner Menachem Nachum von Czernowitz bestattet. Das ohel besteht aus einem weißen Grabhäuschen, modern, aber mit klassizistischen Zügen. Der Ziergiebel birgt die Inschrift: Tzijun des gerechten und heiligen Rabbiners, reish-shin-kaf-bet-hei, mem-waw-hei [unser Lehrer, der Rabbiner] Jitzchak sain-tzadi-lamed, aus Bojan, Sohn des gerechten und heiligen Rabbiners reish-shin-kaf-bet-hei mem-waw-hei Awraham Jakob sain-tzadi-lamed mem-samech-gimmel [aus Sadigora], gestorben am 17. Adar 677 [die Jahreszahl liest sich auch als Chronogramm: „er hat geholfen“].
Diese recht formelhafte Inschrift enthält den eigenartigen, als „reish-shin-kafbet-hei“ abgekürzten Ehrentitel „Rabbiner von allen Kindern der galut“, der oben schon in Bezug auf das ohel des Josef Engel erwähnt wurde, ein Beispiel der weiteren Steigerung von rabbinischen Ehrentiteln im Sepulkraldiskurs des Chassidismus, die an die Entwicklung der Titulatur in der Frühen Neuzeit erinnert. Diese Inschrift wurde in den letzten Jahren nachgezogen, wobei der Verweis auf Jitzchaks Herkunftsort Bojan nun fälschlicherweise mit einem waw statt einem nun sofit endet, eines von vielen Beispielen der Verwechslung von ähnlich aussehenden hebräischen Buchstaben bei Inschriftenrestaurierungen am Zentralfriedhof. Die metallene Eingangstür zu diesem ohel ist mit einem Nummerncode versehen samt einer hebräischsprachigen Anleitung, wie die Tür zu öffnen ist. Diese mit der oben zitierten chassidischen Einleitungsformel bet-shin-dalet versehene Anleitung ist gerichtet „lamed-alef-chet-ben-jud [an unsere Brüder, die Kinder Israels], die gekommen sind, um auf die Knie zu fallen vor diesem Denkmal der Gerechtigkeit, sain-jud-ain-alef [seine Gerechtigkeit beschütze uns, amen]“. Es folgt eine Beschreibung des Vorgangs, mit der die Tür geöffnet wird, samt Nummerncode in hebräischen Schriftzeichen, und schließt mit den Worten: „waw-jud-reish [und so Gott will] werden sich dir die Tore der Gnade öffnen, um deine Gebete entgegen zu nehmen, und du wirst gerettet“. Ein weiteres Schild fordert auf: „Bitte leg dein kwitl im bereit gestellten Ort und halte diesen Ort sauber.“ Die Tatsache, dass einerseits die Tür mit einem Schloss abgeriegelt wird, andererseits aber der Code hierzu ausdrücklich in Hebräisch auf einer daneben hängenden Tafel genannt wird, unterstreicht den zutiefst partikularistischen Charakter diesen Ortes, da man einerseits Unbefugten den Eintritt verwehren will, andererseits aber davon ausgeht, dass nur Befugte diese Tafel entziffern können. Im Innenraum, der durch runde Seitenfenster samt Davidsternen beleuchtet wird, steht der Scheinsarkophag des Rabbiners, bedeckt mit Kerzen und Gebetzetteln. Die ausschließlich hebräischsprachige Grabinschrift des 1928 verstorbenen,
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links neben diesem ohel bestatteten Gurarij Hornstein, verweist explizit auf den „Wunderrabbiner“ nebenan (52A-14-41A): Hier ist begraben ein unschuldiger und ehrlicher Mann, furchtsam des allmächtigen Gottes [elohim merabim], ein gerechter und frommer Friedensstifter, der Fromme aus dem Priestertum, Rabbiner Gurarij, Sohn des Rabbiners Naftali Hakohen Hornstein aus Radomyschl im Lande Russland [heute Ukraine], Schwiegersohn des genialen Rabbiners, Rabbiner Lewi Jitzchak aus der Familie Horowitz, aw beit din [Vorsteher des rabbinischen Gerichts] aus der heiligen Gemeinde zu Bolechiw [Galizien], seine Seele verschied in Reinheit am 18. Adar 688 [10. März 1928; die Jahreszahl liest sich auch als Chronogramm, das das Imperativ „gedeihe!“ ausdrückt]. Und er fand seinen Frieden neben dem hervorragenden Rabbiner aus Bojan, sein seliges Andenken wird leben in der kommenden Welt, tantzaba [möge seine Seele im Bündel des Lebens gebündelt sein].
Gurarij, dessen bürgerlicher Name Josef Hornstein war, war Obmann des Vereinsbethauses der „Bojaner Chassidim“ in der Großen Schiffgasse 13 in der Leopoldstadt. Hier kommt wieder zum Ausdruck, ähnlich wie beim ohel der Gittel von Kopitschinitz, wie begehrenswert die Nähe des „Wunderrabbiners“ war, selbst am Friedhof, selbst im Tode. Auffällig ist hier zudem wieder die Nennung Gottes (als „elohim“), ein sonst im Judentum recht ehrfurchtsloser Brauch, der wiederum die tiefgreifende Sakralisierung der Grabstätte sowie überhaupt die Wandlung des Friedhofs vom Ort der Unreinheit zur geweihter Andachtsstätte im Chassidismus zur Schau stellt. Die Sepulkralkultur, die in den chassidischen ohelim zum Ausdruck kommt, zeugt von einer radikal religiösen und zutiefst partikularistischen Gemeinschaft, unterteilt in zahlreiche, wiederum geschlossene Gruppierungen, in der alle andere Lebenssphären – das Weltliche, das Wirtschaftliche und sogar zu einem gewissen Grad das Familiäre, mit Ausnahme der rabbinischen Abstammung – in den Hintergrund tritt, und bloß die Frömmigkeit, die Religiosität und die Nähe zu Gott entscheidend sind. Dies kommt deutlich in der Nennung Gottes in den chassidischen Inschriften, wenngleich umschrieben durch Bezeichnung wie hashem (der Name) oder adonai (mein Herr), zum Ausdruck. Zugleich zeugen diese Grabinschriften vom ausgeprägten Persönlichkeitskult, der sich im Chassidismus um die „Wunderrabbiner“ als mächtige Figuren in ihren jeweiligen Gemeinschaften entwickelt hat. In diesen komplett geschlossenen Gemeinschaften kommt kein einziger Hinweis auf Verbundenheit nach außen vor, nicht einmal zur Kultusgemeinde als jüdischem Dachverband, geschweige denn zur nichtjüdischen Gesellschaft. Dies sollte aber nicht als Zeichen eines harmonischen Zusammenhalts unter der orthodoxen bzw. chassidischen Bevölkerung missverstanden werden: Das religiöse Leben dieser Bevölkerung war alles andere als harmonisch, wie das ohel des 1937 verstorbenen Meir Mayer-
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sohn zeigt, des langjährigen Rabbiners der Polnischen Schul und dessen letzten Rabbiners vor der Shoah.173 Die Orthodoxie in Wien war bereits seit der Entstehung der modernen Kultusgemeinde in der Mitte des 19. Jahrhunderts in verschiedene Gruppierungen unterteilt, von denen bis in das frühe 20. Jahrhundert die einflussreichsten jeweils zu der sogenannten Polnischen Schul oder der (ursprünglich ungarischen) Schiffschul gehörten. Letztere versuchte wiederholt, aber letztlich ohne Erfolg, Mitte der 1930er-Jahre, sich von der Kultusgemeinde abzutrennen und vom austrofaschistischen Staat als offizielle Religionsgemeinschaft anerkannt zu werden. Meir Mayersohn, der 1923 ganz im Gegensatz zu solchen Abspaltungstendenzen versucht hatte, eine Einheitspartei der Orthodoxen innerhalb der Kultusgemeinde zu gründen – passend Achdut Israel (Einigkeit Israels) genannt – stellte sich entschieden gegen diese Sezessionsversuche seitens der Schiffschul, welche „zu einer Zerbröckelung der Gemeinde führen und dem orthodoxen Judentum schaden könnte“, wie es der Historiker Shlomo Spitzer zusammenfasste.174 Somit verteidigte Mayersohn nicht nur die zerbrechliche Einheit der Orthodoxen, sondern auch die der Kultusgemeinde. Die Inschriftentafel an der Außenwand seines ohel in der „Abteilung für Fromme“ gedenkt seiner entsprechend als dem „genialen großen Rabbiner, Bollwerk und großer Weiser unter den Juden“, was sicherlich als Verweis auf dieses Einigungsbestreben verstanden werden kann. Des Weiteren nennt die Inschrift ausdrücklich seinen rabbinischen Lebenslauf: „Er diente fünfzig Jahre lang als Oberrabbiner [wo, wird hier nicht spezifiziert] und in der Stadt Wien achtunddreißig Jahre lang als Rabbiner der polnischen Gemeinde und als aw [sprichwörtlich Vater; Haupt] des allgemeinen beit din [rabbinischen Gerichts]“ (21-13-30). Über den Partikularismus und die tiefen Spaltungen hinaus, die in der Zwischenkriegszeit für die Kultusgemeinde sowie insbesondere die Orthodoxie charakteristisch waren, zeugt diese Inschrift zugleich von einer fortbestehenden Intersektionalität, wenngleich bloß innerhalb der Judenheit: zwischen Mayersohns Rollen in der „polnischen Gemeinde“, in der Kultusgemeinde und in der Judenheit insgesamt, sowie von der fortbestehenden wenngleich brüchigen Einigkeit der Kultusgemeinde, die sich bis in die Shoah hinein erhielt. Überhaupt setzte sich – im Gegensatz zur hier ausführlich analysierten orthodoxen Gedenkkultur beim IV. Tor in diesen Jahren – die intersektionale Verflechtung von Zugehörigkeiten fort, die beim I. Tor das prägendste Merkmal der Sepulkralepigraphik war. Dennoch zeigte sich auch in der allgemeinen 173 Vgl. Adunka: Die Veränderungen der Wiener jüdischen Gemeinde, S. 4. 174 Spitzer, Shlomo: Das jüdische religiöse Leben in Wien in der Zwischenkriegszeit, Vortrag auf der Konferenz Jüdisches Wien vom Ende des 1. Weltkriegs bis zur Schoa, 1918–1945, Wien, November 2012, S. 8.
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Epigraphik, parallel zur chassidischen, bald eine Verschiebung in Richtung eines zunehmend innerjüdischen Diskurses. Ein paradigmatisches Beispiel ist der Grabstein des 1920 verstorbenen Kultusgemeindefunktionärs Jacob Osias Mieses, eine schwarze Marmorstele mit vergoldeter Inschrift, der Teil auf der Stele hebräischsprachig und der Teil auf dem Sockel deutschsprachig (6-2-32). Diese verkündet: [Hebräisch:] Hier ist begraben reish [Herr] Jakob Jehoshua Mieses, geboren Jawar Uri, Bürger der Stadt Przemyśl in Galizien, Nachkommen des Volkes von Jehoshua […, Deutsch:] Hier ruht ein edler, fein gebildeter Mensch, ein guter Vater, ein vorzüglicher Charakter, ein Patrizier Gelehrter, Herr Jacob Osias Mieses, Gemeinde- und Kultusrat, Präsident der Chewra-Kadischa aus Przemysl.
Die beiden Laudationes ergänzen sich größtenteils, so in der Nennung von Mieses Lebensdaten jeweils im jüdischen und gregorianischen Kalender sowie durch die Nennung sowohl seines synagogalen wie seines bürgerlichen Namens. Neuartig und in Wien recht eigenartig ist hingegen die Unterscheidung zwischen seinem synagogalen biblischen hebräischen Namen (Jakob Jehoshua) und seinem weltlichen modernen hebräischen Namen (Jawar Uri). In dieser Inschrift kommt somit nicht nur wie in Generationen zuvor eine Unterscheidung zwischen den religiösen und weltlichen Lebenssphären zum Ausdruck, sondern auch eine Differenzierung der jüdischen Religion (Judentum) und der jüdischen Ethnie (Judenheit), die sich in dieser Zeit mit der recht erfolgreichen Behauptung des Zionismus und insgesamt der starken Ethnisierung nationaler und kultureller Diskurse in Zentraleuropa zunehmend behauptete. Diese doppelte Intersektionalität (religiös/weltlich sowie religiös jüdisch/ethnisch jüdisch) zeigt sich hier auch auf der geographischen bzw. gemeinschaftlichen Ebene, mit Hinweisen auf seinen Hintergrund in „der Stadt Przemyśl in Galizien“ und der dortigen Chewra Kadisha sowie allgemein auf das „Volk Jehoshua“: Letzteres eine Anspielung sowohl auf seinen synagogalen Namen wie auf das „jüdische Volk“, die zudem zionistisch verstanden werden kann, da Jehoshua als Nachfolger von Moses die IsraelitInnen nach Kanaan, das zukünftige Land Israel, führte. Hingegen verweist die deutschsprachige Inschrift auf den Charakter des Verstorbenen, seine Gelehrtheit und seine Rollen als Gemeindefunktionär und Familienvater. Im Übrigen zeigt diese Inschrift charakteristisch, inwiefern die Abkürzung „reish“, die sich Jahrhunderte zuvor von rawi (Rabbiner) ableitete, in der Neuzeit ohne Zusatz meist bloß als weltliche männliche Ansprechform, ähnlich wie „Herr“, fungierte. Solche ausschließlich innerjüdischen Diskurse, die explizit die „Jüdischkeit“ und die Zugehörigkeit zum jüdischen „Volke“ auswiesen, wurden in der Sepulkralepigraphik beim IV. Tor zunehmend üblich. Dies ist vermutlich vor
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dem Hintergrund zu deuten, dass sich die Wiener Judenheit in dieser Ära zu einem erheblichen Grad aus MigrantInnen aus den ehemaligen Ländern der Monarchie zusammensetzte: Waren diese noch vor 1918 BinnenmigrantInnen, die sich auf das supranationale „Österreichertum“ der Monarchie berufen konnten, so waren diese nun oft faktisch oder wenigstens gefühlt aus der neuen, stark ethnisch, oft „deutsch“ bzw. „christlich“ konnotierten Gesellschaft der österreichischen Republik ausgeschlossen. Das einzige bindende Element dieser dennoch nach wie vor so vielfältigen Gemeinschaft war schließlich ihre „Jüdischkeit“, ob im positiven Sinne des Bekenntnisses oder im negativen Sinne der Ausgrenzung durch den gesellschaftlichen Antisemitismus. In der zerstrittenen und schließlich kurzlebigen Demokratie der Ersten Republik und im Gegensatz zu den Zuständen in den letzten Jahren der Habsburgermonarchie fiel es vielen Jüdinnen und Juden, vor allem eingewanderten und religiösen, schwer, sich weiterhin positiv mit Österreich zu identifizieren – mit dennoch wichtigen Ausnahmen, wie noch besprochen wird. In diesem Kontext bildete die Kultusgemeindeorganisation nach wie vor einen kräftigen Bezugspunkt für die individuelle Identifikation, was in der Sepulkralepigraphik deutlich zum Ausdruck kam, wie die folgenden Beispiele darlegen.
Grabsteine, Sepulkralepigraphik und Symbolik im Friedhof beim IV. Tor
Abb. 18 Grabstein des 1935 verstorbenen Historikers Bernhard Wachstein (3-4-9), im Hintergrund die ehemalige provisorische Zeremonienhalle, heute Werkstatt von Steinmetz Schreiber. © Autor
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Der Grabstein des für die Wiener jüdische Geschichtsschreibung bedeutenden, 1935 verstorbenen Historikers Bernhard Wachstein, des langjährigen Bibliothekars der Wiener Kultusgemeinde, ist aufgrund seiner Form und Verzierung, wenn nicht seines Materials, deutlich den alten Grabsteinen aus dem Friedhof in der Seegasse nachempfunden, dessen Erforschung Wachsteins Opus Magnum ausmachte (3-4-9). Dieser Grabstein bringt somit diese Analyse der Wiener jüdischen Sepulkralkultur auf eine sozusagen „metatextuelle“ Ebene der bewussten Selbstbezüglichkeit. Der bogenförmige, hellgraue Granitstein trägt eine in der ersten Zeile ebenfalls bogenförmige, hebräischsprachige Inschrift, zwar schlicht gehalten, aber deutlich auf die ausgiebigen Sepulkraldiskurse der Frühen Neuzeit hindeutend: [Hebräisch:] Gestorben am 11. Shwat im Jahre 695. Pei-nun [hier ist begraben] memwaw-hei Dow Beer bet-reish [Sohn des Herrn] Moshe Wachstein, Direktor der Schulen der Gemeinde Israel zu Wien [eine Umschreibung von „Israelitische Kultusgemeinde“], tantzaba. Er entdeckte die Geheimnisse vergangener Zeiten und enthüllte die Spuren verschwundener Generationen. [Deutsch:] Bernhard Wachstein, 19. Januar 1868, 15. Januar 1935.
Laut dem Tätigkeitsbericht der Kultusgemeinde des Folgejahrs fand Wachsteins Beerdigung „unter großer Beteiligung der Wiener Bevölkerung am 17. Jänner 1935 statt. Er wurde in einem von der Kultusgemeinde gewidmeten Ehrengrabe am Neuen israelitischen Friedhof bestattet.“ Bei der Trauerfeier sagte Kultusgemeindepräsident Desider Friedmann: „Ich will nur hervorheben, daß die Geschichte unserer Stadt und unserer Gemeinde mit seinem Namen verknüpft ist.“175 Seine in der Inschrift erwähnten „Entdeckungen“ und „Enthüllungen“, allen voran seine akribische Transkription und textliche Bewahrung der alten Wiener jüdischen Grabinschriften, sollten infolge des kulturellen Genozids der Shoah, der nur wenige Jahre nach seinem Tod verbrochen wurde, enorm an Bedeutung gewinnen. Der Grabstein einer weiteren Berühmtheit der Kultusgemeinde, der des 1923 verstorbenen Rabbiners Joseph Samuel Bloch, ist auffällig wegen seiner Schlichtheit sowie aufgrund der offensichtlich intersektionalen Prägung seiner Inschrift. Wurde der Mitbegründer der Österreichisch-Israelitischen Union auf Hebräisch mit der inzwischen klassischen Formel „mem-waw-hei-reish“ (unser Lehrer und Rabbiner) bezeichnet, so wurde ihm in der deutschsprachigen Inschrift hingegen bloß der Titel „Reichsratsabgeordneter“ zugewiesen (5-4-9). Somit kam auf Blochs Grabstein die aus der k.u.k. Monarchie geerbte
175 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Bericht [1936], o. S., Abschnitt „Allgemeiner Bericht“.
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Verflechtung des „Jüdischen“ mit dem „Österreichischen“ prägnant zum Ausdruck. Merkwürdig übertrieben ist wiederum die hebräischsprachige Laudatio des 1941 verstorbenen Kultusgemeindefunktionärs und Wiener Universitätsbibliothekars Salomon Frankfurter, der zudem 1934 bis 1938 Mitglied des austrofaschistischen Kulturrats war: „shemo noda bekol ha’olam“ (sein Name ist bekannt in der ganzen Welt). Obwohl mit vielen Titeln geschmückt, ist die deutschsprachige Inschrift deutlich nüchterner: „Hofrat Professor Dr. Salomon Frankfurter, Direktor der Universitätsbibliothek in Wien i.R.“ (2-3-16). Auch an diesem Beispiel zeigt sich eine Form der jüdisch-österreichischen Intersektionalität, wie wir sie bereits vom I. Tor gut kennen, die hier noch während der NS-Zeit bekundet wurde. Über den offensichtlich zunehmend innerjüdischen Diskurs der Zwischenkriegszeit hinaus zeigte sich in der Sepulkralepigraphik beim IV. Tor also dennoch die weiterhin tiefgreifende Einbettung der Wiener Judenheit in die allgemeine wienerische bzw. österreichische Gesellschaft, die in der Ersten Republik fortbestand und die sich beispielhaft in Verweisen auf individuelle Zugehörigkeit außerhalb der Kultusgemeinde bzw. der Judenheit äußerte. Ein herausragendes Beispiel ist der fast vollkommen säkulare Grabstein des 1933 verstorbenen Pädiaters Leopold Moll (3-4-6), ein Granitquader mit weißer Inschrift, dessen einziges religiöses und überhaupt „jüdisches“ Element der formelhafte und ganz unten angebrachte Ausdruck tantzaba ist. Dieser erschien inzwischen so gut wie überall in der Sepulkralepigraphik beim IV. Tor, kann somit in vielen Fällen als bloßes Einhalten der Vorschriften der neuen Friedhofsordnung gedeutet werden, die mindestens ein oder zwei hebräische Worte verordnete, und muss somit nicht in jedem Fall zwingend als Verweis auf eine besondere Verbundenheit zur „Jüdischkeit“, geschweige denn auf eine vermeintliche Religiosität der Verstorbenen verstanden werden. Die ansonsten ausschließlich deutschsprachige Inschrift gedenkt dem Universitätsprofessor Hofrat Dr. Leopold Moll, Begründer und Direktor der Reichsanstalt für Mutter- und Säuglingsfürsorge in Wien, 1877–1933. Ein grosser Arzt, Ein Wegbereiter der Fürsorge in Österreich. Sein ganzes Leben weihte er in selbstloser Arbeit der Vorbeugung und der Heilung der Krankheiten des Kindesalters. Unzählige verdanken ihm und seiner Lehre Leben und Gesundheit. Tantzaba.
Der schlichte Verweis auf „Österreich“ in dieser Inschrift ist für diese Zeit, als schon das bloße Konzept eines österreichischen Staates zutiefst umstritten war, besonders beachtenswert. Auch die klassischen Werte der Bourgeoisie – wie Arbeit, Berufung und Bildung sowie Familie – zeigten sich weiterhin in den Grabinschriften beim IV. Tor aus der Zwischenkriegszeit, so beispielsweise auf dem Grabstein des
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1927 verstorbenen Unternehmers Jacques Mayer: „Nach Mühe und Arbeit zum ewigen Frieden, ruhst du nun hier, beweint von all’ deinen Lieben“ (3-29-28). Die Inschrift der 1929 verstorbenen Ernestine Sternschein (12-24-19), die sie als „Oberstensgattin“ ausweist, erinnert eindringlich an die christliche bzw. nichtjüdische Sepulkralepigraphik im St. Marxer Friedhof. Auffällig ist in dieser Inschrift auch die Laudatio „Edel warst Du, hilfreich und gut!“, umschrieben aus Johann Wolfgang Goethes Gedicht „Das Göttliche“ (1783). Dieses Zitat, das in seiner ursprünglichen Form („Edel sei der Mensch, hilfreich und gut!“) auch mehrmals beim I. Tor aufzufinden ist (beispielsweise auf den Grabsteinen des 1904 verstorbenen Ignaz Sümegh, 51-7-3 und des 1918 verstorbenen Samuel Deutsch, 51-7-87), verweist einerseits auf die viel zitierte Beliebtheit des deutschen Dichters unter den gebildeten deutschsprachigen Judenheiten Zentral- und Osteuropas. Andererseits sticht eben dieses Zitat heraus, weil es in einer anders – und eher negativ – umschriebenen Form noch einmal während der Shoah auftauchen sollte, nämlich auf dem Grabstein des 1943 verstorbenen Adolf Nimhin (20A-1B-68), wie hier entsprechend in Kapitel 9 besprochen wird. Ein Beispiel eines Grabdenkmals, das ganz in der Tradition der künstlerischen, irreligiösen Denkmäler beim I. Tor steht, ist der Marmorstein des Ehepaars Bernhard und Gisela Winter (verstorben 1924 und 1934, 6-3-2): Die Inschrift besteht lediglich aus deren kursiv geschriebenen Namen, die somit wie Unterschriften wirken, sowie deren Lebensdaten. Nichtsdestotrotz findet sich auch hier ganz unten am Sockel die formelhafte tantzaba, wie eine zugrundeliegende Zugehörigkeit, wobei, es muss wiederholt werden, eine solche Interpretation angesichts deren Vorschreibung in der Friedhofsordnung nicht offensichtlich ist. Neben der Wiederbelebung von klassischen Geschlechterrollen in der orthodoxen Sepulkralepigraphik zu dieser Zeit zeigte sich übrigens in manchen Inschriften beim IV. Tor auch deren Verkomplizierung: So wird der 1929 verstorbene Julius Lipa in seiner Inschrift gedacht als „Ein selbstloser Mensch. Der beste Gatte und Vater“ (17-26-23), eine markante Umkehr eines Erinnerungsdiskurses, der zuvor durchgehend auf Frauen bezogen war. Auch beim IV. Tor gibt es keine offizielle sephardische Abteilung, allerdings finden sich vor allem in der Reihe 2 der Gruppe 9 auffällig viele sephardische Gräber. Die Inschrift der 1922 verstorbenen Esther Aftalion-Calmi öffnet beispielsweise mit der eindeutig sephardischen Formel „mem-tzadi-kuf “ (matzewet kadosh, heiliges Grabdenkmal) und fährt einzigartigerweise auf Spanisch fort: „Hier liegt Esther Aftalion-Calmi, [aus] Roustchok [Russe] (Bulgarien) 1854–1922. Betrauert von ihren Kindern, ihren Schwiegersöhnen und ihrer Schwiegertochter“ (9-2-6). Auch die Inschrift des 1923 verstorbenen und im daneben gelegenen Grab bestatteten Salomon Hassan birgt eine spanischsprachige Laudatio, markanterweise aber in hebräischen Buchstaben beschriftet,
Grabsteine, Sepulkralepigraphik und Symbolik im Friedhof beim IV. Tor
etwa wie das Deutsche in hebräischen Schriftzeichen, der im Währinger Friedhof aufzufinden ist: „honra a su alma“ (Ehre seiner Seele). Die Inschrift fährt auf Deutsch fort: „In diesem Ehrengrabe liegt Salomon D. Hassan, türkischer Grosshändler, Vorstand u. Armenvater der türkischen Israeliten Gemeinde in Wien, geboren in Konstantinopel am 17. März 1856, gestorben in Wien am 16. März 1923“ (9-2-7). Zuletzt fällt das neomaurische Denkmal des Ehepaars Sida und Rafael Israel „aus Sarajevo“ auf (verstorben 1917 und 1936, 3-9-3/4), da Sidas Inschrift mit der eindeutig sephardischen Formel „mem-tzadi-kuf “, die Rafaels aber mit der eher aschkenasischen Formel „pei-nun“ (hier ist begraben) beginnt. Beide schließen zudem mit der äußerst säkularen, auch in der nichtjüdischen Sepulkralkultur üblichen Formel „Friede seiner/ihrer Asche!“ Die wachsenden Spannungen, die sich infolge der Orthodoxisierung der Zwischenkriegszeit auf die Frage des „jüdischen“ Charakters des Friedhofs ausbreiteten, schlugen sich nicht zuletzt in der bildlichen Symbolik beim IV. Tor nieder. Trotz der strengen Verbote, die seit 1927 über bildliche Darstellungen verhängt wurden, weisen die Grabsteine weiterhin in den Jahren danach eine breite Vielfalt auf, inklusive vieler Darstellungen von explizit weltlichen bzw. irreligiösen Sujets, die alleine in ihrem Bestehen aufzeigen, dass das Friedhofsamt seine eigenen Verbote nicht durchsetzen konnte. Darstellungen von künstlerischen Tätigkeiten waren wie beim I. Tor beliebt, so beispielsweise die Palette samt Pinsel auf dem Grabstein des 1926 verstorbenen Malers Adolf Schwarz – er verstarb zwar im Jahr vor der Verordnung bezüglich bildlicher Symbolik, doch stammt sein Grabstein aus genau dieser Zeit (2-3-6). Ein späteres Beispiel ist die Lyra auf dem Grabstein des 1932 verstorbenen Dirigenten Salo Geiger (14-14-35). Die ästhetische Darstellung von Professionen erreichte im Grabdenkmal des 1930 verstorbenen Großindustriellen Moritz Mittelmann ein wahrlich beispielloses Ausmaß, das wie kein anderes Denkmal die inkonsequente Durchsetzung der Friedhofsordnung zur Schau stellt: Darauf ist nämlich in Gusseisen sein gesamter Fabrikkomplex, die „Säger Basaltwerke A.G.“, nachgebildet (9A-5-12). Ähnlich ist auf dem Grabstein der 1926 verstorbenen Opernsängerin Elise Frei – scheinbar das erste Ehrengrab, das seitens der Kultusgemeinde einer Frau gewidmet wurde – die Staatsoper unter einer aufgehenden Sonne in Bronze abgebildet samt der Inschrift: „Nur der Schönheit weiht ich mein Leben“ (3-4-3). Selbstverständlich finden sich beim IV. Tor auch die althergebrachten, unmissverständlich „jüdisch“ konnotierten Symbole, so am häufigsten die segnenden Kohanimhände und der Lewitenkrug, sowie die neueren bzw. aus der Antike wiederbelebten Symbole wie die menora oder der Davidstern, so beispielsweise auf den Grabsteinen des 1929 verstorbenen Jakob Kohn (17-26-7), des 1937 verstorbenen Osias Garfunkel (10A-6-35), der 1930 verstorbenen Ettie Kolb (6-2-63) und des 1918 verstorbenen Karl Strauss (3-8-2). In seltenen Fällen
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finden sich auch religiös „jüdische“ und weltliche, nicht explizit „jüdische“ Symbole auf einem und demselben Grabstein vereint, so beispielsweise die Kohanimhände nebst einer Lyra auf dem Grabstein des 1925 verstorbenen Komponisten Rudolf Braun (2-3-3). Bis Ende 1939 erstreckte sich der jüngste jüdische Friedhof Wiens über etwa 252.000 Quadratmeter, von denen aber bisher lediglich 73.000 Quadratmeter mit etwa 31.000 Grabstätten belegt waren.176 In seinem knapp 20-jährigen Bestehen zwischen den zwei Weltkriegen hatten sich in diesem Friedhof gewaltige Veränderungen in der lokalen jüdischen Sepulkralkultur vollzogen, die allem voran geprägt waren von einer einschneidenden Orthodoxisierung und einer rasch daraus wachsenden Spannung mit der parallel weiterbestehenden, eher säkularen, liberalen oder weltlichen Sepulkralkultur. Hatte sich die jüdische Sepulkralkultur in der Zwischenkriegszeit im Gegensatz zur vorherrschenden Praxis beim I. Tor demnach stark gewandelt, so zeigte sich dennoch im neuen Friedhof weiterhin die kaleidoskopische Bandbreite der Wiener Judenheit, die nach wie vor vereint in einem einzigen Bestattungsraum zum Ausdruck kam. Wie beim I. Tor lässt sich daraus schließen, dass an keinem anderen Ort diese gesamte Bandbreite der seinerzeitigen Wiener Judenheit so gebündelt erhalten und zur Schau gestellt ist. So konfliktreich die ersten zwei Jahrzehnte des Bestehens des neuen Friedhofs waren, so sollten die dort ausgetragenen Konflikte erblassen angesichts des gewaltigen Einbruchs auf die Wiener Judenheit mit dem „Anschluß“ im März 1938, der sich auch bald am Friedhof in Form von Schändungen, Massengräbern und weiteren Schikanen bemerkbar machen sollte. Bevor aber auf diese Zäsur eingegangen wird, muss der Blick noch einmal zurück auf das I. Tor gerichtet werden, welches in der Zwischenkriegszeit weiterhin, wenngleich sporadisch, belegt wurde und somit ein kontrastreiches Pendant zum IV. Tor als gemeinschaftlicher Erinnerungsort der Wiener Judenheit bildete. 6.4
Die weitere Belegung des Friedhofs beim I. Tor und die Schaffung des jüdischen Kriegerdenkmals in der Zwischenkriegszeit
Zeigt der neue Friedhof beim IV. Tor die zunehmende Abgeschlossenheit der Wiener Judenheit in der Zwischenkriegszeit auf, die in einem partikularistischen, innerjüdischen Sepulkraldiskurs ihren Ausdruck fand, so zeigten die zahlenmäßig viel selteneren Bestattungen beim I. Tor, zumeist Beisetzungen in bestehenden Familiengräbern, nach wie vor eine tiefe Intersektionalität zwischen der „Jüdischkeit“ und dem inzwischen stark gewandelten „Österreicher176 O. T., 23. November 1939, AIKGW, A/VIE/IKG/I-II/FH/1/1.
Die weitere Belegung des Friedhofs beim I. Tor
tum“ auf. Dies wird vor allem bei den zahlreichen Begräbnissen Prominenter deutlich, die in den etablierten Ehrenreihen vor der alten Zeremonienhalle und entlang der Zeremonienallee stattfanden, so in einem herausragenden Beispiel das zu Beginn des vorliegenden Werks analysierte Begräbnis Arthur Schnitzlers 1931. Warum so viele eher säkulare aber auch teils religiöse Prominente in der Zwischenkriegszeit weiterhin beim I. Tor und nicht auf dem neuen Friedhof beim IV. Tor bestattet wurden, ist nicht immer explizit belegt, doch unterstreicht es symbolisch den Charakter des älteren jüdischen Friedhofs als einen zutiefst „wienerischen“ bzw. „österreichischen“ Erinnerungsort mit einer bis in die k.u.k. Ära zurückreichende Kontinuität. Nach seinem Tod am 5. August 1918, kurz vor dem für Österreich katastrophalen Ende des Weltkriegs und dem Zusammenbruch der Monarchie, wurde der langjährige Oberrabbiner der Kultusgemeinde Moritz Güdemann in einem Ehrengrab entlang der Zeremonienallee bestattet, das bereits 1914 für seine im Alter von nur 18 Jahren verstorbenen Tochter Franziska („Franzi“) errichtet wurde (20-1-33). Es handelt sich um ein kolossales Granitdenkmal mit zwei Inschriftentafeln. In der oberen, kleineren Tafel steht der auf Hebräisch und Deutsch zitierte Satz aus Psalm 3,6: „Ich ruhe, ich schlafe, ich erwache, denn Gott ist meine Stütze“. Die Hauptinschrift stellt einen einzigartig durchmischten Fall der Zweisprachigkeit dar. Statt einer hebräischsprachigen Inschrift, gefolgt von einer deutschsprachigen, werden Satz um Satz die Inschriftenteile ineinander verschachtelt: [Deutsch:] Familie Oberrabbiner Dr. Güdemann [Hebräisch:] Hier ist begraben unsere geliebte Tochter Feigla, ihre Seele ruht in Eden, auch bekannt als [Deutsch:] Franzi Güdemann, geb. 10. Jänner 1896 [Hebräisch:] 24. Tewet 656, [Deutsch:] gest. 24. Februar 1914 [Hebräisch:] 28. Shwat 674 tantzaba. Unser Lehrer und Rabbiner [ausgeschrieben, nicht abgekürzt], der Rabbiner, aw [sprichwörtlich Vater; Haupt] des beit din [rabbinischen Gerichts], Rabbiner Moshe Güdemann, Sohn des Rabbiners Josef, seliges Andenken, der zweiundfünfzig Jahre lang Wache hielt hier in der Gemeinde Wien [po kahal Wina; Deutsch:] Dr. Moritz Güdemann, Oberrabbiner der israel. Kultusgemeinde Wien, geb. Hildesheim [Deutschland] 19. Februar 1835 [Hebräisch:] 20. Shwat 595, [Deutsch:] gest. Baden [bei Wien] 5. August 1918 [Hebräisch:] 27. Aw 678. [Deutsch:] Bona Güdemann, geb. 5. Oktober 1898 [Hebräisch:] 19. Tishrei 659, [Deutsch:] gest. 24. September 1924 [Hebräisch:] 25. Elul 684 tantzaba.
Diese einzigartige Mischung sowie der sonstige Sprachstil, der sich an die älteren, zutiefst intersektionalen Sepulkraldiskurse aus der Zeit der Monarchie anlehnt, unterstreichen hier das tiefe Ineinandergreifen von Jüdischkeit und Österreichertum (im eher plurikulturellen, zisleithanischen Sinne), das so charakteristisch für Güdemanns Generation und die von ihm religiös angeführte Kultusgemeinde war. Seine Verwurzelung wird hier nicht zuletzt unterstrichen
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durch den einfachen Hinweis: „hier in der Gemeinde Wien“. Güdemanns erste Ehefrau Fanny, die bereits 1894 verstarb, wurde anderswo in diesem Friedhof bestattet (6-28-2). Seine zweite Frau und die Mutter derer Kinder, Ida, gelang nach dem „Anschluß“ die Flucht nach New York, wo sie 1951 verstarb und bestattet wurde. Der liberale Politiker Julius Ofner, dessen eine Gasse und ein Denkmal im 2. Bezirk sowie ein Gemeindebau im 5. Bezirk gedenken, wurde 1924 beim I. Tor bestattet, unter einem schlichten, modernen Grabstein entlang der Zeremonienallee. Sein Inschrift verkündet schlicht und aussagekräftig: „Dr. Julius Ofner 1845–1924, Ein Mensch, der nichts als Mensch sein wollte. Shalom“ (52A-1-23). Das Wort shalom (Frieden) findet sich auffällig auf Grabdenkmälern von eher säkularen Menschen, so auch auf dem Grabstein Arthur Schnitzlers, und könnte somit gewissermaßen als Hinweis auf eine Art von „weltlicher Jüdischkeit“ im Gegensatz zur eher religiösen Formel tantzaba verstanden werden. Der bekannte Arzt Salomon Ehrmann wurde ebenfalls 1926 in der Grabstätte neben Julius Ofner in der Zeremonienallee bestattet, unter einer weißen Sandsteinstele, im expressionistischen Stil entworfen, aber mit einer einfachen, maurisch anmutenden Kuppel (52A-1-22A). Am oberen Ende ist eine menora, darunter eine hebräischsprachige Inschrift in Relief, darunter eine deutschsprachige Inschrift, und ganz unten ein Davidstern mit zwei sich schüttelnden Händen angebracht, ein bildlicher Verweis auf die B’nai B’rith, eine jüdische Loge. Die hebräischsprachige Inschrift nennt ihn „der vollkommen weise und ausgezeichnete Arzt“, die deutschsprachige ähnlich „M. U. Dr. Salomon Ehrmann, Hofrat O.Ö. Universitätsprofessor, Grosspraesident U.O.B.B. XII.“, Letzteres ebenfalls ein Verweis auf die B’nai B’rith, Ortsgruppe 12. 1934 wurde Salomons Frau Anna hier beigesetzt. Ebenfalls 1926 wurde der Cellist, Komponist und spätere Chordirektor der Wiener Kultusgemeinde Josef Sulzer im hier in Kapitel 5 besprochenen Grab seines Vaters, des berühmten Oberkantors Salomon Sulzer, beigesetzt, das sich ebenfalls in der Zeremonienallee befindet (5B-1-1). Seine Inschrift, betont schlicht und im Gegensatz zu der seines Vaters auffällig irreligiös, verkündet: „Dem genialen Künstler und Chordirektor Prof. Josef Sulzer, Hofmusiker, geb. 11.11.1850 gest. 14.1.1926, gewidmet vom Vorstand der Kultusgemeinde. Schmerzgefüllt betrauert seine Familie des geliebten Gatten und Vater“. Einerseits macht sich hier ein weiterer generationeller Schritt in Richtung Säkularisierung bemerkbar, indem Josef bloß im (in seinem Fall weltlichen, vor allem im Vergleich zu seinem Vater) Bereich der Musik und in Bezug auf seine Familie gedacht wird. Andererseits wurde auch diese Inschrift auf dem Ehrengrab seines Vaters von der Kultusgemeinde gestiftet und veranschaulicht somit die fortbestehende Bindung an die Gemeinschaft sowie die Ehrung von weltlichen Prominenten seitens der Gemeindeorganisation.
Die weitere Belegung des Friedhofs beim I. Tor
Eine Aktennotiz des Friedhofsamtes aus dem Jahre 1927 thematisierte einige „neu zu schaffende Grabstellen am Wiener Zentralfriedhof, israelitische Abt.“ – gemeint ist beim I. Tor – welche über alle Gräbergruppen verstreut waren, woraus ersichtlich wird, dass die Kultusgemeinde ökonomisch bemüht war, jede letzte freie Fläche auf diesem fast vollständig belegten Bestattungsraum zu nützen.177 Wenige Wochen später bekundete die Stadtverwaltung ihr Interesse, eine Straßenbahnlinie durch den jüdischen Teil des Zentralfriedhofes auf dem Hauptweg zwischen den Gruppen 20 und 51 sowie 19 und 50 anzulegen, um Fahrgäste direkt an den nichtjüdischen Teil des Friedhofs zu befördern. Dies konnte die Kultusgemeinde verhindern und legte alsdann auch entlang diesem breiten Weg eine neue „Doppelreihe von Gräbern in der Mitte der Strasse“ an. Bis heute zeigt sich diese späte Anlegung darin, dass die wenigen dort stehenden Grabdenkmäler verstreut sind und zudem jüngere Daten tragen.178 1932 wurde weiter beim I. Tor der „Hofrat Dr. Josef Löwner“ unter einem Granitquader mit einer einfachen, ausschließlich deutschsprachigen Inschrift bestattet, die seiner schlicht gedachte als: „Der erste Jude der als Richter einem Wiener Gerichtshofe angehörte“ (20-16-62). Ebenfalls 1932 wurde der Unternehmer Alois Liebermann, Vater des später bekannten Chemikers Otto Liebermann, beim I. Tor bestattet (19-57-31). Der schwarze Marmorquader trägt eine eindringlich säkulare und zugleich persönliche, poetische Inschrift: „Nicht ganz konnte der Grausame Dich den Deinen entreissen. Stets wolltest du unter uns weilen, Ein leuchtendes Vorbild uns allen“. Die Fassade des Grabsteins ist heute schwer vernarbt, vermutlich von Bombensplittern oder Gefechten am Friedhofsgelände gegen Ende des Zweiten Weltkriegs. Otto flüchtete 1939 in das Vereinigte Königreich, wo er 1974 verstarb. Wenige Tage nach dem „Anschluß“ wurde beim I. Tor der Weingroßhändler Siegmund Kauders, ehemaliger Vorsitzender des Israelitischen Tempelvereins in Simmering, bestattet (6-25-62). Der hebräischsprachige Teil der Inschrift auf der schwarzen Marmorstele mit vergoldeten Schriftzeichen ist auffallend traditionell und nennt Kauders „einen ehrlichen und treuen Mann“, samt Patronym und Sterbedatum im jüdischen Kalender. Auf Deutsch wird seiner hingegen gedacht als „Kais. Rat“, „Vizepräs. der Isr. Kultusgem. Wien“ und „Ritter des Franz-Josefsordens“, ein weiteres Beispiel der lange etablierten Intersektionalität der Wiener Judenheit, in diesem Fall sogar noch zur Zeit der Verfolgung. Auf der Marmorstele stehen auch die Namen und Daten von Siegmunds 1861 in Trencsen/Trenčín im damaligen Oberungarn (heute in der 177 Zusammenstellung, 12 April. 1927, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/1/8, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 178 Mitteilung, 31. Mai 1927, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/1/8, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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Slowakei) geborenen und 1946 im Exil in Montevideo, Uruguay, verstorbenen Frau Regine; seines 1953 ebenfalls in Montevideo verstorbenen Sohns, dem „Kommerzialrat“, „Rittmeister d.R.“ und „Censor der österr. Nationalbank“, Emmerich; seines 1957 in Wien verstorbenen Sohns Robert; und seines 1971 im oberösterreichischen Bad Goisern verstorbenen Sohns Gustav. Ob diese alle in diesem Grab beigesetzt wurden oder ihrer nur „In Memoriam“ auf diesem Stein gedacht wird, ist unklar. Vermutlich wurden sie allerdings doch hier beigesetzt, da das letzte Geschwisterteil, die 1949 in Montevideo verstorbene Tochter Elsa, hier nicht erwähnt wird. Noch im Jahre 1941, wenige Monate vor der „Arisierung“ dieses Friedhofs seitens der Stadt Wien, fand beim I. Tor die Beisetzung eines Kultusgemeindefunktionärs statt, nämlich des Amtsdirektors Emil Adler (6-19A-9A). Seine Granitstele birgt eine weiße Inschrift, der erste, sehr lange Teil hebräischsprachig, der mit Adlers eingemeißelter Unterschrift samt seinem Titel „Reg. R.“ (Regierungsrat) schließt. Die hebräischsprachige Inschrift preist Adler, „Sohn unseres Lehrers und Rabbiners, der Rabbiner Moshe Shlomo Adler aus der heiligen Gemeinde zu Porlitz [Pohořelice, Mähren]“, in hochtraditioneller Sprache: Ein geschwinder Mann in seiner Arbeit. Er liebte seine Frau, seine Söhne und seine Töchter. Er handelte im Dienst der Öffentlichkeit. Er war treu seinem Glauben in der heiligen Gemeinde zu Wien für vierzig Jahre. […] Friede sei mit dir, Ruhm und Pracht deiner Familie. Wie hast du geschuftet für das Wohl deiner Gemeinde!
Auffallend ist hier auch das Matronym: „Und der Name seiner Mutter war Riwka Baila“, eine moderne Neuerung in der religiösen, hebräischsprachigen Sepulkralepigraphik. Die deutschsprachige Inschrift ist hingegen knapp: „Reg. R. Dr. Emil Adler, Amtsdirektor u. Erster Sekretär der Kultusgemeinde Wien. 1.VI.1865 – 18.VIII.1941“. Hierunter folgt zuletzt eine weitere hebräischsprachige Inschrift: „Tzijun für die liebe Seele der Jungfrau Kreisl, Tochter des Herrn Shmuel [Emil] Adler, seligen Andenkens, die ermordet wurde ain-jud [durch die Hand des] bösen Reiches [das „Dritte Reich“] in fremder Erde tantzaba“. Das war Emils Tochter Gertrude, verheiratete Winter, die 1944 in Auschwitz umkam. Diese Inschrift ist charakteristisch für die übergreifende Entwicklung innerhalb einer Generation von den verhältnismäßig friedlichen letzten Jahren der Habsburgermonarchie durch die Erste Republik bis in die Shoah. Wie der Soziologe Oscar Jászi bereits in der Zwischenkriegszeit darlegte, zählte die k.u.k. Armee zu einer der wenigen „zentripetalen“ Kräfte, die der Monarchie Zusammenhalt verlieh.179 Das erklärt auch ihren zentralen Stellenwert in den Erinnerungsdiskursen in der Ersten Republik, die dazu dienten – 179 Jászi: The Dissolution of the Habsburg Monarchy, S. 134.
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oder dienen sollten – einen „nationalen“ Gemeinschaftssinn in der ansonsten so brüchigen Gesellschaft des neuen republikanischen und später parafaschistischen Österreich zu etablieren. Ein Eckstein dieser Erinnerungsdiskurse waren Soldatenfriedhöfe und Kriegerdenkmäler. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges hatte die Kultusgemeinde noch eine eigene Abteilung für jüdische Soldaten abgelehnt und zog es vor, ihre Gefallenen in der von der Stadt Wien im September 1914 angelegten Soldatenabteilung im allgemeinen Teil des Zentralfriedhofs (Gruppe 91) zu bestatten, ein gemeinschaftliches Begräbnis, wie es bereits 1848 bei den Märzgefallenen am Schmelzer Friedhof geschehen ist. Allerdings sollten jüdische Soldaten nur mit Zustimmung ihrer Familienangehörigen in den allgemeinen Friedhöfen bestattet werden – auch direkt an den Fronten – und unter der Voraussetzung, dass dem jüdischen Bestattungsritus gefolgt wurde und dass die Grabstätten als jüdische gekennzeichnet wurden.180 Noch während des Krieges entschloss sich aber die Kultusgemeinde, doch eine eigene Kriegsgräberabteilung in ihrem Friedhof beim I. Tor anzulegen, und zwar in der kürzlich zuvor erworbenen Gruppe 76B am südlichen Ende des Areals. Dies folgte vornehmlich den Wünschen vieler Familien, die ihre gefallenen Angehörigen in einem jüdischen Friedhof begraben wissen wollten. Es unterlagen dieser Entscheidung allerdings auch symbolische Überlegungen. Bereits 1915 begannen verschiedene jüdische Zeitungen Leserbriefe und Stellungnahmen abzudrucken, die zwar den egalitären Geist des gemeinschaftlichen Begräbnisses von k.u.k. Soldaten lobten, jedoch der Meinung waren, es sollte wenigstens ein Teil der jüdischen Gefallenen abgesondert bestattet werden, damit die Nachwelt sich nicht fragte, wieso auf den jüdischen Friedhöfen keine Soldatengräber oder Kriegerdenkmäler aufzufinden seien und somit womöglich den jüdischen Patriotismus und die jüdische Aufopferungsbereitschaft infrage stellte.181 Während und nach dem Krieg wurden entsprechend wiederholt Listen von jüdischen Gefallenen veröffentlicht, mit Bitten an die jüdische Öffentlichkeit, die Namen von gefallenen Angehörigen bekanntzugeben.182 Manche Autoren drückten wiederum Besorgnis um die Einhaltung der rituellen Reinheitsgebote und der religiösen Tradition aus. Auch die Ablehnung 180 Vgl. Lamprecht, Gerald: Erinnern an den Ersten Weltkrieg aus jüdischer Perpektive 1914–1938, in: Lamprecht, Gerald/Lappin-Eppel, Eleonore/Zettelbauer, Heidrun (Hg.): Der Erste Weltkrieg aus jüdischer Perspektive. Erwartungen, Erfahrungen, Erinnerungen, Innsbruck 2014, S. 249. 181 So beispielsweise Stern, Hermann: Ein jüdisches Kriegerdenkmal, in: Oesterreichische Wochenschrift, S. 8. Jänner 1915, S. 24–25. Diese Thematik wurde auch diskutiert in Rozenblit, Marsha: Reconstructing a National Identity. The Jews of Habsburg Austria during World War I, Oxford 2001, S. 103. 182 So z. B. in Jüdisches Kriegsgedenkblatt, Nummer 1, November 1914, Wien 1915 und in den darauf folgenden Ausgaben.
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der weit verbreiteten christlichen Symbolik in allgemeinen Soldatenfriedhöfen – das Kreuz wurde mit dem Ersten Weltkrieg in der westlichen Welt zum allgegenwärtige Grabsymbol gefallener SoldatInnen – spielte eine Rolle.183 Bis zum Jahre 1924 – es gelangten nämlich auch nach dem Krieg verstorbene Kriegsinvaliden und Veteranen hier zur Bestattung – wurden 135 Offiziere und 306 Infanteristen in der Gruppe 76B bestattet .184 Zudem wurde die Soldatenabteilung zum Schauplatz von Beisetzungen in der Zwischenkriegszeit, und zwar von den sterblichen Überresten der von fern der Wiener Heimat verstorbenen und dort bestatteten jüdischen Krieger, wie am Anfang in dieses Kapitels im Falle Hermann Grafs gezeigt. So wurde beispielsweise der am 30. November 1914 in Innsbruck verstorbene Korporal Arthur Schwarzbart „am 6.7.1924 wieder beerdigt in Wien“ (Gruppe 76B, Grabnummer unbekannt). Auch der am 17. Juni 1918 in der Assaschlucht in Italien im Alter von 29 Jahren gefallene „Leutnant d.R. Ritter des Ordens der eis. Krone III. Klasse“ Hermann Arnold wurde „in heimatlicher Erde wiederbestattet am 22. Oktober 1922“ (Gruppe 76B, Grabnummer unbekannt). Bereits 1919 fanden innerhalb der Kultusgemeinde die ersten Erwägungen für ein jüdisches Kriegerdenkmal statt.185 Aufgrund der gewaltigen politischen Umbrüche und der ökonomischen Misere der Nachkriegsjahre sollte es aber schließlich über ein Jahrzehnt dauern, bis ein jüdisches Kriegerdenkmal in der Bundeshauptstadt errichtet wurde. Dieses Denkmal in der Gruppe 76B sollte das jüdische Pendant zum allgemeinen Kriegerdenkmal der Stadt Wien in der Gruppe 91 sein, das auch erst 1925 errichtet wurde. Der Architektenwettbewerb für das jüdische Denkmal sah eine zweigleisige Planung vor: zum einen spezifisch für das Denkmal und zum zweiten für die umfassende Gestaltung der Soldatenabteilung. Es wurde auch erneut ein Rundschreiben an die Mitgliedschaft der Kultusgemeinde geschickt, um sie nach den Namen ihrer im Krieg gefallenen Angehörigen zu fragen, derer auf dem Denkmal gedacht werden sollte.186 Im Gremium saß unter anderem der einflussreiche Architekt Clemens Holzmeister, der die Feuerhalle entworfen hatte, was abermals die Verwobenheit der jüdischen mit der nichtjüdischen Wiener Gesellschaft auch in diesen Jahren veranschaulicht. Ausgewählt wurde der Entwurf des jüdischen Wiener Architekten Leopold Ponzen, der 1946 im Exil in Shanghai versterben sollte. Das Denkmal wurde schließlich am 13. Oktober 1929 während einer Feier enthüllt, an der auch Bundeskanzler Johann Schober zusammen mit verschie183 184 185 186
Vgl. z. B. Die jüdischen Opfer des Krieges, in: Jüdische Volksstimme, 20. Jänner 1915, S. 5. Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Bericht [1924], S. 49. Vgl. Lamprecht: Erinnern an den Ersten Weltkrieg, S. 254. Vgl. die Einreichungen und den Gesamtplan in CAHJP, A/W 1477.
Die weitere Belegung des Friedhofs beim I. Tor
denen Funktionären der Bundesregierung, Offizieren des Bundesheers und Geistlichen der katholischen Kirche sowie Militärdelegationen aus Ungarn, Polen und Deutschland teilnahm.187 Die staatliche Anerkennung des jüdischen Kriegsgedenkens durch führende Schichten der Republik wurde als ausschlaggebende Legitimation der Stellung der jüdischen Gemeinschaft im damaligen Staatsleben wahrgenommen, zu einer Zeit, als sich Faschismus, Militarismus und Antisemitismus in Österreich wie auch sonst in Europa breitmachten. Diese Anerkennung bei Gedenkveranstaltungen in den darauf folgenden Jahren wurde wiederholt sowohl in der jüdischen wie in der allgemeinen – zumindest in der liberalen – Presse betont.188 Zudem veranschaulichten die Delegationen aus dem Ausland die Transnationalität der Erinnerung an den vergangenen Weltkrieg. Das heute gut erhaltene Denkmal, das im Blickmittelpunkt hinter dem Soldatengräberfeld steht, besteht aus einem schlichten aber festungsartigen achteckigen Türmchen, gekrönt von einem Kranz runder Zinnen. Der Eingang besteht aus einem kleinen überdachten Portal, in dessen Decke ein Davidstern und die Worte „Die Israelitische Kultusgemeinde Wien – Ihren im Weltkriege 1914–1918 gefallenen Söhnen“ in vergoldeter Farbe eingemeißelt sind. Auf der Hinterwand im unüberdachten Innenraum hängt eine Tafel, auf der die Kriegsjahre 1914 bis 1918 im gregorianischen sowie im jüdischem Kalender (5674 bis 5679) verzeichnet sind – der Krieg endete nach Rosh Hashana, dem jüdischen Neujahr, weshalb er nach dieser Zählung über vier Jahre hinaus zählte. Die Tafel birgt zudem ein in deutscher und hebräischer Sprache gehaltenes Zitat aus Jesaja 2,4: „Nicht mehr hebt Volk gegen Volk das Schwert und nicht mehr lernen sie Krieg“ (dies eine allgemeine Übersetzung ins Deutsch – während das Hebräische auf der Tafelfläche nämlich hervorgehoben steht, ist das Deutsche am Rande heute fast unleserlich geworden). Diese auffallend pazifistische Botschaft stellte dem Historiker Gerald Lamprecht zufolge „im Gegensatz zu den bis dahin errichteten jüdischen Heldendenkmälern“ in Österreich ein „Novum“ dar.189 Auf anderen jüdischen Kriegerdenkmälern, so auch im modernen Israel sowie auf dem im Jahre 2000 errichteten Denkmal für die Israelischen Verteidigungsstreitkräfte beim IV. Tor, das hier in Kapitel 9 diskutiert wird, ist tatsächlich ein eher glorreiches Zitat aus 2. Samuel 1,23 üblicher: „schneller waren sie als die Adler und stärker als die Löwen“. Im Innenraum des Kriegerdenkmals stehen unter freiem Himmel sieben Tafeln mit den alphabetisch aufgezeichneten Namen aller der 1.055 in diesem 187 Senekowitsch, Martin: „Ich hatt’ einen Kameraden“. Gedenkfeier für die im Ersten Weltkrieg gefallenen und im Holocaust getöteten jüdischen Soldaten Wiens, in: Österreichisches Schwarzes Kreuz – Kriegsgräberfürsorge 123/2 (2006), S. 17. 188 Vgl. Corbett: Mobilising Jewish Memory of the First World War. 189 Lamprecht: Erinnern an den Ersten Weltkrieg, 255.
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Friedhof begrabenen Soldaten, also nicht nur jener in der Gruppe 76B. Sie wurden laut einem Tätigkeitsbericht der Kultusgemeinde „ohne Unterschied der Charge und des Ranges“ genannt; in Wirklichkeit sind sie aber unterteilt in „Offiziere“ (zwei Tafeln) und „Mannschaft“ (fünf Tafeln). Das Kriegerdenkmal war nicht nur zur „Ehrung aller in Wien beerdigten jüdischen Opfer treuer Pflichterfüllung“ gedacht, sondern auch explizit für jene, „die in Wien ihren Wohnsitz hatten und nach dem Heldentode in fremder Erde die letzte Ruhestätte fanden“.190 Für letztere wurden in der Zeremonienhalle beim I. Tor Gedenktafeln mit deren Namen errichtet, die allerdings seit der Schändung der Zeremonienhalle in den Novemberpogromen verschollen sind.191 Wie Lamprecht darlegte, weist das jüdische Denkmalensemble eine tiefgreifende erinnerungsdiskursive Parallelität auf zwischen (österreichischer) „Vaterlandsliebe“ und „Treue zum Judentum“, eine beachtenswerte Kontinuität in der Ersten Republik mit dem dominanten Identifikationsschema der k.u.k. Ära.192 Um die Diskussion im vorhergehenden Kapitel über „jüdische“ Architektur wieder aufzugreifen, soll auf die Historikerin Marsha Rozenblit verwiesen werden, die behauptete, das Denkmal würde „den antiken israelitischen Tempel in Jerusalem evozieren“. Dies trifft ästhetisch keineswegs zu, zumal die Gestaltung des Tempels auf keiner Weise überliefert ist. Zudem sollten laut Rozenblit die runden Zinnen „jüdische“ Grabsteine und zugleich die mosaischen Gesetzestafeln darstellen – eine Behauptung, die offensichtlich bloß auf einer optischen Assoziation Rozenblits beruht. Die symbolische Sprache dieses Denkmals, so schloss sie aus diesen Beobachtungen, sei „eine jüdische, einem jüdischen Trauerort angemessen“.193 Dabei könnte dieser runde Zinnenkranz genauso, ohne solche weit hergeholte Inferenzen, als Anspielung auf mittelalterliche europäische Festungsbauten verstanden werden, die nachweislich als Vorbild in der Gestaltung vieler Kriegerdenkmäler in Europa der Zwischenkriegszeit dienten. So folgerte beispielsweise der Historiker Jan Schubert in einem Artikel zu diesem Kriegerdenkmal (trotz einer ersten, verblüffenden und sich später widersprechenden Behauptung, das Denkmal knüpfe „an den orientalen Trend in der jüdischen Architektur“ in den 1920er-Jahren an), dass es sich eigentlich an antiken europäischen Festungen orientierte, „z. B. die römischen oder die ostgotischen“, eine Behauptung, die Schubert mit Zeichnungen von antiken Festungen belegte, die tatsächlich dem jüdischen Kriegerdenkmal sehr ähnlich 190 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Bericht [1928], S. 10. 191 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Bericht [1932], S. 57. Vgl. Senekowitsch, Martin: Ein Ungewöhnliches Kriegerdenkmal. Das jüdische Heldendenkmal am Wiener Zentralfriedhof, Wien 1994, o. S. 192 Lamprecht: Erinnern an den Ersten Weltkrieg, S. 245. 193 Rozenblit: Reconstructing a National Identity, S. 104–105.
Die weitere Belegung des Friedhofs beim I. Tor
erscheinen.194 In einem 2010 verfassten Beitrag zu jüdischen Friedhöfen in Österreich drückte das Bundesdenkmalamt auch die Auffassung auf, die „expressionistische Gestaltung“ des Denkmals weise eine „formale Anlehnung an das Krematorium von Clemens Holzmeister“ auf, der, wie oben geschildert, sich auch auf Festungsbauten bezogen hatte und dessen bis heute erhaltene Geländemauer mit einen Kranz mit abwechselnd zackigen und runden Zinnen geschmückt ist.195 Von irgendeiner sowieso nicht näher erläuterten „jüdischen“ Architekturgattung kann hier also keine Rede sein. Stand das jüdische Kriegerdenkmal anfangs noch unter der Obhut der Kultusgemeinde, so übernahm in den frühen 1930er-Jahren der Bund jüdischer Frontsoldaten (BjF) die Verantwortung hierfür, wie insgesamt für die Betreuung von jüdischen Soldatengräbern und das jüdische Gedenken an den Krieg. Der BjF wurde 1932 als Abwehrverband in Reaktion auf den auch in Österreich weitverbreiteten Nationalsozialismus gegründet.196 In §2 seiner Statuten wurden die „Zwecke des Bundes“ wie folgt aufgezählt: „Pflege traditioneller Kameradschaft unter den jüdischen Frontsoldaten, sowie sonstigen jüdischen Kriegsteilnehmern, weiters mit nichtjüdischen Frontsoldaten, sonstigen Kriegsteilnehmern und deren Verbänden“ sowie „Schutz und Wahrung der Ehre und des Ansehens der in Österreich wohnhaften Juden“ und „ständige Fürsorge für Gräber jüdischer Frontsoldaten“.197 Der BjF wurde als unparteiische Organisation gegründet, doch führten die legitimistischen Anschauungen ihres ersten Präsidenten, General Emil Sommer, bereits 1934 zu einer Spaltung, wonach Sommer eine Splitterorganisation, die Legitimistischen jüdischen Frontkämpfer, gründete.198 Laut Albert Lichtblau war die Verehrung des ehemaligen Kaiserhauses nach dem Ersten Weltkrieg unter der österreichischen Judenheit massiv zurückgegangen, und nur mehr die wenigsten Jüdinnen und Juden waren wie Sommer monarchistisch ausgerichtet.199 194 Schubert, Jan: Das jüdische Kriegerdenkmal und die Kriegsgräberanlage der jüdischen k.k. Soldaten auf dem Wiener Zentralfriedhof, in: David. Jüdische Kulturzeitschrift 101 (Juli 2014). 195 Bundesdenkmalamt: Anhang, in: Lamprecht, Gerald (Hg.): Jüdische Friedhöfe in Österreich. Aspekte der Erhaltung. Dokumentation einer Expertenkonferenz, Graz 2010, S. 123. 196 Pauley: Der Weg in den Nationalsozialismus, S. 74. Vgl. zum BjF Friedmann, Sigmund: Drei Jahre Bund jüdischer Frontsoldaten Österreichs, Wien 1935 und Senekowitsch, Martin: Gleichberechtigte in einer großen Armee: Zur Geschichte des Bundes jüdischer Frontsoldaten Österreichs 1932–38, Wien 1994. 197 Statuten des Bundes jüdischer Frontsoldaten Österreichs, o. D., digitale Kopie freundlicherweise vom Österreichischen Schwarzen Kreuz bereitgestellt. 198 Lamprecht, Gerald: Erinnerung an den Krieg. Der Bund jüdischer Frontsoldaten Österreichs 1932 bis 1938, in: Patka, Marcus (Hg.): Weltuntergang. Jüdisches Leben und Sterben im Ersten Weltkrieg, Wien 2014, S. 202–203. 199 Lichtblau (Hg.): Als hätten wir dazugehört, S. 20, 22.
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Emil Sommer folgte Hauptmann Sigmund Friedmann als Präsident, der dem BjF bis zu seiner Auflösung nach dem „Anschluß“ vorstand. Friedmann unterstrich 1935 in einer Publikation zur Entstehung des BjF den jüdischen Patriotismus und das „Österreichertum“ der jüdischen BürgerInnen, was über den Zerfall der Monarchie hinaus reichte: „Der Bund stellte sich sofort positiv zum Vaterlande ein. Seine Mitglieder haben mit Stolz die im Kriege erworbenen Dekorationen schon zu einer Zeit öffentlich getragen, als die Majorität der Bevölkerung sich noch nicht als Oesterreicher fühlte.“200 Somit kontrastierte er pointiert die Ablehnung der neuen Republik und des neuen Österreich seitens breiter Teile der nichtjüdischen Bevölkerung mit dem anhaltenden jüdischen Patriotismus. Gleichzeitig unterstützte der BjF jedoch die jüdische Ansiedlung in Palästina und unterhielt ein transnationales Netzwerk mit jüdischen Veteranenverbänden sowohl im Osten wie im Westen Europas und sogar bis in die USA, also unter ehemaligen Alliierten wie Feinden. Dies veranschaulicht ein paralleles Zugehörigkeitsgefühl seitens vieler jüdischer ÖsterreicherInnen bereits zur Zwischenkriegszeit, nämlich Loyalität gegenüber dem Staat Österreich wie zugleich gegenüber dem jüdischen „Volk“.201 Stellten mehrschichtige Zugehörigkeitsgefühle gewissermaßen ein Überbleibsel der plurikulturellen Monarchie dar, so zeigt sich hier gleichzeitig eine Verschränkung in diesen Jahre auf einer einfachen Dichotomie zwischen dem „Jüdischen“ und dem „Österreichischen“, wodurch die Gefahr bestand, diese als antithetische Kategorien aufzufassen, besonders dann, wenn das „Österreichische“ dem „Nichtjüdischen“ gleichgesetzt wurde. In der Zweiten Republik gab und gibt es eine durchaus ähnliche, wenn abermals gewandelte Dynamik, wie hier in den letzten zwei Kapiteln aufgezeigt wird. Der BjF verbündete sich nach dem Staatsstreich von Engelbert Dollfuß 1933 schnell mit dessen austrofaschistischem Regime, feierte, wie der Historiker George Berkley es formulierte, das Ende der österreichischen „Pseudodemokratie“ und trat trotz dessen impliziten Antisemitismus der Vaterländischen Front, der Einheitspartei der Diktatur, bei.202 In seinem bahnbrechenden Werk zum österreichischen Nationalsozialismus zeigte Bruce Pauley, dass der Faschismus – sowohl der Austrofaschismus wie der Nationalsozialismus – besonders unter der „Frontgeneration“ Widerhall fand, eine Generation, die entweder im Ersten Weltkrieg gekämpft hatte oder währenddessen aufgewachsen war, und die „Demokratie mit militärischer Niederlage“ genauso verband wie den „Parlamentarismus mit vereiteltem ideologischem Konflikt“.203 Es stellt sich 200 201 202 203
Friedmann: Drei Jahre Bund jüdischer Frontsoldaten Österreichs, S. 17. Vgl. Friedmann: Drei Jahre Bund jüdischer Frontsoldaten Österreichs, S. 4, 10–16. Berkley: Vienna and its Jews, S. 219. Pauley: Der Weg in den Nationalsozialismus, S. 94.
Die weitere Belegung des Friedhofs beim I. Tor
die Frage, wieso das die geschätzten 30.000 jüdisch-österreichischen Veteranen, von denen die meisten in Wien lebten, die auch einen Krieg verloren hatten und wie alle anderen auch mit den Folgen dessen in der neuen, von vielen als lebensunfähig erachteten Republik zu kämpfen hatten, anders hätten empfinden sollen.204 Gerade Organisationen wie der BjF waren ausgeprägt konservativ und militaristisch, zum Teil legitimistisch und auf alle Fälle zutiefst patriotisch: Ihre Ansichten deckten sich somit weitestgehend mit denen der austrofaschistischen Bewegung, schieden sich wohl nur in der Frage, ob der Katholizismus ein zwingender Aspekt des „Österreichertums“ darstellte. Bis 1935 zählte der BjF über 20.000 Mitglieder, etwa zehn Prozent der jüdischen Bevölkerung Österreichs, was ihn neben der Wiener Kultusgemeinde zum zweitgrößten jüdischen Dachverband des Landes machte.205 Der BjF nützte das Gedenken an den Weltkrieg, um demonstrativ die Loyalität der Judenheit gegenüber dem Staat unter Beweis zu stellen, und ließ schrittweise das Denkmal am Zentralfriedhof entsprechend ausbauen. Am 18. Juni 1933 veranstaltete der BjF seine erste Gedenkveranstaltung in der Gruppe 76B, an der 10.000 Menschen teilnahmen, darunter 2.000 Mitglieder des BjF, zahlreiche österreichische Militär- und Regierungsfunktionäre sowie Delegationen aus dem Vereinigten Königreich, Ungarn und Bulgarien – nach der NS-Machtübernahme hatte Deutschland dieses Mal keine Delegation entsendet. Auch der Unterrichtsminister und „Reichsführer“ der Ostmärkischen Sturmscharen – man beachte das NS-ähnliche Diktum – und spätere „Kanzler“ der Diktatur, Kurt Schuschnigg, ließ eine Rede verkünden. Pointiert deklamierte der Kultusgemeindepräsident Desider Friedmann bei dieser Veranstaltung: „Gleichberechtigung im Sterben, aber auch Gleichberechtigung im Leben!“206 Die Rabbiner Israel Taglicht (der 1943 im Exil im Vereinigten Königreich versterben sollte) und Arnold Frankfurter (ein ehemaliger Feldrabbiner, der im Weltkrieg gedient hatte und 1942 in Buchenwald umkommen sollte) setzten im Vergleich zu den säkularen Anführern des BjF und der Kultusgemeinde die „Jüdischkeit“ der Gefallenen an erste Stelle, verglichen sie mit den jüdischen (eigentlich besser gesagt israelitischen) Kriegern der Antike und stellten ihre militärische Pflichterfüllung dar als „Gebot ihrer Religion“ und als „Blutzeugen jüdischer Pflichttreue“.207 Offenkundig diente das Kriegsgedenken 204 Siehe zu dieser Statistik Spera, Danielle: Mutig hinaus für Kaiser und Vaterland, in: Patka, Marcus (Hg.): Weltuntergang. Jüdisches Leben und Sterben im Ersten Weltkrieg, Wien 2014, S. 9. 205 Senekowitsch: Gleichberechtigte in einer großen Armee, S. 8. 206 Friedmann: Drei Jahre Bund jüdischer Frontsoldaten Österreichs, S. 43. Hervorhebung im Original. 207 Zit. nach Heldengedenkfeier des Bundes jüdischer Frontsoldaten. Kundgebung für Gleichberechtigung und Frieden, in: Neue Freie Presse, 19. Juni 1933, S. 4.
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nunmehr hauptsächlich der Legitimation der jüdischen Zugehörigkeit zum österreichischen Staatswesen, was aber auf genau dessen Zerbrechlichkeit in dieser Zeit hinweist. Bei der Gedenkfeier im September 1934 verkündete der Kultusgemeindepräsident Desider Friedmann: „In unzähligen Massengräbern liegen die toten Helden ohne Unterschied der Religion und der Nationalität im Tode vereint als stumme Zeugen eines gemeinsamen Kampfes für ein gemeinsames Vaterland“, und charakterisierte die Aufopferung jüdischer Soldaten als „stärksten Beweis für jüdische Vaterlandstreue“.208 Friedmann selbst sollte zehn Jahre später in einem Massengrab enden – im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Über die Jahre vor dem „Anschluß“ widmete der BjF dutzende Denkmäler auf Grabstätten, die noch keine enthielten.209 Diese bestehen alle aus uniformen, schlichten, bogenförmigen Steinen mit einfachen Inschriften. Zudem stiftete der BjF zusammen mit der Kultusgemeinde 1934 zwei Gedenksteine am Hauptweg vor dem Denkmal, die ebenfalls von Leopold Ponzen entworfen wurden.210 Der eine enthält die Inschrift: „Den hier ruhenden juedischen Helden des Weltkrieges 1914/18 widmete Grabsteine zum ehrenden Gedenken der Bund juedischer Frontsoldaten Oesterreichs 1934“, und darunter die ausschließlich in hebräischer Sprache gehaltenen Zitate: „Ich kann töten und lebendig machen, ich kann schlagen und kann heilen. 5. Moses 32,39. Siehe, ich will eure Gräber auftun, mein Volk. Ezechiel 37,12. So sollen diese Steine den Kindern Israels ein ewiges Gedächtnis sein. Josua 4,7.“ Der andere Stein bekundet: „Allen in fremder Erde ruhenden juedischen Helden des Weltkrieges 1914/18 zum ehrenden Gedenken gewidmet der Bund juedischer Frontsoldaten Oesterreichs 1934“, und enthält die ebenfalls ausschließlich hebräischsprachigen Zitate: „Und sie gehörten auch zu den Helden, den Helfern im Kampf. 1. Chronik 12,1. Wie sind die Helden gefallen im Streit. 2. Samuel 1,25. Geliebt und einander zugetan, im Leben und im Tod nicht geschieden; schneller waren sie als die Adler und stärker als die Löwen. 2. Samuel 1,23.“ Letzteres, wie erwähnt, findet sich heute häufig auf jüdischen bzw. israelischen Kriegerdenkmälern. Diese Gedenksteine spiegeln inhaltlich wie sprachlich weitgehend das früher errichtete Denkmal, vor dem sie stehen, setzen allerdings gleichzeitig, im Gegensatz zur pazifistischen Botschaft, die im Denkmal selbst durch das Zitat aus Jesaja 2,4 zum Ausdruck kommt, einen deutlich kriegerischeren Ton an. Auch den in Wien verstorbenen russischen jüdischen Kriegsgefangenen 208 Heldengedenkfeier der jüdischen Frontsoldaten, in: Wiener Zeitung, 17. September 1934, S. 2. 209 Vgl. Senekowitsch: Gleichberechtigte in einer großen Armee, S. 15–16. 210 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Bericht [1936], o. S., Abschnitt „Friedhofs- und Beerdigungswesen“.
Die weitere Belegung des Friedhofs beim I. Tor
widmete die Kultusgemeinde in diesen Jahren „würdige Denksteine“, ein Zeichen nicht nur der Transnationalität des Kriegsgedenkens, sondern auch des Sinnes einer gemeinsamen „Jüdischkeit“, der sich in der Zwischenkriegszeit mit dem Erstarken sowohl des international ausbreitenden Antisemitismus wie des Zionismus bemerkbar machte.211 Der bereits 1932, also im Gründungsjahr des BjF verstorbene Oberst Moritz Edler von Friedmann, der Vater des Präsidenten Sigmund Friedmann, erhielt posthum 1935 eine Ehrenmitgliedschaft.212 Sein Grabstein beim IV. Tor, ein dunkler Granitquader mit vergoldeter Inschrift, das ihn als „Ehrenmitglied des Bundes jüdischer Frontsoldaten Oesterreichs“ ausweist, birgt auch das Wappen des BjF – ein weiteres Beispiel einer „profanen“ Gräberverzierung, die laut der neuen Friedhofsordnung eigentlich hätte verboten sein sollen (15-329). Mancherorts finden sich auch beim IV. Tor „In Memoriam“-Inschriften für im Ersten Weltkrieg gefallene Krieger, so beispielsweise in der Inschrift des Ehepaars Helene und Samuel Eduard Michelstädter (verstorben 1927 und 1932), die verkündet: „In Memoriam Arthur Michelstädter, geb. 13.4.1889, Leutnant i.d. Res. Inf. Reg. No. 12, gefallen 8. Nov. 1914, Angriff auf Kosja Stena in Serbien“ (3-29-27). Solche „In Memoriam“-Inschriften sollten sich exponentiell nach der Shoah ausbreiten. Juden dienten 150 Jahre lang – von den Josephinischen Reformen bis zum „Anschluß“ – in den österreichischen Streitkräften, erst in der Monarchie und später in der Republik. Nach dem „Anschluß“ wurden „Nichtarier“ sofort aus den nun der deutschen Wehrmacht einverleibten Streitkräften entlassen. Es wird erzählt, dass während des „Anschluß“-Pogroms im März 1938 General Emil Sommer, ehemaliger Präsident des BjF, das im Oktober 1938 liquidiert wurde, von der SA die „Erlaubnis“ erhielt, vor seinem Antritt zu einer demütigenden „Reibpartei“ – die antisemitischen Aktionen, bei denen Jüdinnen und Juden gezwungen wurden, unter Fausthieben und Gejohle die Straßen Wiens zu putzen – sich erst seine Generalsuniform anzuziehen.213 Ob sie wahr ist oder nicht, veranschaulicht diese Geschichte den Patriotismus vieler jüdischer ÖsterreicherInnen, allen voran jüdischer Veteranen, selbst nach dem „Anschluß“ an NS-Deutschland. Dass jüdischen Veteranen im November 1938 verboten wurde, ihre Uniformen zu tragen, und dass sie im September 1941 aufgefordert wurden, ihre im Ersten Weltkrieg gewonnenen Orden abzugeben, unterstreicht 211 Bericht [1932], S. 57. 212 Vgl. den Anhang Biografien, in: Patka (Hg.): Weltuntergang, S. 220. 213 Vgl. den Anhang Biografien, in: Patka (Hg.): Weltuntergang, S. 225. Sommer hat selbst diese Legende scheinbar dementiert. Vgl. Schmidl, Erwin: Das Erbe einer übernationalen Armee im Zeitalter des Nationalismus. Das Bundesheer und seine jüdischen Soldaten, in: EnderleBurcel, Gertrude/Remoting-Zatloukal, Ilse (Hg.): Antisemitismus in Österreich 1933–1938, Wien 2018, S. 645.
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den symbolischen Wert ebendieser Errungenschaften sowie die kalkulierte Strategie der NationalsozialistInnen, die gefühlte wie die faktische Zugehörigkeit der jüdischen BürgerInnen in Deutschland und Österreich zu brechen.214 Trotz ihrer vorerst „privilegierten“ Stellung fielen schließlich auch hochdekorierte Veteranen der Shoah zum Opfer. Andererseits kämpften geschätzte 10.000 österreichische Jüdinnen und Juden in den alliierten Streitkräften gegen das „Dritte Reich“.215 Zahlreiche ehemalige österreichische Soldaten sollten schließlich auch der Hagana und ihrer Nachfolgeorganisation, den Israelischen Verteidigungsstreitkräften, beitreten, inklusive Sigmund Friedmann, der vormalige Präsident des BjF, der fortan unter einem neuen, hebräischen Namen auftrat: Eitan Avisar. Man könnte augenzwinkernd sagen, er hat sich in den jüdischen Staat „assimiliert“. Jedenfalls zeigt sich hier eine direkte historische Kontinuität von der alten k.u.k. Armee in die modernen israelischen Streitkräfte.216 Emil Sommer überlebte das Konzentrationslager Theresienstadt und verstarb 1947 in Massachusetts in den USA. Seine Leiche wurde nach Wien überführt und im Familiengrab beim I. Tor bestattet (20-24-214). Diese gewaltige Umwälzung innerhalb einer Generation der österreichischen Judenheit kommt eindringlich im Denkmal des „Herr[n] Leutnant i.d.R. Fritz Naschitz“ in der Soldatenabteilung beim I. Tor zum Ausdruck, der 1918 „im blühenden Alter von 23 Jahren dem Weltkriege zum Opfer ward“ (76B-111). Auf dieser klassizistischen Granitstele wurde nach der Shoah der Zusatz angebracht: „In Memoriam Markus und Cäcilie Naschitz welche am 10.12.1941 dem Terror zum Opfer fielen“. Nicht nur die in der Shoah ermordeten Eltern wurden „In Memoriam“ genannt, auch „Hugo Naschic [sic, vielleicht handelt es sich hier um eine frühere Form oder spätere Abwandlung des Namens], Ob. Ltn. 1914–1918, gest. 1978“, vermutlich ein überlebender Angehöriger, der sonst wo bestattet wurde, wird hier erwähnt. Zuletzt fällt der (vermutlich erst nach der Shoah errichtete) Grabstein des 1941 verstorbenen „Generalstabsarzt Dr. Ignaz Kauder, Ritter des Ordens der Eisernen Krone und des Franz-Josef-Orden etc. etc.“, eine Granitstele mit vergoldeter Inschrift, auf: In den Verweisen auf Kaiser und Kaisertitel („etc. etc.“) kam hier immer noch, über den Abgrund zweier Weltkriege und der Shoah hinaus, das Alt-Österreichertum der Wiener Judenheit aus der Kaiserzeit zum Ausdruck (76B-1-3).
214 Vgl. Rachler, Paul: Lebenswege österreichischer jüdischer Soldaten vom Ersten Weltkrieg bis zur Gründung Israels, in: Patka (Hg.): Weltuntergang, S. 215. 215 Schmidl, Erwin: Juden in der k. (u.) k. Armee 1788–1918. Jews in the Habsburg Armed Forces 1788–1918, Eisenstadt 1989, S. 91. 216 Vgl. Schmidl: Jüdische Soldaten in der k.u.k. Armee, S. 51 sowie Schmidl, Erwin: Jews in the Austro-Hungarian Armed Forces, 1867–1918, in: Studies in Contemporary Jewry 3 (1987), S. 142.
Schlussbemerkungen
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Schlussbemerkungen
Im Jahre 1922 veröffentlichte der progressive, für die Verhältnisse seiner Zeit jedoch kontroverse Schriftsteller und Herausgeber der Neuen Freie Presse, Hugo Bettauer, seine inzwischen berühmte Satire Die Stadt ohne Juden.217 Hierin beschrieb er ein fiktionalisiertes Wien, dessen nichtjüdische Mehrheit sich in einem Anfall von antisemitischer Hysterie entschlossen hatte, als umfassende Lösung aller wirtschaftlichen, sozialen und politischen Probleme der Zeit alle in der Stadt ansässigen Jüdinnen und Juden mit Zügen außerhalb der Landesgrenzen zu deportieren. In Bettauers Roman erfuhr die Stadt in der Folge einen wirtschaftlichen und kulturellen Zusammenbruch, da sich herausstellte, dass die jüdische Bevölkerung nicht nur die tatsächliche Wirtschaftsmacht, sondern auch das wesentliche kulturschaffende Element der Hauptstadt gewesen war – eine in der Historiographie oft nicht reflektierte Übernahme philosemitischer Klischees durch Bettauer. Der Roman schließt mit der Erleuchtung der nichtjüdischen Gesellschaft, es sei mit „den Juden“ früher alles besser gewesen, die in der Folge unter feierlichem Jubel in die Stadt zurückgeholt werden. Wird Bettauers Erzählung heute oft als Art Vorwarnung verstanden, und war sie zweifellos vom durchaus realen politischen Antisemitismus ihrer Zeit inspiriert, hätte Bettauer nicht ahnen können, dass dieser in seiner Fiktion noch völlig unrealistisch klingende Plan der umfassenden Deportation der jüdischen Bevölkerung sechzehn Jahre später nicht nur umgesetzt werden, sondern noch viel radikaler enden sollte: mit der Ermordung von geschätzten sechs Millionen als „Jüdinnen“ und „Juden“ verfolgten Menschen im vom „Dritten Reich“ besetzten Europa sowie der weitgehenden Zerstörung einer jahrtausendalten jüdischen Kultur auf dem europäischen Kontinent. Selbst danach sollte die Rückkehr einiger Überlebender nicht einmal mit Scham, geschweige denn Jubel, seitens der nichtjüdischen österreichischen Gesellschaft begleitet werden, sondern mit einer weitgehend gehässigen Abneigung, die lange Zeit die Aussicht auf eine Erneuerung jüdischen Lebens in Wien hoffnungslos erscheinen lassen sollte. War sein Werk als Satire gemeint, so sollten die Folgen für Bettauer persönlich alles andere als witzig sein: Am 10. März 1925 drang ein überzeugter österreichischer Nationalsozialist, Otto Rothstock, in das Redaktionsbüro der Neuen Freien Presse in der Langen Gasse in der Josefstadt, dem 8. Bezirk, ein und erschoss Bettauer. Bei seiner Gerichtsverhandlung behauptete Rothstock, er hätte aus irrsinniger Wut gegen den „schmierenden Saujud“ gehandelt. Fest steht, dass Rothstock schon vor dem Attentat der NSDAP angehörte und in
217 Bettauer, Hugo: Die Stadt Ohne Juden. Ein Roman von Übermorgen, Wien 1922.
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Demokratie und zerstrittene Vielfalt
den Jahren danach vom NS-Staat als Held gefeiert wurde. Den Mord büßte er schließlich nur mit einem kurzen Aufenthalt in einer psychiatrischen Anstalt.218 Die Tatsache, dass der international geprägte, kosmopolitische Doppelstaatsbürger Hugo Bettauer – er lebte einige Jahre lang in den USA, wo er die amerikanische Staatsbürgerschaft erwarb, und dann jahrelang in Deutschland – bereits 1890 im Alter von 18 Jahren zum evangelischen Glauben konvertierte und somit in keinem Sinn außer im „rassischen“ (sprich: rassistischen) als „Jude“ bezeichnet werden kann, wird heute oft genauso in der Geschichtsschreibung vergessen, wie es von damaligen AntisemitInnen wie Rothstock ignoriert wurde.219 Ganz im Gegenteil: Bettauer war eine Verkörperung der Verschmelzung verschiedener europäischer Kulturen bis in das frühe 20. Jahrhundert, eine Verschmelzung, die gerade in der österreichischen Hauptstadt Wien, geprägt von Jahrhunderten des kulturellen Aufeinandertreffens zwischen dem Norden und Süden, Westen und Osten Europas, einen einzigartigen Ausdruck fand. Dies erklärt nicht zuletzt, wieso Wien nach dem „Anschluß“ zur maßgeblichen Versuchsstation für die NS-Völker- und Kulturpolitik werden sollte. Bettauers Mord als „Jude“ durch einen Nazi, der Bettauers liberale Werke und Werte ebenfalls als „jüdisch“ auffasste, veranschaulicht gerade die Wirkungsmacht der „jüdischen Differenz“, die so maßgeblich die Auseinandersetzungen mit Kultur, Gesellschaft und Zugehörigkeit in Zentraleuropa im frühen 20. Jahrhundert prägte und schließlich in der Shoah ihren genozidalen Tiefpunkt erreichten.220 Die Wiener jüdischen Friedhöfe veranschaulichten im frühen 20. Jahrhundert mit auf engstem Raum geballter Aussagekraft die tiefe Verwurzelung der jüdischen Bevölkerung samt ihrer Kultur und Geschichte in der kulturellen und topographischen Landschaft der Stadt. Diese wenigen einzigartigen Erinnerungsorte wiesen einen erstaunlichen gemeinschaftlichen Zusammenhalt durch die Jahrhunderte auf, trotz der beispiellosen Vielfalt der Wiener Judenheiten, insbesondere der neueren Zeit, sowie den weitreichenden Brüchen ihrer Geschichte vom Mittelalter bis in das 20. Jahrhundert hinein. Gerade durch ihre räumliche Einheitlichkeit sowie ihre symbolische Kraft als Orte der familiären und gemeinschaftlichen Erinnerung stellten die Friedhöfe unvergleichliche, als „jüdisch“ konnotierte Räume im Stadtgewebe dar, in denen sich die komplexen Auseinandersetzungen sukzessiver Judenheiten mit ihrer eigenen „Jüdischkeit“ und gleichzeitig ihrer intersektionalen Verflechtung mit der Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur der Stadt Wien durch sukzessive Verkörperungen des 218 Zit. nach Riedl: Jüdisches Wien, S. 16. 219 Vgl. etwa Pfoser, Alfred: Bettauers Hinrichtung. Gewalt in der Geschichte der jungen Republik, in: Brunner, Andreas/Staudinger, Barbara/Sulzenbacher, Hannes (Hg.): Die Stadt ohne. Juden Muslime Flüchtlinge Ausländer, Wien 2018. 220 Vgl. Silverman: Becoming Austrians, S. 24–25, 51–54.
Schlussbemerkungen
Landes „Österreich“ sichtlich entfalteten, in synchronischer wie diachronischer Perspektive. Somit wurden sie auch mit der Entstehung einer modernen Geschichtsschreibung zu wesentlichen Quellen für die kulturelle und wissenschaftliche Wertung der jüdischen Geschichte Wiens. Gerade aufgrund ihrer Materialität wurden sie aber zugleich Objekte der konfliktreichen Spannung zwischen Bewahrungs- und Vernichtungstrieben, die die Topographie aller europäischen Metropolen der Neuzeit eindringlich prägten. Diese Dynamik von Wertung, Bewahrung und Vernichtung, die bereits ab dem frühen 19. Jahrhundert einsetzte und somit verstörende Kontinuitäten bis in die Zeit des Nationalsozialismus aufzeigt, sind Gegenstand des nächsten Kapitels.
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Werten, bewahren, vernichten. Parallelitäten und Paradoxien im wissenschaftlichen und stadttopographischen Umgang mit den Wiener jüdischen Friedhöfen vom 19. Jahrhundert bis in die Shoah
Bald nach dem „Anschluß“ im März 1938 kursierten Gerüchte, dass der 1899 verstorbene Wiener „Walzerkönig“ Johann Strauss (Sohn) gemäß den Nürnberger Gesetzen ein „Achteljude“ war. Wie sich in der Tat herausstellte, war sein aus Ofen (Buda) in Ungarn stammender Urgroßvater väterlicherseits, der 1800 verstorbene Johann Michael Strauss, ein „getaufter Jude“. Dies stellte für das NS-Regime ein Problem dar, denn Strauss war nicht nur längst ein Inbegriff der „bodenständigen“ Wiener Kultur, auch die NS-Kulturpolitik führte ihn als „urdeutschen“ Komponisten vor. Der erste Film, der nach dem „Anschluß“ in Österreich gedreht werden sollte, nun in Anlehnung an die Urzeiten des Karolingischen Reichs die „Ostmark“ genannt, war eine Biographie der Familie Strauss.1 Das NS-Hetzblatt Der Stürmer unternahm sofort eine „Propagandaaktion auf Wiener Litfasssäulen“, in der von der Musik von Johann Strauss behauptet wurde: „Es gibt wohl kaum eine andere Musik, die so deutsch und so volksnah ist als die des großen Walzerkönigs.“ Schuld für die Unterstellung einer vermeintlich „nichtarischen“ Herkunft seien „die Juden“, die dadurch „das Andenken des deutschen Walzerkönigs in den Schmutz ziehen“ wollten.2 Der durch diese unangenehme Aufdeckung eines jüdisch geborenen Vorfahren entfachte Skandal, der den Namen dieses „deutschesten“ Komponisten zu besudeln drohte, kommentierte schließlich sogar Reichspropagandaminister Joseph Goebbels in einem Tagebucheintrag vom 5. Juni 1938: Ein Oberschlauberger hat herausgefunden, daß Joh. Strauß [archaische Schreibweise] ein Achteljude ist. Ich verbiete, das an die Öffentlichkeit zu bringen. Denn erstens ist es noch nicht erwiesen, und zweitens habe ich keine Lust, den ganzen deutschen Kulturbesitz so nach und nach unterhöhlen zu lassen. Am Ende bleiben aus unserer Geschichte nur noch Widukind, Heinrich der Löwe und Rosenberg übrig. Das ist ein bißchen wenig. […] Ich tue dagegen, was ich kann. Das ist auch der Wille des Führers.3
Statt also den nach ihrer eigenen Definition „teiljüdischen“ Komponisten aus dem Kanon der „deutschen“ Musik zu streichen, wie sonst bei „rassisch unrei1 Weyr, Thomas: The Setting of the Pearl. Vienna under Hitler, New York 2005, S. 130. 2 Zit. nach Koop, Volker: „Wer Jude ist, bestimme ich“. „Ehrenarier“ im Nationalsozialismus, Wien 2014, S. 159. 3 Fröhlich, Elke (Hg.): Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Teil I: Aufzeichnungen 1923–1941, Bd. 5 – Dezember 1937–Juli 1938, München 2000, S. 334.
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nen“ Kulturschaffenden verfahren wurde, entschieden sich die neuen Machthaber – angeblich unter Befehl von Adolf Hitler höchstpersönlich – für eine kreativere Lösung ihres Kulturproblems: Zuerst wurde die Strauss’sche Herkunft „arisiert“, indem der Eintrag im Trauungsbuch des Dompfarramtes St. Stephan, der die Hochzeit zwischen „Johann Michael Strauß (getaufter Jude) und Rosalia Buschin“ dokumentierte, „herausgeschnitten und die nächste Eintragung vorgerückt“ wurde. Der originale Eintrag wurde „in einem Tresor des Haus-Hof-und Staatsarchives [sic] aufbewahrt, die Kopie wurde der Dompfarre St. Stephan zur Einordnung in die Reihe der Trauungsbände übergeben“.4 Dann wurde das Strauss’sche Erbe „arisiert“, indem seine jüdische Stieftochter Alice Meyszner-Strauss gezwungen wurde, seinen Nachlass an die Stadt Wien zu verkaufen. Dieser wurde erst 2001 an die Nachkommen restituiert, die sie wiederum an die Stadt Wien zum Zwecke der Forschung und der öffentlichen Ausstellung zurückverkaufte.5 Laut der Historikerin Tina Walzer wurden schließlich im Zeitraum 1942/43 im Zuge von rassistisch motivierten Ausgrabungen des Naturhistorischen Museums und der Universität Wien am alten jüdischen Friedhof im 18. Wiener Gemeindebezirk Währing die Gebeine der Vorfahren von Strauss exhumiert und aus dem Friedhof entfernt und das Grab de facto aufgelassen.6 Letztere Behauptung dürfte alleine deswegen schon unrichtig sein, da dieser einzige jüdische Urgroßvater Strauss konvertiert war, eine Christin geheiratet hatte und somit sicherlich nicht in einem jüdischen Friedhof bestattet worden war. Auch erscheint der Name Strauss nicht in den verschiedenen, manche von Tina Walzer selbst publizierten Verzeichnissen der während der Shoah am Währinger Friedhof exhumierten Leichen.7 Die kulturelle „Arisierung“ von Johann Strauss veranschaulicht jedenfalls die Armseligkeit einer „reinrassigen“ deutschen Kultur – reduziert, wie Joseph Goebbels in seinem Tagebuch zugab, auf ein paar mittelalterliche Herzöge und den NS-Ideologen Alfred Rosenberg, ohne die vielen Einflüsse eines Jahrtausend langen kulturellen Austauschs in Zentraleuropa, aus der die moderne „deutsche“ Kultur (und die österreichische 4 Vgl. Kopien des Originals und der Fälschung in: Dokumente über eine Fälschung des Reichssippenamtes im Jahre 1941 mit der man die jüdische Ahnenreihe des Wiener Komponisten Johann Strauß vertuschen wollte, DÖW, 06424. 5 Johann Strauss ent-arisiert, in: Die Gemeinde, November 2003, S. 48. 6 Walzer, Tina: Der Währinger jüdischer [sic] Friedhof. Eine Fotodokumentation, in: David. Jüdische Kulturzeitschrift 49 (Juni 2001), S. 22. 7 Vgl. Walzer: Der jüdische Friedhof Währing in Wien, S. 137–196 sowie jüngst Eckstein, WolfErich: Historische Recherche zur Vorbereitung der Restaurierung von Gräbern der 1941/42 aus dem Währinger Israelitischen Friedhof Exhumierten und am Zentralfriedhof, 4. Tor, Gruppe 14a 1941/42 und 1947 Wiederbestatteten, 22. April 2015, https://www.wien.gv.at/ kultur/abteilung/ehrenreihen.html, letzter Zugriff: 31. August 2020.
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Kultur erst recht) hervorging. Das Goebbels-Zitat zeigt nicht zuletzt, inwiefern sich die führenden NationalsozialistInnen dessen auch bewusst waren und wie zynisch demzufolge ihre Kultur- und Bevölkerungspolitik war. Kann Walzers Behauptung einer gezielten Vernichtung von Grabstätten der Familie Strauss als unwahrscheinlich gewertet werden, so rührt sie dennoch an einen wichtigen Punkt: dass die Schändung und Vernichtung von jüdischen Grabstätten einen wesentlichen Teil der zynischen Kulturpolitik des NS-Regimes bilden sollte. Wie der Publizist Volker Koop darlegte, spielten „Wahnwitz“ und „Willkür“ neben einer genuin rassistischen Ideologie eben auch eine Rolle in der Anwendung der Nürnberger Gesetze. Goebbels war sich akut bewusst, inwiefern die öffentliche Meinung bei jeder Kulturpolitik beachtet werden musste. Gerade Wien als „Kulturzentrum“ hatte er als Anzugspunkt von „belastete[n] Künstler[n]“ identifiziert, entweder aufgrund ihrer eigenen Abstammung oder der ihrer GattInnen, FörderInnen oder ihres Publikums. So sah die NS-Kulturpolitik immer wieder über manche „belasteten Künstler“ hinweg, so neben Johann Strauss (Sohn) auch beispielsweise im Falle des noch lebenden und mit einer Jüdin verheirateten Komponisten Franz Lehár, der zudem eng mit jüdischen Kulturschaffenden zusammenarbeitete: Aufgrund seiner Beliebtheit, auch unter den führenden Kreisen des NS-Staates, sorgte Goebbels dafür, dass Lehárs Werke weiterhin aufgeführt wurden.8 Ähnlich wurde Gustav Klimt, ein Vorreiter der von den NationalsozialistInnen als „entartet“ diffamierten Wiener Secession, unter Reichsstatthalter Baldur von Schirach als NS-„Kulturheld“ neu erfunden. So initiierte er 1943 eine große Klimt-Retrospektive in der „FriedrichstraßenGalerie“, wie das Secessionsgebäude umgetauft wurde, wo bezeichnenderweise „arisierte“ – das heißt geraubte – Kunstwerke, darunter das berühmte Porträt von Adele Bloch-Bauer, das mit dem Namen „Die Frau in Gold“ entsprechend „entjudet“ wurde, etwa ein Drittel der Ausstellung ausmachten. Klimt wurde somit, wie die Kunsthistorikerin Laura Morowitz festhielt, „seiner kosmopolitischen, radikalen Vergangenheit sowie seiner jüdischen Unterstützung entlastet“ und konnte gleichzeitig als „sowohl der germanischste aller Künstler als auch die Verkörperung der eigenartigen kulturellen Identität Wiens“ neu konzipiert werden.9 Solche „Entjudungen“ bzw. „Arisierungen“ – ein paar NS-Begriffe, die ich hier in einem breiteren, kulturpolitischen Sinne verwende – von jüdischen, „teiljüdischen“ oder bloß als „jüdisch“ konnotierten Kulturschaffenden waren weder ein Novum des Nationalsozialismus noch begrenzt auf die Jahre nach dem „Anschluß“, wie der Historiker Wolfgang Plat ebenfalls in Bezug 8 Koop: „Wer Jude ist, bestimme ich“, S. 8, 115–116, 118. 9 Vgl. Morowitz, Laura: „Heil the Hero Klimt!“ Nazi Aesthetics in Vienna and the 1943 Gustav Klimt Retrospective, in: Oxford Art Journal 39/1 (2016), insb. S. 3, 16–19.
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auf Johann Strauss darlegte: „Schon in einer Publikation aus den zwanziger Jahren finde ich den merkwürdigen Hinweis, daß man Johann Strauß-Sohn ansähe, daß seine Vorfahren spanisches Blut seien. Nun, das klingt natürlich besser.“10 Dass Johann Strauss eigentlich zu den Begründern des österreichischen Vereins zur Abwehr des Antisemitismus zählte und dass seine dritte Frau – Adele, die übrigens im Ehrengrab ihres Gatten am Zentralfriedhof bestattet und auf seinem Grabstein genannt ist (32-A-27) – Jüdin war, blieb während seinen wiederholten „Entjudungen“ vor und während der NS-Zeit unreflektiert und unkommentiert.11 Neben solchen „Arisierungen“ von (teil-)jüdischen Kulturschaffenden geschah übrigens auch freilich das Gegenteil: So wurde beispielsweise der nichtjüdische Komponist Ernst Krenek bereits vor der NS-Zeit häufig als „Ostjude“ diffamiert aufgrund seines modernen (sprich: „jüdischen“) Stils sowie möglicherweise seiner früheren Nähe zum austrofaschistischen „Ständestaat“, das Gegnerregime des Nationalsozialismus. Letztendlich genügte in dieser radikalisierten Zeit jedenfalls lediglich die Behauptung, es hätte jemand einen (teil-)jüdischen Hintergrund, um sie/ihn zur Zielscheibe zu machen.12 Zu guter Letzt sei in diesem Zusammenhang auf das damals wie heute weit verbreitete, jedoch längst widerlegte Gerücht verwiesen, dass der „Führer“ Adolf Hitler selbst eine jüdische Großmutter hatte und deswegen die Dörfer im Waldviertel, wo seine Ahnen bestattet lagen, räumen und de facto zerstören ließ, um die vermeintlichen Spuren zu verwischen.13 In diesen Beispielen tritt deutlich die Dynamik der „jüdischen Differenz“ zum Vorschein, sprich: die Instrumentalisierung einer mehr oder weniger konstruierten und somit dehnbaren Vorstellung der „Jüdischkeit“ zum Zwecke der Ein- oder Ausgrenzung einzelner Menschen oder ganzer Gruppen, je nach ideologischer Positionierung. Die genannten Beispiele zeigen wiederum eindeutig, wie sehr in der Moderne das „Jüdische“ mit der „österreichischen“ Kultur verwachsen war, so sehr, dass das „Jüdische“ vom „Nichtjüdischen“ zu trennen eigentlich vielfach nicht möglich war. Gerade im Kontext Österreichs nach dem „Anschluß“ ist es zudem wesentlich, dass solche „Entjudungen“ bzw. 10 Plat, Wolfgang: Die Juden haben uns furchtbar behandelt. Erfahrung einer Dokumentationsarbeit, in: Plat, Wolfgang (Hg.): Voll Leben und Tod ist diese Erde. Bilder aus der Geschichte der jüdischen Österreicher (1190–1945), Wien 1988, S. 18. 11 Vgl. Notley, Margaret: Lateness and Brahms. Music and Culture in the Twilight of Viennese Liberalism, New York 2007, S. 205. Es waren tatsächlich viele der BegründerInnen des Vereins nichtjüdisch. Vgl. Hödl, Klaus: From Acculturation to Interaction. A New Perspective on the History of the Jews in Fin-de-Siècle Vienna, in: Shofar 25/2 (Winter 2007), S. 95. 12 Vgl. Melichar, Peter: Juden zählen. Über die Bedeutung der Zahl im Antisemitismus, in: Enderle-Burcel, Gertrude/Reiter-Zatloukal, Ilse (Hg.): Antisemitismus in Österreich 1933–1938, Wien 2018, S. 120–121, 123. 13 Vgl. Hamann: Hitlers Wien, S. 68–71.
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„Arisierungen“ nicht zuletzt zur Vereinnahmung der betroffenen Kulturschaffenden eben nicht als „österreichisches“, sondern als „deutsches“ Kulturgut dienen sollten. In der nationalsozialistischen Anschauung war nämlich das Konzept einer „österreichischen Kultur“ schon verdächtig „jüdisch“.14 Der 1894 im habsburgischen Galizien geborene, sich Zeit seines Lebens zu „Österreich“ bekennende und bereits 1939 im Pariser Exil erbärmlich verstorbene Schriftsteller Joseph Roth, dessen Werke heute als Verkörperung des Geistes des plurikulturellen „Alt-Österreichs“ schlechthin rezipiert werden, verstand nur allzu gut, was im „Anschluß“ Österreichs an das „Dritte Reich“ (einen Begriff, den ich hier zur Betonung des neuen Staatskonstrukts inklusive Österreich verwende), überhaupt in der Konzeption von Österreich als Bestandteil einer „deutschen“ Kultur, verloren ging: 1938 wollte Europa noch nicht begreifen, wie Roth in seiner „Totenmesse“ für Österreich beklagte, „daß hier eine ganze große Welt, konzentriert (und also von zehnfacher Spannkraft) in einem kleinen Raum […] einfach zertreten worden ist“.15 Es war diese durch die alte Monarchie bedingte Konzentrierung der gesamten Kulturwelt Zentraleuropas, die die Größe der österreichischen Kultur sogar über den Zerfall der Monarchie hinaus fundiert hatte, und diese Kulturwelt, so schloss Roth in einem weiteren Aufsatz, „zersplittert um so gewisser, je verlogener und unfreier die Eroberer den Begriff österreichisches Kulturgut behandeln“.16 Der „verlogene“ Gebrauch des Begriffes „Kultur“ für ihre zynischen ideologischen Zwecke unterlag dem gesamten NS-Projekt der Neuerfindung „Deutschlands“ – inklusive Österreichs und weiterer „angeschlossener“ Bereiche des (teil-)deutschsprachigen Europas. Die „Arisierung“ von Johann Strauss (Sohn) stellt paradigmatisch das Kulturverständnis des Nationalsozialismus zur Schau: eine tödliche Mischung von Fanatismus und Kalkulation. Nicht zufällig sollte Wien, dessen Charakter und Kultur bis ins 20. Jahrhundert durchwegs von der Zusammenkunft verschiedenster Sprachen, Religionen und Kulturströmungen Zentraleuropas geprägt wurde, in der kurzen Zeit zwischen dem „Anschluß“ und der Eroberung Osteuropas durch das „Dritte Reich“ zur „Versuchsstation“ für die zynische, rassistische und schließlich genozidale NS-Kultur- und Bevölkerungspolitik werden – erst durch Raubzug und Vertreibung, dann durch Deportation und Ermordung.17 14 Vgl. ausführlicher Corbett: Jews and Austrian Culture. 15 Roth, Joseph: Totenmesse [1938], in: Kesten, Hermann (Hg.): Joseph Roth Werke, Bd. 4, Köln 1976, S. 730. 16 Roth, Joseph: Huldigung an den Geist Österreichs [1938], in: Kesten, Hermann (Hg.): Joseph Roth Werke, Bd. 4, Köln 1976, S. 735. 17 Die Vorstellung von Österreich als „Versuchsstation des Weltuntergangs“ wurde bereits während des Ersten Weltkriegs von Karl Kraus geprägt. Vgl. Kraus, Karl: Franz Ferdinand und die Talente, in: Die Fackel 400–403, 10. Juli 1914, S. 2. Dieser Gedanke wurde später oft auf Wien
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Die NationalsozialistInnen waren sich der kulturellen Heterogenität der österreichischen Hauptstadt nur allzu bewusst. In Mein Kampf hatte Hitler bereits die „Riesenstadt“ als „Verkörperung der Blutschande“ hervorgehoben: „Widerwärtig war mir das Rassenkonglomerat, das die Reichshauptstadt zeigt[e], widerwärtig dieses ganze Völkergemisch von Tschechen, Polen, Ungarn, Ruthenen, Serben und Kroaten usw., zwischen allem aber als ewiger Spaltpilz der Menschheit – Juden und wieder Juden.“18 In diesem Sinne betonte Josef Bürckel, der „Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Reich“ und spätere Gauleiter Wiens, in der ersten Ratsherrensitzung unter dem neuen Regime, dass der „Anschluß“ nicht einen „Bedeutungsverlust“ für Wien bedeutete, ganz im Gegenteil: Wien sollte fortan einen „geschichtliche[n] ‚deutsche[n] Auftrag‘“ im „Dritten Reich“ erfüllen, wodurch nicht zuletzt, „unsere [sprich: die „deutsche“] Kultur und Kunst“ gefördert werden sollten. Auch Bürckels Nachfolger Baldur von Schirach, der den Reichsgau Wien als Reichsstatthalter von 1940 bis Kriegsende leitete und somit eine führende Rolle in der Deportation der Wiener jüdischen Bevölkerung spielte, beteuerte, dass Wien „im Deutschen Reich eine ‚Kulturmission‘ zu erfüllen“ hatte.19 Wie bereits das Hitler-Zitat verdeutlicht, kann die rassistische NS-Kulturpolitik, ob im engeren Rahmen in Wien oder europaweit betrachtet, keineswegs bloß auf eine Dichotomie jüdisch/nichtjüdisch, geschweige denn deutsch/jüdisch reduziert werden. Doch wird in diesem Zitat zugleich die zentrale Rolle der sogenannten „jüdischen Frage“ ersichtlich, weshalb neben vielen anderen brutalen und genozidalen Gewaltverbrechen des Nationalsozialismus die „Entjudung“ Wiens – sowohl seiner Bevölkerung wie seiner Kultur – die wichtigste Voraussetzung unter dem Nationalsozialismus angewandt, so z. B. durch Rosenkranz, Herbert: Verfolgung und Selbstbehauptung. Die Juden in Österreich 1938–1945, Wien 1978, S. 12; Albrich, Thomas: Vom Vorurteil zum Pogrom, in: Steininger, Rolf/Gehler, Michael (Hg.): Österreich im 20. Jahrhundert. Ein Studienbuch in zwei Bänden, Bd. 1, Wien 1997, S. 339 und Rabinovici, Doron: Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938–1945, Der Weg Zum Judenrat, Frankfurt am Main 2000, S. 34. Auch in der allgemeinen Holocaustforschung hat sich längst die These eines „Wiener Modells“ auf dem Weg zur Shoah durchgesetzt – ein Begriff, der auch bereits von Hermann Goering verwendet wurde. Vgl. Botz, Gerhard: Nationalsozialismus in Wien. Machtübernahme, Herrschaftssicherung, Radikalisierung 1938/39, Wien 2008, S. 524; Aly, Götz/Heim, Susanne: Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Frankfurt am Main 2004, S. 33–43 und Friedländer, Saul: Das Dritte Reich und die Juden. Die Jahre der Verfolgung 1933–1939, München 2008, S. 262–290. Vgl. jüngst Hecht, Dieter/Lappin-Eppel, Eleonore/Raggam-Blesch, Michaela: Topographie der Shoah. Gedächtnisorte des zerstörten jüdischen Wien, Wien 2015. 18 Hitler, Adolf: Mein Kampf, München 1938, Nachdruck des Originals aus dem Jahre 1925, S. 135. 19 Botz: Nationalsozialismus in Wien, S. 571–572. Vgl. auch Weyr: The Setting of the Pearl, S. 176–177.
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schlechthin für die „Erneuerung“ der „deutschen Kultur“ darstellte, die hier stattzufinden hatte. In seinen 1965 im Kriegsverbrechergefängnis Spandau in Berlin geschriebenen Memoiren versuchte von Schirach, sich seiner Schuld am vergangenen Genozid zu entlasten, indem er seine eigene Rede beim internationalen Jugendkongress, der am 14. September 1942 in Wien stattfand, zitierte. Dass sein Hinweis in dieser Rede auf die Massendeportation der Wiener jüdischen Bevölkerung als Beweis dienen sollte, dass er von „Massenerschießungen“ und dergleichen, also der gezielten Ermordung der Deportierten nach Ankunft im besetzten Osten Europas, nichts gewusst hätte, lasse ich unkommentiert. Von maßgeblicher Bedeutung ist für den kulturhistorischen Zusammenhang jedenfalls seine Deutung des sich damals in vollem Gang befindliche Genozids vorrangig als kulturellen Auftrag: Wenn man mir den Vorwurf machen sollte, daß ich aus dieser Stadt, die einst die europäische Metropole des Judentums gewesen ist, Zehntausende und aber Zehntausende von Juden ins östliche Ghetto abgeschoben habe, muß ich antworten: Ich sehe darin einen aktiven Beitrag zur europäischen Kultur.20
Zusammengefasst konnte die NS-Konzipierung einer „gesamtdeutschen“ Kultur erst durch die restlose Ausmerzung aller als „fremd“ oder „feindlich“ konstruierten Gruppen realisiert werden. Dies bedingte die Unterdrückung, Verfolgung, Vertreibung und Ermordung vieler diverser Gruppen von Menschen durch das gesamte besetzte Europa. Das zentrale Feindbild, gerade im „eigenen“ Kulturraum im deutschsprachigen Zentraleuropa, war jedoch stets „das Judentum“ im kollektivsten, essenzialistischsten Sinn. Dies deutet im Rückschluss darauf, wie verwachsen die zentraleuropäische Kultur, inklusive das „Jüdische“ mit dem „Nichtjüdischen“, bis in das 20. Jahrhundert war – und daher auf die massive Gewalt, die zu ihrer künstlichen „Trennung“ benötigt wurde. In diesem Kapitel wird der Blick von der langen Entstehungsgeschichte und den größtenteils innerjüdischen Auseinandersetzungen um Gemeinschaft, Kultur und Zugehörigkeit, die sich in den Wiener jüdischen Friedhöfen festschrieben, auf ihre allgemeingesellschaftliche Rezeptionsgeschichte im modernen Zeitalter ausgeweitet. Anhand dieser Friedhöfe werden hier diverse Wertungen der Wiener jüdischen Kultur – und damit des Stellenwerts des „Jüdischen“ innerhalb der allgemeinen Wiener bzw. österreichischen Kultur – ab der Mitte des 19. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts aufgezeigt, sowie die diversen Initiativen zur selektiven Bewahrung bzw. Vernichtung dieser kulturhistorischen Erinnerungsorte, die diese Wertungen mit sich zogen. Es wird gezeigt, dass 20 Schirach, Baldur von: Ich glaubte an Hitler, Hamburg 1967, S. 300.
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die Rezeption und diverse kulturhistorische Wertungen der Friedhöfe ganz und gar nicht eine rein innerjüdische Geschichte war, sondern dass bereits seit der allerfrühesten Herausbildung einer Historiographie zur Wiener jüdischen Geschichte sowie spezifisch zu den Wiener jüdischen Friedhöfen deren Erforschung und Wertung durchwegs auch von nichtjüdischen WissenschaftlerInnen und anderen InteressentInnen betrieben wurde. Die Wertung insbesondere der „Historizität“ der Friedhöfe – die reale oder wahrgenommene Altertümlichkeit und der daraus erwachsende historische Wert, der diesen urbanen Räumen jeweils zu unterschiedlichen Zeiten zugeschrieben wurde – war durch diesen langen Zeitraum zutiefst wandelbar, geprägt von teils wohlwollenden, teils abfälligen bis antisemitischen Einstellungen zu den Friedhöfen wie allgemein zur jüdischen Kultur. Diese Wertungen bedingten wiederum diverse Initiativen zur Dokumentation und Bewahrung dieser historischen Räume, so beispielsweise seitens neu entstehender historischer und denkmalpflegerischer Institutionen, oder auch zu ihrer Auflassung und Vernichtung, so beispielsweise seitens diverser Stadtplanungsbehörden, die meist auch so bei den historischen christlichen Friedhöfen der Vorstadtbezirke vorgingen, die bis ins 20. Jahrhundert fast restlos aus dem Stadtbild verschwinden sollten. Hier muss vorweg bemerkt werden, dass in dieser Abhandlung der Begriff „Vernichtung“ breit angewendet wird, und zwar nicht nur in Bezug auf bewusste ideologische „Vernichtungen“, wie sie insbesondere unter dem Nationalsozialismus geschahen, sondern auch die eher banalen „Vernichtungen“, die der modernen Stadtplanung verschuldet, aber ebenfalls keineswegs unumstritten waren. Somit sollen „Bewahrung“ und „Vernichtung“ als breite Kategorien des Umgangs mit materiellem kulturellem Erbe verstanden werde, die sich keineswegs ausschließen, sondern vielmehr durch die moderne Geschichte in einem komplexen Beziehungsgeflecht zueinander stehen. Insbesondere der Umgang mit den Wiener jüdischen Friedhöfen seitens lokaler (österreichischer) und fremder (deutscher) Behörden und AkteurInnen während der Shoah – der im Wesentlichen geprägt war von der „Arisierung“, also dem Zwangsverkauf, und der versuchten Auflassung der jüdischen Friedhöfe sowie der teilweisen Verwertung von jüdischen Grabsteinen und menschlichen Überresten – wurde bisher in Bezug auf den älteren Friedhöfen in der Seegasse und Währing relativ gut erforscht, wie unten ausführlich diskutiert wird. Das Schicksal der jüdischen Abteilungen am Zentralfriedhof während der NS-Zeit, geschweige denn die langfristige Geschichte der Wertung, Bewahrung bzw. versuchten Vernichtung aller vier jüdischen Friedhöfe im Kontext des allgemeinen wissenschaftlichen und stadttopographischen Umgangs mit historischen Bestattungsräumen in Wien, wurde hingegen bis dato so gut wie gar nicht erforscht. Dementsprechend wird in diesem Kapitel nicht nur das Schicksal der vier historischen jüdischen Friedhöfe während der Shoah umfassend analysiert,
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sondern erstmalig auch in eine ausgiebige Wissenschafts- sowie wechselreiche Rezeptionsgeschichte durch das 19. und 20. Jahrhundert eingebettet. Dabei werden die krassen und teils überraschenden Parallelitäten und Paradoxien im wissenschaftlichen und stadttopographischen Umgang mit den Friedhöfen weit über die NS-Zeit hinaus kontextualisiert, dessen Nachvollzug ein neues Licht auf die langfristige kulturhistorische Wertung dieser jüdischen Erinnerungsorte sowie auf den Umgang mit deren Schändung in der Nachkriegszeit wirft. Die innerjüdische Geschichte der Friedhöfe während der Shoah als Orte des Lebens und des Überlebens sowie des Zwangs und des Sterbens der zunehmend dezimierten jüdischen Gemeinschaft wird im folgenden Kapitel behandelt. 7.1
Denkmalschutz und Urbizid. Das komplexe Zusammenspiel von Bewahrung und Vernichtung jüdischen Kulturguts im 19. und 20. Jahrhundert
Wie der Historiker Peter Fritzsche in einem einschlägigen Artikel zur Nostalgie und der Geschichtswahrnehmung in der Moderne aufzeigte, breitete sich im 19. Jahrhundert durch ganz Europa das Empfinden einer „Trennung von erinnerten Lebenswelten, einer Erschöpfung der Tradition, eines unüberwindbaren Verlustes, einer flüchtigen Erfahrung der Gegenwart und eine oft ominöse Vorahnung der Zukunft“ aus. Es ist kein Zufall, dass gerade in der als entwurzelt empfundenen modernen Gesellschaft der post-napoleonischen Zeit eine neue, eifrige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit einsetzte, die sich auch zunehmend als neue wissenschaftliche Disziplin verankerte: die Historiographie. In Übereinstimmung mit den gefühlsbetonten künstlerischen Strömungen der Romantik sollte diese neue Disziplin vorrangig die vermeintliche „Historizität“ – das zeitgenössische Empfinden der Altertümlichkeit bzw. der historischen Authentizität – der sich gerade im Prozess der Entstehung befindlichen „Nationen“ Europas und ihre vermeintlich „nationalen“ Kulturen wissenschaftlich untermauern. Wie Fritzsche auch bemerkte, wuchs in diesem Kontext das Bild von „Stätten verkommener Gräber“ zu einem regelrechten Leitmotiv des verklärenden romantischen Zeitgeists heran, was nicht zuletzt zu einem neuen Forschungsinteresse an historischen Friedhöfen führte und, damit einhergehend, zu Initiativen, diese Räume zu dokumentieren und zu bewahren.21 Diese Entwicklungen zeigten sich auch unter den Judenheiten Europas, als in Verbindung zur allgemeinen „Historisierung“ der europäischen Gesellschaft im
21 Fritzsche: Specters of History, S. 1590–1591, 1589.
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19. Jahrhundert eine moderne, säkulare jüdische Geschichtsschreibung herausgearbeitet wurde. Diese neue „jüdische“ Historiographie deutete der Historiker Yosef Hayim Yerushalmi in seinem Meisterwerk zur jüdischen Erinnerungsgeschichte als den neuen „Glauben ungläubiger Juden“: Mit dem Abnehmen der formellen Religiosität sowie der zunehmenden Unzulänglichkeit biblischer Narrative des Exils im Kontext der stetigen gesellschaftlich-politischen Emanzipation der europäischen Judenheiten im 19. Jahrhundert bedurfte es nämlich auch eines neuen metahistorischen Erklärungsnarrativs.22 Dabei befassten sich auch die jüdischen Historiker zusehends mit der Erforschung und gleichzeitig der Bewahrung von historischen Friedhöfen, die eben nicht mehr nur als gemeinschaftliche Erinnerungsorte, sondern nun auch als Kulturräume und historische Quellen aufgefasst wurden, Zeugnisse einer jahrhundertealten jüdischen Geschichte im europäischen Boden.23 Wie in diesem Kapitel aufgezeigt wird, übten aber die jüdischen Friedhöfe – wenigstens in Wien – vor der Shoah nicht nur auf jüdische WissenschaftlerInnen eine Faszination aus: Vielmehr erfuhren sie bereits ab Mitte des 19. Jahrhunderts eine rege kulturhistorische Wertschätzung seitens einer ganzen Bandbreite an nichtjüdischen AkteurInnen. Über die unmittelbare Ermordung des Großteils der europäischen Judenheiten und die Vernichtung ihrer materiellen wie kulturellen Verwurzelung im europäischen Kontinent hinaus führte die Shoah, insbesondere in der deutschsprachigen Welt, zu einer nachhaltigen epistemologischen Trennung des „Jüdischen“ vom „Nichtjüdischen“ in der Wahrnehmung der europäischen Kulturgeschichte. Alsdann wurde insbesondere in der deutschsprachigen Welt die nur mehr getrennt betrachtete „jüdische“ Geschichte lange auf antijüdische Verfolgungen reduziert, oder eben – als Gegengewicht dazu – auf die vermeintlich gescheiterten Versuche der jüdischen Bevölkerung vor den 1930er-Jahren, sich in die „deutsche Leitkultur“ – und das auch auf Österreich bezogen – zu „assimilieren“. Dadurch wurden aber auch, wie der Historiker Dirk Rupnow schloss, die vielschichtigen und komplexen „Berührungspunkte jüdischer und nichtjüdischer Erfahrungswelten“ der vergangenen Jahrhunderte über ihre faktische Vernichtung im Genozid hinaus in der Geschichtsschreibung und der Erinnerung komplett ausgeblendet.24 Dies zeigt sich paradigmatisch in Bezug auf die jüdische Sepulkralgeschichte in einem relativ jungen Band zu jüdischen Friedhöfen in Europa, in dem der Historiker Reiner Sörries behauptete, es hätten (wenigstens in Deutschland) jüdische Friedhöfe „bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts kaum das Interesse von 22 Yerushalmi: Zachor, S. 92. 23 Vgl. Brocke: Vorwort, S. 10. 24 Rupnow, Dirk: Aporien des Gedenkens. Reflexionen über „Holocaust“ und Erinnerung, Freiburg 2006, S. 12–14.
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Historikern und anderen Kulturwissenschaftlern“ erweckt, und „dass es für das Kultur- und Kunsterbe der Juden bis in die 1920er Jahre kein (wissenschaftliches) Verständnis gegeben“ hätte. In Bezug auf ein kurzes aber historiographisch wichtiges Werk zur Kulturgeschichte jüdischer Friedhöfe des Leipziger Rabbiners Gustav Cohn aus dem Jahre 1930 behauptete Sörries zudem, es hätten seine „Recherchen nicht erkennen lassen, dass es zu Cohns Zeiten“ überhaupt, mit Ausnahme von Cohns Werk selbst, „ein signifikantes Interesse an jüdischer Sepulkralkultur gab, das sich etwa in wissenschaftlichen Publikationen niedergeschlagen hätte, sieht man einmal vom deutschen Beitrag zur Erforschung der spätantiken jüdischen Katakomben ab“.25 Diese Aussage ist alleine in Hinsicht auf Cohns Werk bemerkenswert, da sich dieses unter vielen modernen Studien zu jüdischen Friedhöfen offensichtlich – wenn auch ohne explizite Quellenangaben – auf die ausgiebige Erforschung des Wiener jüdischen Friedhofs in der Seegasse aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert bezog, die von jüdischen wie nichtjüdischen WissenschaftlerInnen unternommen wurde.26 Wie in diesem Kapitel eingehend aufgezeigt wird, ist die Annahme eines weitreichenden Desinteresses an jüdischen Friedhöfen und ihre vermeintliche Ausblendung aus der allgemeinen Sepulkralforschung vor der Shoah betont als Fehlannahme der Nachkriegszeit zurückzuweisen. Der Historiker Markus Wenninger zeigte zwar in Bezug auf die österreichische „Provinz“, beispielsweise in den Erbländern Österreich unter und ob der Enns (das heutige Nieder- und Oberösterreich), wo vor der Emanzipationsära im 19. Jahrhundert die Niederlassung von Jüdinnen und Juden lange verboten war, dass die ausgiebigen historiographischen Arbeiten zur lokalen jüdischen Geschichte vor 1938 zumeist von Rabbinern und Amateurhistorikern unternommen wurden und der Sicherung eines Kontinuitätsgefühls dienen sollten, das in der Realität angesichts historischer Pogrome, wiederholter Vertreibungen und späterer Massenmigration nicht wirklich gegeben war.27 Gerade auf Wien trifft aber dieses „Provinzparadigma“ nachweislich nicht zu, wo es mit wenigen Unterbrechungen und trotz Pogromen und Vertreibungen spätestens seit dem Hochmittelalter eine jüdische Gemeinschaft gab, die bis in die Neuzeit zu einer der größten und bedeutendsten jüdischen Gemeinden Europas heranwachsen sollte. Umgekehrt zeugt gerade die ausgiebige Historiographie, die Wenninger hier zitierte, eben auch von der Vitalität der jüdisch-österreichischen 25 Sörries, Reiner: Friedhof und Denkmal in Deutschland. Historischer Beitrag und Erbe der jüdischen Kultur, in: ICOMOS Deutschland und Landesdenkmalamt Berlin (Hg.): Jüdische Friedhöfe und Bestattungskultur in Europa, Berlin 2011, S. 20. 26 Cohn: Der jüdische Friedhof, insb. S. 44. 27 Wenninger, Markus: Jüdische Studien in der österreichischen „Provinz“, in: Hödl, Klaus (Hg.): Jüdische Studien. Reflexionen zu Theorie und Praxis eines wissenschaftlichen Feldes, Innsbruck 2003, insb. S. 26.
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Geschichtsschreibung vor der Shoah, die nach 1945 weitgehend ausgeblendet wurde und heute meist von nichtjüdischen HistorikerInnen betrieben wird. In Wien setzte bereits um das Jahr 1800 ein allgemeines „dokumentarischhistorisches Interesse an der Stadt“ ein, was im Vormärz in eine regelrecht „wehmütig-nostalgische Haltung“ münden sollte, wie in einer einschlägigen Ausstellung des Wien Museums zum Mythos „Alt-Wien“ dargelegt wurde.28 Auch unter der Wiener jüdischen Bevölkerung, wie der Historiker Klaus Hödl jüngst zeigte, diente „Alt-Wien“ als Projektionsfläche, vor allem auch deshalb, um der gängigen Vorstellung der Judenheit als „immigrierte“ Bevölkerung entgegenzuwirken, beispielsweise durch verklärende Darstellung des alten „Ghettos“ in der Leopoldstadt, dessen Geschichte zurück in die Frühe Neuzeit reichte.29 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – also genau in dem Zeitraum, als der Mythos von „Alt-Wien“ erst entstand – wurden aber paradoxerweise etwa fünfzig Prozent der historischen Wiener Innenstadt abgerissen und neu bebaut.30 Entgegen seiner eigenen historischen Verklärung ging Wien im 19. Jahrhundert also „verschwenderisch“ mit seinem historischen Erbe um, besonders gegenüber der mittelalterlichen Bausubstanz: Es galten damals vornehmlich nur die älteren, auf die Antike zurückgehenden Funde als historisch wertvoll – nur diese beinhalteten angeblich eine wertvolle „Historizität“, und somit wurde vieles dem Erdboden gleichgemacht und überbaut, was heute zweifellos als denkmalgeschütztes kulturelles Erbe gelten würde. An diesem Beispiel zeigt sich die grundlegende Subjektivität in der Wahrnehmung der Historizität und die daraus entwachsende, eng verflochtene Dynamik der Bewahrung und der Vernichtung, die bis heute das Stadtbild fortlaufend prägt.31 In diesem zwiespältigen Kontext der erwachenden Wertschätzung für die Historizität und zugleich die weitgehende Planierung und Rekonstruktion der Stadtlandschaft ist die Entstehung der modernen Denkmalpflege zu verstehen. Der österreichische Denkmalschutz institutionalisierte sich erstmals mit der 1854 gegründeten k.k. Central-Commission für Baudenkmale. Ziel dieser später in k.k. Zentral-Kommission für Kunst- und Historische Denkmale umbenannten Institution war es, „ein Nationen übergreifendes Gemeinschaftsgefühl“ zu 28 Kos/Rapp (Hg.): Alt-Wien, dieses Zitat in: Katalogteil, S. 333. 29 Hödl: Zwischen Wienerlied und Der Kleine Kohn, S. 145–149. 30 Kos, Wolfgang: Vorwort und Dank, in: Kos, Wolfgang/Rapp, Christian (Hg.): Alt-Wien. Die Stadt, die niemals war, Wien 2004, S. 9. 31 Pohanka, Reinhard: Stadtplanung 1848–1918 in Wien und Budapest. Legitimation und Nationalismus, in: Kos, Wolfgang/Rapp, Christian (Hg.): Alt-Wien. Die Stadt, die niemals war, Wien 2004, S. 71, 74. Vgl. auch in diesem Band Kassal-Mikula, Renata: Alt-Wien unter dem Demolierungskrampen. Wiens Innenstadt nach 1858, S. 46–61. Vgl. zur Frage der Historizität Wiens Rollett, Edwin: Wann hat Wien aufgehört, alt zu sein?, in: Klaffenböck, Arnold (Hg.): Sehnsucht nach Alt-Wien. Texte zur Stadt, die niemals war, Wien 2005, insb. S. 167.
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beschwören, „für das die Geschichtswissenschaften Argumente liefern sollten“, wie es ihr langjähriger Präsident, der Historiker Joseph Alexander von Helfert, zusammenfasste. Das Gemeinschaftsgefühl, das wenigstens auf Seiten der zisleithanischen Bürokratie gefördert werden sollte (also jene der österreichischen Reichshälfte im Gegensatz zur ungarischen), wurde demnach in markantem Gegensatz zu den meisten europäischen „Nationen“ dieser Zeit explizit als „übernational“ begriffen: „Nationalgeschichte“, so fuhr von Helfert fort, „ist daher nicht die Geschichte irgendeiner racenmäßig ausgezeichneten Gruppe […], sondern die Geschichte der territorial und politisch zusammengehörenden, von dem Band der gleichen Autorität umschlungenen, unter dem Schutz des gleichen Gesetzes verbundenen Bevölkerung“.32 Diese übernationale, plurikulturelle Einstellung ist von wesentlicher Bedeutung, da sie eine Grundlage für die Einbindung des „Jüdischen“ in die „österreichische“ Kultur bereitstellte – in der Tat sollte sich die Kommission später auch an der Bewahrung jüdischer Friedhöfe beteiligen. Die Denkmalpflege erfuhr im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts in der damaligen Haupt- und Residenzstadt Wien eine gewaltige Institutionalisierung. So ging 1911 unter der Wirkung Erzherzog Franz Ferdinands aus der k.k. Zentral-Kommission das Staatsdenkmalamt hervor, dem Vorgänger des heutigen Bundesdenkmalamts, das 1920 gegründet wurde. Eine maßgebliche Rolle spielte hierbei der 1903 promovierte und später unter dem Nationalsozialismus ins Exil getriebene Kunsthistoriker Hans Tietze.33 Dieser war es zudem, der in den 1930er-Jahren erstmalig die Verbindung zwischen jüdischen Kulturschaffenden und der modernen Wiener Kultur herausarbeitete, eine Thematik, die sich erst Jahrzehnte nach der Shoah wieder zum Gegenstand umfassender und fortdauernder kulturhistorischer Debatten entwickeln sollte.34 Tietzes Wirken steht somit stellvertretend nicht bloß für die Parallelität jüdischer und nichtjüdischer Bestrebungen zur Dokumentation der Geschichte und zur Herausbildung eines historischen Bewusstseins, sondern vielmehr für die greifbare Intersektionalität des „Jüdischen“ und des „Nichtjüdischen“ in der Wiener Kultur vor der Shoah, wie ferner in diesem Kapitel anhand der Zusammenarbeit von jüdischen und nichtjüdischen Individuen und Institutionen bei Initiativen zur Dokumentation und Bewahrung der Wiener jüdischen Friedhöfe gezeigt wird, vor allem in Bezug auf den ältesten erhaltenen jüdischen Friedhof Wiens in der Seegasse. Solchen Initiativen stand allerdings stets 32 Zit. nach Pollak, Marianne: Archäologische Denkmalpflege zur NS-Zeit in Österreich, Wien 2015, S. 24–26. 33 Frodl, Walter: Der Aufbruch zur modernen Denkmalpflege in Österreich, in: Kühnel, Harry (Hg.): Das Zeitalter Kaiser Franz Josephs – 2. Teil 1880–1916. Glanz und Elend, Wien 1987, S. 236–237. 34 Siehe insb. Tietze: Die Juden Wiens.
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der gegenteilige Impuls zur Vernichtung gegenüber, wodurch insbesondere und wiederholt der jüngere jüdische Friedhof in Währing bedroht war. In den Bestrebungen verschiedenster Akteure, den älteren Friedhof in der Seegasse als historisches Erbe der Stadt Wien zu bewahren, den neueren in Währing aber zugunsten der Stadterneuerung aufzulassen und de facto zu vernichten, zeigt sich wieder paradigmatisch die subjektive und kontextbedingte Wahrnehmung der vermeintlichen „Historizität“ und des damit verbundenen denkmalpflegerischen Werts, der historischen Räumen demzufolge beigemessen wurden. Diese wandelbaren Auffassungen der Historizität erklären das vermeintlich paradoxe Wechselspiel von Bewahrung und Vernichtung, das schon lange vor dem Nationalsozialismus den Umgang mit den jüdischen Friedhöfen prägte. Aus diesem sich historisch entfaltenden Wechselspiel lassen sich wiederum die zum Teil überraschenden Widersprüche im Umgang mit jüdischem historischem Erbe in der NS-Zeit erklären. Dirk Rupnow wies bereits ausführlich die Unzulänglichkeit des Narrativs auf, demnach die NationalsozialistInnen „langfristig nicht nur die totale physische Vernichtung des europäischen Judentums, sondern auch die Löschung der Spuren ihres Verbrechens und ihrer Opfer aus Geschichte und Gedächtnis geplant“ hätten, wobei die im Original kursiv hervorgehobenen Worte die vermeintliche Abgrenzung von „Geschichte und Gedächtnis“ von der „Vernichtung“ betonten. „Die Funktion von Erinnerung im Rahmen des Genozids selbst“, so Rupnow weiter, „wurde jenseits der Annahme eines geplanten Gedächtnismords dabei kaum beachtet.“35 Diese von Rupnow identifizierte und kritisierte Annahme in der Wissenschaft findet sich auch in spezifischem Bezug auf den Wiener jüdischen Friedhöfen wieder, so beispielsweise in der Monographie der Schriftstellerin Traude Veran zum Friedhof in der Seegasse, in der die Zerstörung dieses Friedhofs als Teil einer geplanten Ausmerzung der Erinnerung der jüdischen Geschichte aus dem Stadtbild darstellte: „So sollte der physischen Vernichtung die Vernichtung der Erinnerungen folgen.“36 Tatsächlich stimmt diese Feststellung in Bezug auf den fanatischen Eifer, mit der die NS-Entscheidungsträger versuchten, Wien gewaltsam zu „arisieren“ und in eine „judenfreie Stadt“ umzuwandeln – demographisch durch die Vertreibung und schließlich Ermordung der jüdischen Bevölkerung und kulturtopographisch durch die Zerstörung der Gegend um den Donaukanal als traditionell „jüdisch“ konnotiertem Stadtteil. In einem neuen Band zur Raumordnung im Nationalsozialismus wurde die NS-Stadtplanung als „heftigster 35 Rupnow, Dirk: Vernichten und Erinnern. Spuren nationalsozialistischer Gedächtnispolitik, Göttingen 2005, S. 12–13, 15. Die These des „Gedächtnismords“ findet sich beispielsweise im einflussreichen Werk zur Erinnerung von der Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann im Begriff des „Mnemozid“ wieder. Assmann: Erinnerungsräume, S. 336. 36 Veran: Das Steinerne Archiv, S. 150.
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Angriff “ auf das „urbane Selbstverständnis“ der Stadt Wien im 20. Jahrhundert dargestellt, obwohl das geplante „Groß-Wien“ kriegsbedingt schließlich nicht realisiert werden konnte. Nach diesen Plänen wären ganze Stadtbezirke unter den Dampfwalzen verschwunden, vermutlich inklusive aller letzten Erinnerungsorte des jüdischen Wien, so auch die historischen Friedhöfe. Die Zerstörungen, die unter dem Nationalsozialismus an der politischen, sozialen und vor allem demographischen Substanz der österreichischen Hauptstadt verübt wurden – durch den an der jüdischen wie an anderen Bevölkerungsschichten verübten Massenmord – wirkten sich aber letztendlich nicht umfassend auf die historische Bausubstanz der Stadt aus.37 Die NS-Kultur- und Erinnerungspolitik war allerdings wesentlich komplizierter, als diese megalomanen Stadtbauprojekte vermuten lassen: Der wissenschaftliche Fokus auf den vernichtenden Trieb des Nationalsozialismus, wie Rupnow ausgiebig bewies, hat den gleichzeitigen Impuls zur „Dokumentation, Wissenschaft und Propaganda“ ausgeblendet. Ziel der NS-Forschung war es vielmehr, „über den Umweg der Konstruktion eines Fremd- und Feindbildes auch an der Konstruktion einer eigenen, deutschen Identität und Geschichte“ zu arbeiten. Dabei ging es nicht um das vollkommene Ausmerzen des „Jüdischen“ von der „deutschen“ Geschichtsschreibung, sondern vielmehr um eine gezielte „Inbesitznahme der jüdischen Geschichte für die eigenen, volksdeutschen Zwecke […] bei gleichzeitiger Ermordung ihrer Träger“.38 Der Genozid sollte also paradoxerweise mit dem Gedenken an die Ermordeten als besiegter Erbfeind des „deutschen Volks“ einhergehen: Schließlich sollte das Judentum „musealisiert“ werden, um „als Argument und daher als historisches Faktum“ herhalten zu können.39 Selbstverständlich schmälert dies nicht den tatsächlichen „Mnemozid“ der Shoah: den millionenfachen Mord an Gemeinschaften, Familien und Einzelpersonen, denen nicht nur ein Leben verweigert wurde, sondern auch ein Begräbnis, eine persönliche Erinnerung, oftmals sogar ein Name. Doch auf einer strukturellen, kulturellen Ebene weist der vielschichtige Umgang mit Orten der jüdischen Erinnerung während der Shoah, von verschiedenen AkteurInnen mit ebenso verschiedenen Absichten ausgehend, auf einen tiefgreifenden Versuch einer umfassenden kulturellen Umwälzung, wodurch das „Jüdische“ aus der europäischen Kultur zwar essenzialisiert ausgegrenzt werden sollte, um eine neue „deutsche“ Kultur entstehen zu lassen, das „Jüdische“ aber als ideeller 37 Mattl, Siegfried/Pirhofer, Gottfried/Gangelmayer, Franz: Wien in der nationalsozialistischen Ordnung des Raums. Lücken in der Wien-Erzählung, Wien 2018, S. 9–10, 51, 180. 38 Rupnow: Aporien des Gedenkens, S. 24, 26, 28. 39 Rupnow, Dirk: Judenforschung im Dritten Reich. Wissenschaft zwischen Politik, Propaganda und Ideologie, Wien 2011, S. 19.
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Gegensatz zum „Deutschen“ weiterhin selektiv erhalten werden musste. Gerade in Wien, in der österreichischen Hauptstadt, ehemalige Residenz der Habsburger und vor der Shoah eine der größten jüdischen Metropolen Europas, und gerade im Umgang mit den Wiener jüdischen Friedhöfen tritt diese komplexe Dynamik der Bewahrung und Vernichtung deutlich ans Tageslicht. Deshalb spielte die Wissenschaft eine zentrale Rolle, sowohl in der Kulturals auch in der Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus. Vor allem jene WissenschaftlerInnen, die sich bereits vor dem Umbruch – 1933 in Deutschland und 1938 in Österreich – durch ihren Antisemitismus ausgezeichnet hatten, wurden danach zu „Profiteuren der Vernichtungspolitik“. In diesem Zusammenhang verwies Rupnow beispielhaft auf die große Anzahl von Dissertationen, die im Zeitraum 1938 bis 1945 an der Universität Wien zu „jüdischen“ Themen verfasst wurden, von denen sich viele der herausragenden Rolle Wiens im Umgang mit der „Judenfrage“ im „Dritten Reich“ widmeten. Dies zog auch eine weitgehende „Arisierung“ des wissenschaftlichen Umfelds mit sich, sowohl in spezifischem Bezug auf den Raub von Archiv- und Bibliotheksbeständen, wie im ideologischen Sinne auf dem Feld der Historiographie, die sich weiterhin der Forschungen jüdischer WissenschaftlerInnen bediente, für die NS-Ideologie aber zweckentfremdete.40 Die Aus- bzw. Nachwirkung dieser antisemitischen „Judenforschung“ auf das Forschungsfeld der „Judaistik“ bzw. der jüdischen Studien nach 1945 ist bis heute noch ein Streitpunkt.41 Es wäre aber ein Fehler, wie Rupnow weiter mahnte, diese Forschung, die zwar zutiefst zynisch war und durchaus propagandistischen Zwecken diente, dennoch einfach als „Pseudowissenschaft“ abzutun: Breite Teile der unter dem Nationalsozialismus tätigen WissenschaftlerInnen und Forschungseinrichtungen, gerade auch in Wien, waren tief in die rassistische NS-Ideologie sowie zum Teil in den NS-Vernichtungsapparat verstrickt, und wenngleich ein gewisser Grad an Opportunismus hier eine Rolle spielte, so waren viele der Beteiligten zutiefst von ihren Forschungsansätzen überzeugt.42 Wissenschaft war und ist eben alles andere als „objektiv“ oder frei von Wertungen, geschweige denn rassistischen Weltanschauungen.
40 Rupnow: Judenforschung im Dritten Reich, S. 313, 316–317, 156–159. 41 Vgl. hierzu die Expertendiskussion in „Keine Disziplin“ an dieser Universität. Wissenschaft des Judentums, Jüdische Studien und Judaistik. Ein Gespräch mit Klaus Davidowicz, Susanne Plietzsch, Dirk Rupnow und Julius H. Schoeps, in: Hanak-Lettner, Werner (Hg.): Die Universität. Eine Kampfzone, Wien 2016, S. 197–208. 42 Rupnow: Aporien des Gedenkens, S. 71, 81. Vgl. spezifisch in Bezug auf die Anthropologie Gingrich, Andre: The German-Speaking Countries, in: Barth, Fredrick/Gingrich, Andre/Parkin, Robert/Silverman, Sydel (Hg.): One Discipline, Four Ways. British, German, French and American Anthropology, Chicago 2005.
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Auch die Rolle der Politik und der Behörden in Wien unter dem Nationalsozialismus zeigt ein komplexes Geflecht von lokalen und externen Einflüssen sowie Opportunismus und Radikalismus auf, wobei auch hier starke Kontinuitäten vor und nach dem Nationalsozialismus evident werden. Wie der Historiker Gerhard Botz zeigte, stellte die NS-Herrschaft in Wien ein grob dreigliedriges Machtsystem dar, bestehend erstens aus den österreichischen sogenannten „illegalen Nazis“, die bereits vor 1938 der NSDAP beitraten und somit als „waschechte“ ideologische NationalsozialistInnen galten, zweitens aus den deutschen NationalsozialistInnen und der deutschen NS-Bürokratie, die nach Österreich importiert wurden, und drittens aus der österreichischen Zivilbevölkerung, von denen viele nach dem „Anschluß“ der NSDAP beitraten und somit mindestens als „opportunistische“ NationalsozialistInnen galten. Botz betonte hiermit, dass die Entwicklung der NS-Zeit in Österreich sowohl von außen, also von Deutschland, stammte, wie von durchaus lokalen Impulsen unter der lokalen österreichischen Bevölkerung, die nach wie vor größtenteils die lokale Bürokratie besetzte.43 Der Begriff „Opportunismus“ sollte hier übrigens keineswegs als entlastend oder als Symptom mangelndem ideologischen Eifer verstanden werden, im Gegenteil: Der rechtliche Freiraum, der durch das NS-System in Bezug auf die „Judenpolitik“ eröffnet wurde, ermöglichte geradewegs die Umsetzung politischer und ideologischer Programme sowie die Austragung antisemitischer Gewaltbereitschaft, die zuvor nicht denkbar gewesen wäre, wie die Pogromzustände und der große Raubzug der „Arisierung“ nach dem „Anschluß“, ein Wiener Spezifikum in der NS-Geschichte Deutschlands und Österreichs, charakteristisch zur Schau stellte. Das Geflecht von fremden (deutschen) und lokalen (österreichischen) AkteurInnen, von radikalen wie opportunistischen Impulsen, die in der NS-Zeit in Österreich wirkten und maßgeblich in die Kultur und Gesellschaft der Hauptstadt eingriffen, tritt paradigmatisch im Umgang mit den Wiener jüdischen Friedhöfen ans Tageslicht, wie es die HistorikerInnen Elizabeth Anthony und Dirk Rupnow in Bezug auf die Geschichte des Friedhofs in der Seegasse Anfang der 1940er-Jahre betonten: So war es „ein Geflecht sich überkreuzender, teilweise kollidierender Interessen und Ansprüche […], die den Umgang mit jüdischem Besitz und Objekten jüdischer Kultur während der NS-Zeit bestimmten“, und nicht eine einheitliche Machtstruktur mit einer einheitlichen Ideologie.44 Die augenscheinliche Pluralität ihrer Interessen und Ansprüche erklärt auch wieder, wieso die Impulse der NS-AkteurInnen keineswegs nur in 43 Botz: Nationalsozialismus in Wien, S. 11. 44 Anthony, Elizabeth/Rupnow, Dirk: Wien IX, Seegasse 9. Ein österreichisch-jüdischer Geschichtsort, in: Tobias, Jim/Zinke, Peter (Hg.): Beiträge zur deutschen und jüdischen Geschichte, Bd. 5, Nürnberg 2010, S. 11.
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Richtung der vollkommenen Vernichtung der jüdischen Friedhöfe tendierten, sondern mitunter auch ihre selektive Erhaltung aufgrund einer sonderbaren Wahrnehmung der „Historizität“ von jüdischem Kulturgut anstrebten. Die Rolle der Wiener Kultusgemeinde in diesem Kontext als „Prototyp der jüdischen Verwaltung unter nationalsozialistischer Kontrolle“, wie sie die Historikerin Helga Embacher jüngst beschrieb, ist bereits hinlänglich in der Historiographie aufgearbeitet worden.45 Durch die Bestrebungen Adolf Eichmanns, der als rangtiefer SS-Offizier mit dem „Anschluß“ nach Österreich zurückkehrte und sich in Wien zu einem der maßgeblichen Architekten der Shoah herausbildete, wurde die Kultusgemeinde noch jahrelang als öffentlich-rechtliche Körperschaft aufrechterhalten, während Eichmann gleichzeitig auf die Auflösung aller anderen Kultusgemeinden in der „Ostmark“ und ihre Einverleibung in die Wiener Kultusgemeinde drängte, nicht zuletzt, um dadurch die zentrale Kontrolle über die „Judenpolitik“ in Wien an sich zu reißen.46 Der Schriftsteller und Historiker Doron Rabinovici nannte die Kultusgemeinde unter der NS-Herrschaft folglich eine „Instanz der Ohnmacht“, eine oxymoronische Anspielung auf den Zwang unter der die Organisation stand, ihre Verwaltungstätigkeit ohne jede Entscheidungsmacht ausführen zu müssen, um somit den Willen der NS-Herrschaft auszuführen.47 Nichtsdestotrotz fand die kleine Führungsschicht der Kultusgemeinde rund um ihren von den NationalsozialistInnen zwangseingesetzten Amtsdirektor Josef Löwenherz und, gerade im Zusammenhang der Friedhöfe wichtig, den Friedhofsamtsdirektor Ernst Feldsberg immer wieder Strategien, um ihre Interessen zu schützen bzw. sich sogar in manchen Fällen der Vernichtungswut der NationalsozialistInnen zu widersetzen. Es mag überraschen, welche Maßnahmen die rasch schwindende Gemeinschaft ergreifen konnte, um neben ihrem Kampf um das nackte Überleben im Zuge eines Genozids gleichzeitig für die Erhaltung der „Grabstätten ihrer Väter“ zu sorgen. Wie der Historiker Herbert Rosenkranz prägnant feststellte: „Im Auflösungsprozeß der Gemeinde kreist das Pietätsgefühl um so stärker um den ‚guten Ort‘“, den Friedhof.48 45 Embacher, Helga: Viennese Jewish Functionaries on Trial. Accusations, Defense Strategies, and Hidden Agendas, in: Jockusch, Laura/Finder, Gabriel (Hg.): Jewish Honor Courts. Revenge, Retribution, and Reconciliation in Europe and Israel after the Holocaust, Detroit 2015, S. 165. Vgl. das bereits zitierte Standardwerk zu diesem Thema von Rabinovici: Instanzen der Ohnmacht. 46 Vgl. An den Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich, 4. Dezember 1939; Verfügung, 7. Dezember 1939 und An alle Herren Landeshauptmänner und an die Staatliche Verwaltung des Reichsgaues Wien, Referat I/6, o. D., DÖW, 09887 sowie Hecht/Lappin-Eppel/Raggam-Blesch: Topographie der Shoah, S. 132. 47 Rabinovici: Instanzen der Ohnmacht, S. 35–36. 48 Rosenkranz: Verfolgung und Selbstbehauptung, S. 202.
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Der Rechtsanwalt Raphael Lemkin, der noch während dem Zweiten Weltkrieg den Begriff des „Genozid“ prägte und daraufhin bei den Vereinten Nationen an der Ausformulierung der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes mitarbeitete, unterschied dieses neu zu definierende Verbrechen vom damit verwandten Verbrechen des Massenmords gerade durch den im ersteren Fall vorherrschenden Aspekt der Vernichtung der Kultur – eine originelle Überlegung, die auf der spezifischen jüdischen Erfahrung des kürzlich zuvor begangenen Holocausts beruhte.49 Der ursprüngliche Entwurf der Konvention sah vorerst also neben dem „physischen“ und „biologischen“ Genozid die Einbeziehung der Kategorie des „kulturellen Genozids“ vor, zu dessen Merkmale die „Deportation von Kulturträgern einer Gemeinschaft, Verbot der Nationalsprache, systematische Vernichtung von Büchern, historischen oder religiösen Denkmälern und Dokumenten oder deren Zweckentfremdung“ zählten.50 Lemkins Konzept des „kulturellen Genozids“ erwies sich schließlich als zu komplex für eine wirkungsvolle Umsetzung, und es wurde somit aus der Endfassung der Konvention weggelassen. Dennoch findet der Begriff eine breite Anwendung in der Forschung zur Shoah sowie zu ähnlichen Fällen des Genozids im vergangenen Jahrhundert. Der Politikwissenschaftler Martin Coward prägte den noch engeren Begriff des „Urbizids“, um den spezifisch stadttopographischen Aspekt des kulturellen Genozids zu erfassen – ein grundlegender Aspekt, wie Coward ausführlich anhand des Bosnienkriegs in den 1990er-Jahren aufzeigte. Hier „wurden die materiellen Spuren einer multiethnischen Geschichte weggeräumt, anstelle dessen grüne Felder, oder Parkplätze, entstanden“. Angriffe auf den urbanen Räumen einer Gemeinschaft dienten schon immer in der Menschheitsgeschichte im Kontext von zwischengemeinschaftlichen Konflikten der nachhaltigen Vernichtung der Zugehörigkeit der Zielgruppe zum gemeinsamen geographischen wie kulturellen Raum sowie umgekehrt zur Homogenisierung ebendieses Raumes, so beispielsweise die Zerstörung der Synagogen in den Novemberpogromen als demonstratives Löschen der Zugehörigkeit der jüdischen Bevölkerung aus dem deutschsprachigen Raum. Signifikanterweise lässt sich der „Urbizid“ aber nicht nur im Kontext des eindeutigen Genozids oder gar des Kriegs erörtern, wie Coward anhand zweier Beispiele aus New York zeigte: einerseits in den Anschlägen auf das World Trade Center 2001, andererseits in der Demolierung ganzer Stadtbezirke zum Bau der 49 Vgl. Moses, Dirk: Raphael Lemkin, Culture, and the Concept of Genocide, in: Bloxham, Donald/Moses, Dirk (Hg.): The Oxford Handbook of Genocide Studies, Oxford 2010. 50 Zit. nach Rupnow: Vernichten und Erinnern, S. 54–55. Vgl. Artikel I.II.3 im Originaltext des Entwurfs: Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, First Draft, [May] 1947, http://www.preventgenocide.org/law/convention/drafts/, letzter Zugriff: 31. August 2020.
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Expressways inmitten des 20. Jahrhunderts. Gerade im zweiten Fall zeigt sich eine banale Seite des „Urbizids“, der zumeist in Friedenszeiten im offiziellen Rahmen von lokalen Stadtplanungsbehörden ausgeht, und gerade in diesem eher banalen Fall warnte Coward auch davor, unreflektiert den Begriff des „kulturellen Erbes“ in das Gespräch einzuführen: Denn gerade das kulturelle Erbe (oder der vermeintliche Mangel dessen) hält oftmals als Argument her, wodurch stadttopographische Vernichtungsaktionen, ob in Frieden oder Krieg, erst legitimiert werden – vergleichbar mit der Vorstellung der vermeintlichen „Historizität“ von urbanen Räumen.51 Auch diese Dynamik des „Urbizids“ – zwischen dem genozidalen Vernichtungsimpuls der Kriegszeit und dem banalen Vernichtungsimpuls der Friedenszeit – zeigt sich im Umgang mit den Wiener jüdischen Friedhöfen vom 19. bis ins 20. Jahrhundert, wodurch auch teils überraschende Kontinuitäten in der NS-Zeit und darüber hinweg deutlich werden. Der Publizist Robert Bevan widmete bereits einige Jahre vor Coward einen Band zur Rolle der „Vernichtung der Erinnerung“ in räumlichen Kontexten in Kriegszeiten, die er als zentralen Bestandteil von Krieg und Genozid verstand, ob als „Kollateralschaden“ oder als kalkuliertes Mittel, eine bestimmte soziokulturelle Gruppe „zu dominieren, zu terrorisieren, zu spalten oder auszulöschen“. Die „Ausradierung von Erinnerungen, Geschichten und Identität“ im Raum dient schließlich „dem Umschreiben der Geschichte“. So verstand auch Bevan die Zerstörung der Synagogen in den Novemberpogromen als „proto-genozidal“, da die Ausmerzung des „Jüdischen“ aus den Stadttopographien im „Dritten Reich“ auf die Ausrottung der jüdischen Bevölkerung aus dem „Volkskörper“ und schließlich aus der gesamten „deutschen“ Geschichtsschreibung abzielte: Der kulturelle Genozid führt demnach fast zwangsweise zum körperlichen Genozid. Anhand verschiedener Beispiele wie den beiden Weltkriegen oder der Jugoslawienkriege zeigte Bevan zudem, wie in diesem Prozess der kulturellen Vernichtung oft Diskurse von westlich/östlich, lateinisch/germanisch bzw. europäisch/asiatisch in der Feststellung der eigenen zivilisatorischen Überlegenheit eine maßgebliche Rolle spielten, die wiederum als Legitimierung der Vernichtung des „Anderen“ dienten – wie auch im Diskurs des „Antisemitismus“ ersichtlich wird, der die Judenheit als „semitisches“ bzw. „asiatisches“ Volk abstempelt. Dieses Argumentationsmuster wird konkret in den Diskussionen der NS-Stadtplaner in Bezug auf die Wiener jüdischen Friedhöfe ersichtlich. Bevan verwies in seinem Werk übrigens auch auf die selektive Erhaltung von polnischem Kulturgut während der deutschen Besatzung Polens, das als „germanisch“ umgedeutet und somit sozusagen „arisiert“ 51 Alle Zitate in der Reihenfolge ihrer Nennung: Coward, Martin: Urbicide. The Politics of Urban Destruction, London 2009, S. 8, 12, 10, 26, 28.
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werden sollte.52 Ohne die einzigartige Dynamik der Shoah zu relativieren, da die jüdische Bevölkerung Europas wie keine andere in der NS-Ideologie eine zentrale Rolle als „Erbfeind“ zugeschrieben bekam und für die komplette Ausrottung bestimmt war, muss hier wieder betont werden, dass die Shoah eben einen Aspekt einer angestrebten eugenischen „Erneuerung“ des „Deutschtums“ ausmachte, wie der Historiker Steven Aschheim zusammenfasste, die den „Massenmord von vielen Demographien“ im besetzten Europa voraussetzte.53 Einer umfassenden Studie des Historikers Andreas Wirsching zufolge stellen die jüdischen Friedhöfe in den Gebieten des „Dritten Reichs“, vor allem im Vergleich zu ihren Gegenübern im besetzten Osten Europas, eine Besonderheit in der Geschichte des NS-Kulturgenozids dar, da sie weitgehend die Shoah überdauerten. Alleine auf dem Gebiet der späteren westdeutschen Bundesrepublik befanden sich nach 1945 noch etwa 1.700 mehr oder weniger erhaltene jüdische Friedhöfe. Dieser womöglich überraschende Befund erklärt sich zuerst aus dem „geltende[n] Verwaltungsrecht“ in Deutschland bezüglich der Friedhofsauflassung, das unter dem Nationalsozialismus auch in Bezug auf die Auflassung von jüdischen Friedhöfen befolgt wurde: Demnach konnten Friedhöfe erst nach Einhaltung einer gesetzlichen Ruhefrist aufgelassen werden, die meist auf zehn und bis zu vierzig Jahre nach der letzten Bestattung angelegt war. Dies steht im deutlichen Gegensatz zur schonungslosen, im Wesen anarchischen Vernichtungswut, die in den annektierten Gebieten östlich von Deutschland herrschte.54 So wurde, um nur ein Beispiel von tausenden hervorzuheben, am Rande des besetzten Krakau das Konzentrationslager Płaszów – unter Leitung des in Wien geborenen Österreichers Amon Göth – auf dem Areal zweier jüdischer Friedhöfe errichtet, von denen die Aufbahrungshalle abgerissen und die Grabsteine als Pflastersteine zweckentfremdet wurden. Somit wurden nicht nur Friedhöfe entweiht und Grabstätten geschändet, sondern auch die größtenteils jüdischen Häftlinge gezwungen, an dieser Entweihung teilzunehmen und in ritueller Unreinheit auf den ehemaligen Friedhofsgeländen zu leben und Zwangsarbeit zu verrichten.55 Ein entsetzliches Beispiel der Entwendung jüdischer Grabsteine findet sich in Thessaloniki in Griechenland, wo während 52 Alle Zitate in der Reihenfolge ihrer Nennung: Bevan, Robert: The Destruction of Memory. Architecture at War, London 2006, S. 8, 88, 96. Wohlgemerkt enthält dieses Werk, das während des Zweiten Irakkriegs und der Zweiten Intifada veröffentlicht wurde, recht parteiische Meinungsäußerungen zu den USA wie zu Israel, die ich nicht teile. 53 Aschheim: In Times of Crisis, S. 153. 54 Wirsching, Andreas: Jüdische Friedhöfe in Deutschland 1933–1957, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 50/1 (2002), S. 1–2. 55 Vgl. hierzu die Originalphotographien im Katalogteil Antisemitismus. Verfolgung und Vernichtung der Juden Wiens, in: Albrecht-Weinberger, Karl/Heimann-Jelinek, Felicitas (Hg.): Judentum in Wien. „Heilige Gemeinde Wien“ – Sammlung Max Berger, Wien 1988, S. 223–226.
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der deutschen Besatzung – unter Leitung des Österreichers Alois Brunner – die Grabsteine des alten jüdischen Friedhofs nicht nur als Baumaterial verwendet wurden, sondern zum Teil auch geschliffen und mit NS-Insignien verziert als Grabsteine für gefallene Wehrmachtsoldaten wiederverwendet wurden.56 Im Gegensatz zu diesem gewaltigen Vernichtungsdrang, der sich später schlagartig in den besetzten Gebieten entfachte, sollte es innerhalb des „Dritten Reichs“ erst infolge der Novemberpogrome und der Eskalation von koordinierten antijüdischen Maßnahmen, die schließlich im Genozid münden sollten, Versuche geben, ebensolche koordinierten Maßnahmen in Bezug auf die jüdischen Friedhöfe zu treffen. Hätte das NS-Regime länger als zwölf bzw. in Österreich sieben Jahre überdauert, hätten diese Maßnahmen zweifellos zur Folge gehabt, dass diese historischen jüdischen Räume zur Gänze aus der Landschaft verschwunden wären. Doch das heißt nicht, es kann nicht oft genug betont werden, dass die NS-Politik rein auf eine vollkommene Vernichtung der jüdischen Kultur in Europa zielte, im Gegenteil: Wie insbesondere die Schicksale der älteren Friedhöfe in der Seegasse und Währing zeigen, sollte das kulturelle und materielle Erbe – spezifisch die Grabsteine, ihre Inschriften und die darunter bestatteten Leichenreste – dieser auch von vielen überzeugten NationalsozialistInnen als historisch wertvoll betrachteten Orte dokumentiert und selektiv bewahrt werden. Die jeweiligen Versuche, das materielle jüdische Erbe Wiens zu enteignen, zu vernichten oder selektiv zu bewahren, zeigen nicht zuletzt tiefgreifende Kontinuitäten mit Praktiken auf, die sich schon lange vor und noch bis nach der Shoah erstreckten. Immer wieder gelang es der Kultusgemeinde, besonders im Falle des Währinger Friedhofs, zu intervenieren und wenigstens in kleinen Ansätzen bestimmten Schändungen und Zerstörungsmaßnahmen entgegenzutreten. Ihre Motivation war nicht nur religiöser Natur, um die sterblichen Überreste ihrer verstorbenen Mitglieder zu bewahren, sondern auch, um die Leichen und in einigen Fällen auch die Grabdenkmäler besonderer Persönlichkeiten aus der Geschichte der Kultusgemeinde zu retten. Diese Initiativen bieten auch eine Einsicht in die Wertungen der Kultusgemeinde inmitten des 20. Jahrhunderts in Bezug auf ihre eigene Geschichte und Kultur und was sie als erhaltenswürdig betrachtete – wenngleich unter enormen Druck und im Wissen, dass nur das wenigste gerettet werden konnte. Doch um diese erschütternde Dynamik von Vernichtung und Bewahrung während der Shoah richtig zu verorten, müssen wir uns erst zurück in die Mitte des 19. Jahrhunderts begeben, zu den Anfängen der wissenschaftlichen Erforschung und stadttopographischen Wertung der Wiener jüdischen Friedhöfe. 56 Vgl. Text und Photos in Haspel, Jörg: Das Erbe der jüdischen Sepulkralkultur in Berlin, in: ICOMOS Deutschland und Landesdenkmalamt Berlin (Hg.): Jüdische Friedhöfe und Bestattungskultur in Europa, S. 187.
Rezeption und Stellenwert der Wiener jüdischen Friedhöfe
7.2
Rezeption und Stellenwert der Wiener jüdischen Friedhöfe in der wissenschaftlichen und stadttopographischen Literatur vor der Shoah
Wie oben skizziert, besteht heute noch in der Geschichtsschreibung die weit verbreitete Annahme, die Wiener jüdischen Friedhöfe – wie die Wiener jüdische Geschichte überhaupt – seien in der Zeit vor der Shoah grundsätzlich nicht auf das Interesse der nichtjüdischen Öffentlichkeit, auch nicht der Wissenschaft, gestoßen. Im Folgenden wird hingegen nicht nur die breite und überwiegend positive Rezeption der Friedhöfe in der allgemeinen, also nicht ausschließlich „jüdischen“ Wissenschaft vor der Shoah aufgezeigt, sondern vielmehr die zentrale Rolle, die viele nichtjüdische Schriftsteller und Wissenschaftler (in diesem Zusammenhang durchwegs Männer) sowie allgemeine Institutionen in der Erforschung und Wertung der jüdischen Friedhöfe spielten.57 Diesem wird anhand von drei Quellengattungen nachgespürt: die ab den 1840er-Jahren heranwachsende Historiographie zu Jüdinnen und Juden in Wien, in der Friedhöfe von Anfang an eine zentrale Rolle spielten; in der allgemeinen deutschsprachigen Friedhofsliteratur des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, in der gerade der historische Friedhof in der Seegasse oft als Musterbeispiel eines ästhetisch beeindruckenden und harmonischen Bestattungsraums vorgeführt wurde; und in frühen Reiseführern zu Wien, vor allem zu Bestattungsräumen, die die jüdische Geschichte und Sepulkralkultur zumeist offen und auffällig positiv mit einbezogen. Eine allgemeine, zum Teil populäre Historiographie entstand in der Hauptund Residenzstadt Wien bereits ab dem frühen 19. Jahrhundert. Innerhalb der schwindend kleinen jüdischen Gemeinschaft, die vor 1848 in Wien lebte, der es noch verboten war, eine formelle Gemeindeorganisation zu gründen, „vermochten die eifrigsten Sammler“, so der Kultusgemeindefunktionär Israel Jeiteles 1873, anfangs „nur ‚Geschichten‘ über sie [die Wiener Judenheit] zusammen zu tragen, nicht aber ein für eine pragmatische Geschichte der Judengemeinde in Wien ausreichendes Material“.58 Aus dieser Gegebenheit ergab sich die verhältnismäßig frühe Initiative, ein eigenes jüdisches Archiv anzulegen, das in Einklang mit – zugleich aber eigentlich in Widerspruch zu – der Etablierung einer formellen Gemeindeorganisation deren „Historizität“ untermauern sollte. Als offizielles Gründungsjahr des Archivs der Wiener Kultusgemeinde wird
57 Vgl. zum Themenkomplex einer „allgemeinen“ und einer „jüdischen“ Geschichtsschreibung jüngst Hödl, Klaus: „Jewish History“ as Part of „General History“. A Comment, in: Medaon. Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung 12/22 (2018). 58 Jeiteles: Die Kultusgemeinde, S. 5–6.
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1816 genannt. Dies bezieht sich auf einen Vertreterbeschluss – das „Vertretertum“ war, wie hier in Kapitel 4 angeführt, die Vorgängerinstitution des späteren Kultusvorstands – vom 30. Juni 1816, einen „Aktuar (Schreiber/Sekretär)“ zu ernennen, dessen Aufgabe es sein sollte, Material bezüglich der „hiesigen Israeliten“ zu sammeln und aufzubewahren. Innerhalb von zwei Jahren wurde dann auch eine Gemeindebibliothek gegründet. Es sollte aber noch Jahrzehnte dauern, bis von einem eigentlichen „Archiv“ die Rede sein konnte. So dürfte laut der heutigen Archivleiterin Susanne Uslu-Pauer im Jahre 1827, als erstmals eine Verordnung bezüglich der Registratur der Materialen erlassen wurde, der gesamte Bestand „in einem einzigen Schrank Platz gehabt haben“. Zu den Leitern des Archivs zählten über die Jahre renommierte Persönlichkeiten des jüdischen Gemeindelebens, die auch maßgeblich die Historiographie der Kultusgemeinde prägen sollten, so beispielsweise in der Mitte des 19. Jahrhunderts der Schriftsteller und Kultusgemeindesekretär Ludwig August Frankl. Dank seiner Bemühungen erhielt die Sammlung erstmals in den 1840er-Jahren einen „Archivcharakter“. Frankl sollte, wie unten besprochen wird, auch das erste historiographische Werk zu einem Wiener jüdischen Friedhof verfassen. Im frühen 20. Jahrhundert, als die Gemeinde mit dem „Israelitengesetz“ rechtlich fest verankert und durch die Bevölkerungsexplosion der vergangenen Jahrzehnte zu einer der größten jüdischen Gemeinden weltweit herangewachsen war, strebte der damalige Archivleiter Sigmund Husserl die Gründung eines Zentralarchivs aller österreichischen (im zisleithanischen Sinne) Kultusgemeinden an, also eine umfassende Sammlung der „österreichischen“ Judenheiten Zentraleuropas. Ein solches Zentralarchiv hätte vermutlich zu einer nachhaltigen Festigung des kulturellen Selbstbewusstseins dieser weitgehend deutschsprachigen Judenheiten außerhalb des Deutschen Reiches geführt; es kam allerdings nie zustande. Das Wiener Archiv aber erlebte zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Hochkonjunktur, als durch die Aktivitäten der kürzlich zuvor gegründeten „Historischen Kommission“ der Kultusgemeinde die Bestände der allgemeinen Archive der Haupt- und Residenzstadt für Material betreffend der Geschichte der Wiener Judenheit durchforstet wurden.59 Einen Einblick in die Prominenz der Gemeindebibliothek als öffentliche Forschungsanlaufstelle vermittelt die Statistik, dass zwischen 1932 und 1935 insgesamt 90.077 Bücher an 36.588 BesucherInnen ausgeliehen wurden – das waren im Schnitt grob 60 Bücher und 25 BesucherInnen pro Tag.60 59 Uslu-Pauer, Susanne (gemeinsam mit MitarbeiterInnen des Archivs der IKG Wien): Das Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Wien. Jüdisches kulturelles Erbe zwischen Vergangenheit und Zukunft, in: Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Jüdische Archivalien. Die Wiege des österreichischen und europäischen Judentums, Wien 2016, S. 14–15. 60 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Bericht [1936], o. S., Abschnitt „Bibliothek und Archiv“.
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Zusammengefasst wuchs Wien im Zeitraum vom frühen 19. bis ins frühe 20. Jahrhundert als wesentliches Zentrum der Produktion einer jüdischen Historiographie heran, wie aus einer Fülle von Werken ersichtlich wird, die sich bereits von den 1840er- bis in die 1930er-Jahre erstrecken. Beachtlicherweise stammte die erste selbstständige Geschichte der Jüdinnen und Juden in Wien nicht von einem jüdischen Historiker, sondern von Gerhard Robert Walter von Coeckelberghe-Dützele, einen kleinadeligen flämisch-österreichischen Schriftsteller, der sein Werk Die Juden und die Judenstadt in Wien 1846 unter dem Pseudonym „Realis“ veröffentlichte. Das „merkwürdige Volk“ der Jüdinnen und Juden, von denen damals „eine halbe Million“ im „österreichischen Kaiserthume“ lebten, verdienten „Realis“ zufolge schon deshalb eine solche „Rückerinnerung“, wie er seine Betrachtungen bezeichnete, weil Europa „seine moralisch-religiöse Bildung größtentheils den Juden verdankt“ – nämlich die Fundamente der christlichen Religion.61 Noch kurz vor den ersten Publikationen von jüdischen Historikern findet sich hier also ein Beispiel nicht nur der Auseinandersetzung mit der jüdischen Geschichte seitens eines nichtjüdischen Schriftstellers, sondern dazu noch eine ausgesprochen positive, ja sogar apologetische Einstellung zur Verbundenheit der jüdischen mit der europäischen Kultur, zu einer Zeit, als die Judenheiten der Habsburgermonarchie noch nicht einmal emanzipiert waren. Auf dieses Werk ging auch die hier in Kapitel 3 besprochene, höchstwahrscheinlich falsche Einschätzung zurück, es hätte zur Zeit des „Ghettos“ im Unteren Werd einen Friedhof „auf der Haide“ gegeben. Gleich im Jahre darauf veröffentlichte der Schriftsteller und Gemeindearchivar Ludwig August Frankl seine Geschichte zum alten „Judenfreithof “ in der Seegasse, woran die vordergründige, sinnstiftende Rolle des alten Friedhofs als materielles Zeugnis der jahrhundertelangen Kontinuität in der ansonsten äußerst brüchigen jüdischen Geschichte Wiens deutlich wird, die sie in der Historiographie der folgenden Jahre und Jahrzehnte immer wieder spielen sollte. Zu Beginn seiner Abhandlung zitierte Frankl den britischen Dichter Lord Byron in deutscher Übersetzung: „Die Taube hat ihr Nest, der Fuchs die Kluft, der Mensch die Heimat, Juda – nur die Gruft!“62 Neben diesem Zitat, das auf die wechselseitige Bezugnahme jüdischer und nichtjüdischer Kulturen schon zu dieser Zeit verwies – also Byrons Bezug auf eine verklärte jüdische Kultur und Frankls Bezug wiederum auf Byron – wurde in der erweiterten Ausgabe 1853 die Neuauflage den „Vertretern der israel. Kultusgemeinde in Wien“ gewidmet, wodurch die enge Verbindung der neuen jüdischen Historiographie, die Frankl hier initiierte, mit dem Entstehen des jüdischen Gemeindewesens betont wurde, das im Jahr zuvor ein provisorisches Statut verabschiedet hatte. 61 Coeckelberghe-Dützele: Die Juden und die Judenstadt in Wien, S. 3–5. 62 Frankl: Zur Geschichte der Juden in Wien 1. Der alte Judenfreithof, S. 2.
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Den Friedhof beschrieb Frankl hier allegorisch und zugleich ästhetisch, tonangebend für die Weise, auf die der Friedhof in den darauffolgenden Jahrzehnten wiederholt rezipiert werden sollte: Ich schlage eine wunderliche Chronik auf – siebenhundert einzelne Blätter mit vermoderten Schriftzeichen, mit meist verschollenen Namen, mit Jahreszahlen und Sprüchen, die über Leben und Vernichtung, über Hoffnung und Ewigkeit [sic, kein Beistrich] von Liebe und Trauer sprechen. [… E]s sind die versinkenden Leichensteine des alten Judenfriedhofes in Wien.
Der Friedhof sei seinerzeit allseits, auch seitens der jüdischen Bevölkerung, vergessen worden, behauptete Frankl, der sich hier als „Urenkel“ (wohl um viele Generationen entfernt) der „Kopel Frankl’schen Erben“ auswies, die Söhne Jakob Koppel Fränkls, die 1670 den Erhalt des Friedhofs seitens des Magistrats der Stadt Wien bewirkten. Nur die Rekonvaleszenten des daneben gelegenen jüdischen Spitals schenkten zu Frankls Zeiten noch dem alten Bestattungsraum, in dem sie die Sommertage verbrachten, Aufmerksamkeit. 1844 förderten dann aber die „Vertreter“ der Wiener Judenheit nach Anregung des „Spitalvaters“ Abraham Herrman eine erste Instandsetzung des Friedhofs. Es wurden zudem die Inschriften der 701 damals aufgefundenen Steine, die Frankl aufgrund ihrer Knappheit und der vielen Abkürzungen als „Beispiel[e] des hebräischen Lapidarstils“ beschrieb, vom Hebraisten Maximilian Emanuel Stern transkribiert und im Archiv der Kultusgemeinde aufbewahrt. Von diesen reproduzierte Frankl hier fünfzehn Beispiele in deutscher Übersetzung, ein frühes Beispiel der Dokumentation und Vermittlung, wenn noch nicht wirklich der wissenschaftlichen Auswertung der jüdischen Sepulkralepigraphik.63 Die nächste Erwähnung des Friedhofs in der Forschungsliteratur folgte bereits 1859 in einer Topographie der Roßau des nichtjüdischen Wiener Heimatforschers Carl Hofbauer – der heute als „Rossau“ bekannte Teil des 9. Bezirks wird übrigens erst seit 1999 amtlich mit Doppel-S geschrieben. Diese Schreibweise wurde aber auch aus typographischen Gründen schon in frühen Werken wie ebendiesem angewandt. Hofbauer beschrieb hier offen und teilnahmsvoll – erst sieben Jahre noch der provisorischen Konstituierung der Kultusgemeinde und noch acht Jahre vor der allgemeinen Emanzipation in Zisleithanien – die verhängnisvolle jüdische Geschichte der Stadt und verknüpfte diese mit der Geschichte des in der Seegasse gelegenen jüdischen Friedhofs.64 Dies gilt nicht bloß als weiteres Beispiel der positiven Rezeption der jüdischen Geschichte Wiens – inklusive deren jüdischen Friedhöfe, allen voran dem in der Seegasse – 63 Alle Zitate in der Reihenfolge ihrer Nennung: Frankl, Ludwig August: Zur Geschichte der Juden in Wien, Wien 1853, S. iii, 1, 8, 19, 20–30. 64 Hofbauer: Die Rossau, S. 108–109.
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seitens nichtjüdischer Forscher im 19. Jahrhundert. Das Werk Hofbauers ahnte auch schon die Feststellung des jüdischen Historikers Gerson Wolf in einem seiner historiographischen Werke aus den 1860er-Jahren, die Hochphase seines eigenen Wirkens, voraus, dass der „erfreuliche Aufschwung der politischen Verhältnisse der Juden“ zu dieser Zeit „nicht ohne Einfluß auf die jüdische Geschichtsschreibung bleiben“ würde.65 Anlässlich der Eröffnung des neuen Friedhofs beim I. Tor und der Schließung des Währinger Friedhofs 1879 veröffentlichte schließlich derselbe Gerson Wolf die erste ausschließliche Studie zur Geschichte der Wiener jüdischen Friedhöfe, zugleich die erste Geschichte des Währinger Friedhofs. Dieses Werk enthielt eine lange Liste prominenter Kultusgemeindemitglieder, die an diesem Friedhof bestattet waren, was eine Präzedenzwirkung auf die Historiographie ausüben sollte: Bis heute werden nämlich die Friedhöfe oft nur als „Spiegelbilder“ der jüdischen Geschichte dargestellt und zur Auflistung von Prominentenbiographien herangezogen, ein Fokus, der allerdings einen beträchtlichen Mangel an Rücksichtnahme auf die eigentliche Sepulkralkultur in den Friedhöfen selbst mit sich gezogen hat. Wolf eröffnete dieses Werk mit einem Zitat aus Johann Wolfgang Goethes Iphigenie auf Tauris (1779), eine abermalige Zurschaustellung der Universalbildung und der interkulturellen Ausrichtung des seinerzeitigen jüdischen Gelehrtenmilieus in Wien. Der Sinn des Zitats bezog sich allerdings im Rückschluss wohl auf das eigene Verständnis der „jüdischen Tradition“, spezifisch auf den jüdischen Ahnenkult und dadurch auf den Friedhof als „Grabstätte der Väter“: „Wohl dem, der seiner Väter gern gedenkt, der froh von ihren Taten, ihrer Größe den Hörer unterhält und, still sich freuend, an’s Ende dieser schönen Reihe sich geschlossen sieht.“66 Auf ähnliche Weise hatte Wolf bereits in seiner 1861 veröffentlichten Zeitgeschichte der sich gerade zu dieser Zeit formenden Kultusgemeinde zum Schluss des Vorworts einen unbenannten „grossen Dichter“ (William Shakespeare) zitiert, allerdings nicht ganz wortgetreu. Datiert war das Vorwort „am Geburtstage Moses Mendelsohn’s [sic, Mendelssohn], 1860“.67 Ein eigenständiger, selbstverlegter und inhaltlich bemerkenswerter Band widmete dem Friedhof in der Seegasse 1891 der nichtjüdische Maler und Amateurhistoriker Conrad Grefe. Darin zog Grefe den Friedhof als Erinnerungsort der allgemeinen jüdischen Geschichte Wiens heran, die er bis in die Römerzeit zurück verankerte. Somit unterstrich er, wie auch die seinerzeitigen jüdischen Historiker und entgegen der zu seiner Zeit weit verbreiteten antisemitischen Anschauung, die Dauerhaftigkeit der jüdischen Geschichte Wiens im Gegensatz 65 Wolf: Die Juden in der Leopoldstadt, S. 1. 66 Wolf: Die jüdischen Friedhöfe, S. 26–36, iii. 67 Wolf: Geschichte der Israelitischen Cultusgemeinde, Vorwort, o. S.
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zur Vorstellung der jüdischen Bevölkerung als „Zugewanderte“. Die Umgebung des Friedhofs veränderte sich zu dieser Zeit gewaltig durch den Abriss des alten jüdischen Spitals, das bis auf das späte 17. Jahrhundert zurückreichte, und der laufenden Konstruktion eines monumentalen, vom Stararchitekten Wilhelm Stiassny entworfenen Neubaus. Um das Areal waren zudem moderne Zinshäuser und eine Schule entstanden. Wie Frankl bereits Jahrzehnte zuvor, erfasste Grefe hier den Friedhof auf zutiefst ästhetische Weise, mit besonderem Hinblick auf den Bewuchs: [M]itten in diesem modernen Leben, still und friedlich, erfüllt von unsagbar poetischem Reize, liegt der ‚gute Acker‘, dicht beschattet von eng in einander geschlungenen, hohen, kräftigen Bäumen, Schlingpflanzen klettern allenthalben empor, üppige Kräuter, Gräser und Blätter bedecken den Boden und so mancher der halb oder ganz eingesunkenen Grabsteine verschwindet fast unter der grünen Decke, er ist unbestritten eines der merkwürdigsten und interessantesten Wahrzeichen von Alt-Wien.
Dieser beachtliche Text, in dem ein nichtjüdischer Künstler einen jüdischen Friedhof in einem selbstverlegten Werk als „Wahrzeichen von Alt-Wien“ hervorhob, wurde von einer Reihe von sepiagetönten Aufnahmen begleitet, wohl das früheste von verschiedenen photographischen Dokumentationsvorhaben des Friedhofs vor der Shoah.68 Es folgte in den Jahren darauf dicht aufeinander eine Reihe von weiteren Auseinandersetzungen mit dem jüdischen Friedhof in der Seegasse seitens nichtjüdischer Schriftsteller und Forscher, die sich zumeist auffällig mit der Ästhetik des Raums befassten. In seiner Topographie Die alten Strassen und Plaetze von Wien’s Vorstädten und ihre historisch interessanten Häuser schrieb der Lokalhistoriker Wilhelm Kisch 1895 über den Friedhof: „Er besteht auch heute noch und zeigt den eigentümlichen melancholischen und schwermütigen Charakter der älteren israelitischen Leichenhöfe.“69 Der Schriftsteller Karl Eduard Schimmer, Sohn des Topographen und Kulturhistorikers Karl August Schimmer, bezog sich 1904 in seinem Monumentalwerk Alt und Neu Wien allgemein auf die jüdische Geschichte der „österreichischen Kaiserstadt“, deren ältesten erhaltenen jüdischen Friedhof er auch explizit ästhetisch beschrieb: „Er besteht in der Seegasse im IX. Bezirk hinter dem jüdischen Versorgungshause bis zum heutigen Tag und bietet mit seinen eigentümlichen moosbewachsenen Grabsteinen einen malerischen Anblick.“70
68 Grefe: Der alte Friedhof, S. 3, 8–9. 69 Kisch: Die alten Strassen und Plaetze, S. 600. 70 Schimmer, Karl Eduard: Alt und Neu Wien. Geschichte der österreichischen Kaiserstadt, Bd. 2, Wien 1904, S. 14.
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Der Friedhof kam im gleichen Jahr auch in einem „geographisch-historischen Anschauungsunterricht“ vor, den der Lehrer Leopold Donatin aus dem Alsergrund (der 9. Bezirk, wo der Friedhof liegt) im Selbstverlag herausgab, und der darauf zielte, der „Jugend und d[em] Volk“ eine „Liebe zur Heimat“ einzuschärfen. Donatin beschrieb Stiassnys in der Seegasse gelegene „schöne israelitische Altersversorgungs- und Siechenhaus“, hinter dem „ein alter Friedhof “ lag, wovon Donatin behauptete, er wäre „schon 1314 […] als ‚Judenfreythof im obern Werd‘ erwähnt“. Von dieser eklatanten Fehldatierung abgesehen – ein offensichtliches Missverständnis aufgrund der am Friedhof aufbewahrten mittelalterlichen Grabsteine, das jedoch zeigt, dass es auch unter damaligen nichtjüdischen Heimatforschern üblich war, die Beständigkeit der jüdischen Geschichte dieses Vororts herauszustreichen – wurde hier die Geschichte des Friedhofs in der Frühen Neuzeit getreu wiedergegeben, von der Austreibung und dem Frankl’schen Vertrag 1670 zur Eröffnung 1784 des neuen Friedhofs in Währing. Abschließend bemerkte Donatin: Während aber die anderen Kirchhöfe schon nach zehn Jahren verbaut werden durften, hat sich diese Ruhestätte unversehrt erhalten. Der kleine Friedhof mit seinen 700 uralten** [Fußnote: „Einzelne Steine sollen 400–600 Jahre alt sein“], halbverfallenen und von Gestrüpp überwachsenen Grabsteinen bot einen sehr malerischen Anblick und erinnerte lebhaft an den berühmten Prager Judenfriedhof, den sich jeder Fremde besieht. In den letzten Jahren aber entfernte man das Buschwerk und richtete die Steine wieder auf.
Seinen „Unterricht“ schloss Donatin mit einem „Nachwort für die Kleinen“: „du kennst erst einen kleinen Teil deiner Vaterstadt und als guter Wiener sollst du sie ganz kennen“. Somit wurde auch der alte jüdische Friedhof als fester Bestandteil der „Vaterstadt“ Wien verstanden.71 Donatin tradierte hier die ästhetische, verklärende Auffassung des Friedhofs vergangener Jahrzehnte weiter, obwohl die neuerliche Instandsetzung ihm zufolge die „Historizität“ des historischen Bestattungsraums gleichsam in Mitleidenschaft gezogen hatte. Der Vergleich zum bereits damals berühmten Prager Friedhof sollte in den darauf folgenden Jahrzehnten in der Literatur weiteren Nachhall finden – und findet sich bis heute noch in der Literatur, die den Friedhof in der Seegasse erwähnt. 1907 veröffentlichte der damals noch unbekannte Bibliothekar der Kultusgemeinde, Bernhard Wachstein, ein kurzes Werk mit einigen Beispielen der hebräischsprachigen Sepulkralepigraphik in Wien, die erste Publikation dieses Historikers, der zum bedeutendsten Forscher der alten Wiener Sepulkralepigraphik und spezifisch des Friedhofs in der Seegasse werden sollte. Dieses Werk, das in einem nichtjüdischen Verlag erschien, stellte das Ergebnis einer 71 Alle Zitate in der Reihenfolge ihrer Nennung: Donatin: Der Alsergrund, Titelseite, S. 114, 147.
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Sitzung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften im Dezember 1906 dar, in der Wachstein diese frühe Forschung vorgetragen hatte.72 Hierin zeigt sich eindringlich, inwiefern die moderne Geschichtsforschung der Wiener jüdischen Friedhöfe – sowie der Wiener jüdischen Kultur überhaupt – schon von Anfang an in Zusammenarbeit von jüdischen und nichtjüdischen WissenschaftlerInnen und Institutionen entstand, eine Tendenz, die sich trotz des sich damals verschärfenden Antisemitismus und der vielfachen Ausgrenzung der Judenheit wie des „Jüdischen“ aus der Wiener Geschichtsschreibung in den darauf folgenden Jahren weit ausdehnen sollte. Eine maßgebliche Rolle spielte hierbei die „Historische Kommission“ der Kultusgemeinde. Der Kultusvorstand setzte sich Mitte der 1900er-Jahre mit Arthur Goldmann, Archivar im Haus-, Hof- und Staatsarchiv, in Verbindung, um die Erforschung der Geschichte der jüdischen Bevölkerung Wiens im Mittelalter anhand des dort gelagerten Materials zu besprechen. Goldmanns Erwägung, es würde für ein solches Vorhaben eines umfassenden Fachwissens, einschließlich der hebräischen Sprache, bedürfen, bewegte den Kultusvorstand schließlich zur Gründung 1902 einer Historischen Kommission.73 Bezeichnenderweise war dies also keine rein innerjüdische Angelegenheit, sondern erfolgte von Anfang an in Zusammenarbeit mit den wichtigsten Institutionen und Persönlichkeiten der damaligen Wiener Forschungsszene. Selbstverständlich kann dieser Aufschwung im historischen Interesse seitens der Kultusgemeinde aber auch als Ausdruck einer „Identitätssicherung“ verstanden werden zu einer Zeit, in der sich die Wiener jüdische Gemeinde nach jahrelanger antisemitischer Agitation seitens des Bürgermeisters Karl Lueger unter dem Druck wesentlicher gesellschaftlicher Ausgrenzungsversuche befand. Als Leiter der Historischen Kommission fungierte zunächst der Historiker Alfred Francis Přibram, und zu ihren Mitgliedern zählten über die Jahre einflussreiche Persönlichkeiten der Wiener Judenheit, so etwa die Rabbiner und Publizisten Max Grunwald, Moritz Güdemann, Joseph Samuel Bloch und Samuel Krauss, die Architekten Oskar Marmorek und Wilhelm Stiassny, der Philosoph Wilhelm Jerusalem, der Philologe Leopold Cohn sowie die Bibliothekare Bernhard Wachstein und Salomon Frankfurter.74 Über die folgenden drei Jahrzehnte sollte die Historische Kommission insgesamt elf einschlägige Bände zur Wiener jüdischen Geschichte herausbrin72 Wachstein, Bernhard: Wiener hebräische Epitaphien, Wien 1907. 73 Vgl. Jensen, Merethe Aagaard: Traditionen der Forschung. Die Historische Kommission der Israelitischen Kultusgemeinde Wien 1901–1938, in: Heimann-Jelinek, Felicitas/Hölbling, Lothar/Zechner, Ingo (Hg.): Ordnung muss sein. Das Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, Wien 2007, S. 35–36. 74 Vgl. Israelitische Kultusgemeinde Wien 1907, YIVO, 55442; o. V.: Israelitische Kultusgemeinde 1913, Wien 1913, S. 10 und Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Bericht [1928], S. 9.
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gen, darunter das monumentale, zweibändige Werk Bernhard Wachsteins zum Friedhof in der Seegasse (erschienen als Teil I und Teil II von Band 4, 1912/1917) sowie die Werke von Ignaz Schwarz zum „Wiener Ghetto“ (Band 2, 1909) und die von Alfred Francis Přibram herausgegebenen „Urkunden“ (Band 8, 1918), die alle hier in früheren Kapiteln ausgiebig zitiert wurden. Diese Werke wurden als „Quellen und Forschungen zur Geschichte der Juden in Deutschösterreich“ angeführt (man bemerke diese auffällige Bezeichnung des Landes bereits vor dem Ersten Weltkrieg) und erschienen zuerst beim k.u.k. privilegierten Hofund Universitäts-Buchhändler Braumüller, nach dem Ersten Weltkrieg dann beim Deutschen Verlag für Jugend und Volk, ein von der sozialdemokratischen Stadtverwaltung geförderter Verlag zur Volksbildung. Anhand dieser Reihe wird die breite Förderung und Rezeption der jüdischen Historiographie seitens der damaligen österreichischen, oder wenigstens der wienerischen, Wissenschaft bis in die späte Zwischenkriegszeit ersichtlich. Ab dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts erfolgte also ein gewaltiger Aufschwung in der wissenschaftlichen Erforschung der jüdischen Geschichte Wiens sowie der historischen Wiener jüdischen Friedhöfe. Eine erste kritische Übersicht dieser Historiographie bot der Historiker Ignaz Schwarz 1913. Rückblickend beklagte er die Fehler, die in den frühesten Geschichtswerken eingeführt und in späteren unhinterfragt übernommen wurden. Vor allem Ludwig August Frankls frühes Werk bezeichnete Schwarz als „leider etwas verunglückt“ und hob hingegen Gerson Wolf als ersten seriösen Historiker der Wiener jüdischen Geschichte hervor. Schwarz unterstrich dabei das „fabelhafte“, also verklärende, an den frühesten Erzählungen über Jüdinnen und Juden in Wien, so bereits in der hier in Kapitel 3 angesprochenen Behauptung von Wolfgang Lazius aus dem 16. Jahrhundert, es hätten schon Jahrhunderte vor Christus Jüdinnen und Juden im Gebiet des modernen Österreichs gelebt. Mit der Gründung der Historischen Kommission, so betonte Schwarz, wurde schließlich der Weg zur „einschlägige[n] Forschung“ innerhalb „streng historisch-kritische[r] Bahnen“ eröffnet, wobei Bernhard Wachsteins zweibändige Inschriften „ein Monumentalwerk von großer wissenschaftlicher Bedeutung“ darstellten.75 Auffällig ist in dieser Summierung, dass die Friedhöfe von Anfang an im Zentrum der „historisch-kritischen“ Forschung der Wiener jüdischen Geschichte standen, von Frankl über Wolf bis Wachstein. So erschien bezeichnenderweise der Friedhof in der Seegasse auch in photographischer Form in Max Grunwalds Geschichte der Juden in Wien 1625–1740 aus dem Jahre 1913 – eine bildliche Verkörperung der Dauerhaftigkeit der Wiener jüdischen Geschichte, wohlge-
75 Schwarz: Geschichte der Juden in Wien, S. 1–3, 29.
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merkt in einem Werk, das nicht von der Historischen Kommission, sondern vom „Altertumsvereine zu Wien“ herausgegeben wurde.76 Eine auffällige Erwähnung fand der alte jüdische Friedhof wiederum 1916 im einflussreichen Kunsthistorischen Atlas der K. K. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien des Geographen Hugo Hassinger: Seegasse. Jüdischer Friedhof, hinter dem Hause Nr. 9. Dieser älteste Friedhof Wiens bildet eines der merkwürdigsten historischen Denkmale der Stadt und einen ihrer malerischsten Winkel. Von den zirka 1000 Grabsteinen stammen die meisten aus dem XVII. und XVIII. J[ahrhundert]. Viele reichen aber auch in das XVI. J[ahrhundert], in das Mittelalter und einige aus der Wiener-Neustadt hierher übertragene Steine bis in das XIII. J[ahrhundert] zurück.77
Auffällig ist diese Erwähnung nicht nur aufgrund von Hassingers Prominenz, sondern auch aufgrund seiner ideologischen Orientierung: Hassinger wandte sich in den frühen 1930er-Jahren dezidiert dem Nationalsozialismus zu und leistete zusammen mit seiner an der Universität Wien angesiedelten Gruppe von Raumforschern eine maßgebliche wissenschaftliche Vorarbeit für die expansionistische und schließlich genozidale NS-Lebensraumpolitik, was Hassinger und seine österreichischen Kollegen wiederum zu wichtigen Ideologen im NS-Staat machen sollte. Hier zeigt sich nicht zum ersten Mal, wie tief die Wurzeln des Nationalsozialismus in Österreich vor dem „Anschluß“ griffen, sowie die alles andere als unkomplizierte Rezeption jüdischen Kulturgutes seitens mancher NS-WissenschaftlerInnen, wie unten ausführlicher gezeigt wird.78 Eine herausragende Figur in der Geschichte der Wiener Friedhöfe im Allgemeinen war der Heimatforscher Hans Pemmer, der sich bereits in der Zwischenkriegszeit tatkräftig sowohl für die Erforschung wie für den Denkmalschutz der noch bestehenden historischen Friedhöfe der Stadt einsetzte. Die Erhaltung des St. Marxer Friedhofs als einzigem der fünf Josephinischen Kommunalfriedhöfe in den Vorstädten sowie von etlichen Vorortsfriedhöfen wird seinem Engagement zugeschrieben.79 Pemmer veröffentlichte 1924 eine der ersten historischen Studien zum Wiener Zentralfriedhof. Hierin wurde die alte jüdische Abteilung beim I. Tor nicht bloß erwähnt, sondern über zwanzig Seiten eingehend diskutiert. Das Augenmerk lag hier auf dem reichen architektonischen und 76 Grunwald: Geschichte der Juden in Wien, Abbildung zwischen S. 16 und 17. 77 Hassinger, Hugo: Kunsthistorischer Atlas der K. K. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien, Wien 1916, S. 170. 78 Vgl. Mattl/Pirhofer/Gangelmayer: Wien in der nationalsozialistischen Ordnung des Raums, S. 45, 52. 79 Vgl. Ackerl/Bouchal/Schödl: Der schöne Tod in Wien, S. 81 sowie Veigl: Morbides Wien, S. 141.
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kunsthistorischen Bestand der Grabdenkmäler, darunter die Mausoleen der Familien Rothschild (6-29-51) und Ephrussi (8-62-49). Das Denkmal der Familie Elias (52A-2-21), das in der jüngeren Geschichtsschreibung seltsamer- und fälschlicherweise als Nachahmung des indischen Taj Mahal angeführt wird (siehe hier Kapitel 5), beschrieb Pemmer als „eines der schönsten Grabdenkmäler“ im Zentralfriedhof überhaupt. Im Register der Werke von prominenten Architekten im gesamten Zentralfriedhof wurden zwölf des jüdischen Architekten Max Fleischer genannt. Sogar die eher eigentümliche Praxis des Grabbesuchs bei den ohelim (Grabhäuschen) der chassidischen Wunderrabbiner (siehe hier Kapitel 6) wurde erwähnt und mit einem Photo des ohel der Rabbiner Menachem Nachum Dow und Lewi Jitzchak (7-30-95) illustriert.80 Hier zeigt sich, inwieweit die jüdische Sepulkralkultur sogar in ihren geheimnisvollsten Facetten von einem der frühesten federführenden, nichtjüdischen Wiener Historiker der städtischen Friedhöfe in die allgemeine Sepulkralgeschichte der österreichischen Hauptstadt integriert wurde – eine Integration, die sich in der Historiographie nach der Shoah wohlgemerkt so nicht fortsetzen sollte. Zu dieser Zeit, inmitten der 1920er-Jahre, sollten auch weitere Bände der Reihe der Historischen Kommission der Kultusgemeinde erscheinen sowie eigenständig publizierte Werke über die Wiener jüdische Geschichte. Ein beachtliches Werk ist die 1926 veröffentlichte Studie zum „Ghetto“ im 17. Jahrhundert, in dem die Historiker Hans Rotter und Adolf Schmieger über den zu dieser Gemeinschaft gehörenden Friedhof in der Seegasse behaupteten, er gewähre „mit seinen halb verfallenen, halb versunkenen Grabdenkmälern einen melancholischen Anblick“ – eine inzwischen gängige ästhetische Auffassung des alten Friedhofs.81 Keiner der beiden Autoren war jüdisch, Hans Rotter vertrat zudem im Wiener Gemeinderat die Christlichsoziale Partei – die Partei von Karl Lueger, aus der sich wenige Jahre später die austrofaschistische Bewegung entwickeln sollte. Wohlgemerkt gilt dieses Werk bis heute noch als Standardwerk zu diesem Thema und bildet neben dem oben zitierten Werk von Hugo Hassinger ein weiteres Beispiel der positiven Auseinandersetzung mit der Wiener jüdischen Geschichte seitens zutiefst konservativer Wissenschaftler zu einer Zeit des wuchernden Antisemitismus. Den zehnten Band der von der Historischen Kommission in Auftrag gegebenen Reihe – eine Sammlung von Urkunden, die mittelalterliche jüdische Geschichte Wiens betreffend – veröffentlichten 1931 die Wiener Historiker Rudolf Geyer und Leopold Sailer. Beide waren damals Archivare im Stadtarchiv. Sailer wurde 1939 vom NS-Reichsstatthalter als dessen Leiter ernannt, eine Funktion, die nach seinem Tod über das Ende des Krieges hinaus sein 80 Pemmer: Der Wiener Zentralfriedhof, S. 123–126, 136–142, 162. 81 Rotter/Schmieger: Das Ghetto in der Wiener Leopoldstadt, S. 65.
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Kollege Geyer übernehmen sollte. Die Einleitung dieses Bandes wurde vom nichtjüdischen Historiker Otto Hellmuth Stowasser verfasst, seit 1918 Vorstandsmitglied des Vereins für Geschichte der Stadt Wien, der hierin explizit die Verbindung der jüdischen zur allgemeinen Geschichte der Stadt betonte, sowie den Aktivitäten des Vereins zu denen der Historischen Kommission der Kultusgemeinde. Dieses Werk entstand zum Teil aus „manchem Gespräch mit jüdischen Historikern“ und Stowasser bedankte sich hier bei dem inzwischen verstorbenen Oberrabbiner Zwi Perez Chajes sowie dem Gemeindebibliothekar Bernhard Wachstein für deren Unterstützung bei der Forschung.82 Die Verflechtung von jüdischen und nichtjüdischen Wissenschaftlern, inklusive jener, die konservativ ausgerichtet waren und sogar zum Nationalsozialismus neigten, ist hier augenscheinlich. Ein letztes wesentliches Werk der Zwischenkriegszeit, das in diesem Zusammenhang erwähnt werden muss, ist Hans Tietzes oben bereits zitiertes, 1933 erschienenes Buch Die Juden Wiens, das ein Meilenstein in der jüdischen Historiographie der österreichischen Hauptstadt darstellte: Erstmals wurde hier nicht nur die Geschichte des innerjüdischen Gemeindelebens mit Rücksicht auf deren Politik und Rechtslage aufgearbeitet, sondern vielmehr das wechselseitige Verhältnis der jüdischen Bevölkerung über Jahrhunderte hinweg mit der österreichischen Kultur und Gesellschaft. Auch war dies das erste Werk, das die geschichtsträchtige Lueger-Ära, die in ihrer kulturellen Dimension heute als „Fin de Siècle“, „Wiener Moderne“ oder „Wien 1900“ gefeiert wird, mit Hinblick auf die jüdische Bevölkerung und jüdische Kulturschaffende in den Blickpunkt rückte – eine Perspektive, die erst Jahrzehnte nach der Vernichtungswut der Shoah wieder aufgegriffen werden sollte. Auch die Rezeption der jüdischen Historiographie in der Wiener Presse weist auf eine allgemeine Aufmerksamkeit für und Interesse an dieser Thematik unter der größtenteils nichtjüdischen Bevölkerung, so beispielsweise in einer positiven Rezension von Das Wiener Ghetto von Ignaz Schwarz (1909, Band 2 in der Reihe der Historischen Kommission), die in der Arbeiter-Zeitung, dem führenden Presseorgan der Sozialdemokratie in Österreich, erschien.83 Auch der erste Band von Bernhard Wachsteins Inschriften (1912, Teil I von Band 4 in der Reihe der Historischen Kommission) wurde über mehrere Seiten höchst positiv in der Wiener Zeitung rezensiert, der ältesten Tageszeitung Wiens und zugleich dem offiziellen Amtsblatt der österreichischen Regierung. Hierin wurden die damaligen Bemühungen der Historischen Kommission um die Erhaltung des
82 Geyer, Rudolf/Sailer, Leopold: Urkunden aus Wiener Grundbüchern zur Geschichte der Wiener Juden im Mittelalter, Wien 1931, S. vii–xv. 83 Das Wiener Ghetto, in: Arbeiter-Zeitung, 11. Juli 1909, S. 8.
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Friedhofs in der Seegasse, die unten besprochen werden, als wertvoller Beitrag sowohl zur „Sitten- und Kulturgeschichte der Juden“ wie auch der „Wiener Lokalgeschichte“ gelobt. In Bezug auf die verwickelte Rechtsgeschichte der jüdischen Bevölkerung in Wien sowie deren in der Zwischenkriegszeit vermeintlich gleichberechtigten Existenz bemerkte die Rezension: „ihr Optimismus […] täuschte sie nicht“.84 Über die spezifisch Wiener Jüdinnen und Juden betreffende Historiographie hinaus spielten die Wiener jüdischen Friedhöfe auch in der im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in Österreich und Deutschland gedeihenden allgemeinen Literatur zu Friedhöfen eine maßgebliche Rolle, wobei oftmals die Frage, was genau einen Friedhof „jüdisch“ machte, zum zentralen Streitpunkt wurde. 1875 veröffentlichte die in Leipzig herausgegebene Allgemeine Zeitung des Judenthums einen Leserbrief von einem unbenannten (in dieser Ära und vom Inhalt zu urteilen vermutlich männlichen) Wiener Juden, der sich über das „Bild der Unordnung, der Verwüstung“ am dortigen jüdischen Friedhof beklagte – ob der Friedhof in Währing, der damals gerade noch aktiv benützte Bestattungsraum der Wiener Judenheit, oder der ältere, bereits ein Jahrhundert lang stillgelegte Friedhof in der Seegasse gemeint war, wurde nicht spezifiziert. „Verbietet etwa das biblische oder talmudische Gesetz die sorgfältige Pflege der Gräber?“, fragte der Leser in ironischer Anspielung auf das Wechselspiel von Tradition und Brauchtum, Religion und Kultur. Die Antwort der Redaktion warf ein ebenso interessantes Licht auf die Frage der „Tradition“ sowie des religiösen Gesetzes. So gab es zu jener Zeit eine weitverbreitete Tendenz, „daß man auch dasjenige, was sich nur herkömmlich mit der Zeit gemacht hat, einer gesetzlichen Bestimmung unterworfen meint, und deshalb nach dem betreffenden Ge- oder Verbote frägt. Dies hat den Nachtheil, daß bei der großen Masse Alles durch Gesetz geheiligt erscheint“. Es wurde also zwischen den mit der Zeit entstandenen Bräuchen einerseits und der im Nachhinein aus dem Schrifttum abgeleiteten „Ge- und Verbote“ andererseits unterschieden – eine konkrete Zurschaustellung der Unterscheidung von Brauchtum und Tradition, die der Historiker Eric Hobsbawm in Bezug auf die „Erfindung der Tradition“ herausarbeitete.85 So erklärten sich laut der Redaktion solche „Zuund Uebelstände“ wie „die Unordnung und Vernachlässigung der jüdischen Friedhöfe“, die im Nachhinein durch angebliche religiöse Vorschriften rechtfertigt wurden. Die Redakteure wiesen darauf hin, dass im Talmud nur „die Unantastbarkeit des Grabes“ vorgeschrieben wird: „Ueber die Beschaffenheit des ganzen Friedhofes ist nichts ge- und verboten. Die orthodoxesten Juden 84 Die Inschriften des alten Judenfriedhofes in Wien, in: Wiener Zeitung, 29. September 1912, S. 2–4. 85 Vgl. Hobsbawm: Introduction, S. 1–2.
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können daher selbst an die nöthigen Verbesserungen und an die Herstellung der Ordnung Hand anlegen.“ Diese kurze Diskussion zeigte die Problematik auf, die hier in Kapitel 2 eingehend diskutiert wurde und die bis heute in der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung tradiert wird, wonach zwischen lokal zutiefst unterschiedlichen, sich oft über Jahrhunderte oder gar Jahrtausende entwickelten Bräuchen nicht differenziert wird und stattdessen pauschalisierte, anachronistische Aussagen über vermeintlich zeitlose jüdische „Traditionen“ als verpflichtende religiöse „Gebote“ angeführt werden. Doch ab diesem Punkt verwickelte sich auch die Antwort der Redaktion in einen fraglichen kulturhistorischen Exkurs, wonach die Judenheiten Europas durch Jahrhunderte im shtetl (ein verklärender jiddischer Begriff für mehr oder weniger geschlossene jüdische Siedlungen, ähnlich wie das Wort „Ghetto“) im pointierten Gegensatz zur christlichen Bevölkerung angeblich unordentlich geworden seien. Die verwachsenen Friedhöfe galten somit als Verkörperung einer gewissermaßen verdorbenen Eigenschaft im „jüdischen Charakter“ – ein Argument, dass genau so in der NS-Zeit wiederholt werden sollte.86 1913 veröffentlichte der Kunsthistoriker Karl Schwarz eine Polemik in der Allgemeinen Zeitung des Judentums, in der er auf ähnliche Weise – wenngleich in eher ästhetischer und nicht religiöser Hinsicht – gegen die modernen Tendenzen jüdischer Grabmalkunst als „Geschmackslosigkeiten“, „spekulative Stilwidrigkeiten“ und „eine Häufung von Stillosigkeiten“ wetterte, die zudem an jüdischen Trauerorten völlig unangebracht wären. An erster Stelle zeigte er mit dem Finger auf „die jüdische Abteilung des Wiener Zentralfriedhofes“, also den Friedhof beim I. Tor, dessen Grabdenkmäler „so kunst- und geschmacklos sind, daß man gern zu den anspruchslosen Grabsteinen unserer Vorfahren zurückkehrt“. Schuld daran gab er unter anderem dem „Fabrikbetrieb“.87 Wie unten weiter besprochen wird, war diese Auffassung der zeitgenössischen Grabmalkunst keineswegs auf die jüdische Sepulkralkultur beschränkt, im Gegenteil, doch zeigte sich gerade in dieser innerjüdischen Diskussion die moderne Verklärung der vermeintlich noch „authentischen“ alten jüdischen Friedhöfe Europas im Gegensatz zu den modernen Großstadt-Nekropolen – gerade der Friedhof in der Seegasse sollte in diesem Zusammenhang öfters erwähnt werden, wie bereits seine ästhetisierende Rezeption in der zeitgenössischen Historiographie, etwa als „malerischer Winkel“, zeigte. Der Architekturhistoriker Alfred Grotte, der 1943 in Theresienstadt umkommen sollte, verfasste 1919 einen wegweisenden Beitrag zur allgemeinen jüdischen Sepulkralgeschichte, an dem auch der Leipziger Rabbiner Gustav 86 Die jüdischen Friedhöfe, in: Allgemeine Zeitung des Judenthums, 25. Mai 1875, S. 352–354. 87 Schwarz, Karl: Moderne jüdische Grabmalkunst, in: Allgemeine Zeitung des Judentums, 14. November 1913, S. 547–549.
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Cohn mitarbeitete, auf dessen späteres, noch umfassenderes Werk zu diesem Thema unten näher eingegangen wird. Grotte behauptete hier, dass alte jüdische Friedhöfe bewusst einheitlich geschaffen wurden und dementierte deren moderne Erscheinung als „ein übles Protzentum“. Bezeichnenderweise hob er den Wiener Friedhof in der Seegasse neben den alten jüdischen Friedhöfen in Prag und Worms als Musterbeispiel hervor, beklagte jedoch, dass sich die bisherigen Forschungen „auf die Wiedergabe der Grabmale und Inschriften geschichtlich hervortretender Personen“ beschränkten – ein Vorwurf, der heute noch im Wesentlichen gegen einen Großteil der Literatur bezüglich jüdischer Friedhöfe gemacht werden kann. Grottes Behauptung bezüglich der ästhetischen Einheitlichkeit historischer Friedhöfe ist fraglich, denn einerseits entstanden diese Friedhöfe nicht als geplante Räume im Verlauf von Jahrhunderten, sondern, wie der Friedhof in der Seegasse, oft organisch. Andererseits lässt sich die Einheitlichkeit der Grabsteine eher auf das lokal vorkommende Gestein und die technischen Rahmenbedingungen der Zeit zurückführen wie nicht zuletzt auf die wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung der lokalen jüdischen Bevölkerung. Die neuzeitliche Einführung von allen möglichen Gesteinstypen sowie die maschinelle Anfertigung von teils kolossalen Grabdenkmälern führten hingegen selbstverständlich in allen Sepulkralkulturen Europas zu einer Vervielfachung von deren Formsprache. Wegweisend war in diesem kurzen Beitrag jedenfalls der komparatistische Ansatz, indem Grotte die jüdischen Grabsteine nach Form und Gestaltung mit zeitgenössischen christlichen Grabsteinen verglich, und letztere sogar nach katholischen und evangelischen Gattungen unterschied.88 Eine solche Komparatistik fehlt bis heute oft in der Literatur zur europäischen Sepulkralgeschichte. 1922 kritisierte Erich Toeplitz, Kustos des Jüdischen Museums zu Frankfurt, in einem Beitrag zur Erforschung jüdischer Friedhöfe den engen Fokus der modernen Geschichtsforschung auf die ältere jüdische Sepulkralkultur und fragte: „Sollten die modernen jüdischen Grabzeichen nicht des Erwähnens wert sein?“ Dabei ging es Toeplitz in diesem Beitrag jedoch bloß darum, darzustellen, dass die modernen Friedhöfe nicht etwa von einer positiven Weiterentwicklung einer historisch gewachsenen Sepulkralkultur, sondern lediglich von einem Verfall der guten Sitten zeugten. Falle nämlich, wie er es pauschalisierend formulierte, „der alte Judenfriedhof […] durch sein malerisches Gesamtbild auf “ – eine offensichtliche Anspielung auf die oben zitierte, ästhetisch dominierte Gattung der Kulturgeschichte – so glich „der moderne Judenfriedhof “ laut Toeplitz „einem wirren Steinbaukasten, der durch schreiende Farben der Blumenbeete und Kränze unangenehm aus der Landschaft hervorsticht“. Diese Entwicklung, die 88 Grotte, Alfred: Alte Judenfriedhöfe, insbesondere der Judenfriedhof in Krotoschin, in: Die Denkmalpflege 21/8 (1919), S. 60–61.
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Toeplitz wie viele seiner VorgängerInnen und NachfolgerInnen als Übernahme „aus dem christlichen Totenkult“ interpretierte, unbeschadet dessen, dass dies tatsächlich Parallelentwicklungen der jüdischen und nichtjüdischen Sepulkralkulturen waren, verschleiere „den wirklichen Zweck des Leichenfeldes“ – gemeint war freilich das „jüdische“ Leichenfeld. Auch Toeplitz unterbreitete hier den Gedanken, es seien ältere Friedhöfe bewusst landschaftlich gestaltet gewesen: „Die Natur tut schon das Ihre, um nach und nach alles in einen wild wuchernden Garten zu verwandeln; man pflanze also von vornherein nur etwas, was nicht dauernder Pflege von Menschenhand bedarf “, als ob das „wilde Wuchern“ in alten Friedhöfen wie in dem in der Seegasse in Wien eine bewusste Schöpfung menschlicher Voraussicht war, anstatt eine Zufallserscheinung nach Jahrhunderten der weitgehenden Verwahrlosung. Hingegen beschrieb Toeplitz die neu angelegten Friedhöfe der Moderne als „Oede“, die er zudem mit fraglichen Kulturessenzialismen zu erklären versuchte: „An Stelle dieser künstlerischen Momente sind heute akademische Weisheiten getreten, die so arg preussisch wirken; Ordnung mag eine schöne Tugend sein, die Kunst bereichert sie sicher nicht“. Waren ältere Friedhöfe angeblich geprägt von „Einfachheit“, „bescheiden“ durch „die Abmessungen der Steine“, „bescheiden das Material, obgleich es sich viele der vorangegangenen Generationen ebenso gut hätten leisten können, teure Monumente zu bestellen“, sei die moderne Grabkunst lediglich vom „Geldbeutel“ bestimmt; der Friedhofsraum nur eine Abbildung ökonomischer Verhältnisse. Zudem seien die modernen Friedhofsräume durch die Anbringung von Gittern „zerlegt“, die eine Familienbegräbnisstätte von der anderen trennte. Toeplitz wetterte auch gegen „die hässlichen, kalten Goldbuchstaben“ sowie „die harten Granite, die sich mit ihrer glänzenden Schwärze so vorteilhaft auf dem Leichenfelde ausnehmen“. Schuld hierfür seien die „gedruckten Fabrikkataloge und [die] anderen Anpreisungen der Händler“. Toeplitz stieß sich nicht zuletzt am Inhalt der Sepulkralepigraphik der neueren Zeit, die er zutiefst abweisend mit einer verklärten Vorstellung der älteren, „traditionellen“ jüdischen Epigraphik verglich: Aus einem innig empfundenen Judentum herausgeboren, sind sie kulturgeschichtliche Dokumente, deren sich die jüdische Gemeinschaft nicht zu schämen braucht […]. Heute enthalten die hebräischen Texte neben zahlreichen grammatikalischen Fehlern auch recht oft grosse Geschmackslosigkeiten, und die in der Landessprache verfassten sind meist sehr unerfreuliche Gemeinplätze.
Das Hebräische hätte laut Toeplitz einen „‚jüdischen‘ Reiz“ (beachtlich ist, dass er das Wort „jüdisch“ selbst in Anführungszeichen setzte, gewiss ein Zugeständnis, dass die spezifische Bedeutung dieses Adjektivs alles andere als offensicht-
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lich ist). Sollte man also trotzdem auf den Gebrauch von „landessprachlichen Inschriften“ beharren, so sollten diesen jedenfalls nicht die „Vorherrschaft“ in der Sepulkralepigraphik erteilt werden. Die gesamte Entwicklung der modernen jüdischen Sepulkralkultur – der modernen europäischen Sepulkralkultur überhaupt – qualifizierte Toeplitz demnach als „grosse[n] Rückschritt“ ab. Neben dieser Polemik ist hier seine Deutung des Davidsterns in der Geschichte der jüdischen Symbolik beachtenswert. Dieses antike „jüdische“ Symbol, das in der Neuzeit vermeintlich wiederbelebt wurde – tatsächlich ging seine Ausbreitung in Europa von der frühneuzeitlichen Prager jüdischen Gemeinde aus – sei nämlich eine gnostische Entwicklung der nachexilischen Zeit, die schließlich vom Kabbalismus, der jüdischen Mystik, aufgegriffen wurde. „Gänzlich unverständlich bleibt es, wie die rationalistische Zeit der Jahrhundertwende an diesem geheimnisvollen Zeichen einen so übergrossen Gefallen finden konnte“, schloss Toeplitz. Eindringlich führte er hier also ein konkretes Beispiel einer „erfundenen Tradition“ vor. Auch hier griff Toeplitz allerdings auf die vermeintliche Überlegenheit einer mehr oder weniger erfundenen „jüdischen Tradition“ zurück, indem er behauptete, dass gerade die am weitesten verbreiteten, zutiefst religiösen Symbole der Frühen Neuzeit wie die segnenden Kohanimhände oder den Lewitenkrug „als die unserer Zeit überlegenen bezeichnet werden, sticht doch allein der Reichtum der alten Symbolik gegen unsere armseligen Davidschilder gewaltig ab“.89 Wie bereits angedeutet, waren solche Polemiken gegen die moderne Entwicklung der Sepulkralkultur bei Weitem nicht auf innerjüdische Diskurse begrenzt. 1910 veröffentlichte Hans Grässel, der einflussreiche Münchner Stadtbaudirektor, der sich durch verschiedene Friedhofsanlagen ausgezeichnet hatte, darunter den Neuen Israelitischen Friedhof in München, sein Werk Über Friedhofsanlagen und Grabdenkmale, dessen breite Rezeption sich über die kommenden Jahre in mehreren Auflagen zeigen sollte. Hierin polemisierte auch Grässel über die „stimmungslos[en] und unbefriedigend[en]“ neuen Friedhöfe „in den großen Städten“ seiner Zeit, diese „endlosen gleichmäßigen Gräberfelder“, die gekennzeichnet waren durch „die Häufung und gegenseitige Beeinträchtigung der Grabdenkmäler, durch deren schablonenhafte Dutzendform und ihre ungeeigneten Materialien“. Offensichtlich war auch Grässel kein Anhänger der modernen Entwicklung der europäischen Sepulkralkultur. Der „Wirrwarr von fabrikmäßig hergestellten Dutzenddenkmälern“ in diesen „rohe[n] Steinmetzlager[n]“ zeige lediglich die „Gedankenarmut“ der Zeit auf. Ausgiebig wetterte Grässel über „die glasig polierten Grabdenkmäler mit ihren wenigsagenden schlechten Druckinschriften, diese ewigen Obelisken, abgebrochenen Säulen
89 Toeplitz, Erich: Jüdische Friedhöfe, einst und jetzt, in: Jeschurun (Mai 1922), S. 229–235.
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und rohen Kreuzesformen“. Auch jene Inschriftformeln wie „‚Ruhe sanft‘, ‚Friede ihrer Asche‘, und dergl[eichen]“, die ebenfalls in den jüdischen Friedhöfen dieser Zeit aufzufinden waren, kritisierte er. Schuld für diese vermeintliche Fehlentwicklung trugen ihm zufolge das „rasche Anwachsen der Großstädte“ sowie die moderne „Haft des materiellen Fortschrittes“. Dementgegen umriss Grässel genau, wie ihm zufolge Grabstätten entworfen und bepflanzt werden sollten, um die Friedhofslandschaft „zu einer harmonischen Gesamtwirkung zusammenzuschließen“. Zudem lobte er die Entscheidung der Münchner Stadtverwaltung, keinen Zentralfriedhof „nach dem Vorgange anderer großer Städte im Osten“ (wobei sicherlich auch der Wiener Zentralfriedhof, eine der größten Nekropolen Europas, gemeint war) in Planung zu geben, da die Größe und die Abgeschiedenheit eines solchen dessen natürliche Einbindung in die Stadttopographie ausschloss. Grässel plädierte für eine strengere Regulierung, besonders die Ästhetik des Friedhofs betreffend, und schlug vor, es sollten Abteilungen nach Typus hergestellt werden, beispielsweise „für stehende Steindenkmäler“ einerseits und „für liegende Steindenkmäler“ andererseits. Ästhetik wurde hier also zum Leitprinzip. Wie hier bereits in Bezug auf den Zentralfriedhof aufgezeigt, wurde eine solche Regulierung tatsächlich auch in der Wiener Kultusgemeinde im 20. Jahrhundert zunehmend durchgesetzt. In den begleitenden Illustrationen führte Grässel ein Photo mit der Aufschrift „Jüdischer Friedhof in Wien“ vor, den er mit folgenden Worten lobend beschrieb: „Gute Friedhofanlage mit Grabdenkmalen aus stehenden Steinen. Gegenseitige Rücksicht, kein Vordrängen, keine zu großen Höhen“. Es handelte sich hier augenscheinlich um den alten Friedhof in der Seegasse, wie an den dicht aneinander gereihten, mit hebräischer Kalligraphie verzierten Grabsteinen deutlich zu erkennen ist. Ebenso führte Grässel ein Photo der Zeremonienhalle auf dem Neuen Israelitischen Friedhof in München vor, die er selbst entworfen hatte, als Beispiel einer harmonischen architektonischen Ästhetik. Nicht nur die allgemeine jüdische Sepulkralkultur fand somit bei einem der führenden nichtjüdischen Friedhofsarchitekten im seinerzeitigen deutschsprachigen Raum einen zentralen Platz, es wurde sogar der älteste erhaltene jüdische Friedhof Wiens als Musterbeispiel der historischen europäischen Friedhofskultur überhaupt herangezogen – nicht nur einer „jüdischen“ Friedhofskultur.90 In seinem 1930 veröffentlichten Werk Der jüdische Friedhof, einer der bis heute wenigen Versuche einer umfassenden Beschreibung der jüdischen Sepulkralkultur, behauptete der Leipziger Rabbiner Gustav Cohn: „Es gibt so
90 Alle Zitate in der Reihenfolge ihrer Nennung: Grässel, Hans: Über Friedhofsanlagen und Grabdenkmale, München 1910, S. 1, 4, 3–4, 6, 11, 21.
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viele Menschen, die mit der Stätte der Toten das Empfinden des Grauens verbinden. Wer Friedhöfe betreten hat wie diese, die seit Jahrhunderten ihrer Bestimmung dienen, der hat nur Frieden und die Ruhe einer solchen Stätte empfinden können.“ Gemeint waren die seinerzeit noch erhaltenen mittelalterlichen und frühneuzeitlichen jüdischen Friedhöfe Zentraleuropas, von denen viele in den darauf folgenden Jahren unter dem Nationalsozialismus zerstört wurden, worunter Cohn auch explizit auf den Friedhof in der Seegasse verwies. Mit dieser inzwischen charakteristischen Deutung der älteren Friedhöfe als angeblich ästhetisch und sittlich geplanten Räume griff Cohn bereits dem Fazit seines Werkes vor, das wieder eine einzige Polemik gegenüber den neueren Entwicklungen in der jüdischen Sepulkralkultur darstellte. Diese hätte sich nämlich „in falscher Richtung weiter gebildet“, wobei Cohn hier vorwiegend den Rückgang der hebräischen Sprache und den Anstieg an protzigen Denkmälern im 19. Jahrhundert meinte. Auf den Friedhöfen herrschten laut Cohn „Unruhe, Zerrissenheit“, verkörpert durch „zahllose Geschmackslosigkeiten“ und die Massenverbreitung von fabrikproduzierten Steinen. Dies sei alles emblematisch für den „Verfall“ der Moderne, wobei die Friedhöfe lieber zeigen sollten „daß der einzelne Tote zur Gemeinschaft gehört hat, und daß auch seine letzte Ruhestätte die Zusammengehörigkeit mit den Menschenbrüdern und -schwestern betonen muß“. Trotzdem kam Cohn aber zum Schluss, „[e]s wäre Torheit auf die früheren Grabmäler zurückgreifen. Aber der Geist, aus dem heraus sie geschaffen wurden, ist unwandelbar. Er möge bei der Fortgestaltung der jüdischen Friedhöfe wieder voll zur Geltung kommen“.91 Solch abfällige Bewertungen seitens der führenden Wissenschaftler der modernen Sepulkralkultur waren weder auf die jüdische Sepulkralkultur noch auf die Zwischenkriegszeit begrenzt: Bis zu seinem Tod in den 1980er-Jahren beklagte beispielsweise Philippe Ariès, der große Historiker der europäischen Sepulkralkultur, das Schwinden „volkstümliche[r]“ Formen der Grabkunst des vergangenen Jahrhunderts zugunsten von „Fließbandmodelle[n]“.92 In einem spezifischen Beispiel aus der jüdischen Sepulkralliteratur der Nachkriegszeit wird die Umzäunung der einzelnen Grabstätten durch Gitter als pietätlos und unbescheiden ausgelegt, in Anlehnung an Psalm 49,18, sowie als „unjüdischer“ Brauch – gerade Letzteres eine unhaltbare Behauptung, da auch die Umzäunung von einzelnen Grabstätten, wie so vieles in der Neuzeit, eine Parallelerscheinung in der jüdischen und nichtjüdischen europäischen Sepulkralkultur war.93 In einem aus chronologischer wie analytischer Sicht neueren Beitrag zur jüdischen Friedhofsgeschichte argumentierte der Historiker Avriel Bar-Levav, die 91 Cohn: Der jüdische Friedhof, S. 43, 50–52. 92 Ariès: Bilder, S. 274. 93 Roth: Zur Halachah des jüdischen Friedhofs, S. 119.
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historischen jüdischen Friedhöfe seien „nicht unbedingt schön oder ästhetisch, sondern eher moralisch“ konzipiert gewesen. „Die Gräber waren vielleicht ästhetisch, sowohl in ihrer Form wie im Inhalt ihrer Epitaphien, aber es wurde erst in der Moderne eine gewisse künstlerische Bemühung in den Friedhofsraum als Ganzes investiert.“ Entgegen der Verklärung der alten Friedhöfe in der nachromantischen Ära, die sich jedenfalls, so wie in der Seegasse, auf ein modernes Erscheinungsbild bezogen (eben das „wilde Wuchern“, eine Folge eigentlich der Vernachlässigung der Friedhöfe), was also nicht bewusst in der Vergangenheit generiert wurde, stellte Bar-Levav fest: „Das Ambiente der Verwahrlosung […] reflektiert auch die Marginalität des Todes und des Friedhofs im größeren Zusammenhang der jüdischen Kultur.“ Trifft auch diese Feststellung nicht verallgemeinert zu, bedenkt man die hohe Anstrengung über Jahrhunderte, die gerade der würdigen Erhaltung des Friedhofs in der Seegasse gewidmet wurde, so unterstreicht die Analyse Bar-Levavs doch die Tatsache, dass die „Verwahrlosung“ der Friedhöfe, damals wie heute, meist keiner bewussten Ästhetik entsprach, sondern eigentlich der Instabilität und wiederholten Auslöschung jüdischen Lebens auf lokaler Ebene in Europa.94 Das ästhetische Leitmotiv der Verwahrlosung, das die Historiographie wie die Sepulkralliteratur des späten 19. und frühen 20. Jahrhundert charakterisiert, sollte auch in Überlegungen über den Umgang mit den Wiener jüdischen Friedhöfen unter dem Nationalsozialismus eine wesentliche Rolle spielen. Eine letzte verwandte Quellengattung, die im Zusammenhang mit der Rezeptionsgeschichte der Wiener jüdischen Friedhöfe erwähnt werden muss, ist die der Reiseführer. Bereits 1879 wurde ein Führer auf den Friedhöfen Wiens und Umgebung im Selbstverlag von einem A. J. Krall veröffentlicht, der etliche Werbungen für Bestattungsunternehmen und Steinmetzbetriebe enthielt, womit vermutlich der Druck finanziert wurde. Der Verfasser, den ich nicht näher identifizieren konnte, schilderte nicht nur die katholischen Friedhöfe Wiens, sondern auch den jüdischen Friedhof in Währing, und druckte im Anhang den „Jüdische[n] Kalender 5639“ sowie den „Türkische[n, also islamischen] Kalender 1296“ ab – eine für diese Ära auffallende kulturelle Inklusivität. Wie viele Exemplare der Sepulkralkultur bestand dieses Werk im Wesentlichen aus einer Liste von Grabstätten verstorbener Prominenter. Für den Großteil der 78 hier angeführten jüdischen Individuen wurden zwar seltsamerweise keine Eingaben unter dem Auswahlkriterium „Charakter“ angeführt, doch handelte es sich offensichtlich um die Eminenz der seinerzeitigen jüdischen Gemeinde, wie aus den Namen hervorgeht, wie die der Bankiers Hermann Todesco, Nathan von Arnstein und Jonas Freiherr von Königswarter, den „Vertretern“ der Wiener Judenheit, Michael Lazar Biedermann, Isak Löw Hofmann und 94 Bar-Levav: We Are Where We Are Not, S. 34, 42.
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Israel Hönig von Hönigsberg sowie der Rabbiner Isak Noa Mannheimer und Lazar Horowitz. Auch wurden hier auffällig einige jüdische Frauen angeführt, wie die Philanthropinnen Elise Herz und Fanny Jeiteles. Zum Zentralfriedhof, der zu dieser Zeit noch sehr neu war und in dem nur wenige Menschen bisher bestattet worden waren, gab es freilich sehr wenig Information.95 Wie hier in Kapitel 5 besprochen, rief das „kahle ausgedehnte Leichenfeld“ des Zentralfriedhofs anfangs eine „abwehrende Haltung“ unter der Wiener Bevölkerung hervor, wie es der Architekt Max Fleischer, der viele der opulentesten Grabdenkmäler in der alten jüdischen Abteilung entwarf, 1892 in einem Beitrag in der Zeitschrift Der Bautechniker schilderte. Seit seiner Entstehung in den 1860er-Jahren hatte sich der Ort jedoch durch seine „schattige[n] Alleen, schöne[n] Anlagen und reichliche Bepflanzung“ zu einer richtigen „Todtenstadt“ und somit zu einer „Sehenswürdigkeit“ Wiens entwickelt – und das noch vor den Monumentalprojekten wie dem Eingangsportal und der Aufbahrungshallen beim II. Tor oder der zentral gelegenen Karl-Borromäus-Kirche, die erst in den 1900er-Jahren erbaut werden sollten. „Eine Wanderung durch den Wiener Central-Friedhof ist für den Künstler und Kunstfreund anregend und lohnend“, lobte Fleischer und verwies auf das wachsende Interesse der „Publizistik des In- und Auslandes“ am Wiener Zentralfriedhof, so wie hier oben teilweise skizziert. Fleischer verwies hier abermals auf die Neuartigkeit des Fehlens einer Trennmauer zwischen den „katholischen“ (eigentlich überkonfessionellen) und jüdischen Abteilungen, deren „Trennung nur in einer Allee“ bestand. Wurde dies bei der Eröffnung der jüdischen Abteilung 1879 hauptsächlich als Merkmal der Emanzipation in der liberalen Ära gedeutet, so betonte der Architekt in diesem Beitrag die Tatsache, dass die „israelithische Abteilung“ somit auch einen integralen Bestandteil dieser künstlerisch hochwertigen Wiener Sehenswürdigkeit ausmachte.96 Ein undatierter Führer durch den Zentralfriedhof eines unbenannten Verfassers, aufgrund der geschilderten räumlichen und architektonischen Merkmale vermutlich um 1910 im Verlag Gerlach & Wiedling veröffentlicht, verwies gleich zu Beginn darauf, dass dieser Bestattungsraum aus „eine[r] allgemeine[n] und eine[r] israelitische[n] Abteilung“ bestand. Es wurde somit der jüdische Teil nicht nur explizit in die Betrachtung mit einbezogen, sondern samt den „russischen“ und „griechischen“ (die jeweiligen christlich-orthodoxen) Abteilungen aufgrund ihrer „beachtenswerte[n] Grabmäler“ auch positiv bewertet.
95 Krall, A. J.: Führer auf den Friedhöfen Wiens und Umgebung, Wien 1879, S. 40, 30–32, 35. 96 Fleischer, Max: Mausoleum am Centralfriedhofe in Wien, in: Der Bautechniker, 14. Oktober 1892, zit. nach Steines, Patricia: Hunderttausend Steine. Grabstellen großer Österreicher jüdischer Konfession auf dem Wiener Zentralfriedhof Tor I und Tor IV, Wien 1993, S. 42.
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Insgesamt wurden 19 Grabsteine beim I. Tor unter einer Liste von „Hervorragende Grabdenkmale“ vorgestellt, darunter die hier in Kapitel 5 analysierten Grabdenkmäler der Familien Springer, Gutmann, Wiener von Welten, Rothschild, Bauer und Engel sowie von Adolf Fischhof und Ludwig August Frankl. Diese wurden allesamt von Max Fleischer entworfen, mit Ausnahme des Rothschildmausoleums (Wilhelm Stiassny) und des Franklgrabs (Johann Benk). Einer hier zitierten Statistik zufolge besuchten bereits zu dieser Zeit jährlich etwa 700.000 Menschen den Zentralfriedhof. Kamen alleine zu Allerheiligen geschätzte 200.000, was auf die katholisch-religiösen BesucherInnen zurückzuführen ist, so deutet die Gesamtzahl doch darauf, dass der Zentralfriedhof sich schon im frühen 20. Jahrhundert als wesentliche Sehenswürdigkeit der Stadt Wien zu etablieren begann – sowie, dass der jüdische Teil durchaus ebenfalls rezipiert wurde. Der Führer wurde mit einigen Photographien illustriert, die auch den Friedhof beim I. Tor zeigten, darunter ein Photo einer weiblichen Friedhofsbesucherin, die in die Kamera blickt.97 Das war für diese Zeit in der allgemeinen Darstellung europäischer Nekropole nicht ungewöhnlich, was als Ausdruck eben ihrer zunehmenden Rolle als Sehenswürdigkeiten verstanden werden kann.98 Dennoch stellt dies eine deutliche Ausnahme in der Dokumentation der Wiener jüdischen Friedhöfe dar, die damals wie heute meist menschenleer dargestellt wurden und werden und somit einen implizit „zeitlosen“ Eindruck machen. Noch im Jahre 1935 veröffentlichte Ignaz Hermann Körner, ein wenige Jahre später ins Exil getriebenes zionistisches Kultusvorstandsmitglied und Amateurhistoriker, im Auftrag der Kultusgemeinde seinen Führer durch den alten Judenfriedhof, den Friedhof in der Seegasse. Laut Vorwort handelte es sich hier bloß um einen „Auszug aus dem Monumentalwerk“ des kürzlich zuvor verstorbenen Bernhard Wachstein, und tatsächlich wurde hier hauptsächlich ein Resümee von Wachsteins Forschungsergebnissen vorgeführt. Gerade in seiner Kompaktheit ist dieser Führer jedoch bemerkenswert: Bei Wachsteins zweibändigem, weit über 1.000 Seiten langen wissenschaftlichen Werk ist es fraglich, wie viele Menschen es überhaupt gelesen haben. Doch mit diesem Führer hätte jede(r) BesucherIn den Friedhof ohne große Mühe besichtigen und die hier vorgeführten Besonderheiten finden können. Den Friedhof beschrieb Körner als „das hervorragendste historische Denkmal der Wiener jüdischen Gemeinde“, wobei gewiss das Alter und die damit verbundene „Historizität“ des Ortes ausschlaggebend waren. Der Währinger Friedhof und die alte jüdische 97 Alle Zitate in der Reihenfolge ihrer Nennung: o. V.: Der Wiener Zentralfriedhof, S. 3, 6, 34–36, 6, 18. 98 Vgl. die Diskussion in Ariès: Bilder, S. 249–250 sowie die Abbildungen der flanierenden, offensichtlich wohlhabenden Menschen im Friedhof von Père-Lachaise in Paris auf S. 246.
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Abteilung am Zentralfriedhof wurden hingegen nur nebenbei erwähnt, wobei Körner besonderes Augenmerk auf das neue Kriegerdenkmal in der Gruppe 76B legte. Aber auch das Grab Theodor Herzls am Döblinger Friedhof, des Pioniers der zionistischen Bewegung, der zu dieser Zeit bereits zu einer Ikone für die Wiener Judenheit geworden war, erwähnte Körner als Sehenswürdigkeit. Ergänzt wurde der Band mit einer Aufzählung von „Wiener jüdischen Institutionen“ samt Beschreibungen und Adressen, was an die Wiener Ausgabe der heutigen „Stadtreisen zum jüdischen Europa“ des Mandelbaum Verlags erinnert.99 Eine andere Form eines Reiseführers bildete der ebenfalls 1935 selbstverlegte Band Jüdisch-geschichtliche Stätten in Wien und den österreichischen Bundesländern von Josef Pick, einem städtischen israelitischen Religionslehrer, der wenige Jahre später in Theresienstadt umkommen sollte. Dieser Band sollte durch die Verwurzelung „jüdisch-geschichtlicher Stätten“ vor allem in der Wiener Stadttopographie die kulturelle Verwurzelung der jüdischen Bevölkerung in Österreich überhaupt aufzeigen, wobei gerade die jüdischen Friedhöfe, damals wie heute, als Verkörperung dieser historischen Verwurzelung fungierten. Das Werk sollte „der jüdischen Jugend ein Stück Heimatkunde Österreichs“ vermitteln und dadurch zeigen, „wie lieb und teuer uns diese Heimat ist. Ein Gang durch die Geschichte der Juden in Österreich vom 12. Jahrhundert bis auf die Gegenwart verleiht der jüdischen Jugend das stolze Bewußtsein ihrer Bodenständigkeit und ihrer berechtigten Verbundenheit mit diesem Lande“. Bezeichnenderweise wurde hier auf ein leider unbenanntes, „[s]chon vor Jahren […] vom niederösterreichischen Landesschulrat herausgegebene[s] Exkursionsbuch für Mittelschulen“ verwiesen, das „auch auf Denkmäler der jüdischen Geschichte in diesem Bereiche aufmerksam“ machte. Somit wurde explizit auf die Aufmerksamkeit der nichtjüdischen Öffentlichkeit für das jüdische Kulturerbe Österreichs verwiesen – und das noch zur Zeit der oft als rein antisemitisch dargestellten austrofaschistischen Diktatur. Der Band enthielt ein Geleitwort des inzwischen profilierten Gelehrten Max Grunwald, der auf einen kürzlich zuvor veröffentlichten Führer zu jüdischen Sehenswürdigkeiten in Krakau sowie in anderen Städten verwies und somit die Begehrtheit eines solchen „Führer[s] durch die jüdischen Sehenswürdigkeiten unseres Landes“ begründete, nicht zuletzt auch aufgrund des „erfreuliche[n] Aufschwung[s], den der Fremdenverkehr in Österreich zu verzeichnen hat“ – ein Argument, das Jahrzehnte nach der Shoah in den Diskussionen zur Instandsetzung der historischen Friedhöfe wieder fallen würde. Markant stellte 99 Alle Zitate in der Reihenfolge ihrer Nennung: Körner, Ignaz Hermann: Führer durch den alten Judenfriedhof von Wien, IX. Seegasse 9, Wien 1935, S. 3, 4, 37, 36. Vgl. Feurstein-Prasser, Michaela/Milchram, Gerhard: Jüdisches Wien, Wien 2007, S. 170–183.
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Grunwald den Verdacht in den Raum, dass „es unter den Wiener Juden sicherlich viele gibt, die z. B. den alter Prager Judenfriedhof, aber keinen der Wiener kennen“. Pick wies diesem Friedhof, den er als „Bestandteil der Gartenanlage“ des jüdischen Versorgungsheims in der Seegasse 9–11 beschrieb, einen prominenten Platz im Führer zu. Der Friedhof berge in seinen Grabsteinen nämlich „einen großen Schatz jüdischer Urkunden“, die Menschenleben dokumentierten, „die nicht nur die Geschicke der Wiener Juden in aufopferungsvollster Weise lenkten, sondern auch im wechselvollen Verlaufe der Geschichte in die Geschicke ihres Landes, und damit oft ganz Europas, mächtig helfend eingriffen“. Der Friedhof versinnliche also die Verwurzelung dieser Menschen – gemeint waren offensichtlich vorranging die shtadlanim und andere Prominente der Frühen Neuzeit – in der Wiener Geschichte, sogar in „ganz Europa“, ebenso wie der Friedhof selbst als historischer Raum in der gegenwärtigen Topographie verwurzelt war. Auch auf den Währinger Friedhof kam Pick zu sprechen, wo „viele Männer, deren Namen in der Geschichte der Juden Wiens rühmlich verewigt sind“, bestattet waren. Somit bestand Picks Darstellung der Friedhöfe vorwiegend aus einer Summierung der reichen und mächtigen Männer der damaligen jüdischen Gemeinschaften, ein Deutungsrahmen, der bis heute die Geschichtsschreibung sowie die öffentliche Wahrnehmung der Friedhöfe prägt. Nach wie vor ist dies ein von prominenten Männern dominiertes Bild der Geschichte der Wiener Judenheiten. So wurde beispielsweise Fanny von Arnstein nur deswegen erwähnt, weil sich in ihrem Salon „die einflußreichsten Männer jener Epoche“ zusammenfanden. Bemerkenswerterweise wurden die „zwei Zeremonienhallen“ – offensichtlich jene am Zentralfriedhof – in diesem Führer als bedeutende architektonische Denkmäler angeführt. Diese werden tatsächlich sonst oft vergessen, wenn es in historischen und topographischen Studien um ehemalige jüdische Repräsentationsgebäude in Wien geht, obwohl diese Monumentalbauten durchaus mit den großen Synagogen Wiens vergleichbar waren, ja von den gleichen Architekten entworfen wurden.100 In diesem Zusammenhang ist ebenfalls die Behauptung des Historikers Karl Albrecht-Weinberger bemerkenswert, dass die sephardische Synagoge im 2. Bezirk (der sogenannte Türkische Tempel) vor ihrer Zerstörung in den Novemberpogromen als „eine in Wien einzigartige architektonische Sehenswürdigkeit“ galt, die angeblich „den Touristen in jedem Stadtführer zur Besichtigung empfohlen wurde“.101
100 Alle Zitate in der Reihenfolge ihrer Nennung: Pick, Josef: Jüdisch-geschichtliche Stätten in Wien und den österreichischen Bundesländern, Wien 1935, S. 3, 5, 9, 11–23, 29–30, 33. 101 Albrecht-Weinberger, Karl: Vorwort, in: Heimann-Jelinek, Felicitas (Hg.): Die Türken in Wien. Geschichte einer jüdischen Gemeinde, Wien 2010, S. 5.
Rezeption und Stellenwert der Wiener jüdischen Friedhöfe
Zum Abschluss kommen wir noch auf eine spezifische und einflussreiche Iteration des Reiseführers in Bezug auf die Rezeption der Wiener jüdischen Friedhöfe zu sprechen: den Baedeker. Der Baedeker entwickelte sich im 20. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum, wie der Historiker Harald Tersch argumentierte, zum „Synonym für das gesamte Genre“ der Reiseführer. Im Kontext der Ersten Republik wurde dieses Genre auch „zu einem politisch brisanten Medium“, wie Tersch zeigte: „Seit der Frühen Neuzeit lockte die multikulturelle Atmosphäre am Rande des kaiserlichen Hofes Fremde in die Residenz, so dass Reisehandbücher das Image eines aufregend bunten ‚Völkergemischs‘ pflegten und dieses zur Grundlage des Wiener Volkscharakters machten.“ Gerade die jüdische Kultur bzw. die jüdische Bevölkerung Wiens war aber zusehends abwesend in den Baedekers, was den Wiener Journalisten und Herausgeber der Neuen Freien Presse, Ludwig Hirschfeld, der später in Auschwitz ermordet wurde, dazu veranlasste, 1927 eine Wiener Ausgabe in der satirischen Reihe „Was nicht im ‚Baedeker‘ steht“ herauszugeben, in dem diese Tatsache ironisch reflektiert wurde.102 Im 19. Jahrhundert wurde die Stadt Wien noch in allgemeinen BaedekerFührern zu Österreich bzw. Deutschland subsumiert. Erst 1873 erfolgte ein Baedeker zu „Wien und Umgebung“, 1931 dann eine eigene Wienausgabe.103 Die Ausgabe aus dem Jahre 1873 erwähnte als Sehenswürdigkeiten zwar die Matzleinsdorfer Friedhöfe (katholisch und evangelisch) und den Weidlinger Friedhof im niederösterreichischen Klosterneuburg vor Wien, doch keinen der beiden jüdischen Friedhöfe der Haupt- und Residenzstadt.104 Zutiefst politisiert war natürlich die Ausgabe zu „Wien und Niederdonau“ aus dem Jahre 1943, die markanterweise gleich hinter der Titelseite die Noten von An der schönen blauen Donau von Johann Strauss (Sohn) anführte, ein abermaliges Beispiel der „Arisierung“ des Komponisten, der in der NS-Zeit an vorderster Stelle mit der „Wiener Kultur“ in Verbindung gebracht wurde. Der Reiseführer wurde laut Vorwort aufgrund der öffentlichen Nachfrage nach der „weltgeschichtliche[n] Tat Adolf Hitlers vom 13. März 1938“ neu herausgegeben. Die Darstellung der Geschichte der „Ostmark“ in der Einleitung entsprach freilich der NS-Ideologie, wobei die jüdische Geschichte, vor allem die Einschnitte etwa der „Gesera“ von 1421 oder der Vertreibung 1670 gar nicht erwähnt wurden. 102 Tersch, Harald: Vom Katalog zum Kanon. Der Wien-Reiseführer im Zeitalter des Baedeker, in: Mattl-Wurm, Sylvia/Pfoser, Alfred (Hg.): Die Vermessung Wiens. Lehmanns Adressbücher 1859–1942, Wien 2011, S. 316. Vgl. Hirschfeld, Ludwig: Das Buch von Wien, München 1927. 103 Vgl. die Zusammenfassung in Baedeker, Karl: Wien und Umgebung. Stadtführer von Karl Baedeker, Freiburg 1979, S. 7. Bei diesem Verfasser handelt es sich wohlgemerkt um einen gleichnamigen Nachkommen. 104 Bucher, Bruno/Weiss, Karl: Wiener Baedeker. Wanderungen durch Wien und Umgebungen, Wien 1873, S. 142, 179.
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Markant war auch die Beschreibung der Regierungszeit Joseph II., der dem Baedeker zufolge „einen Einheitsstaat unter deutscher Führung“ herstellen wollte – man vergleiche die Behauptung seitens vieler HistorikerInnen, Joseph II. hätte eine „Germanisierung“ seines Reiches angestrebt (siehe hier Kapitel 4), ein von mehreren Beispielen, wo sich die heutige Geschichtsschreibung noch in Teilen mit jener der NS-Zeit deckt. Bezeichnend war auch die Beschreibung der „Deutschen Österreichs“ nach der Gründung des österreichischen Kaiserstaats 1806, die angeblich „bis zur Schaffung des Großdeutschen Reiches [die] treueste[n] Träger des gesamtdeutschen Ideals“ blieben. Der Juliputsch 1934 wurde hier zum geschichtsträchtigen Ereignis erhoben, und es wurde auch auf eine diesbezügliche Gedenktafel in der Stiftskaserne im 7. Bezirk als Sehenswürdigkeit verwiesen. Im Abschnitt zur Geschichte Wiens wurde die Stadt der NS-Ideologie entsprechend als „alte Grenzfeste des Deutschtums im Südosten“ beschrieben, die in der Gegenwart eine „führende Stellung im deutschen Südosten“ einnahm, eine Spiegelung der führenden Rolle, die Wien in der NS-Expansionspolitik im Balkan spielen sollte. Auch hier fehlte natürlich zusehends die jüdische Geschichte, doch der antisemitische Bürgermeister Karl Lueger wurde – wie auch in den Jahrzehnten vor und nach der NS-Zeit – als Leitfigur der Wiener Geschichte gepriesen. Nur in Bezug auf die Zwischenkriegszeit wurde Wiens multiethnischer Charakter als „Vielvölkerstadt“ angesprochen und dann bloß als „Verfallserscheinung“ aufgrund des „unnatürliche[n] Zwang[s] der Abschnürung vom Altreich“, von dem angeblich „jedoch der gesunde Kern des Deutschtums unberührt blieb“. Unter Hitler nahm Wien „erneut seine natürliche Aufgabe als Tor für Wirtschaft und Kultur des Reichs im Südosten“ auf. Markant wurde darauf verwiesen, dass hiernach „[a]rtfremde Einflüsse […] ausgeschaltet“ wurden, was als mehr oder weniger expliziter Verweis auf die Deportation, wenn nicht ausdrücklich die Ermordung, der jüdischen Bevölkerung verstanden werden könnte. Die kulturtopographische „Nazifizierung“ der NS-Zeit wird in diesem Baedeker anhand der genannten Sehenswürdigkeiten der Inneren Stadt deutlich, die hier unter Namen wie „Gauhaus“ (Parlament) und „Adolf-Hitler-Platz“ (Rathausplatz) sowie „Hermann-Göring-Platz“ (heute Rooseveltplatz im 9. Bezirk) angeführt wurden. Auch der Zentralfriedhof wurde freilich als Sehenswürdigkeit genannt, zwar durchwegs „arisiert“, also ohne jeden Hinweis auf die jüdischen Abteilungen, doch freilich mit prominenter Nennung der Grabstätten der Familie Strauss. Bemerkenswert ist, dass im beigelegten Stadtplan der Währinger jüdische Friedhof in seiner Gänze, samt dem eigentlich zu dieser Zeit bereits „arisierten“ und zerstörten südöstlichen Teil des Areals (das unten eingehender besprochen wird), angeführt wurde, zudem sichtlich als „jüdischer“ Friedhof gekennzeichnet durch Verwendung des Motivs runder
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Grabsteine anstelle von Kreuzen (siehe hier Kapitel 3). Der Friedhof in der Seegasse ist hingegen nicht auf dem Plan markiert.105 In der nächstfolgenden Wienausgabe des Baedekers aus dem Jahre 1979 fällt sofort auf, dass die Noten des Donauwalzers nach der Titelseite beibehalten wurden. In der nun „entnazifizierten“ historischen Übersicht wurde zwar einerseits die „Austreibung“ der jüdischen Bevölkerung in der NS-Zeit erwähnt sowie die Tatsache, dass sich nach 1945 eine kleine Anzahl von Jüdinnen und Juden wieder in Wien niederließen, die „vor allem in der Wiener Intelligenz“ vertreten waren – eine recht philosemitische Behauptung, die die allgemeine Tendenz spiegelt, eine schwindend kleine Anzahl von Prominenten als stellvertretend für das Kollektiv wahrzunehmen. Andererseits wurden hier die langfristige jüdische Geschichte Wiens wie auch die „Gesera“ oder die Vertreibung von 1670 nicht genannt. Dies zeigt auch die nachhaltende Tendenz, wie auch in der Ausgabe von 1943, die jüdische Bevölkerung als „moderne Erscheinung“ abzutun, womit die jahrhundertealte jüdische Geschichte der Stadt – sowie die jahrhundertealte Geschichte der Verfolgung und Vertreibung – einfach ausgeblendet wurde. Ebenso ausgeblendet war die jüdische Mitprägung der österreichischen Wirtschaft und Kultur, so vor allem in den Großprojekten des 19. Jahrhunderts, aus der viele der hier genannten Sehenswürdigkeiten überhaupt hervorgingen. Ein paradigmatisches Beispiel wäre das Riesenrad im Prater, das heute in verschiedenen Kontexten als Wahrzeichen Wiens vorgeführt wird: 1897 vom später ins Exil getriebenen jüdischen Theaterdirektor Gabor Steiner für das 50. Thronjubiläum von Kaiser Franz Joseph initiiert, wurde es 1938 von seinem neuen, ebenfalls jüdischen Besitzer Eduard Steiner „arisiert“. Dieser wurde 1944 in Auschwitz ermordet. Eine weitere Kontinuität zeigte sich hier im Lob von Karl Lueger, der nach wie vor als Leitfigur der Wiener Geschichte angeführt wurde, nun allerdings von seiner antisemitischen Last durch dessen einfache Ausklammerung befreit. Wien im „Deutsche[n] Reich“ – gemeint war der NS-Staat – wurde wie 1943 noch als „wirtschaftlicher Umschlagsplatz für den europäischen Südosten“ angeführt, ohne jeden Hinweis auf den Vernichtungskrieg, der im Südosten Europas im Namen dieses Reiches geführt wurde. Hingegen wurde das Leiden der Wiener Bevölkerung während der „blutige[n] Eroberung“ durch die Rote Armee im April 1945 beklagt – ein Paradebeispiel der Darstellung Österreichs als „Opfer“, und nicht als Täterland im Zweiten Weltkrieg. Man beachte aber zugleich die Wortwahl: Hier war eben nicht die Rede von einer „Befreiung“, sondern einer „Eroberung“ Österreichs, was der Vorstellung eines „besetzten 105 Alle Zitate in der Reihenfolge ihrer Nennung: Baedeker, Karl: Wien und Niederdonau. Reisehandbuch von Karl Baedeker, Leipzig 1943, S. iv–v, xxix, xxxii–xxxiii, xxxvii, 3, 8–10, 45–47, 75–76. Auch bei diesem Verfasser handelt es sich um den Nachkommen.
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Lands“ widerspricht. So wurden auch die „[f]ast 11[.]000 Einwohner“ Wiens beklagt, die im Krieg starben – ohne jede Erwähnung der über 65.000 jüdischen und als „jüdisch“ verfolgten ÖsterreicherInnen, sowie tausender anderer als nichtzugehörig definierter EinwohnerInnen, die von ihren Nachbarn verhöhnt, verschleppt und schließlich ermordet wurden. Es wurde zwar die jüdische Vergangenheit der Leopoldstadt angesprochen, wohl aber nur um die dort ansässigen Kulturschaffenden als „Wiener“ Kulturerbe in Anspruch zu nehmen, so beispielsweise – selbstverständlich neben der prominenten Erwähnung von Strauss Vater und Sohn – die ins Exil getriebenen Arnold Schönberg, Max Reinhardt, Franz Werfel und Stefan Zweig oder der in den Selbstmord getriebene Egon Friedell. Von Exil und Selbstmord war aber keine Rede. Die hier bereits genannten Ehrengräber von Schönberg, Karl Kraus sowie freilich der Familie Strauss am Zentralfriedhof, zuzüglich jenes von Werfel (1945 in Beverly Hills, Kalifornien verstorben und bestattet, 1975 nach Wien überführt, 32C-39), die sich alle in den allgemeinen Teilen des Friedhofs befinden, wurden hier als Sehenswürdigkeiten erwähnt, die jüdischen Abteilungen, geschweige denn die anderen schwer geschändeten jüdischen Friedhöfe der Hauptstadt, erhielten hingegen keine besondere Erwähnung.106 Diese Ausgrenzung der Wiener jüdischen Geschichte neben der gleichzeitigen Vereinnahmung von entweder vertriebenen oder ermordeten jüdischen Kulturschaffenden ist charakteristisch für die Historiographie der Wiener Sepulkralkultur der Nachkriegszeit und stellvertretend für die kulturelle Selbstauffassung der Zweiten Republik überhaupt. Hierauf wird im letzten Kapitel im Anschluss an die hier vorangegangene Diskussion im Detail eingegangen. 7.3
Bestrebungen zur Bewahrung bzw. Vernichtung der Wiener jüdischen Friedhöfe vor der Shoah
Im Zuge der Modernisierung der Stadt Wien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden weitflächige Teile ihrer historischen Bausubstanz vernichtet, so auch viele historische Kulturdenkmäler. Darunter befanden sich insgesamt 19 Friedhöfe, die bis in die Zwischenkriegszeit aufgelassen wurden, inklusive all der nach den Josephinischen Reformen errichteten Kommunalfriedhöfe, mit alleiniger Ausnahme des St. Marxer Friedhofs. In späteren Auflistungen dieser historischen Friedhöfe Wiens wurden aber nach wie vor die beiden erhalten gebliebenen innerstädtischen jüdischen Friedhöfe in der Seegasse und in Währing übersehen, charakteristisch für die Ausgrenzung der jüdischen Kultur 106 Alle Zitate in der Reihenfolge ihrer Nennung: Baedeker: Wien und Umgebung, S. 7, 39, 54, 56, 58–61, 192, 46–47, 223.
Bestrebungen zur Bewahrung bzw. Vernichtung der Wiener jüdischen Friedhöfe vor der Shoah
in der allgemeinen Wiener Geschichtsschreibung nach der Shoah. Wie der Lokalhistoriker Hans Markl unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg schrieb, wurden die nichtjüdischen Friedhöfe „in Gärten, Spielplätze, Erholungsstätten umgewandelt. Das Leben war stärker als der Tod – und so mußten sie eben weichen“.107 Diese faktische „Vernichtung“, also die aus stadtplanerischer Zweckmäßigkeit begründete Auslöschung historischer Denkmäler, die heute aus denkmalpflegerischen Gründen nicht möglich wäre, wurde auch damals nicht stillschweigend von der Wiener Bevölkerung hingenommen. Als beispielsweise der Währinger Ortsfriedhof, wo bis zu ihrer Überführung an den Zentralfriedhof 1888 auch Ludwig van Beethoven und Franz Schubert bestattet lagen, in den Jahren 1924/25 in einen Park umgewandelt wurde, brach ein öffentlicher Proteststurm aus.108 Wie in einem vom Wien Museum herausgegebenen Band zu aufgelassenen Wiener Friedhöfen dargelegt, wurden die christlichen Toten seit jeher inmitten der Lebenden bestattet. Dies änderte sich mit der Auflassung innerstädtischer Friedhöfe in der Moderne insofern nicht, als die Bestattungsplätze zwar geräumt und oft überbaut wurden, die Leichen aber meist nach wie vor liegen blieben: In Wien liegen unter vielen der öffentlichen Plätze der Stadt – beispielsweise in Parks und Märkten – sowie in den Räumen unterhalb der Kirchen Leichen. Im späten 19. Jahrhundert, zu eben der Zeit, als bei Bauarbeiten die aus dem zerstörten mittelalterlichen jüdischen Friedhof beim Kärntnertor verschleppten Grabsteine wiederentdeckt wurden, die schließlich im Friedhof in der Seegasse aufbewahrt wurden, traten auch solche unter der Stadt, vor allem in den Vorstadtbezirken bestatteten Leichen christlicher Verstorbener vergangener Jahrhunderte wieder ans Tageslicht. Oft sahen Stadtarchäologen solche Friedhofsauflassungen als Gelegenheit zur historischen Forschung: ein eindringliches Beispiel des Zusammenspiels von Bewahrung und Vernichtung in der Stadttopographie. Am Märzpark im 15. Bezirk, wo sich der ehemalige Schmelzer Kommunalfriedhof befand, wurden beispielsweise bei solchen Forschungen im Zuge der Ausgrabungen in Vorbereitung auf den Bau der Stadthalle am Anfang des 21. Jahrhunderts viele der teuren Grüfte leer aufgefunden, da die dort bestatteten Leichen offensichtlich bei der Stilllegung des Friedhofs 1874 anderswo wiederbestattet wurden. Die Leichen der armen, „gewöhnlichen“ Bestatteten lagen noch vor Ort.109 Dieser Befund streicht einmal wieder die Verbindung zwischen Prominenz, der Erinnerung nach dem Tode und der Erhaltung von sterblichen Überresten heraus: Die Umbettung der Leichen, vor
107 Markl, Hans: Alt-Wiener Friedhöfe, Wien 1947, S. 3. 108 Vgl. Katalogteil, in: Kos/Rapp (Hg.): Alt-Wien, S. 399. 109 Ranseder (Hg.): Zur Erden bestattet, S. 9, 28–29, 169–170.
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allem jener auf den Zentralfriedhof, war offensichtlich ein Luxus der Wohlhabenden und Hochangesehenen. Auch die dort bestatteten Märzgefallenen, die hier in Kapitel 4 diskutiert wurden, gelangten 1888 in ein Ehrengrab samt Obelisk in Gruppe 26 im Zentralfriedhof, mit Ausnahme des Schädels eines der Gefallenen, der von der Familie behalten wurde und heute im Wiener Kriminalmuseum ausgestellt ist. Im unten diskutierten Kontext der anthropologischen Ausgrabungen am Währinger Friedhof für rassistische Forschung während der Shoah wird diese Dynamik nochmals folgenreich hervortreten. Der 1924 in Wien als Fritz Mandelbaum geborene Schriftsteller Frederic Morton beschrieb in seiner romanartigen Darstellung Wiens um das Jahr 1888 die Exhumierungen von Beethoven und Schubert am Währinger Ortsfriedhof, eine eigentümliche Geschichte, die nicht nur ein charakteristisches (und tatsächlich geschehenes) Beispiel der vielgerühmten „Wiener Morbidität“, sondern auch das moderne wissenschaftliche Interesse an menschlichen Überresten zur Schau stellt: Die Gebeine der großen Komponisten wurden nämlich nicht sofort in die für sie bestimmten Ehrengräber am Zentralfriedhof umgebettet, sondern erst einer genauen Bemessung unterzogen. Nach den damals gängigen Hypothesen der Phrenologie sollte anhand der Schädel nämlich der Ursprung ihres Genies erforscht werden. Morton schilderte das Geschehen in größerem Detail im Falle Schuberts: Alles verlief nach typisch Wienerischen Ritual. Schuberts Schädel wurde auf ein kleines, mit schwarzem Samt überzogenes Tischchen gelegt, so feierlich, als setze ein Priester die Monstranz auf dem Altar nieder. Ein gewisser Dr. Langl photographierte das ehrwürdige Kranium viermal, vor allem die rechte Profilansicht, die am besten erhalten war. Ein Sekretär mit Zylinder fertigte ein Protokoll an. Darin wurde festgehalten, daß Schuberts Schädel tiefgelb sei und sein Gebiß immer noch in ausgezeichnetem Zustand (weit besser als das Beethovens, das man bei einer ähnlichen Zeremonie im Juni zu Gesicht bekommen hatte) und daß nur ein Backenzahn fehle. Die Gesichtspartie sei im Vergleich zur Hirnkapsel stark entwickelt, und Reste von Bekleidung, aber auch vom Haupthaar seien immer noch zu erkennen.110
In der Untersuchung von Beethovens Schädel wurde zudem festgestellt, dass es schon nach seinem Tod 1827 vom Prosektor Dr. Wagner aufgesägt wurde, was bereits auf eine damalige phrenologische Untersuchung weist. Bekunden diese Beispiele von einer offiziell legitimierten wissenschaftlichen Untersuchung von menschlichen Überresten, so weist eine ähnliche Geschichte bedenkliche Parallelen zur unrechtsmäßigen Vereinnahmung sterblicher Überreste auf, die später unter dem Nationalsozialismus am Währinger Friedhof geschehen sollte. 1820 wurde aus dem Hundsturmer Friedhof im 12. Bezirk 110 Morton: Schicksalsjahr Wien 1888/89, S. 22–23, 105–106.
Bestrebungen zur Bewahrung bzw. Vernichtung der Wiener jüdischen Friedhöfe vor der Shoah
Meidling, wo sich heute der Haydnpark befindet, der exhumierte Schädel von Joseph Haydn durch einen Wiener Magistratsbeamten entwendet, der diesen als phrenologisches Relikt in Besitz nehmen wollte. Der Schädel wurde erst 1954 wieder ausfindig gemacht und in das neue Grab des Komponisten in Eisenstadt sozusagen „restituiert“. Auch der Schädel des beliebten Wiener Dramatikers Ferdinand Raimund wurde für eine phrenologische Sammlung „angeeignet“ und gelangte erst 1969 über das Historische Museum der Stadt Wien (heute Wien Museum) wieder in das Grab im niederösterreichischen Gutenstein.111 Die Enteignung von Körperteilen zu dubiosen Forschungszwecken hat also eine lange und bedenkliche Tradition in Wien, genauso wie die Räumung und Überbauung von Begräbnisstätten im Falle von nichtjüdischen Friedhöfen eigentlich stets die Regel und nicht die Ausnahme war. Für die Kultusgemeinde, die ihren Bestattungsräumen samt den sich darin befindlichen menschlichen Überresten einen völlig anderen Stellenwert beimaß, stellte die Vernichtungswut der Stadtplanungsbehörden hingegen ein wesentliches Problem dar. Im „Motiven-Bericht“ zum Kultusgemeindestatut, das endlich 1896 ratifiziert wurde (siehe hier Kapitel 5), zählte der spätere Kultusgemeindepräsident Alfred Stern zur „Aufgabe der Cultusgemeinde […] die immerwährende und unantastbare Erhaltung“ ihrer Friedhöfe, „auch der bestandenen und aufgelassenen“, wobei der Friedhof in der Seegasse als Präzedenzfall für die Erhaltung historischer Friedhöfe genannt wurde.112 Auch in ihrem ersten Tätigkeitsbericht, ebenfalls aus dem Jahre 1896, verwies die Kultusgemeinde darauf, dass die alten Friedhöfe in der Seegasse und in Währing (allerdings nicht der neuere, auf gepachtetem Land errichtete Friedhof beim I. Tor) das ewige Eigentum der Kultusgemeinde darstellten. So würde sie „das Möglichste aufbieten, um eine Enteignung dieser Friedhöfe zu verhüten“, was bereits damals auf Bestrebungen seitens der Stadt deutete, diese einzuvernehmen, sie aufzulösen und ihre Flächen neuen städtischen Bautätigkeiten zu widmen. Des Weiteren, und wohl damit einhergehend, verpflichtete sich die Kultusgemeinde, „die Grabmäler um das Judenthum berühmter Personen zu erhalten und zu erneuern, wie dies mit den Grabsteinen der sel[igen] Samson Wertheimer und Abraham Oppenheimer [sic, vermutlich ist Samuel Oppenheimer in der Seegasse gemeint, siehe unten] geschehen ist“.113 Die zwei historischen jüdischen Friedhöfe sollten nun also einer umfassenden Instandsetzung unterzogen werden, eine Erhaltungsmaßnahme, die nicht bloß durch die Drohung der Auflösung und Vernichtung angespornt wurde, sondern wiederum als Argument für ihre weitere Bewahrung herhalten sollte. In ihrem folgenden Tätigkeitsbericht aus 111 Veigl: Morbides Wien, S. 153–157. 112 Stern: Motiven-Bericht, S. 13–14. 113 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Bericht [1896], o. S.
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dem Jahre 1898 sprach die Kultusgemeinde auch erstmals öffentlich von einer hiermit verbundenen historischen Erforschung des Friedhofs in der Seegasse, die nun in Auftrag gegeben wurden.114 Zu diesem Zeitpunkt war der Friedhof in der Seegasse weit über ein Jahrhundert für Bestattungen geschlossen und hatte also bereits eine wechselreiche Nachgeschichte, wie aus der frühen, oben diskutierten Historiographie ersichtlich ist. Dem Lokalhistoriker Wilhelm Kisch zufolge wurden schon nach der Vertreibung 1670 der damaligen jüdischen Bevölkerung sowie nach der endgültigen Schließung des Friedhofs 1783 dem Magistrat der Stadt Wien „Kaufanbote“ unterbreitet, „welche die Umwandlung [des Friedhofs] in eine Gartenanlage bezweckten“, die der Magistrat aber stets ablehnte aufgrund des Vertrags, der bereits 1670 mit der Wiener Judenheit zur Erhaltung des Bestattungsareals abgeschlossen worden war.115 In der großen Flut von 1784, dem Jahr nach der Schließung des Friedhofs, seien dem Heimatforscher Carl Hofbauer zufolge dann viele „Denkmäler, wahrscheinlich die ältesten zu Grunde“ gegangen. Danach blieb der alte jüdische Friedhof weitgehend „unbeachtet, und seine Denkmäler unter dem Dickicht wilder Hollundergebüsche verborgen“.116 Gerson Wolf bemerkte 1861, dass der Friedhof durch jahrzehntelange Verwahrlosung „arg verwüstet“ war; es wurden die Grabstätten mitunter „zu Gemüsebeeten benutzt. Erst in neuester Zeit wurde diesem Vandalismus Einhalt gethan“.117 Nach der Grundsteinlegung eines Siechenhauses als Anbau an das jüdische Spital in der Seegasse wurde 1844 der Friedhof auch erstmals instand gesetzt, indem das Gestrüpp zurückgeschnitten und die Grabsteine aufgerichtet wurden. Dabei wurden auch geschätzte 700 Abschriften der Denkmäler angefertigt, die erste Dokumentation der jüdischen Sepulkralepigraphik in der Wiener Geschichte, die auch zu den grundlegenden, oben zitierten Forschungen Ludwig August Frankls führte. Hieraus ging die falsch datierte Inschrift des angeblich 1517 verstorbenen Jungen „Isak Halfen“ (Isak ben Elia Chalfan) hervor, die danach oft, heute manchmal immer noch, als älteste Grabinschrift in der Seegasse zitiert wurde (tatsächlich verstarb er 1617).118 Wie erwähnt, wurde zwischen 1888 und 1898 das alte Spital in der Seegasse abgetragen und ein von Wilhelm Stiassny entworfener Neubau errichtet, der als jüdisches Alterheim und Siechenhaus dienen sollte. Eine neuerliche
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Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg): Bericht [1898], S. 30. Kisch: Die alten Strassen und Plaetze, S. 599. Hofbauer: Die Rossau, S. 108. Wolf: Geschichte der Israelitischen Cultusgemeinde, S. 91–92. Hofbauer: Die Rossau, S. 108–109. Vgl. Wachstein, Bernhard: Die Inschriften des alten Judenfriedhofs in Wien, 1. Teil 1540 (?)–1670, Wien 1912, S. 60.
Bestrebungen zur Bewahrung bzw. Vernichtung der Wiener jüdischen Friedhöfe vor der Shoah
Inventarisierung ergab hiernach 931 erhaltene Grabsteine am Friedhofsgelände.119 Ein undatierter Plan, der offensichtlich zu dieser Zeit angefertigt wurde, zeigt die damalige Lage des Friedhofs: Wo sich heute der Seitentrakt des städtischen Altersheims befindet, an der Ostseite des Friedhofs, befand sich damals ein „Spazier- und Gemüsegarten“.120 Auf dem Plan sind zwar viele einzelne Grabsteine und Bäume eingezeichnet. Ein Vergleich mit dem von Bernhard Wachstein angefertigten und durchnummerierten Plan nach dem Stand von 1912 zeigt allerdings, dass diese rein symbolisch waren und dem eigentlichen Terrain nicht entsprachen.121 Der frühere Plan zeugt jedenfalls vom wachsenden Interesse am Friedhof infolge der Aufwertung des Geländes des jüdischen Altersheims. Wachstein selbst wurde 1908 von der Historischen Kommission der Kultusgemeinde eingesetzt, um eine ausführliche Bestandsaufnahme des Friedhofs und der sich dort befindlichen Grabsteine in Vorbereitung auf eine umfassende Instandsetzung durchzuführen.122 Während dieser Bestandsaufnahme wurden die Grabsteine durchgehend chronologisch nummeriert, wie aus Wachsteins Inschriftenkataloge ersichtlich wird, und in seinem Plan verzeichnet, der sich nach der Shoah für die Wiederherstellung der Grabsteine am Friedhof als unentbehrlich erweisen sollte. Wachstein katalogisierte schließlich 1050 erhaltene Grabsteine und knapp über hundert Bruchstücke. Die Instandsetzungsarbeiten wurden in den Jahren 1908 bis 1912 zwar von der Kultusgemeinde initiiert und ausgeführt, doch erhielten sie beachtenswerterweise von der k.k. Zentral-Kommission für Kunst- und Historische Denkmale finanzielle Unterstützung. Nach einer Begehung des Areals seitens der Zentral-Kommission „beehrt[e]“ sie sich „auf Grund des Ergebnisses des vorgenommenen Lokalaugenscheines“ am 12. Juni 1909 der Kultusgemeinde mitzuteilen, dass der in Rede stehende Friedhof von grosser malerischer Wirkung ist, und daher mit Recht eine Sehenswürdigkeit Wiens genannt werden kann. Die Zentralkomission ist daher gerne bereit, den geehrten Vorstand in seinen Bestrebungen zur Erhaltung des Friedhofes und seiner Grabsteine zu unterstützen.123
119 Grefe: Der alte Friedhof, S. 9. 120 Situationsplan des Wiener Israelitenspitales und des neuerbauten Siechenhauses sammt dem alten Friedhofe, Spazier und Gemüsegarten, o. D., JMW, 22056. Vgl. auch Veran: Das steinerne Archiv, S. 129. 121 Wachstein: Die Inschriften, 1. Teil, Anhang. 122 Der Verlauf dieser Instandsetzungsarbeit ist dokumentiert im Akt Grabsteine Seegasse (betr. die Restaurierung der Grabsteine) 1902–1912, CAHJP, A/W 1719. 123 An den geehrten Vorstand der israelitischen Kultusgemeinde, 12. Juni 1909, CAHJP, A/W 1719.
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Die Unterstützung seitens dieses hohen öffentlichen Amtes für die Bewahrung jüdischen Kulturerbes ist umso bedeutungsvoller angesichts der politischen Lage dieser Zeit, der Amtszeit von Karl Lueger. Zudem ist die Sprache des Schreibens bemerkenswert: In der Bezeichnung des Friedhofs als „von grosser malerischer Wirkung“ und als „Sehenswürdigkeit Wiens“ knüpfte die ZentralKommission an die damals gängige kulturhistorische Wertung des Friedhofs an. Ging es der Kultusgemeinde bei der Instandhaltung ihrer Friedhöfe damals wie heute vorwiegend um das Einhalten der religiösen Pietät gegenüber den Toten, so war das Interesse seitens der (nichtjüdischen) Obrigkeit und Wissenschaft eher kulturhistorisch bedingt, wobei jüdisches Erbe signifikanterweise als zugleich „wienerisches“ Erbe gedeutet wurde.
Abb. 19 In einer Mauernische im Friedhof in der Seegasse befestigte frühneuzeitliche Grabsteine, die um 1900 bei Bauarbeiten am Friedhofsgelände aufgefunden wurden. © Autor
Bereits im 16. Jahrhundert wurden erstmals Grabsteine aus dem zerstörten jüdischen Friedhof beim Kärntnertor geborgen, die, wie hier in Kapitel 3 besprochen, vom Polyhistor Wolfgang Lazius in seinem Werk Vienna Austriae (1546) zur Analyse herangezogen wurden.124 Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts 124 Vgl. Schwarz: Das Wiener Ghetto, S. 54 und Schwarz: Geschichte der Juden, S. 29.
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wurden im Zuge der Demolierung und Neubebauung der Stadt vermehrt mittelalterliche jüdische Grabsteine in Wien und Umgebung aufgefunden: jeweils zwei 1847 in Wiener-Neustadt und 1895 in Mauer bei Wien, also in beachtlicher Entfernung von der mittelalterlichen Stadt, einer 1893 bei der Demolierung des Schwarzenbergpalais am Neuen Markt in der Inneren Stadt und elf 1904 bei einer Renovierung der Burgkapelle in den Grundmauern des Schweizerhofes in der Hofburg.125 Diese wurden zum Friedhof in der Seegasse verbracht und dort in den Mauernischen befestigt, genauso wie einige frühneuzeitliche Grabsteine, die während und nach dem Bau des neuen Spitals direkt am Friedhofsgelände aufgefunden wurden. Diese befinden sich wohlgemerkt nicht in chronologischer Reihenfolge, sondern in der Reihenfolge, in der sie gefunden bzw. an den Friedhof überführt wurden. Noch im Jahre 1933 wurden in der Bäckerstraße in der Nähe der Alten Universität mittelalterliche jüdische Grabsteine aufgefunden, die ebenfalls in einer Mauernische in der Seegasse aufbewahrt sind.126 Der Brauch, aufgefundene jüdische Grabsteine in den Mauern von bestehenden Friedhöfen wieder anzubringen, war auch anderswo in Europa durchaus verbreitet und sollte nach der Shoah infolge der weitgehenden Zerstörung zentral- und osteuropäischer jüdischer Friedhöfe nochmals verstärkt hervortreten.127 Darüber hinaus finden sich auch Parallelen zur nichtjüdischen Sepulkralgeschichte und Denkmalpflege: So wurden beispielsweise in Wien nach Aufhebung der Klöster unter Kaiser Joseph II. mehrfach historische Gruftplatten als Baumaterial verwertet, um im 20. Jahrhundert wiederentdeckt und, nun als historisch wertvolle Artefakte umgedeutet, im Wien Museum untergebracht zu werden.128 Auch das Jüdische Museum in Wien engagierte sich bei der Erhaltung und Erforschung der alten Grabsteine. Das Museum wurde 1895 als privates Unternehmen von der Gesellschaft für Sammlung und Konservierung von Kunstund historischen Denkmälern des Judentums gegründet, auf Initiative von Wiener Kulturschaffenden wie Wilhelm Stiassny, Max Fleischer und Ludwig August Frankl.129 Das Jüdische Museum war Ausdruck einer – wie es in ihren eigenen Schriften genannt wurde – „nostalgische[n] Sehnsucht“, deren tatsächliche Historizität allenfalls zu hinterfragen wäre. Stiassny zufolge war 125 Vgl. Wachstein: Hebräische Grabsteine, S. 3, 5. Vgl. die historischen Photographien von den unter der Hofburg aufgefunden Grabsteine in CAHJP, AU/196. 126 Pick: Jüdisch-geschichtliche Stätten, S. 8. Vgl. auch Körner: Führer durch den alten Judenfriedhof, S. 13. 127 Vgl. Liedel/Dollhopf (Hg.): Haus des Lebens, S. 69. 128 Vgl. Kassal-Mikula, Renate (Hg.): Steinerne Zeugen. Relikte aus dem alten Wien, Wien 2008, z. B. S. 182, 184, 188. 129 Vgl. grundlegend Kolb, Leon: The Vienna Jewish Museum, in: Fraenkel, Josef (Hg.): The Jews of Austria. Essays on Their Life, History and Destruction, London 1967.
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die weitgehende Ausblendung der jüdischen Kultur der Habsburgermonarchie aus zeitgenössischen Museen in Wien auch ein ausschlaggebender Grund, ein eigenes „jüdisches“ Museum zu gründen.130 In der Anlaufphase zur Eröffnung des Museums entsandten die Initiatoren eine Umfrage an die Mitgliedschaft der Kultusgemeinde, in der sie um Informationen und gegebenenfalls um Leihgaben von Objekten zur jüdischen Kultur und Geschichte baten. Unter sechs Gesichtspunkten galt einer auch jüdischen Friedhöfen, wobei um Details zu Bestattungsorten, ihrer Ausmaße, den Namen etwaiger dort bestatteter Prominenter sowie Details zu interessanten Grabdenkmälern gebeten wurde. Zu den frühesten Stiftern solcher Leihgaben zählten die Museumsbegründer selbst, wobei der Architekt Wilhelm Stiassny, zu dessen Werken zahlreiche Grabdenkmäler am Zentralfriedhof zählten, auch „mit Friedhöfen verwandte Artikel“ spendete. Unter den Spenden befanden sich Grabsteine, die zum Teil aus Exemplaren bestanden, die in Grabungsarbeiten rund um die Stadt Wien in den vergangenen Jahren aufgefunden worden waren, sowie Exemplare, die der Orientalist David Heinrich Müller nach einer Expedition in den Nahen Osten vom jüdischen Friedhof in Aden in Jemen mitbrachte – über die Umstände oder etwaige ethische Fragen rund um die Akquirierung dieser Artefakte wurde nicht berichtet. Manche der Grabsteine sowie weitere Artefakte zur Sepulkralkultur wurden in der Dauerausstellung untergebracht, so beispielsweise ein Holzmodell des Scheinsarkophags Isak Noa Mannheimers am Währinger Friedhof, das neben sein Porträt ausgestellt wurde.131
130 Zit. nach Berger, Natalie: The Jewish Museum. History and Memory, Identity and Art from Vienna to the Bezalel National Museum, Jerusalem, Leiden 2018, S. 98. Vgl. auch Hödl: From Acculturation to Interaction, insb. S. 86–89. 131 Berger: The Jewish Museum, S. 142–143, 146, 152, 157–158.
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Abb. 20 Ansicht des Flurs im Jüdischen Museum in der Malzgasse vor 1938. Auf der Hinterwand stehen Grabsteine und Friedhofsansichten ausgestellt. © Jüdisches Museum Wien
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Im Februar 1912 übersiedelte das Jüdische Museum in den dritten Stock des Gebäudes des Talmud Thora Vereins in der Malzgasse 16 in der Leopoldstadt. In ihrem Jahresbericht 1913 schrieb die Museumsgesellschaft: Eine günstige Erweiterung der Räumlichkeiten wurde durch Heranziehung der breiten, nach außen abschließbaren Korridore erzielt, wo zahlreiche Bildwerke und Paramente die Wände zieren. Besondere Beachtung verdienen die im Weichbilde der inneren Stadt in der Nähe der Burg ausgegrabenen jüdischen Grabsteine aus dem 13. Jahrhundert.132
Somit wurden historische jüdische Grabsteine sowie Ansichten der historischen jüdischen Friedhöfe Teil der Dauerausstellung der jüdischen Geschichte und Kultur im Wiener Jüdischen Museum, wie auch in zeitgenössischen Photographien ersichtlich wird.133 In diesen Jahren wurde der alte Friedhof in der Seegasse mehrmals und von unterschiedlichen AkteurInnen photographisch dokumentiert.134 Im Archiv des Jüdischen Museums befinden sich verschiedene Photographien, allerdings nur zum Teil datiert bzw. beschriftet, die aus den Jahrzehnten vor der Shoah stammen. Das älteste datierte Photo aus dem Jahre 1898, das einige alte barocke Grabsteine zeigt, wird als „Eigenthum der israel. Cultusgemeinde Wien“ ausgewiesen.135 Ein anderes, auf dem für solche Friedhofsphotographien ungewöhnlicherweise zwei Herren abgebildet sind, trägt die Inschrift: „Der Friedhof in der Rossau Seegasse aufgenommen den 12 Februar 1905 von Hofrat Ledolder Amateurfotograf “. Dieses Photo ist begleitet von einer handschriftlichen und von diesem Ledolder unterschriebenen Kurzfassung der Geschichte des Friedhofs, beginnend mit dem Datum 1540, das zu dieser Zeit fehlerhaft als Gründungsjahr des Friedhofs galt.136 Ein musterhaftes Photo im Archiv des Jüdischen Museums wurde mehrmals entwickelt, mit verschiedenen Kontraststufen, eine Kopie sogar mit Bleistift konturiert, vermutlich, um die atmosphärische Qualität des Raums zu betonen – ein weiteres Indiz zusätzlich zur damaligen Forschungsliteratur, dass der Friedhof vornehmlich als ästhetisch beeindruckender Raum rezipiert wurde.137 Vermutlich aus der oben erwähnten Ausstellung im damaligen Jüdischen Museum stammt auch eine im Archiv 132 Gesellschaft für Sammlung und Konservierung von Kunst- und historischen Denkmälern des Judentums (Hg.): Sechster Jahresbericht 1913, Wien 1914, o. S. 133 Vgl. z. B. o. T., o. D., JMW, 2627 und o. T., o. D., JMW, 2628. 134 Vgl. z. B. die Photographien in JMW, z. B. 2522–3, 3217, 3311 und in CAHJP, AU/191. 135 Alter jüdischer Friedhof in Wien IX., Seegasse 9. Eigenthum der israel. Cultusgemeinde Wien 1898, JMW, 3214. 136 Der Friedhof in der Rossau Seegasse aufgenommen den 12 Februar 1905 von Hofrat Ledolder Amateurfotograf, JMW, 2742. 137 O. T., o. D., JMW, 2521.
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erhaltene Schautafel, auf der verschiedene historische Aufnahmen abgebildet sind samt der Aufschrift: „Der alte jüdische Friedhof in Wien (IX. Bezirk, Seegasse Nr. 9) 16.–18. Jahrhundert“.138 Ein ebenfalls im Archiv erhaltenes aber anonymes und undatiertes Aquarell zeigt in zwei Bögen die Grabsteine von Samuel Oppenheimer und Samson Wertheimer, die einflussreichen shtadlanim des 18. Jahrhunderts, die hier in Kapitel 3 besprochen wurden. Das Aquarell wurde offensichtlich infolge der Instandsetzung der Grabsteine durch Wilhelm Stiassny angefertigt, also vermutlich in den 1890er-Jahren.139 1904 wurde das Friedhofsgelände von einem nichtjüdischen Chronisten „Alt-Wiens“ photographisch dokumentiert, und zwar von dem einflussreichen Photographen August Stauda, dessen Gesamtwerk von über 3.000 Aufnahmen eine der umfangreichsten Auseinandersetzungen mit der kulturhistorischen Bausubstanz der Wiener Stadtlandschaft seiner Zeit darstellt.140 Staudas Werk stellte laut der Historikerin Susanne Winkler das photographische Pendant dar zu eben den „malerischen Ansichten“, die zu der Zeit so vielfältig angefertigt wurden. Insgesamt trugen diese Ansichten der Stadt wesentlich zur „Prägung eines sentimentalen ‚Alt-Wien‘-Bildes um 1900“ bei. Winkler bemerkte weiter: „Stauda konzentrierte sich vor allem auf eine Dokumentation jener Stadtteile, deren Existenz bedroht war und schuf damit eine bildliche Erinnerung an die ‚typische Alt-Wiener Architektur‘“, wobei er sich vordergründig um eine „umfassende, aber nicht wertende Wissensspeicherung“ bemühte.141 Die Einbeziehung des Friedhofs in der Roßau, dieser „malerischen“ alten Ecke im Kanon von „Alt-Wien“ durch einen bedeutenden nichtjüdischen Photographen weist zugleich auf eine bedeutende Einbindung des „Jüdischen“ in der kulturhistorischen Topographie Wiens – und das, es muss wiederholt werden, zu einer Zeit des vorherrschenden politischen und gesellschaftlichen Antisemitismus in Wien unter Karl Lueger. Durch die Instandsetzungsarbeiten sowie der wissenschaftlichen als auch der bildlichen Dokumentation des Friedhofs im frühen 20. Jahrhundert wurde deutlich seine kulturhistorische Wertschätzung auf jüdischer wie nichtjüdischer Seite amplifiziert. Die Bewahrungswürdigkeit des Friedhofs wurde dadurch zur Selbstverständlichkeit, und schon bald entwickelte sich der Friedhof zu 138 Der alte jüdische Friedhof in Wien (IX. Bezirk, Seegasse Nr. 9) 16.–18. Jahrhundert, o. D., JMW, 3132. 139 Grabdenkmäler von Samuel Oppenheimer und Samson Wertheimer, restauriert nach den Plänen von Baurat Wilhelm Stiassny, o. D., JMW, 22673. 140 Diese befinden sich unter dem Titel Wien 9, Seegasse 9 in der August Stauda Sammlung, ÖNB, z. B. ST 1688-91Je F, ST 1689, ST 1690 F. 141 Winkler, Susanne: Die 3000 Wien-Ansichten des August Stauda. Ein Wiener „Alt-Stadt“Dokumentarist um 1900, in: Kos, Wolfgang/Rapp, Christian (Hg.): Alt-Wien. Die Stadt, die niemals war, Wien 2004, S. 109.
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einer Wiener Sehenswürdigkeit, wie in den oben analysierten Reiseführern vorgeführt. Laut dem Führer von Ignaz Hermann Körner aus dem Jahre 1935 pilgerten auch schon „seit hunderten Jahren die Gläubigen“ an die sich in der Seegasse befindlichen Grabstätte des 1660 verstorbenen Kabbalisten Sabbatai Horowitz, „um ihre Gebete zu verrichten“. Ob sich dieser Brauch wirklich über „hunderte Jahre“ zurückstreckt, ist fraglich, wie die einschlägige Literatur zur Praxis des Grabbesuchs im Chassidismus vermuten lässt (siehe hier Kapitel 6). Viel eher war dies ein im 19. Jahrhundert durch MigrantInnen aus dem Osten Europas eingeführter Brauch, wie auch Körners Verwendung in der Folge des Begriffs „Wunderrabbi“ (ein eindeutig chassidischer Terminus) nahelegt. Dies ist somit einmal wieder ein Beispiel einer „erfundenen Tradition“ der Moderne, die verklärend romantisch aber völlig irrtümlich auf die Vergangenheit projiziert wurde. Jedenfalls stellte die Kultusgemeinde in der Zwischenkriegszeit für „die Bittbriefe der Betenden […] hinter dem Sarge des ‚Wunderrabbi‘ eine Blechtruhe“ auf.142 Als das Jüdische Museum 1939 von den NationalsozialistInnen liquidiert wurde, wurden neunzehn der „im Museum aufgestellt gewesen[en]“ Grabsteine auf den Friedhof in der Seegasse gebracht und neben den anderen mittelalterlichen Grabsteinen in den Mauernischen fixiert. Somit stieg die Zahl der hier aufbewahrten Grabsteine aus dem ältesten Wiener jüdischen Friedhof beim Kärntnertor auf dreißig, obwohl mehrere davon nur aus Fragmenten bestanden, von denen die erhaltenen Inschriften manchmal nicht einmal zur Identifizierung oder Datierung herhielten.143 Alle diese mittelalterlichen Grabsteine und Grabsteinfragmente sind heute noch in der Friedhofsmauer erhalten. Anfang der 1900er-Jahre wurde auch mit der Instandsetzung des nun gut über ein Jahrhundert alten, bereits über zwei Jahrzehnte geschlossenen Währinger Friedhofs begonnen. In Dokumenten dieser Zeit wird wohlgemerkt der Währinger Friedhof vielfach irreführend als „Döblinger Friedhof “ genannt. Dies geht auf die Tatsache zurück, dass der Friedhof durch die Grenze dieser zwei Bezirke geteilt wird; der Eingang liegt aber heute wie damals in der Schrottenbachgasse auf der Währinger Seite. Im Gegensatz zum älteren Friedhof in der Seegasse, der aufgrund seiner „Historizität“ als bewahrungswürdig eingestuft wurde, gingen die Bestrebungen der Kultusgemeinde zur Instandsetzung des neueren Friedhofs in Währing, wie die Historikerin Tina Walzer aufzeigte, vordergründig auf die „regelmäßig auftauchenden Wünsche“ der Stadtverwaltung zurück, den Friedhof aufzulassen und faktisch zu vernichten. Bereits 1892 unterbreitete die Stadtverwaltung einen Plan, den jüdischen Friedhof samt
142 Körner: Führer durch den alten Judenfriedhof, S. 10. 143 Moses: Hebräische Grabsteine, S. 60–64, Zitat S. 60.
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dem daneben gelegenen Allgemeinen Währinger Friedhof (einer der fünf Josephinischen Kommunalfriedhöfe, nicht identisch mit dem oben besprochenen Währinger Ortsfriedhof) aufzulassen, um das städtische Verkehrsnetz auszubauen.144 Der Allgemeine Friedhof wurde tatsächlich 1923 aufgelassen und in einen Park umgewandelt. Infolge eines weiteren Vorschlags der Stadtverwaltung 1902, den jüdischen Friedhof zugunsten einer Straßenerweiterung aufzulassen, reagierte die Kultusgemeinde nun mit dem Plan, den Friedhof in eine Parkanlage umzuwandeln, dem das Vertreter-Kollegium schließlich am 10. März 1903 zustimmte und dem Stararchitekten Max Fleischer anvertraute. Alfred Stern, der damalige Vizepräsident und spätere Präsident der Kultusgemeinde, warb erfolgreich für Spenden von der Mitgliedschaft, um diesen Plan zu verwirklichen. Die Spenden von insgesamt 42 Gemeindemitgliedern, von denen viele – gerade die alteingesessenen, eher wohlhabenden WienerInnen – ihre Angehörigen in diesem Friedhof bestattet hatten, beliefen sich auf 11.083 Kronen, womit bereits 1903 etwa ein Viertel des Areals in eine „Gartenanlage“ umgewandelt wurde. Hierauf erklärte die Kultusgemeinde ihre Absicht, den Friedhof komplett als Parkanlage umzugestalten.145 Die restlichen Kosten hierfür wurden aus Überschüssen im Budget der Kultusgemeinde gedeckt.146 Wie bei der ursprünglichen Anlage sowie bei den sukzessiven Erweiterungen des Friedhofs finanzierte also die Kultusgemeinde völlig autonom die Neugestaltung ihres Friedhofs. Die Gartenbaufirma Jaroslav Molnar wurde mit der Umsetzung des Plans beauftragt, neue Wege samt Sitzbänken zu errichten, aber „die Grabsteine unverändert an ihrer Stelle zu belassen, überhaupt die altehrwürdige Phisiognomie [sic] des Friedhofes möglichst aufrecht zu erhalten“. Die Arbeiten wurden 1905 abgeschlossen.147 Der Historikerin Patricia Steines zufolge entfachte sich allerdings schon bald ein „Skandal“, als bekannt wurde, dass die Gartenbaufirma tatsächlich die „Wege willkürlich“, zum Teil also auch „über Gräber“ angelegt hatte.148 Die Firma wurde dennoch weiter beauftragt, den Friedhof laufend instand zu halten, insbesondere den Bewuchs sowie die Abflusskanäle und Wege, je nach den saisonalen Erfordernissen. Im Oktober 1911 wurden die jährlichen Kosten hierfür auf ungefähr 3.000 Kronen berechnet.149 Im Sommer 1907 rief die Kultusgemeinde des Weiteren ihre Mitgliedschaft auf, als „Gebot der Pietät“ die verwitterten Grabsteine samt ihren Inschriften am Währinger 144 Walzer: Der jüdische Friedhof Währing in Wien, S. 21. 145 Kundmachung, 3. Juli 1907, CAHJP, A/W 1460. 146 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Bericht des Vorstandes der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien über seine Tätigkeit in der Periode 1902–1903, Wien 1904, S. 23. 147 O. T., 23. November 1939, AIKGW, A/VIE/IKG/I-II/FH/1/1. 148 Der alte Währinger israelitische Friedhof, in: Die Gemeinde, 17. Mai 1991, S. 19. 149 Bericht, 18. Oktober 1911, CAHJP, A/W 1460.
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Friedhof restaurieren zu lassen, um somit auch den ästhetischen Charakter des Friedhofs zu wahren.150 Infolge dieser Instandsetzungen wurde auch das Gräberprotokoll erstellt, das heute in Jerusalem aufbewahrt wird und eine einzigartige Quelle der Wiener jüdischen Friedhöfe darstellt.151 Auch wurden dabei mehrere Abschriften von Epitaphien erstellt und archiviert, die aufgrund der weitreichenden Schändungen dieses Friedhofs während und nach der Shoah ebenfalls von enormem Wert sind.152 Eine Reihe von Photographien sind heute noch im Archiv des Jüdischen Museum erhalten, die den Zustand des Währinger Friedhofs in der Zwischenkriegszeit zeigen: Saubere, gut erhaltene Grabsteine sowie gepflegte Grabstätten, Wege und Bewuchs charakterisieren diesen Raum, der wenige Jahre später aufs ärgste geschändet werden sollte.153 Doch selbst diese Maßnahmen hielten die Stadtverwaltung nicht von ihren Bemühungen um eine Auflassung des Friedhofs ab, so 1914, als sie vorschlug, die Hasenauerstraße quer durch das Friedhofsgelände weiterzuführen, um einen Anschluss an die Kreuzung Nußdorfer Straße und Währinger Gürtel zu erzielen.154 Die Instandsetzung des Währinger Friedhofs unterschied sich also in zwei wesentlichen Gesichtspunkten von den Arbeiten in der Seegasse: Erstens wurde der Währinger Friedhof nicht aus historischen oder denkmalpflegerischen Gründen instand gesetzt, sondern ausdrücklich, um den Vernichtungsversuchen seitens der Stadt Wien entgegenzuwirken, was wiederum aus einem Pietätsgefühl gegenüber der Wahrung der Ruhe der dort Bestatteten hervorging. Dies bekundet vom zeitgenössischen Verständnis für „Historizität“, da zwar der ältere Friedhof in der Seegasse aus dem 16. bis 18. Jahrhundert, nicht aber der Währinger Friedhof mit seinen vorwiegend aus dem 19. Jahrhundert stammenden Grabsteinen als historisch wertvoll betrachtet wurde – eine Wertung, die auch in Diskussionen während der NS-Zeit bei der Frage der Auflassung jüdischer Friedhöfe eine große Rolle spielen sollte. Zweitens, und am ersten Punkt anknüpfend, ging die Umwandlung des Währinger Friedhofs ausschließlich aus der Eigeninitiative der Kultusgemeinde hervor und wurde ausschließlich von ihrer Mitgliedschaft finanziert, während die Dokumentation und Instandsetzung des Friedhofs in der Seegasse von einer Reihe von
150 Kundmachung, 3. Juli 1907, CAHJP, A/W 1460. 151 Gräberprotokoll Währing 1784–1884, 3 Bde., CAHJP, AU/1741. 152 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Bericht des Vorstandes der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien über seine Tätigkeit in der Periode 1904–1905, Wien 1906, S. 32. Vgl. die Abschriften in AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/3, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 153 Vgl. JMW, 855-885 und 2458-2471. Siehe auch die Photographien in CAHJP, AU/244. 154 Vgl. die Reproduktion des entsprechenden Plans in Abb. 1 in Walzer: Der jüdische Friedhof Währing in Wien, zwischen S. 136 und S. 137.
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jüdischen wie nichtjüdischen AkteurInnen und Institutionen vorangetrieben wurde. Im Archiv der Kultusgemeinde ist ein „Verzeichnis der instandzusetzenden Grabsteine am Währinger israel. Friedhof “ aus dem Jahre 1931 erhalten, eines von verschiedenen Verzeichnissen aus diesen Jahren, die schließen lassen, dass sich die Kultusgemeinde fortwährend um die Pflege dieses Friedhofs und seiner Grabsteine kümmerte. Die Arbeiten, in diesem Fall die Instandsetzung von 63 Grabsteinen zum Preis von 2.230 Schilling, wurden vom Friedhofsaufseher Theodor Schreiber verrichtet. Interessant ist hier auch die auf dem Zettel handschriftlich beigefügte Notiz von Schreiber: „Bei Übertragung dieser Arbeit verpflichte ich mich weitere 50 kleine Mazeven und Pyramiden [Grabsteine und Mausoleen] kostenlos aufzustellen.“155 Schreiber scheint hier also eine Art Quidproquo-Vereinbarung mit der Kultusgemeinde abgeschlossen zu haben. Eine interessante Bekundung eines denkmalpflegerischen Interesses seitens des Staates wurde am 28. April 1934 in einem Schreiben von Leodegar Petrin, Präsident des Bundesdenkmalamtes, an die Kultusgemeinde festgehalten – wohlgemerkt zur Zeit, als sich das angeblich antisemitische austrofaschistische Regime bereits fest verankert hatte. Hierin gab Petrin zur Kenntnis, dass eine Reihe künstlerisch bemerkenswerter Grabsteine im alten israelitischen Friedhof in der Nähe der Station Nussdorferstrasse der Stadtbahn umgestürzt sind oder umzustürzen drohen. Das Bundesdenkmalamt beehrt sich daher anzuregen, dahin wirken zu wollen, dass diese Steine aufgestellt und gesichert werden.156
Fast zwei Monate dauerte es, bis die Kultusgemeinde mit der Aussage antwortete, „dass der Kultusvorstand in den letzten Jahren eine grosse Anzahl von Grabsteinen auf dem Währinger israelitischen Friedhofe, die umzustürzen drohten, aufstellen liess“, und dass eine „kommissionelle Besichtigung“ an den jüdischen Friedhöfen demnächst stattfinden würde, um festzustellen, „welche Denkmäler mit Rücksicht auf ihren künstlerischen Wert instandgesetzt werden“ sollten.157 Ob damit verbunden oder nicht, blieb eine Liste von zwei Jahren später erhalten, nach der verschiedene umgestürzte oder zerbrochene Grabsteine zu einem Preis von 1.450 Schilling instand gesetzt werden sollten.158 Faszinierend ist 155 Verzeichnis der instandzusetzenden Grabsteine am Währinger israel. Friedhof, 13. November 1931, AIKGW, A/VIE/IKG/I-II/FH/1/1. 156 An die Israelitische Kultusgemeinde, 28. April 1934, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien, diverse Adressen/1/1, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 157 An das Bundesdenkmalamt, 11. Juni 1934, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien, diverse Adressen/1/1, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 158 O. T., 14. August 1936, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien, diverse Adressen/1/1, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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dieser Vorfall insofern, als das Bundesdenkmalamt – die Nachfolgerinstitution der k.k. Zentral-Kommission für Kunst- und Historische Denkmale – sich noch unter dem Austrofaschismus aktiv um die Instandhaltung jüdischen kulturellen Erbes bemühte. Diese Bemühung sollte sich erstaunlicherweise noch über den „Anschluß“ hinaus fortsetzen. Interessant ist auch der ausdrückliche Hinweis der Kultusgemeinde, dass vorrangig Grabsteine mit „künstlerische[m] Wert“ bewahrungswürdig seien, was von mehr als bloß Pietätsgefühle bekundet. Wenige Monate vor seiner Deportation nach Auschwitz im Dezember 1943, von wo er nicht mehr zurückkehren sollte, schrieb der ehemalige Archivar der Kultusgemeinde, Leopold Moses, der Währinger Friedhof sei ein „Eldorado der Vogelwelt“ und alleine daher schon eine Wiener „Sehenswürdigkeit“, ein offensichtlicher Hinweis auf den neuen parkähnlichen Charakters des alten Bestattungsraums.159 Allerdings bemerkte Ignaz Hermann Körner schon in seinem Führer von 1935, der Währinger Friedhof dürfe zu dieser Zeit nur „gegen Voranmeldung“ besichtigt werden, was wohl eine Offenheit zur freien Besichtigung ausschließt, wie es heute auch aufgrund des instabilen Zustands des geschändeten Areals der Fall ist.160 Um einen Vergleich heranzuziehen, wurde der zeitgenössische jüdische Friedhof in der Schönhauser Allee in Berlin tatsächlich schon seit den 1860er-Jahren als urbanes „Ausflugsziel“ sowohl von jüdischen wie nichtjüdischen BerlinerInnen besucht.161 Wieso dies in Wien nicht der Fall war, genauso wie der alte Friedhof in Seegasse trotz seiner offenkundigen Ähnlichkeit zu seinem berühmten Zeitgenossen in Prag nie dessen breites, internationales Ansehen erlangte, bleibt offen. Noch ein interessantes Vorkommnis muss hier erwähnt werden: Im September 1936 fragte die Firma Rapag bei der Kultusgemeinde an, ob sie einen Plakatrahmen an der Mauer beim Währinger Friedhof anbringen durfte. Dies lehnte die Kultusgemeinde „aus prinzipiellen Gründen“ entschieden ab, die zwar nicht erläutert wurden, wobei man jedoch davon ausgehen kann, dass Prinzipien der Pietät gemeint waren.162 Schließlich war wohl für die Kultusgemeinde die pietistische Achtung der Totenruhe die vordergründige Priorität im Umgang mit ihren historischen Bestattungsräumen, vor etwaigen kulturhistorischen, geschweige denn touristischen Überlegungen. Zuletzt sei in diesem Zusammenhang wieder auf die „Mitteilungen der Israelitischen Kultusgemeinde Wien“ aus dem Jahre 1930 hingewiesen, die hier im 159 Moses, Leopold: Die alten jüdischen Friedhöfe in Wien [1943], in: Steines, Patricia (Hg.): Leopold Moses Spaziergänge. Studien und Skizzen zur Geschichte der Juden in Österreich, Wien 1994, S. 76. 160 Körner: Führer durch den alten Judenfriedhof, S. 36. 161 Hüttenmeister/Müller: Umstrittene Räume, S. 161. 162 An die „Rapag“ Reklam-Plakatierungs-u. Ankündigungsunternehmung, 7. September 1936, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien, diverse Adressen/1/1, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
Vom „Anschluß“ zur „Arisierung“
vorherigen Kapitel bereits analysiert wurden. Darin wurden die Zahlung der Kultussteuer und die daraus erbrachten Leistungen der Kultusgemeinde, unter anderen auf den Gebieten der Altersfürsorge und der Friedhofserhaltung (lagen damals ja noch das Altersheim und der alte Friedhof in der Seegasse direkt nebeneinander), mit der „Pietät“ gegenüber den verstorbenen „Vätern und Müttern“ der Gemeinde in Verbindung gebracht.163 Die historischen Friedhöfe, die „Grabstätten der Väter“, nahmen also stets in der Wiener jüdischen Geschichte einen vorrangigen Platz in Geschichte und Gegenwart der Gemeinde ein. Eigenartig ist in diesem Zusammenhang zuletzt eine überlieferte Aussage des Bürgermeisters Karl Lueger, der in der Sache der Erhaltung der historischen Wiener Friedhöfe – genau zu der Zeit, als die Friedhöfe in der Seegasse und in Währing instand gesetzt wurden – die jüdische Sepulkralkultur als musterhaft in der Frage der Bewahrung von christlichen Friedhöfen in Wien hervorhielt: „Ich wünschte nur, daß dabei auch mit der nötigen Pietät vorgegangen wird. Nicht gar so drängen! Da sind die Juden musterhaft. Sie lassen ihre Friedhöfe unberührt, während die Katholiken die Eigentümlichkeit haben, ihre Friedhöfe so bald als möglich beseitigt haben zu wollen.“164 Die hier geschilderte Dynamik von Wertung, Bewahrung und Vernichtung zwischen den verschiedensten jüdischen wie nichtjüdischen AkteurInnen sollte auf teils überraschende Weise nach dem „Anschluß“ Österreichs an das „Dritte Reich“ in der Frage des Schicksals der Wiener jüdischen Friedhöfe fortwirken. 7.4
Vom „Anschluß“ zur „Arisierung“. Die Konsolidierung der NS-Politik gegenüber jüdischen Friedhöfen ab März 1938
Im Gegensatz zur raschen Einführung von antijüdischen Maßnahmen gegen Privatpersonen und ihr Eigentum in den ersten Wochen und Monaten nach dem „Anschluß“ wurden reichsweit bis frühestens 1940 keine umfassenden staatlichen Maßnahmen zum Umgang mit jüdischen Friedhöfen erlassen. Impulse zur Zwangsenteignung und Zerstörung von den tausenden jüdischen Friedhöfen groß und klein im „Dritten Reich“ – so zeigte der Historiker Andreas Wirsching allgemein, und es trifft auch auf Wien zu – gingen zuerst meist von Gemeindeebene aus, stießen auf Staatsebene dann oft auf Zurückhaltung angesichts bestehender Gesetze zu Friedhofsauflassungen. In weiten Teilen des „Altreichs“ galt nämlich eine gesetzliche Ruhefrist von bis zu vierzig Jahren nach 163 Mitteilungen der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, September 1930, YIVO, 15006769, S. 12. 164 Zit. nach Mack, Eugen: Dr. Karl Lueger. Der Bürgermeister von Wien, Rottenburg am Neckar 1910, S. 48. Dieses Werk ist wohlgemerkt durchzogen von antisemitischen Hasstiraden.
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der letzten Bestattung, während deren das Bestattungsareal aus hygienischen Gründen nicht umgewidmet werden durfte. Diese Rechtslage erklärt, wieso die „Arisierung“ und Zerstörung von älteren Friedhöfen, so auch in Wien, oft schneller vonstattengingen als bei neueren, jüngst belegten Friedhöfen. Vorerst setzte durch die anhaltende Emigration der jüdischen Bevölkerung aus Deutschland und Österreich und das Schwinden von jüdischen Gemeinden „ein allmählicher Prozeß der ‚Verwahrlosung‘ ein, der das äußere Bild jüdischer Friedhöfe zunehmend beeinträchtigte“. Diese Verwahrlosung – die sich, wie im spezifischen Fall des Friedhofs in der Seegasse deutlich wird, vor allem durch wilden Bewuchs und den langsamen Verfall der Grabdenkmäler auszeichnete – erinnert an die romantisierende Ästhetik, die noch Jahrzehnte zuvor HistorikerInnen und HeimatforscherInnen, jüdisch wie nichtjüdisch, den alten jüdischen Friedhöfen Europas zuschrieben. Doch ebendiese Verwahrlosung – eine direkte Folge der NS-Vertreibungspolitik sowie von kleineren Zerstörungen und Schändungen unterschiedlichen Ausmaßes während der 1930er-Jahre – sollte später oft zum Kernargument für die Auflassung dieser Räume werden, als die Bestrebungen wuchsen, Anfang der 1940er-Jahre eine reichsweit koordinierte Friedhofspolitik auszuarbeiten. 1942 forderte schließlich das Reichssicherheitshauptamt in Berlin alle noch bestehenden jüdischen Gemeinden auf, ihre Friedhöfe den lokalen Stadtverwaltungen zum „Verkauf “ anzubieten, insofern dies noch nicht geschehen war. Dies wurde allerdings nicht durchgehend umgesetzt, und so befahl Reichsfinanzminister Johann Ludwig von Krosigk noch im Jänner 1944 erneut, es sollten alle noch im privaten Eigentum stehenden jüdischen Friedhöfe von ihren jeweiligen Gemeinden „gekauft“ werden, die „aber zugleich auch die Grabsteine [zu] erwerben“ hatten. Vor allem die zweite Aufforderung betreffend die Grabsteine stieß auf vehemente Opposition seitens vieler Stadtverwaltungen, die in den Grabsteinen außer als „Straßenrand- oder Grundbausteine“ keinen Wert sahen. Bis in das Jahr 1945 hinein wurde immer noch um eine koordinierte Politik bezüglich der jüdischen Friedhöfe innerhalb des „Dritten Reichs“ gerungen, die mit größter Wahrscheinlichkeit früher oder später zur Enteignung und Vernichtung all dieser Räume geführt hätte, wäre der Krieg nicht in diesem Jahr mit der endgültigen Zerschlagung des „Dritten Reichs“ zu Ende gegangen.165 Hieraus erklärt sich der erstaunliche Sachverhalt, dass so viele dieser jüdischen Kulturräume den NS-Genozid überdauerten, während die jüdischen Gemeinden in dem vom „Dritten Reich“ okkupierten Europa fast restlos zerstört wurden.
165 Alle Zitate in der Reihenfolge ihrer Nennung: Wirsching: Jüdische Friedhöfe in Deutschland, S. 9, 11–12, 19–21, 26, 28.
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Über individuelle oder spontane Friedhofsschändungen in Wien während der Shoah gibt es keine Statistik, auch nicht aus der Zwischenkriegszeit, im Gegensatz zu den Umständen in Deutschland, wo antisemitische Grabschändungen bereits in der Weimarer Republik keineswegs unbekannt waren.166 Nach Ernst Feldsberg, vor und während der Shoah Direktor des Friedhofamts und später Präsident der Kultusgemeinde, dürfte Vandalismus in den jüdischen Friedhöfen schon bald nach dem „Anschluß“ aber keine Seltenheit gewesen sein: „Die Zerstörung dieser Friedhöfe wurde von Österreichern vorgenommen, von Österreichern, welche vor allem in den Jahren 1938 und 1939 ihre Treue zum Nationalsozialismus dadurch unter Beweis stellen wollten, daß sie das Andenken der Toten geschändet haben.“167 Bis zum Beginn der weitreichenden, staatlich sanktionierten Enteignungen und Verwüstungen der Wiener jüdischen Friedhöfe in den frühen 1940er-Jahren bildet ihre frühe Geschichte unter dem Nationalsozialismus also Teil des Phänomens der „wilden“ Aktionen, die Wien zwischen dem „Anschluß“ und den Novemberpogromen prägten und diese Stadt jedenfalls in der offenen Gewaltbereitschaft seitens ihrer nichtjüdischen Zivilbevölkerung von anderen Städten im „Dritten Reich“ unterschied. Das Ausmaß der Gewalt, das sich in Wien während der Novemberpogrome 1938 ausbreitete, zeigt sich bereits in Zahlen: Die Wiener jüdische Bevölkerung beklagte in diesen Tagen 27 Todesfällen von reichsweit 90 und 6.450 Inhaftierungen von etwa 20.000 reichsweit. Von den gefangen genommenen Wiener Jüdinnen und Juden (wobei es sich bei der überwältigenden Mehrheit um Männer handelte) wurden um die 3.700 in der Folge in das Konzentrationslager Dachau abtransportiert.168 Die Vernichtung der Synagogen und Bethäuser in Wien – eine erhebliche Aktion bei fast 100 über die ganze Stadt verteilten Bauwerken – wurde von den SS-Standarten 89 und 11 unternommen mit proaktiver Beteiligung von Angehörigen der SA und der Hitlerjugend. Die Aktion begann um 4 Uhr am Donnerstagmorgen, dem 10. November. Die Innenräume der Bauwerke wurden zumeist erst mit Handgranaten gesprengt und anschließend in Brand gesteckt. Wie die AutorInnen des einschlägigen Werks Topographie der Shoah schlossen, war in Wien „der organisierte Charakter des Pogroms […] offensichtlich“, allen propagandistischen Behauptungen einer spontanen 166 Vgl. Central-Verein Deutscher Staatsbürger Jüdischen Glaubens (Hg.): 125 Friedhofsschändungen in Deutschland 1923–1932. Dokumente der politischen und kulturellen Verwilderung unserer Zeit, Berlin 1932. 167 Das tragische Schicksal der jüdischen Friedhöfe, o. D. [1958], AIKGW, A/VIE/IKG/III/PRÄS/2/1. 168 Vgl. Cesarani, David: Adolf Eichmann. Bürokrat und Massenmörder, aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt, Berlin 2002, S. 102–103 sowie Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Bericht des Präsidiums der Israelitischen Kultusgemeinde Wien über die Tätigkeit in den Jahren 1945–1948, Wien 1948, o. S., Abschnitt „Die traditionellen Referate“.
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„Volkserhebung“ zum Trotz. Gerade in Wien, mit der größten jüdischen Gemeinde im „Dritten Reich“, beschwerte sich die NSDAP über den fahrlässigen Mangel an Tarnung der Beteiligten, da die SS diese Aktion zum Teil in voller Uniform durchführte.169 Während der Novemberpogrome, von denen eines der vorrangigen Ziele war, jüdische Kulturstätten demonstrativ aus den deutschen und österreichischen Stadtlandschaften zu löschen, fanden auch die ersten organisierten Schändungsaktionen gegen die Wiener jüdischen Friedhöfe statt. So wurden am 10. November die beiden monumentalen jüdischen Zeremonienhallen am Zentralfriedhof von der SS-Standarte 89 gesprengt, eine Gruppe relativ junger Österreicher, wie der Historiker Bruce Pauley nachwies, die ihre Tatbereitschaft bereits im Juli 1934 durch die Ermordung des austrofaschistischen Kanzlers Engelbert Dollfuß in einem gescheiterten Putschversuch bewiesen hatten.170 Wie Ernst Feldsberg in einem Nachkriegsbericht feststellte, wurde die Zeremonienhalle beim IV. Tor „durch Sprengungen am 10. November 1938 vollkommen vernichtet, sodas [sic] lediglich die Dachkonstruktion übrig geblieben ist“. Die Nebengebäude mussten zur Gänze abgetragen werden, um einem Einsturz vorzubeugen. „Auf dem Friedhof selbst wurden Grabsteine umgeworfen“, die „gesamte Einrichtung des Zeremoniengebäudes wurde zerstört“, und „die vorhandenen Leichenwagen derart zugerichtet, dass eine Verwendung vollkommen ausgeschlossen war.“ Feldsberg schrieb hier ferner, dass die Zeremonienhalle beim I. Tor „vollkommen zerstört“ wurde, was nicht ganz stimmte, da die Ruine noch Jahrzehnte nach der Shoah stand. Sie dürfte dennoch durch die Schändungen gänzlich unbrauchbar geworden sein. Feldsberg bemerkte ferner: „Die Schäden an den Grabsteinen auf diesem Friedhof sind unermesslich“, was auf weitgehenden Vandalismus hindeutet.171 Auf der Rechnung, die der Kultusgemeinde infolge der Novemberpogrome vorgelegt wurde, mit der sie aufgefordert wurde, ihre eigene Verfolgung nachträglich zu finanzieren, wurden auch die Schäden in den Friedhöfen einkalkuliert.172 Von den etwa 260 Zeremonienhallen, die vor 1933 in Deutschland standen, wurden 52 im Zuge der Novemberpogrome zerstört, 35 weitere zu einem unbestimmten Zeitpunkt danach. Dass somit bei Weitem weniger als die Hälfte dieser Sakralgebäude den VandalInnen zum Opfer fielen, erklärte der Architekturhistoriker Ulrich Knufinke dadurch, dass diese Friedhofsbauten „vor allem dann Ziele der Gewalt [wurden], wenn ihre Zerstörung eine öffentliche Wir169 Hecht/Lappin-Eppel/Raggam-Blesch: Topographie der Shoah, S. 145, 151. 170 Pauley: Der Weg in den Nationalsozialismus, S. 204–205. 171 Aktennotiz, 4. Juni 1954, AIKGW, nicht katalogisierter Bestand. Vgl. auch die photographische Dokumentation der beiden geschändeten Zeremonienhallen in DÖW, 00445, 08346. 172 Walzer: Der jüdische Friedhof Währing in Wien, S. 57.
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kung haben konnte“ – es waren also insbesondere Zeremonienhallen in jenen Lokalitäten gefährdet, wo sich keine Synagoge als deutlichstes Repräsentationsbauwerk befand bzw. wo die Friedhöfe einigermaßen zentral angelegt waren.173 Dieser auf Deutschland bezogene Befund unterstreicht einmal mehr, mit welch besonderer Wucht und Gründlichkeit sich die Pogrome in Wien vollzogen, lagen die Zeremonienhallen am Zentralfriedhof im Gegensatz zu den meisten Synagogen und Bethäuser doch weit außerhalb der Stadt und weit entfernt von der Öffentlichkeit. Interessanterweise ist keine Zerstörung der kleineren, aber zentraleren Zeremonienhalle am Friedhof in Währing belegt, die in den Jahren danach weiterhin verwendet wurde. Vermutlich ist dies durch den Umstand zu erklären, dass der nichtjüdische Friedhofswärter Theodor Schreiber weiterhin im zweiten Stock lebte. Nach den Novemberpogromen setzte für gut über ein Jahr wieder eine unbehagliche Ruhe über den jüdischen Friedhöfen ein, bis sich die NSMachthaberInnen wieder entschlossen diesen Orten widmeten. Aus den Aktennotizen der Kultusgemeinde geht indes hervor, dass Grabschändungen spätestens ab 1940 regelmäßig vorkamen. Alleine im Monat vom 5. August bis zum 5. September 1940 wurden am Zentralfriedhof 1.344 „umgefallene“ Grabsteine „mit der Inschrift nach oben auf das Grab“ gelegt und so „vor der Vernichtung bewahrt“ – man kann getrost davon ausgehen, dass diese hohe Zahl an Grabsteinen im Hochsommer nicht von alleine umfielen.174 Deutlicher kommt der vandalistische Hintergrund in einem Schreiben des Friedhofamts vom Ende Oktober 1941 zum Ausdruck, in dem festgehalten wurde, dass auf dem Zentralfriedhof I. Tor, im Hauptweg, längs der Mauer und in der Gruppe 20, 32 Grabsteine von unbekannten Tätern umgeworfen wurden. Die Gruftstelle Albers auf der Gruppe 21 [sic, gemeint ist die Grabstätte von Paul und Sigmund Albers, 1918 bzw. 1933 verstorben, 51-19-3, an Gruppe 20 angrenzend] wurde fast vollkommen demoliert. Unter den umgeworfenen Grabsteinen befinden sich sehr grosse Pyramiden [Mausoleen], deren Umlegung nur von mehreren Personen vorgenommen werden kann.175
Wie bereits bei den „umgefallenen“ Grabsteinen, ordnete Feldsberg an, dass diese Grabsteine „nicht zur Aufstellung gebracht werden“, sondern lediglich mit der Schriftseite nach oben gelegt werden sollten, um der Verwitterung 173 Knufinke, Ulrich: Jüdische Friedhöfe und ihre Bauwerke in der Zeit des Nationalsozialismus. Ein Überblick, in: Fischer, Hubertus/Wolschke-Bulmahn, Joachim (Hg.): Gärten und Parks im Leben der jüdischen Bevölkerung nach 1933, München 2008, S. 193–194. 174 Aktennotiz, 17. September 1940 und An die Kanzlei Zentralfriedhof, 28. Juni 1940, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 175 An die Amtsdirektion, 3. November 1941 und Mitteilung, 29. Oktober 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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vorzubeugen.176 Feldsberg wandte sich dann auch an die Gestapo mit der Bitte, diese solle diesbezüglich „die erforderlichen Massnahmen treffen“.177 Ob und was diese Bitte bewirkte, ist nicht in diesen Akten überliefert. Ende 1939 wurde die Kultusgemeinde von den NS-Behörden aufgefordert, eine Übersicht über die Geschichte ihrer Friedhöfe samt ihren Eckdaten zu erstellen. Der flächenmäßig größte Friedhof war damals wie heute der beim IV. Tor, der Hauptbestattungsraum der Kultusgemeinde zu dieser Zeit, von dem aber lediglich 31.000 von ca. 104.000 verfügbaren Grabstellen bereits belegt waren. Beim I. Tor befanden sich hingegen auf einem etwas kleineren Raum 52.000 belegte Grabstellen. Danach folgte der Währinger Friedhof mit geschätzt 12.000 belegten Grabstellen, der Friedhof in der Seegasse mit knapp 1.000 und zuletzt der seit 1904 der Wiener Kultusgemeinde einverleibte Floridsdorfer Friedhof mit etwa 1.400 Grabstellen. In diesem Bericht wurden übrigens nicht nur die Verträge mit der Stadt Wien bezüglich der Erhaltung des alten Friedhofs in der Seegasse aus dem 17. und 18. Jahrhundert als stillschweigender Appell für dessen weitere Erhaltung erwähnt, sondern auch die oben zitierten lobenden Worte des von den NationalsozialistInnen verehrten Bürgermeisters Karl Lueger in Bezug auf die Umgestaltung und Erhaltung des Währinger Friedhofs in den 1900er-Jahren, die offensichtlich ebenfalls als stillschweigender Beweis dienen sollten, dass auch antisemitische Regierungen diese jüdischen Kultstätten respektieren konnten.178 Mit der Schaffung von „Groß-Wien“ durch die Eingemeindung angrenzender Gebiete des Reichsgaues Niederdonau in das Reichsgau Wien wurden der Wiener Kultusgemeinde auch mehrere umliegende jüdische Friedhöfe einverleibt, darunter jene in Mödling, Groß-Enzersdorf und Klosterneuburg.179 Infolge der konsequenten Liquidierung aller Kultusgemeinden außerhalb Wiens wurde die Wiener Kultusgemeinde ohnehin zur alleinigen jüdischen Repräsentativkörperschaft im Gebiet des ehemaligen Österreichs. Dennoch spielte sich die Wiener Friedhofspolitik während der Shoah vorwiegend in den vier historischen Wiener jüdischen Friedhöfen ab, die deshalb weiterhin im Folgenden das Hauptaugenmerk unserer Analyse darstellen. Im Sommer 1940, als das „Dritte Reich“ bereits das europäische Festland von der französischen Atlantikküste bis zur Grenze der Sowjetunion kontrollierte, wurde im kulturpolitischen Amt Rosenberg in Berlin der „Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg“ (benannt nach Alfred Rosenberg) eingerichtet um 176 An die Kanzlei Zentralfriedhof, 15. Dezember 1941 und An die Kanzlei Zentralfriedhof, 28. Juni 1940, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 177 An die Geheime Staatspolizei, 4. November 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/5/6, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 178 O. T., 23. November 1939, AIKGW, A/VIE/IKG/I-II/FH/1/1. 179 Jüdische Friedhöfe im Gebiete Gross-Wien, 30. September 1940, AIKGW, A/VIE/IKG/IIII/LG/diverse Adressen/Österreich/2/5, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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Kulturgüter, insbesondere jüdische, in den besetzten Gebieten zu werten, zu beschlagnahmen und zu bewahren oder gegebenenfalls zu vernichten – ein wesentlicher Schritt in Richtung des selektiven kulturellen Genozids, der einen integralen Teil der Shoah darstellen, und der auch die jüdischen Friedhöfe Europas in Mitleidenschaft ziehen sollte.180 Doch kamen manche Institutionen im ehemaligen Österreich dieser zentralisierten NS-Politik voraus. Stellte das „Land Österreich“ nämlich nach dem „Anschluß“ eine „sich in Liquidation befindliche Verwaltungseinheit“ dar, so wurde diese Liquidation erst im März 1940 abgeschlossen: In der Zwischenzeit verwalteten noch die Nachfolgeinstitutionen des Vorgängerstaates streckenweise die internen Angelegenheiten im ehemaligen Österreich, so auch das sich in Wien befindliche Ministerium für innere und kulturelle Angelegenheiten, die Nachfolgerinstitution des Bundeskanzleramts.181 Am 25. Jänner 1940, noch Monate vor Einrichtung des „Einsatzstabs“ in Berlin, informierte das Reichsgau Wien die Kultusgemeinde, dass nun „auf Grund eines Erlasses des Ministeriums für innere und kulturelle Angelegenheiten jede Änderung auf den jüdischen Friedhöfen (insbesondere Grabsteine) von der Zustimmung der staatlichen Verwaltung des Reichsgaues Wien abhängig“ war, inklusive das „Ausführen von Grabdenkmälern sowie deren Umtausch“. Jede Herstellung bzw. Änderung eines Grabdenkmals bedurfte also fortan die Genehmigung des Reichsgaues Wien.182 Der absurde bürokratische Aufwand, den dieser Erlass zur Folge hatte, zeigt sich in einem riesigen Konvolut betreffend jeder Änderung von Grabsteinen in den Wiener jüdischen Friedhöfen ab 1940. So wurde beispielhaft die Kultusgemeinde im Mai 1940 in einem Brief im Auftrag des Reichsstatthalters informiert, dass „genehmigt [wurde], daß auf der Grabstätte Gruppe Zentralfriedhof, I. Tor (Isr. Abteilung) Gruppe 50, Reihe 30, Grab Nr. 100 der Grabstein zum Zwecke der Gravierung vorübergehend entfernt werden“ durfte. Es handelte sich hier lediglich um die Genehmigung, eine Nachschrift auf den Grabstein des 1907 verstorbenen Moriz Ascher für seine am 14. Dezember 1939 verstorbene Frau Malvine anzubringen, die in dieser Grabstätte beigesetzt wurde.183 180 Rupnow: Vernichten und Erinnern, S. 223–224. 181 Vgl. Land Österreich als Teil des Deutschen Reiches. Das Gesetzblatt für das Land Österreich 1938–1940, http://alex.onb.ac.at/rgb_info.htm, letzter Zugriff: 31. August 2020, und AT-OeStA/AdR ZNsZ MfiukAng Ministerium für innere und kulturelle Angelegenheiten, 1938–1940 (Bestand), https://www.archivinformationssystem.at/detail.aspx?ID=5539, letzter Zugriff: 30. April 2020. 182 Siehe z. B. An Herrn Aufseher Theodor Schreiber, 25. Jänner 1940, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2/2. Dieser Brief wurde an alle Friedhofsaufseher der Kultusgemeinde geschickt. Schreiber war, wie erwähnt, Aufseher am Währinger Friedhof. 183 An die Israelitische Kultusgemeinde – Friedhofsamt, 23. Mai 1940, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2/2.
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Am 12. Februar 1940 weitete das Ministerium die Verfügung „über Verwertung von Grabsteinen jüdischer Friedhöfe“ auch auf die Bestattungsräume selbst aus. So wurden alle Landeshauptmänner in der „Ostmark“, inklusive der Gauverwaltung Wien, informiert, dass bezüglich Auflassung von jüdischen Friedhöfen die betreffenden Friedhofsordnungen über die Schliessung solcher Friedhöfe gelten. Wo Friedhofsordnungen nicht bestehen, ist eine Frist von zehn Jahren für die Auflassung der Friedhöfe einzuhalten, wonach angenommen werden kann, dass durch die Auflassung ein Nachteil und eine Gefahr des allgemeinen Gesundheitszustandes nicht mehr zu befürchten ist. Die Fristen können mit ministerieller Genehmigung abgekürzt werden. Die Verwertung (Verkauf) eines aufgelassenen jüdischen Friedhofes bedarf der ministeriellen Zustimmung. Der Sammlung und Verwertung von Grabsteinen aufgelassener jüdischer Friedhöfe steht nichts im Wege, soweit nicht eventuell privatrechtliche, bezw. denkmalpflegerische Belange besonders zu berücksichtigen sind.184
Dieser Erlass stellte den ersten Schritt in Richtung einer kategorischen „Arisierung“ und möglichen Auflassung der österreichischen jüdischen Friedhöfe dar. Zudem verrät er ein grundsätzliches Erkenntnis des potenziellen Werts der sich darin befindlichen Grabsteine – ob kultureller, finanzieller oder materieller Natur. Beachtenswert ist hier nicht zuletzt die proaktive Initiative zur Auflassung jüdischer Friedhöfe und die Verwertung ihrer Grabsteine, die von einem noch ausschließlich über das ehemalige Territorium Österreichs verfügendes Ministerium ausging und um einige Monate die oben zitierte Initiative des Amtes Rosenberg vorausging. Eine weitere proaktive Initiative seitens einer österreichischen Instanz bezüglich jüdischer Friedhöfe war der Beschluss der Wiener Stadtverwaltung vom 15. Dezember 1940, fortan ihre Verträge mit „jüdischen“ Privatpersonen (ob per Eigendefinition oder nach den Nürnberger Gesetzen) zur Instandhaltung von Grabstätten in städtischen Friedhöfen, so etwa im Döblinger Friedhof, nicht mehr anzuerkennen. Dieser Schritt geschah über ein Jahr vor dem Beschluss des Deutschen Gemeindetags, dem Dachverband der Gemeinden im „Dritten Reich“, vom 20. Februar 1942, „daß die Pflege der Gräber von Juden durch die Gemeinden mit der Stellung des Dritten Reiches zum Judentum und mit dem Verhältnis der Gemeinden zum Staate nicht mehr vereinbar“ und somit einzustellen war.185 Allgemeiner betrachtet war letzterer Beschluss – der genau ein Monat nach der Wannseekonferenz erfolgte – wohl ein Indiz der zu dieser Zeit gewaltigen Intensivierung und Zentralisierung der genozidalen 184 An alle Herren Landeshauptmänner und an die staatliche Verwaltung des Reichsgaues Wien (Referat I/6), 12. Februar 1940, DÖW, 12.775. 185 An die Herren Oberbürgermeister der Städte mit mehr als 500,000 Einw., 20. Februar 1942, Bundesarchiv (BArch), R36/2101.
Vom „Anschluß“ zur „Arisierung“
Maßnahmen des NS-Staates.186 In spezifischem Bezug auf die Wiener jüdische Sepulkralgeschichte ist hier die Antwort der Allgemeinen Rechtsabteilung der Gemeindeverwaltung des Reichsgaues Wien interessant, die dem Gemeindetag zur Kenntnis gab, dass in Wien bereits seit dem 15. Dezember 1940 „derartige Übereinkommen [Erhaltung, Beleuchtung und Ausschmückung von Gräbern] mit Juden nicht mehr getroffen“ wurden.187 Somit stellten die Wiener BürokratInnen nicht nur ihre Hingabe zur NS-Ideologie zur Schau, sondern gleichzeitig auch den Eifer, mit dem in Wien der Weg für antijüdische Maßnahmen beschritten wurde. Es ist ein kurioses Faktum, dass viele der Grabstätten berühmter „jüdischer“ Persönlichkeiten (wie auch immer definiert) in den überkonfessionellen Wiener Friedhöfen die Shoah anscheinend unversehrt überdauerten – so etwa die Grabstätte Theodor Herzls im Döblinger Friedhof oder jene Gustav Mahlers im Grinzinger Friedhof. Die Hintergründe dazu gelte es noch zu klären. Wenig später, am 16. März 1942, beriet sich der Deutsche Gemeindetag ferner über „die Frage der Schliessung und Einziehung jüdischer Begräbnisstätten“, ein Schritt in Richtung der umfassenden „Arisierung“ aller jüdischen Friedhöfe im Gebiet des „Dritten Reichs“. In der Diskussion wurde auf die gesetzlich vorgeschriebene Ruhefrist von aufgelassen Friedhöfen verwiesen, aber auch grundsätzlich bezüglich der Eigentumsverhältnisse festgestellt, dass, wenn jüdische Gemeinden nicht „zum freihändigen Verkauf “ bereit wären, der Verkauf durch die „Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens vom 3. Dezember 1938“ (die rechtliche Grundlage zur „Arisierung“) erzwungen werden konnte: „in diesem Falle müsste die Stadt als Käufer auftreten“.188 Auch hier zeigte sich die Wiener Stadtverwaltung wieder der reichsweiten Entwicklungen um Jahre voraus, da sie sich bereits seit 1940 intern über den Zwangsverkauf aller jüdischen Friedhöfe in ihrem Sprengel beriet.189 Der Friedhof beim I. Tor stellte einen besonders komplizierten Fall dar, da dieses Areal eigentlich nicht das Eigentum der Kultusgemeinde, sondern nur einen von der Stadt Wien gepachteten Raum darstellte, wiederum aber mit zehntausenden Grabstätten belegt war und zu dieser Zeit weiterhin auch belegt wurde. Erste Anregungen zu einer Enteignung dieses Friedhofs entstanden
186 Vgl. Roseman, Mark: Die Wannsee-Konferenz. Wie die NS-Bürokratie den Holocaust organisierte, aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt, München 2002, insb. S. 7–14. 187 An den Deutschen Gemeindetag, 18. März 1942, BArch, R36/2101. 188 Ausschnitt aus den Mitteilungen des Deutschen Gemeindetages, 16.3.1942 – 18. Verträge über den Erwerb jüdischer Friedhöfe, BArch, R36/2101. 189 Aktennotiz über die Vorsprache des gefertigten Leiters der isr. Kultusgemeinde bei Herrn U’stuf. Brunner am 17. Oktober 1940, 12 Uhr mittags, LBI, Joseph Loewenherz Collection, Box 1, Folder 3, AR25055.
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bereits 1940 seitens der Abteilung I/6 (Liegenschaftsverwaltung) der Stadtverwaltung. In einem Brief an den dort tätigen Ober-Mag. Rat Dr. Walz versuchte der von den NationalsozialistInnen genötigte Leiter der Kultusgemeinde Josef Löwenherz im Oktober 1940 hervorzuheben, dass selbst nach einer Schließung des Friedhofs „gleichwohl die Widmung der überlassenen Flächen als Ruhestätte für die Toten auch weiterhin fortzubestehen“ hätte, wie eigentlich im ursprünglichen Pachtvertrag von 1891 vereinbart wurde, der eine Erhaltung der jüdischen Abteilung „auf Friedhofsdauer“ vorsah (siehe hier Kapitel 5). Aufgrund der Tatsache, dass dort aber ohnehin fast keine Bestattungen mehr stattfanden, wollte Löwenherz zudem die jährliche Pachtzahlung für das Areal, womit die Kultusgemeinde zur allgemeinen Finanzierung des Zentralfriedhofs einen wesentlichen Beitrag leistete, der 1940 noch von der Stadt einbezogen wurde, absetzen. Andererseits bestand er aber darauf, dass eben „auf die Beilegungen daselbst nicht verzichtet werden“ konnte, und bat demnach um eine „Einschränkung des Beilegungsrechtes auf die Dauer von weiteren drei Jahren bis Ende 1943“ sowie eine Ruhefrist gemäß §13 des ursprünglichen Vertrags aus dem Jahre 1891, der somit „bis Ende 1953“ zu dauern hatte. Dafür wollte die Kultusgemeinde auf „jegliche Entschädigung gemäss §12 des Vertrages im Falle der Enteignung“ verzichten. In Hinblick auf den Währinger Friedhof, der angesichts seiner Lage und seines materiellen Wertes einen für die NS-Behörden besonders interessanten Fall darstellte, behauptete Löwenherz, dass aufgrund seiner Lage „inmitten der Grosstadt“ der Boden einen Wert von „zumindest RM 30.-“ pro Quadratmeter besaß. Jedoch bot die Stadt lediglich 4 Reichsmark pro Quadratmeter an. Löwenherz bemerkte hierzu, in Hinblick auf die katastrophalen Lebensumstände der noch in Wien verbleibenden jüdischen Bevölkerung, die größtenteils auf der Kultusgemeinde für ihre Existenz angewiesen war: Die Israelitische Kultusgemeinde Wien, welche so bedeutende Fürsorgeverpflichtungen zu erfüllen hat und deren Zuflüsse aus dem Auslande infolge der derzeitigen kriegerischen Verhältnisse wesentlich beschränkt sind, muss bestrebt sein, den letzten ihr verbliebenen Besitz zu tunlichst günstigen Bedingungen zu veräussern.
Somit war die Kultusgemeinde bestrebt, wenn sie schon zum Verkauf der Friedhöfe gezwungen wurde, wenigstens den bestmöglichen Verkaufspreis zu erzielen. In Hinblick auf die Grabsteine, die sich auf diesen Arealen befanden, stellte Löwenherz fest: Im Falle des Verkaufes dieser Grundstücke ist auch auf den sehr bedeutenden Wert daselbst befindlicher Grabsteine Rücksicht zu nehmen. Ein sehr grosser Teil der auf diesem
Vom „Anschluß“ zur „Arisierung“
Friedhof [Währing] befindlichen 8000 Grabsteine, zumindest 3000, ist aus edlem Gestein mit […] einem Materialwert des Kubikmeters von RM 300.–.
Somit hätte das Gelände samt seinem Inventar einen Wert von mindestens 450.000 Reichsmark, oder 370.000 Reichsmark, wenn die Kosten für den Abtransport der Grabsteine abgezogen wurden. Abschließend betonte Löwenherz wieder die verzweifelte Finanzlage der Kultusgemeinde als Argument für eine teilnahmsvolle Verhandlung seitens der Stadt Wien.190 Aus einer weiteren Verhandlung mit Walz von der Liegenschaftsverwaltung im März 1941 ging hervor, dass die Stadt an einem umfassenden Kaufvertrag für alle nicht zur Bestattung benötigten Friedhofsareale interessiert war, also alle Friedhöfe außer dem beim IV. Tor, obwohl auch hier die sogenannten Liebfrauengründe, das jüngst erworbene Areal am östlichen Rand des Friedhofs, zum Verkauf angeboten werden sollten. Von besonderem Interesse an diesen Verhandlungen ist die Tatsache, dass die „Verwertung“ der Grabsteine am Währinger Friedhof von der Kultusgemeinde selbst vorgeschlagen wurde, woraufhin Walz „hierüber konkrete Vorschläge“ verlangte. Gewiss muss dies seitens der Kultusgemeinde als Akt der Verzweiflung gedeutet werden, wodurch aus dem Zwangsverkauf der Friedhöfe auch etwas Kapital generiert werden sollte, um die bedürftigen zurückgebliebenen Gemeindemitglieder zu unterstützen, jedoch wird hier deutlich, dass die Zweckentfremdung der Grabsteine in den Wiener jüdischen Friedhöfen nicht von der Stadt Wien vorgeschlagen wurde.191 Zwei Monate später wurde zu Protokoll gegeben, dass zwar nach Wünschen des Stadtkämmerers alle bezüglich der Friedhofsgründe schwebenden Fragen auf einmal gelöst werden sollten, dass aber andererseits für die Stadt Wien die Uebergabe des Währinger Friedhofes das Dringendste sei, da die Partei [die NSDAP] stets von Neuem die Abtragung desselben verlange.
Zudem beschwerte sich die „Fachschaft des Steinmetzgewerbes“ über den Vorschlag, dass die Grabsteine von der Kultusgemeinde verwertet werden sollten, was als Unterstellung verstanden werden kann, dass die jüdische Repräsentativkörperschaft nicht glaubwürdig sei. Somit beantragte die Fachschaft, „dass ihr die Verwertung übertragen werde“.192 Wenige Tage später bat Löwenherz
190 An die Gemeindeverwaltung des Reichsgaues Wien, 6. Oktober 1940, AIKGW, A/VIE/IKG/IIII/LG/diverse Adressen/Österreich/2/4, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 191 Aktennotiz, 6. März 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/Österreich/2/4, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 192 Aktennotiz, 16. Mai 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/Österreich/2/4, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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SS-Hauptsturmführer Alois Brunner um seine Unterstützung für den Vorschlag der Kultusgemeinde, dass nicht nur die Grundstücke, sondern auch die Grabsteine im Verkaufspreis berücksichtigt werden und die Beiträge für den allgemeinen Erhalt des Zentralfriedhofs zur Gänze entfallen sollten.193 Wiederum einige Tage später behauptete Walz in einer Sitzung mit den Vertretern der Kultusgemeinde aufgrund einer Begutachtung seitens „der Bezirksstelle Ost des Reichsinnungsverbandes der Steinmetzmeister der Ostmark“, dass „von den 8000 vorhandenen Grabsteinen“ am Währinger Friedhof „nur etwa 2000 verwendbar seien“. Daraufhin regte Löwenherz an, „es möge die Gemeinde Wien die Verwaltung des Grabsteinmaterials übernehmen, da nur sie die Möglichkeit habe, das gesamte Material für ihre verschiedenartigen Zwecke zu verwenden“. Walz erwiderte aber, dass „der Abtransport und die Aufstellung“ der Grabsteine „so bedeutende Summen verschlingen und die Verwertung so lange Jahre währen [würden], dass die Gemeinde Wien hiefür keinerlei Barbetrag bezahlen könne“. Die Stadt Wien beharrte somit auf ihren ursprünglichen Verkaufspreis von 4 Reichsmark pro Quadratmeter unter Einverständnis, dass die Kultusgemeinde aber fortan auch „keinen Anspruch auf die vorhandenen Grabsteine erhebe“. Angesichts einer möglichen Exhumierung der Überreste prominenter hier bestatteter Personen und ihrer Überführung auf den Zentralfriedhof sowie gegebenenfalls des Abtransports ihrer Grabdenkmäler – eine Aktion, die bald danach tatsächlich stattfand und unten im Detail erläutert wird – meinte Walz, „dass die Israel[itische] Kultusgemeinde Wien, solange sie Eigentümerin des Friedhofes sei, hiezu keinerlei Zustimmung bedürfe ausser der Einholung der Zustimmung der Sanitätsbehörde und des Reichsstatthalters“, im letzteren Fall aufgrund der bestehenden Bestimmungen bezüglich der Abänderung von Grabsteinen.194 Löwenherz versuchte in einem Schreiben an die Stadtverwaltung vom 30. Mai 1941 nochmals nachdrücklich, von der Stadt Wien für die sich auf dem Währinger Friedhof befindlichen Grabsteine eine entsprechende Entschädigung zu erlangen. So argumentierte er wieder: Auf diesem Friedhofe befindet sich eine grosse Anzahl Grabsteine aus edlem Gestein, die einen bedeutenden Materialwert darstellen. Der Israel[itischen] Kultusgemeinde Wien stehen weder die Mittel noch der Apparat zur Verfügung, um dieses Grabsteinmaterial zu verwerten; die Gemeindeverwaltung hingegen ist in der Lage, diese Grabsteine ihrem wahren Werte entsprechend zu verwenden, das edle Gestein für künftige Hochbauten, die minderwertigen für Strassenbau und sonstige Zwecke […]. Bei Uebernahme dieses 193 An das Rechtsbüro, 21. Mai 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/Österreich/2/4, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 194 Aktennotiz, 27. Mai 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/Österreich/2/4, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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Friedhofes erhält somit die Gemeindeverwaltung in dem Grabsteinmaterial einen Mehrwert, der für sie wenn auch in einem späten Zeitpunkt in Erscheinung treten wird.
Somit stellte die Kultusgemeindeverwaltung selbst explizit die Zweckentfremdung der historischen Grabsteine am Währinger Friedhof für solch unwürdige Zwecke wie „Hochbauten“ oder „Strassenbau“ in Aussicht, gewiss ein Verzweiflungsakt, aber dennoch ein Sachverhalt in der Schändungsgeschichte der Wiener jüdischen Friedhöfe, der in der Historiographie bis dato unerwähnt blieb. Löwenherz schlug eine solche „Verwertung“ nicht zuletzt als Gegenleistung für eine „Ermässigung“ der Beiträge der Kultusgemeinde zur Erhaltung des Zentralfriedhofs vor, wobei sie sich bereit erklärte, dass sie auf die auf diesem Friedhofe [Währing] vorhandenen Grabsteine keine Ansprüche erhebt. Sie bittet nur, den Angehörigen der auf diesem Friedhofe bestatteten Personen die Möglichkeit zu geben, auf ihre Kosten die Abtragung der Gebeine der letzteren und der Grabsteine auf einen andern Friedhof durchzuführen, welche sich darum nur vereinzelt ereignen werden, da ja der gegenständliche Friedhof seit dem Jahre 1879 nicht mehr in Betriebe steht.
Freilich kam Löwenherz mit diesem Vorschlag an erster Stelle dem hohen Druck nach, für die Menschen in der Obhut der Kultusgemeinde zu sorgen, und bat demnach auch für eine angemessene „Entschädigung“. Des Weiteren wiederholte er hier den Vorschlag, Beisetzungen am I. Tor noch bis Ende 1943 zu gestatten, wobei die Kultusgemeinde im Gegenzug zur „Einschränkung des als Ruhestätte im §13 des Vertrages bis zur völligen Auflösung des Zentralfriedhofes zugestandenen Zeitraumes auf die darauffolgenden 10 Jahre, also bis Ende 1953“ bereit erklären würde – also zur faktischen Auflassung dieses jüdischen Friedhofs im Jahre 1953. Die Kultusgemeinde verzichtete ebenfalls „auf jegliche Entschädigung […] im Falle der Enteignung“. Somit stammten die wesentlichen Eckpfeiler des umfassenden Kaufvertrags dieser beiden Friedhöfe, inklusive der Verwertung der Grabsteine in Währing, von Josef Löwenherz, der abschließend der NS-Stadtverwaltung gegenüber auch argumentierte, dass somit der „allgemeine[n] Lösung des Wiener Judenproblems“ geholfen wäre.195 Im Herbst 1941 verlangte die Stadt Wien abermals eine Auflistung aller sich im Eigentum der Kultusgemeinde befindlichen jüdischen Friedhöfe in und um Wien in Vorbereitung auf eine umfassende Enteignung, die danach sehr schnell erfolgte.196 Sowohl der Währinger Friedhof wie die alte jüdische Abteilung 195 An die Gemeindeverwaltung des Reichsgaues Wien, 30. Mai 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/IIII/LG/diverse Adressen/Österreich/2/4, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 196 An die Verwaltung der Stadt Wien, 16. Oktober 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/Österreich/2/4, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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beim I. Tor des Zentralfriedhofs wurden bereits im Februar 1942, noch einige Wochen vor der oben diskutierten Sitzung des Deutschen Gemeindetags bezüglich der umfassenden „Arisierung“ jüdischer Friedhöfe im „Dritten Reich“, zu einem Preis von 96.220 Reichsmark bzw. 213.324 Reichsmark zwangsverkauft.197 Der Friedhof beim I. Tor ging am 26. März 1942 in das Eigentum der Stadt Wien über, und es hatten ab diesem Datum alle Bestattungen dort gänzlich aufzuhören. Nach Ablaufen einer zehnjährigen Ruhefrist sollte dann das Bestattungsareal planiert und dem allgemeinen Zentralfriedhof einverleibt werden, was die vollkommene Vernichtung dieses Friedhofs bedeutet hätte.198 Da das „Dritte Reich“ keine zehn Jahre mehr überdauern sollte, kam es aber schließlich nicht dazu. Die jüdischen Friedhöfe in Floridsdorf und Groß-Enzersdorf, die nun der Wiener Kultusgemeinde gehörten, wurden zusammen zum Pauschalpreis von 10.000 Reichsmark zwangsverkauft. Auch die sogenannten Liebfrauengründe beim IV. Tor wurden an die Stadt veräußert – allerdings auf Wunsch der Kultusgemeinde selbst, wie später noch diskutiert wird.199 Laut Kaufvertrag sollte der Währinger Friedhof zur „Schaffung einer öffentlichen Erholungsanlage“ planiert werden, die Liebfrauengründe würden hingegen „einer künftigen Erweiterung des Zentralfriedhofes“ dienen – vermutlich zu einem Zeitpunkt, wenn auch der dazwischen liegende Friedhof beim IV. Tor „arisiert“ werden konnte, was zu dieser Zeit noch nicht möglich war, da der Friedhof zur Bestattung der noch in Wien lebenden und sterbenden Jüdinnen und Juden benötigt wurde. Mit Übergabe des Friedhofs beim I. Tor inklusive all seiner Grabsteine „binnen Monatsfrist“ wurde auch der Vertrag von 1891 annulliert. Nach §2 des Kaufvertrags wurde den Angehörigen der auf diesem Friedhof Bestatteten die Möglichkeit geboten […], innerhalb einer Frist von 2 Monaten auf ihre Kosten die Exhumierung der Leichen und die Abtragung und Wegschaffung der Grabsteine durchzuführen. Die innerhalb dieser Frist nicht weggebrachten Grabsteine verbl[ie]ben der Stadt Wien.
Danach durften die Angehörigen „darauf keinerlei Ansprüche“ mehr erheben. Freilich sah die Kultusgemeinde keinen einzigen Reichspfennig vom Verkaufspreis. Nach Abzug aller ihrer „Schulden“ (für Beiträge zum Zentralfriedhof 197 Vgl. An das Friedhofsamt der Israelitischen Kultusgemeinde, 10. August 1951, AIKGW, A/VIE/IKG/III/FH/108/8 und Die Wahrheit ist unbesiegbar, o. D., AIKGW, A/VIE/IKG/III/Präs/Rest/3/1. 198 Verhandlungsschrift, 25. März 1942, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/Österreich/2/4, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 199 Embacher, Helga: Restitutionsverhandlungen mit Österreich aus der Sicht jüdischer Organisationen und der Israelitischen Kultusgemeinde, Wien 2003, S. 274–278.
Vom „Anschluß“ zur „Arisierung“
sowie noch ausstehenden Zahlungen für die Liebfrauengründe) ging der Restbetrag auf ein „Liquidationskonto“, das von der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ verwaltet und unter anderem zum Ausbau des Konzentrationslagers Theresienstadt verwendet wurde.200 Im Mai 1942 teilte die Kultusgemeinde sämtlichen Instanzen – darunter der Rauchfangkehrermeisterschaft, den Städtischen Wasserwerke sowie diversen Versicherungsgesellschaften – mit, dass der Friedhof beim I. Tor nicht mehr in ihrem Besitz lag und bat diese, jegliche Rechnungen fortan an die Stadtverwaltung zu richten.201 Ähnlich erging es vielen der jüdischen Provinzfriedhöfe in Österreich. Aufgrund ihrer viel kleineren Dimensionen im Vergleich insbesondere zu den jüdischen Abteilungen des Wiener Zentralfriedhofs sowie vermutlich aufgrund der raschen Vertreibung lokaler jüdischer Gemeinden wurden diese Friedhöfe samt ihren Grabsteinen oft komplett aus der lokalen Landschaft gelöscht. Der wenige Kilometer nordöstlich der Wiener Stadtgrenze entfernte jüdische Friedhof in Deutsch-Wagram wurde beispielsweise an die Österreichische Eisenbahnverkehrs-Gesellschaft zwangsverkauft, auf deren Kosten die Grabsteine abgetragen und „in der Nähe des Zentralfriedhofes“ in Wien gelagert werden sollten. Auch verpflichtete sich die Eisenbahnverkehrs-Gesellschaft im Kaufvertrag, „[u]m die Ruhe der Toten, die auf dem einen Teil der vertragsgegenständlichen Liegenschaft bildenden israelitischen Friedhof bestattet sind, zu wahren“ sowie „auf diesem Teile keine Grabungen vorzunehmen“. Die Grabsteine wurden allerdings nie geliefert, wie Ernst Feldsberg im Jänner 1940 bemerkte, und sie gelten heute als verschollen.202 Manchmal genügte nicht einmal die Auflassung eines jüdischen Friedhofs – es wurde die Erde selbst weiterhin als „jüdisch“ konnotiert. So beschwerte sich der Reichsstatthalter von Niederdonau, Hugo Jury, über den Plan, den „arisierten“ jüdischen Friedhof in Korneuburg für die Bestattung von Nichtjüdinnen und -juden zu verwenden: „Ich bin nicht damit einverstanden, dass deutsche Menschen auch nach Ablauf einiger Jahre dort begraben werden, wo früher Juden beigesetzt wurden.
200 Entwurf Vertrag, o. D. [1942], AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/Österreich/2/3, zit. in USHMM, AJCV-VCC und Kaufvertrag, 25. Februar 1942, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 18, Währinger Friedhof/1/4, zit. in USHMM, AJCV-VCC. Vgl. Embacher: Restitutionsverhandlungen mit Österreich, S. 276. 201 Siehe die diversen Briefe in AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/1/6, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 202 An das Rechtsbüro, 29. Jänner 1940 und An die Staatliche Verwaltung des Reichsgaues Wien, 6. Februar 1940, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC. Vgl. den Eintrag zu diesem Friedhof in Verein Schalom (Hg.): Wegweiser für Besucher der jüdischen Friedhöfe und Gedenkstätten in Wien, Niederösterreich, Burgenland, Steiermark und Kärnten, Wien 2000, o. S.
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Deutsche Menschen gehören in eine deutsche Erde.“ Das Areal wurde stattdessen als „Grünfläche“ belassen, und der Friedhof überdauerte die Shoah somit beiläufig.203 Der Historiker Herbert Rosenkranz verwies in diesem Zusammenhang auf den jüdischen Friedhof in Hohenems in Vorarlberg, einen der ältesten jüdischen Friedhöfe Österreichs, der die Shoah nur deshalb überstand, weil seine Grabsteine durch die Ortsgemeinde als so wertlos betrachtet wurden, dass sich nicht einmal ihre Abtragung lohnte.204 In einem Aktenvermerk der Gauverwaltung Tirol-Vorarlberg aus dem Jahre 1941, der diese Grabsteine tatsächlich als von „größtenteils keinen künstlerischen Wert“ bezeichnete, wurden insbesondere „[e]inige ältere Stücke“ dennoch als „kulturhistorisch interessant“ hervorgehoben.205 Solch unterschiedlichen Wertungen der Grabsteine sollten in Wien nach den umfassenden „Arisierungen“ der jüdischen Friedhöfe noch zu brisanten Diskussionen zwischen lokalen Behörden und wissenschaftlichen Institutionen führen. Sogar nach den großen Deportationen der jüdischen Bevölkerung Österreichs, die bis Ende 1942 größtenteils abgeschlossen waren, sahen die Behörden noch potenzielle Komplikationen bezüglich der Eigentumsverhältnisse bei den Grabsteinen. Zynisch bemerkte jedoch das Reichsfinanzministerium 1944, als die Ermordung der sich in den Territorien unter NS-Kontrolle befindlichen Judenheiten weitgehend schon vollendet war: „Nach den bisherigen Erfahrungen ist mit Ansprüchen der Eigentümer nicht zu rechnen.“ Nichtsdestotrotz wurde den Stadtverwaltungen zunächst befohlen, beim Abschluss der „Kaufverträge“, also der „Arisierung“ von jüdischen Friedhöfen, das Reich nicht zu implizieren, um möglichen Restitutionsforderungen vorzubeugen. Allerdings wurde auch diese Forderung fallengelassen, als verschiedene Bürgermeister vom Reichssicherheitshauptamt anfragten, wie wahrscheinlich denn die Rückkehr der EigentümerInnen sei – eine Frage, auf welche die Vollstrecker des Genozids wohl keine klare Antwort geben wollten.206 Im November 1942 teilte die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland mit, dass sämtliche noch bestehenden jüdischen Gemeinden „jüdische Arbeitskräfte“ zur Verfügung stellen sollten, um Metallschrott an ihren ebenfalls noch bestehenden Friedhöfen einzusammeln und für die Herstellung von kriegswichtiger Munition auszuliefern. Josef Löwenherz wandte sich hierauf an die 203 Zit. nach Lind, Christoph: Jüdische Friedhöfe in Niederösterreich. Die letzten Zeugnisse, in: Keil, Martha/Forisch, Elke/Scheiber, Ernst: Denkmale. Jüdische Friedhöfe in Wien, Niederösterreich und Burgenland, Wien 2006, S. 108. 204 Rosenkranz: Verfolgung und Selbstbehauptung, S. 266. 205 Aktenvermerk, 2. Mai 1941, DÖW, 12.775. 206 Vgl. Kuller, Christiane: Finanzverwaltung und Judenverfolgung. Die Entziehung jüdischen Vermögens in Bayern während der NS-Zeit, München 2008, S. 169–170.
Das Schicksal des Friedhofs in der Seegasse während der Shoah
„Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ mit der Beschwerde, dass der „Ältestenrat der Juden in Wien“ – der im November 1942 die Kultusgemeinde ersetzt hatte, um die wenigen noch in Wien verbleibenden, zumeist nur den Nürnberger Gesetzen zufolge als „Jüdinnen“ und „Juden“ definierten Menschen zu betreuen – der „Reichsvereinigung nicht unterstehe und dass sie nur die ihr von ihrer Aufsichtsbehörde erteilten Aufträge auszuführen“ vermochte. Mit anderen Worten würde der Wiener „Ältestenrat“ nur eine solche Aktion auf direkten Befehl der Wiener „Zentralstelle“ unternehmen. Ferner bemerkte Löwenherz, dass alle jüdischen Friedhöfe Wiens mit Ausnahme des Friedhofs beim IV. Tor ohnehin schon in das Eigentum der Stadt Wien übergegangen seien, und schließlich, dass infolge der massiven „Abwanderung“ – die Deportationswellen des letzten Jahres – die benötigten Arbeitskräfte nunmehr „kaum vorhanden“ waren und die Kultusgemeinde somit diese Aufforderung „nicht durchzuführen in der Lage sei“.207 Im April 1944 verlangte auch die Gestapo vom „Ältestenrat“ die „Meldung kupferner Bestandteile“ beim IV. Tor, da sie an einer Beschlagnahmung von kriegswichtigen Materialen interessiert war – insbesondere in Bezug auf die 1.800 Kilogramm schwere Kuppel der in den Novemberpogromen ausgebrannten Zeremonienhalle. Löwenherz antwortete, dass die Zeremonienhalle trotz der Schäden als „Materialdepot und Trockenlager“ verwendet wurde und dass die Abtragung der Halle einen entsprechenden Ersatz erforderlich machen würde.208 Die Kuppel wurde schließlich am Friedhof belassen. Sonst ist aufgrund des heutigen Zustands der Grabsteine und ihrer Umfriedungen in den Friedhöfen ersichtlich, dass die Einsammlung von metallenen Gegenständen zwar ausgiebig, doch bei Weitem nicht komplett durchgeführt wurde. Zur „Arisierung“ der Friedhofsräume und zum Raub kriegswichtiger Materialen kamen schließlich noch weitere Schikanen hinzu, wie etwa der Raub von Grabsteinen und sogar von menschlichen Überresten, die in Wien für das „Dritte Reich“ teilweise beispiellose Dimensionen annahm. Im Folgenden werden diese im Kontext der einzelnen Schicksale der vier historischen Wiener jüdischen Friedhöfe vorgeführt. 7.5
Das Schicksal des Friedhofs in der Seegasse während der Shoah
In einer einschlägigen Studie zeigten die HistorikerInnen Elizabeth Anthony und Dirk Rupnow den Umgang mit dem Friedhof in der Seegasse während der 207 An die Zentralstelle für jüdische Auswanderung, 23. November 1942, AIKGW, A/VIE/IKG/IIII/LG/diverse Adressen/Österreich/2/5, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 208 An die Geheime Staatspolizei, 19. April 1944, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien, diverse Adressen/3/6, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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Shoah als einzigartiges Beispiel der proaktiven, jedoch teils mit einander kollidierenden Interessen verschiedener lokaler Wiener Instanzen auf, die sich alle um Fragen der Wertung, Bewahrung bzw. Vernichtung dieses alten jüdischen Erinnerungsortes drehten. So zielte 1941 das städtische Schulamt in Einklang mit der städtischen Planungsbehörde darauf ab, den Friedhof samt den sich darauf befindlichen Grabsteinen einfach zu vernichten, um einen Spielplatz für die „deutsche“ Jugend zu schaffen. Das Institut für Denkmalpflege des städtischen Kulturamtes – die Nachfolgerinstitution der k.k. Zentral-Kommission für Kunst- und Historische Denkmale und des Bundesdenkmalamtes, die in den Jahrzehnten zuvor die Dokumentation und Instandsetzung des Friedhofs gefördert hatte – wollte hingegen den Friedhof bzw. wenigstens seine Grabsteine als historisches Kulturerbe der Stadt Wien bewahren. In diese Diskussion mischten sich schließlich auch die Arbeitsgemeinschaft für Raumforschung und das Anthropologische Institut der Universität Wien sowie einige andere Institutionen mit dem Ziel ein, die Grabsteine und etwaige sich im Boden befindliche menschliche Überreste selektiv zu bewahren und wissenschaftlich zu verwerten, doch gegen eine sonstige Vernichtung des Friedhofs hatten sie keinen Einwand.209 Diese lokalen Initiativen, den Friedhof zu zweckentfremden, zu vernichten bzw. zu bewahren (wenngleich nur selektiv) liefen schließlich ins Leere, da das Areal letztendlich vom Reichssicherheitshauptamt in Berlin beschlagnahmt wurde und für dessen Zwecke verwendet werden sollte. Doch veranschaulichen die langwierigen Streitigkeiten dieser Wiener Behörden nicht nur eine ausgesprochen komplexe Dynamik im Prozess der Verwertung und Vernichtung des jüdischen kulturellen Erbes als Wiener Mikrokosmos des gesamten (kulturellen) NS-Genozids gegen das europäische Judentum, sondern darüber hinaus auch die ebenso komplexen Kontinuitäten dieser Bestrebungen mit dem wissenschaftlichen und stadttopographischen Umgang mit jüdischem kulturellem Erbe (darüber hinaus aber auch mit den nichtjüdischen Bestattungsräumen in Wien) der vergangenen Jahrzehnte. Obwohl das Schicksal dieses Friedhofs bereits im zitierten Beitrag von Anthony und Rupnow sowie in der Monographie von Traude Veran zusammengefasst wurde, wird im Folgenden tiefer auf die laufende Diskussion zwischen den verschiedenen AkteurInnen während der Shoah eingegangen, um insbesondere die Dynamik der Bewahrung bzw. Vernichtung näher zu beleuchten, mit besonderem Augenmerk auf ebendiese Kontinuitäten mit der Rezeptionsgeschichte und damit verbunden den diversen Wertungen des Friedhofs in den Jahrzehnten vor der Shoah.210
209 Anthony/Rupnow: Wien IX, Seegasse 9, S. 5–9. 210 Vgl. Veran: Das steinerne Archiv, insb. S. 150–155.
Das Schicksal des Friedhofs in der Seegasse während der Shoah
Am 3. Juni 1941 bekundete der Leiter des städtischen Schulamtes, Robert Körber, in einem Brief an die städtische Liegenschaftsverwaltung (Abteilung I/6), die zu dieser Zeit auch die „Arisierung“ der anderen jüdischen Friedhöfe in Wien vorantrieb, das Interesse seines Amtes daran, das jüdische Altersheim in der Seegasse samt Gelände zu beschlagnahmen und, nach „Freimachung des Gebäudes von den Juden“ durch deren „Aussiedlung“ – ihre Deportation – dort ein Schülerheim einzurichten. „Mit Rücksicht auf den vorhandenen großen Garten“, meinte Körber in Bezug auf den sich tatsächlich hinter dem Altersheim befindlichen Garten, wobei er aber auch den daneben gelegenen Friedhof meinte, „würde sich das Haus besonders gut zu einem Schülerheim einrichten lassen“.211 Die Bezeichnung des gesamten Geländes als „Garten“ deutet bereits auf eine Art diskursive Vernichtung des Friedhofs als jüdischer Erinnerungsort, die in der späteren Korrespondenz zwischen den Ämtern wiederholt verwendet werden sollte. Auch in München wurde vergleichsweise der Neue Israelitische Friedhof, der teilweise an private Unternehmen verpachtet wurde, in den Pachtverträgen auch nur mehr als „Garten“ bezeichnet.212 Am 10. Juli 1941 stimmte das Wiener Reichsstatthalteramt diesem Plan mit der Begründung zu, dass ein Spielplatz an dieser Stelle vorteilhaft wäre „für die Oberschule im 9. Bez[irk; womöglich ist das Gymnasium Wasagasse gemeint] und für die Hauptschule in der Scheuchgasse [heute Erich-FriedRealgymnasium in der Glasergasse, 1938–1945 nach dem österreichischen Nationalsozialisten Richard Scheuch benannt]“.213 Doch nur wenige Wochen später meldete sich das Institut für Denkmalpflege in Person ihres Leiters Viktor Schneider zu Wort, der sich mit folgendem Argument gegen diesen Plan aussprach: „Dieser Friedhof beansprucht vom historischen Standpunkt, wie vom kulturellen, ein dokumentarisches Interesse. Ein Vergleich mit dem bekannten Judenfriedhof in Prag liegt nahe.“ Somit sah sich Schneider „nicht in der Lage, der geplanten Verwendung der Grundfläche als Spielplatz zuzustimmen“. Begleitet wurde das Schreiben mit zwanzig Photographien des Friedhofs, die vermutlich die Feststellung seines „kulturellen und dokumentarischen Interesse[s]“ belegen sollten.214 Von vornherein schloss sich das Institut für Denkmalpflege der zuvor gängigen historiographischen und denkmalpflegerischen Sicht des Friedhofs als kulturell wertvoller Erinnerungsort in der 211 Abschrift, an die Abteilung I/6, im Auftrag: Dr. Körber, 3. Juni 1941, Wiener Stadt- und Landesarchiv (WStLA), A3 (1. Reihe) – Transaktionen: Schachtel 148: Tr9 betreffend Jüdischen Friedhof in Wien 9, Seegasse 9, Alsergrund, E2 894. 212 Kuller: Finanzverwaltung und Judenverfolgung, S. 179. 213 An das Referat Z-RO Generalreferat für Raumordnung, 10. Juli 1941, Österreichisches Staatsarchiv / Archiv der Republik (ÖStA/AdR), Reichsstatthalter in Wien, Kt. 300. 214 An den Reichsstatthalter in Wien, 25. Juli 1941, ÖStA/AdR, Reichsstatthalter in Wien, Kt. 300.
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Wiener Stadttopographie an, die mit ästhetischen Argumenten (in Form von Photographien) sowie dem ebenso gängigen Vergleich zum berühmten zeitgenössischen Friedhof in Prag untermauert wurde. Es verstrichen einige Monate, bis sich am 19. September 1941 auch Andreas Tröster vom städtischen Generalreferat für Raumordnung mit der Replik zu Wort meldete, die Grabsteine seien „in Formen gehalten, die mit keiner unserer Kunstepochen zu vergleichen sind. Nur vereinzelt kann man an Steinen aus dem 16. und 17. Jahrhundert den starken Einfluß der Barocke auch in dieser – ansonsten starren, systemlosen – Gestaltung erkennen“. Dies ist eine faktisch unrichtige, zumal ironische Feststellung, da die Grabdenkmäler in der Seegasse von den gleichen Steinmetzen wie ihre christlichen Zeitgenossen hergestellt wurden und mit diesen durchaus vergleichbar waren. Tröster gab zwar zu, dass die „Schrift auf den Steinen […] als ornamentale Schrift fraglos gut angewendet“ war, doch die Bestatteten seien lediglich „zumeist sehr reiche Juden [gewesen], die bei Hof großen Einfluß hatten und auch als Vertreter von Juden-Gemeinden, oder Interessen anderer Städte und Länder in Wien weilten“, ein offensichtlicher Verweis auf die dort bestatteten shtadlanim, die aber keineswegs die Mehrheit der jüdischen Gemeinschaft ausmachten. Somit sei der Friedhof insgesamt „für die übrige Forschung und Geschichte unseres Volkes eine völlig unzusammenhängende und daher wertlose Angelegenheit“.215 Mit anderen Worten hatte ein jahrhundertealter jüdischer Friedhof mit der nun als „deutsch“ konstruierten Wiener Kultur keinen Zusammenhang, keine wirkliche „Historizität“, und somit keinen Bewahrungswert. Auch der Wiener Bürgermeister Philipp Wilhelm Jung sprach sich für die Vernichtung des Friedhofs zugunsten eines Spielplatzes aus – wohlgemerkt zu genau der Zeit, als seitens der Stadt ein Teil des Währinger Friedhofs zum Bau eines Luftschutzbunkers „arisiert“ wurde.216 In diesen Beispielen zeigt sich die proaktive Initiative seitens der Wiener Stadtverwaltung, die seit 1945 streckenweise bis heute noch die Verantwortung für die Schändungen der NS-Zeit abstreitet. Gleich am Folgetag stellte das Institut für Denkmalpflege in Erwiderung hierauf einen Bericht zusammen, der aufgrund verschiedener dokumentarischer Belege den einzigartigen historischen Wert des jüdischen Friedhofs veranschaulichen sollte. Zitiert wurden viele der einschlägigen historischen Werke der vergangenen Jahrzehnte, die sich mehr oder weniger ausführlich mit dem Friedhof auseinandergesetzt hatten, insbesondere auch die oben zitierten, 215 An Herrn Regierungspräsident Dr. Dellbrügge, 19. September 1941, ÖStA/AdR, Reichsstatthalter in Wien, Kt. 300. 216 Wie vermerkt wurde in Amts-Erinnerung, 10. April 1942, WStLA, A3 (1. Reihe) – Transaktionen: Schachtel 148: Tr9 betreffend Jüdischen Friedhof in Wien 9, Seegasse 9, Alsergrund, E2 894.
Das Schicksal des Friedhofs in der Seegasse während der Shoah
die aus nichtjüdischer Feder stammten: so jene von Wilhelm Kisch, Karl Eduard Schimmer, Leopold Donatin, Bernhard Wachstein, Hugo Hassinger, Carl Hofbauer, Leopold Moses, Ignaz Hermann Körner und Gerson Wolf. Gemein war den meisten dieser Autoren, dass sie den Friedhof als „malerisch“ oder sonst ästhetisch positiv bezeichnet hatten sowie, dass manche den Friedhof in der Seegasse mit seinem berühmten Zeitgenossen in Prag verglichen. Zitiert wurde auch eine ältere Mitteilung des damals noch als k.k. Zentral-Kommission bekannten Instituts, in der dieser Ort als ein „malerisch sehr wirksame[r] Friedhofe“ genannt wurde, sowie ein Artikel des österreichischen Geologen Alois Kieslinger zu „Gesteinskundliche[n] Untersuchungen“ aus dem Jahre 1934, wohlgemerkt unter dem Austrofaschismus, in dem der wissenschaftliche Wert der Grabsteine in der Seegasse gerade in Ermangelung von erhaltenen zeitgenössischen Beispielen aus der christlichen Sepulkralkultur hervorgehoben wurde.217 Bereits im Sommer hatte sich die Stadtverwaltung, die die Vernichtung des Friedhofs befürwortete, an die höchste Instanz gewandt, nämlich das Reichssicherheitshauptamt in Berlin, das im Namen des Reichsführers-SS Heinrich Himmler seine prinzipielle Unterstützung für den Plan kundgab, den Friedhof zugunsten eines Spielplatzes zu vernichten, vorerst jedoch, um weitere Belege bezüglich des potenziellen Werts, insbesondere der Grabsteine, bat.218 Zunächst wandte sich die Stadtverwaltung also an verschiedene Institutionen mit der Bitte um eine Begutachtung. Am 15. Oktober 1941 antwortete die Arbeitsgemeinschaft für Raumforschung an der Universität Wien, dass sie eine „Erhaltung oder zumindest [eine] sorgfältige Aufnahme des historischen Judenfriedhofes“ unterstützte. Eine „Auflassung“ betrachtete sie als „durchaus unerwünscht“, doch müssten dann jedenfalls „die wichtigsten Steine dem Museum der Stadt Wien [heute Wien Museum] überwiesen und photographische Aufnahmen des Friedhofes sowie der Plangrundlagen der Ausgrabungen dem genannten Museum übergeben werden“. Die Arbeitsgemeinschaft befürwortete schließlich ein Gutachten durch das Institut für Denkmalpflege.219 Drei Tage später schloss sich das Anthropologische Institut der Universität Wien nach Rücksprache mit dem Dekan, Viktor Christian, der Ansicht an, dass eine „gründliche Aufnahme des Geländes […] ausserordentlich zweckvoll“ sei. Das Institut schlug zudem vor, dass „unter Zuziehung von Hebraisten aus dem Orientalischen Institut [der Universität Wien] die Grabsteine, allenfalls auch
217 Amtsvermerk, 20. September 1941, ÖStA/AdR, Reichsstatthalter in Wien, Kt. 300. 218 An Herrn Dr. Tröster, 16. August 1941, ÖStA/AdR, Reichsstatthalter in Wien, Kt. 300. 219 An den Reichsstatthalter in Wien, 15. Oktober 1941, ÖStA/AdR, Reichsstatthalter in Wien, Kt. 300.
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andere, aus dem Boden hervorkommende Fund [sic], die vielleicht volkstümlich von Wichtigkeit sind, genau überprüft und die Grabsteine auch entziffert werden“ sollten. „Das Skelettmaterial“, wovon hier beim Begriff „Fund“ die Rede war, müsste möglichst so geborgen werden, dass eine Zuordnung zu den Inschriften auf den Grabsteinen […] erfolgen kann. Es könnte so erreicht werden, dass nicht nur Einzelpersonen, sondern auch aufeinander folgende Generationen, die im Familienverbande stehen, für die Forschung sicher gestellt werden können.
Eine „Frau Dr. Kahlich“, die „sich seit Jahren eingehend mit der Judenfrage von anthropologischem Standpunkt aus“ beschäftigt hatte – gemeint war die nationalsozialistische Wiener Anthropologin Dora Kahlich-Könner – erklärte sich bereit, diese „wissenschaftliche Bearbeitung“ zu übernehmen. Unterzeichnet war das Schreiben vom ebenfalls überzeugten Wiener Nationalsozialisten und Anthropologen Karl Tuppa.220 Mit der Einmischung des Anthropologischen Instituts nahmen die Erwägungen zum jüdischen Friedhof also eine entscheidende Wende weg von den polaren Gegensätzen der Bewahrung und Vernichtung und in Richtung einer selektiven Bewahrung zum Zwecke der rassistischen wissenschaftlichen Forschung. Am 25. November 1941 meldete sich der deutsche Anthropologe und Rassenhygieniker Lothar Loeffler vom Rassenbiologischen Institut der Universität Königsberg ebenfalls zu Wort, der im Jahr darauf das neu gegründete Institut für Rassenbiologie und Rassenhygiene an der Universität Wien übernehmen sollte. Auch Loeffler hielt „die wissenschaftliche Bearbeitung der Knochenreste aus dem Judenfriedhof in der Seegasse für außerordentlich wichtig“ und bezeichnete ebendiese Reste als „wissenschaftlich sehr wertvoll“. Er gab an, selber „in Ostpreußen und Königsberg seit Jahren sämtliches derartiges, aus historischer Zeit anfallendes Skelett- und Schädelmaterial“ erfasst zu haben, mit „recht interessante[n] Ergebnisse[n]“.221 Es teilten diese wissenschaftlichen Institutionen also nicht die Ansicht des Instituts für Denkmalpflege, dass der Friedhof in sich als kulturhistorisch wertvoller Raum erhaltenswürdig sei, sondern sie waren lediglich am rassistischen Forschungspotenzial der Grabsteine und etwaigen Skelettfunden interessiert. Solch angedachten anthropologischen Gräberschändungen sollten schließlich in der Seegasse nicht ausgeführt werden. Sie waren ohnehin schon angesichts des erheblichen Alters der Grabstätten eher unrealistisch, da es fraglich ist, ob überhaupt etwas vom „Skelettmaterial“ der 220 An die Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung, 18. Oktober 1941, ÖStA/AdR, Reichsstatthalter in Wien, Kt. 300. 221 An den Reichsstatthalter in Wien – Planungsbehörden, 25. November 1941, ÖStA/AdR, Reichsstatthalter in Wien, Kt. 300.
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dort Bestatteten bis in das 20. Jahrhundert überdauerte. Von einer Zuordnung zu den Grabinschriften hätte sowieso keine Rede sein können, da die Grabsteine – wie Bernhard Wachstein bereits festgestellt hatte – längst nicht mehr den tatsächlichen Grabstätten zuordenbar waren. Doch einige dieser Wiener Institutionen und WissenschaftlerInnen sollten in den darauffolgenden Jahren an genau solchen Schändungen am Währinger Friedhof beteiligt sein. Jedenfalls veranschaulicht dieses Geflecht von AkteurInnen das komplexe Zusammenspiel von Bewahrung und Vernichtung, das sich während der Shoah in Bezug auf jüdisches kulturelles Erbe bemerkbar machte: Hier sollten Grabsteine und Leichenreste zum Zweck rassistischer Wissenschaft bewahrt werden, während die jüdischen Friedhöfe als Kulturräume und Erinnerungsorte, wie die jüdische Bevölkerung selbst, restlos aus dem nunmehr „deutschen“ Stadtbild gelöscht werden sollten. Am 27. November 1941 bemühte sich das Institut für Denkmalpflege erneut in einem längeren Appell an den Reichsstatthalter um die Bewahrung dieses Friedhofs, „der durch alte Denksteine und schönen Baumbestand eine Sehenswürdigkeit bilde“ – abermals eine markante diskursive Kontinuität zur wissenschaftlichen sowie populären Rezeption des Friedhofs vergangener Jahrzehnte. Neben Berufung auf die bereits genannten historiographischen Quellen wurde dieser Einspruch weiter mit den folgenden, inzwischen bekannten Argumenten unterstützt: Der jüdische Friedhof in der Roßau ist als der älteste Friedhof Wiens für die Geschichte der Stadt von großer Bedeutung. Auch kunstgeschichtlich kommt ihm ein hervorragender Platz zu, da er durchwegs aus künstlerisch guten, zum großen Teil aber auch wertvollen Grabsteinen besteht. Im Zusammenhalt mit anderen alten jüdischen Friedhöfen, insbesondere dem berühmten Friedhof in Prag, gewinnt er überörtliche Bedeutung. […] Neben seiner stadtgeschichtlichen und kunstgeschichtlichen Bedeutung ist der Friedhof nicht zuletzt als ein mehrhundertjähriges Freilichtmuseum […] von besonderem Werte.
Die Denkmalschützer beriefen sich zudem auffälligerweise auf die Verträge zwischen der Wiener Judenheit und der Stadt Wien aus den Jahren 1670 und 1783, die die Bewahrung des jüdischen Friedhofs seit bereits 270 Jahren versichert hatten. Auch wurden die mittelalterlichen Grabsteine aufgezählt, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert aus verschiedenen Orten in und um Wien an den Friedhof gebracht und aufgestellt wurden – gerade dieses Faktum sollte aber in späteren Verhandlungen den Befürwortern der Vernichtung als Argument dienen.222 Jedenfalls wird hier augenscheinlich, mit welchem Engagement das Institut für Denkmalpflege die Bewahrung des Friedhofs anstrebte, und zwar 222 An den Reichsstatthalter in Wien als Planungsbehörde, 27. November 1941, ÖStA/AdR, Reichsstatthalter in Wien, Kt. 300.
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aufgrund einer ausgesprochen positiven Wertung der jüdischen Kultur- und Sepulkralgeschichte, die eine deutliche Kontinuität mit der herkömmlichen kulturhistorischen Auffassung dieses Friedhofs darstellte, und das zu genau der Zeit, als die zurückgebliebene Wiener jüdische Bevölkerung fast ausnahmslos in den Tod deportiert wurde. In einem internen Schreiben der Reichsstatthalterei wurden zwei Wochen später die Argumente der Wissenschaftler Lothar Loeffler, Karl Tuppa und Viktor Christian wieder aufgegriffen, „dass nicht nur die Auswertung der Schriftzeichen an den Grabsteinen unbedingt im Interesse der Forschung notwendig ist, sondern dass die Knochenreste in die Forschung miteinbezogen werden müssen“. Gerade die Grabsteine seien „deshalb so wertvoll, weil aus den Schriftzeichen auf bestimmte Rassen“ – gemeint waren hier spezifische familiäre Abstammungslinien – „geschlossen werden kann und weil diese Rassen in einige Generationen in jeder dieser Grabstätten entwicklungsmässig zu verfolgen sind“. Somit verfehlte die Reichsstatthalterei komplett die Absichten des Instituts für Denkmalpflege, dem es tatsächlich um die Erhaltungswürdigkeit des Friedhofs alleine aus kulturhistorischer sowie denkmalpflegerischer Sicht und nicht bloß aus „rassenkundlichem“ Interesse ging. Gleichzeitig schloss sich die Reichsstatthalterei aber der Sicht an, dass eine „Abweisung der Schulbehörde“, die eine sofortige und vollkommene Vernichtung des Friedhofs anstrebte, vonnöten war, um die „Belassung des Denkmalschutzes“ sichergestellt zu wissen, wobei aber ausdrücklich „nicht der Denkmalschutzgedanke das Primäre ist, sondern dass dieser Gedanke nur den Zweck hat, die Anlagen bis zu einer künftigen Auswertung zu sichern“.223 Am 3. Jänner 1942 gingen vom Institut für Denkmalpflege wieder neunzehn hochqualitative Photographien „aus dem als historisches Dokument erhaltenswerten jüdischen Friedhof “ bei der Reichsstatthalterei ein, um die Begehrtheit der Bewahrung des Friedhofs weiter zu untermauern – diese Photos sind übrigens den oben diskutierten historischen Aufnahmen des Friedhofs auffallend ähnlich.224 Am 15. Jänner 1942 – wenige Tage vor der Wannseekonferenz – fasste Andreas Tröster vom Generalreferat für Raumordnung die bisher erfolgte Diskussion für den Reichsstatthalter zusammen, allerdings mit einer offensichtlichen Neigung zur antisemitischen Argumentation der Wissenschaft, nach denen bestenfalls eine Bewahrung der materiellen Artefakte am Friedhof für die wissenschaftliche Verwertung infrage käme. So schrieb er, dass der Friedhof „ein für verschiedene wissenschaftliche Forschungen wertvolles Material enthält“. 223 An Herrn Regierungspräsidenten Dr. Dellbrügge, 8. Dezember 1941, ÖStA/AdR, Reichsstatthalter in Wien, Kt. 300. 224 An den Reichsstatthalter in Wien als Planungsbehörde, 3. Jänner 1942, ÖStA/AdR, Reichsstatthalter in Wien, Kt. 300.
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Das Generalreferat für Raumordnung unterstützte somit „zumindest eine sorgfältige Aufnahme des gesamten Materials“, bevor eine Auflassung des Friedhofs infrage käme. Die „wichtigsten Steine“ sollten an das Historische Museum der Stadt Wien (heute Wien Museum) gelangen, das „Skelettmaterial“ hingegen samt „Zuordnung zu den Inschriften“ sollte das Anthropologische Institut der Universität Wien erhalten. Die genaue Erfassung des Friedhofgeländes samt dem sich darauf und darin befindlichen „Material“ müsste allerdings warten, bis der Krieg (selbstverständlich siegreich) beendet war. Tröster vertrat die Ansicht, dass der Friedhof bis dahin unter Denkmalschutz verbleiben sollte. Hier kritisierte Tröster allerdings auch das Institut für Denkmalpflege und das Kulturamt der Stadt Wien, die geneigt waren, „an einem starren Belassen des Denkmalschutzes festzuhalten“. In dieser Hinsicht schloss Tröster sich den „weltanschaulich richtig[en]“ Ansichten der anderen Behörden an, „denn es geht nicht an, daß man jüdische Friedhöfe als besondere Denkmale bestaunen läßt, während man bei arischen Friedhöfen ohne viel Federlesens hinweggeht“ – ein Verweis auf die kategorische Auflassung der historischen nichtjüdischen Friedhöfe in Wien in den vergangenen Jahrzehnten. Eine eventuelle Bewahrung könne eben nur durch einen wissenschaftlichen Mehrwert gerechtfertigt werden, so schloss er, denn „[g]erade die genaue Durchforschung des Judentums vermag den Feind klar herauszustellen und positive Rückschlüsse auf das eigene Volkstum zuzulassen“.225 Hier sei an die Feststellung Dirk Rupnows erinnert, dass es in der NS-Wissenschaft eben nicht um eine restlose Vernichtung der jüdischen Kultur ging, sondern neben der restlosen Vernichtung jüdischer Menschen gleichzeitig um eine „Musealisierung“ des „Judentums“ als Feindbild „und daher als historisches Faktum“.226 Ein letztes Mal wandte sich am 5. März 1942 das Institut für Denkmalpflege an den Reichsstatthalter mit dem wiederholten Argument, dass der Friedhof „mit seinen alten Grabsteinen“, der zudem „mit dem alten Prager Judenfriedhof durchaus verglichen werden muss“, erhaltenswürdig sei.227 Schließlich wurde eine Besprechung am 10. April einberufen, in der Robert Körber vom Schulamt, Andreas Tröster vom Generalreferat für Raumordnung und Viktor Schneider vom Kulturamt – allesamt NS-Bürokraten der Wiener Stadtverwaltung – sich einigen sollten, wie mit dem jüdischen Friedhof in der Seegasse vorzugehen sei. Die Besprechung, die sich hauptsächlich um die Frage der Errichtung eines Schülerheims im ehemaligen jüdischen Altersheim inklusive der Auflassung des 225 An Herrn Regierungspräsident Dr. Dellbrügge, 15. Jänner 1942, ÖStA/AdR, Reichsstatthalter in Wien, Kt. 300. 226 Rupnow: Judenforschung im Dritten Reich, S. 19. 227 An den Reichsstatthalter in Wien, 5. März 1942, ÖStA/AdR, Reichsstatthalter in Wien, Kt. 300.
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alten Friedhofs zum Zwecke der Anlegung eines Spielplatzes drehte, wurde von Robert Körber dominiert, der – wie bereits von Elizabeth Anthony und Dirk Rupnow geschildert – ausfallend aggressiv und antisemitisch argumentierte.228 Interessant für den breiteren Zusammenhang der Rezeptionsgeschichte der Wiener jüdischen Friedhöfe war in dieser Besprechung vor allem die diskursive Argumentation, die erstaunliche Parallelitäten zu und zum Teil direkte Verweise auf die wissenschaftliche und denkmalpflegerische Rezeption dieses Friedhofs vergangener Generationen aufwies. Zu Beginn wiederholte Viktor Schneider die Ansicht seiner Dienststelle, „dass der jüd[ische] Friedhof wegen seiner ‚stimmungsvollen Lage‘ und seiner alten Steine unter Denkmalschutz gestellt werden müsste“ – das Konjunktiv und die Anführungszeichen deuten darauf, dass es sich hier um das verschriftlichte Sitzungsprotokoll handelt – und verwies wieder auf die historischen Verträge zwischen der Wiener Judenheit und der Stadtverwaltung bezüglich der Bewahrung des Friedhofs als rechtliches Argument. Andreas Tröster erwiderte aber, dass weder der Baumbestand, noch der Friedhof selbst als erhaltungswürdig bezeichnet werden könnte, dass die meisten Steine ohnehin nicht mehr am ursprünglichen Standort stehen, dass auch viele Steine von anderen Friedhöfen in die Seegasse zusammengetragen wurden und dass im übrigen die überwältigende Mehrzahl der Steine jüngeren Datums (17. und 18. Jahrhundert) sind.
Die Frage der Bewahrung drehte sich daher lediglich um die „vom wissenschaftlichen Standpunkt beachtlichen geschichtlichen Daten auf den Steinen sowie vom anthropologischen Standpunkt aus um die Auswertung etwaiger Skelettfunde“. Tröster hatte sich somit offensichtlich mit den zuvor vom Institut für Denkmalpflege kompilierten historiographischen Quellen zum Friedhof auseinandergesetzt, drehte jedoch die Fakten zugunsten seiner Argumentation vollständig um. So stellte der Bruchteil der aufgefundenen Steine aus dem mittelalterlichen Friedhof beim Kärntnertor, die an den Friedhofsmauern befestigt waren, plötzlich den Beweis dar, dass der Friedhof nicht einmal „authentisch“ sei. Die ältere, teils von jüdischen Historikern angefertigte Forschung zum Friedhof wurde hier also als Argument für dessen Auflassung instrumentalisiert. Ferner ist hier auch die Feststellung interessant, dass der Friedhof lediglich „jüngeren Datums (17. und 18. Jahrhundert)“ sei und somit angeblich nicht von großer „Historizität“ – ganz im Gegensatz zur realen Tatsache, dass der Friedhof in der Seegasse der älteste erhaltene Friedhof der Stadt Wien ist, geschweige denn zu den ältesten erhaltenen neuzeitlichen jüdischen Friedhöfen 228 Anthony/Rupnow: Wien IX, Seegasse 9, S. 8–9.
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Europas zählt. Hier zeigt sich die zutiefst subjektive Wahrnehmung der „Historizität“ einer historischen Stätte, gilt doch heute gerade die spärlich erhaltene Bausubstanz aus dem Barock zum wichtigsten denkmalpflegerischen Erbe der Stadt Wien. In seiner Wortmeldung schloss sich Robert Körber voll und ganz den Ansichten seines Kollegen Tröster an und fuhr fort, „dass es sich nach nationalsozialistischer Auffassung bei Juden um ein eingedrungenes, asiatisches und verbrecherisches Menschenmaterial handelt, dessen Grabstätten nicht“ – und hier spielte auch Körber explizit auf die historiographischen und kunsthistorischen Wertungen des Friedhofs vergangener Jahrzehnte an – „als stimmungsvolle Augenweide, sondern höchstens als Beleidigung des deutschen Auges zu betrachten sind“. Man beachte hier die in der Einleitung zu diesem Kapitel besprochene Entgegensetzung der „asiatischen“ und der „deutschen“ Kultur als stichhaltiges Argument in Bezug auf die Bewahrung bzw. Vernichtung von Kulturgut. Den „Grabstätten von Rabbinern, Talmudisten und Wucherern“ konnten Körber zufolge „im nationalsozialistischen Deutschland keine ‚Ehrwürdigkeit‘ zuerkannt werden“, und er verlangte zudem, dass sich die NS-Wissenschaft endgültig von Gedanken der „Humanitäts-Duselei und Gleichberechtigung aller Menschen“ befreie. In Anspielung auf den Werdegang der meisten christlichen Begräbnisstätten in Wien, die letztendlich im Zuge der Stadtentwicklung aufgelassen und vernichtet wurden, behauptete Körber, dass Friedhöfe, die von der Stadt eingeholt wurden, „jede Daseins- u. Erhaltungsberechtigung verloren“ hätten – ein Argument, wohlgemerkt zutiefst durch die christliche Sepulkralkultur konditioniert, dass die Stadt Wien bereits vor und weiterhin nach der NS-Zeit anführte, wenn es darum ging, alte jüdische Friedhöfe aufzulassen. „Es sollen die Lebenden nicht dauernd an die Toten erinnert sein“, fuhr Körber fort, bevor er sich zunehmend aggressiv und antisemitisch gegen die vorhergehenden rechtlichen Argumentationen des Instituts für Denkmalpflege richtete: „Das im allgemeinen mit Bestechungsgeldern erkaufte Vorrecht der Juden auf spezielle, unversehrte Erhaltung der jüd[ischen] Friedhöfe bei gleichzeitiger Niederlegung der christlichen Friedhöfe ist nicht nur unmoralisch, sondern auch politisch untragbar.“ Bei diesem Friedhof handle es sich dazu weder um einen in seinem ursprünglichen Zustand erhaltenen Friedhof noch um einen „malerischen Winkel“ Wiens […], sondern grösstenteils um einen von Zinshäusern verbauten ehemaligen Friedhofsplatz auf dessen Rasenfläche ein Garten entstanden ist, in einer kleinen Ecke auf engem Raum über 1000 Steine zusammengetragen wurden, die nunmehr wild verwachsen sind. Der unbeachtliche Baumbestand kann doch schwerlich als eine aus „Pietätsgefühl“ unter Denkmalschutz zu stellende „Sehenswürdigkeit Wiens“ bezeichnet werden. Die Raumnot in Wien und das nationalsozialistische Deutschland verbieten einfach den Luxus einer geschmacklosen Erhaltung eines „Freilichtmuseums“ für jüd[ische] Grabsteine, besonders dann, wenn der wertvolle Grund und Boden der
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von der Tuberkolose [sic] so arg heimgesuchten deutschen Jugend wieder nutzbar gemacht werden soll.
Wie Tröster zuvor manipulierte Körber hier die Historiographie des Friedhofs, um zu unterstellen, dass der Friedhof historisch nicht „authentisch“, ja gar nicht einmal wirklich ein echter „Friedhof “ sei, sondern lediglich ein „Garten“ (siehe oben), auf dem Grabsteine „zusammengetragen“ wurden, der zudem keinesfalls einen „malerischen“, sondern bloß einen „wild verwachsenen“ Eindruck machte – es sei hier wieder auf die oben zitierte Feststellung Andreas Wirschings verwiesen, dass die von den NationalsozialistInnen verursachte Verwilderung jüdischer Friedhöfe schließlich als Argument für ihre vollständige Vernichtung herhalten sollte.229 Auch in Leipzig rechtfertigte zum Beispiel der Oberbürgermeister die dortigen Schändungsaktionen im jüdischen Friedhofsareal mit dessen „Verwilderung“.230 Dieser diskursiven Argumentation wurde die stadtplanerische „Nützlichkeit“ einer Umnutzung der innerstädtischen Grundstücke entgegengestellt, ein Argumentationsmuster, das in der Nachkriegszeit weiter tradiert werden sollte. Zur Frage der bestehenden Verträge mit der Stadt Wien bezüglich Erhaltung des Friedhofs stellte Körber lediglich fest – nun fast drei Monate nach der Wannseekonferenz –, dass jegliche Rechtsansprüche der Judenheit „null und nichtig“ geworden seien, und griff zudem überhaupt die Grundlage dieser Thematik an: Nach dieser seltsamen Rechtsauffassung müsste ja folgerichtigerweise der nationalsozialistische Staat die aus Wien mühselig ausgeschafften Juden wieder zurückholen und ihnen die seinerzeitig verliehenen und ebenfalls bezahlten „Bürgerrechte“ und Grundbesitz und Vermögensrechte wieder zurückgeben. Wäre der jüd[ische] Friedhof als Begräbnisstätte jüd[ischer] Rabbiner und Talmudisten unter Denkmalschutz zu stellen, dann müssten auch die bereits abgeschafften Denkmäler von [Joseph von] Sonnenfels, [Josef] Unger, [Julius] Glaser, [Julius] Ofner, [Eduard] Hanslick u.s.w. aus falschverstandener Pietät wieder aufgerichtet werden.
Hierbei verwies Körber auf verschiedene Denkmäler von „jüdischen“ (wenigstens den Nürnberger Gesetzen zufolge) Wissenschaftlern, die unter anderem im Arkadenhof der Universität Wien ausgestellt waren und nach dem „Anschluß“ entfernt wurden. Der Friedhof, so schloss Körber, konnte nicht als Sehenswürdigkeit, sondern bloß „als öffentliches Ärgernis und Schandfleck Wiens“ 229 Vgl. Wirsching: Jüdische Friedhöfe in Deutschland, S. 20. 230 Vgl. Franke, Nils: Die Verdrängung jüdischen Lebens im öffentlichen Raum nach 1933. Schrebergärten und Friedhöfe in Leipzig, in: Fischer, Hubertus/Wolschke-Bulmahn, Joachim (Hg.): Gärten und Parks im Leben der jüdischen Bevölkerung nach 1933, München 2008, S. 436.
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bezeichnet werden. Es konnte somit nur gelten, dieses Grundstück „von der Gemeindeverwaltung zu erwerben und nach Wegschaffung der Juden für Zwecke eines Schülerheims zu verwenden“. Offensichtlich geschlagen, bat Viktor Schneider nur noch, dass der Friedhof wenigstens vorerst durch eine „Umzäunung“ geschützt werde. Tröster und Körber gaben sich beide einverstanden, „in jeder Weise dafür Sorge zu tragen, dass die in den jüdischen Grabsteinen und Skeletten etwa liegenden wissenschaftlichen Werte der künftigen Erforschung erhalten bleiben“ sollten.231 Im Archiv der Kultusgemeinde befindet sich ein Exemplar des 1935 herausgegebenen, oben zitierten Führers durch den Friedhof in der Seegasse von Ignaz Hermann Körner. Der Plan des Friedhofs samt den sich darauf befindlichen Grabsteinen in diesem Exemplar, dessen Provenienz nicht angegeben ist, ist mit handschriftlichen Notizen übersät. Von den durchnummerierten Gräbern sind 26 mit folgender Bemerkung versehen: „Zur Enterdigung bestimmte Gräber: (Steine mitzubringen!)“.232 Man kann nur spekulieren, von wem diese Notizen stammen, doch liegt es auf der Hand, dass sie im Zuge der Diskussion zur Enteignung und anthropologischen Auswertung der Grabstätten in den Jahren 1941/42 entstanden. Infolge der Besprechung am 10. April beschwerte sich die Gestapo schließlich im August 1942 bei Ernst Kaltenbrunner, dem späteren Chef des Reichssicherheitshauptamtes in Berlin, der zu dieser Zeit noch unter anderem SSPolizeiführer in Wien war, dass die Enteignung des jüdischen Altersheims, das eigentlich zuvor bereits von der Waffen-SS beschlagnahmt worden war, „derzeit vom judenpolitischen Standpunkt aus nicht vertretbar“ sei, da die Stadtverwaltung eine sofortige Räumung und Übernahme, bezw. Übergabe vorsieht. Es besteht aber keine Möglichkeit, die dort untergebrachten alten und kranken Juden anderweitig unterzubringen, da der größte Teil des Liegenschaftsbesitzes der Israelitischen Kultusgemeinde bereits verkauft wurde und teilweise auch an die Gemeindeverwaltung des Reichsgaues Wien.233
Kaltenbrunner intervenierte in den laufenden Diskussion, indem er darauf verwies, dass „das Objekt Seegasse 9 und 11 als jüdisches Altersheim für jene Juden unentbehrlich“ sei, „die aus verschiedenen Gründen nicht evakuiert [sprich: deportiert] werden“ konnten, „dies umso mehr, als nach dem Verkauf 231 Amts-Erinnerung, 10. April 1942, ÖStA/AdR, Reichsstatthalter in Wien, Kt. 300. 232 Körner: Führer durch den alten Judenfriedhof, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 9, Seegasse 9–11/9/4. 233 An den Höheren SS- und Polizeiführer, SS Gruppenführer und Generalleutnant d. Polizei Dr. Kaltenbrunner, o. D. [August 1942], DÖW, 12.775.
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des Spitales der israelitischen Kultusgemeinde jede andere Möglichkeit zur Unterbringung dieser Juden“ entfallen würde. „Diesen Standpunkt“, so fuhr er fort, „hat die SS-Standortkommandantur Wien auch voll gewürdigt und ihrerseits erklärt, vor Endlösung der Judenevakuierung aus Wien, die Räumung des Altersheimes nicht zu verlangen.“ Er bemerkte zudem, dass die Liegenschaft, die nun offiziell der Waffen-SS gehörte und somit der Entscheidungshoheit des Reichsführer-SS Heinrich Himmler und nicht der Wiener Stadtverwaltung unterstand.234 Am 17. November 1942 gab das städtische Schulamt zu Protokoll, dass das Haus in der Seegasse 9 zufolge einer Mitteilung des Reichsführers-SS durch das Reichsfinanzministerium der Waffen-SS eingewiesen und von ihr auch erworben wurde, sodass die Angelegenheit bezüglich der Errichtung eines Schülerheimes in diesem Gebäude als enderledigt betrachtet werden kann.235
Wurde die „Arisierung“ dieses jahrhundertealten jüdischen Friedhofs im Herzen der alten Roßau somit schließlich von Berlin aus betrieben, so zeigt diese Affäre doch eindeutig die raumpolitische Initiative – sowie den antisemitischen Eifer – mit der verschiedene Wiener Behörden die Schändung, Verwertung und Vernichtung jüdischer Erinnerungsorte in der Stadt voranzutreiben suchten. Solche Initiativen sollten bezeichnenderweise auch von Nachkriegsverwaltungen der Stadt Wien fortgesetzt werden. Fand die anthropologische Verwertung von jüdischen Grabsteinen und Leichen in der Seegasse letztendlich nicht statt, so sollten genau diese Pläne von genau den gleichen AkteurInnen im Jahr darauf im jüngeren Friedhof in Währing verwirklicht werden. Wahrlich bemerkenswert ist an dieser Geschichte schließlich die Rolle des Instituts für Denkmalpflege, insbesondere in der Person Viktor Schneiders, dessen Engagement negative Konsequenzen nach sich ziehen sollte, wie gleich noch gezeigt wird. Diese Geschichte zeigt beachtenswerte Kontinuitäten von der Zeit vor bis zur Zeit nach der NS-Herrschaft auf, sowohl in der antisemitischen Raum- und Kulturpolitik seitens verschiedener Wiener Behörden und wissenschaftlicher Institutionen wie auch in den fortwährenden, wohlwollenden Auseinandersetzungen mit jüdischem Kulturerbe, selbst während der Shoah, seitens einzelner Individuen und Institutionen. Daran zeigt sich auch die Komplexität der NS-Kulturpolitik gegenüber dem jüdischen Erbe Europas sowie nicht zuletzt das antisemitische Gedankengut, beispielsweise
234 An die Gemeindeverwaltung des Reichsgaues Wien z.H. des Beigeordneten für Jugendpflege, Sport und Schulwesen, o. D. [August 1942], DÖW, 12.775. 235 Hauptabteilung Schulwesen, 17. November 1942, WStLA, A3 (1. Reihe) – Transaktionen: Schachtel 148: Tr9 betreffend Jüdischen Friedhof in Wien 9, Seegasse 9, Alsergrund, E2 894.
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in der Wissenschaft und der Stadtplanung, das sich bei Weitem nicht auf die NS-Zeit begrenzen lässt. Am 25. Mai 1942 wurden die letzten BewohnerInnen des jüdischen Altersheims in der Seegasse aus Wien deportiert, von denen die meisten in das Konzentrationslager Theresienstadt gelangten. Nur wenige überlebten die Shoah.236 Einem Bericht Ernst Feldsbergs aus der Nachkriegszeit zufolge wurden dann die Grabsteine im Friedhof „vernichtet“, und „die Trümmer wurden auf dem Zentralfriedhof 4. Tor abgelagert. Die Gräber wurden dem Erdboden gleichgemacht.“237 Dies stimmte, wie wir heute wissen, nicht ganz. Am 6. Mai 1943 bat Josef Löwenherz – der inzwischen als „Judenältester“ fungierte – die Gestapo um Erlaubnis, die Grabsteine aus der Seegasse an einen sicheren Ort abzutransportieren, was die Gestapo genehmigte.238 Ein erheblicher Teil der Grabsteine – es bleibt allerdings unklar, genau wie viele, vermutlich zwischen einem Viertel und einem Drittel – wurde zwischen dem 10. Mai und den 24. August 1943 von einer kleinen Gruppe Jüdinnen und Juden per Hand aus dem Friedhof getragen und per Auto zum Friedhof beim IV. Tor transportiert, wo sie zum Schutz ihrer Inschriften vor Verwitterung auf einer freien Fläche an der nordwestlichen Seite des Friedhofs vergraben wurden.239 Der genaue Vorgang bleibt bis heute unbekannt, der große Rest der Grabsteine gilt als verschollen. Erst in den letzten Jahren wurden aber noch einige massive Barocksteine im Erdreich des Friedhofsareals in der Seegasse aufgefunden. Jedenfalls bildet dieser im Vergleich zum gewaltigen Makrokosmos der Shoah fast nebensächlicher Vorgang eine beeindruckende Episode in der Geschichte der Wiener Judenheit unter dem Nationalsozialismus: Dass die letzten Mitglieder dieser mörderisch verfolgten, zu diesem Zeitpunkt schon fast gänzlich zerbrochenen Gemeinschaft als letzten Akt der Pietät eine nicht unbeträchtliche Anzahl von schweren, alten Grabsteinen in Sicherheit brachte, unterstreicht unverkennbar den emotionalen Wert der „Grabstätten der Väter“, dieser letzten Orte der Verwurzelung im Boden der „Vaterstadt“ Wien. Ein sehr ähnliches Schicksal teilte der alte jüdische Friedhof in der Großen Hamburger Straße in Berlin, der ursprünglich durch die im späten 17. Jahrhundert aus Wien Vertriebenen gewissermaßen als Nachfolger des Friedhofs in der Seegasse errichtet wurde. Auch dieser Bestattungsraum wurde in der 236 Vgl. Anthony/Rupnow: Wien IX, Seegasse 9, S. 10 sowie Hecht/Lappin-Eppel/RaggamBlesch: Topographie der Shoah, S. 254. 237 Aktennotiz, 4. Juni 1954, AIKGW, nicht katalogisierter Bestand. 238 An die Friedhofsverwaltung, 6. Mai 1945, LBI, Joseph Loewenherz Collection, Box 1, Folder 4, AR25055. 239 Vgl. An das Friedhofamt der Israelitischen Kultusgemeinde, 10. August 1951 sowie die Antwort hierauf, o. T., o. D., AIKGW, A/VIE/IKG/III/FH/1/2. Vgl. auch Veran: Das steinerne Archiv, S. 153.
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zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausgiebig dokumentiert. Hier befand sich auch ein jüdisches Altersheim, das während der Shoah von der Gestapo als Sammellager zur Deportation verwendet wurde, und auch hier wurden schließlich die Grabsteine entfernt und das Areal als „Sportplatz“ zweckentfremdet. Die Parallelen ziehen sich bis in die Nachkriegszeit weiter: So wurde das Areal des Berliner Friedhofs in den späten 1940er-Jahren an die sich im Wiederaufbau befindliche jüdische Gemeinde restituiert, doch konnte der Großteil der Grabsteine nicht mehr ausfindig gemacht werden. Bis heute bleibt das Gelände größtenteils grabsteinentleert als Erinnerungsort in der Stadttopographie – womit aber die Parallelen aufhören, denn der Friedhof in der Seegasse wird seit den 1980er-Jahren phasenweise restauriert.240 Eine unmittelbare und zutiefst kuriose Nachgeschichte der NS-Schändung dieses Friedhofs betrifft Viktor Schneider, den NS-Funktionär am Institut für Denkmalpflege, der sich zum Zweck der Bewahrung dieser Kulturstätte hartnäckig gegen seine Kollegen in der Stadtverwaltung gestellt hatte. Nach dem oben geschilderten Treffen im April 1942 beschwerte sich das Schulwesen bei Schneiders Vorgesetzten über seinen „ebenso unbegründeten, wie politisch untragbaren“ Einsatz für die Erhaltung des Friedhofs, der hier wieder demonstrativ als „ehemalige Begräbnisstätte von Rabbinern und Wucherern“ bezeichnet wurde. Schneiders Argumente stünden „mit nationalsozialistischer Auffassung derart in Widerspruch“, dass sich das Schulwesen „verpflichtet“ sah, auch den Reichsstatthalter, Baldur von Schirach, in das Verfahren einzuschalten. Der Brief wiederholte den Standpunkt, dass der Friedhof zwar „wissenschaftlich und anthropologisch“ von Interesse sein dürfte. „Niemals aber darf ein Nationalsozialist“, so lautete der Kern der Beschwerde gegen Schneider, den Grabstätten des als Verbrecherelement erkannten jüdischen Menschenmaterials in einem deutschen Lande einen „pietätvollen Denkmalschutz“ einräumen, besonders wenn sich diese Begräbnisstätte der in Wien einst durch Bestechung und Schliche eingedrungenen asiatischen Fremdlinge mitten im Weichbild der Perle Groszdeutschlands [ein Hinweis auf Hitlers Charakterisierung der Stadt Wien während dem „Anschluß“] befindet und daher nach n[ational]s[ozialistischer] Auffassung nur als ein öffentliches Ärgernis bezeichnet werden kann […]. Diese von hohen Zinshäusern umgebene, weder ursprüngliche, noch gepflegte, sondern in Wirklichkeit verwahrloste und zur Wildnis verwachsene Stätte angehäufter und zusammengetragener Grabsteine kann höchstens von Juden in ihrer aufdringlichen, sentimentalen Verherrlichung alles Jüdischen als eine kulturelle und wissenschaftliche Augenweide oder gar als malerischer Winkel bezeichnet werden. Für mich als N[ationalsozialist] erscheint es besonders in dem Augenblick ein Gebot der Zeit, einen jüdischen Friedhof in der inneren Stadt Wiens zu entfernen, in der das deutsche Volk im schicksalhaften Daseinskampf gegen das verbrecherische Weltjudentum steht und in der die seinerzeit mit Geld erkauften Vorrechte für jüdische 240 Vgl. Hüttenmeister/Müller: Umstrittene Räume, S. 16, 18, 68, 71.
Das Schicksal des Friedhofs in der Seegasse während der Shoah
Friedhofserhaltung als Schandfleck für eine deutsche Stadt bezeichnet werden müssen, dessen Entfernung so rasch als möglich durchzuführen ist.
Durch solche „Auffassungen“ sei „nur das Ansehen der Gemeindeverwaltung arg [ge]schädigt, besonders wenn man solche Stellungnahmen höchsten Reichsstellen als Meinung der Stadtverwaltung vorgetragen werden“ – gemeint war hier das Reichssicherheitshauptamt. Der Brief endete mit einem Aufruf, entsprechende, aber hier nicht weiter ausgeführte Maßnahmen gegen Schneider zu treffen, sowie die Mahnung, dass „die eheste Auflassung des jüdischen Friedhofs eine politische Notwendigkeit sei“.241 Dieser Brief veranschaulicht wieder einmal das Geflecht von lokalen (österreichischen) und fremden (deutschen) Behörden in der Enteignung und Vernichtung jüdischen Kulturguts in Wien sowie darüber hinaus einen weiteren Präzedenzfall für die Nachkriegsverwaltung, hier in Form des Verweises auf „das Ansehen der Gemeindeverwaltung“ – eine Argumentation, die wiederholt in den österreichischen Nachkriegsdiskursen zu den geschändeten jüdischen Friedhöfen zum Ausdruck kommen sollte. Diese lange antisemitische Tirade wird nicht zuletzt deshalb hier zitiert, um die Auffassung zu beleuchten, dass nur „Juden“, mit ihrer „aufdringlichen, sentimentalen Verherrlichung alles Jüdischen“ an jüdischen Kulturstätten etwas ästhetisch oder kulturhistorisch Wertvolles empfinden könnten, sowie insgesamt die durchgehende, diskursiv vollzogene Trennung zwischen dem „Jüdischen“ und dem „Nichtjüdischen“ in der hier als „deutsch“ aufgefassten österreichischen Kultur. Diese Auffassungen stehen in krassem Gegensatz zu der weitläufigen künstlerischen und historischen Wertschätzung des Friedhofs in der Seegasse seitens inländischer und ausländischer Nichtjüdinnen und -juden vor und sogar während der Shoah und sollten sich in den Jahrzehnten nach der Shoah wieder als komplett haltlos herausstellen, da sich inzwischen eine breite nichtjüdische Öffentlichkeit für diesen Friedhof, wie für andere jüdische Friedhöfe auch, interessiert zeigt. Nicht zuletzt verdeutlicht das Zitat die Konstruiertheit und Dehnbarkeit kultureller Kategorien wie „Jüdischkeit“, „Deutschtum“ und „Österreichertum“, die in solchen Diskussionen wie bei der Bewahrung historischer Erinnerungsorte oft weniger ontologische Realitäten als ideologische Anforderungen verkörpern. Nach Kriegsende, im Frühjahr 1946, wurde Viktor Schneider, der zu dieser Zeit als städtischer wissenschaftlicher Oberrat fungierte, infolge einer dienstlichen Auseinandersetzung vom Personalamt wegen seiner Tätigkeit in der NS-Zeit offiziell untersucht. Das Personalamt vermerkte vorweg, dass Schneider bereits von 1931 bis 1933 Mitglied der NSDAP war und im Juli 1938, wenige 241 An Herrn Stadtrat Ing. Blaschke, 21. April 1942, WStLA, M. Abt. 202, A5 – Personalakten 1. Reihe: Dr. Viktor Schneider.
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Monate nach dem „Anschluß“, einen Antrag auf Erneuerung seiner Mitgliedschaft gestellt hatte. Dieser wurde noch im Juni 1942 abgelehnt. Seit April 1941 befand er sich im Dienst der Stadt Wien, eben im Institut für Denkmalpflege. Dem Bericht zufolge bezeichneten ihn seine Kollegen als ausgesprochene[n] Eigenbrötler, der in direkt fanatischem Eifer für die Belange seines Ressorts (Denkmalpflege und Denkmalschutz) eintritt. Unter dem Nationalsozialismus hatte er wiederholt dienstliche Schwierigkeiten, da er im Interesse des Denkmalschutzes in freimütigster Weise für die Erhaltung von jüdischen Friedhöfen aufgetreten war und [es] wurde gegen ihn deswegen am 30.9.1941 die Dienststrafe des Verweises ausgesprochen.242
Schneider selbst gab zu Protokoll, er hätte nur mit Nationalsozialisten in seinem Ressort zusammengearbeitet, da ansonsten „ebensolche Kulturgüter gefährdet“ gewesen wären. Sein Engagement beschrieb er hier bezeichnend als „Hilfe zur Rettung österreichischen Kulturgutes“ – also nicht jüdisches, sondern österreichisches kulturelles Erbe. Zur Ablehnung des Erneuerungsantrags seiner Mitgliedschaft bei der NSDAP bemerkte Schneider, dass er „eine Menge schwarzer Punkte“ hatte, womit er vermutlich eben seine Bestrebungen zur Bewahrung jüdischen Kulturguts meinte. Schneider behauptete, dokumentarisch belegen zu können, dass er ab 1941 zunehmend in Ungnade gefallen sei aufgrund seiner Hingabe zu den „nach meiner Überzeugung als Kulturdenkmale anzusprechenden beiden jüdischen Friedhöfe in Döbling-Währing und in der Seegasse“, was auch zu wiederholten Denunzierungen geführt hätte. „Wie sehr ich mich für die Rettung der jüdischen Friedhöfe, natürlich erfolglos, da mir niemand half, eingesetzt habe, kann übrigens Herr Dr. Ernst Feldsberg der jüdischen [sic, richtig: Israelitischen] Kultusgemeinde bezeugen, der mich sogar zu grösserer Vorsicht mahnte.“ Da er „den feigen Missbrauch der Macht gegen wehrlose Menschen verachtete“, erklärten sich seine Bestrebungen, „den sonst von mir durchaus nicht geschätzten Juden zu helfen“. Seine Bemühungen gingen aber schließlich, so betonte er, alleine von der Motivation aus, „grosse kulturelle und damit auch materielle Werte zu retten“, egal, ob diese jüdisch waren oder nicht, und egal, ob deren Rettung nun in Kollaboration mit NationalsozialistInnen erfolgte oder nicht. Schneider schloss mit einer Bekräftigung seiner Hingabe zu „Wiener Kulturwerte[n]“, jetzt auch in der Nachkriegszeit, wobei er implizit die Rettung der jüdischen Friedhöfe mit einschloss.243 242 An den Herrn amtsführenden Stadtrat der Verwaltungsgruppe I, 27. Mai 1946, WStLA, M. Abt. 202, A5 – Personalakten 1. Reihe: Dr. Viktor Schneider. 243 An das Personalamt der Stadt Wien, 4. März 1946, WStLA, M. Abt. 202, A5 – Personalakten 1. Reihe: Dr. Viktor Schneider.
Das Schicksal des Friedhofs in der Seegasse während der Shoah
Schneiders Fall ist wahrlich kurios: Hätte es ihm, einem relativ überzeugten Nationalsozialisten, wie er in seiner ausführlichen Stellungnahme selbst angab, unter der NS-Herrschaft beruflich nicht geschadet, eine antisemitische Kulturpolitik zu befolgen, so tat er das Gegenteil, und hätte es ihm in der Nachkriegszeit nicht geschadet, seine Hingabe für die „wehrlosen Menschen“ zu betonen, so betonte er stattdessen, dass er diese jüdische Menschen „durchaus nicht geschätzt“ hatte. Zusammenfassend scheint Schneider tatsächlich nur von einer gefühlten Mission der Rettung von Kulturgut angetrieben worden zu sein – auch jüdisches Kulturgut, das in seinen Augen zugleich Wiener und österreichisches Kulturgut war. Tatsächlich „interveniert[e]“ Ernst Feldsberg in diesem Fall zugunsten Schneiders bei der Stadtverwaltung, die sodann das Disziplinarverfahren einstellte.244 Im Oktober 1946 wurde Schneider zudem vom Wiener Volksgericht im Sinne des Verbotsgesetz §11 (über die Einstellung führender NS-Funktionäre) für unschuldig erklärt.245 Schneider sollte sich auch in der unmittelbaren Nachkriegszeit um die Instandsetzung der geschändeten jüdischen Friedhöfe tatkräftig einsetzen, wie hier in Kapitel 10 weiter besprochen wird. Jedenfalls erwies sich die Denkmalschutzbehörde – erst als k.k. Zentral-Kommission, zwischendurch als Institut für Denkmalpflege und später als Bundesdenkmalamt – über Jahrzehnte hindurch und sogar während der Shoah stets erstaunlich standhaft in ihrer Wertschätzung dieses jüdischen Erinnerungsortes. An diesem Beispiel wird ersichtlich, wie sehr die Geschehnisse während der NS-Zeit im Kontext längerfristiger wissenschaftlicher und stadtplanerischer Entwicklungen verstanden werden müssen – zumal dies keine grundsätzlich von Deutschland ausgehende, sondern eine eindeutige Wiener G’schicht darstellte. Abschließend soll kurz auf die anderen beiden Hauptakteure dieser bemerkenswerten Wiener G’schicht – Robert Körber und Andreas Tröster – eingegangen werden. Deren Spur verliert sich aber auffälligerweise schon bald. Vom 1896 geborenen Robert Körber fehlen die Entnazifizierungsakten im Wiener Stadt- und Landesarchiv.246 Der Entnazifizierungsordner zum 1900 geborenen Andreas Tröster wiederum enthält die falschen Akten, nämlich die eines Hugo Kreuter.247 Fehlende bzw. deplatzierte Akten aus der NS-Zeit sind in den Nachkriegsarchiven Österreichs wohlgemerkt keine Seltenheit. Andreas Tröster war laut einem unveröffentlichten Forschungsbericht zur Wiener Stadtplanung 244 An den Herrn amtsführenden Stadtrat der Verwaltungsgruppe I, 27. Mai 1946, WStLA, M. Abt. 202, A5 – Personalakten 1. Reihe: Dr. Viktor Schneider. 245 Vgl. die Gerichtsakten in WStLA, Volksgericht, A1 – Vg Vr-Strafakten: 2250/45 (Viktor Schneider, geb. 12.11.1891). 246 Wie mir am 5. Februar 2015 vom ÖstA/AdR mitgeteilt wurde. 247 WStLA, Volksgericht, A1 – Vg Vr-Strafakten: 2282/49 (Andreas Tröster, geb. 13.8.1900).
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jedenfalls seit 1932 schon Mitglied der NSDAP und ein überzeugter Antisemit, was sich durchgehend in seinen Visionen für die Wiener Stadtplanung zeigte.248 Wäre es nach seinesgleichen gegangen, wäre wohl das gesamte ohnehin stark in Mitleidenschaft gezogene jüdische Kulturerbe aus den Stadtlandschaften des „Dritten Reichs“ restlos verschwunden. Auch Robert Körber hatte eine lange Vorgeschichte im antisemitischen und nationalsozialistischen Milieu in Wien und gilt als ein Hauptagitator für die Verbreitung der NS-Ideologie an der Universität Wien in der Zwischenkriegszeit. Dort promovierte Körber 1927, trat später der SS bei und zeichnete sich unter der NS-Herrschaft als proaktiver Denunziant von „Juden und Regimegegnern“ aus.249 Sein Werdegang nach Kriegsende ist schwer zu rekonstruieren, doch forderte er 1977 die damals gängige feierliche Erneuerung seines Doktorats anlässlich dessen 50. Jubiläums mit der Begründung, er sei in den 1920er-Jahren maßgeblich an der Errichtung des bis heute umstrittenen Siegfriedskopfdenkmals in der Aula des Hauptgebäudes der Universität beteiligt gewesen – womit er sich weiterhin ausdrücklich zu seinen rechtsextremen Überzeugungen bekannte. Interessant ist dabei die interne Korrespondenz zwischen Vertretern des Universitätsarchivs und des Dekanats, in der einerseits seine Beteiligung an der Errichtung des Denkmals abgestritten und zugleich negativ auf seine NS-Vergangenheit verwiesen wurde. Das Dekanat beschwichtigte ihn schließlich in seinem Antwortschreiben mit der Behauptung, „daß nach dem jetzt in Geltung stehenden Universitätsorganisationsgesetz feierliche Erneuerungen des Doktorates nur in Ausnahmefällen möglich sind“.250 Mussten ehemalige NationalsozialistInnen wie Tröster und Körber nach Kriegsende meist gar nicht für ihre Taten büßen, so scheint sich die Universität Wien in den 1970er-Jahren – wohlgemerkt noch zu einem für die Geschichte der österreichischen Vergangenheitsbewältigung frühen Zeitpunkt – doch wenigstens von ihnen distanziert zu haben. 248 Vgl. Mattl, Siegfried/Pirhofer, Gottfried: „Gross-Raum Wien“. Stadt- und Regionalplanung als Element Imperialer NS-Politik, unveröffentlichter Forschungsbericht, Wien 2010, S. 248, 138. Ich danke den Autoren, die mir diesen Bericht zur Verfügung stellten und mir erlaubten, daraus zu zitieren. 249 Vgl. Neugebauer, Wolfgang: Die Wiener Gesellschaft für Rassenpflege und die Universität Wien, in: Gabriel, Heinz Eberhard/Neugebauer, Wolfgang (Hg.): Vorreiter der Vernichtung? Eugenik, Rassenhygiene und Euthanasie in der österreichischen Diskussion vor 1938, Wien 2005, S. 57–58 und Timms, Edward: Antisemitism in the Universities and Student Fraternities. The „Numerus Clausus“ Controversy, in: Timms, Edward/Hammel, Andrea (Hg.): The German-Jewish Dilemma. From the Enlightenment to the Shoah, Lewiston 1999, S. 148. Ich danke auch Katharina Kniefacz für in diesem Zusammenhang wichtige Hinweise. 250 An das Dekanat der rechtswissenschaftlichen Fakultät, 6. Dezember 1977 und An Herrn Dr. Robert Körber, 14. Dezember 1977, Archiv der Universität Wien (AUW), J Cur 256/8 GZ 2831.
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Das Schicksal des Friedhofs in Währing während der Shoah
Die Wiener jüdischen Friedhöfe gerieten, wie bereits im Fall des Friedhofs in der Seegasse gezeigt, nicht nur seitens der NS-Behörden in Bezug auf „Arisierung“ und Auflassung ins Visier. Wie andere kulturelle Einrichtungen der Wiener Judenheit wurden sie auch zur Zielscheibe verschiedener wissenschaftlicher und musealer Institutionen. Die Intention, „das Judentum“ als imaginiertes Kollektiv anthropologisch verwissenschaftlicht zur Schau zu stellen, hatte es zudem schon vor der NS-Machtübernahme gegeben, wie der Kulturwissenschaftler Bernhard Purin zeigte. So hatte das Naturhistorische Museum bereits 1937 beklagt, dass „unsere gesamte Judenschaft, die sonst so aufdringlich ist“, in ihren Ausstellungen „vollkommen“ abwesend war. Die „Berichtigung“ dieses antisemitischen Forschungsimpulses setzte rasch nach dem „Anschluß“ ein: So wurden 1939 die Bestände des Naturhistorischen Museums unter anderem mit polizeilichen Aufnahmen von jüdischen Inhaftierten erweitert, aufgrund derer im Mai 1939 das Museum eine rassistische Ausstellung unter dem Titel „Die körperlichen und seelischen Eigenschaften der Juden“ eröffnete, in der gezeigt werden sollte, worin sich „das Judentum“ von „der deutschen Bevölkerung“ unterschied. 1939 wurde dann auch der gesamte Bestand des Wiener Jüdischen Museums an das Völkerkundemuseum, den Vorgänger des heutigen Weltmuseums, übergeben.251 Danach wurde das Jüdische Museum aufgelöst. Wenngleich einiges später restituiert werden konnte, gilt der Großteil der Sammlung seit 1945 als verschollen.252 Das Naturhistorische Museum sollte schließlich auch eine führende Rolle in der Schändung des Währinger jüdischen Friedhofs spielen. Die Geschichte des Währinger Friedhofs während des Nationalsozialismus wurde bereits ausgiebig unter anderen von Tina Walzer erforscht, wobei einer der für uns in diesem Zusammenhang interessantesten Befunde die Kontinuität ist, die Walzer in Bezug auf die städtische Raumpolitik vor und nach der NS-Zeit aufwies, insbesondere die wiederholten Versuche seitens der Wiener Stadtverwaltung, den jüdischen Friedhof aufzulassen und das Areal umzuwidmen. Ihr zufolge blieb der Friedhof unter der NS-Herrschaft anfangs relativ verschont, auch von den „wilden Aktionen“ seitens der Wiener Zivilbevölkerung.253 Danach bestanden die ärgsten Schändungen im Wesentlichen 1941 aus der Ausgrabung des südöstlichen Teils des Friedhofs zum Bau eines städtischen 251 Alle Zitate in der Reihenfolge ihrer Nennung: Purin, Bernhard (Hg.): Beschlagnahmt. Die Sammlung des Wiener Jüdischen Museums nach 1938, Wien 1995, S. 9–13, 18. 252 Kolb: The Vienna Jewish Museum, S. 150. Vgl. auch Berger: The Jewish Museum, S. 97. 253 Walzer: Der jüdische Friedhof Währing in Wien, hier besonders S. 57. Walzer stützte sich in diesem Werk wiederum auf die wichtige Vorarbeit von Keil: „… enterdigt aus dem jüdischen Friedhof “.
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Luftschutzbunkers (der allerdings nie fertig gestellt wurde) sowie 1942/43 aus mehreren hundert Exhumierungen von Leichen zur anthropologischen Verwertung, eben die Realisierung des oben erläuterten, aber schließlich gescheiterten Plans am Friedhof in der Seegasse.254 Im Folgenden werden diese Schändungen mit einem besonderen Augenmerk auf die Dynamik der kulturhistorischen Wertung, selektiven Bewahrung bzw. Vernichtung des jüdischen kulturellen Erbes an diesem historischen Friedhofs resümiert. Wie im Falle des Friedhofs in der Seegasse wird hier die Verflechtung von lokalen AkteurInnen in diesen Schändungen dargelegt und die erstaunlichen Kontinuitäten in der stadttopographischen Behandlung dieses Bestattungsraumes vor und nach der Shoah herausgearbeitet. Am 6. Juni 1941 trafen sich Vertreter der Kultusgemeinde und der Abteilung IV/14 (Umbau von Althäusern, Luftschutzanlagen, Bauförderung) der Stadtverwaltung sowie der Währinger Bezirkshauptmannschaft, des Bezirksgesundheitsamtes und der Städtischen Friedhofsverwaltung für eine „Augenscheinverhandlung“ am Währinger Friedhof.255 Besprochen wurde die Beschlagnahmung durch die Stadt Wien von etwa 2.500 Quadratmeter des südöstlichen Teils, ungefähr einem Sechstel des Friedhofsareals, die im folgenden Monat erfolgen sollte. Beabsichtigt war, wie erwähnt, der Bau eines Luftschutzbunkers.256 Die „bevorstehende Exhumierung“, also die Aushebung dieses Friedhofteils, sollte „im jüdischen Nachrichtenblatt vom 10.6.1941“ angekündigt werden „und nach Setzung einer 10 tägigen Frist [sollten] die Nachkommen der Bestatteten“ aufgefordert werden, „zu erklären, ob sie die Einzelexhumierung [von Angehörigen] und Versetzung der Grabsteine auf eigene Kosten durchführen“ wollten. Die Abteilung IV/14 erklärte sich lediglich bereit, für die Kosten des Transportes etwaiger im Vorfeld auf Einzelinitiative und Eigenkosten exhumierter Leichen zum Zentralfriedhof, IV. Tor aufzukommen.257 Wie viele noch in Wien lebende Nachkommen eine Exhumierung privat vornehmen ließen, ist nicht verzeichnet. Da zu diesem Zeitpunkt ein Großteil der Wiener jüdischen Bevölkerung bereits zur Emigration gezwungen worden 254 Die geplanten Exhumierungen, von denen manche, aber nicht alle, durchgeführt wurden, sind protokolliert in Walzer: Der jüdische Friedhof Währing in Wien, S. 137–196. Vgl. hierzu auch Eckstein: Historische Recherche, S. 8. 255 Einladung, 4. Juni 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 18, Währinger Friedhof/1/3, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 256 An das Friedhofsamt der Israelitischen Kultusgemeinde, 10. August 1951, AIKGW, A/VIE/IKG/III/FH/108/8. 257 Israelit. Friedhof Wien-Währing, 4. Juni [ohne Jahresangabe, 1941], AIKGW, A/VIE/IKG/IIII/LG/Wien 18, Währinger Friedhof/1/3, zit. in USHMM, AJCV-VCC. Vgl. auch Niederschrift, 6. Juni 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/Österreich/2/4, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
Das Schicksal des Friedhofs in Währing während der Shoah
war, dürfte die Zahl gering sein. In manchen Fällen warb die Kultusgemeinde aber nachweislich aktiv bei sich noch in Wien befindlichen Nachkommen, um die gefährdeten Leichen ihrer Angehörigen retten zu lassen. Im Juli 1941 schrieb Ernst Feldsberg beispielsweise an Ilma Grünbaum, geborene Mauthner und Tochter einer geborenen Pollak von Rudin, sesshaft in der Elisabethstraße 13 in der Inneren Stadt, um sie davor zu warnen, dass aufgrund der geplanten Aushebung die Familiengrüfte Mauthner und Pollak von Rudin „besonders gefährdet“ waren. Grünbaum ließ somit die Gebeine von sieben Familienmitgliedern exhumieren, darunter der 1875 verstorbene Richard Pollak von Rudin und die 1878 verstorbene Else Mauthner (20-12), und beim I. Tor in der dortigen Gruft der Familie Pollak von Rudin wieder bestatten (6-1-6). Die Leichenreste waren so gering, dass die sieben Exhumierten in zwei Särge passten. Die Kosten beliefen sich auf 2.000 Reichsmark.258 Ilma Grünbaum selbst kam 1943 im Konzentrationslager Theresienstadt um. Jede einzelne Exhumierung aus dem Währinger Friedhof und jede Wiederbestattung am Zentralfriedhof bedurfte der Genehmigung der zuständigen Gesundheitsämter jeweils in Währing und Simmering, ein weiteres Beispiel der wahnwitzigen Bürokratie, die die Schikanen der NS-Verwaltung auch im Bereich der Friedhofspolitik begleitete.259 Die Kultusgemeinde sollte fortan keine „Inanspruchnahme“ über diesen Teil des Friedhofes haben und sollte beim später angedachten „Verkauf des gesamten Friedhofsgeländes“ entsprechend entschädigt werden. Des Weiteren erklärte die Städtische Friedhofsverwaltung „an einer Uebernahme der Grabsteine derzeit kein Interesse zu haben. Die verwendbaren Grabsteine [sollten] daher vorläufig an geeigneten Stellen des Friedhofes gelagert“ werden.260 Manche von ihnen wurden im Laufe der folgenden Jahre, da sämtliche jüdischen Steinmetze liquidiert wurden und die Kultusgemeinde letztendlich keine Grabsteine mehr bei „arischen“ Firmen in Auftrag geben durfte, beim IV. Tor geschliffen und wiederverwendet, wie im nächsten Kapitel besprochen wird. Die Kultusgemeinde hatte vorerst in den Verhandlungen noch „den Standpunkt vertreten, dass sie berechtigt sei, die daselbst befindlichen Grabsteine zu
258 An Frau Ilma Grünbaum, 8. Juli 1941 und o. T. [Exhumierungsliste], o. D. [1941], AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/3, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 259 Siehe z. B. für Michael Lazar Biedermann den Bescheid, 15. November 1941 und für Israel Hönig, Bescheid, 18. November 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/3, zit. in USHMM, AJCVVCC. 260 Israelit. Friedhof Wien-Währing, 4. Juni [ohne Jahresangabe, 1941], AIKGW, A/VIE/IKG/IIII/LG/Wien 18, Währinger Friedhof/1/3, zit. in USHMM, AJCV-VCC. Vgl. auch Niederschrift, 6. Juni 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/Österreich/2/4, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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verwerten“.261 Doch bereits im Oktober 1940 hielt eine Aktennotiz des Friedhofsamtes die grundsätzliche Schwierigkeit einer Abtragung der Grabsteine aus diesem Friedhof fest, was zudem das Bewusstsein seitens der Kultusgemeinde schon zu diesem Zeitpunkt verdeutlicht, dass der Friedhof bald gänzlich zur Auflassung bestimmt war: Die Abtragung der besonders grossen Monumente ist nur dann möglich, wenn die in der Umgebung dieser Monumente errichteten kleineren Grabdenkmäler vorher entfernt werden. Eine Zufahrt zum Zwecke der Abtragung der grossen Denkmäler ist derzeit zum grössten Teil vollkommen ausgeschlossen. Um nur ein Beispiel anzuführen, würde die Abtragung des Grabmonumentes des verstorbenen Rabbiners [Isak] Noah [meist Noa geschrieben] Mannheimer, abgesehen von den Schwierigkeiten der Abtragung selbst, nur mit Hilfe von 2 Lastautos möglich sein. Auf diese besonderen Schwierigkeiten wurde bei Festsetzung der Abtragungskosten von RM 80.000,- besondere Rücksicht genommen.
Diese Kostenschätzung bezog sich wohlgemerkt auf alle Grabdenkmäler, nicht alleine auf jenes von Mannheimer. In dieser Aktennotiz wurde auch festgehalten, dass „die bis in die letzte Zeit vorgenommenen Exhumierungen […] einwandfrei ergeben [hatten], dass die Knochengerüste der Verstorbenen zur Gänze erhalten“ waren.262 Hiermit waren bestimmt Überführungen von Leichen aus dem Währinger Friedhof in neue Familiengrüfte am Zentralfriedhof gemeint. Diese Feststellung erläutert aber auch das Begehren der anthropologischen Institute in Wien, in diesem Friedhof Exhumierungen durchzuführen, da hier offensichtlich eine reiche Beute an erhaltenen menschlichen Überresten zu ergattern war. Zuletzt werden hier schließlich auch die Überlegungen seitens der Kultusgemeinde deutlich, wie man gegebenenfalls die Rettung von Grabstätten bzw. wenigstens von Grabsteinen vornehmen könnte. Die Leiche des 1865 verstorbenen Oberrabbiners Isak Noa Mannheimer wurde im Jahr darauf – samt Grabstein – tatsächlich an den Zentralfriedhof überführt, wie gleich geschildert wird. Die Kultusgemeinde schätzte, dass im beschlagnahmten Areal an die 1.200 Grabstätten exhumiert werden müssten, von denen lediglich ein Drittel der Grabsteine, nämlich die Granitsteine, wieder verwendbar wären. Der Rest war „aus verwittertem Sandstein und daher unverwendbar“. Es wurde schließlich vereinbart, die Exhumierung der in Betracht kommenden Gräber […] im Zuge der Erdarbeiten so durch[zuführen], dass die anfallenden Leichenreste vom Beauftragten der Israelitischen 261 An das Friedhofsamt, 6. März 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 18, Währinger Friedhof/1/3, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 262 O. T., 14. Oktober 1940, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/Österreich/2/5, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
Das Schicksal des Friedhofs in Währing während der Shoah
Kultusgemeinde während der Arbeit gesammelt, in hiezu von der gleichen Stelle bereitgestellte Behältnisse gelegt und sodann auf Kosten der Abteilung IV/14 auf den Zentralfriedhof 4. Tor (Israelitischer Friedhof) befördert werden [konnten].263
Somit wurde die Rettung der betroffenen Leichenreste, wenn nicht der dazugehörigen Grabdenkmäler, gesichert. Am 22. August 1941 übersandte die Abteilung IV/14 der Kultusgemeinde bezüglich dieser Vereinbarung eine Zustimmungserklärung, in der sie der Kultusgemeinde Wort für Wort vorschrieb, wie sie zuzustimmen hatte – ein Anzeichen des zynischen Rechtsverständnisses der NS-MachthaberInnen, in der die oktroyierte Zustimmung der Kultusgemeinde dennoch „erforderlich“ war.264 Vier Tage später stellte Josef Löwenherz die unterfertigte „Zustimmungserklärung“ an die Stadtverwaltung aus, in der er verkündete, dass „das Deutsche Reich auf obigen Grundstücken einen bombensichern [sic] Luftschutzbau errichten“ durfte.265 Bei der gesamten östlichen Hälfte des Friedhofs handelt es sich um ein Areal, das erst ab 1856 erworben, jedoch bis zur Schließung des Friedhofs um 1879 bereits belegt wurde – man bedenke das exponentielle Wachstum der jüdischen Bevölkerung zu dieser Zeit, was auch zu einem rasanten Anstieg in der Anzahl der Bestattungen geführt hatte. Somit handelte es sich bei den im Zuge der Ausgrabung zerstörten Grabstätten durchgehend um jüngere Bestattungen aus den Jahren 1864 bis 1879 sowie um eher wenige prominente Personen, im Vergleich zu den Exhumierungen von Prominenten, die in den Jahren darauf aus den älteren Teilen des Friedhofs erfolgen sollten.266 Es wurden schließlich die Überreste von etwa 2.000 Bestatteten aus Teilen der Gruppen 12, 14, 17, 20 und 21 exhumiert. Ernst Feldsberg, dem damaligen Direktor des Friedhofsamtes der Kultusgemeinde, zufolge konnten aber größtenteils nur die Namen derjenigen Bestatteten ausfindig gemacht werden, deren ein Grabstein gedachte.267 Ein Bericht, den Feldsberg unmittelbar nach den Ausgrabungen anfertigte, veranschaulicht den Ablauf dieser Exhumierungsaktion, die sich über drei Wochen erstreckte und auch, wie Feldsberg anmerkte, an Samstagen, also am Shabbat, stattfand. Die Einsammlung der menschlichen Überreste durch 263 Niederschrift, 6. Juni 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/Österreich/2/4, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 264 An die Israelitische Kultusgemeinde, 22. August 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/Österreich/2/4, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 265 An die Gemeindeverwaltung des Reichsgaues Wien, 26. August 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/IIII/LG/diverse Adressen/Österreich/2/4, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 266 Vgl. den Plan in Abb. 11 in Walzer: Der jüdische Friedhof Währing in Wien, zwischen S. 136 und S. 137 sowie die Liste der zerstörten Grabstellen, S. 162–188. 267 Tätigkeitsbericht, 15. August 1941, CAHJP, HMB/2979.
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eine kleine Gruppe von Kultusgemeindemitgliedern erfolgte nicht direkt am Friedhof, „weil die von Baggermaschinen gehobenen Erdmassen sofort auf bereitstehende Platenwagen [sic] geladen und von diesen auf Planierungsplätze abgeführt wurden“. Diese befanden sich am Yppenplatz (16. Bezirk), in der Prager Straße (21. Bezirk), am Laubeplatz (10. Bezirk), vor dem Westbahnhof im 6. Bezirk sowie direkt hinter dem Friedhof in der Semperstraße im 18. Bezirk. Die Kultusgemeindemitglieder waren also „genötigt“, die Einsammlung, die darüber hinaus bloß „im Rahmen der Möglichkeit“ erfolgte, direkt auf den weit über die Stadt verstreuten Planierungsplätzen vorzunehmen. Feldsberg schloss daraus: Es ist mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass der überwiegende Teil der Knochen gesammelt wurde. Leider konnte nicht verhindert werden, dass teils durch die Baggermaschine Knochenteile zerstört wurden, teils durch das Abrollen der Erdmassen Knochenteile in das neben der Lagerstätte befindliche Wasser abrollten und teilweise Knochenteile nicht gefunden wurden.
Er bemerkte weiter, dass die Bauleitung der Stadt Wien der Kultusgemeinde „im weitgehendsten Masse entgegengekommen“ war, indem sie vorerst nur auf eine Tiefe von zwei Metern gruben und diese Erdschicht, in dem sich noch keine Leichen befanden, abfuhren, bevor sie weiter gruben, was die Auffindung von Überresten im Nachhinein wenigstens erleichterte. Es wurden „auf allen Planierungsstätten grosse Särge bereitgestellt“ und gefüllt, die schließlich im Friedhof beim IV. Tor in zwei Massengräbern in der Gruppe 22 bestattet wurden. Darin wurden die „gesammelten Köpfe“ nach Osten gerichtet und die restlichen, nicht persönlich unterscheidbaren Knochenteile daneben gestapelt.268 Während der Ausgrabungen wurden die Grabsteine „zum grössten Teile umgeworfen und auf grössere Haufen zusammengetragen“, wo sie bis heute noch in Trümmern liegen.269 Fast zwanzig Jahre nach dieser Aktion schilderte Feldsberg in einem Artikel, den er für die Kultusgemeindezeitschrift verfasste, nochmals rückblickend das Geschehen: Als Leiter des Friedhofamtes habe ich damals bei der Gestapo persönlich durchgesetzt, daß die durch die Fangarme der Bagger gehobenen Leichenreste gesammelt und auf dem Zentralfriedhof, 4. Tor, wiederbestattet werden durften. Unter Lebensgefahr, weil wir unmittelbar vor und neben den Baggermaschinen arbeiten mußten, sammelten wir die Gebeine.270
268 Tätigkeitsbericht, 15. August 1941, CAHJP, HMB/2979. 269 Aktennotiz, 4. Juni 1954, AIKGW, nicht katalogisierter Bestand. 270 Der alte Währinger Friedhof, in: Die Gemeinde, 26. Juni 1959, S. 5.
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Auffallend ist hier die Abweichung von seinem zeitgenössischen Bericht, in dem er noch erzählt hatte, die Einsammlung der Knochenreste sei ausschließlich an den Planierungsplätzen erfolgt. Dies ist nicht das einzige Beispiel, in dem Feldsberg sich in der Nachkriegszeit an die damaligen Geschehnisse anders erinnerte. Der an dieser Stelle geplante Bunker wurde schließlich nie fertiggestellt und die ausgehobene Grube diente fortan als Löschwasserteich, da mit der Ausweitung der alliierten Luftangriffe auf Wien ab 1943 die Schaffung von Löschwasserteichen in der Stadtplanung eine erstrangige Stelle einnahm.271 Nach der Shoah kursierte der Mythos in offiziellen Akten sowie in der einschlägigen Historiographie, dass die Umwidmung des beschlagnahmten und geschändeten Teils des Währinger Friedhofs in ein „Luftschutzgebiet“ (ein militärischer Begriff) seitens der Stadt Wien eigentlich als „Vogelschutzgebiet“ gedacht war – und dass dies wiederum eine bewusste List seitens der (nach dieser Auffassung antinazistischen) Stadtverwaltung war, um den Friedhof zu retten.272 Alleine das Ausmaß des Schadens, den die Stadtverwaltung diesem Friedhof während und nach der Shoah proaktiv zufügte, zeigt die Unrichtigkeit dieser Deutung auf, doch diese diskursive Entlastung von der eigenen Schuld war alles andere als außergewöhnlich für den Umgang mit den Verbrechen des Nationalsozialismus in Österreich nach 1945.273 Im Vorfeld der Exhumierung und Inbesitznahme von Leichen aus dem Währinger Friedhof seitens des Naturhistorischen Museums wurde der Kultusgemeinde bzw. ihren Mitgliedern gestattet, auf eigene Faust Exhumierungen von Leichen ihrer Angehörigen und deren Überführung außerhalb des Friedhofs vorzunehmen. Im Herbst 1941 erstellte die Kultusgemeinde daher eine Liste von Verstorbenen, deren Leichen sie vorrangig exhumieren und dadurch vor der Zweckentfremdung seitens der NS-AnthropologInnen retten wollte. Ernst Feldsberg beschrieb später das Auswahlkriterium als „Persönlichkeiten […], die das wirtschaftliche, kulturelle und wissenschaftliche Leben Wiens maßgeblich beeinflußt haben“.274 Es handelte sich also vorrangig um die irdischen Überreste der Prominenz der Wiener jüdischen Gemeinde des 19. Jahrhunderts. Insgesamt wurden auf dieser Liste 38 Prominente genannt, gegebenenfalls samt Frauen und Kindern, die nebenbei genannt wurden, was die Summe auf 55 Leichen brachte. Unter den 38 Prominenten selbst befanden sich nur zwei Frauen. Es wurden die Namen und Lebensdaten der zu Exhumierenden aufgelistet 271 Vgl. Mattl/Pirhofer/Gangelmayer: Wien in der nationalsozialistischen Ordnung des Raums, S. 180. 272 So z. B. in Pleyel: Friedhöfe, S. 188; in Ackerl/Bouchal/Schödl: Der schöne Tod, S. 116 und in Veran: Das steinerne Archiv, S. 151. 273 Vgl. hierzu Walzer: Der jüdische Friedhof Währing in Wien, S. 88–90. 274 Der alte Währinger Friedhof, in: Die Gemeinde, 26. Juni 1959, S. 5.
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samt einer kurzen biographischen Beschreibung, die ihre Bedeutung für die Geschichte der Kultusgemeinde bzw. Wiens hervorheben sollte. Diese Liste ermöglicht somit einen Einblick in die kulturhistorische Selbstbewertung der Kultusgemeinde inmitten des 20. Jahrhunderts – und inmitten ihrer eigenen voranschreitenden Vernichtung. Gerade die extrem begrenzte Zahl der Leichen, die sie retten konnte, macht die Auswahl umso bedeutender als Ausdruck des Wertesystems der damaligen Kultusgemeinde. Tina Walzer behauptete, die Kultusgemeinde hätte lediglich die Exhumierung „prominenter Rabbiner und andere für die Geschichte der [Kultusgemeinde] bedeutender Persönlichkeiten“ vorgenommen.275 Doch ein Blick auf die Liste zeigt neben einigen Rabbinern und Religionslehrern größtenteils Kaufmänner, Wohltäter, Nobilitierte, „Vertreter“ noch aus der Zeit vor der Etablierung der Kultusgemeinde, Politiker, Kultusgemeindefunktionäre sowie Individuen, die sich auf sonstige Weise in Kultur oder Gesellschaft – auch im außerjüdischen Kontext – ausgezeichnet hatten, also eine wesentlich breitere Definition von „Prominenz“. Im Folgenden werden einige dieser Ausgewählten samt der Begründung für ihre Rettung beispielhaft für die kulturhistorische Selbstwertung der Kultusgemeinde aufgeführt. Mit inbegriffen waren selbstverständlich die hier in Kapitel 4 besprochenen „Gründerväter“ der Kultusgemeinde, wie Israel Hönig von Hönigsberg, dessen Beschreibung sich wie eine Kurzfassung seiner Grabinschrift liest: „Regierungsrat, Tabak- und Siegelgefällsdir[ektor], Herr der Herrschaft Velm, (geadelt von Leopold II, der erste geadelte Jude)“, wobei hier explizit, fast nostalgisch auf die kaiserliche Anerkennung der Wiener Judenheit in vergangenen Zeiten hingewiesen wurde. An den „Gründervätern“ waren offensichtlich vor allem ihre Ämter bzw. Titel interessant, so beispielsweise bei Adam Nathan Freiherr von Arnstein, „schwedischer Konsul“ und „Ritter des Wasa-Ordens“, bei dessen Namen zudem notiert war: „der Arnsteinpark in Wien ist nach ihm benannt“ – dieser Park im 15. Bezirk wurde im Laufe der Zeit verbaut, in dieser Gegend befindet sich aber nach wie vor die nach ihm benannte Arnsteingasse. Die Leiche seiner Frau Fanny (4-88) wurde wohlgemerkt nicht mit der ihres Mannes überführt; deren weiteres Schicksal – ob sie exhumiert wurde oder nicht – ist ungewiss. Nicht nur in den Titeln schimmerte die nun unter dem Nationalsozialismus längst entschwundene Welt der Habsburgermonarchie durch, sondern auch in Hinweisen auf Orte, so beispielsweise bei Hermann Todesco (ursprüngliche Grabstelle unbekannt, zum IV. Tor überführt, 14A14-7), „Schöpfer von Wohlfahrtsinstitutionen in Wien, Baden und Pressburg [Bratislava]“, oder bei dem 1867 verstorbenen Politiker Leopold Ritter von Lä-
275 Walzer: Der jüdische Friedhof Währing in Wien, S. 61.
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mel (ursprüngliche Grabstelle unbekannt, zum IV. Tor überführt, 14A-13-17), „Stadtrat von Prag“. Auch trat in dieser Liste einmal wieder die tiefgreifende gesellschaftliche Intersektionalität der historischen Wiener Judenheit hervor, wie sie durchgehend in der Sepulkralepigraphik am Währinger Friedhof reflektiert war. So wurde beispielsweise der 1866 verstorbene Eisenbahnpionier Heinrich Ritter von Sichrovsky (ursprüngliche Grabstelle unbekannt, zum IV. Tor überführt, 14A-13-6) vorgeführt als „Ritter des Ordens der Eisernen Krone und des Franz Josephs Ordens, korrespondierendes Mitglied der geologischen Reichsanstalten, Vertreter der Israelitischen Kultusgemeinde, Mitbegründer und Direktor der Ferdinand-Nordbahn“. Unter den Politikern befanden sich zwei Mitkämpfer der Revolution von 1848, die Seite an Seite mit ihren nichtjüdischen Zeitgenossen für die Emanzipation der Völker Österreichs gekämpft hatten, nämlich der 1848 verstorbene Dr. Adolf Kolinsky (ursprüngliche Grabstelle unbekannt, zum IV. Tor überführt, 14A-13-11), „Rabbinatskandidat“, der „als Freiheitskämpfer des Revolutionsjahres 1848 in der Renngasse [1. Bezirk, …] fiel“, sowie der 1872 verstorbene Moritz Hartmann (ursprüngliche Grabstelle unbekannt, zum IV. Tor überführt, 14A-13-16), späteres „Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung“, der „an den Freiheitskämpfen von 1848 besonders hervorragend beteiligt“ war. Dadurch wurde die rege Beteiligung der Wiener Judenheit am politischen und wirtschaftlichen Leben des österreichischen Staates in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext hervorgehoben. Zu den auserwählten Kultusgemeindefunktionären zählte der 1833 verstorbene Josef Veith (ursprüngliche Grabstelle unbekannt, zum IV. Tor überführt, 14A-13-22), „Religionslehrer und später Sekretär der jüdischen Gemeinde, Bruder des Prälaten Veith“ – gemeint war der zum Katholizismus übergetretene, 1876 verstorbene und im katholischen Matzleinsdorfer Friedhof bestattete Prediger Johann Emanuel Veith (Grabstelle unbekannt). Hier wurden Ruhm und kulturhistorische Bedeutung also sogar in Bezug auf die religiösen Errungenschaften der katholischen Verwandtschaft begründet. Einen ähnlichen stellvertretenden Ruhm wurde dem 1876 verstorbenen Dr. Maximilian Engel zugeschrieben (ursprüngliche Grabstelle unbekannt, zum IV. Tor überführt, 14A-14-14), der „Arzt des Spitals der jüdischen Gemeinde, Vorstandsmitglied der Gemeinde, [und] Redakteur der ‚Wiener Abendpost‘“ war und „von Marie von Ebner-Eschenbach auch als aufopferungsvoller Arzt zur Zeit der Cholera in ihren Erinnerungen rühmend hervorgehoben“ wurde. Allerdings wurde Isak Löw Hofmann von Hofmannsthal, der zwar selbst eine führende, hier in Kapitel 4 besprochene Rolle in der frühen Geschichte der Kultusgemeinde gespielt hatte, hier lediglich als „Armenbezirksdirektor“ und vor allem als „Grossvater des Dichters Hugo von Hoffmannstal [sic]“ genannt. Tatsächlich befanden sich unter dieser Gruppe auch mehrere Rabbiner und andere religiöse Prominente
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der Kultusgemeinde, so beispielsweise der 1817 verstorbene David Wertheim (ursprüngliche Grabstelle unbekannt, zum IV. Tor überführt, 14A-13-21), „Enkel des Grossfaktors Samson Wertheim [im Friedhof in der Seegasse bestattet, siehe Kapitel 3] und Neubegründer der Wiener Chewra Kadischa“, der 1875 verstorbene Rabbiner Ruben Baruch (ursprüngliche Grabstelle unbekannt, zum IV. Tor überführt, 14A-14-16), „Rabbiner der Türkischen [sephardischen] Gemeinde“, sowie der 1867 verstorbene, hier in Kapitel 2 besprochene Rabbiner Zwi aus Kuttow, der lediglich als „bekannter Rabbiner aus Polen“ angeführt wurde. Im Sommer 1941 hatte der Kultusgemeindearchivar Leopold Moses, der zwei Jahre später in Auschwitz ermordet wurde, an Ernst Feldsberg geschrieben, um die Aufnahme von Rabbiner Zwi in diese Liste vorzuschlagen. Er teilte auch mit, dass es sich hier eben um den bürgerlich benannten Hirsch Landesmann aus Streliska in Galizien (heute Nowi Strilyschtscha in der Ukraine) handelte sowie dass die Nennung des Geburtsdatums im jüdischen Kalender auf seinem Grabstein falsch war.276 Interessanterweise wurden hier also die sterblichen Überreste eines orthodoxen Rabbiners als vorrangig erhaltenswürdig angesehen, dessen Name aber nicht einmal mehr geläufig und dessen Geburtsdatum zur Zeit seines Todes nicht einmal richtig bekannt waren. Am 21. November 1941 fragte Moses ferner beim Friedhofsamt an, die Leiche des 1829 verstorbenen Samuel Detmold (4-378) zu exhumieren und an den Zentralfriedhof zu überführen, da der Verstorbene „als Verfasser eines Kommentars zu den Büchern Esra, Daniel und Chronik in der Gelehrtenwelt einen unsterblichen Namen hinterlassen“ hatte.277 Dies scheint allerdings nicht geschehen zu sein – sein Name erscheint nicht in den Exhumierungslisten. Jedenfalls legen diese Beispiele nahe, dass Moses nachdrücklich die Auswahl von orthodox-religiösen, aber nicht wirklich bekannten Persönlichkeiten bei den Exhumierungen von als „Prominenten“ wahrgenommenen Verstorbenen seitens der Kultusgemeinde förderte, die Kultusgemeinde aber sonst eher Prominente, die sich außerhalb der jüdisch-religiösen Welt einen Namen gemacht hatten, zu exhumieren intendierte. So landeten auch einige Schriftsteller auf der Exhumierungsliste, wie der 1871 verstorbene Dr. Max Letteris (ursprüngliche Grabstelle unbekannt, zum IV. Tor überführt, 14A-13-1), „Schriftsteller, Redakteur der ‚Wiener Mitteilungen‘, [und] Übersetzer der Heiligen Schrift“; der oben erwähnte, 1873 verstorbene Maximilian Emanuel Stern (ursprüngliche Grabstelle unbekannt, zum IV. Tor 276 An das vererhl. Friedhofsamt, 28. Juli 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/3, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 277 An das Friedhofsamt, 21. November 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/3, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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überführt, 14A-13-2), „Schriftsteller, Herausgeber der Kochwe Jitzchak und Übersetzer der Festgebete“; sowie der 1877 verstorbene Dr. Salomon Ritter von Mosenthal (ursprüngliche Grabstelle unbekannt, zum IV. Tor überführt, 14A-13-4), „Regierungsrat, Vorstand der Bibliothek im Ministerium für Kultus und Unterricht, [und] volkstümlicher Dichter“. Schließlich wurden auch zwei Männer genannt, die sich für ganz einzigartige Errungenschaften einen Namen gemacht hatten, nämlich der 1873 verstorbene Josef Szanto (ursprüngliche Grabstelle unbekannt, zum IV. Tor überführt, 14A-13-5), „Redakteur, Herausgeber der ‚Neuzeit‘, [und] Gründer eines jüdischen Erziehungsinstituts“, der aber heraus sticht, weil er „im Jahre 1866“, also während des Deutschen Krieges, zum „erste[n] jüdische[n] Feldprediger“ ernannt wurde, und der 1862 verstorbene, hier in Kapitel 4 besprochene Dr. Eduard (hier Edmund genannt) Schwarz, „Korvettenkapitän der österr[eichischen] Kriegsmarine“, der 1857–1859 „die Weltumsegelung der Fregatte ‚Novara‘ mit[machte]“ und „den medizinischen Teil“ der daraus folgenden Publikationen verfasste. Bei den beiden weiblichen Prominenten handelte es sich schließlich um die 1854 verstorbene Fanny Jeiteles (ursprüngliche Grabstelle unbekannt, zum IV. Tor überführt, 14A-14-11), die „ihr ganzes Vermögen dem Spital der Kultusgemeinde, ferner für Stiftungen für ein Armenhaus und für Ausstattungen armer Bräute“ hinterließ, und die 1868 verstorbene Elise Herz (ursprüngliche Grabstelle unbekannt, zum IV. Tor überführt, 14A-14-10), „Gründerin der Kinderbewahranstalt in Jerusalem“.278 Eine ähnliche, handschriftliche und undatierte, aber vom Kontext vermutlich auch aus jenem Jahr stammende Liste findet sich im Jerusalemer Bestand des Kultusgemeindearchivs mit dem bezeichnenden Titel: „Berühmte Männer auf dem W[iener] Zentralfriedhofe“. Wozu diese Liste verfasst wurde, ist unklar, doch dürfte sie angesichts der drohenden „Arisierung“ des Friedhofs beim I. Tor, auf den sich diese Liste bezog, aus einem ähnlichen Dokumentations- und Bewahrungsimpuls hervorgegangen sein. Wie hier in den Grabsteinanalysen der letzten Kapitel aufgezeigt wurde, ist der Ausschluss von jüdischen Frauen aus der Kulturgeschichte der Kultusgemeinde, der auch in dieser Liste wieder deutlich wird, charakteristisch, sowohl von deren eigener Erinnerungskultur wie von einem Großteil der späteren diesbezüglichen Historiographie. Auf dieser Liste finden sich die Namen von wohlbekannten und oft genannten prominenten Männern des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, so beispielsweise der Stararchitekten Max Fleischer und Wilhelm Stiassny sowie des Publizisten und Herausgebers der Neue Freie Presse Moriz Benedikt (20-1-1). Separat unter „Großindustrielle“ aufgelistet finden sich hier auch die Namen
278 Reproduziert in An die Amtsdirektion der Israelitischen Kultusgemeinde, Wien, 8. Mai 1950, AIKGW, A/VIE/IKG/III/FH/108/8.
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wohlhabender Familien wie Rothschild, Gutmann, Königswarter, Wiener von Welten und weiteren.279 Die Liste der aus dem Währinger Friedhof zu exhumierenden Prominenten bietet nicht bloß einen Schnappschuss der soziokulturellen Konstellation der Wiener Judenheit im Zeitraum 1784 bis 1879, sondern auch der retrospektiven Wertung dieser Gemeinschaft aus der Sicht der sich in rascher Auflösung befindlichen Kultusgemeinde während der Shoah. Als erhaltenswürdig wurden bei Weitem nicht nur Rabbiner genannt, sondern auch die frühesten Vertreter der Wiener Judenheit und die Gründerväter der Kultusgemeinde, Revolutionäre und Politiker, Schriftsteller religiöser und belletristischer Literatur, Nobilitierte, Großindustrielle und Philanthropen – fast durchwegs Männer. Das breite Spektrum von religiösen und weltlichen Akteuren, die hier vertreten sind, deren Wirken oft das religiöse und weltliche verband, wie sie die jüdischen und nichtjüdischen Gesellschaftssphären verbanden, verweisen auf eine mehr als ein Jahrhundert lange Verflechtung der jüdischen Bevölkerung mit dem wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und geistigen Leben Wiens als Hauptstadt der ehemaligen Monarchie. Die Verbindung von liberaler Politik mit führender Tätigkeit in der jüdischen Gemeinde ist in diesen Lebensläufen nicht zu übersehen und reflektiert die Epoche des Währinger Friedhofs als Zeit des Aufbruchs in eine moderne, pluralistische Gesellschaft und zugleich der Verfestigung eines halbautonomen jüdischen Gemeindewesens. Die Rettung der sterblichen Überreste einiger Prominenter der historischen Gemeinde vor der Schändung durch rassistische WissenschaftlerInnen unterstreicht einmal wieder die beeindruckende Pietät dieser Gemeinde gegenüber den „Grabstätten ihrer Väter“, und das „zu einer Zeit“, wie der in die USA geflüchtete Schriftsteller Robert Pick später diesbezüglich in einem Erinnerungsaufsatz bemerken sollte, „als die Asche von sprichwörtlich unzähligen Jüdinnen und Juden im 24-Stunden-Takt aus Hitlers Krematorien rausgeschaufelt wurde – und die Handvoll Jüdinnen und Juden in Wien sich keine Illusionen mehr machen konnten von der Immanenz ihres eigenen Endes“.280 Die Überführung all dieser Leichen an den Zentralfriedhof kostete die Kultusgemeinde insgesamt 1.050 Reichsmark. Hingegen kostete alleine die Überführung von Isak Noa Mannheimers Grabstein zum I. Tor 600 Reichsmark, was erklärt, wieso nur dieser sowie der Grabstein seines Rabbinatskollegen Lazar Horowitz zusammen mit den jeweiligen Leichen überführt wurden.281 Die beiden Rabbiner liegen heute in der Ehrenreihe beim I. Tor zur rechten Seite von 279 Berühmte Männer auf dem W. Zentralfriedhofe, o. D., CAHJP, AU/147. 280 Pick, Robert: The Vienna of the Departed, in: Commentary 16 (1953), S. 156. 281 Mitteilung, 6. November 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/3, zit. in USHMM, AJCV-VCC. Vgl. die Photographien von den Grabsteinen in Währing vor ihrer Verlegung an den Zentralfriedhof in CAHJP, AU/244.
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Arthur Schnitzlers Grabstätte bestattet (6-0-8 bzw. 6-0-9). Im folgenden Jänner teilte die Friedhofsverwaltung der Stadt Wien der Kultusgemeinde mit, dass „die Wegnahme von Grabsteinen, Gruftbelägen oder Grabausstattungsgegenständen jeder Art sowie Veränderung an Grabstätten“ am Währinger Friedhof nun mehr „ohne [ihre] Bewilligung“ unzulässig sei.282 Aus dem hieraus erwachsenden Konvolut an Bewilligungen wird ersichtlich, dass die Kultusgemeinde, wo immer möglich, die hinterlassenen Grabsteine bei den exhumierten Grabstätten verkaufte, so beispielsweise in den Fällen von Adam Nathan Freiherr von Arnstein, Fanny Jeiteles und Michael Lazar Biedermann, deren Grabsteine allesamt zur Wiederverwendung an die heute noch bestehende Steinmetzfirma Hagleitner verkauft wurden als Teilentschädigung für die Kosten der Überführung von anderen Grabdenkmälern – vermutlich eben die der beiden Rabbiner, die beim I. Tor wiedererrichtet wurden.283 Auch hier überwog also schließlich die finanzielle Not und nicht die Pietät gegenüber den nun sozusagen herrenlos gewordenen Grabdenkmälern. Unter diesen Exhumierungen und Überführungen an den Zentralfriedhof fanden auch einige im Auftrag von Nachkommen statt. Mindestens 41 Leichen wurden beim I. Tor wieder bestattet, meist in bestehende Familiengrüfte, von denen nur die Überführung der beiden genannten Rabbiner von der Kultusgemeinde in Auftrag gegeben wurde. Von den mindestens 88 an den Friedhof beim IV. Tor überführten Leichen wurden 25 privat exhumiert und in bestehende Familiengrüfte beigesetzt, die restlichen 63 wurden seitens der Kultusgemeinde exhumiert und alle in der Gruppe 14A, Reihen 13 und 14 bestattet.284 Wie erwähnt, benötigte die Kultusgemeinde für jede Exhumierung eine sanitätspolizeiliche Genehmigung. Zu diesem Zweck wurden alle Exhumierungen akribisch protokolliert, inklusive Namen, Eckdaten, Grabstellen, Form und Zustand des Grabdenkmals sowie des Zustandes der Leichen, so beispielsweise „Granichstätten Simon, gest. 13.8.1873, 80 Jahre alt, Marmorpyramide, 1.80m hoch, gut erhaltenes Skelett“ (19-13-8). In den meisten Fällen wurde „Skelett in gutem Zustande“ notiert, im Falle des 1878 im Alter von nur zwei Jahren verstorbenen Israel Adutt hingegen „Leiche unauffindbar, infolge jugendlichen Alters“ – offensichtlich waren die Gebeine schon längst verwest (10-143).285 Am 282 An das Rechtsbüro, 3. Jänner 1942, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 18, Währinger Friedhof/1/3, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 283 An die Gemeindeverwaltung des Reichsgaues Wien, 15. Jänner 1942, AIKGW, A/VIE/IKG/IIII/LG/Wien 18, Währinger Friedhof/1/3, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 284 Vgl. die Listen in Walzer: Der jüdische Friedhof Währing in Wien, S. 137–141. 285 O.T, o. D., AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC. Simon Granichstätten ist eines von verschiedenen hier aufgezählten Individuen, die in Walzer: Der jüdische Friedhof Währing in Wien, in diesem Fall S. 153, auf der Liste erscheint von „Personen, die auf der ‚Wunschliste‘ des Naturhistorischen Museums Wien der zu Exhumierenden 1942 verzeichnet
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18. Dezember 1941 wurde in diesem Zusammenhang in den Akten des Friedhofsamts vermerkt, dass der „arische“ Friedhofsaufseher Theodor Schreiber, der im zweiten Stock der alten Zeremonienhalle am Friedhofsgelände wohnte, ein „Goldgebiss“ im Schädel der oben erwähnten Elise (hier fälschlicherweise als Elisabeth aufgeführt) Herz fand.286 Das Gebiss musste an die Gestapo abgetreten werden.287 Ansonsten sind keine vergleichbar eigentümlichen Funde vermerkt. Das Schicksal der menschlichen Überreste sowie der Grabsteine, die im Friedhof zurückblieben, wurde im Februar 1942 mit dem Zwangsverkauf des Währinger Friedhofs besiegelt. Der Kultusgemeinde wurden hiernach lediglich drei Monate eingeräumt, um weitere Verlegungen von Leichen oder Grabsteinen vorzunehmen. Nach dieser Frist ging das gesamte Areal samt allen sich darin befindlichen Objekten an die Stadt Wien über.288 Die Wiener Ausgabe des Völkischer Beobachter feierte im Jänner 1942, dass nun „Wiens Erholungsgebiet für immer gesichert“ sei: Der jüdische Friedhof in Währing sollte nämlich – wie die Stadtverwaltung schon seit Jahrzehnten intendiert hatte – in eine „Grünanlage“ verwandelt, also vernichtet werden.289 Eine Akte in den Beständen des Kultusgemeindearchivs mit dem Titel „Auf dem Neuen Friedhof [beim IV. Tor] aufgestellte alte Grabsteine des Waehringer Friedhofes“ lässt schließen, dass die Kultusgemeinde spätestens bis 1942 begann, alte Grabsteine aus Währing für neue Begräbnisse beim IV. Tor wieder zu verwenden, so beispielsweise für die Bestattung der Aschenurne des 1939 in Buchenwald umgekommenen Oswald Kimmelmann (in der Datenbank der Kultusgemeinde fälschlicherweise als „Kümmelmann“ verzeichnet, 21-36-24 – auf solche Ascheurnen kommt das nächste Kapitel zurück).290 Mit dem Zwangsverkauf des gesamten Objekts stand schließlich auch der anthropologischen Verwertung der Grabsteine und menschlichen Überreste nichts mehr im Weg. Das Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschland, ein 1935 in Berlin gegründetes Institut zur Propagierung einer rassistischen Weltanschauung in
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sind und die daher möglicherweise exhumiert wurden, zu deren Exhumierung jedoch keine Protokolle des Museums erhalten sind“. Offensichtlich wurde die hier zitierte Liste aus den Akten der Kultusgemeinde in Walzers Protokoll nicht berücksichtigt und würde dieses demnach ergänzen. Aktennotiz, 18. Dezember 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/3, zit. in USHMM, AJCV-VCC. Vgl. zu Schreiber die Verhandlungsschrift, 22. Dezember 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/IIII/LG/Wien 18, Währinger Friedhof/1/3, zit. in USHMM, AJCV-VCC. Eckstein: Historische Recherche, S. 7. Embacher: Restitutionsverhandlungen mit Österreich, S. 281. Wiens Erholungsgebiet für immer gesichert, in: Völkischer Beobachter – Wiener Ausgabe, 9. Jänner 1942, S. 5. An die Kanzlei Neuer Friedhof, 20. August 1942, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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den Geschichtswissenschaften, entwickelte im Sommer 1942 ein Programm zur „Sicherstellung des historischen und anthropologischen Materials der Judenfriedhöfe in Deutschland“ und wandte sich somit im folgenden Frühjahr an einzelne Stadtverwaltungen im „Dritten Reich“ mit der Absicht, „genealogische[s] und anthropologische[s] Material“ anzuschaffen. Diese Tätigkeit fasste das Institut als dringende Aufgabe auf, „ehe es [das Material] bei der häufig zu erwartenden Auflassung von Judenfriedhöfen vernichtet wird und verloren geht“.291 Ebenso wurden in Wien die menschlichen Überreste in den jüdischen Friedhöfen in einem internen Bericht des Naturhistorischen Museums 1943 als „wertvolle Bereicherung der Museumsbestände“ beschrieben, deren Beschlagnahmung eine „ unaufschiebbare Arbeit“ darstellte, die als „wertvolle Grundlage für die neuzeitliche rassenbiologische Richtung“ dienen würde. Lokale Antriebe zur anthropologischen Verwertung von Leichenresten aus jüdischen Friedhöfen hatte es in Österreich aber bereits 1939 gegeben, wie eine umfassende Aufarbeitung des Naturhistorischen Museums in Wien aus den 1990er-Jahren feststellte. Zuerst aber hatte sich das Naturhistorische Museum über die folgenden Jahre der tausendfachen anthropologischen Auswertung von Konzentrationslagerhäftlingen zugewandt – von lebenden wie von Leichenteilen verstorbener und ermordeter Menschen.292 Eine der treibenden Kräfte hinter diesen Wiener Aktionen war der Orientalist Viktor Christian, seit 1933 Mitglied der NSDAP, seit 1938 der SS und seit 1939 Dekan der Philosophischen Fakultät an der Universität Wien, der sich bereits beim Friedhof in der Seegasse für eine anthropologische Auswertung etwaiger Skelettfunde ausgesprochen hatte.293 Ernst Feldsberg erklärte nach dem Krieg, dass der Währinger Friedhof unter anderem deswegen ins Visier der NS-Anthropologie geriet, weil dort „Angehörige ganzer Familien enterdigt“ werden konnten, „um aus der Überprüfung der Skelette festzustellen, dass die Degeneration der jüdischen Rasse dauernd fortschreitet“ – in anderen Worten, um eine vorherbestimmte These im Nachhinein zu beweisen.294 Die Kultusgemeinde wurde in dieser Affäre einmal wieder gezwungen, bei den gegen sie verübten Verbrechen mitzuhelfen. Am 5. April 1943 wurde ihr der Befehl erteilt, 300 von Viktor Christian zu bestimmende Leichen aus dem Währinger Friedhof zum Zwecke der anthropologischen
291 Zit. nach Wirsching: Jüdische Friedhöfe in Deutschland, S. 22–23. 292 Teschler-Nicola, Maria/Berner, Margit: Die Anthropologische Abteilung des Naturhistorischen Museums in der NS-Zeit. Berichte und Dokumentationen von Forschungs- und Sammelaktivitäten 1938–1945, Wien 1998, insb. S. 5, 8. 293 Vgl. zu seiner Laufbahn Rupnow: Judenforschung im Dritten Reich, S. 319–320, 323–324. 294 Namenstafeln auf den Gräbern der aus dem Währinger Friedhof exhumierten Familien, 17. April 1951, AIKGW, A/VIE/IKG/III/Präs/1/3.
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Verwertung zu exhumieren.295 Ganz wie die Exhumierungen, die die Kultusgemeinde selbst noch am Friedhof unternommen hatte, konzentrierten sich die NS-WissenschaftlerInnen auffällig auf Mitglieder bekannter jüdischer Familien der Wiener bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, so etwa der Familien Wertheim, Russo, de Majo, Arnstein, Biedermann, Hönigsberg, Königswarther, Hofmann von Hofmannsthal und weitere.296 Josef Löwenherz schätzte, dass diese Arbeiten, zu der auch die Einsammlung von „Eisengitter[n] auf den jüdischen Friedhöfen in Wien, Nieder- und Oberdonau“ für die Kriegsproduktion dazu kommen sollte, bis zu 200 Bedienstete in Anspruch nehmen würden, doch konnte die bereits größtenteils liquidierte Gemeinde lediglich vier oder fünf davon auftreiben, die dann an den Exhumierungen in Währing mithelfen mussten.297 Darunter befand sich das Ehepaar Jeanette und Otto Spennadel. Otto, der als Totengräber beim IV. Tor angestellt war, wurde von dem Shoah-Überlebenden Martin Vogel Jahrzehnte später in einem Interview als „ein Haus von einem Mann und Kräften!“ beschrieben.298 Seine Frau Jeanette skizzierte später in einem Interview das Geschehen: „Mein Mann hat die Steine weggeräumt und das Grab aufgegraben, und ich und noch eine andere Frau, Malvine Pressburger, mussten Knochen putzen und dann wurde das [sic] in Schachteln hereingelegt.“299 Wie grausam der Prozess der Exhumierung im Gegensatz zu dieser nüchternen Beschreibung sein konnte, wurde beispielhaft in den Protokollen des Naturhistorischen Museums festgehalten, denen zufolge beispielsweise die relativ jungen Leichen der Familie Biedermann größtenteils „im Fleisch erhalten“ waren, das somit erst an Ort und Stelle entfernt werden musste. Der Versuch, das noch vorhandene Fleisch von der Leiche der 1880 verstorbenen Marie Wertheim, geborene Biedermann, zu entfernen, wurde als missglückt betrachtet, und diese Leiche wurde wieder
295 Enterdigung aus dem jüdischen Friedhofe, Wien, 18., Semperstraße 64, 5. April 1943, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/4/1. 296 Aktennotiz, 3. Juni 1954 und An die Amtsdirektion der Israelitischen Kultusgemeinde, 17. April 1951, AIKGW, nicht katalogisierter Bestand. Vgl. auch die Listen in Walzer: Der jüdische Friedhof Währing in Wien, S. 144, 147. 297 Friedman, Tuviah (Hg.): Dr. Josef Löwenherz, Direktor der Kultusgemeinde Wien war Schützling Adolf Eichmanns und Brunners 1938–45. Somit überlebte er den Krieg und das Nazi-Regime. Vollständiger Bericht von Dr. Löwenherz über die Tätigkeit Eichmanns und Brunners in Wien–Prag–Berlin 1938–45, Haifa 1995, S. 52. 298 Transkript eines Interviews mit Dr. Martin Vogel von Dieter Hecht, Eleonore Lappin-Eppel, Albert Lichtblau und Michaela Raggam-Blesch am 21. Februar 2012 in Wien. Ich danke Michaela Raggam-Blesch für die Bereitstellung des Transkripts sowie die Genehmigung, es hier zu zitieren. 299 Zit. nach Keil: „… enterdigt aus dem jüdischen Friedhof “, S. 18; vgl. auch S. 10 sowie Die Wahrheit ist unbesiegbar, o. D., AIKGW, A/VIE/IKG/III/Präs/Rest/3/1.
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zugedeckt (11-5).300 Rosa Spennadel wurde gegen Kriegsende nochmals vom Friedhofsamt für grausame Arbeiten herangezogen, dieses Mal zum Abladen von Leichen verstorbener jüdischer UngarInnen aus den Zwangsarbeitstransporten nach Österreich, was im folgenden Kapitel eingehender besprochen wird. Diese Erfahrungen traumatisierten sie zutiefst, wie sie Jahre später der Historikerin Martha Keil in einem Interview erzählte.301 Laut einem Nachkriegsbericht der Kultusgemeinde wurden die Grabsteine an den vom Naturhistorischen Museum exhumierten Grabstätten „demoliert und vernichtet“.302 Ob dies stimmt, ist fraglich. Vermutlich bilden sie einen Teil der Trümmerfelder, die bis heute das Erscheinungsbild dieses geschändeten jüdischen Friedhofs prägen, wenn sie nicht zu jenen „Restbeständen“ gehörten, die noch während der Shoah von der Kultusgemeinde selbst beim IV. Tor wiederverwendet wurden. Das weitere Schicksal der geraubten Leichenreste wird in Kapitel 9 besprochen. Wie im Falle des Friedhofs in der Seegasse gingen die Initiativen zur Schändung und teilweise Vernichtung des Währinger Friedhofs – inklusive von menschlichen Überresten – also durchwegs von lokalen Wiener Institutionen aus, deren MitarbeiterInnen nach 1945 nur minimal, wenn überhaupt, zur Rechenschaft gezogen wurden. Im Gegenteil: Manche genossen nach Ende der Shoah Zeit ihres Lebens eine „normale“ wissenschaftliche Laufbahn. Viktor Christian wurde beispielsweise 1945 zuerst von der Universität entlassen, jedoch nach erfolgreichem Einspruch wieder eingesetzt und schließlich von der Universität in den ordentlichen Ruhestand versetzt.303 Sein Doktorat wurde 1960 in Anerkennung seiner wissenschaftlichen „Verdienste“ sogar feierlich erneuert.304 Der ebenfalls an den Exhumierungen beteiligte Josef Wastl vom Naturhistorischen Museum, der bereits zuvor an der „Arisierung“ der Bestände des Jüdischen Museums beteiligt war, wurde als „Mindestbelasteter“ eingestuft und später ebenfalls in den ordentlichen Ruhestand versetzt.305 7.7
Das Schicksal der jüdischen Abteilungen des Zentralfriedhofs während der Shoah
Der jüdische Friedhof beim I. Tor war der einzige jüdische Bestattungsraum in Wien, der vor der Shoah nicht einen „Eigengrund“, sondern lediglich ei300 Zit. nach Walzer: Der jüdische Friedhof Währing in Wien, S. 68; vgl. auch die Einträge in der Exhumierungsliste auf S. 149–150. 301 Keil: „… enterdigt aus dem jüdischen Friedhof “, S. 18. 302 Aktennotiz, 4. Juni 1954, AIKGW, nicht katalogisierter Bestand. 303 Rupnow: Judenforschung im Dritten Reich, S. 339. 304 Personalakte Christian, Viktor, AUW, PH PA 1034. 305 Teschler-Nicola/Berner: Die Anthropologische Abteilung, S. 16.
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nen „Pachtgrund“ der Kultusgemeinde darstellte.306 Nach dem „Anschluß“ verlangte die Stadt Wien weiterhin von der Kultusgemeinde die Zahlung des im ursprünglichen Pachtvertrags aus dem Jahr 1891 festgesetzten jährlichen Beitrags „zu den Allgemeinen Verwaltungsauslagen des Zentralfriedhofes“, der 1939 unter der neuen reichsdeutschen Währung 65.000 Reichsmark betrug, eine schwere finanzielle Last für die nun nahezu mittellos gewordene und zunehmend verfolgte Kultusgemeinde.307 Im Juni 1940 richtete Josef Löwenherz eine Beschwerde an die Stadtverwaltung, dass der Vertrag von 1891 „auf dem Gedanken einer fortgesetzten gleichen Inanspruchnahme des allgemeinen Teiles des [Zentralf]riedhofes und seines israelitischen Teiles“ basierte, dass allerdings letzterer „schon vor Jahren belegt“ wurde, während ersterer sich „in ständiger Erweiterung“ befand. Somit bestand „ein Anwachsen des Personalund Sachaufwandes“ am allgemeinen Friedhof, an dem die Kultusgemeinde aber schon lange nicht mehr teilnahm. Zudem verwies Löwenherz darauf, dass „die Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben und die Auswanderung der kapitalskräftigen Juden aus der Ostmark“ zur Folge hatte, „dass die Bestellung eines unentgeltlichen Begräbnisses geradezu zur Regel geworden ist“, eine massive finanzielle Belastung im Bereich des Friedhofswesens.308 Bis zum Zwangsverkauf des Friedhofs ließ die Stadt aber von den Zahlungen nicht ab. Im Jahr darauf wurde die Kultusgemeinde zudem genötigt, einen Beitrag für „Zubauten zur Aufbahrungshalle I“ am allgemeinen Friedhof zu leisten, die der Kultusgemeinde keineswegs zugutekam, da sie ihre eigenen Zeremonienräume verwendete.309 Der Friedhof beim I. Tor ging offiziell am 26. März 1942 in den Besitz der Stadt Wien über, und weitere Bestattungen wurden ab Dezember untersagt.310 Nach Einhaltung der gesetzlichen Ruhefrist von zehn Jahren sollte dieser jüdische Friedhof planiert und das Areal in den allgemeinen Zentralfriedhof integriert werden. Faktisch hätte dieser Friedhof also ab 1953 nicht mehr existiert. Diese einfache Tatsache erklärt angesichts der Zerschmetterung des „Dritten Reichs“ 1945 die weitgehende Bewahrung dieses Erinnerungsorts trotz des erheblichen Vandalismus und der kriegsbedingten Schäden, so zum Beispiel der Sprengung der von Wilhelm Stiassny entworfenen Zeremonienhalle während 306 Israelitische Friedhöfe in Wien, 31. Dezember 1939, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/Österreich/2/3, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 307 Beschluss No. 8487, 8. Juni 1939, AIKGW, A/VIE/IKG/II/AD/1, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 308 An die Gemeindeverwaltung des Reichsgaues Wien, 15. Juni 1940, AIKGW, A/VIE/IKG/IIII/LG/diverse Adressen/Österreich/2/5, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 309 An die Leitung der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, 17. Jänner 1939, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/1/8, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 310 Deposition made by Dr. Loewenherz (in preparation for Eichmann trial), o. D., LBI, Joseph Loewenherz Collection, Box 1, Folder 7, AR25055.
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der Novemberpogrome.311 Der Friedhof beim I. Tor zeigt die pauschalste Form der Vernichtung, die jüdischen Erinnerungsorten hätte widerfahren können – wobei der Mangel an wissenschaftlichem Interesse an dieser Kulturstätte, in pointiertem Gegensatz zu den älteren Wiener jüdischen Friedhöfen in der Seegasse und Währing, eine eigentümliche Wertung der „Historizität“ aufzeigt: Der Friedhof beim I. Tor, der 1938 „nur“ 59 Jahre alt war, wurde einfach nicht als historisch wertvoll betrachtet, so wie seine Grabdenkmäler – inklusive der großen von Stararchitekten entworfenen Prunkbauten – offensichtlich nicht von kulturellem oder wissenschaftlichem Interesse waren. Nach der „Arisierung“ des Friedhofs 1942 hatte die Kultusgemeinde weder auf das Areal noch auf die sich darauf befindlichen Grabdenkmäler irgendeinen Anspruch. In einem undatierten, nach 1942 verfassten Schreiben an die Stadtverwaltung musste Ernst Feldsberg also beispielsweise um besondere Erlaubnis bitten, damit ein ungenannter Leichenträger, der beim IV. Tor arbeitete, einen Grabstein mit einer hebräischsprachigen Inschrift für seinen im August 1941 verstorbenen und beim I. Tor bestatteten Sohn errichten durfte.312 So mussten 1942 auch die Nachschriften auf den Grabsteinen von Rose Reisner (52-9-29) und Rudolfine Anschel (52-22-39/40), beide 1940 verstorben, beim I. Tor von der Stadtverwaltung bewilligt werden, die darüber hinaus vorschrieb, dass „jeweils der Name Sara in der Inschrift erscheinen muss“. Dies entsprach der „Zweiten Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Änderung von Familiennamen und Vornamen“ vom 17. August 1938, wonach Juden den Beinamen „Israel“ und Jüdinnen den Beinamen „Sara“ anzunehmen hatten, um sie deutlich als „jüdisch“ zu kennzeichnen – eine Stigmatisierung auch im Tod, in der Erinnerung und selbst am jüdischen Friedhof.313 Der Friedhof beim IV. Tor stellte insofern eine Ausnahme während der Shoah dar, da dieser als einziger noch aktiver Bestattungsraum durchgehend für das Begräbnis von den in Wien zurückgebliebenen jüdischen Verstorbenen benötigt wurde. Doch kam es auch hier wiederholt zu Versuchen, das Areal zur Gänze oder in Teilen zu „arisieren“. Der erste Verkaufsimpuls ging jedoch von der Kultusgemeinde selbst aus. Wie hier in Kapitel 6 dargestellt, hatte die Kultusgemeinde 1936 noch ihren Friedhof beim IV. Tor durch den Erwerb der sogenannten „Liebfrauengründe“ erweitert, die von der katholischen Liebfrauenkirche in Schwechat erworben wurden. Im Oktober 1939 schrieb Löwenherz 311 Die Wahrheit ist unbesiegbar, o. D., AIKGW, A/VIE/IKG/III/Präs/Rest/3/1. 312 An die Gemeindeverwaltung des Reichsgaues Wien, o. D., AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 313 An die Kanzlei Neuer Friedhof, 19. Juni 1942, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC. Vgl. zu dieser Verordnung den Eintrag: Sara und Israel. Pflicht zu jüdischen Zusatz-Vornamen im 1938 Projekt des Leo Baeck Institute, https://www.lbi.org/1938projekt/de/detail/sara-und-israel/, letzter Zugriff: 31. August 2020.
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an die Stadtverwaltung, dass sich die Kultusgemeinde nun wünschte, „diese Liegenschaft an die Gemeinde Wien für Friedhofszwecke zu verkaufen, […] da sie mit Rücksicht auf die grösse [sic] Zahl der bereits ausgewanderten Juden diese Grundstücke für die Erweiterung des israelitischen Friedhofes nicht mehr benötigen wird“.314 Von den 210.000 Reichsmark, die die Kultusgemeinde im Februar 1940 für den Verkauf der Liebfrauengründe erhielt, wurden aber sofort wieder 128.000 abgezogen, die gemäß dem ursprünglichen Kaufvertrag noch der Liebfrauenkirche in Schwechat geschuldet wurden.315 Im April 1940 versuchte die Stadtverwaltung, einen weiteren Teil des Friedhofs, insgesamt 50.000 Quadratmeter, von der Kultusgemeinde abzukaufen, die allerdings auch Teile der Gruppen 20, 20A, 21 und 22 mit einbezogen, in denen sich bereits Gräber befanden. Auch hätte ein solcher Verkauf lediglich Raum für weitere 21.200 Gräber belassen, das allerdings den Bedürfnissen der damals noch 50.000 in Wien lebenden Jüdinnen und Juden längerfristig nicht entsprochen hätte.316 Anfang Oktober 1941 beschwerte sich Josef Löwenherz überdies bei der Abteilung I/6 der Stadtverwaltung (Liegenschaften), dass das verbleibende Areal beim IV. Tor nach „Arisierung“ der Liebfrauengründe „nur dann – auch bei Berücksichtigung der Auswanderung und Umsiedlung – für die Bestattung der in Wien versterbenden Juden ausreichen [würde], wenn die Möglichkeit, einen, wenn auch geringen Teil beim I. Tor beizulegen, noch einige Zeit gewahrt bleibe“.317 Daraufhin versprach SS-Hauptsturmführer Alois Brunner von der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“, die Kultusgemeinde in ihrem Anliegen, das Beilegungsrecht beim I. Tor zu sichern, zu unterstützen – ein leeres Versprechen, da wenige Monate später dieser Friedhof „arisiert“ und alle weiteren Begräbnisse verboten wurden.318 Was Brunner sowie die Stadtverwaltung nämlich wussten, ist, dass genau eine Woche später die großen Deportationswellen von Wien aus in die Ghettos und Konzentrationslager im besetzten Osten Europas beginnen sollten, mit dem Ziel, Wien in relativer Kürze zur „judenfreien Stadt“ zu machen.319 Das übrig gebliebene Areal beim 314 An den Wiener Magistrat, Abteilung 22, 26. Oktober 1939, AIKGW, A/VIE/IKG/IIII/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/5/8, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 315 An die Amtsdirektion, 23. Februar 1940, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien, diverse Adressen/1/1, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 316 Aktennotiz, 2. April 1940, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/ Österreich/1/3, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 317 Israelitische Friedhöfe, 9. Oktober 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/Österreich/2/5, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 318 Aktenvermerk über eine fernmündliche Unterredung mit Herrn SS O’Stuf. Brunner, 10. Oktober 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/Österreich/2/5, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 319 Vgl. Hecht/Lappin-Eppel/Raggam-Blesch: Topographie der Shoah, S. 435–436.
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IV. Tor sollte fortan also als Bestattungsraum für die nun rasch schwindende Anzahl der in Wien zurückgebliebenen Jüdinnen und Juden vollkommen ausreichen. Im März 1942 versuchte die Stadtverwaltung, einen Teil des Friedhofs in der nordwestlichen Ecke zu „arisieren“, um den angrenzenden Evangelischen Friedhof zu vergrößern. Die Kultusgemeinde reagierte auf diesen Plan proaktiv, fast aufständisch, indem sie die sofortige Bestattung in diesem Areal von dreißig Verstorbenen unternahm, „die zum Zeitpunkt ihres Ablebens keine Angehörigen mehr in Wien hatten“, sowie 15 Ascheurnen, die aus Konzentrationslagern zurückgeschickt wurden (auf das Begräbnis von Ascheurnen kommt das nächste Kapitel zurück). Aufgrund der gesetzlichen Frist bezüglich der Auflassung von Friedhöfen wurde somit die „Arisierung“ vorerst (und, wie sich herausstellen sollte, schließlich dauerhaft) verhindert. Auf diesen Grabstätten, die heute noch in dieser erst in jüngster Zeit zunehmend belegten Ecke des Friedhofs bestehen, wurden in den 1960er-Jahren von der Kultusgemeinde Gedenktafeln errichtet als Dank dafür, dass die Verstorbenen „nach ihrem Tod gleichsam den Bestand eines Teiles des Zentralfriedhofes gerettet haben“.320 Diese Episode ist ein Beispiel der etlichen kleinen Akte des Widerstandes, die die verbleibenden Kultusgemeindemitglieder in diesen Jahren ausübten, während diese Gedenktafeln heute zu den tausenden Shoahdenkmälern groß und klein in diesem Friedhof zählen, die sich dort seit 1945 ausgebreitet haben. Am 13. Juli 1942 verlangte die Gestapo den Verkauf des gesamten Friedhofs beim IV. Tor an die Stadt Wien, doch gelang es Josef Löwenherz dieses Mal tatsächlich, Alois Brunner zu einer Intervention zu überreden, sodass der Friedhof weiterhin, allerdings nach Brunners Auffassung auch nur vorübergehend, der Kultusgemeinde erhalten blieb.321 Doch die Stadtverwaltung gab sich nicht geschlagen: Im Juli 1943 sprach sie wieder ihren Wunsch aus, den Friedhof beim IV. Tor käuflich zu erwerben. Dieses Mal bot sie im Gegenzug den kleinen, bereits Jahre zuvor „arisierten“ jüdischen Friedhof in Klosterneuburg (in Niederösterreich, allerdings zu dieser Zeit in „Groß-Wien“ eingegliedert) an, um als Bestattungsraum für die noch in Wien verbleibenden Jüdinnen und Juden zu dienen. Löwenherz erwiderte, dass dieser Friedhof nicht den „sanitätspolizeilichen Anforderungen“ entspräche, da sich dort keinerlei Einrichtungen für Leichenaufbewahrung bzw. Bestattung befanden. Darüber hinaus würde der Wechsel auf diesen Bestattungsraum einen „ständigen Verkehr von Juden mit dem Kennzeichen“ (dem sogenannten „Judenstern“) zwischen Wien und Klosterneuburg bedeuten. Diese Argumentation war sicherlich nicht zuletzt eine erfolgreiche List von Löwenherz, der sich nun seit Jahren schon der versuchten 320 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Tätigkeit [1964], S. 170. 321 Friedman (Hg.): Dr. Josef Löwenherz, S. 47.
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„Arisierung“ des letzten jüdischen Friedhofs in Wien widersetzte. Löwenherz verwies zuletzt auch auf die Tatsache, dass zu diesem Zeitpunkt etwa 40.000 Quadratmeter beim IV. Tor „mit Gemüse bebaut“ waren, das für die in Wien überlebende jüdische Bevölkerung vonnöten war. Somit wäre eine Enteignung höchst unpraktisch gewesen.322 In den letzten Monaten des Kriegs kam es zu erheblichen Luftangriffen auf Wien, in denen auch der Zentralfriedhof wiederholt getroffen wurde. Insgesamt wurden im allgemeinen Teil des Zentralfriedhofs etwa 12.000 Grabstätten sowie 200 Arkadengrüfte durch Bomben komplett zerstört. Hinzu kamen geschätzte 4.000 Leichen, die nach den Wirren der letzten Kriegstage im Mai 1945 unbestattet herumlagen.323 In den jüdischen Abteilungen wurden insgesamt etwa 2.250 Grabstätten zerstört. Am 12. März 1945, während des schwersten Luftangriffs auf Wien des gesamten Bombenkriegs, wurde auch die bereits sieben Jahre zuvor in den Novemberpogromen schwer beschädigte Zeremonienhalle am IV. Tor von Bomben getroffen.324 Gerade aber der ältere Friedhof beim I. Tor, der mit Ausnahme der Sprengung der dortigen Zeremonienhalle die Shoah relativ verschont überdauert hatte, war nach dem Bombenkrieg kaum mehr passierbar, da die Bomber unter anderem auf die kriegswichtige Aspangbahn zielten, die entlang der südwestlichen Friedhofsmauer hinter der alten jüdischen Abteilung verlief. Es wurde zum Teil sogar am Friedhofsgelände gekämpft, als Einheiten der Roten Armee vom Süden vordrangen, wodurch zusätzliche Grabsteine in Mitleidenschaft gezogen wurden.325 Diese Verwüstungen gelten als letzte direkte Folge des vom „Dritten Reich“ entfachten Vernichtungskriegs, die den alten jüdischen Friedhof beim I. Tor wie die anderen jüdischen Friedhöfe Wiens zu schwer geschändeten und somit tief umstrittenen Erinnerungsorten in der Zweiten Republik machen sollten. 7.8
Schlussbemerkungen
Im Vorwort zum treffend betitelten Sammelband Voll Leben Und Tod ist diese Erde, eines der frühesten Werke in der Zweiten Republik, das die größtenteils
322 An die Geheime Staatspolizei, 20. Jänner 1944, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien, diverse Adressen/3/6, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 323 Havelka: Zentralfriedhof, S. 19. 324 Vgl. An das Friedhofamt der Israelitischen Kultusgemeinde, 10. August 1951 sowie die Antwort hierauf, o. T., o. D., AIKGW, A/VIE/IKG/III/FH/1/2. 325 Vgl. Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Bericht [1948], o. S., Abschnitt „Friedhof und Beerdigungswesen“; Russengräber auf dem jüdischen Friedhof in Wien, in: Iskult – Presse – Nachrichten, 30. August 1955, S. 10–11 sowie Weyr: The Setting of the Pearl, S. 279.
Schlussbemerkungen
zerstörte und weitgehend vergessene jüdische Geschichte und Kultur Österreichs aufzuarbeiten versuchte, schrieb der Publizist Alfred Payrleitner, dass das alte Österreich durch „eine geradezu symbiotische Verbindung der verschiedenen Herkünfte zu einer neuen Gesamtkultur“ hätte führen können – eine Bekräftigung – ein halbes Jahrhundert später – des insbesondere von jüdisch-österreichischen Schriftstellern wie Joseph Roth in der Zwischenkriegszeit so oft heraufbeschworenen Mikrokosmos der europäischen innerhalb der altösterreichischen Kultur. Diesem Kulturexperiment wurde schließlich durch zwei Weltkriege sowie durch Vertreibung und Genozid ein gewaltsames Ende bereitet. Das Ergebnis für Österreich führte Payrleitner in psychologisierender Sprache vor: „Zerstörte Symbiosen enden meist mit der Beschädigung beider Teile. Der Holocaust war auch eine Art Selbstverstümmelung. Man kann sie spüren, wohin man sieht.“326 Im gleichen Band bemerkte ähnlich der in Wien geborene israelische Historiker Walter Grab: „Das Fehlen der Juden macht Wien zu einer ‚Provinzstadt‘, die von nostalgischen Sehnsüchten nach einer nicht wiederkehrenden Vergangenheit lebt.“327 Diese Feststellung stimmt wohl heute noch, betrachtet man die endlosen Ausstellungen und Publikationen zur verklärten „Wiener Moderne“ – sowie inzwischen zur jüdischen Vergangenheit dieses Landes. Joseph Roth, der bereits 1939 in seinem Pariser Exil vor Beginn des Genozids im Alter von nur 44 Jahren verstarb, hatte diese Provinzialisierung vorausgesehen. Wenige Tage nach dem „Anschluß“ diagnostizierte er: 600 Jahre Habsburg konnten nicht ausgelöscht werden von der Stupidität der linken Dogmatiker [die SozialdemokratInnen bzw. KommunistInnen] und der rechten alpinen Trottel [die Christlichsozialen bzw. AustrofaschistInnen]. Jetzt endlich sind sie es. Einer aus Braunau hat es getan. Er hat Österreich verlinzert, also ist es verloren.328
Bezeichnenderweise sah Roth also den Untergang der kosmopolitischen, aus der Habsburgerära geerbten „Weltkultur“ Österreichs nicht nur in der Besetzung des Landes (zu dieser Zeit schon der „Ständestaat“ Österreich) von außen durch NS-Deutschland oder durch irgendeine kulturelle „Verdeutschung“: Der Oberösterreicher Adolf Hitler hatte es geschafft, so Roths These, dass sich Österreich von innen heraus komplett provinzialisierte. Wie in diesem Kapitel anhand der wissenschaftlichen und stadttopographischen Rezeptionsgeschichte der Wiener jüdischen Friedhöfe aufgezeigt wurde,
326 Payrleitner, Alfred: Vorwort, in: Plat, Wolfgang (Hg.): Voll Leben und Tod ist diese Erde. Bilder aus der Geschichte der jüdischen Österreicher (1190–1945), Wien 1988, S. 14. 327 Grab: Das Wiener Judentum, S. 79. 328 Roth: Totenmesse [1938], S. 730.
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war tatsächlich der „Anschluß“ Österreichs an das „Dritte Reich“ gewissermaßen nur ein Katalysator für zutiefst lokale Entwicklungen: Die Impulse zur „Arisierung“, Schändung bzw. Vernichtung jüdischen Kulturguts in Wien – als Teilaspekte des allgemeinen Genozids, der gegen die jüdische Bevölkerung des Landes wie sonst im besetzten Europa verbrochen wurde – gingen durchaus von lokalen AkteurInnen hervor, die sich zum Teil schon lange vor dem „Anschluß“ als ausgesprochene AntisemitInnen bzw. NationalsozialistInnen einen Namen gemacht hatten. Die „Früchte“ der kategorischen Beraubungs- und Vernichtungskampagnen, die in Wien unter anderem gegen die historischen jüdischen Friedhöfe geführt wurden, verblieben auch nach der „Befreiung“ Österreichs (die von der nach wie vor nationalsozialistisch eingestellten Mehrheit der Bevölkerung keineswegs als solche wahrgenommen wurde) weitgehend im Besitz eben jener proaktiv am NS-Genozid beteiligten österreichischen AkteurInnen – die zugleich aber jede Verantwortung für die NS-Verbrechen vehement abwiesen. So verblieben nach 1945 auch die „arisierten“ jüdischen Friedhöfe im Besitz der Stadt Wien und die daraus gestohlenen Artefakte, inklusive Leichenreste, im Besitz von Institutionen wie dem Naturhistorischen Museum. Die verwerfliche Nachgeschichte des Nationalsozialismus in Österreich erklärt neben dem vergangenen Genozid selbst die tiefe Kluft, die sich in den Jahren danach bemerkbar machte zwischen der winzigen jüdischen Gemeinde, die nach 1945 in Wien verblieb bzw. sich hier neu etablierte, und der größtenteils gleichgültig bis feindselig gesinnten nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft. In diesem Kontext ist auch die Stellung der Friedhöfe in der Zweiten Republik zu verstehen: als schwer geschändete Erinnerungsorte, die die schmerzhafte Auseinandersetzung mit der Geschichte von Verfolgung und Ermordung innerhalb der jüdischen Gemeinschaft sowie die anhaltende Vernachlässigung des jüdischen Erbes seitens der nichtjüdischen Gesellschaft greifbar verkörperten. Die Bemühungen seitens der neu etablierten Kultusgemeinde und anderer jüdischer Repräsentativkörperschaften, dieses Erbe nach 1945 restituiert oder entschädigt zu bekommen, zogen sich teils über Jahrzehnte in die Länge. Die Frage, wer für die Instandsetzung der bis heute teils noch verwahrlosten jüdischen Friedhöfe aufzukommen hat, ist immer noch nicht endgültig gelöst. Somit war es ein wichtiges Anliegen in diesem Kapitel, die Kontinuitäten in den Fragen der Wertung und der daraus folgenden selektiven Bewahrung bzw. Vernichtung der Wiener jüdischen Friedhöfe aufzuzeigen, die sich weit zurück ins 19. Jahrhundert verfolgen lassen und sich bis lange nach der NS-Zeit hinziehen. Die Shoah ist somit keinesfalls nur ein „Bruch“, geschweige denn eine Anomalie in der modernen Geschichte Österreichs, sondern die Folge jahrzehntelanger Entwicklungen, deren Nachspiel sich bis heute auf die österreichische Politik und Gesellschaft auswirkt. Beachtenswert ist in dieser langfristigen Per-
Schlussbemerkungen
spektive aber nicht zuletzt die Feststellung einer regen Interaktion zwischen der jüdischen und nichtjüdischen Öffentlichkeit in Bezug auf die jüdischen Friedhöfe vor der gewaltigen Zäsur der Shoah, so etwa in der historischen Forschung sowie in den aufkommenden denkmalpflegerischen Bestrebungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, wodurch jüdische Friedhöfe oft eben genau als Wiener bzw. österreichisches Kulturerbe rezipiert und tradiert wurden. Erst nach 1945 tat sich die gewaltige Kluft auf, wodurch das „Jüdische“ zuerst jahrzehntelang komplett aus der hegemonischen österreichischen Geschichtsschreibung ausgeklammert wurde, dann ab den 1980er-Jahren zwar zunehmend rezipiert, allerdings bis heute meist in völliger Abschottung vom österreichischen historischen Kontext frei nach dem Schema „Tradition/Assimilation“ segregiert, als rein „innerjüdische“ Geschichte behandelt wird. Auf diese Weiterentwicklung bis in die jüngste Zeit im Bereich der Erforschung und der Rezeption der Wiener jüdischen Friedhöfe – wie der Wiener jüdischen Geschichte überhaupt – kommt Kapitel 10 abschließend zurück. Aufgrund der Bombenangriffe gegen Ende des Kriegs wurde ein erheblicher Teil des Archivs der Kultusgemeinde, das bereits 1938/39 zur Erforschung des „Feindes“ nach Berlin verfrachtet worden war, zur sicheren Verlagerung nach Schlesien gebracht. Dieses Archivgut wurde schließlich von der vorrückenden Roten Armee aufgegriffen und nach Moskau abtransportiert, wo es bis heute liegt, aber erst in den letzten Jahren zugänglich gemacht wurde. Was in Wien verblieb bzw. der Kultusgemeinde zurückerstattet wurde, über 10.000 Aktenstücke mit Bezug auf die gesamte überlieferte jüdische Geschichte Wiens, übergab die Kultusgemeinde en gros zwischen den 1950er- und 1970er-Jahren dem neuen Central Archives for the History of the Jewish People (Zentralarchiv für die Geschichte des jüdischen Volkes) in Jerusalem. Ein bis heute andauernder Streit zwischen dem Jerusalemer Archiv und der Kultusgemeinde, die die Rückerstattung dieses beträchtlichen Bestands fordert, dreht sich um die Frage, ob dies als Leihgabe oder Schenkung zu betrachten sei. In den 1980er-Jahren wurde dann auch ein beachtlicher Bestand an Material aus der NS-Zeit im Keller der Kultusgemeinde aufgefunden, der zusammen mit den Nachkriegsdokumenten der Gemeinde den Hauptteil des neu etablierten Kultusgemeindearchivs ausmacht.329 Das historische Erbe der jüdischen Gemeinde Wiens, das größte heute noch erhaltene jüdische Gemeindearchiv der Welt, liegt somit über mehrere Kontinente verstreut, eine Tatsache, die auch die Erforschung ebendieser Geschichte massiv erschwert. Dieses Schicksal, das ja auch das gesamte Konvolut an Material bezüglich der Geschichte der jüdischen Friedhöfe betrifft, steht stellvertretend für die komplexe Dynamik von Wertung, Bewahrung bzw. Vernichtung jüdischen Kulturguts, die die Vertreibung und 329 Vgl. Uslu-Pauer et al.: Das Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, S. 17–19.
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Werten, bewahren, vernichten
Vernichtung von jüdischen Menschen während der Shoah begleitete. Wie in der Frage des Eigentums und der Zuständigkeit über dieses dokumentarische Erbe wird heute ebenfalls noch über die Restaurierung der bzw. Erinnerung an die geschändeten jüdischen Friedhöfe Wiens gestritten. Jene Jüdinnen und Juden, denen es nach dem „Anschluß“ nicht gelang zu fliehen, mussten in Wien während der NS-Herrschaft unter rasch zunehmendem Druck und Zwang ausharren. Die meisten wurden schließlich in Ghettos, Konzentrationslager und Vernichtungsstätten verschleppt und kehrten in der Mehrzahl nicht zurück. Doch setzte sich erstaunlicherweise selbst durch diese schicksalsschweren Jahre ein gewisses Gemeinschaftsleben fort, das mit der zunehmenden Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung aus dem öffentlichen Raum in Wien besonders um den der jüdischen Gemeinde einzigen übrig geblieben Bestattungsraum beim IV. Tor kreiste. Verstärkte die Massenverfolgung der Shoah die herkömmliche Rolle diesen Ortes als „Haus des Todes“, so verwandelte er sich auch in den frühen 1940er-Jahren für eine kurze Zeit in ein „Haus des Lebens“, als einer der einzigen noch gemeinschaftlichen „jüdischen“ Orte Wiens während der NS-Zeit, wo die jüdische Bevölkerung wenigstens vorübergehend noch aufatmen und überleben konnte, wie im nächsten Kapitel behandelt wird.
8.
Haus des Todes, Haus des Lebens. Zwang und (Über-)Leben am Zentralfriedhof Tor IV während der Shoah
Der plötzliche Umbruch zur nationalsozialistischen Herrschaft in Österreich im März 1938 war in Bezug auf die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung bei Weitem gewalttätiger als in Deutschland im Jänner 1933.1 Antijüdische Gesetze, allen voran die Nürnberger Gesetze, die in Deutschland erst über Jahre entstanden, wurden in Österreich praktisch über Nacht in Kraft gesetzt. Die außerrechtlichen Gewaltszenen, die sich während und nach dem „Anschluß“ auf den Straßen Wiens abspielten, am allerbekanntesten die berüchtigten „Reibpartien“, als jüdische WienerInnen gezwungen wurden, die antinazistischen Parolen des austrofaschistischen „Ständestaats“ unter dem Gejohle und den Faustschlägen breiter Teile der Wiener nichtjüdischen Bevölkerung von den Straßen wegzuwischen, stellten im NS-Staat etwas komplett Neuartiges dar. Sie waren die Vorboten eines raschen Wandels durch das Jahr 1938: von der gesetzlichen Ausgrenzung hin zur körperlichen Gewalt, was vorerst in den Novemberpogromen und schließlich in den Jahren darauf im Genozid gipfeln sollte. Die Erschütterung, die dieser Einbruch für die jüdische Bevölkerung Wiens darstellte, zeigt sich allein an der Anzahl jener Menschen, die sich in diesen Wochen aus Verzweiflung das Leben nahmen. Allein im Jahre 1938 begingen den offiziellen Statistiken zufolge 428 Kultusgemeindemitglieder Selbstmord, im Vergleich zu 98 Fällen im Jahr zuvor.2 Diese Statistik schließt nicht jene Personen mit ein, die aufgrund ihrer Verfolgung und Demütigung als „Jüdinnen“ und „Juden“ den Freitod wählten, jedoch nicht Mitglieder der Kultusgemeinde oder überhaupt im Selbstverständnis „jüdisch“ waren. 1939, als die Zahl der Bestattungen am jüdischen Friedhof beim IV. Tor des Zentralfriedhofs aufgrund von Totschlag in Gefängnissen und Konzentrationslagern weiter zunahm, wurde, wie der Historiker George Berkley vorführte, die Zahl der Beerdigungen auf täglich fünf oder sechs beschränkt, „da die Schreie der Trauergäste die Öffentlichkeit störten“. Insgesamt wird die Zahl der Menschen jüdischer Herkunft, die in Wien während der NS-Zeit Selbstmord begingen, auf 1.200 geschätzt.3 Die 1923 in Wien geborene, später in die USA geflüchtete Edith Lewin berichtete in ihren Memoiren, dass ihr 41-jähriger Onkel Robert Mahler am 1 Vgl. grundlegend zum Nationalsozialismus und zur Shoah in Wien: Botz: Nationalsozialismus in Wien; Rabinovici: Instanzen der Ohnmacht sowie Hecht/Lappin-Eppel/Raggam-Blesch: Topographie der Shoah. 2 Hecht/Lappin-Eppel/Raggam-Blesch: Topographie der Shoah, S. 29. 3 Berkley: Vienna and its Jews, S. 265, 290.
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17. März 1938, als die SS vor seiner Tür erschien, Selbstmord beging. Nach seiner Beerdigung, so schilderte Lewin, „als seine zwei kleinen Kinder zum Friedhof gingen, fanden sie, dass Unbekannte seine Grabstätte verwüstet und oben drauf eine Hakenkreuzfahne gepflanzt hatten. Ein Mann ging gerade vorbei, der die Kinder anschrie: ‚Kein Verlust, wenigstens ist das ein Jude weniger‘.“ Robert Mahler liegt beim I. Tor bestattet, in der Grabstelle 50-6-22. Da die Gruppe 50 nah am nichtjüdischen Teil des Zentralfriedhofs und an einem der Hauptwege des Friedhofs liegt, ist es durchaus möglich, dass ein nichtjüdischer Passant zufällig vorbeiging und so etwas schrie. Über Leichenbegräbnisse im Allgemeinen führte Lewin noch an: „Ich muss wohl nicht erwähnen, dass Leute bei Trauerfeiern abgeholt und ins Konzentrationslager verschleppt wurden.“4 Diese Strategie der NS-MachthaberInnen wurde auch in anderen Erfahrungsberichten festgehalten.5 Die jüdischen Begräbnisse selbst hielten in diesen Jahren zudem für die antisemitische NS-Propaganda her, wie die in Wien geborene Shoah-Überlebende Ruth Klüger schilderte: „Die Einfachheit jüdisch-orthodoxer Begräbnisse, zum Beispiel (am besten bloß ein Tuch statt einem Sarg, damit der Leib zur Erde zurückkehren kann) wurde in einer ‚Stürmer‘-Nummer als typisch für jüdischen Geiz und Hang zum Schmutz ausgelegt“.6 Einer der berühmtesten Fälle eines Selbstmords in Wien nach dem „Anschluß“ betrifft den Schriftsteller Egon Friedell. Bereits am Abend des 16. März erschienen zwei SA-Männer in seinem Wohnhaus in der Gentzgasse im 18. Wiener Gemeindebezirk und fragten nach ihm. Daraufhin sprang Friedell, der wie viele Prominente aufgrund ihrer Herkunft oder politischen Gesinnung einen solchen Besuch bereits erwartet hatte, vom Fenster hinunter in den Tod. Zuvor soll er noch mit aller Rücksicht den PassantInnen warnend zugerufen haben: „Treten Sie zur Seite!“ Egon Friedell wurde als „Jude“ verfolgt, war aber Christ. Er wurde in einer inzwischen zum Ehrengrab umgewidmeten Grabstätte am evangelischen Friedhof beim III. Tor des Zentralfriedhofs bestattet (9-1-29). Sein schlichter, schwarzer Grabstein ist mit einem kupfernen Kreuz samt Abbild von Christus mit Dornenkrone verziert. Es begingen schließlich nicht nur Jüdinnen und Juden, bzw. Menschen, die als solche verfolgt wurden, in diesen Tagen Selbstmord: Auch jene, die wichtige Posten im austrofaschistischen Regime bekleidet hatten, sahen mit dem Umbruch keinen anderen Ausweg. Emil Fey zum Beispiel, ehemaliger Major in der k.u.k. Armee und
4 Lewin, Edith: From Vienna to New York 1938–1943, unveröffentlichte Memoiren, o. D., LBI, ME 824, S. 3. 5 So z. B. Pick: The Vienna of the Departed, S. 156. 6 Klüger, Ruth: Weiter Leben. Eine Jugend, Göttingen 1992, S. 52.
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späterer Heimwehrführer sowie ranghoher Politiker in der Regierung von Engelbert Dollfuß, beging in der Nacht auf den 16. März 1938 gemeinsam mit seiner Frau Malvine und seinem Sohn Herbert zu Hause in der Reisnerstraße 21 im 3. Bezirk mit einer Schusswaffe Selbstmord.7 Die Familie wurde in einem gemeinsamen Grab am Zentralfriedhof bestattet (17C-1-10). Nichtsdestotrotz stellte die jüdische Bevölkerung für die NationalsozialistInnen allen anderen in Österreich voran den größten Staatsfeind dar. Wien sollte unter dem von Adolf Eichmann und seinen österreichischen Kollegen entwickelten Entrechtungs- und Vertreibungssystem, wie im vorherigen Kapitel bereits diskutiert, zum Vorzeigemodell für die „Entjudung“ einer „deutschen“ Stadt werden. Bereits am 18. März 1938, nur wenige Tage nach dem „Anschluß“, fand eine Razzia in den Amtsräumen der Kultusgemeinde in der Seitenstettengasse im 1. Bezirk statt, die mitunter dazu diente, das Archiv zu beschlagnahmen. Darin befanden sich akribisch dokumentierte Informationen zu allen Geburten, Ehen und Todesfällen von Kultusgemeindemitgliedern sowie von Ein- und Austritten, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichten und somit zur Identifizierung und systematischen Verfolgung aller in Wien lebenden Jüdinnen und Juden herangezogen wurden, ob „Glaubensjuden“ (tatsächlich jüdische Menschen, Mitglieder der Kultusgemeinde) oder „Nichtglaubensjuden“ (nach Nürnberger Gesetzen als „jüdisch“ definierte Menschen, die aber nicht Kultusgemeindemitglieder oder sonst „jüdisch“ waren), wie sie im NS-Diskurs hießen.8 So wurden bis zum Kriegsausbruch im September 1939 bereits etwa 125.000 der insgesamt rund 200.000 nach den Nürnberger Gesetzen als „Jüdinnen“ und „Juden“ definierte ÖsterreicherInnen (größtenteils WienerInnen) in die Emigration gezwungen. Viele der EmigrantInnen waren wohlhabend, jüngeren Alters bzw. körperlich gesund – hingegen waren viele der Zurückgebliebenen, von denen der Großteil, jüngsten Schätzungen zufolge etwa 66.500 Menschen, schließlich im Zuge der Shoah deportiert und ermordet werden sollte, älter, krank bzw. mittellos.9 Darüber hinaus waren letztere auch überwiegend weiblich: Etwa zwei Drittel der aus Wien als „Jüdinnen“ und „Juden“ deportierten und ermordeten Menschen waren Frauen, von denen wiederum fast die Hälfte über 60 Jahre alt waren. Bezugnehmend auf die Genderhistorikerin Marion Kaplan schrieb die Historikerin Elisabeth Malleier über die Geschlechtsdimension der Shoah: „In den Gaskammern [waren] alle Menschen gleich, doch gab es einen ‚gendered path‘ [gegenderten Weg] bis dort hin.“10 7 Vgl. Weyr: The Setting of the Pearl, S. 76–77. 8 Uslu-Pauer et al.: Das Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, S. 16–17. Vgl. auch Rabinovici: Instanzen der Ohnmacht, S. 69–70. 9 Botz: Nationalsozialismus in Wien, S. 342, 621. 10 Malleier: Jüdische Frauen, S. 144.
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Für die circa 50.000 zurückgebliebenen jüdischen oder als „jüdisch“ verfolgten WienerInnen waren die frühen 1940er-Jahre vom Kampf um das nackte Überleben geprägt – wobei zwischendurch immer wieder flüchtige Momente der „Normalität“ möglich wurden, vor allem in den wenigen Räumen, die der jüdischen Bevölkerung übrig geblieben waren und wohin sie sich relativ unbelästigt zurückziehen konnten, so etwa der jüngste jüdische Friedhof Wiens beim IV. Tor des Zentralfriedhofs. Natürlich war es in vielen Fällen nicht möglich, jüdische WienerInnen bloß vom Äußerlichen als solche zu identifizieren, wenn sie nicht offensichtlich jüdisch-religiöse Tracht oder Frisuren trugen. Gerade dieser Zustand erlaubte vielen, vorerst noch einigermaßen anonym und somit „normal“ in der Stadt unterwegs zu sein. Dieses offensichtliche Paradox, das ihrer „Rassenideologie“ zugrunde lag, überwanden die NS-Behörden schließlich im September 1941 mit der Einführung des „Judensterns“, der die von ihnen frei konstruierte „jüdische Differenz“ sichtlich erfassbar machen sollte und tatsächlich einen weiteren, schlagartigen Einschnitt in die Alltagserfahrung jüdischer oder als „jüdisch“ verfolgter WienerInnen hatte.11 In ihrer einflussreichen Autobiographie schilderte die 1931 geborene und nach den großen Emigrationswellen mit ihrer Mutter in Wien zurückgebliebene Ruth Klüger die Stadt ihrer Kindheit unter dem Zeichen des Hakenkreuzes: „Ich kenne die Stadt meiner ersten elf Jahre schlecht. Mit dem Judenstern hat man keine Ausflüge gemacht, und schon vor dem Judenstern war alles Erdenkliche für Juden geschlossen, verboten, nicht zugänglich.“12 Die Einführung des „Judensterns“ bewirkte auch einen gewaltigen Einschnitt im Leben von tausenden Menschen, die sich selber nicht als „jüdisch“ verstanden, als beispielsweise den als „NichtarierInnen“ verfolgten ChristInnen in vielen Kirchen der Eintritt zur Messe versperrt wurde.13 Bis Ende 1942, als die großen Deportationen aus Wien in die Konzentrationslager und Vernichtungsstätten weitgehend vollendet waren, verblieben nur mehr etwa 8.000 nach den Nürnberger Gesetzen als „jüdisch“ definierte Menschen in Wien, von denen mehr als die die Hälfte sogenannte „nichtarische ChristInnen“, mit anderen Worten eigentlich nichtjüdisch waren, und der Rest größtenteils durch Ehen bzw. Verwandtschaften mit „ArierInnen“ wenigstens vorläufig beschützt war.14 Demzufolge entschloss sich das NS-Regime, die Kultusgemeinde aufzulösen
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Vgl. Hecht/Lappin-Eppel/Raggam-Blesch: Topographie der Shoah, S. 24. Klüger: Weiter Leben, S. 16. Vgl. Hecht/Lappin-Eppel/Raggam-Blesch: Topographie der Shoah, S. 344–345. Vgl. Raggam-Blesch, Michaela: Survival of a Peculiar Remnant. The Jewish Population of Vienna During the Last Years of the War, in: Dapim. Studies on the Holocaust 29/3 (2015), S. 4.
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und durch einen „Ältestenrat der Juden in Wien“ zu ersetzen – in diesem Kapitel wird also der Klarheit wegen für den Zeitraum von November 1942 bis Kriegsende statt „Kultusgemeinde“ der Begriff „Ältestenrat“ verwendet.15 Die Erfahrungen der Wiener Jüdinnen und Juden unter der NS-Herrschaft wurden jüngst in einem umfassenden Band von den HistorikerInnen Dieter Hecht, Eleonore Lappin-Eppel und Michaela Raggam-Blesch aufgearbeitet, der sich zudem auf die stadttopographische Dimension diesen Teils der Wiener jüdischen Geschichte konzentrierte, wobei auch der jüdische Friedhof beim IV. Tor eine wesentliche Rolle spielte.16 Für die Zurückgebliebenen bildete dieser Friedhof nach wie vor den primären gemeinschaftlichen Bestattungsraum, doch diese Grünfläche sollte in den Jahren der Verfolgung darüber hinaus radikal uminterpretiert werden: als ein ausdrücklich verstandener „jüdischer“ Gemeinschaftsraum, einer der letzten Gemeinschaftsräume, der der jüdischen Bevölkerung übrig blieb. Diese Stätte des Todes wurde in diesen Jahren für die (über-)lebenden Jüdinnen und Juden Wiens im wahrsten Sinne zu einem beit cha’im, einem „Haus des Lebens“, wie der jüdische Friedhof seit jeher im Hebräischen in einem aus Hiob 30,23 abgeleiteten Euphemismus bekannt ist (siehe hier Kapitel 2). Wurde die Geschichte der restlichen jüdischen Friedhöfe in Wien während der Shoah weitgehend von externen Kräften bestimmt, wobei die Kultusgemeinde, wenn überhaupt, eine marginale Rolle spielte, so weist die Situation beim IV. Tor in den frühen 1940er-Jahren ein dynamisches Zusammenspiel von Zwang und Widerstand, Leben und Überleben sowie selbstverständlich Tod und Trauer seitens der zurückgebliebenen jüdischen Gemeinschaft auf. In einem Band zum Konzept von „jüdischen Räumen“ schrieb der Historiker Frank Golczewski in Anlehnung an die klassische Raumtheorie, dass „Raum“ meist mit dem Potenzial der „Gestaltung, Definition und Organisation“, also mit einer gewissen Handlungsfreiheit assoziiert wird. Es mag demnach seltsam erscheinen, im Kontext der Shoah – die von Zwang, Hilflosigkeit und Massenmord geprägt war – von der Schaffung von „jüdischen Räumen“ zu sprechen. Doch gerade im Hinblick auf die neu geschaffenen „jüdischen“ Räume in diesen Jahren wie Ghettos und Lager, im Wiener Kontext auch Sammelwohnungen – obwohl diese Räume durch die NS-Behörden mit Zwang geschaffen wurden und längerfristig nicht dem Zwecke jüdischen Lebens dienen sollten – entwickelten sie sich Golczewski zufolge durch die Handlung, wenngleich
15 Vgl. Weyr: The Setting of the Pearl, S. 206. 16 Hecht/Lappin-Eppel/Raggam-Blesch: Topographie der Shoah, insb. S. 308–321.
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beschränkt, und die Erfahrungen der dort lebenden jüdischen Akteure zu historisch einzigartigen „jüdischen Räumen“.17 Das Gleiche gilt für Grünflächen wie Gärten und Parks – sowie signifikanterweise jüdische Friedhöfe – die während der Shoah seitens der jüdischen Bevölkerung eine markante Umnutzung erfuhren und somit eine gewisse Umdeutung als „jüdische Räume“.18 Der Nationalsozialismus präsentierte sich unter anderem als Verfechter eines „Naturschutzgedankens“, den er gleichzeitig den „Juden“ (im abstrahierten, „völkischen“ Sinne) mit der Behauptung abstritt, sie hätten in ihrer vermeintlichen Entwurzeltheit über die Jahrhunderte keine sinnstiftende Beziehung zum Land entwickelt. Die Vermengung solcher Vorstellungen der NS-Rassenhygiene mit der NS-Bevölkerungspolitik zeigte sich beispielsweise in Österreich schon bald nach dem „Anschluß“ mit dem Ausschluss von Jüdinnen und Juden aus öffentlichen Grünanlagen. Doch selbstverständlich waren Grünflächen für Jüdinnen und Juden überall im „Dritten Reich“ – gerade in dieser Zeit der zunehmenden Verfolgung im öffentlichen Raum – wichtige „Orte der Hoffnung“ sowie „Stätten der Zuflucht und des Verstecks“.19 Dieses Kapitel zeigt, wie sich im Zusammenspiel von Zwang und Überleben während der Shoah auch die Wahrnehmung der Wiener jüdischen Friedhöfe als „jüdische Räume“ und damit einhergehend ihre Bedeutung als jüdische Gemeinschaftsorte wandelte und verschärfte. Da ja die Verstorbenen von Gemeinschaften, die sich in einem Prozess der raschen Auflösung befinden, nach wie vor bestattet werden müssen, wurde der Friedhof beim IV. Tor durch die gesamte NS-Ära weiterhin als Bestattungsraum geführt, wobei der zunehmende Zwang des NS-Verfolgungsapparats greifbar auf die Wiener jüdische Sepulkralkultur einwirken sollte. Dies zeigte sich bereits in den ersten Jahren der NS-Herrschaft in einer Flut von Urnen von verstorbenen Kultusgemeindemitgliedern, die aus den Konzentrationslagern zurück in die Heimatgemeinde geschickt wurden, um dort bestattet zu werden. Ab 1941 gelangten zudem aufgrund von NS-Verordnungen auch jene Verstorbenen, die bloß nach den
17 Golczewski, Frank: A Jewish Space in an Extreme Context? German Ghettoes for Jews in Eastern Europe during World War II, in: Gromova, Alina/Heinert, Felix/Voigt, Sebastian (Hg.): Jewish and Non-Jewish Spaces in the Urban Context, Berlin 2015, S. 103. 18 Vgl. Fischer, Hubertus/Wolschke-Bulmahn, Joachim: Places of Refuge, Places of Persecution. Gardens and Parks during the Nazi Era – A Neglected Area of Research, in: Fischer, Hubertus/Wolschke-Bulmahn, Joachim (Hg.): Gärten und Parks im Leben der jüdischen Bevölkerung nach 1933, München 2008, S. 37, 55. 19 Benz, Wolfgang: Parks und Gärten im Holocaust. Freiräume – Zuflucht – Verbotene Orte – Mordstätten, in: Fischer, Hubertus/Wolschke-Bulmahn, Joachim (Hg.): Gärten und Parks im Leben der jüdischen Bevölkerung nach 1933, München 2008, S. 71, 78.
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Nürnberger Gesetzen als „Jüdinnen“ und „Juden“ galten, beim IV. Tor zur Bestattung, was nachträglich sowohl das Erscheinungsbild wie das Verständnis innerhalb der jüdischen Gemeinschaft des Friedhofs verändern sollte. Nicht zuletzt machte sich der Massentod gegen Kriegsende dadurch bemerkbar, dass hunderte umgekommene jüdische ZwangsarbeiterInnen aus Ungarn beim IV. Tor bestattet wurden, viele von ihnen in Massengräbern. Der Berg an Verordnungen, die seitens des Leiters des Friedhofamts, Ernst Feldsberg, in diesen Jahren erlassen wurden, und der freilich als Reaktion auf die Zustände der Zeit verstanden werden muss, verrät zugleich eine beispiellose Zentralisierung der gesamten Sepulkralpraxis beim IV. Tor, nach 1941 der einzige noch aktive Bestattungsraum der jüdischen Gemeinde, und die zunehmende Ausübung einer hegemonischen Kontrolle seitens des Friedhofamtes über alle Fragen der Wiener jüdischen Sepulkralkultur. Diese Verschärfung von Verordnungen und die damit einhergehende Vereinheitlichung der Praxis sollte sich in den Nachkriegsjahren fortsetzen und in einer recht eng und orthodox gefassten Sepulkralkultur unter der Wiener Judenheit der Nachkriegszeit münden, die zugleich als Rückzugserscheinung infolge der erlittenen Verfolgung gedeutet werden kann. Der Beginn diesen Rückzugs in einer verklärten jüdischen Vergangenheit bereits während der Shoah wird hier nicht zuletzt anhand einer Reihe von belletristischen Auseinandersetzungen mit dem jüdischen Friedhof beleuchtet – ob als abstrahierter Raum oder in explizitem Bezug auf den Friedhof beim IV. Tor. Schließlich wurde diese Grünfläche draußen am Rande des 11. Bezirks unter der zunehmenden Ausgrenzung der zurückgebliebenen jüdischen Bevölkerung auch zu einem wichtigen Erholungsort, für manche sogar zum Versteck und Zufluchtsort, was wohl am deutlichsten die Umdeutung des Friedhofs in dieser Zeit zu einem „Haus des Lebens“ veranschaulicht, die mit diversen Auseinandersetzungen mit der „Jüdischkeit“ an diesem Ort einherging. Ein wesentlicher Teil dieses Kapitels analysiert diesbezüglich Tagebücher, Memoiren und Photographien, die vom Alltagsleben jüdischer Jugendlicher am Zentralfriedhof in den Sommermonaten der frühen 1940er-Jahre berichten. Diese faszinierende aber weitgehend unbekannte Geschichte des Friedhofs beim IV. Tor als vorübergehendes „Haus des Lebens“ sowie andererseits die Geschichte des Zwangs und der Verfolgung, die hier greifbar wurde, erklären zu einem wesentlichen Grad den Stellenwert des Friedhofs nach der Shoah für das Gedenken und die Verarbeitung der erlittenen Traumata unter den Überlebenden. Der Historiker Herbert Rosenkranz schrieb in seinem frühen Werk zur Geschichte der Shoah in Wien: „Im Auflösungsprozeß der Gemeinde kreist das Pietätsgefühl um so stärker um den ‚guten Ort‘“ – den Friedhof.20 In anderen 20 Rosenkranz: Verfolgung und Selbstbehauptung, S. 202.
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Teile des vom „Dritten Reich“ besetzten Europas, beispielsweise Polen, waren aber die Zustände von Beginn der Besatzung an so verzweifelt und tödlich, dass über das nackte Überleben hinaus der ordentlichen Bestattung der Toten nur mehr wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Eine Aktennotiz des „Judenrats“ in Warschau bemerkte beispielsweise 1942, dass „die grundlegende Ordnung der Ethik und der Tradition mit Hinsicht auf verstorbene Jüdinnen und Juden, die seit tausenden Jahren vom Volk Israels ausgeübt wurde, innerhalb kürzester Zeit gebrochen wurde“.21 So wurden beispielsweise im Ghetto die Leichen verstorbener Angehöriger oft anonym in der Straße deponiert, sodass die Familie weiterhin zum Überleben deren Lebensmittelkarten beziehen konnte, als würden die Toten noch leben.22 Der Grad mit dem die Wiener Kultusgemeinde in den Jahren der Verfolgung ihre tradierten Praktiken und die Ordnung ihrer Sepulkralkultur am Zentralfriedhof aufrechterhielt und diesen Raum zeitweise als Zufluchts- und Gemeinschaftsort für ihre verbleibenden Mitglieder betrieb, ist vergleichsweise umso erstaunlicher. 8.1
Betrieb und Benützung der jüdischen Abteilungen am Zentralfriedhof während der Shoah
So lange Jüdinnen und Juden in Wien noch lebten und verstarben, bestand die Notwendigkeit eines Bestattungsraumes fort, und da es aufgrund des hohen Alters und der zunehmend schlechten Lebensbedingungen unter den Zurückgebliebenen in den Jahren der NS-Herrschaft verhältnismäßig viele Todesfälle gab, überrascht es nicht, dass der Friedhofsbetrieb nicht bloß seinen gewohnten Gang ging, sondern neben der Förderung der Auswanderung und der Fürsorge in diesen Jahren sogar zu einem der wichtigsten Aufgabenbereiche der Kultusgemeinde zählte. Im Frühjahr 1940, zum Beispiel, als über die Hälfte der jüdischen Bevölkerung bereits ins Ausland geflüchtet war, verstarben in Wien dennoch monatlich in der Regel zwischen 300 und 350 Kultusgemeindemitglieder.23 1943 gab es noch insgesamt 318 Bestattungen am Friedhof beim IV. Tor, bei einer „jüdischen“ Bevölkerung von nur etwa 6.000 (inklusive jener, die den Nürnberger Gesetzen zufolge als „NichtarierInnen“ verfolgt wurden und zu dieser Zeit am jüdischen Friedhof bestattet werden mussten). Die Zahl der Bestattungen sollte sich sogar im Jahr darauf fast verdoppeln aufgrund 21 Memoriale do Przewodniczącego Rady Żydowskiej, 31. März 1942, zit. nach der Dauerausstellung des Muzeum Historii Żydów Polskich, POLIN. 22 Vgl. Klajman, Jack/Klajman, Ed: Out of the Ghetto, London 2000, S. 16–17. 23 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Twelve Questions about Emigration from Vienna, Wien 1940, o. S.
Betrieb und Benützung der jüdischen Abteilungen am Zentralfriedhof während der Shoah
der Deportation von jüdischen ZwangsarbeiterInnen aus Ungarn in die Umgebung von „Groß-Wien“ und der großen Sterblichkeitsrate, die unter ihnen herrschte.24 Im Folgenden wird der Alltagsbetrieb des Friedhofsamts der Kultusgemeinde während der Shoah dargestellt, der sich bis 1942 vorwiegend, infolge der „Arisierung“ der restlichen Wiener jüdischen Friedhöfe dann ausschließlich, auf das IV. Tor beschränkte. Es wird gezeigt, wie eine Anstellung am Friedhof kurzfristig eine Beschäftigung und eine gewisse „Normalität“ erzeugte, mittelfristig einen Schutz vor der Deportation bedeutete, jedoch langfristig die meisten Angestellten nicht vor der Vernichtung bewahren konnte. Gleichzeitig wird gezeigt, wie in diesen Jahren Ernst Feldsberg – der zum 1. November 1938, also bereits unter NS-Aufsicht, zum Leiter des Friedhofsamts ernannt wurde – begann, eine strengere Ordnung in der jüdischen Sepulkralpraxis in Wien einzuführen, die er dann auch unter seine zunehmende Kontrolle brachte.25 Dabei wurde auch ein stets partikularistischeres Verständnis der „Jüdischkeit“ in den Friedhofsbetrieb eingeführt, Ausdruck eines breiteren Wandels im Selbstverständnis der jüdischen Gemeinde in diesen Jahren der Verfolgung. Darüber hinaus wird hier die Benützung von Kultusgemeindemitgliedern beider Abteilungen des Zentralfriedhofs als Zufluchtsort und Versteck vor der Deportation aufgezeigt. In diesem Zusammenhang wird abschließend ein einzigartiges, aber weitgehend von der Nachwelt unbeachtetes Shoahdenkmal beim I. Tor vorgeführt, das die Todesängste der jüdischen Bevölkerung dokumentiert sowie den Schutz und Trost, den sie nach dem „Anschluß“ bei den alten jüdischen Friedhöfen suchten. Charles Kapralik, ein Kultusgemeindebeamter, der nach Beginn der NSHerrschaft in Wien zurückblieb, um die für die Auswanderung wichtige Devisenabteilung der Kultusgemeinde zu leiten, beschrieb in seinen Memoiren die Neuorganisation der Kultusgemeinde und ihrer Tätigkeiten nach ihrer Wiedereröffnung infolge der SS-Razzia im März 1938, nunmehr unter der direkten Kontrolle von Adolf Eichmanns „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“: Die „neue“ Kultusgemeinde versuchte in den ersten Monaten ihr altes Gebiet – Kultus, Gottesdienst, Unterricht – nicht ganz in den Hintergrund treten zu lassen […]. Doch die Tatsachen waren staerker als der beste Willen. Unausweichlich konzentrierte sich die Tätigkeit auf Auswanderung und Fuersorge. Vom alten Taetigkeitsgebiet verblieb schliesslich nur der Friedhof.26
24 Vgl. Hecht/Lappin-Eppel/Raggam-Blesch: Topographie der Shoah, insb. S. 514. 25 Zu Ernst Feldsberg, vgl. Adunka, Evelyn: Die vierte Gemeinde. Die Wiener Juden in der Zeit von 1945 bis heute, Wien 2000, S. 241–246. 26 Kapralik, Charles: Wien 1938/39, unveröffentlichte Memoiren, 1972, LBI, ME 352, S. 8–9.
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Die Einnahmen aus dem Friedhofsamt – hauptsächlich durch den Vertrieb von Grabstätten der höheren Klassen sowie den „Fremdenzuschlag“ für die Bestattung von Verstorbenen, die nicht der Kultusgemeinde angehörten (siehe hier Kapitel 6) – fielen dramatisch in den Monaten nach dem „Anschluß“, von knapp 111.000 Reichsmark im Mai auf bloß 44.000 im September 1938, obwohl die Anzahl der Bestattungen durchgehend hoch blieb, zeitweise sogar zunahm. Bis auf das Folgejahr beliefen sich die Kosten stets auf etwa 40.000 Reichsmark im Monat und stellten somit durchgehend eines der größten Kostengebiete der Kultusgemeinde dar. Dies war eine direkte Folge der Tatsache, dass bis Herbst 1938 bereits etwa 40.000 Kultusgemeindemitglieder, insbesondere die Wohlhabenden, emigriert oder geflüchtet waren, während die Verstorbenen zunehmend Armenbegräbnisse erhielten.27 Einen Einblick in die Kosten- und Einnahmenberechnung der Friedhofsverwaltung zu dieser Zeit gewährt der undatierte „Tarif der Gebuehren und Taxen“, der als Anhang zur unten ausführlicher besprochenen Friedhofsordnung des „Ältestenrats“ angeführt wurde und somit vermutlich aus dem Jahre 1943 stammt. Dieser listet Funktionsgebühren (also das Rezitieren von Gebeten und ähnliche Bestattungsfunktionen) in Höhe von 60 Reichsmark in der ersten Klasse bis 6,67 Reichsmark in der vierten. Bei Begräbnissen der fünften Klasse, der Armenklasse, gab es keine Funktionen. Ein „einf[acher] Weichholzsarg“ kostete 10 Reichsmark, ein Eichensarg aber schon 150 und ein Metallsarg sogar 200. Grabsteine kosteten zwischen 9,33 und 98,33 Reichsmark, je nach Klasse, Typ und Dimensionen sowie der Frage, ob die Einfassung im Preis inbegriffen war oder nicht. Gruftmonumente in der ersten Klasse kosteten bis zu 253,33 Reichsmark und Deckplatten aus Granit bis zu 106,67. Ergänzungen von Inschriften auf bestehenden Grabsteinen kosteten je nach Klasse zwischen 3,33 und 16,67 Reichsmark.28 Die große Bandbreite an Preisen je nach Klasse deutet nicht nur auf die variable Opulenz der Grabstätten, sondern auch auf ein Finanzierungsmodell, wonach die reicheren Schichten die Bestattung der ärmeren Kultusgemeindemitglieder mitfinanzierten. Hingegen wurden die Kosten für Beisetzungen beim I. Tor „fallweise“ kalkuliert. Bestimmte Grabarbeiten, wie beispielsweise Exhumierungen, wurden „je nach den Vermögensverhältnissen“ berechnet.29 In der ersten Hälfte des Jahres 1944 gab der „Ältestenrat“ noch knapp über 20.000 Reichsmark für die Friedhofsverwaltung aus, inklusive Besoldung der 27 Vgl. The Household of the Jewish Community Vienna for the Months of September and October 1938, o. D., CAHJP, A/W 2. 28 Tarif der Gebuehren und Taxen, o. D., AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCVVCC. 29 Tarif für Taxen und Gebühren, September 1940, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/4/4.
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Angestellten.30 Einzelne Begräbnisse beliefen sich zu dieser Zeit pauschal auf insgesamt 73,11 Reichsmark, worin die Grabstätte, deren Aushebung, die Funktionsspesen (für den Rabbiner oder Kantor), die Papierwäsche (kriegsbedingte Leichenbekleidung), die Besoldung der Leichenwäscher und Leichenträger, ein Friedhofserhaltungsbeitrag und ein Holzsarg beinhaltet waren.31 Auffälligerweise, wie aus den Tariflisten des Friedhofsamtes hervorgeht, gab die Kultusgemeinde noch im Herbst 1940 ihre Verstorbenen auf Verlangen zur Feuerbestattung frei und nahm die Bestattung der Ascheurnen in ihrem Friedhof vor – zu einer Zeit, als bereits hunderte Ascheurnen von umgekommenen oder ermordeten Jüdinnen und Juden aus Konzentrationslagern eingetroffen waren (wie unten ausführlicher besprochen wird), die Massenverbrennung der Ermordeten in Vernichtungslagern jedoch noch nicht begonnen hatte. Nach der Shoah sollte die Feuerbestattung innerhalb der jüdischen Sepulkralpraxis zwar verständlicherweise weitgehend zum Tabu werden, doch fanden Feuerbestattungen auch nach der Shoah weiterhin in der Wiener Kultusgemeinde statt, wie im folgenden Kapitel erläutert wird. Für die Einbettung in einem „rituelle[n] Sarg“ sowie für die „rituelle Waschung“ und den „Transport ins Krematorium“ verrechnete jedenfalls die Kultusgemeinde um 1940 eine Pauschalgebühr von 66,67 Reichsmark, wenn die Arbeit tagsüber erfolgte, und 100 Reichsmark, wenn sie nachts erfolgte. Für die Abholung der Urne von der Feuerhalle wurden weitere 4 Reichsmark verrechnet. Die Bestattung der Urnen erfolgte „ohne [religiöse] Zeremonie, jedoch zu den gleichen Tarifsätzen wie für Leichen, unter Einrechnung des Tarifes für die Zeremonie“.32 Nachdem sämtliche jüdische Bestattungsfirmen – Steinmetze, Sarghersteller und dergleichen – „arisiert“ oder liquidiert wurden, sah sich die Kultusgemeinde gezwungen, alle ihre Facharbeiten in ihren Friedhöfen bei nichtjüdischen Firmen in Auftrag zu geben. Die zwei größten Vertragsfirmen des jüdischen Bestattungswesens waren zur Zeit des „Anschlußes“ die Firmen Sonnenschein und Wulkan & Neubrunn, wie die Verbreitung dieser Namen auf den Sockeln vieler alter Grabsteine beim Zentralfriedhof veranschaulicht. Beide dieser sich im jüdischen Eigentum befindlichen Firmen wurden 1940 „arisiert“ bzw. aufgelöst, wonach die Kultusgemeinde alleine auf „arische“ Firmen für die Lieferung und Bearbeitung ihrer Grabsteine angewiesen war.33 Im Frühjahr 1941 beschwerte sich die Kultusgemeinde bei der „arischen“ Steinmetzfirma Langer, 30 Gesamtausgaben der Friedhofsverwaltung und Zentralfriedhof vom 1. Jänner 1944 bis 30. Juni 1944, AIKGW, A/VIEIKG/II/BUCH/FH/FRIEDHOFSANGELEGENHEITEN, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 31 Mitteilung, 28. August 1944, AIKGW, A/VIEIKG/II/BUCH/FH/FRIEDHOFSANGELEGENHEITEN, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 32 Tarif für Taxen und Gebühren, September 1940, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/4/4. 33 Vgl. den Bestand in AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/4/3.
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ansässig im Rennweg 110 im 3. Bezirk, weil der in Auftrag gegebene Grabstein für Julius Kral noch nicht fertig war (Grabstelle unbekannt – die einzigen zwei Verstorbenen mit diesem Namen in der Friedhofsdatenbank sind bereits 1881 bzw. 1890 verstorben). Die Firma Langer antwortete, dass sie „mit allen [ihren] Arbeiten schon monatelang im Rückstande“ sei, und erwiderte weiter: Wenn wir nun mit Lieferungen für Arier nicht nachkommen können, so können wir unmöglich eine Lieferung für den jüdischen Friedhof bevorzugen, umsomehr als es sich bei Grabsteinen überhaupt nicht um lebenswichtige Dinge handelt. Diese Argumente werden auch dem staatl[ichen] Verwaltungs Ref[erat] Ia genügen. Wir haben sicherlich kein Interesse uns einen alten jüdischen Grabstein aufzubewahren.34
Der herablassende und zweifellos antisemitisch intendierte Ton dieses Schreibens dürfte zu dieser Zeit seitens der nichtjüdischen Bevölkerung gang und gäbe gewesen sein, doch zögerte die Firma Lange zugleich nicht, das Geld der jüdischen Gemeinde einzukassieren. Die Kultusgemeinde war wiederum zwangsweise auf solche Firmen für die an ihrem Friedhof benötigten Arbeiten angewiesen. Beim Hinweis auf das „staatl[iche] Verwaltungs Ref[erat] Ia“ handelt es sich vermutlich um die Abteilung für allgemeine und innere Angelegenheiten des Reichsstatthalters.35 Hier drohte offensichtlich die Firma, sich an die politische Obrigkeit zu wenden, sollte sich die Kultusgemeinde weiter über ihren als wertlos konnotierten „alten jüdischen Grabstein“ beschweren. Ab 1942 verrichtete scheinbar nur mehr die „arisierte“ Firma Sonnenschein Steinmetzarbeiten für die Kultusgemeinde.36 Indes wurden die Holzsärge, die beim IV. Tor Verwendung fanden, ausschließlich vom „arischen“ Tischlermeister Josef Wachter, ansässig in der Schumanngasse 86 im 17. Bezirk, hergestellt.37 Spätestens im Sommer 1941 beschloss das Friedhofsamt, dass „die auf den [diversen jüdischen] Friedhöfen gesammelten alten Steine, insbesondere alte Steine vom Währinger Friedhof auf einem gemeinsamen Sammelplatz geschafft und dort bearbeitet werden“ sollten. Mit anderen Worten begann die Kultusgemeinde, alte Grabsteine zu schleifen und wieder zu verwenden, wobei es sich größtenteils um jene handelte, die aus dem Währinger Friedhof im Vorfeld 34 An das Friedhofsamt der Israelitischen Kultusgemeinde, 17. April 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 35 Ich danke Verena Pawlowsky für diesen Hinweis. 36 Dies geht aus dem folgenden Brief hervor: An Herrn Hans Lonner, 12. Februar 1942, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC. Darin bat Hans um die Errichtung eines Denkmals auf der Grabstätte seiner bereits 1915 bzw. 1922 verstorbenen Eltern Elsa und Emil beim I. Tor (52-54-31). Hans wurde über Theresienstadt nach Lublin deportiert und ist in der Shoah umgekommen. 37 An Herrn Josef Wachter, Tischlermeister, 17. Juni 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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der Aushebung des südöstlichen Teils für den Bau eines Luftschutzbunkers geräumt wurden (siehe hier Kapitel 7). Der „Verkauf dieser Grabsteine“ sollte „bei weitem die Kosten der aufgewendeten Arbeiten übersteigen“. Somit erhoffte sich die Kultusgemeinde einen Gewinn durch diese Wiederverwendung, der der notdürftigen Finanzierung der Friedhofsverwaltung zugutekommen würde.38 Im Sommer 1942 plante die Kultusgemeinde, für den 1938 verstorbenen Jakob Laufer beim IV. Tor (21-32-27) einen Ehrengrabstein zu errichten aufgrund der „Verdienste des Verstorbenen“, die hier aber nicht näher genannt wurden.39 Es wurde hierfür „aus unseren alten Beständen eine Mazewe [ein Grabstein] mit der alten Inschrift Moritz Bramer“ verwendet, die geschliffen und neu beschriften wurde. Die Kosten übernahm die Kultusgemeinde.40 Hierbei handelte es sich vermutlich um den Grabstein des 1874 verstorbenen und im Währinger Friedhof bestatteten Moriz Brammer, dessen Grabstelle heute als „IV. Tor 22-0-0“ angegeben wird. Somit war Brammer einer jener circa 2.000 Menschen, deren Leichen im Vorjahr aus dem Währinger Friedhof exhumiert und in einem Massengrab beim IV. Tor in der Gruppe 22 verscharrt wurden. Die Kultusgemeinde verwendete auch alte marmorne Namenstafel aus diesen „Beständen“, die auf speziell angefertigten Eisengestellen angebracht wurden, so beispielsweise im Juli 1942 auf dem Grab des kürzlich zuvor verstorbenen Fritz Langfelder (15-2-23).41 Anfang 1942 widmete sich Feldsberg auch erstmals dem Gedanken, ein Denkmal für die aus dem Währinger Friedhof überführten Verstorbenen zu errichten, das ebenfalls aus einem „Grabstein aus den alten Beständen des Währinger Friedhofes“ geschaffen werden sollte. Als Inschrift schlug er vor: „Ruhestätte der ehemals auf dem alten Währinger Friedhofe Beerdigten“. Auffällig ist hier die Abwesenheit jeglicher Kontextualisierung – unter der andauernden NS-Herrschaft wäre dies undenkbar gewesen, doch sollten sich ebensolche Denkmäler zur Erinnerung an die Schändung der Friedhöfe, sowie an die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung insgesamt, nach 1945 rasch auf dem Friedhof verbreiten.42 In den Akten aus den Jahren 1944/45 werden keine neu produzierten Grabsteine mehr erwähnt. Es kann also davon ausgegangen werden, dass zu dieser Zeit nur mehr alte Grabsteinbestände wiederverwendet wurden. 38 An die Amtsdirektion, 29. Juli 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/II/PERS/6, zit. in USHMM, AJCVVCC. 39 Aktennotiz, 29. Juni 1942, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 40 An die Kanzlei Neuer Friedhof, 22, April 1942, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 41 An die Kanzlei Neuer Friedhof, 29. Juli 1942, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 42 Mitteilung, 5. Februar 1942, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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Es gab auch tausende Grabstätten aus der NS-Zeit, die keinen Grabstein erhielten, vermutlich weil die Verstorbenen mittellos waren bzw. weil alle ihre Angehörigen flüchteten, bevor sie die Gelegenheit hatten, die Errichtung eines Denkmals zu organisieren, da bis heute Grabsteine in der Kultusgemeinde in der Regel erst ein Jahr nach Bestattung errichtet werden. Viele Grabstätten in der Gruppe 22 in der südöstlichen Ecke des Friedhofs beim IV. Tor stammen beispielsweise aus den ersten Monaten und Jahren nach dem „Anschluß“, inklusive Reihen, in denen die Todesdaten dicht aufeinander folgten, zum Beispiel: Albert Grünwald (22-46-27; gestorben 25. Juni 1938), Marie Winkler (22-46-28; gestorben 28. Juni 1938), Salomon Brezner (22-46-29; gestorben 28. Juni 1938) und so weiter. Die ersten beiden sind in der Friedhofsdatenbank auffindbar, woraus ersichtlich wird, dass es sich hier um Todesfälle im hohen Alter (84 bzw. 86) handelte. Bei einigen dieser dicht aufeinander folgenden Bestattungen wird es sich aber auch um die Leichen jener Menschen handeln, die in den ersten Monaten nach dem „Anschluß“ Selbstmord begingen. Ab den 1970er-Jahren begann die Chewra Kadisha etappenweise und in großangelegten und bis heute andauernden Aktionen, an diesen Grabstätten wie an vielen weiteren, die keine Grabdenkmäler besaßen, einfache Steine zu errichten. Die Wichtigkeit des Friedhofbetriebs während der Shoah zeigt sich auch in der beständig hohen Zahl der Angestellten, obgleich es im Friedhofsbetrieb infolge von Flucht und Deportation sowie der Zwangskündigung von „arischen“ Angestellten auch zeitweise einen Mangel an Arbeitskräften gab. Im Frühjahr 1939 arbeiteten insgesamt 29 Angestellte in den beiden jüdischen Abteilungen des Zentralfriedhofs: drei Mitglieder der Chewra Kadisha, sieben allgemeine Friedhofsdiener, sieben Aushilfsleichenträger, von denen vier auch den „Leichenwachdienst“ ausführten, und zwölf Beisetzer (alle hier zur Einfachheit im generischen Maskulinum ausgedrückt – die Geschlechtsverhältnisse sind in den Akten nicht immer ersichtlich).43 Die Rolle der Leichenwächter, wie der Name schon andeutet, war lediglich, „während der Zeit der Dunkelheit“ anwesend zu sein, um die Leichen aus Pietätsgründen nicht alleine zu lassen. Die Leichenwächter hatten bei Sonnenuntergang den Dienst anzutreten und wurden bei Sonnenaufgang wieder entlassen.44 1940 wuchs dann die Anzahl von Friedhofsangestellten auf insgesamt 83, inklusive Ernst Feldsberg (Leiter des Friedhofamtes), Arthur Reichmann (Leiter der Kanzlei) und Theodor Schreiber (Friedhofswärter in Währing). Dazu kamen mehrere Leichenträger, Sichler,
43 Verzeichnis der Friedhofsangestellten, 24. März 1939, AIKGW, A/VIE/IKG/II/PERS/6, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 44 An die Kanzlei Neuer Friedhof, 30 August [1940], AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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Beamte, Hilfsarbeiter und Leichenwäscher.45 Dieser Anstieg erklärt sich durch die Anlage im Sommer 1940 des unten eingehender besprochenen „Grabelandes“ beim IV. Tor sowie die allgemeine Tendenz, die nun vielfach arbeitslos gewordenen Kultusgemeindemitgliedern wo immer möglich intern zu beschäftigen, wobei der Friedhof zu einem der Haupttätigkeitsbereiche wurde, zumal von der Außenwelt relativ ungestört. Eine Anstellung am Friedhof war nicht unbedingt lukrativ, vielmehr diente sie den verfolgten Kultusgemeindemitgliedern als Beschäftigung und, als die Deportationen in den Osten begannen, als Schutz. Der 1941 angestellte Leichenwächter Hermann Rubinstein verdiente beispielsweise gerade einmal 60 Reichspfennig pro Stunde – das entspricht heute etwa 15 Eurocent.46 Nichtsdestotrotz gab es stets einen Arbeitskräftemangel an den Friedhöfen, insbesondere zu Zeiten, wo eine erhöhte Arbeitslast bevorstand, etwa bei Schneeräumungen im Winter oder Rodungen im Sommer. So wurden zu bestimmten Jahreszeiten Aushilfskräfte angeheuert, um die notwendigsten Großarbeiten an den Friedhöfen zu verrichten. Am 6. Juni 1939 wurden beispielsweise mehrere ArbeiterInnen für 60 Reichspfennig die Stunde zum Absicheln der „vollkommen verwahrlosten und durch Gras überwucherten Gräber“ auf Zeit angestellt – ein Problem, das bis heute alljährlich im Frühsommer in beiden jüdischen Abteilungen des Zentralfriedhofs sowie am Währinger Friedhof auftritt.47 Der Winter 1939/40 war besonders hart. Das Erdreich war auf bis zu einem Meter Tiefe zugefroren, sodass jede Bestattung die Mitarbeit sämtlicher Angestellter benötigte, um die Gräber auszuheben.48 Zudem gab es mehr Todesfälle als üblich, gleichzeitig erkrankten aber viele Friedhofsangestellten, und es konnten somit nicht genug Grabstellen ausgehoben werden, um den Bedarf zu decken. Mitte Februar 1940 war die Lage schließlich so dürftig, dass es innerhalb von zwei Wochen bereits nicht mehr möglich gewesen wäre, Bestattungen vorzunehmen. Somit sah sich das Friedhofsamt genötigt, der „arischen“ Firma Hans Kamenicky 2.800 Reichsmark zu bezahlen, um 200 neue Grabstellen mit Pressluftapparaten auszuheben.49 Im darauffolgenden Herbst verordnete Ernst Feldsberg, um eine Wiederholung dieser Sachlage zuvorzukommen, dass 500 Grabstellen „in Reserve zu öffnen und die Gräber mit Laub
45 Verzeichnis der am 4. Tor, Neuer Friedhof, beschäftigten Arbeiter, o. D. [vermutlich 1940], AIKGW, A/VIE/IKG/II/PERS/6, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 46 An die Kanzlei Neuer Friedhof, 4. August 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/II/PERS/6, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 47 An die Kanzlei Neuer Friedhof, 6. Juni 1939, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 48 Aktennotiz, 24. Jänner 1940, AIKGW, A/VIE/IKG/II/PERS/6, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 49 Mitteilung, 16. Februar 1940, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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zu verdecken“ seien, „damit im Winter nicht [wieder] fremde Arbeitskräfte zur Herstellung von Gräbern verwendet werden“ müssten.50 Obwohl der Friedhof beim I. Tor zu dieser Zeit kaum noch belegt wurde, forderte er noch einen erheblichen Aufwand an Material und Personal. So wurden beispielsweise im September 1940 an die 1.500 „umgefallene“ bzw. „baufällige“ Grabsteine einfach flach auf die Grabstätten hingelegt, eine Notmaßnahme, um sie vorübergehend vor dem weiteren Zerfall zu schützen. Auch die zwölf an den beiden Friedhöfen beim I. und IV. Tor angestellten Leichenträger reichten nicht für den täglichen Bedarf an Bestattungen aus. Somit beantragte Feldsberg von der Kultusgemeinde im Herbst 1940, dass vier neue Leichenträger für 70 Reichspfennig pro Stunde angestellt werden, um den Bedarf zu decken. Zuletzt lässt sich aus diesem Schreiben auch ein Mangel an Baumaterial zu dieser Zeit feststellen, da die Verlängerung der Wege durch die nun für die Belegung freigegebenen Gruppen 19, 20, 20A und 21 am südöstlichen Teil des Friedhofs beim IV. Tor mit „Steinmaterial“ durchgeführt wurde, das „von den Mauern des Leopoldstädter Tempels genommen“ wurde – der größten Synagoge Wiens, die in den Novemberpogromen 1938 gesprengt und anschließend abgetragen wurde.51 Die Reste des zerstörten Tempels bilden somit heute einen Teil des Fundaments des letzten aktiven Friedhofs der Kultusgemeinde – ein stilles steinernes Zeugnis der Shoah beim IV. Tor und ein weitgehend unbekannter Bestandteil der Erinnerungsmatrix des Friedhofs. Im Frühjahr 1940 waren noch zehn „ArierInnen“ an den jüdischen Friedhöfen beschäftigt.52 Aus einem undatierten Schreiben, vermutlich aus dem Winter 1939/40, geht hervor, dass die „arischen“ Friedhofsangestellten sich ihrer neuen Machtstellung gegenüber ihren „jüdischen“ ArbeitgeberInnen durchaus bewusst waren. Hier berichtete Ernst Feldsberg, dass „der alljährlich [im Winter] aufgestellte Ofen“ in den Räumlichkeiten der Erdarbeiter am Friedhof beim I. Tor bis dato noch nicht installiert wurde und dass infolge „die arischen Erdarbeiter […] schon wiederholt aus diesem Grunde erkrankt“ waren und nun drohten, „die Hilfe der [NSDAP-unterstehenden] Deutschen Arbeitsfront in Anspruch zu nehmen, um diesem Uebel abzuhelfen“. Er bat deswegen „dringendst, um Weiterungen in dieser Beziehung zu verhindern“.53 Bis Herbst 1941 arbeiteten nur mehr zwei „Arier“ für das Friedhofsamt der Kultusgemeinde, und zwar 50 An die Amtsdirektion, 8. September 1940, AIKGW, A/VIE/IKG/II/PERS/6, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 51 An die Amtsdirektion, 8. September 1940, AIKGW, A/VIE/IKG/II/PERS/6, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 52 Verzeichnis der arischen Arbeiter am 4. und 1. Tor, 21. Mai 1940, AIKGW, A/VIE/IKG/II/PERS/6, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 53 O. T., o. D., AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/3/3, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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beide als Aufseher von nicht mehr aktiv belegten Friedhöfen: Josef Felzmann am Floridsdorfer Friedhof, der seit 1904 der Wiener Kultusgemeinde einverleibt war, und der Aufseher des Währinger Friedhofs, Theodor Schreiber, der zudem noch direkt am Friedhofsgelände im ehemaligen Taharahäuschen wohnte.54 Schreiber wurde im Dezember anlässlich des bevorstehenden Zwangsverkaufs des Friedhofs an die Stadt Wien gekündigt, woraufhin ihm Josef Löwenherz, der von den NationalsozialistInnen genötigte Leiter der Kultusgemeinde während der Shoah, riet, er solle sich „wegen [seines] allfälligen Verbleibens in [seiner] bisherigen Dienstwohnung bezw. wegen deren Räumung“ mit der städtischen Friedhofsverwaltung in Verbindung setzen.55 Aus Nachkriegsdokumenten geht hervor, dass Schreiber weiterhin nach 1945 bis zu seinem Tod dort mit seiner Frau lebte.56 Wiederum konnte für die zurückgebliebenen Kultusgemeindemitglieder, wie erwähnt, eine Anstellung im Friedhofsamt, wenngleich sie nicht gut (wenn überhaupt) bezahlt wurde, wenigstens vorübergehend vor der Deportation schützen. Im November 1940 notierte Ernst Feldsberg in einer Aktennotiz, dass der führende Kultusgemeindefunktionär Benjamin Murmelstein darauf bestanden hatte, als Sparmaßnahme mehrere Friedhofsangestellte aus ihrem Dienstverhältnis zu entlassen. Feldsberg beschwerte sich zwar, dass die Anzahl an Bestattungen über die letzten zwei Jahre nicht abgenommen hatte, während sich das Arbeitspensum für das Friedhofsamt verdoppelt hatte, da er nicht mehr Vertragsfirmen mit den Friedhofsarbeiten beauftragen konnte und nun ausschließlich auf sich selbst angewiesen war. Die neun Angestellten, die schließlich entlassen wurden, waren zumeist älter bzw. gebrechlich.57 Dass ihre Anstellung am Friedhof den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeutet hatte, zeigt sich in der Tatsache, dass sieben dieser neun Menschen (alle außer Salomon Beer und Regine Pollak) nur fünf Tage nach ihrer Entlassung eine Vorladung zur „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ erhielten: Sie hatten bereits um 13 Uhr des Folgetages zu erscheinen.58 Von diesen sieben wurden fünf (alle außer Gustav Ballner und Hans Reichmann, Sohn von Arthur Reichmann, Leiter der Friedhofskanzlei) zur „Arneitsdienstleistung [sic, Arbeits-] nach Traunkirchen“, sprich zur Verrichtung von Zwangsarbeit, vermutlich für 54 Mitteilung, 13. Oktober 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/Österreich/2/4, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 55 An Herrn Theodor Schreiber, 11. Dezember 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/Österreich/2/4, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 56 An die Jüdische Kultusgemeinde, 13. März 1950, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/3, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 57 Aktennotiz, 27. November 1940, AIKGW, A/VIE/IKG/II/PERS/6, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 58 An die Kanzlei Neuer Friedhof, 2. Dezember 1940, AIKGW, A/VIE/IKG/II/PERS/6, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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den Reichsstraßenbau, verschickt.59 Zumindest fünf von den neun Betroffenen fielen schließlich der Shoah zum Opfer: Salomon Beer (geboren 1870) kam am 7. Februar 1943 in Theresienstadt um. Leo Feuerstein (geboren 1902) wurde am 7. Juni 1942 in Majdanek ermordet. Gustav Ballner (geboren 1903) wurde zuerst 1942 nach Theresienstadt deportiert, dann 1944 nach Auschwitz überstellt, wo er vermutlich ermordet wurde. Friedrich Goldmann (geboren 1874) kam 1945 in Dachau um. Hermann Rubinstein (geboren 1907) wurde im darauffolgenden Jahr wieder als Leichenwächter angestellt, doch auch er wurde schließlich über Theresienstadt nach Auschwitz deportiert, wo er 1944 ermordet wurde. Es gibt ein Opfer namens Wilhelm Pollack, der 1942 vom Sammellager Drancy in Frankreich aus nach Auschwitz deportiert und ermordet wurde. Es ist nicht klar, ob es sich hier um den Friedhofsangestellten handelt – eine versuchte Flucht Richtung Westen wäre in diesem späten Zeitraum eher unwahrscheinlich. Bei Regine Pollak ist es ebenfalls nicht eindeutig, um wen es sich handelt: Es gab sechs Opfer mit diesem Namen. Ein weiterer Beweis dafür, wie lebensrettend eine Anstellung am Friedhof in diesen Jahren war, zeigt aus dem November 1941 ein Brief der Firma A. Steinkellner & Co., einer „arischen“ Vertragsfirma, die Gruft- und Gräberschmückungen auf den Friedhöfen der Kultusgemeinde unternahm. Darin bat die Firma die Kultusgemeinde, dass sie eine „Legitimation zum Schutz der Umsiedlung für unsere beiden langjährigen Leiterinnen der Kanzleien beim I. und IV. Tor“ erteilen solle, nämlich für Margarethe Pollak geb. Deutsch und Helene Merksamer – in anderen Worten, dass sie deren Arbeitsverhältnis bestätige, um sie vor der Deportation („Umsiedlung“) zu schützen. Diese seltsame Bitte zum Schutz ihrer jüdischen Angestellten erklärte die „arische“ Firma dadurch, dass obwohl sie „bei uns angestellt“ waren, sie doch „eigentlich voll und ganz im Interesse der Israelitischen Kultus-Gemeinde arbeiten und einen Schutz verdienen, umsomehr wir nicht in der Lage wären uns für diese Arbeit, die eine besondere Fachkenntnis erfordert, Ersatz zu schaffen“.60 Dies gelang der Kultusgemeinde nicht: Margarethe Pollak wurde am 17. August 1942 in Maly Trostinec ermordet. Helene Merksamer wurde am 23. Jänner 1943 von Theresienstadt nach Auschwitz deportiert; ihr Todesdatum ist unbekannt. Wurden 1941 noch 76 Menschen im Friedhofsamt der Kultusgemeinde angestellt, waren
59 Aktennotiz, 5. Dezember 1940, AIKGW, A/VIE/IKG/II/PERS/6, zit. in USHMM, AJCV-VCC. Vgl. Das Reichsstraßenbau-Wohnlager Traunsee, https://memorial-ebensee.at/website/index. php/de/geschichte/18-salzkammergut-1938-45/15-lager-traunsee, letzter Zugriff: 31. August 2020. 60 An die Leitung der Israelitischen Kultus-Gemeinde, 26, November 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/II/PERS/6, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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es im Jänner 1943, nach Abschluss der großen Deportationen aus Wien, nur mehr 17.61 Bereits in den Monaten nach dem „Anschluß“, als die „Arisierung“ von jüdischen Wohnungen und die Ghettoisierung der jüdischen Bevölkerung in Wien schonungslos voranschritt, wurden einigen Friedhofsangestellten Wohnräume beim IV. Tor zugeteilt – ein erster Schritt, wodurch sich dieses „Haus des Todes“ in diesen Jahren mitunter zu einem „Haus des Lebens“ verwandelte. Ende 1938 sollten beispielsweise sieben Personen, nämlich der Friedhofsdiener, die Leichenträger, die Verwalter und der Portier in den „am 11. November 1938 geräumten Räume[n]“ untergebracht werden, wobei es sich offensichtlich um die ehemaligen Verwaltungsräume in den Nebentrakten der verwüsteten Zeremonienhalle, inklusive der alten Leichenhalle und des Amtsgebäudes, handelte.62 Mit der zunehmenden Benützung für „Wohnzwecke“ der Räumlichkeiten im Gebäudekomplex beim IV. Tor, die die Sprengung in den Novemberpogromen überstanden hatten, war die Senkgrube bis Ende November 1938 schon völlig ausgelastet und musste erweitert werden.63 Noch im Frühjahr 1941 wurde Georg Reichmann, dem „Leiter der auf dem Friedhofe durchzuführenden Gartenund Erdarbeiten“, ein unbenützter Raum in der Leichenhalle als Wohnraum zugewiesen.64 Die erhaltenen Aktennotizen des Friedhofsamts zeigen auch banale Seiten des Alltags am Friedhof während der Shoah. So informierte beispielsweise Ernst Feldsberg im Dezember 1941 die Materialverwaltung der Kultusgemeinde, dass dem Angestellten Philipp Goldmann „durch den Sturm am 24. d[iesen] M[onats] beim Beisetzen von Leichen sein schwarzer Hut in Verlust geraten“ sei, und beantragte, dass dieser ersetzt werde – alle Friedhofsdiener hatten nämlich im Frühjahr von der Kultusgemeinde „einen neuen schwarzen Hut“ bekommen.65 Ein spannendes Aktenstück aus dieser Zeit betrifft eine Frau Frieda Nagler, Angestellte beim IV. Tor, über die sich ein anonymer Beamte beim II. Tor (also bei der allgemeinen Verwaltung des Zentralfriedhofs) beschwert hatte, „sie möchte die politischen Gespräche mit Arier [sic] in der Strassenbahn unterlassen“. Darauf antwortete die Kanzlei beim IV. Tor, dass sich Frau Nagler 61 Hecht/Lappin-Eppel/Raggam-Blesch: Topographie der Shoah, S. 514. 62 An das Techn. Amt!, 28. November 1938, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/8/6, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 63 Mitteilung, 27. November 1938, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/3/3, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 64 Mitteilung, 21. März 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/1/6, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 65 An die Materialverwaltung, 26. Dezember 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/II/PERS/6, zit. in USHMM, AJCV-VCC. Vgl. An die Kanzlei Neuer Friedhof, 25. Juni 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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an solche Gespräche nicht erinnern konnte, aber „da sie ihre Jugend wie auch den Schulbesuch in Simmering [der 11. Bezirk, wo sich der Zentralfriedhof befindet] verbracht hat, erg[a]ben sich immer Situationen wo sie Bekannte und Schulfreundinnen begrüss[t]en, dem sie nicht ausweichen“ konnte.66 Mindestens ab der zweiten Jahreshälfte 1940 bis Anfang 1942 beauftragte das Friedhofsamt den Wiener Polizeimeister Alois Reich „nach Beibringung der notwendigen behördlichen Bewilligung“, beim IV. Tor „Feldhasen, Fasane und Rebhühner“ zu jagen, was „in jagdpolizeilicher Hinsicht“ vonnöten war.67 Diese Jagdaktion erhielt die Zustimmung der Gestapo sowie des Kreisjägermeisters des Jagdkreises Wien, vorerst befristet auf den 25. Dezember 1940.68 Im Folgejahr wurde die Jagd wieder bewilligt, dieses Mal jedoch begrenzt auf Wildkaninchen. Hatte die Kultusgemeinde im Vorjahr dem Jäger das „Verfügungsrecht der Jagdbeute“ überlassen, so musste nun der Fang „abgeliefert werden“, nämlich an die Stadt Wien. Es war „daher strengstens verboten, dass sich der Schütze das Wild für seinen eigenen Gebrauch“ behielt.69 Verweist diese Geschichte einerseits auf die seltsame Benützung des Friedhofs als Jagdgrund, so wird hier andererseits die Ausbeutung selbst des jüdischen Bestattungsraums durch die NS-Verwaltung der Stadt Wien während der Shoah deutlich. Mutmaßliche Delikte gab es in diesen Jahren am Friedhof auch. Nach dem Tod des Philatelisten Alfons Jössel am 14. November 1940 (am 17. November bestattet in 20-12-98) bat seine Frau das Friedhofsamt, seine goldene Zahnprothese aus seinem Mund zu entfernen und ihr zu überreichen, was aufgrund der Leichenstarre vor seiner Überführung an den Friedhof nicht möglich gewesen war. In der Leichenkammer fiel aber auf, dass die Prothese nicht mehr vorhanden war. Obwohl Ernst Feldsberg zu Protokoll gab, dass es nicht auszuschließen war, „dass sich die Prothese auch schon anlässlich der Abholung der Leiche nicht mehr im Munde befunden hat“, suggeriert der Ton seiner Aktennotiz doch einen Verdacht auf Diebstahl. Feldsberg verordnete sodann, dass die Leichenkammer mit Türschlössern zu versehen war und dass nur der diensthabende Leichenwächter Zugang haben sollte.70
66 An das Friedhofsamt der I.K.G., 1. August 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/II/PERS/6, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 67 An die Geheime Staatspolizei, 13. September 1940, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 68 An die Kanzlei Neuer Friedhof, 25. Dezember 1940, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 69 An Herrn Alois Reich, 26. Juni 1940 und Bewilligung, 30. Juli 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC, vgl. hier auch An die Kanzlei Neuer Friedhof, 28. Jänner 1942. 70 Aktennotiz, o. D., AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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Auch der allgemeine Kriegsverlauf machte sich am Friedhof bemerkbar. Zwar gab es bis 1944 keine Luftangriffe auf Wien, das zuvor noch außerhalb der Reichweite der alliierten Luftwaffen lag, doch begann die Stadt schon früh, ab 1941, mit der Vorbereitung von Luftschutzmaßnahmen, wie im vorherigen Kapitel in Bezug auf die Ausbaggerungen am Währinger Friedhof gezeigt wurde. Am 7. April 1941 gab Ernst Feldsberg bekannt, dass „die bestehenden verschärften Luftschutzmassnahmen“ es notwendig machten, dass stets eines der zwei diensthabenden Leichenwächter beim IV. Tor „vollkommen angekleidet“ wache, während der andere schlief. Im Falle eines Luftangriffs musste ersterer die Tür zur Seitenstraße aufsperren, „da einzelne Anrainer des Neuen Friedhofes [beim IV. Tor] verpflichtet [waren], den Luftschutzraum auf dem Neuen Friedhofe aufzusuchen“.71 War den jüdischen WienerInnen der Zugang zu öffentlichen Schutzräumen versperrt, so mussten sie dennoch ihren Luftschutzraum am Friedhof – es handelte sich dabei vermutlich um die Leichenkammer – mit den nichtjüdischen Anrainern teilen. Aufgrund der zunehmend „profanen“ Aktivitäten am Friedhof beim IV. Tor ab 1938, als der Bestattungsraum, wie unten ausführlich gezeigt wird, zum vorübergehenden „Haus des Lebens“ der zurückgebliebenen Gemeinde wurde, versuchte der orthodox orientierte Friedhofsamtsleiter Ernst Feldsberg, ein gewisses Dekorum am jüdischen Friedhof zu bewahren, wie aus verschiedenen dokumentierten Vorfällen hervorgeht. So beschwerte er sich im September 1939, dass Angestellte „auf dem freien Felde rechts vom Eingang“ vor ihren Wohnräumen ihre Wäsche zum Trocknen aufgehängt hatten. Dies war fortan „strengstens untersagt“.72 Einige Wochen später informierte Feldsberg einige Friedhofsangestellte, dass es ihnen zudem untersagt war, in ihren Wohnräumen in der Friedhofskanzlei „familienfremde Personen zu empfangen“, was offensichtlich immer wieder vorkam.73 Ende 1940 beschwerte sich Feldsberg dann über einen Friedhofsdiener, der „bei Abholung einer Leiche mit der brennenden 71 An die Kanzlei Neuer Friedhof, 7. April 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 72 An die Kanzlei Neuer Friedhof, 12. September 1939, AIKGW, A/VIE/IKG/II/PERS/6, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 73 An Herrn Philipp Goldmann, Ignatz [eigentlich: Ignaz] Goldmann, Ernst Blitz, Samu Gross, Ernst Obst, Max Bondy, Frau Ida Schneider, 3. Oktober 1939, AIKGW, A/VIE/IKG/II/PERS/6, zit. in USHMM, AJCV-VCC. Sowohl Ignaz Goldmann wie Ernst Blitz wurden 1942 nach Theresienstadt deportiert und 1944 weiter nach Auschwitz, von wo sie nicht zurückkehrten. Ernst Obst machte einen Leidensweg von Wien über Theresienstadt und Auschwitz nach Dachau durch, wo er 1944 umkam. Es gibt drei Wiener Opfer der Shoah namens Samuel Gross, von denen einer vermutlich der Friedhofsangestellte war. Philipp Goldmann und Max Bondy werden nicht in den Opferdatenbanken verzeichnet und dürften somit überlebt haben. Ida Schneider verstarb 1942 im Alter von 48 Jahren im jüdischen Spital im 18. Bezirk und wurde beim IV. Tor bestattet (5-23-7).
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Virginia-Zigarre im Munde das Trauerhaus“ betrat, und dazu noch „am Samstag“, also am Shabbat. Feldsberg untersagte somit allen Friedhofsangestellten zu jeder Zeit das Rauchen im Trauerhaus.74 Im Laufe der frühen 1940er-Jahre begann Feldsberg, insgesamt eine strengere Kontrolle über die Aktivitäten am Friedhof beim IV. Tor auszuüben, eine Vorstufe zur Reglementierung und „Orthodoxisierung“ der Wiener jüdischen Sepulkralkultur, die nach 1945 unter Feldsbergs Einfluss prägend werden sollte. So verordnete er im Jänner 1940, dass Ansprachen „weder in der Leichenhalle noch am Grabe“ gehalten werden durften, außer durch „den von der Kultusgemeinde bestellten Funktionären“. Dies galt „auch für diejenigen Rabbiner, welche vorher in kleinen Tempelvereinen beschäftigt waren“, sprich: nicht direkt der Kultusgemeinde unterstanden.75 Für diese Verordnung wurden keine Gründe genannt, doch deutet sie wohl auf eine gewisse Anarchie in der Ausführung von Bestattungspraktiken am Friedhof zu dieser Zeit, die Feldsberg mit der Durchsetzung der Autorität der offiziellen Kultusgemeindefunktionäre entgegenzuwirken versuchte. So verordnete er Ende 1940 weiter, dass bei Bestattungen alle religiösen Funktionen wie das Rezitieren des El male rachamim (Barmherziger Gott), das Totengebet für die Seele der Verstorbenen, nur „von dem fungierenden Funktionär“ ausgeübt werden durften, und verbot, „dass andere auf dem Friedhof zufällig anwesende oder zu diesem Begräbnis nicht bestellte Funktionäre dieses Gebet über Ersuchen der Parteien“ verrichteten.76 Anfang 1941 dekretierte Feldsberg, dass nur die folgenden Rabbiner, nach Verfügbarkeit in dieser Reihenfolge, für Funktionen bei Begräbnissen zu beauftragen waren: der zuvor in Linz tätige Rabbiner Alexander Kristianpoller, der Oberkantor Mathias Mátyás und ein Rabbiner Neuwirth.77 Im letzteren Fall ist es nicht klar, um wen es sich hier handelt; ein in Wien ansässiger Rabbiner mit diesem Familiennamen kommt in der einschlägigen Literatur nicht vor.78 Im Dezember 1941 übernahm Rabbiner Albert Schweiger ehrenamtlich die religiösen Funktionen auf dem Friedhof, da Mátyás schwer erkrankt war und somit seine Funktionen nicht mehr ausführen konnte und weil es die „grosse Zahl 74 An die Kanzlei Neuer Friedhof, 16. Dezember 1940, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 75 An die Kanzlei Neuer Friedhof am Zentralfriedhof, 25. Jänner 1940, AIKGW, A/VIE/IKG/II/PERS/6, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 76 An die Kanzlei Neuer Friedhof, 16. Dezember 1940, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 77 An alle Beamten des Friedhofamtes!, 15. Jänner 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/3, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 78 Vgl. z. B. Landesmann, Peter: Rabbiner aus Wien. Ihre Ausbildung, ihre religiösen und nationalen Konflikte, Wien 1997 und Brocke, Michael/Carlebach, Julius (Hg.): Biographisches Handbuch der Rabbiner. Teil 2. Die Rabbiner im Deutschen Reich 1871–1945, München 2009.
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der Leichenbegängnisse“ in dieser Zeit erforderlich machten.79 Bei den Bestattungsfunktionen wechselten sich die zwei Rabbiner Neuwirth und Schweiger ab. Bei Bestattungen der fünften – und niedrigsten – Klasse mussten jedoch nur Mitglieder der Chewra Kadisha anwesend sein, keine Rabbiner.80 Alexander Kristianpoller wurde im September 1942 zusammen mit seiner Frau Ida in Maly Trostinec ermordet. Albert Schweiger, der bereits im Ersten Weltkrieg als Feldrabbiner in der k.u.k. Armee tätig war, wurde zusammen mit seiner Frau Emma am 9. Oktober 1942 ebenfalls in Maly Trostinec ermordet. Mathias Mátyás kam 1943 in Theresienstadt um. Ein weiterer sozusagen anarchischer Zustand, dem Feldsberg entgegenzuwirken versuchte, wird aus einer Beschwerde ersichtlich, die der ehemalige Friedhofsangestellte David Klein am 18. Dezember 1940 an Feldsberg richtete, nachdem er entlassen wurde, weil er auf eigene Faust und gegen Bezahlung die Herstellung von Grabsteinen und Inschriften vermittelt hatte. Klein behauptete, dass er diesen „Nebenberuf “ bereits seit 1912 und „mit Wissen des Friedhofamtes“ ausgeführt habe, was „früher nie von Seiten der Gemeinde beanständet“ wurde, denn „wäre das der Fall gewesen“, so hätte er „das Grabsteingeschäft sofort eingestellt, zumal mir dasselbe nur ein ganz geringfügiges Nebeneinkommen abwarf und nicht, wie vielfach vermutet, ‚Riesenverdienste‘.“81 Im Sommer 1939 hatte Feldsberg bereits erklärt, dass jede(r) Angestellte, der oder die ohne Erlaubnis „Gärtnerarbeiten, Rasenarbeiten, Steinarbeiten und dergleichen“ ausübte oder „die im Nebenverdienst die Beschriftung von Namenstafeln“ vornahmen „ohne Nachsicht fristlos entlassen“ werde.82 Feldsberg unterstrich nochmals im Frühjahr 1942, dass es strengstens verboten sei, „Gräber über Ersuchen von Parteien herzurichten, abzusicheln oder sonst irgend eine Arbeit für Parteien auf den Friedhöfen zu leisten“. Sogar „die Gräber von Verwandten herzurichten“ wurde verboten, da „durch solche unerlaubte Arbeiten der Kultusgemeinde ein grosser Schaden erwachsen kann“.83 Welcher „Schaden“ gemeint waren, ist unklar. Doch unterstreichen diese Vorschriften die Hypothese, die hier in früheren Kapiteln vorgestellt wurde, dass die Kultusgemeinde zuvor nie eine totale Kontrolle über die Sepulkralpraxis in ihren Friedhöfen ausüben konnte (geschweige denn wollte – strenge Vorschriften waren ein Novum des 20. Jahrhunderts). Dies trifft auch auf den
79 An die Amtsdirektion, 31. Dezember 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/II/PERS/6, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 80 An die Kanzlei Zentralfriedhof, 1. Juli 1942, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2/2. 81 O. T., 18. Dezember 1940, AIKGW, A/VIE/IKG/II/PERS/6, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 82 An die Kanzlei, 12. Juni 1939, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 83 An die Kanzlei Neuer Friedhof, 14. April 1942, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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Bereich der Verfassung von Grabinschriften zu – wie sich auch in der Nachkriegszeit in der Divergenz zwischen den noch strengeren Vorschriften und den tatsächlich ausgeführten Grabdenkmälern zeigen sollte. Solche Verordnungen ahnten eben Feldsbergs Nachkriegstätigkeit voraus, als er nach und nach die Ordnung am jüdischen Friedhof nach (seinen) orthodoxen Vorstellungen zu homogenisieren und kontrollieren versuchte. Einer der wichtigsten Vertrauensmänner Feldsbergs in diesen Jahren war der 1944 in Auschwitz ermordete Friedhofsangestellte Ignaz Goldmann, dem Feldsberg die Übersicht von weitreichenden Arbeiten am Friedhof übertrug, so beispielsweise „für die Durchführung der Begräbnisse, für die Durchführung der rituellen Waschungen, für die Einhaltung der Leichenwache, [und] für die Bereitstellung de [sic] zu beerdigenden Leichen“. Bezeichnenderweise hatte Goldmann im Gegenzug alle Vorkommnisse am Friedhof direkt an die Friedhofskanzlei bzw. an das Friedhofsamt zu melden, die Feldsberg direkt unterstanden. Feldsberg konnte somit seine Autorität über die gesamte Sepulkralpraxis beim IV. Tor verankern.84 Im Frühjahr 1942 hatte Feldsberg noch verordnet, dass die Zuteilung von Grabstellen in der Gruppe 21, die „Abteilung für Fromme“, deren Entstehung hier in Kapitel 6 besprochen wurde, dem „Chewra-Mann Isidor Löwy überlassen“ werden sollte, dessen „Erlaubnis“ für Bestattungen in dieser Gruppe erforderlich war.85 Doch bereits im Sommer beschwerte sich Feldsberg, dass es „unstatthaft“ sei, „dass ein Chewramann sich – wie es diese Woche geschehen ist – vor dem Grabe plötzlich entsinnt, dass der zu Beerdigende auf die Abteilung für Fromme zu kommen hat“. Solche Änderungen der Grabstelle bzw. Bestattungsklasse – vor allem die Bestattung in der „Abteilung für Fromme“ – bedürften fortan der „Zustimmung der Kanzlei“. Offensichtlich handelte es sich hier um einen kleinen Kompetenzstreit innerhalb der Kultusgemeinde – spezifischer zwischen der Chewra Kadisha und dem Friedhofsamt – über die religiöse Autorität im Friedhofswesen. Zugleich zeugt dieser Vorfall abermals von der strengen Kontrolle, die Ernst Feldsberg, und somit die Kultusgemeindeorganisation, über alle Aspekte der Wiener jüdischen Sepulkralkultur auszuüben versuchte.86 Dies zeigt sich beispielhaft in der Bewilligung vom 28. April 1941 von 100 Reichsmark für die Witwe Amalie Reichner „zur Errichtung eines Grabsteines auf der Grabstätte Ihres [im Vorjahr verstorbenen] seligen Gatten
84 An die Kanzlei Neuer Friedhof, 20. Juni 1939, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 85 An die Kanzlei Neuer Friedhof, 24. März 1942, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 86 An die Kanzlei Neuer Friedhof, 29. Juli 1942, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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des Herrn Abraham Reichner“ (16B-111-23).87 Wieso die Kultusgemeinde, die sich in diesen Jahren in schwerer finanzieller Not befand, einen Zuschuss für einen privaten Grabstein bewilligte, ist nicht belegt – doch durfte Abraham Reichner ein angesehenes Kultusgemeindemitglied gewesen sein, wie das religiös konnotierte Eigenschaftswort „selig“ impliziert. Dies geht auch daraus hervor, dass der Amtsdirektor der Kultusgemeinde, Josef Löwenherz, höchstpersönlich diesen Zuschuss bewilligte.88 Hierin zeigt sich die privilegierte Erinnerungskultur der Gemeinschaftsorganisation sogar zu diesen Zeiten der schwersten Not. Amalie Reichner selbst wurde über Theresienstadt nach Auschwitz deportiert, wo sie 1944 umkam. Isidor Löwy kam ebenfalls 1944 in Auschwitz um. Noch gegen Ende der NS-Zeit gab die Kultusgemeinde – nunmehr eigentlich der „Ältestenrat“ (womit das undatierte Aktenstück auch nach November 1942 entstanden sein musste) – eine Novellierung der Friedhofsordnung aus. Einige Neuerungen reflektierten Verordnungen seitens der NS-Behörden, so beispielsweise §14, wonach die „Entfernung von Grabsteinen aus dem Friedhof […] nur mit besonderer Bewilligung der Behörde gestattet“ war (wie hier in Kapitel 7 besprochen). §17 reflektierte hingegen die veränderten Gegebenheiten am Friedhof: Wurde in den Friedhofsordnungen der Zwischenkriegszeit nämlich die Bepflanzung von Obstbäumen „auf den Friedhof “ insgesamt verboten, so galt das Verbot nunmehr lediglich für „Obstbäume[n] auf Gräbern“, was bestimmt als rückwirkende Ausnahmeregelung für den Anbau von Gemüse und Obst auf dem „Grabeland“ beim IV. Tor gemeint war (wie unten ausführlicher geschildert wird). Weitere Neuerungen reflektierten wiederum die Verschärfung der Kontrolle seitens des Friedhofsamts über die Sepulkralkultur beim IV. Tor, so beispielsweise §12, wonach jede Änderung auf den Gräbern sowie den Grabsteinen die Zustimmung des Friedhofsamtes benötigte, inklusive „besondere Vorschriften“, die die erlaubten Dimensionen der Grabsteine nach Klasse streng festlegten. §16 verbot zudem das „Anpflanzen von Bäumen und Ziersträuchen“ die den „freie[n] Ausblick zu den neben gelegenen Gräbern“ behinderten, was als Harmonisierung des Erscheinungsbildes des Friedhofs parallel zur Vereinheitlichung der Sepulkralpraxis in den Grabdenkmälern und Inschriften verstanden werden kann.89 Der Zentralfriedhof wandelte sich während der Shoah nicht nur in eine Stätte des Lebens, etwa für die dort ansässigen und angestellten Kultusgemeindemitglieder: Er war auch, wenigstens zeitweise, eine Stätte der Zuflucht, 87 An Frau Amalie Sara Reichner, 28. April 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 88 Verfügung des Herrn Amtsdirektors Dr. Löwenherz, 24. April 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 89 Friedhofsordnung, o. D., AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/4/4.
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wie in einigen Zeugenaussagen überliefert ist.90 Der 1891 geborene Karl Balner überlebte beispielsweise laut seiner eidesstattlichen Erklärung gegenüber dem KZ-Verband Wien „vom 15.9.1941 bis Kriegsende“ versteckt als „U-Boot. (15.9.41–5.10.41 am Friedhof, danach bis 9/1944 in einer Lehmgrube am Lagerplatz einer Tischlerei in Wien 3 [dritter Bezirk], Hainburgerstrasse 81, danach bis Kriegsende in Kellern und am Friedhof)“.91 Auch Kurt Hrabak gab an, sich während seiner Zeit im Verborgenen sich „meist am Zentralfriedhof “ aufgehalten zu haben.92 Der Begriff „U-Boot“ verwies in Wien auf jene, die untertauchten und die Shoah vor Ort versteckt überleben konnten. Auch vom jüdischen Friedhof in Weißensee in Berlin wird berichtet, dass ein Mausoleum nachts von verfolgten Jüdinnen und Juden als Zufluchtsort verwendet wurde.93 Der Historiker Karl Schubsky verwies auf verschiedene ähnliche Strategien des Widerstandes am Neuen Israelitischen Friedhof in München: So versteckte der nichtjüdische Friedhofsaufseher jene Grabsteine, die von den Behörden beschlagnahmt werden sollten; es wurden heimlich verbotene religiöse Bestattungen vorgenommen; und, vielleicht am erstaunlichsten, es konnten sechs Jüdinnen und Juden insgesamt vierzehn Monate auf dem Friedhofsareal vor den Behörden versteckt werden.94 Einen ausführlichen Bericht vom Überleben und Sterben am Zentralfriedhof während der Shoah lieferte Jahrzehnte später Martin Vogel in einem Interview. Vogel überlebte als „Mischling“ durch den Schutz seiner nichtjüdischen Mutter in Wien, wo er nach dem „Anschluß“ als Totengräber am Zentralfriedhof arbeitete, wie er schilderte: Naja, damals hat man halt gelebt. Schauen Sie, ich war Totengräber während der „NaziZeit“ auch. […] Ich höre, sie [die Kultusgemeinde] suchen einen Totengräber. Dann habe ich mir gedacht, ein Totengräber ist ein sicheres Geschäft. Sicher jetzt von dem Standpunkt der Deportation. Und so bin ich dann dem zugeteilt worden. […] Es war interessant. […] Und am 1. Tor, wo zur Hälfte eine jüdische und eine nicht-jüdische Abteilung war, war ich zugeteilt, einem nicht-jüdischen Totengräber. Ein hochanständiger Mann. Ja, so war es. 90 Vgl. Exenberger: Gleich dem kleinen Häuflein der Makkabäer, S. 307–308. 91 Balner Karl, Akten des KZ-Verband Wien, 1946. Karl Balner, geboren 18. Oktober 1891 in Wien, 3. Speditionsbeamter, DÖW, 20.100/342. 92 Eidesstattliche Erklärung, 6. Dezember 1968, DÖW, 20.100/4768. Vgl. Hecht/LappinEppel/Raggam-Blesch: Topographie der Shoah, S. 515, wo aber fälschlicherweise auf Kurts Bruder Alfred Hrabak hingewiesen wird. In Alfred Hrabaks Akten wird der Friedhof nicht erwähnt. Vgl. Hrabak Alfred, Akten des KZ-Verband Wien, 1946. Alfred Hrabak, geboren 10. Juli 1921 in Wien 2. Artist, DÖW, 20.100/4816. 93 Stein, Ernst: Historische Friedhöfe Europas: in: Liedel, Herbert/Dollhopf, Helmut (Hg.): Haus des Lebens. Jüdische Friedhöfe, Würzburg 1985, S. 73. 94 Schubsky, Karl: Jüdische Friedhöfe, in: Selig, Wolfram (Hg.): Synagogen und jüdische Friedhöfe in München, München 1988, S. 187.
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Vogel differenzierte hier nicht zwischen dem I. Tor, das sich in der Umgangssprache ausschließlich auf die jüdische Abteilung bezieht, und dem allgemeinen Friedhof (entsprechend als „II. Tor“ bezeichnet), die eben nicht durch eine Mauer voneinander getrennt sind. Zusammen mit dem „hochanständigen“ Nichtjuden machte Martin Vogel viele erschreckende Erfahrungen, die von der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung Wiens ausgingen und sich auf die jüdischen Friedhöfe der Stadt auswirkten, wie er ausführlich beschrieb: Und ich erinnere mich nur an ein Erlebnis in dem Zusammenhang. Das war irgendwie signifikant. Sie wissen, was Grüfte sind? Das sind so kleine Häuser. Und in der ersten Zeit, als die Deportationen begannen, haben sich sehr viele Juden in den Grüften versteckt. Das hat dann die Gestapo irgendwie mitgekriegt und hat die Friedhofsangestellten aufmerksam gemacht, sie sollen aufpassen. Und dann später sind sehr viele Juden und sind einige geblieben [sic]. Die haben in diesen Grüften Selbstmord begangen. Und als ich dort am 1. Tor Totengräber war, war unsere erste Aufgabe in der Früh, wir sind […] mit einem Handwagen die Grüfte abgefahren und wenn wir jemanden dort gefunden haben, dann haben wir ihn aufgeladen und haben ihn nach vorn gebracht zum 1. Tor. Von dort wurde er dann mit einem Auto auf den Jüdischen [sic] Friedhof, [zum] 4. Tor gebracht. Und das hat mich heute noch genauso beschäftigt, wie damals. Wir kamen zu einer Gruft hin. Da lag ein splitternackter Mensch drinnen. Man hat ihm nicht einmal die Unterwäsche belassen. Leichenfledderer. Ich kann mich erinnern, wir beide waren… wir waren ja schon sehr abgestumpft. Wir haben ihn aufgeladen, die Totenstarre war schon da, es war ganz fürchterlich. Und wir haben ihn aufgeladen – aufgeladen ist gut ge[sagt] – wir haben ihn hingeschmissen und sind gerannt. Und mit dem rennen hat der Tote angefangen, sich ununterbrochen zu bewegen. Und wir haben Angst gehabt, der fällt runter und wir müssen ihn wieder aufladen. Aber das Grauenhafte war, dass man ihm nicht einmal die Unterwäsche gelassen hat.
Vogel beschrieb auch einen kleinen Akt des Widerstands, der sich am Zentralfriedhof abspielte. Als die Jugendalijah – eine Organisation, die Kinder und Jugendliche auf eine erhoffte Auswanderung nach Palästina vorbereitete – von der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ aufgelöst werden sollte, trafen sich die führenden Mitglieder in einer Wohnung in der Berggasse im 9. Bezirk. Dort, in Anwesenheit einer „blau-weiße[n] Fahne“ – der Fahne der zionistischen Bewegung –, schrieben sie ein Protokoll über die Auflösung ihrer Organisation. „Und als dann die Deportationen, wie gesagt, richtig eingesetzt haben und wir ja von einem Tag auf den anderen nicht gewusst haben, was mit uns passiert, hat mein Freund Ernstl [Ernest] Schindler und ich, haben wir gesagt: ‚Weißt was, wir müssen das der Nachwelt erhalten.‘“ Also haben sie das Protokoll in ein Rohr gegeben und beschlossen, es „im Zentralfriedhof, 1. Tor, in einem Grab [zu] deponieren“. Durch ein Loch in der Mauer sind sie in den Friedhof eingedrungen:
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[I]ch habe eine fürchterliche Angst gehabt. Fürchterlich! – und das nächstbeste Grab, was uns wie ein weicher Hügel vorgekommen ist, dort haben wir dieses Rohr hineingeschoben und sind weiter zurück. Und wir haben davon natürlich eine Kopie angefertigt. Und die Kopie hat meine Mutter versteckt. Wir haben nachher, nach [19]45 dieses Grab nicht mehr gefunden. Ist klar, wir waren derartig verängstigt. Wir haben es nicht gefunden mehr. Aber es gab die Kopie. Und die Kopie habe ich dem Yad Vashem geschickt.95
Diese „Zeitkapsel“ dürfte sich noch immer im Erdreich des Zentralfriedhofs befinden. Abschließend soll ein einzigartiges Denkmal beschrieben werden, das sich in einer unauffälligen Abteilung beim I. Tor verbirgt und die Todesängste der Wiener jüdischen Bevölkerung unter der NS-Herrschaft in Österreich bekundet – ein Denkmal, das erstaunlicherweise bis heute weitgehend unbeachtet geblieben ist.96 Aufmerksam wurde ich erstmals darauf durch eine Folge von Guido Knopps inzwischen älterer, weithin bekannter und nicht unumstrittener Serie Hitlers Helfer, nämlich Eichmann. Der Vernichter, in der dieses Denkmal vorkommt, jedoch unidentifiziert bleibt: „Wer bleibt, lebt weiter in Angst“, bekundet dort eine Stimme vor unheilvollen Tönen – eine dissonante Klaviermelodie, begleitet von einem Cello. „Der jüdische Friedhof in Wien – Dokumente der Verzweiflung“, bekundet die Stimme weiter. Die Kamera schweift über ein mit Bäumen umringtes Gräberfeld, alte Stelen ragen empor, von manchen bleibt wiederum nur der Sockel übrig. Das Bild blendet über in die Nahaufnahme von handgeschriebenen Zeilen: „… Frieden für uns Juden“. Die nächste Zeile liest der Erzähler auch vor: „Helf [sic] uns lieber Gott…“. Es erscheint ein Datum in gespenstisch archaischer Handschrift: „7/VIII 1938“ – der 7. August 1938. Es folgt eine Zurückblendung auf den Friedhof und das Bild geht über in Dunkelheit. Die gesamte Szene dauert gerade einmal 18 Sekunden.97 Eine Stelle im Buch zur Serie von Guido Knopp lieferte etwas mehr Informationen: Bis heute sind die Spuren seiner [Eichmanns] Verfolgungsjagd sichtbar geblieben. Auf dem Grabstein eines Rabbiners auf dem Wiener Zentralfriedhof finden sich, deutlich 95 Transkript eines Interviews mit Dr. Martin Vogel von Dieter Hecht, Eleonore Lappin-Eppel, Albert Lichtblau und Michaela Raggam-Blesch am 21. Februar 2012 in Wien. Ich danke Michaela Raggam-Blesch für die Bereitstellung des Transkripts sowie die Genehmigung, es hier zu zitieren. 96 Die Spurensuche nach diesem Denkmal und die damit verbundene Methodologie und Historiographie sind ausführlich geschildert in Corbett, Tim: „Helf uns lieber Gott…“. Zur Entdeckung eines einzigartigen Holocaustdenkmals am Wiener Zentralfriedhof, in: S:I.M.O.N. – Shoah: Intervention. Methods. Documentation 6/2 (2019). 97 Knopp, Guido: Hitlers Helfer. Eichmann – Der Vernichter, ZDF (1996). Die Szene findet ungefähr in der Zeitspanne 12:22–12:40 statt.
Betrieb und Benützung der jüdischen Abteilungen am Zentralfriedhof während der Shoah
lesbar, mit Bleistift gekritzelte Hilferufe – erschütternde Dokumente der Verzweiflung: „Bet’ für uns, guter Rabbi. Der liebe Gott soll uns helfen und ein Wunder geschehen lassen.“98
Es gab also einen oder mehrere Grabsteine, auf denen verfolgte WienerInnen während der Shoah ihre Todesängste dokumentierten, doch Knopp erwähnte nicht einmal, auf welchen Friedhof sich dies bezog. Es sollte noch einige Jahre dauern, bis ich das eigentliche Grabmal ausfindig machen konnte: Es handelte sich um die Grabstätte eines Samuel Frommer, zuletzt sesshaft in der Nickelgasse 3 im 2. Bezirk, am 19. Juni 1911 im Alter von 68 gestorben und bestattet beim I. Tor (50-52-3). Ein polnischer Priester in der katholischen Pfarrkirche St. Lukas in der Anton-Steinböck-Gasse, die direkt hinter dem alten jüdischen Friedhof liegt, stieß zuvor ebenfalls auf dieses Denkmal und berichtete davon in einem essayistischen polnischsprachigen Werk über seine Eindrücke vom I. Tor. Darin sprach er die Vermutung aus, die Verfasser hätten einen Kopierstift, also mit unlöschbarer Mine, verwendet, was angesichts ihrer Dauerhaftigkeit wohl eher zutrifft als Knopps Behauptung, die Bittschriften seien mit Bleistift geschrieben worden.99 Das Grabhäuschen an der südlichen Ecke der Gruppe 50, an der Kreuzung der Hauptwege (auf den meist südwestlich orientierten Plänen des Zentralfriedhofs ist das die obere linke Ecke der Gruppe 50), ist deutlich kleiner und unauffälliger als die mehr als Dutzend chassidischen Grabhäuschen in den jüdischen Abteilungen des Wiener Zentralfriedhofs. Es handelt sich um eine südöstlich ausgerichtete, senkrechte Miniatur eines Mausoleums mit sechs Säulen und einem Giebeldach. Auf dem Architrav ist eine weiße Inschriftentafel angebracht, die auf Hebräisch verkündet: „Tzijun [Zeichen; im Sinne: „Grabdenkmal“] mem-waw-hei-reish [unseres Lehrers und großen Rabbiners], reish [der Rabbiner] Shmuel Aharon, sain-tzadi-lamed [sein seliges Andenken sei ein Segen], Frommer“. Diese recht formelhafte Inschrift ist charakteristisch für die Sprache der chassidischen Grabinschriften, die hier in Kapitel 6 eingehend analysiert wurden, wobei in diesem Beispiel die abgesonderte Nennung des bürgerlichen Familiennamens „Frommer“ außergewöhnlich ist.
98 Knopp, Guido: Hitlers Helfer, München 1998, o.S, Kapitel: Der Vernichter. 99 Skrzypczak, Andrzej: Lapidarium, Krakau 2006, S. 143, vgl. insgesamt S. 140–144.
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Abb. 21 Die mit Bittschriften übersäte Inschriftentafel im Grabhäuschen des 1911 verstorbenen Samuel Frommer (50-52-3). © Autor
Auf der Hinterwand des schmalen Innenraums, der kaum Platz für mehr als ein oder zwei Personen bietet, hängt eine Inschriftentafel aus weißem Marmor, der vorzüglich zur Anbringung der Bittschriften mit schwarzer Mine geeignet war, die bis in die jüngste Zeit reichen. Dieses Grabhäuschen wird folglich heute
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noch von religiösen Jüdinnen und Juden besucht. Doch die ältesten, ergreifendsten und aus historiographischer Sicht interessantesten dieser Schriften sind jene aus der NS-Zeit. Diese datieren bereits auf Juni 1938 zurück, also wenige Monate nach dem „Anschluß‘“, und geben vielfach auch die Vornamen der BittstellerInnen an. Aus Ton und Stil wie den grammatikalischen Unstimmigkeiten zu schließen, handelte es sich hier vorwiegend um jugendliche BittstellerInnen, wie auch aus dem Kontext hervorgeht, dass der Zentralfriedhof schon bald nach dem „Anschluß“ der auf einmal gesellschaftlich völlig ausgestoßenen jüdischen Bevölkerung Wiens, insbesondere der Jugend, als Erholungsgebiet diente, zeitweilig auch als Flucht- und Versteckort. Diese gekritzelten Bittschriften an den Rabbiner sind demnach einzigartige in Stein verewigte Dokumentationen der Verzweiflung und Todesangst der Wiener Jüdinnen und Juden während der Shoah. „Behüte u. beschütze uns lieber Gott, lass uns alle beinander [sic], helfe [sic] uns. Poldy u. Leon 16. VI 1938, Dora u. Sigi“, steht beispielsweise auf der linken Oberseite des blanken Sockels. An verschiedenen Stellen erscheint die gleiche Bitte: „Bete für uns! Poldy u. Leon“. Es sind oft dieselben Namen, die hier erscheinen, so: „Hilf uns! Dora, Sigi, Poldy, Leon, Peop, Franzi 14. VIII 1938“ und „Bitt [sic] für uns Poldy, Leon, Dora, Sigi, Pepi, Franzi 27. VIII 1938“. Des Weiteren finden sich auf der Inschriftentafel selbst zwischen den eingravierten Zeilen der hebräischsprachigen Grabinschrift Samuel Frommers folgende Bittschriften: „Bete für uns guter Räbi [sic] der l[iebe] Gott soll uns helfen und ein Wunder geschehen lassen. Poldy u. Leon 7. VII 38“; „Lieber Rabi [sic] bitt [sic] beim lieben Gott für mein Weibi u. für mich Dora, Sigi, Pepi, Franzi. Er soll uns nicht verlassen. Poldy u. Leon 7. VIII 1938“; sowie die von Guido Knopp verfilmte Zeile „Lass bald Frieden für uns Juden kommen“. An manchen Stellen stehen nur Namen und Daten, wie gewöhnliche Graffiti, wie sie überall in der Welt auf Denkmälern zu finden sind, jedoch hier mit geschichtsträchtigen Daten: „Trude, Paul, 1.7.38“; „Hermine, Paul 14.3.39“; „Trude, Paul, 2.4.39“. Auch finden sich hier Zeilen in hebräischer Kursivschrift, bei denen es mir aufgrund der Handschrift allerdings schwer fiel, sie zu entziffern. Auch aus der Nachkriegszeit finden sich wiederholt solche Bittschriften oder wenigstens Signaturen, so beispielsweise vom 19. Oktober 1959, vom 2. Jänner 1966, vom 1. Jänner 1975 und so weiter. Eine ergreifende Bittschrift aus jüngster Zeit findet sich am Sockel unten links, der zwar nicht mehr von Verfolgung und Todesängsten bekundet, sondern eine eher „klassische“ Bittschrift aus persönlicher Verzweiflung von einer religiösen Jüdin an den Rabbiner darstellt, und damit übrigens auch die Erstarkung orthodoxen Brauchtums in der Wiener jüdischen Sepulkralkultur in der Nachkriegszeit veranschaulicht: „Wien, 31. 7. 2004, Rabbi, kümmere Dich bitte um meine beiden Kinder, Ruth (1991) und Philipp (2004) die durch Abtreibung ums Leben gekommen sind. Verzeihe
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mir meine Schuld!“ So erstaunlich dieses Denkmal mit den Bittschriften ist, die teilweise schon fast ein Jahrhundert von der Umwelt wie auch von der historischen Forschung größtenteils unbemerkt überdauert haben, fällt es an manchen Stellen langsam der Verwitterung zum Opfer. Der allgemeine Hintergrund zur religiösen und kulturellen Praxis von Bittschriften, die an den Grabstätten verstorbener (insbesondere chassidischer) Rabbiner hinterlassen werden, ist frei nachvollziehbar, wie hier in Kapitel 6 eingehend erläutert wurde. Doch wieso ausgerechnet dieses Grabhäuschen zu einem solchen Anzugspunkt für verzweifelte Jüdinnen und Juden wurde, um während der Shoah ihren Ängsten Ausdruck zu verleihen, bleibt ein Rätsel. Im Vergleich zu vielen der am Zentralfriedhof bestatteten chassidischen Rabbiner ragt nämlich Frommers Name in der Erinnerung keineswegs heraus: Er kommt in der einschlägigen Literatur schlicht nicht vor, online finden sich auch keine Hinweise auf seinen Hintergrund.100 Einige Monate, nachdem mein oben zitierter Beitrag zu diesem mysteriösen Grabhäuschen erschien, als ich gerade dabei war, das vorliegende Werk fertigzustellen, meldete der Historiker Benjamin Grilj vom Institut für jüdische Geschichte Österreichs, der sich damals eingehend mit den Matrikeln der Kultusgemeinde aus genau dieser Ära beschäftigte, dass er auf weitere Informationen zu Samuel Frommer gestoßen war: Am 16. Mai 1843 in Krakau im damaligen Galizien geboren, war Frommer laut Sterbebuch sowie laut den Einträgen zu seinen zahlreichen Kindern im Geburtsregister, kein Rabbiner, sondern ein „Kaufmann“.101 Dies vertieft nur das Rätsel der Bittschriften in seinem Grabhäuschen – zumal ihn die Inschrift eindeutig als Rabbiner ausweist. Wieso zudem die BittstellerInnen ihre Bitten sozusagen auf Ewigkeit auf die Inschriftentafel selbst eingeschrieben haben, statt sie wie eher üblich in Form von papierenen kwitl (kleine Bittschriftzettel) zu hinterlassen, bleibt auch ein Rätsel. Wenigstens zur Identität der BittstellerInnen gibt es Indizien: In einem (für ihn typisch lakonischen) Eintrag in seinem Tagebuch vom 13. August 1941 schrieb der damals siebzehnjährige Kurt Mezei: „Nach 5 [Uhr] gehe zu Bäck, wo Auto der Sucher-Partie mit Poldi, Sigi etc.“102 Poldi (Poldy) und Sigi zählen zu den meist genannten Namen, offensichtlich Kosenamen, die im Grabhäuschen des Samuel Frommer erscheinen. Kurt Mezei zählte zu ebenjenen Jugendlichen, die über die Jahre der Shoah, gerade auch im August 1941, viel Zeit am Zentralfriedhof verbrachten – sein Tagebuch wird unten 100 Vgl. z. B. Landesmann: Rabbiner aus Wien und Brocke/Carlebach (Hg.): Biographisches Handbuch der Rabbiner. 101 Sterbebuch der Israelitischen Kultusgemeinde Wien/1911, AIKGW, A/VIE/IKG/I/BUCH/MA/STERBEBUCH/153, Nr. 1227. 102 Tagebuch von Kurt Mezei, 3. Heft, 13. August 1941, JMW, 4465.
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eingehend analysiert. Es liegt also nahe, dass sie, oder andere Jugendliche wie sie, die UrheberInnen der handgeschriebenen Bittschriften an der Grabstätte des Samuel Frommer waren. Doch diese Jugendlichen hielten sich nachweislich meist am Friedhof beim IV. Tor, nicht beim I. Tor auf. Wieso wären sie dann wiederholt zum Grabhäuschen des Samuel Frommer beim I. Tor gepilgert? Zudem war keine dieser Personen – wenn sie tatsächlich für diese Schriften verantwortlich waren – Mitglied der streng orthodoxen chassidischen Gemeinschaft. Ohne weitere Anhaltspunkte liegt es nahe, dass es sich hier um die Aneignung und Abänderung eines erkennbar chassidischen Brauchtums handelt, wodurch sich diese jüdischen Jugendlichen mit der Realität ihrer Verfolgung eben als „Jüdinnen“ und „Juden“ auseinandersetzten und ihre Todesängste unter diesen Umständen in bewusst religiöser Sprache kundtaten. Die frühesten Hinweise auf ihre Aufenthalte beim IV. Tor stammen aus dem Jahr 1940. Es ist also durchaus möglich, dass sie sich schon früher am älteren Friedhof beim I. Tor aufhielten und dort, wo es nur ein paar chassidische Grabhäuschen gibt, vielleicht sogar zufällig auf das Grabhäuschen von Samuel Frommer stießen und begannen, dort nach dem „Anschluß“ ihre Ängste kundzutun. In der Tat sind solche Graffiti auf einem Wiener jüdischen Grabstein nicht einzigartig: Die Rückseite des ursprünglichen, heute noch erhaltenen Grabsteins Theodor Herzls am Döblinger Friedhof im 19. Bezirk ist übersät mit eingeritzten, zumeist hebräischsprachigen Graffiti von zionistischen Pilgern, die bis in die 1920er-Jahre zurückreichen.103 Diese erklären sich aber durch die Anziehungskraft dieses Grabsteins aufgrund der herausragenden Prominenz Theodor Herzls als Pionier der zionistischen Bewegung. Samuel Frommers „Graffiti“-übersätes Grabhäuschen bleibt hingegen ein historisches Kuriosum sowie ein wahrhaft einzigartiges Denkmal der Shoah in Wien, stellvertretend für die neue Rolle der jüdischen Friedhöfe als „Häuser des Lebens“ während der NS-Zeit. 8.2
Die Bestattung von Ascheurnen und „Nichtglaubensjuden“ beim IV. Tor
Insbesondere zwei Aspekte der NS-Verfolgungs- und Vernichtungspolitik hatten eine markante Auswirkung auf den Friedhof beim IV. Tor, die weit über die Shoah hinaus für schmerzhafte Auseinandersetzungen innerhalb sowie außerhalb der jüdischen Gemeinde sorgen sollten: erstens die Bestattung von Ascheurnen von in Konzentrationslagern umgekommenen oder ermordeten 103 Vgl. Corbett: „Was ich den Juden war, wird eine kommende Zeit besser beurteilen…“, S. 79–81.
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Menschen, die noch in den ersten Jahren der Verfolgung an die Kultusgemeinde zur Bestattung im jüdischen Friedhof versandt wurden, und zweitens die Bestattung ab September 1941 von Verstorbenen, die laut den Nürnberger Gesetzen als „Jüdinnen“ und „Juden“ galten, aber solche weder im Eigenverständnis noch im Verständnis der Kultusgemeinde waren. Eine im Nachhinein recht unbekannte Praxis der NS-Verfolgungspolitik, die in den Massenverhaftungen von Jüdinnen, vor allem aber von männlichen Juden nach dem „Anschluß“ ihren Ausgangspunkt hatte und die bis zur Anlage von industriellen Krematorien in den Konzentrations- und Vernichtungslagern fortdauern sollte, war der Versand von Ascheurnen von umgekommenen oder ermordeten Häftlingen zurück an ihre jeweiligen Heimatgemeinden. Der Zweck der Rücksendung der Urnen wurde beispielhaft in den Rechnungen der „Abt[eilung] Krematorium“ des Konzentrationslagers Dachau erklärt: „Das K.L. [Konzentrationslager] Dachau besitzt keinen eigenen Friedhof und laut V[erordnung] des Reichsführers-SS und Chef der Deutschen Polizei [Heinrich Himmler] sind die Urnen verstorbener Häftlinge auf einem Friedhof ihrer Heimat bzw. am Wohnsitz der Angehörigen beizusetzen.“104 Erst im November 1942, als der Massenmord in den NS-Konzentrationslagern und Vernichtungsstätten zunehmend im In- und Ausland bekannt wurde, befahl Himmler, „daß an jeder Stelle die Leichname dieser verstorbenen Juden entweder verbrannt oder vergraben werden [sollten], und daß an keiner Stelle mit den Leichnamen irgendwas anderes geschehen“ durfte. Zugleich wurden im Zuge der „Aktion 1005“ bereits bestehende Massengräber im okkupierten Europa exhumiert, um die Leichen – belastendes Beweismaterial des fortschreitenden Massenmords – zu vernichten.105 Der Historiker David Cesarani bemerkte in seiner Biographie von Adolf Eichmann über die Zustände in Wien in den Monaten nach dem „Anschluß“: „Täglich trafen in Wien neue Schreckensnachrichten über die Behandlung jüdischer Gefangener in Dachau ein – zusammen mit der Asche derjenigen, die bereits verstorben waren.“106 Im Zeitraum von 1938 bis 1942 wurden insgesamt 1.136 Urnen aus verschiedenen Konzentrationslagern – das waren die Überreste von knapp über 1,7 Prozent der in der Shoah ermordeten österreichischen Judenheit – an die Kultusgemeinde in Wien geschickt, darunter aus Sachsenhausen, Dachau, Ravensbrück, Buchenwald und Auschwitz, der größte Anteil – 966 Ascheurnen, also knapp 85 Prozent – allerdings aus Buchenwald, nicht
104 Siehe z. B. An Israel.-Kultusgemeinde, 30. Juli 1942, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/1/1. 105 Zit. nach Rupnow: Vernichten und Erinnern, S. 56–57. 106 Cesarani: Adolf Eichmann, S. 99.
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Dachau.107 Auch trafen Urnen von in „Irrenanstalten“ Verstorbenen, zumeist aber in der „Aktion T4“ ermordeten PatientInnen ein.108 Alle diese Urnen wurden am Friedhof beim IV. Tor bestattet, wofür spezielle Urnengräber mit einem Ausmaß von jeweils 60 Kubikzentimeter angelegt wurden, die Platz für bis zu vier Urnen boten.109 Von den insgesamt 1.136 Ascheurnen enthielten nur zwanzig die Überreste von Frauen, was den überwiegend männlichen Anteil der Konzentrationslagerinsassen in den ersten Jahren der NS-Herrschaft vor den großen Deportationen in den Osten aufzeigt.110 Im November 1940 erkundigte sich das Totenbeschreibamt der Stadt Wien bei der Kultusgemeinde, wieso es im Jahre 1939 laut Protokoll insgesamt 2.779 Bestattungen in den jüdischen Friedhöfen (Tor I und Tor IV) gegeben hatte, obwohl nur 2.316 Totenbeschaubefunde vorlagen.111 Die Kultusgemeinde antwortete, dass dieser Unterschied eben durch die Bestattung von Ascheurnen zu erklären war, da die Totenbescheinigungen bei verstorbenen Häftlingen von den jeweiligen Ortsgemeinden – im Falle Buchenwalds beispielsweise die Stadt Weimar – ausgestellt wurden.112 Diese Korrespondenz deutet nicht nur auf die ungewöhnlich hohe Anzahl der Bestattungen in diesem Zeitraum, wenn man bedenkt, dass bis 1939 ein erheblicher Teil der jüdischen Bevölkerung Wiens bereits emigriert war, aber dass die Zahl der Bestattungen dennoch höher lag als vergleichsweise knapp vor dem Ersten Weltkrieg, als die Gemeinde noch viel größer war (siehe hier Kapitel 6). Hier wird auch das Ausmaß schon zu dieser Zeit, bevor die koordinierte „Endlösung“ richtig begonnen hatte, der gewaltsamen Todesfälle in den Konzentrationslagern, damals noch vorwiegend auf deutschem Boden, deutlich. So machten Ascheurnen im Jahre 1939 demnach etwa 17 Prozent aller Bestattungen beim IV. Tor aus. Die banale Bürokratie der Ascheurnen-Aktion, die mitunter sogar von einem zynisch rücksichtsvollen Ton begleitet war, wird in einem Schreiben von der Krematoriumsleitung in Buchenwald an das Friedhofsamt der Kultusgemeinde aus dem Sommer 1940 deutlich, in dem die NS-Bürokratie die Kultusgemeinde informierte, dass der Preis für den Versand von Ascheurnen auf 2,50 Reichsmark herabgesenkt wurde – die Kultusgemeinde musste nämlich auch für den 107 An das Friedhofsamt der Israelitischen Kultusgemeinde, 10. August 1951, AIKGW, A/VIE/IKG/III/FH/108/8. Jeder einzelne Urnenschein ist aufbewahrt im Bestand AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/1/1. Vgl. auch O. T, o. D, AIKGW, A/VIE/IKG/III/FH/1/2. 108 Vgl. die Scheine im Bestand AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/4/2. 109 Dienstordnung für die Durchführung der Beerdigungen glaubensloser Juden, 2. September 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/3, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 110 Exenberger: Gleich dem kleinen Häuflein der Makkabäer, S. 301. 111 An das Beerdigungsamt d. Isr. Kultusgemeinde, 27. November 1940, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 112 Aktennotiz, 28. November 1940, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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Versand der Asche ihrer verfolgten und ermordeten Mitglieder aufkommen. Die Kultusgemeinde wurde aber seitens der Lagerverwaltung in Buchenwald gebeten, bloß gegen Aufforderung zu bezahlen, um unnötige Rücküberweisungen vorzubeugen, „da in der Mehrzahl der Fälle die Verstorbenen einen genügend grossen Betrag hinterlassen, von dem die Übersendungskosten in Abzug gebracht werden können“.113 Nur seitens des Konzentrationslagers Dachau entstanden keine „Einäscherungs- und Übersendungskosten“.114 Ein charakteristisches, wenngleich erstaunlich spätes Beispiel einer solchen Rechnung traf noch im Juli 1942 bei der Kultusgemeinde ein – vereinzelte Sendungen von Ascheurnen erfolgten sogar noch bis 1943. Die Rechnung trägt den Briefkopf des Bürgermeisters der Stadt Fürstenberg in Mecklenburg (seit 1950 Brandenburg) und wurde von der dortigen „Krematorium- u[nd] Friedhofverwaltung“ ausgefertigt. In Wahrheit handelte es sich hier wohl um das Konzentrationslager Ravensbrück. Es wurde für den Versand der „Urne Reichmann“ eine „Überführungsgebühr“ in Höhe von 5 Reichsmark verlangt. Vermutlich bezog sich dies auf den bereits im März 1942 in Ravensbrück umgekommenen Max Reichmann – im Jahr zuvor wurde ein Männerlager in diesem ehemals ausschließlichen Frauenlager errichtet. Reichmanns Urne wurde beim IV. Tor bestattet (20-11-39).115 In jedem einzelnen Fall musste die Kultusgemeinde, oft in Person von Ernst Feldsberg, die Angehörigen vom Eintreffen einer Urne informieren. In einem merkwürdigen Beispiel informierte Feldsberg am 5. Oktober 1942 eine in Berlin ansässige Frau Elisa Scherbing, dass ihr Schwager Arnold Lewinsky (in diesen Akten als Lewinski angeführt) am 20. August 1942 im Konzentrationslager Buchenwald verstarb und eingeäschert wurde und dass die Urne mit seinen Überresten nun in Wien im Friedhof beim IV. Tor bestattet werden sollte (20-2825).116 Laut der „Kreuzberger Gedenktafel für Opfer des Naziregimes“ wohnte Lewinski, 1891 in Posen/Poznań geboren, bis zu seiner Festnahme 1938 im Berliner Bezirk Kreuzberg – an der gleichen Adresse wie seine oben genannte Schwägerin.117 Wieso seine Urne nach Wien gelangte und dort bestattet wurde, ist unklar.
113 An das Friedhof-Amt der Israelit. Kultusgemeinde, 30. August 1940, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/1, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 114 Siehe z. B. An Israel.-Kultusgemeinde, 30. Juli 1942, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/1/1. 115 An die Verwaltung des Neuen Israelitischen Friedhofes, 20. Juli 1942, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/1/1. 116 An Frau Elisa Scherbing, 5. Oktober 1942, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/1, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 117 Vgl. Arnold Lewinsky, http://www.museumsmedien.de/xberg-ged/person.php?id=98, letzter Zugriff: 31. August 2020.
Die Bestattung von Ascheurnen und „Nichtglaubensjuden“ beim IV. Tor
Ein weiteres ungewöhnliches Schreiben gelangte im Herbst 1940 aus dem Konzentrationslager Auschwitz an die Kultusgemeinde, in der sich die Insassin Ernestine Löffler darüber beschwerte, dass laut der Lagerverwaltung in Buchenwald die Urne ihres im November 1939 ebendort umgekommenen Ehemanns Hermann Löffler, die sie zugeschickt haben wollte, „bereits Anfang Dez. 1939“ nach Wien gelangte und dort bestattet wurde. Ernestine wollte nun erfahren, „wer die Urne in Weimar angefordert hat“ und wo sie sich befand.118 Dabei handelte es sich offensichtlich um ein Missverständnis ihrerseits, denn der Versand von Ascheurnen an die jeweiligen Heimatgemeinden in diesen Jahren wurde völlig routinemäßig unternommen. In der Friedhofsdatenbank findet sich nur ein Hermann Löffler, dessen Todesdatum allerdings nicht mit den hier angegebenen Daten übereinstimmt, somit ist seine Grabstelle unbekannt. Ernestine Löffler ist in den Opferdatenbanken nicht verzeichnet und dürfte somit die Shoah möglicherweise überlebt haben. Im Dezember 1939 bat Josef Löwenherz die Gestapo, jene Menschen aus den Konzentrationslagern Dachau und Buchenwald zu entlassen und emigrieren zu lassen, die Visen bekommen hatten, nicht zuletzt da die „sehr viele[n] Sterbefälle in den Konzentrationslagern“ in Wien zu „beispielslose[n] Scenen“ unter den Hinterbliebenen führten. Diese lakonische Bemerkung unterstrich er mit Verweis darauf, dass in jenem Herbst bereits 355 Ascheurnen bei der Kultusgemeinde angelangt waren und bestattet wurden. „Um weitere Beunruhigungen zu vermeiden, werden täglich nicht mehr als 5-6 Urnen bestattet“, schloss er.119 Der Eindruck, den die Flut von Ascheurnen auf die plötzlich so gewaltsam verfolgte Gemeinschaft machte, wurde auch in ZeitzeugInnenberichten festgehalten. So berichtete etwa der 1896 in Wien geborene und später in die USA geflüchtete Philipp Flesch in einem Aufsatz, den er bereits 1942 für einen Wettbewerb für deutschsprachige EmigrantInnen an der Universität Harvard verfasste: Im Mai [1938] etwa wurden hunderte und hunderte von Juden verhaftet. Niemand wusste, warum. Niemand konnte es glauben, auch als es schon klar war, dass diese Leute wahllos nach Dachau transportiert worden waren. Erst als die ersten Aschenurnen ankamen, die meisten von jungen, gesunden Leuten, die man noch vor kurzem frisch und munter gesehen hatte, wurde die entsetzliche Wahrheit offenbar. „Ihr Jud’ ist tot. Holen Sie die Urne ab“, das war oft der muendliche Wortlaut der Nachricht.
Flesch schrieb, dass er zu dieser Zeit „in der Brieftasche gut versteckt eine Rasierklinge“ trug, „fuer alle Faelle. Aber ich wurde nicht verhaftet“. Flesch, der erst im September 1939 flüchten konnte, wusste genau, was Dachau und 118 An die Isr. Kultusgemeinde, 12. September 1940, CAHJP, HMB/2979. 119 Friedman (Hg.): Dr. Josef Löwenherz, S. 22.
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Buchenwald bedeuteten, wie er hier anekdotisch vorführte. Bereits bei seiner Abreise aus Wien waren nämlich schon 700 WienerInnen in Buchenwald verstorben: Ich sah, wie ein Beamter der Kultusgemeinde immer wieder auf gewisse Papiere stempelte: Gestorben, gestorben, gestorben… […] Die Leichen wurden verbrannt, zum grossen Kummer der orthodoxen Juden, denen Leichenverbrennung als Leichenschaendung gilt. Die juedische Leitung des Zentralfriedhofes war ueberlastet. Vom Morgen bis zum Nachmittag Begraebnis auf Begraebnis. Es war nicht leicht in jener Zeit, sich in Wien begraben zu lassen.
Flesch beschrieb eine Bestattung, an der er teilnehmen „musste“, woraus die gewaltige Anzahl an Leichenfeiern zu dieser Zeit deutlich wird: „Alles ging sehr schnell vor sich. Die Trauerhalle war schon vom zehnten November her zerstoert, denn die deutsche Gruendlichkeit hatte vor keinem Gotteshause haltgemacht. Hinter unserem Zuge kamen gleich andere. Viel heimgehende Zuege begegneten uns.“120 Harvey Fireside, 1929 in Wien als Heinz Wallner geboren und später in die USA geflüchtet, beschrieb in seinen Memoiren das furchtbare Schicksal seines Onkels Walter und die Bestattung von Walters Ascheurne: Mein 29-jähriger Onkel büßte für seine Sünde, mit einer arischen Frau geschlafen zu haben, damit, dass er Häftling in einem Konzentrationslager wurde. Vater erhielt nicht mal zwei Monate später die Nachricht, dass Walter in Buchenwald verstorben war, angeblich an einer Lungenentzündung. Er durfte entgeltlich die Urne mit der Asche seines Bruders bestellen und gegen Nachnahme bei der Post abholen. Weiß Gott wessen Überreste in dem Behälter waren, den Vater abholte. Noch konnten wir jemals wissen, welche Qualen Walter sowie tausende andere Wiener Opfer dieses blutigen Amoklaufs ausgesetzt wurde.121
Wie Fireside richtig anmerkte, ist es durchaus fraglich, ob die Mannschaften der Konzentrationslager überhaupt so sorgfältig bei der Verbrennung der Leichen vorgingen, dass eine Identifizierung der Asche im Nachhinein möglich gewesen wäre – anders ausgedrückt, es ist fraglich, ob es sich bei der zurückgesandten Asche überhaupt um die irdischen Überreste der genannten Verstorbenen handelte.122 Bei Firesides Onkel handelt es sich wahrscheinlich um Walter 120 Flesch, Philipp: Mein Leben in Deutschland vor und nach dem 30. Januar 1933, unveröffentlichte Memoiren, 1942, LBI, ME 132, S. 17, 19–20. 121 Fireside, Harvey: Delusions & Denials. Viennese Life under the Nazis, unveröffentlichte Memoiren, 2004, LBI, ME 1486, 54–55. 122 Vgl. hierzu allgemein Theune, Claudia: Gewalt und Tod in Konzentrations- und Vernichtungslagern. Möglichkeiten und Grenzen der Archäologie, in: Morsch, Günter/Perz, Bertrand
Die Bestattung von Ascheurnen und „Nichtglaubensjuden“ beim IV. Tor
Feuerzeug, der am 16. Jänner 1939 in Buchenwald verstarb und am 14. Februar beim IV. Tor bestattet wurde (22-42-11) – Feuerzeug war der ursprüngliche Familienname, den Heinz/Harveys Vater auf Wallner geändert hatte und auf den Heinz/Harvey mit seinem neuen amerikanischem Namen Fireside anspielte. Eine ergreifende Geschichte bezieht sich auf die Bestattung der Urne des am 10. Jänner 1945 in Theresienstadt verstorbenen Rudolf Tintner. 1878 in Brünn/Brno geboren, lebte Tintner seit der Jahrhundertwende in St. Pölten, wo er als Stadtbaumeister tätig war und 1917 zum Katholizismus konvertierte. Seinen Töchtern zufolge hatte sich Tintner nach dem „Anschluß“ mit „Händen und Füßen gegen eine Ausreise gewehrt“ und konnte tatsächlich durch den Schutz seiner als „Mischlinge“ klassifizierten Töchter vorerst in Wien überleben, wo er wie alle Jüdinnen und Juden, auch wie Tintner selbst, die bloß den Nürnberger Gesetzen zufolge als solche galten, aus den österreichischen Provinzen zwangsübersiedelt wurde. Er wurde jedoch schließlich aufgrund eines „Delikts“ am 19. März 1944 nach Theresienstadt deportiert, wo er am 10. Jänner 1945 verstarb. Wie der Historiker Christoph Lind erklärte: Die Urne wurde seinen Töchtern nach Kriegsende von ehemaligen Mithäftlingen Tintners überbracht und stand, bis die Schwestern ein Grab für ihren Vater erhielten, sechs Wochen im Zimmer Elisabeths. Schließlich gingen sie und Rosa mit Urne und Schaufel auf den Zentralfriedhof in Wien und begruben die Asche ihres Vaters.
Der Fall Rudolf Tintners zeugt von einem (alt-)österreichischen Mann, der trotz seiner Verfolgung bis in den Tod als stigmatisierter „Jude“ sich sein Zugehörigkeitsgefühl in seinem Heimatland und seiner Kultur nicht nehmen ließ. So erklärten die Töchter in einem Interview 1992: „Wir haben ihn gemeinsam am Zentralfriedhof in österreichischer Erde begraben.“123 Die Grabstätte befindet sich bezeichnenderweise im allgemeinen, nicht ausschließlich jüdischen Teil des Zentralfriedhofs (16B-2-11). Victor Klemperer, der Verfasser eines der bekanntesten deutschsprachigen Tagebücher aus der NS-Zeit, der nach den Nürnberger Gesetzen als „Jude“ verfolgt wurde, aber aufgrund seiner Ehe mit einer „arischen“ Frau die Shoah in Dresden überlebte, beschrieb ergreifend eine Urnenbestattung am Neuen Jüdischen Friedhof in Dresden am 10. August 1942. Hier bezeichnete er die Einäscherung selbst als „vollkommene Gestaltvernichtung“, der letzte Schritt
(Hg.): Neue Studien zu nationalsozialistischen Massentötungen durch Giftgas. Historische Bedeutung, technische Entwicklung, revisionistische Leugnung, Berlin 2011, S. 64–76. 123 Lind, Christoph: „… es gab so nette Leute dort“. Die zerstörte jüdische Gemeinde St. Pölten, unter Mitarbeit von Matthias Lackenberger, St. Pölten 1998, S. 236; vgl. auch das Interview mit Tintners Töchtern, S. 251, Anm. 250. Ich danke Martha Keil für diesen Hinweis.
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in der Vernichtung eines kompletten Menschenlebens.124 Obwohl Klemperer Protestant war, erinnert seine Deutung der Einäscherung an die orthodoxjüdische Ablehnung der Feuerbestattung als Vernichtung der Form, die als Bild Gottes geschaffen wurde (siehe 1. Moses 1,27) und somit auch an das Sakrileg, ja den Ikonoklasmus, den die NationalsozialistInnen verübten, indem sie ihren Opfern nicht bloß das Leben, sondern auch im ideellsten Sinn eine Form sowie ein ordentliches Begräbnis verweigerten. Diese „Vernichtung der Form“ führte zu verzweifelten Auseinandersetzungen insbesondere unter orthodoxen Jüdinnen und Juden mit den religiösen Implikationen der Masseneinäscherung. Bereits zu Beginn der Shoah wandten sich gläubige Jüdinnen und Juden an ihre Rabbiner mit Fragen rund um den Umgang mit den Ascheresten ihrer Angehörigen, die ihnen aus den Konzentrationslagern geschickt wurden.125 So erläuterte beispielsweise 1939 der vermutlich 1942 in Auschwitz ermordete polnische Rabbiner Menachem Mendel Kirschbaum zwölf Punkte bezüglich „Trauer, Bestattung und Grabdenkmal“, die in solchen Fällen zu beachten waren. Unter anderem sollte die Asche wo immer möglich in einem Sarg bestattet und die Urne wie eine Leiche in Leichentuch und talit (Gebetsmantel) gewickelt werden, „um Trotz dem Fehlen der Leiche den Glauben an die Wiederauferstehung zu bekunden“. Auch „sollte bei der Bestattung der Asche das gleiche Trauerverfahren befolgt werden wie bei der Überführung [einer Leiche] aus einer provisorischen in einer permanenten Grabstätte“. Obwohl Kirschbaum betonte, dass „das Begraben der Asche nicht das gleiche ist wie die Pflicht der Bestattung des Verstorbenen“, sollte das von ihm ausgelegte Verfahren das gleiche Maß an Würde und religiöser Sorge gegenüber den gegen ihren Willen eingeäscherten Verstorbenen zeigen, wie es sonst im Falle von gläubigen Jüdinnen und Juden geschehen würde.126 Diese allgemeinen rabbinischen Überlegungen spiegelten sich auch in der tatsächlichen Praxis beim IV. Tor. So beschwerte sich das Friedhofsamt im März 1939, dass die Urne des kürzlich nach den Novemberpogromen 1938 inhaftierten und am 28. Februar 1938 in Dachau umgekommenen Siegfried Schwed ohne Sarg bestattet wurde (50-36-4). Das Friedhofsamt verordnete daraufhin, „dass diejenigen Urnen, bei denen rituelle Funktionen versehen werden, in den Sarg gelegt werden müssen“.127
124 Klemperer, Victor: Ich will Zeugnis ablegen bis zum Letzten. Tagebücher 1942–1945, Berlin 1995, S. 202. 125 Vgl. allgemein Roth: Zur Halachah des jüdischen Friedhofs, S. 114. 126 Kirschbaum, Menahem Mendel: On the Status of Deceased Jewish Prisoners’ Ashes Returned by the Nazi Government to the Bereaved Families (After Kristallnacht, 1938) [1939], in: Kirschner, Robert (Hg.): Rabbinic Responsa of the Holocaust Era, New York 1985, S. 55–56. 127 An die Kanzlei, 20. März 1939, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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Wie Victor Klemperer schrieb, hörte das „höfliche Heimsenden der Urnen“ etwa Anfang 1942 mit dem Beginn des industriellen Massenmordes und der Massenverbrennung der Leichen der Opfer an Ort und Stelle im besetzten Osten auf.128 Noch aus dem Herbst 1942 liegt allerdings eine Liste von Urnen vor, die in Wien zur Bestattung bereitstanden, und vereinzelte Urnen wurden noch bis 1943 an die Kultusgemeinde zurückgeschickt, als die „Aktion Reinhardt“ und die geplante „Endlösung“ bereits in vollem Gang waren.129 Ein solcher später Versand einer Ascheurne – und die mögliche Erklärung dafür – wird in Kürze in einem Fall beleuchtet, der sich auch auf eine „nichtarische Christin“ bezieht. Eine weitere Schikane der NS-Machthaber in Bezug auf die jüdische Sepulkralpraxis war der reichsweite Erlass 1941 des Reichministers des Innern, Wilhelm Frick, dass fortan alle nach den Nürnberger Gesetzen als „Jüdinnen“ und „Juden“ definierte Verstorbene ausschließlich in jüdischen Friedhöfen bestattet werden sollten. Dies folgte wiederum dem kürzlich zuvor erlassenen Beschluss, dass Verstorbene, die nach den Nürnberger Gesetzen als „jüdisch“ galten, nicht mehr in „arischen“ Friedhöfen bestattet werden durften.130 Mit diesen Verordnungen trat auch im Bereich der Bestattung die Problematik der Identifikation ein, die inzwischen jede Facette des Lebens im „Dritten Reich“ prägte. Alleine in den jüngsten Generationen, in denen die Kultusgemeinde eine ausführliche Matrikel zu Geburten, Ehen und Todesfällen sowie Ein- und Austritte in ihrer Religionsgemeinschaft verzeichnet hatte, gab es abertausende sogenannte „Mischehen“ sowie Übertritte. So konvertierten in Wien zwischen 1868 und 1903 insgesamt etwa 9.000 Jüdinnen und Juden zum Christentum.131 Die Grenzen des „Jüdischen“ und des „Nichtjüdischen“ waren in Wien also schon lange vor dem „Anschluß“ durchaus verschwommen, sogar nach „rassischen“ Definitionen der „Jüdischkeit“. Nach NS-Definition wohnten beispielsweise im Mai 1939 in Wien 91.530 „Volljuden“ – Personen, die den Nürnberger Gesetzen zufolge durch Abstammung als „jüdisch“ galten, aber nicht unbedingt gläubige Jüdinnen und Juden waren – von denen aber nur 79.919 „Glaubensjuden“ waren, also „rassisch“ jüdisch sowie Mitglieder der jüdischen Religionsgemeinschaft.132
128 Klemperer: LTI, S. 198. 129 An das Friedhofsamt, 5. September 1942, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/1, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 130 An das Rechtsbüro, 2. September 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/Österreich/2/5, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 131 Rozenblit: The Jews of Vienna, S. 132. Vgl. auch die tiefer gehende Diskussion zu Konversionen in Diemling, Maria: Grenzgängertum. Übertritte vom Judentum zum Christentum in Wien, 1500–2000, in: Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 7/2 (2007). 132 Vgl. Brugger et al.: Geschichte der Juden in Österreich, S. 530.
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Am 29. Juli 1941 informierte die Wiener Städtische Bestattung die Kultusgemeinde vom entsprechenden Beschluss des Reichsstatthalters, dass alle verstorbenen „glaubenslose[n] Rassejuden“, wie sie hier genannt wurden, fortan am jüdischen Friedhof beim IV. Tor zu bestatten seien.133 Es folgte ein Protest seitens der Kultusgemeinde, die hierin eine Verletzung ihres religiösen Brauchtums sowie des sakralen Charakters des Friedhofs sahen. Die Reichsstatthalterei antwortete am 27. August, „dass die Bestattung der glaubenslosen Juden auf jüdische Friedhöfen nicht verweigert werden“ durfte. Allerdings schlug sie vor, dass ein von der Kultusgemeinde zu bestimmender abgesonderter Teil des Friedhofs für deren Bestattung zur Verfügung gestellt werden konnte.134 Die Amtsdirektion der Kultusgemeinde schlug demnach die Gruppe 20A am bisher weitgehend unbelegten östlichen Rand des Friedhofs als passenden Ort vor, wobei Feldsberg ausdrücklich betonte, dass die Bestattungen von „Nichtglaubensjuden“ ausschließlich „bis zur Gruppe 21“ stattzufinden hatten: „Die zur Gruppe 21 gehörige Fläche“ bildete nämlich nach wie vor die „Abteilung für Fromme“ und sollte daher nur „für Schomre-Schabos-Gräber“ (Gräber für Strenggläubige) verwendet werden.135 Beisetzungen in bestehenden Gräbern in anderen Teilen des jüdischen Friedhofs sollten zugelassen werden, falls diese von den Angehörigen angefragt wurden, wobei zuerst aber die tatsächliche Verwandtschaft – in anderen Worten auch die „Jüdischkeit“ wenigstens nach Abstammungskriterien – nachgewiesen werden musste. Die Kultusgemeinde verband die Bestattung von Nichtangehörigen ihrer Religionsgemeinschaft allerdings mit den folgenden Bedingungen: „Eine Funktion darf unter keinen Umständen stattfinden. Das Begräbnis ist jedoch von der Leichenhalle aus durchzuführen. Eine rituelle Bekleidung konfessionsloser Juden hat natürlich nicht stattzufinden.“136 Bereits wenige Wochen später wurde eine Ergänzung des Erlasses der Reichsstatthalterei verordnet, wonach auch Angehörige anderer Religionsgemeinschaften, die nach den Nürnberger Gesetzen als „Rassejuden“ galten, am jüdischen Friedhof bestattet werden mussten – also „nicht nur glaubenslose Juden, sondern auch Katholiken, Protestanten und anderen Bekenntnissen angehörige Juden“. Am 24. September nahm die Kultusgemeinde in einem internen Schreiben folgende Stellung dazu: „Im Gegensatz zu den glaubenslosen Juden ist bei
133 An die Israelitische Kultusgemeinde, 29. Juli 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/III/Präs/1. 134 Aktennotiz, 27. August 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/3/2. 135 An die Kanzlei Neuer Friedhof, 24. März 1942, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 136 Aktennotiz, 27. August 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/3/2, vgl. hier auch Dienstordnung für die Durchführung der Beerdigungen glaubensloser Juden, 2. September 1941 sowie An die Israelitische Kultusgemeinde, 29. Juli 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/III/PRÄS/1.
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Leichen anderen Religionsgemeinschaften angehörigen Juden jede Beilegung [in bereits bestehende Grabstätten] untersagt. Es kann daher die Bestattung dieser Leichen nur auf dem reservierten Platze auf dem Zentralfriedhof IV. Tor erfolgen.“ Schließlich sollten neben der bereits bestimmten Gruppe 20A auch die Gruppen 18K,19K, 20C, 20D und 20E zur Bestattung von „Nichtglaubensjuden“ freigegeben werden. Es wurde eine getrennte Leichenkammer für die „zu bestattenden Nichtglaubensjuden (also auch der konfessionslosen Juden)“ bereitgestellt, samt gesonderter Bahrtücher und Tragbahren. „Die Einsegnung von Leichen katholischer, protestantischer oder altkatholischer Juden“, so schloss die Stellungnahme der Kultusgemeinde, „darf auf dem Friedhofe nicht stattfinden. Es ist jedoch selbstverständlich, dass diese Einsegnung in Kirchen vorgenommen werden kann“.137 Feldsberg verbot vorerst auch „Rückführungen von Leichen aus dem Friedhofe zum Zwecke kirchlicher Einsegnung“ mit der Begründung, diese könnten nur „mit besonderer Genehmigung des Gesundheitsamtes Simmering“ vorgenommen werden.138 Schließlich erteilte er aber doch die Erlaubnis, „dass bei nichtmosaischen [sprich: nichtjüdischen] Begräbnissen, falls für die Begräbnisfunktion eine Sonderzahlung erfolgt[e], ein deutsches Lied [also nichthebräisch, hier auch als „nichtjüdisch“ zu verstehen] von den 8 Chorherren im Ornat gesungen“ werden durfte. Das Singen hatte in der für „Nichtglaubensjuden“ bereitgestellte Halle II zu erfolgen, „eine Begleitung des Sarges durch die Chorherren“ blieb aber weiterhin ausgeschlossen. In der Leichenhalle wurden drei Bahren eingerichtet, „so dass die Leichen glaubensloser Juden stets abgesondert verwahrt werden“ konnten. Ferner durften „nichtmosaische Juden“, wobei spezifisch verstorbene Angehörige anderer Konfessionen gemeint waren, keine Begräbnisse der fünften Klasse erhalten, da diese unentgeltlichen Armenbegräbnisse in Sammelgräbern stattfanden und somit zu einer gemeinsamen Bestattung von „Glaubensjuden“ und „Nichtglaubensjuden“ geführt hätten.139 „Glaubenslose Juden“, also Konfessionslose, die zu einem gewissen Grad, da sie nicht konvertiert waren, noch als „jüdisch“ erachtet wurden, durften aber ein solches Armenbegräbnis erhalten, wobei in jedem Grab „drei Leichen unentgeltlich zu bestatten“ waren. Im Gegensatz zum Begräbnis von Kultusgemeindemitgliedern durften in der abgesonderten Abteilung für „Nichtglaubensjuden“ miteinander nicht verwandte Verstorbene im gleichen Grab beigesetzt werden,
137 Aktennotiz, 24. September 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/3/2. 138 An die Kanzlei Neuer Friedhof, 27. Mai 1942, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 139 An die Kanzlei Zentralfriedhof, 1. Juli 1942, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/3, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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womit diesen Begräbnissen deutlich weniger Pietätsgefühl zuteilwurde als bei „jüdischen“ Begräbnissen.140 Anfangs bestimmte das Friedhofsamt, dass bei der „Durchführung der Beerdigungen glaubensloser Juden […] das zu errichtende Grabdenkzeichen […] nur eine Namenstafel“ sein durfte, was vermutlich Inschriften und vor allem Symbolik vorbeugen sollte, die gegen die seit der Zwischenkriegszeit geltenden Verordnungen zur Bewahrung des „jüdischen Charakters“ des Friedhofs (siehe hier Kapitel 6) hätten verstoßen können.141 Angesichts der vielen Grabsteine von „Nichtglaubensjuden“, die mit ausführlichen Inschriften inklusive Kreuzen versehen wurden, wurde diese Verordnung offenbar nicht konsequent beachtet. Für Ernst Feldsberg stellte jedenfalls dieses gemeinsame Begräbnis von Kultusgemeindemitgliedern und jenen als „Jüdinnen“ und „Juden“ verfolgten, dennoch nichtjüdischen Menschen eine Bedrohung des „jüdischen“ Charakters des Bestattungsraums dar. Aus genau dieser Zeit stammt nämlich der zwölfseitige, hier in Kapitel 2 analysierte, vermutlich von Feldsberg persönlich verfasste Bericht zu den „jüdischen Totengebräuche[n]“ und dem „Totenkult“, in dem eine rigide, explizit orthodoxe Bündelung von angeblich universellen „jüdischen Bräuchen“ vorgestellt und untermauert werden sollte. Vom inhaltlichen und archivarischen Kontext her zu schließen handelte es sich hier wohl um eine explizite Reaktion auf die Bestattung von Nichtjüdinnen und -juden beim IV. Tor ab 1941, somit als charakteristisches Beispiel des Rückzugs in eine verklärte jüdische „Tradition“, die in diesen Jahren der Verfolgung begann und schließlich die gesamte Sepulkralpolitik der Nachkriegsjahre dominieren sollte.142 In den letzten Monaten der NS-Herrschaft, nachdem Feldsberg bereits ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert worden war, schwächte der „Ältestenrat“ in Wien, der ja zu dieser Zeit eine Gruppe Verfolgter repräsentierte, die zur Hälfte aus Nichtjüdinnen und -juden bestand, seine restriktiven Bestimmungen zur Bestattung von christlichen „Nichtglaubensjuden“ ab, wie in einem Bericht vom Jänner 1945 deutlich wird: „Selbstverständlich ist den Wünschen der Angehörigen Rechnung getragen worden, sodas [sic] die Leichenbegängnisse nach römisch-katholischem, alt-katholischem und evangelischem Ritus“ stattfinden durften.143 Die erste Bestattung einer verstorbenen Person, die der Kultusgemeinde nicht angehörig war, erfolgte am 25. September 1941. Zwischen 1941 und 140 Dienstordnung für die Durchführung der Beerdigungen glaubensloser Juden, 2. September 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/3, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 141 Dienstordnung für die Durchführung der Beerdigungen glaubensloser Juden, 2. September 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/3, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 142 O. T., o. D., AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/3/2. 143 Jahresbericht des Ältestenrats 1944, Jänner 1945, CAHJP, A/W 118. Ich danke Michaela Raggam-Blesch für diesen Hinweis.
Die Bestattung von Ascheurnen und „Nichtglaubensjuden“ beim IV. Tor
1945 sollten insgesamt 765 solche Bestattungen beim IV. Tor stattfinden.144 Die Begräbnisse von ChristInnen wurden finanziell von der „Erzbischöflichen Hilfsstelle für nichtarische Katholiken“ unterstützt.145 Als die Stadtverwaltung im Juli 1942 wieder versuchte, den Friedhof zu „arisieren“, gelang es Josef Löwenherz, diesen Versuch gerade durch das Argument abzuwenden, dass der Friedhof für die Bestattung der in Wien verbliebenen „Glaubensjuden“ wie „Nichtglaubensjuden“ unabdinglich war.146 Galt die Bestattung der letzteren als Ärgernis für die Kultusgemeinde, insbesondere für Ernst Feldsberg, so hielt sie nun aber auch als Argument für die prinzipielle Erhaltung des jüdischen Friedhofs her. Die Verordnung zur Bestattung von nichtjüdischen Verstorbenen im jüdischen Friedhof reflektierte eine weitere Zuspitzung der Verfolgungsmaßnahmen, die zeitgleich mit der Einführung des „Judensterns“ und der damit verbundenen sichtlichen Stigmatisierung von „Jüdinnen“ und „Juden“ im öffentlichen Raum stattfand. In den Wochen danach begingen 36 Menschen Selbstmord, größtenteils sogenannte „Glaubensjuden“ (also tatsächlich jüdische Menschen) aber auch fünf „Nichtglaubensjuden“, die nun alle aufgrund der neuen Verordnungen beim IV. Tor bestattet werden mussten. Als Todesursachen wurden in den Akten der Kultusgemeinde etwa „Leuchtgas“, „Schlafmittel“ oder „Fenstersturz“ genannt. Unter diesen 36 Menschen befanden sich beispielsweise die älteren „Glaubensjuden“ Max und Olga Berger, sesshaft in der Liechtensteinstraße 42 im 9. Bezirk. Sie begingen am 16. Oktober mit Schlafmittel Selbstmord und wurden am 21. Oktober bestattet (7-29-10). Unter den „Nichtglaubensjuden“ befand sich das ebenfalls ältere Ehepaar Alice und Max Berend, das am 15. bzw. 16. Oktober durch Schlafmittel umkam und ebenfalls am 21. Oktober bestattet wurde, selbstverständlich in einer der Abteilungen für „Nichtglaubensjuden“ (20E-2-11).147 Ein gut belegtes Beispiel der Verfolgung, des Todes und der Bestattung einer „Nichtglaubensjüdin“ ist das der 1943 verstorbenen Yuana Hilde Ryvarden (laut Friedhofsdatenbank 14-16-22, wobei die Grabstelle eher der Gruppe 18K zuzuordnen ist). Der Grabstein besteht aus einem einfachen Sockel mit Inschriftentafel samt Kreuz. Die Inschrift lautet: „Ich liege und schlafe und erwache, denn der Herr hält mich [Psalm 3,6]. Yuana Hilde Ryvarden. Ihr Herz brach fern der 144 An das Friedhofsamt der Israelitischen Kultusgemeinde, 10. August 1951, AIKGW, A/VIE/IKG/III/FH/108/8. 145 Diemling: Grenzgängertum, S. 56. Zur „Erzbischöflichen Hilfsstelle“ vgl. Hecht/LappinEppel/Raggam-Blesch: Topographie der Shoah, S. 339–348. 146 Deposition made by Dr. Loewenherz (in preparation for Eichmann trial), o. D., LBI, Joseph Loewenherz Collection, Box 1, Folder 7, AR25055. 147 Verzeichnis der am 16. Oktober 1941 zur Bestattung freigegebenen Selbstmörderleichen, CAHJP, HMB/2967.
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Heimat am 8.11.1943 vor Sehnsucht und Not.“ Laut dem Projekt „Erinnern für die Zukunft“, welches sogenannte „Stolpersteine“ für die Opfer der Shoah sowie die MitstreiterInnen des politischen Widerstands in Mariahilf, dem 6. Bezirk, erstellte, wurde Yuana Ryvarden, 1899 geborene Goldblatt, am 26. März 1943 in ihrer Wohnung in der Mariahilfer Straße 31 von der Gestapo verhaftet und nach Auschwitz deportiert. Der offizielle Grund war „Nichteinhaltung der für Juden bestehenden Bestimmungen“ – die Christin Ryvarden wurde nach den Nürnberger Gesetzen nämlich als „Jüdin“ definiert. Scheinbar waren Ryvarden und ihr Mann Fritz direkt oder indirekt mit den kommunistischen Widerstandsaktivitäten um Adalbert von Springer involviert. Tatsächlich wurden beide Männer bereits einen Monat früher wegen „Nichtanzeige eines hochverräterischen Unternehmens“ festgenommen. Fritz Ryvarden wurde schließlich entlassen und überlebte die NS-Zeit. Er liegt im Hietzinger Friedhof begraben (Grabstelle unbekannt). Springer wurde hingerichtet.148 Am 3. Dezember 1943 wurde die „Urne mit den Aschenresten der Hilde Juana Sara Ryvarden geb. Goldblatt“ vom Krematorium in Auschwitz an die Kultusgemeinde in Wien versandt, mit der Bitte, den Empfang sowie die „erfolgte Beisetzung“ zu bestätigen – man beachte den von den NS-Behörden beigefügten Namen „Sara“.149 Am 17. August 1938 wurde per Reichsgesetz dekretiert, dass Juden den Beinamen „Israel“ und Jüdinnen den Beinamen „Sara“ anzunehmen hatten, um sie deutlich als „jüdisch“ zu kennzeichnen.150 Am 2. Juni 1939 wurde dieser Verordnung in Wien auch auf die Friedhofsverwaltung ausgedehnt: So mussten fortan alle Akten, inklusive der Totenregister, bei jedem Individuum den Namen „Israel“ bzw. „Sara“ führen, womit auch die Toten stigmatisiert wurden.151 Bereits am 11. Dezember schrieb Ernst Feldsberg an Fritz Ryvarden, um den Empfang von 713 Reichsmark zur Deckung der Bestattungskosten zu bestätigen.152 Die „Aschenkapsel mit den Aschenresten der Frau Hilde Ryvarden“ wurde am 13. Dezember 1943 beim IV. Tor bestattet.153 Es ist erstaunlich, dass zu diesem späten Zeitpunkt noch aus einem Vernichtungslager Aschereste 148 Fuchs, Ulli: Der politische Widerstand gegen die NS-Diktatur in Mariahilf. Eine Materialsammlung, in: Franer, Kilian/Fuchs, Ulli (Hg.): Erinnern für die Zukunft. Ein Projekt zum Gedächtnis an die Mariahilfer Opfer des NS-Terrors, Wien 2009, S. 101–102. 149 An die Verwaltung des Zentralfriedhofes IV. Tor in Wien XI, 3. Dezember 1943, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/1, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 150 Vgl. Sara und Israel. Pflicht zu jüdischen Zusatz-Vornamen im 1938 Projekt des Leo Baeck Institute, https://www.lbi.org/1938projekt/de/detail/sara-und-israel/, letzter Zugriff: 31. August 2020. 151 O. T., 2. Juni 1939, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 152 An Herrn Dr. Fritz Rivarden [sic], 11. Dezember 1943, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/1, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 153 Mitteilung, 12. Dezember 1943, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/1, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
Die Bestattung von Ascheurnen und „Nichtglaubensjuden“ beim IV. Tor
an eine Heimatgemeinde versandt wurden. Womöglich erklärt sich dies daraus, dass die Ermordete Christin und ihr Mann Nichtjude waren, sodass letzterer den Versand noch behördlich erwirken konnte. Ein eigenartiger Grabstein in diesem Zusammenhang ist der des 1941 verstorbenen Josef Brüll (20E-1-4), ein Granitstein, geschmückt mit einem Kreuz über der Inschrift und einem Davidstern darunter. Die Inschrift lautet: „Hier ruht in Gott mein lieber Mann, mein guter Vater, Herr Josef Brüll, geb. 29.5.1889 in Innsbruck, gest. 15.12.1941 in Wien“. Laut der Datenbank des Jüdischen Museums in Hohenems kämpfte Josef Brüll, ein gebürtiger Tiroler, im Ersten Weltkrieg und war seit 1923 konfessionslos. Er wurde im September 1938 von der Gestapo in Innsbruck verhaftet, misshandelt und im November nach Wien „zwangsumsiedelt“, wie in den Jahren 1938/39 rasch mit allen Judenheiten der österreichischen Provinz vorgegangen wurde. Dort ließ er sich im April 1939 katholisch taufen. Er verstarb in seiner Wiener Wohnung an einer Lungenentzündung.154 Seine Taufe erfolgte auffallend spät, als es Brüll schon klar gewesen sein musste, dass ihn das Christentum bei der rassistisch motivierten NS-Verfolgung nicht retten würde. Somit dürfte dieser Schritt tatsächlich aus Überzeugung erfolgt sein: Wie die Historikerin Maria Diemling feststellte, wird in der Geschichtsschreibung überhaupt „gerne übersehen“, dass Jüdinnen und Juden sich auch „aus religiös-spirituellen Gründen dem Christentum annäherten“.155 Jedenfalls weist dieser Grabstein mit seiner christlichen und jüdischen Symbolik und seinem allgemeinen Hinweis auf den monotheistischen „Gott“ auf das Ineinandergreifen dieser religiös-kulturellen Facetten von Josef Brülls „Österreichertum“, wenngleich vermutlich durch seine Nachkommen errichtet – seine nichtjüdische Frau Antonia und deren Tochter Ingeborg, die als „Mischling“ ebenfalls verfolgt und mit ihrem Vater 1938 nach Wien zwangsumsiedelt wurde, verstarben jeweils 1984 und 2011 in Innsbruck. Josefs Grabstein stürzte irgendwann nach 2015 um, wurde aber inzwischen wieder instand gesetzt. Ein Grabstein, der weder auf Christentum noch Judentum verweist und sich somit aus allen jenen religiösen wie – für diese Zeit – ethnisierenden Diskursen fernhält, ist der Grabstein der 1942 verstorbenen Ella Gisela Maria Lehr (20A1B-9). Nur ihr Name ist christlich anmutend. Die Inschrift lautet schlicht: „Ella Gisela Maria Lehr, geboren in Wien am 22. August 1874, gestorben in Wien am 23. Mai 1942“. Neben ihren Namen und Lebensdaten wird hier lediglich, dafür aber nachdrücklich zweimal auf ihre Verwurzelung in der Stadt Wien verwiesen.
154 Josef Brüll, http://www.hohenemsgenealogie.at/en/genealogy/getperson.php?personID= I2084&tree=Hohenems, letzter Zugriff: 31. August 2020. 155 Diemling: Grenzgängertum, S. 52.
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Mit den Vorschriften zur Bestattung von „Nichtglaubensjuden“ wurde auch die „Arisierung“ der städtischen Friedhöfe vollzogen, wonach nicht einmal die Leichen von Menschen, die per NS-Definition als „jüdisch“ galten, im nunmehr streng als „arisch“ definierten Boden des „Dritten Reichs“ bestattet werden durften. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang nicht zuletzt die Sprache der internen Schriften der Kultusgemeinde, die die NS-Diskurse von „glaubenslosen Juden“, „konfessionslosen Juden“, „Nichtglaubensjuden“, „Rassejuden“, „anderen Bekenntnissen“ bzw. „anderen Religionsgemeinschaften angehörigen Juden“ sowie „katholischen, protestantischen oder altkatholischen Juden“ übernahm. Stellt schon die Vorstellung eines „konfessionslosen Juden“ ein gewisses Paradoxon dar, so muss der Begriff eines „katholischen“ bzw. „protestantischen Juden“ als reiner Widerspruch gelten – es sei denn aus der Perspektive der Nürnberger Gesetze betrachtet. Dieses Sprachgewirr zeugt von der grundlegenden Konstruiertheit sowie der Widersprüchlichkeit der NS-Kategorien des „Jüdischen“ und des „Nichtjüdischen“ – „eine widersprüchliche Ansammlung religiöser und ‚rassischer‘ Kriterien“, so der Historiker Mark Roseman, mit der sich „die Nationalsozialisten seit ihrer Machtübernahme konfrontiert“ sahen.156 Freilich stellt ihre Übernahme in offizielle Aktenstücke der Kultusgemeinde, die jederzeit von den NS-MachthaberInnen eingesehen werden konnten, eine aufgezwungene Maßnahme dar. Doch private Schriftstücke von Wiener Jüdinnen und Juden zeugten ab 1938 schon von einer breiteren, eher unreflektierten Übernahme von NS-Diskursen bezüglich „Juden“ und „Arier“.157 Auf der innerjüdischen Seite verschärfte dieser Eingriff in die Bestattungspolitik der Kultusgemeinde einen grundlegenden Konflikt um Zugehörigkeit, „Tradition“ und „Jüdischkeit“, der sich bereits in der Zwischenkriegszeit in der Schaffung einer abgesonderten Abteilung für „fromme“ Jüdinnen und Juden niedergeschlagen hatte. Diese Thematik sollte in der Nachkriegszeit zu verschärften innergemeinschaftlichen Konflikten führen – inklusive der Weiterführung ebensolcher fraglichen Diskurse aus der NS-Zeit wie „Glaubens-“ und „Nichtglaubensjuden“ – in der Frage darüber, wer am jüdischen Friedhof begraben werden durfte, als mikrokosmische Auswirkung größerer Fragen der gemeinschaftlichen Zugehörigkeit infolge der Shoah. Dies zeigt sich beispielhaft in den Notizen, die Ernst Feldsberg 1951 anfertigte für eine „Geschichte der Wiener jüdischen Friedhöfe in der Zeit von 1938 bis 1945“, die er für das Joint Distribution Committee, einem der weltweit größten jüdischen philanthropischen Vereine mit Sitz in den USA, schreiben wollte. Ob er jemals so eine Geschichte verfasste, ist nicht überliefert. Unter den Hauptaspekten, die 156 Roseman: Die Wannsee-Konferenz, S. 116, 114. 157 Vgl. z. B. den Brief von Hugo Peschek, zit. in: Hecht/Lappin-Eppel/Raggam-Blesch: Topographie der Shoah, S. 100–101. Peschek gelang die Flucht in die USA.
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er in seinen Notizen herausarbeitete, befanden sich jedenfalls die Themen der Bestattungen jener „Nichtglaubensjuden“, die „rassemässig als Juden“ galten, sowie der Ermordung von „9 Glaubensjuden“ in der Förstergasse in den letzten Kriegstagen.158 Feldsberg hatte somit die Diskurse der NS-Verfolgungspolitik verinnerlicht und wandte diese nun auch in der Nachkriegszeit auf die Geschichte der Shoah in Wien an. 8.3
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Eine der faszinierendsten Episoden der Geschichte der jüdischen Friedhöfe sowie der Shoah in Wien betrifft die Umfunktionierung des Friedhofs beim IV. Tor in den frühen 1940er-Jahren zu einem gemeinschaftlichen Raum für das Leben – und Überleben – der als „Jüdinnen“ und „Juden“ verfolgten Bevölkerung. Diese Episode begann mit der Einrichtung eines sogenannten „Umschulungslagers“ in Vorbereitung auf eine erhoffte Emigration nach Palästina sowie der Anlage eines Gemüsegartens auf einer unbelegten Fläche des Friedhofs, die bald als „das Grabeland“ bekannt wurde. Im Zuge dessen wurde vor allem in den Sommermonaten der Friedhof zu einer der wichtigsten Rückzugsorte insbesondere der jüdischen Jugend in Wien (inklusive der „Mischlinge“ und anderer, die als „Jüdinnen“ und „Juden“ verfolgt wurden). Die Arbeiten am „Grabeland“ sowie die Freizeitaktivitäten wurden in zeitgenössischen Photographien und Tagebüchern wie auch in späteren Memoiren dokumentiert, die einen Einblick bieten in das mitunter erstaunlich „normale“ Alltagsleben der Verfolgten inmitten der Shoah. Diese Normalität war ihnen jedoch schließlich nur vorübergehend gewährt: Die meisten der hier besprochenen Individuen fielen früher oder später der Shoah zum Opfer. Während der Shoah wurde der Friedhof beim IV. Tor kurzfristig ein Zentrum der „Hachshara“ in Wien. Das hebräische Wort bedeutet „Vorbereitung“ und bezeichnete in diesem Kontext die landwirtschaftliche, aber gewissermaßen auch ideologische Vorbereitung insbesondere von jüdischen Jugendlichen auf eine tatsächliche oder erhoffte Auswanderung nach Palästina. Die HachsharaBewegung in Österreich hatte ihre Wurzeln in den 1920er-Jahren, als vor allem osteuropäische EmigrantInnen, die nach Palästina gelangen wollten, aufgrund der Einwanderungsbeschränkungen der britischen Mandatsbehörden für unausgebildete ArbeiterInnen in Wien feststecken blieben. Die Erlangung eines landwirtschaftlichen Zertifikats, die ihnen die Hachshara bot, sollte ihnen bei ihrer Weiterreise behilflich sein, da diese eine wichtige Voraussetzung für die 158 An das Friedhofamt der Israelitischen Kultusgemeinde, 10. August 1951, AIKGW, A/VIE/IKG/III/FH/1/2.
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Einwanderung nach Palästina war.159 Die oben im ersten Unterkapitel erwähnten Graffiti am ursprünglichen Grabstein Theodor Herzls im überkonfessionellen Döblinger Friedhof stammten größtenteils von diesen EmigrantInnen, die dort ihre Namen, Daten und zionistischen Anschauungen sowie mitunter Herkunftsorte festhielten. Im Jahre 1937 nahmen in Wien bereits 1.615 Jugendliche an den Hachshara-Schulungen der zionistischen Bewegung teil.160 Zu Beginn der NS-Herrschaft in Österreich war die „Judenpolitik“ noch auf Vertreibung und Auswanderung ausgerichtet, weshalb Adolf Eichmann 1939 die Bereitstellung von verschiedenen Grundflächen in und um Wien für Umschulungskurse der Kultusgemeinde organisierte, die wiederum die Emigration der jüdischen Bevölkerung Österreichs ankurbeln sollten.161 Im Jahre 1940 betrieb die Kultusgemeinde insgesamt 18 landwirtschaftliche Umschulungslager, an denen bis Jahresende etwa 43.000 Kultusgemeindemitglieder einen Umschulungskurs absolvierten.162 Die Tragik dieser Geschichte ist es, dass die meisten der Menschen, die zu dieser Zeit nach Kriegsausbruch und der Schließung der internationalen Fluchtrouten noch in Wien lebten und dennoch hofften, irgendwann nach Palästina auswandern zu dürfen, schließlich deportiert und ermordet werden sollten. Doch für eine kurze Zeit stellten diese Hachshara-Lager Stätten der Hoffnung dar sowie unmittelbarer die Möglichkeit, ein Gemeinschaftsleben im geschlossenen Kreis abseits von der Alltagsrealität der zunehmenden Verfolgung genießen zu können. Eines dieser Umschulungslager befand sich auf einer bis heute noch unbelegten Fläche in der nordöstlichen Ecke des Friedhofs beim IV. Tor. Dort wurde im Sommer 1940 die sogenannte „Grabeland-Aktion“ organisiert, deren Name von den jugendlichen TeilnehmerInnen stammte und sich schließlich als allgemeine Bezeichnung für diesen Teil des Friedhofs verankerte. Ernst Feldsberg war für die gesamte Aktion der verantwortliche Kultusgemeindefunktionär; Leiter des Grabelands war Arthur Reichmann, zugleich Leiter der Friedhofskanzlei.163 Eine der Hauptarbeiten am Grabeland war der Anbau von Obst und Gemüse.164 159 Vgl. Malleier: Jüdische Frauen, S. 248–249, und Lappin-Eppel, Eleonore: Aufbruch der Jugend. Wiener (jüdische) Jugendbewegungen vor dem Ersten Weltkrieg, in: Patka, Marcus (Hg.): Weltuntergang. Jüdisches Leben und Sterben im Ersten Weltkrieg, Wien 2014, S. 176. 160 Aufstellung über die Zahl der im Jahre 1937 an der landwirtschaftlichen Hachscharah und an Sommerlagern der zionistischen Organisationen teilnehmenden Jugendlichen, 1937, CAHJP, A/W 2629. 161 Vgl. Hecht/Lappin-Eppel/Raggam-Blesch: Topographie der Shoah, S. 356–357. 162 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Twelve Questions about Emigration from Vienna, o. S. 163 An die Leitung des Grabelands, 10. April 1942, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC. Vgl. auch Hecht/Lappin-Eppel/Raggam-Blesch: Topographie der Shoah, S. 296, 309. 164 Gemüseanbau Neufriedhof, CAHJP, AU/1490.
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Bei den Arbeiten trugen die erwachsenen und jugendlichen TeilnehmerInnen blau-weiße Uniformen, die Farben der zionistischen Bewegung.165
Abb. 22 „Wie in der schönsten Sommerfrische“. Aus einem Photoalbum unbekannten Ursprungs vom November 1940. © Yad Vashem
Im Yad Vashem Archiv in Jerusalem befindet sich ein Photoalbum vom November 1940, das die Umschulungskurse am Grabeland dokumentiert. Laut Archivkatalog wurde es von der „jüdischen Gemeinde“ erstellt, doch stammt es wahrscheinlich eher von einer der zionistischen bzw. Auswanderungsorganisationen. Die ArchivarInnen in Jerusalem, die dieses Zeitdokument katalogisierten, schienen die Hintergründe nicht zu kennen, in der Zusammenfassung steht nämlich lediglich, das Album beinhalte „Informationen zur beruflichen Ausbildung“ sowie „Photographien von einem Sommerlager [a summer camp], in dem Jugendliche im Alter von 10 bis 14 Jahren in den Feldern arbeiten“ – vom Friedhof ist hier keine Rede. Doch in den Photographien sind deutlich die Friedhofsmauern sowie die unverkennbaren Arkaden mit ihren expressionistischen Spitzbögen abgebildet; in einem Photo ist sogar die ausgebrannte Kuppel der monumentalen, in den Novemberpogromen gesprengten Zeremonienhalle 165 Rosenkranz: Verfolgung und Selbstbehauptung, S. 272.
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zu sehen. Einige der Photos zeigen die auf dem Grabeland angebauten Tomaten sowie „die von den TeilnehmerInnen geliebte Ziege“, die dort gehalten wurde. Die meisten Photos sind aber den Arbeiten des Umschulungslagers gewidmet, wo fröhliche Kinder und Jugendliche meist in Gruppen mit Rechen, Spaten und Heugabel in die Kamera blicken – das hier abgebildete Photo trägt im Album die Unterschrift „Wie in der schönsten Sommerfrische“. Das Album zeugt vom Optimismus der jungen ZionistInnen, die glaubten, oder zumindest hofften, dass diese „Umschulung“ bloß ein Schritt auf dem Weg nach Palästina, in ein besseres Leben und in eine glückliche Zukunft sei. Am deutlichsten tritt dieser Optimismus in einem kurzen Text hervor, der ein Photo von einem Burschen und einem Mädchen begleitet, die jeweils in militärischer Pose ihre Spaten wie Büchsen über die rechte Schulter halten: Schon die schulpflichtige Jugend wird zu ernster Arbeit herangezogen / [Titel:] FerialBeschäftigungs-Kurs für die schulpflichtigen Kinder v[on] 10-14 J[ahren] erstmalig in den Sommerferien 1940. / Kurslied: (nach der Melodie: Wozu ist die Strasse da, zum Marschieren) / Wenn wir heut’ mit Arbeit unsre Zeit verbringen / Bauen wir schon unsre Zukunft auf / „Arbeit-Ordnung-Eintracht“ sei vor allen Dingen / Lösungswort für unsern Lebenslauf / Heute Bastelstund’ / Morgen Grabeland / Das ist sehr gesund / Und übt unsre Hand / Darum wollen wir dies’ Liedchen fröhlich singen / Denn durch Arbeit führt der Weg hinauf.166
Der „Weg hinauf “ kann als Anspielung auf den hebräischen Begriff alija verstanden werden, was sprichwörtlich „Aufstieg“ und im übertragenen Sinne die Emigration nach Palästina/Israel bedeutet. Das Lied „Wozu ist die Straße da“ stammt aus der österreichischen Komödie Lumpacivagabundus (1936). Der Text, wie die begleitenden Photos, ist eine deutliche Anspielung nicht nur auf die Umschulungskurse, sondern auch auf den Freizeitvertreib am Grabeland. Angesichts der Tatsache, dass die allermeisten dieser Kinder und Jugendlichen schließlich nicht emigrieren konnten und stattdessen in den mörderischen Fängen der NationalsozialistInnen ihr Leben ließen, erscheint der letzte Satz („durch Arbeit führt der Weg hinauf “) besonders tragisch in seiner unbeabsichtigten Anspielung auf das berühmte Diktum der Konzentrationslager: „Arbeit macht frei“. Die Umschulungskurse der Kultusgemeinde, inklusive die „GrabelandAktion“, wurden bereits im Februar 1941 eingestellt, als sich die Deportation der in Wien zurückgebliebenen jüdischen Bevölkerung durch die NS-Behörden in Planung befand. Jugendliche wie die Zwillinge Kurt und Ilse Mezei, deren Tagebücher unten analysiert werden, befanden sich fortan in Gefahr, 166 Wien, Austria, An album prepared by the Jewish community in Wien in November 1940 and dedicated to Hachshara, vocational training, Yad Vashem, FA70/0.
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für Zwangsarbeit einberufen oder für die Deportation ins besetzte Polen „ausgehoben“ zu werden, es sei denn, man konnte eine rare Anstellung – ob bezahlt oder ehrenamtlich – bei der Kultusgemeinde erwirken. Dies gelang Margarete Mezei, die Mutter der Mezei-Zwillinge, die selber schon länger in der Kultusgemeinde arbeitete und somit ihrem Sohn Kurt eine Anstellung in der Technischen Abteilung (manchmal auch als „Technisches Amt“ angeführt) und ihrer Tochter Ilse eine Anstellung in der Telefonzentrale erlangen konnte und ihnen dadurch vorerst das Leben rettete.167 Dies deutet einerseits auf ein gewisses Privileg der Kultusgemeindefunktionäre und ihrer Angehörigen, doch eben nur vorübergehend: Tatsächlich sollten keines der Mezei-Zwillinge die Shoah überleben. Obwohl die Umschulungskurse abgeschafft wurden, erfüllte das Grabeland bis Kriegsende eine wichtige Funktion als Gemüsegarten für die unterernährte jüdische Gemeinde und dadurch auch als gemeinschaftlicher Raum zur Arbeits wie zur Freizeit. Ein undatierter Plan im Kultusgemeindearchiv, wahrscheinlich aus dem Jahre 1942, zeigt die Aufteilung des Grabelands in 34 Parzellen samt den Namen derer „Besitzer“ – Friedhofsangestellte sowie einige andere Kultusgemeindemitglieder. Einer davon war Ernst Feldsberg selbst.168 Am Sonntag war stets „dienstfrei“ am Friedhof; dann hatten die „Grabelandbesitzer“, wie sie in den Akten genannt wurden, Zeit, um ihre Parzellen zu „bebauen“.169 Die Bebauung am Shabbat sowie an jüdischen Feiertagen war „strengstens untersagt“. Eine Parzelle am Grabeland war offensichtlich eine wertvolle Immobilie. So informierte die Friedhofsverwaltung eine ungenannte Person im Frühjahr 1942, dass sie sofort mit der Bebauung ihrer Parzelle zu beginnen hatten, sonst würde sie ihr entzogen werden. Die BesitzerInnen hatten der Friedhofskanzlei 20 Reichsmark für die Benützung von Wasser und Werkzeug zu zahlen.170 Allein im Jahre 1942 wurden 7.300 Kilogramm Erdäpfel, 5.882 Kilogramm Paradeiser und 576 Kilogramm Zwiebel geerntet. Die Erzeugnisse gingen größtenteils an das Altersheim und Spital der Kultusgemeinde. Auch wurden davon ab 1942 regelmäßig Lebensmittelpakete an das Konzentrationslager Theresienstadt versandt, wo sich unter den Häftlingen viele WienerInnen befanden.171 Eine solche Verwendung von jüdischen Friedhöfen während der Shoah ist auch in anderen Städten belegt: In München wurden beispielsweise unter anderen
167 Hecht/Lappin-Eppel/Raggam-Blesch: Topographie der Shoah, S. 299, 459. 168 O. T., o. D., AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 169 An die Kanzlei Neuer Friedhof, 14. Mai 1942, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 170 Mitteilung, 14. April 1942, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 171 Hecht/Lappin-Eppel/Raggam-Blesch: Topographie der Shoah, S. 309, 478.
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Umnutzungen während der NS-Zeit Teile des Neuen Israelitischen Friedhofs zum Gemüseanbau verwendet.172 In den frühen 1940er-Jahren versuchte die Stadt Wien immer wieder, den Friedhof beim IV. Tor insgesamt oder in Teilen zu „arisieren“, wogegen sich die Kultusgemeinde aber – mit Ausnahme der noch nicht belegten „Liebfrauengründe“ – stets wehren konnte. So versuchte im Herbst 1941 die Stadt Wien, den unbelegten nordöstlichen Teil des Friedhofs, wo sich das Grabeland befand, zu „arisieren“. In einer Aktennotiz bemerkte das Friedhofsamt, dass das Stadtbauamt „von Gruppe 19 abwärts“ Messungen vorgenommen hatte: „Es wurde von Einlagerung von Waggons, bezw. Aufstellung von solchen gesprochen, der Zweck erschien noch nicht ganz klar.“ Die Friedhofskanzlei erwiderte gegenüber dem Stadtbauamt, dass das Areal noch „zur Anlage von Gräbern und zur landwirtschaftlichen Nutzung“ gebraucht wurde – gemeint waren die Gräbergruppen 18, 18K, 19 und 19K, wo die „Nichtglaubensjuden“ bestattet wurden, sowie das Grabeland. Das Stadtbauamt antwortete, dass es sich bei der angesprochenen Einlagerung „nur um eine Angelegenheit über den Winter“ handle, sprach dieses Mal aber von einer „Einlagerung landwirtschaftlicher Produkte“. Offensichtlich unterlag diesen widersprüchlichen Bestrebungen, wie die Friedhofskanzlei auch bemerkte, „die durchaus Ernst zu nehmende Absicht, den in Frage kommenden Teil des Friedhofes für Fremde Zwecke zu verwenden“.173 Trotz dem Scheitern dieser Versuche, den Friedhof beim IV. Tor zu „arisieren“, wirkte der lange Arm der Wiener Stadtverwaltung dennoch immer weiter auf diesen letzten jüdischen Gemeinschaftsraum in der Stadt ein. Ab Sommer 1941 bedurfte es beispielsweise der „Bewilligung“ der Stadtverwaltung, Bäume, Äste oder sonstiges Holz vom Friedhof zu entfernen, die als „Eigentum der Gemeinde Wien“ angeführt und infolge „beschlagnahmt“ wurden.174 Am 10. Juni 1942 informierte Feldsberg die Leitung des Grabelands, dass vierzehn „Kinder“ (vermutlich waren Jugendliche gemeint) während der Sommermonate am Grabeland arbeiteten: „Sämtliche Kinder haben die Erklärung unterschrieben, dass ihre Dienstleistung nur eine freiwillige ist und nur zur körperlichen Ertüchtigung dient. Trotzdem bitte ich, die Anwesenheit der Kinder in Evidenz zu halten.“175 Ihnen wurden Genehmigungen zur Benützung der
172 Vgl. Kuller: Finanzverwaltung und Judenverfolgung, S. 179. 173 Mitteilung, 3. Oktober 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/Österreich/2/5, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 174 An das Friedhofsamt, 21. Juli 1941, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/Österreich/2/5, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 175 An die Leitung des Grabelands, 10. April 1942, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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Straßenbahn ausgestellt, um von ihren Wohnungen in der Stadt zum Zentralfriedhof hinauszufahren, da Jüdinnen und Juden die Benützung des öffentlichen Verkehrs seit Jänner verboten war, mit Ausnahme derer, die beweisen konnten, dass ihre Arbeitsstätte mindestens sieben Kilometer von zu Hause entfernt war.176 In den ersten zwei Junitagen 1942 verschickte Ernst Feldsberg Verwarnungen an jene Personen, die Genehmigungen zur Benützung der Straßenbahn besaßen, um am Friedhof arbeiten zu können, die aber nicht jeden Tag zur Arbeit erschienen. Offensichtlich war ihr Erscheinen die Voraussetzung seitens der Stadtverwaltung, um ihnen diese Genehmigungen auszuhändigen.177 Am 29. Juni 1942 stellte Feldsberg weiter Liselotte und Mirjam Neuwirth sowie „Else“ (sic, Ilse) Mezei am Grabeland an, jedoch „ohne Legitimation“, also vermutlich ehrenamtlich. Ihnen waren auch Genehmigungen zur Benützung der Straßenbahn auszuhändigen.178 Liselotte wurde wenige Monate später nach Maly Trostinec deportiert und ermordet, Mirjam ist in den Opferdatenbanken nicht verzeichnet und dürfte überlebt haben. Das Grabeland wurde noch im Sommer 1944 in den Akten der Friedhofsverwaltung erwähnt, als noch drei Kultusgemeindeangestellte dort arbeiteten.179 Zu dieser Zeit betrug das Grabeland eine Anbaufläche von etwa 27.000 Quadratmeter. „Die gezogenen Gemüsesorten und Kartoffeln“ wurden, so ein Bericht des „Ältestenrats“, an die jüdischen Anstalten Wiens „im Verhältnis zu deren Verpflegstand [sic] geliefert“.180 Für jüdische Jugendliche boten die Sommertage, die sie am Zentralfriedhof wie an bestimmten anderen versteckten Orten in Wien verbrachten, eine kurzfristige Auszeit vom Alltag der Unterdrückung und Verfolgung, so etwa die Möglichkeit, romantische Beziehungen zu entwickeln, mit anderen Worten 176 Friedman (Hg.): Dr. Josef Löwenherz, S. 43. Vgl. auch Exenberger: Gleich dem kleinen Häuflein der Makkabäer, S. 301. 177 An Frau Ida Sara Braun, 1. Juni 1942; An Herrn Siegmund Israel Mayer, 1. Juni 1942; An Frau Paula Sara Roth, 1. Juni 1942; An Frau Paula Sara Sucher, 2. Juni 1942, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC. Es gibt jeweils zwei Wiener Opfer der Shoah namens Ida Braun und Siegmund/Sigmund Mayer, die nach diesem Datum deportiert und ermordet wurden, wovon jeweils eines womöglich diese/r Friedhofsangestellte war. Paula Roth wurde wenige Monate später nach Theresienstadt deportiert und 1944 weiter nach Auschwitz, von wo sie nicht zurückkehrte. Paula Sucher ist nicht in den Opferdatenbanken verzeichnet und dürfte somit überlebt haben. 178 An die Leitung des Grabelandes, 29. Juni 1942, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 179 Gesamtausgaben der Friedhofsverwaltung und Zentralfriedhof vom 1. Jänner 1944 bis 30. Juni 1944, AIKGW, A/VIEIKG/II/BUCH/FH/FRIEDHOFSANGELEGENHEITEN, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 180 Jahresbericht des Ältestenrats 1944, Jänner 1945, CAHJP, A/W 118. Ich danke Michaela Raggam-Blesch für diesen Hinweis.
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eine halbwegs normale Jugendfreizeit ausleben zu können. Am Zentralfriedhof wurde sogar in den Sommermonaten ein Planschbecken eingerichtet.181 Der Höhepunkt dieser Freizeitaktivitäten, die in diversen Quellen wie Tagebüchern und Memoiren dokumentiert sind, fand in den Jahren 1940/41 statt. Mit der zunehmenden Unterdrückung in den Folgejahren, beispielsweise nach Einführung des „Judensterns“ im September 1941 sowie der Ausmerzung sozialer Netzwerke durch die Deportationen, wurden aber auch diese Momente der „Normalität“ schwindend gering.182 Eine detaillierte Aufzeichnung des Lebens am Zentralfriedhof in der NS-Zeit bietet das Tagebuch des jungen Kurt Mezei, von dem die Einträge vom 18. Jänner bis zum 30. November 1941 erhalten sind. Kurt war zudem im Besitz einer verbotenen Kamera, mit der er auch photographisch das Leben der schwindenden jüdischen Bevölkerung Wiens und ihre Verfolgung dokumentierte.183 Die Zwillinge Kurt und Ilse Mezei wurden 1924 in Wien geboren und wuchsen im berühmten Karl-Marx-Hof im 19. Bezirk auf, wo die Familie ab 1929 wohnte, bis sie 1938 vertrieben wurde und in die Förstergasse im 2. Bezirk umsiedelte. Die Kinder wurden religiös erzogen und besuchten das jüdische Chajesgymnasium, was sie wohl mit einer eher „jüdischen“ Weltanschauung ausstattete, als das bei vielen ihrer ZeitgenossInnen der Fall war. Der Vater Moritz konnte zwar aus Österreich fliehen, wurde später aber gefangen genommen und kam schließlich im September 1944 im Konzentrationslager Auschwitz um.184 Heute erinnert eine Gedenktafel am Karl-Marx-Hof an die in der Shoah ermordeten EinwohnerInnen, inklusive der Mezei-Zwillinge und ihres Vaters Moritz. Allein die Mutter Margarete überlebte die Shoah und verstarb 1993 in Wien. Kurt verbrachte viel Zeit am Friedhof beim IV. Tor, wo er schließlich auch offiziell angestellt wurde; einige seiner Photographien vom Grabeland sind noch erhalten.185 Er erwähnte den Friedhof erstmals in einem Eintrag vom Sonntag, dem 20. April 1941, obwohl hier ersichtlich wird, dass er schon länger den Friedhof zu besuchen pflegte: „Am Nachmittag fahren mit Dr. Hift erstmals in diesem Jahr wieder auf den Zentralfriedhof, wo Ing. Neuschiller, 181 Rosenkranz: Verfolgung und Selbstbehauptung, S. 273. 182 Vgl. Hecht/Lappin-Eppel/Raggam-Blesch: Topographie der Shoah, S. 310–315, 318. 183 Vgl. Wien Novemberpogrom 1938, http://www.doew.at/erinnern/fotos-und-dokumente/ 1938-1945/novemberpogrom-1938/wien, letzter Zugriff: 31. August 2020. 184 Vgl. Exenberger, Herbert: Von Italien nach Auschwitz. Der österreichische Schriftsteller und Übersetzer Moritz (Maurus) Mezei, in: Köstner, Christine/Voigt, Klaus (Hg.): Österreichisches Exil in Italien 1938–1945, Wien 2009, insb. S. 167–168 und 172–174 sowie Hecht, Dieter: Jüdische Jugendliche während der Shoah in Wien. Der Freundeskreis von Ilse und Kurt Mezei: in: Löw, Andrea/Bergen, Doris/Hájková, Anna (Hg.): Alltag im Holocaust. Jüdisches Leben im Großdeutschen Reich 1941–1945, München 2013, S. 101–102. 185 Z. B. Sommer 1944 Grabeland, JMW, 20740.
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Kollmann, Inge, Hans Neufeld, Peter, Frau Ing. Neuschiller, Frau Neufeld, Trude u. Frau Bäck. Mit Burl spielen Karten. Im Allgemeinen ganz schön, wenn auch ziemlich fad.“186 Auffällig ist an diesem Eintrag Kurts lapidare, notizenhafte Sprache, die durchwegs seine Tagebücher charakterisiert. Das Wort „fad“ erscheint mehrmals in seinen Aufzeichnungen und verleiht dem Beschriebenen einen recht umgangssprachlichen Ton, als handle es sich hier um den Alltag eines gewöhnlichen Jugendlichen. Auch Kurts 1920 geborener Zeitgenosse Willy Stern bemerkte, dass es in jenen Tagen am Zentralfriedhof nichts zu tun gab außer Lesen und Abwarten.187 Kurt erwähnte in seinen Tagebucheinträgen immer wieder andere Personen, die sich am Zentralfriedhof aufhielten, sowohl Friedhofsangestellte wie Jugendliche, die den Kern der zurückgebliebenen jüdischen Gemeinschaft in diesen Jahren ausmachten. Viele der in seinen Tagebüchern genannten Menschen (insofern sie von ihren Vor- bzw. Familiennamen identifizierbar sind) überlebten die Shoah nicht. Ist beispielsweise der oben genannte Georg Neuschiller noch 1942 im jüdischen Spital verstorben und in diesem Friedhof bestattet (15-2-14), wurde wiederum seine Frau Rosa über Theresienstadt nach Auschwitz deportiert, wo sie 1944 ermordet wurde. Auch das in Kurts Tagebuch mehrmals erwähnte Ehepaar Bäck, Josef und Hermine, kamen beide 1944 in Auschwitz um. Otto Kollmann gelang zusammen mit Inge und Hans Neufeld (Kosenamen „Burl“) und deren Mutter Hildegard („Frau Neufeld“) 1942 die Flucht in die Schweiz.188 Ludwig Hift überlebte die Shoah und verstarb 1981 in Wien. Welcher Peter und welche Trude hier gemeint sind, ist nicht klar. Ende Juni 1941 wurde Kurt von Rabbiner Benjamin Murmelstein, einem der führenden Kultusgemeindefunktionäre zu dieser Zeit, dem Grabeland zugeteilt. Dies war offensichtlich eine begehrte Arbeit, denn Kurt notierte noch die Warnung Murmelsteins: „Wenn ich da Dummheiten begehe, bekäme ich von ihm eine Ohrfeige.“189 Diese Überstellung zur Arbeit „im Freien“ sollte vorerst für eine Dauer von drei Monaten als „Bewährungsfrist“ laufen; die überlebenswichtige „Legitimation“, die Kurt vor der Deportation schützte, behielt er weiterhin bei, wie ihn Ing. Stux, sein bisheriger Vorgesetzter in der Technischen Abteilung, informierte. „Was nach Ablauf der 3 Monate sei“, notierte Kurt noch, „wisse er [Stux] noch nicht. Ich käme dann entweder zurück ins T[echnische] A[mt] oder irgendwo anders hin…“.190 Solche Ungewissheit zählte zur Tagesordnung in diesen Jahren. 186 187 188 189 190
Tagebuch von Kurt Mezei, 2. Heft, 20. April 1941, JMW, 4465. Vgl. Raggam-Blesch: Survival of a Peculiar Remnant, S. 14. Vgl. Hecht/Lappin-Eppel/Raggam-Blesch: Topographie der Shoah, S. 319–320. Tagebuch von Kurt Mezei, 2. Heft, 27. Juni 1941, JMW, 4465. Tagebuch von Kurt Mezei, 2. Heft, 30. Juni 1941, JMW, 4465.
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In seiner Arbeitszeit über den Sommer 1941 erntete Kurt Erbsen, goss die Pflanzen, sichelte die Gräber, hackte Holz, kehrte die Straßen und, wenn es regnete, ordnete die Gebetsmäntel und -bücher in der Zeremonienhalle – gemeint war offensichtlich die alte, provisorische, wo sich ein „Tagraum“ für die Friedhofsangestellten befand, denn Kurt sprach an anderer Stelle im deutlichen Gegensatz von der „zerstörten“ Zeremonienhalle.191 Auch Kurt verdiente nebenbei etwas dazu, entgegen Feldsbergs oben besprochenem Verbot von Nebentätigkeiten unter den Friedhofsangestellten, wie aus einem Eintrag vom 19. Juli ersichtlich: „In der Früh schon gegen 3/4 7 am Zentralfriedhof, wo sicheln gehe (9er Gruppe). Verdiene mir RM 1.- durch Absicheln eines Grabens.“192 Es wird aus den regelmäßigen Einträgen in seinem Tagebuch ersichtlich, dass Kurt schon bald die Arbeit langsamer anging oder sich überhaupt drückte, um die lauen Sommertage im Freien genießen zu können. Am 4. Juli fuhr er „erst“ um halb sieben in der Frühe los, kam aber „dennoch rechtzeitig“ am Zentralfriedhof an.193 Drei Tage später war er dann erstmals „zu spät“. Arthur Reichmann, der Leiter des Grabelands und somit Kurts Vorgesetzter, „sagt jedoch kein Wort. Am Nachmittag mache schon gegen 1/2 2 [Uhr] Schluß.“194 Am 10. Juli notierte Kurt, dass er an diesem Tag „zum erstenmal den ganzen Tag“ arbeitete.195 Wenige Tage später aber war es wieder „sehr heiß und schwül“, also „legen uns am Nachmittag in den Schatten, statt zu arbeiten! Mache mehrere Aufnahmen. Um 5 [Uhr] gehe aufs Grabeland, wo mir die Arbeit der Kinder (ab heute wieder eine Art Ferialkurs) ansehe.“196 Arthur Reichmann scheint bei Kurt immer wieder ein Auge zugedrückt zu haben.197 Die Bemerkung eines anderen Friedhofsarbeiters vom 20. August, Kurt „solle doch Pause machen und nicht so viel arbeiten“, versah er in seinem Tagebuch mit einem wohl ironisch gemeinten Ausrufezeichen in Klammern. Da Arthur Reichmann an dem Nachmittag vom Friedhof weg musste, ging Kurt bereits um drei Uhr „auf die Spielwiese, wo mit kurzen Unterbrechungen bis zum Abend bleibe. Erst fad, dann, nach 5 [Uhr], jedoch herrliches Völkerballspiel mit ‚meinen Leuten‘.“ Offensichtlich passte diese Frivolität dem Friedhofsangestellten Josef Bäck nicht, mit dem es am Abend „große[n] Krach“
191 Vgl. z. B. Tagebuch von Kurt Mezei, 2. Heft, 22. Juni, 3. Juli, 13. Juli und 16. Juli 1941, JMW, 4465. 192 Tagebuch von Kurt Mezei, 2. Heft, 19. Juli 1941, JMW, 4465. 193 Tagebuch von Kurt Mezei, 2. Heft, 4. Juli 1941, JMW, 4465. 194 Tagebuch von Kurt Mezei, 2. Heft, 7. Juli 1941, JMW, 4465. 195 Tagebuch von Kurt Mezei, 2. Heft, 10. Juli 1941, JMW, 4465. 196 Tagebuch von Kurt Mezei, 2. Heft, 14. Juli 1941, JMW, 4465. 197 Vgl. z. B. Tagebuch von Kurt Mezei, 2. Heft, 21. Juli 1941 und 3. Heft, 21. August 1941, JMW, 4465.
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gab, wobei Bäck „eine Menge größerer [Jugendlicher], v[on] d[er] Arbeitergruppe, hinaus[warf] (bis Montag).“198 Andernorts beschwerte sich Kurt, dass Bäck generell „sehr schlecht gelaunt“ war.199 Als Kurt am 8. September wieder zu spät auf den Zentralfriedhof kam, gab er Reichmann Zigaretten „die er mir zu bezahlen vergaß“, der sodann „sehr nett“ war und „kein Wort“ sagte.200 Eine Woche später wiederholte sich dieser Austausch: „In der Früh nat[ürlich] zu spät am Zentralfriedhof. Gebe Reichmann Zigaretten und die Sache ist erledigt.“ Der Rest des Tages ging dann den gewohnten Gang: „Es wird fast gar nichts gearbeitet. […] Um 4 [Uhr] gehe aufs Grabeland, wo erst in Tagraum bei Musik (Akkordeon: Hansl Pories, Mundharmonika: Flocki, Rico), dann bis [halb] 7 auf der Wiese bei Ballspiel, das wieder sehr fein.“201 Um wen es sich bei diesen genannten Personen handelt, ist nicht klar. Solche Tagebucheinträge malen ein überraschend normales Bild eines im Freien verbrachten Sommers, gefüllt mit gemeinschaftlichen Spielen und Aktivitäten. Der Friedhof beim IV. Tor stellte augenscheinlich einen wichtigen Zufluchtsort dar, der sich rasch zu einem im tieferen Sinne jüdischen Gemeinschaftsort herausbildete, ein wahres „Haus des Lebens“ hier, an der Stätte des Todes. So trafen sich im Laufe des Sommers 1941 immer wieder die Arbeitstruppen von den Friedhöfen beim I. Tor und beim IV. Tor, um „Ball über den Zwischenmann“ und „Völkerball“ zu spielen.202 Insbesondere die Sonntage im Sommer 1941, als die Friedhofsangestellten dienstfrei hatten, klangen Kurt Mezeis Tagebüchern zufolge sehr idyllisch und wurden extra mit Blockbuchstaben „SONNTAG“ gekennzeichnet, wohingegen die anderen Wochentage nur mit dem jeweiligen Datum versehen waren. An Sonntagen durften zudem auch Jugendliche, die nicht für die Kultusgemeinde arbeiteten, auf den Zentralfriedhof hinausfahren, was diese Tage am Friedhofsgelände besonders lebhaft machte.203 Wie heiter die Sonntage am Friedhof beim Ballspielen und im „Tagraum“ in der alten provisorischen Zeremonienhalle werden konnten, zeigt ein Eintrag in Kurts Tagebuch vom 8. Juni, als der Friedhofsangestellte Josef Bäck, der anfangs noch „sehr nett“ gewesen war, die Jugendlichen wieder einmal tadelte, „besonders mit mir [schreit] und mir Vorwürfe macht, daß ich die Leute hinausgebracht habe u[nd] wir nur Radau machen und alles zertrampeln“ würden.204
198 199 200 201 202 203 204
Tagebuch von Kurt Mezei, 3. Heft, 20. August 1941, JMW, 4465. Tagebuch von Kurt Mezei, 2. Heft, 6. Juli 1941, JMW, 4465. Tagebuch von Kurt Mezei, 3. Heft, 8. September 1941, JMW, 4465. Tagebuch von Kurt Mezei, 3. Heft, 15. September 1941, JMW, 4465. Tagebuch von Kurt Mezei, 3. Heft, 15. August 1941, JMW, 4465. Vgl. Hecht/Lappin-Eppel/Raggam-Blesch: Topographie der Shoah, S. 309, 318. Tagebuch von Kurt Mezei, 2. Heft, 8. Juni 1941, JMW, 4465.
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In diesem Sommer verliebte sich Kurt in ein Mädchen namens Edith Kohn. Erstmals erwähnte er sie in seinem Tagebuch am 8. Juni: „Edith sehr herzig und nett, bei der Heimfahrt sitze neben ihr.“205 Am 15. Juni schenkte er ihr (angeblich „über ihren Wunsch“) ein „Bild mit Widmung: ‚Meiner lieben Edith zur Erinnerung an schöne, gemeinsam verbrachte Stunden und an einen guten Freund gewidmet. Kurt Mezei‘“.206 Am Sonntag, den 13. Juli, berichtete er ausführlich, wie er nach seinen Arbeiten am Vormittag den Nachmittag mit Edith am Grabeland verbrachte: [M]it Edith hinauf zur Spielwiese. Sehr herzig, legen uns unter einen Baum […]. 2 Aufnahmen von mir mit Edith, 2 von mir allein, eine mit Ilse u. Edith, eine von Edith, eine von Ilse mit mir. Ilse kommt gegen 3/4 3. Gehen u. a. am Friedhof spazieren. Edith heute sehr sehr herzig […]. Edith sehr lieb, gehe meist Hand in Hand mit ihr. […] Sehr schön heute, auch das Wetter angenehm.207
Das junge Paar versuchte offensichtlich, wo immer möglich, eine Privatsphäre zu schaffen, wie in einer Erwähnung von „unser[em] Platzerl bei der Planke“, der Friedhofsmauer, ersichtlich. Dort lasen sie sich gegenseitig vor und sprachen „über alles mögliche“. Kurt kommentierte: „Edith sehr lieb.“208 Doch sie waren selten unter sich, da sich eine rege Gemeinschaft am verhältnismäßig kleinen Friedhof gebildet hatte, zu dem auch viele andere Jugendliche und Kinder zählten. Das Sozialleben, das sich unter ihnen entwickelte, beschrieb Kurt beispielhaft am 16. Juli: Im Tagraum der Kinder, wo diese mich stürmisch einladen, dort zu bleiben und mich zu ihnen zu setzen. Ich folge nat[ürlich] gerne der Einladung und bin mit Weiss, Fritz Löwe, Jäger, Österreicher, Steinbach, meist nat[ürlich] mit Edith beisammen. Bei irgendeinem blöden Spiel, wo die Mädels sich Burschen nehmen und umgekehrt, werde ich am häufigsten auserwählt, von einem Mädel, das gestern mit uns fuhr, von Blanka Vogel, einem Jual-Mädel und natürlich als erstes von Edith, die sehr herzig. Bis ca. 5 [Uhr] mit den Kindern, wo mich ganz als Assistent fühle. Gebe den Assistentinnen Edith, Dita etc. Tips, die sich als sehr gut erweisen.209
Die „Jual“ (Jugendalijah) war eine Organisation, die Kinder und Jugendliche auf eine erhoffte Auswanderung nach Palästina vorbereitete und am Zentralfriedhof 205 206 207 208 209
Tagebuch von Kurt Mezei, 2. Heft, 8. Juni 1941, JMW, 4465. Tagebuch von Kurt Mezei, 2. Heft, 15. Juni 1941, JMW, 4465. Tagebuch von Kurt Mezei, 2. Heft, 13. Juli 1941, JMW, 4465. Tagebuch von Kurt Mezei, 2. Heft, 19. Juli 1941, JMW, 4465. Tagebuch von Kurt Mezei, 2. Heft, 16. Juli 1941, JMW, 4465. Eine 1928 geborene Blanka Vogel, die nach ihrem Alter zu schließen die genannte Jugendliche ist, wurde im Sommer 1942 im Vernichtungslager Sobibor ermordet. Es ist nicht klar, wer die anderen hier genannten Personen sind, zumal es sich um sehr geläufige Familien- bzw. Kosenamen handelt.
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in diesem Sommer einen ihrer Kurse betrieb.210 Die „AssistentInnen“ waren die älteren jugendlichen HilfsarbeiterInnen, zu denen sich Kurt offensichtlich gerne gezählt hätte. Doch Ernst Feldsberg sagte ihm bereits die Woche darauf, dass er „als Arbeiter unentbehrlich“ sei und somit „unmöglich zur Ferialgruppe“ wechseln konnte. Über Feldsberg bemerkte Kurt generell, dass er zwar „sehr nett“, ihm „jedoch sehr unsympathisch“ war.211 Wie die Historikerin Michaela Raggam-Blesch schrieb, stellte der Friedhof beim IV. Tor zu dieser Zeit einen Ort dar, an dem Jugendliche einfach Jugendliche sein konnten, wo sie „sich treffen und miteinander flirten konnten, während sie ihre prekäre Lage eine kurze Zeit vergaßen“.212 Bereits gegen Ende August war es aber für Kurt schon aus mit der großen Liebe. So berichtete er: „Ich ignoriere sie vollständig, als sie weggeht, sage: ‚G’tt [Gott] sei Dank!‘ Edith Kohn hat bei mir ausgespielt.“213 Edith Kohn erscheint nicht in den Opferdatenbanken, somit dürfte sie die Shoah überlebt haben. Dass Kurt hier das „o“ aus „Gott“ wegließ, kann übrigens als Hinweis auf religiöse Ehrfurcht verstanden werden, da im religiösen Judentum Gott nicht namentlich genannt wird, auch nicht in der Umgangssprache. Ein ähnlicher Hinweis auf Religiosität findet sich in einem Eintrag vom 29. August, als sich Kurt gegen Mittag „auf [ein] Grab“ legte, wo er den „1. Band von ‚Schloß Hubertus‘“ (ein Roman vom bayerischen Schriftsteller Ludwig Ganghofer) fertig las und anschließend „schlummer[t]e“. Das Wort „Grab“ versah seine Schwester Ilse im Tagebuch mit einem Fragezeichen, womit sie wohl auf seine – aus religiöser Sicht – Pietätlosigkeit verweisen wollte.214 Der lapidare, sorglose Ton dieser Einträge, die hier freilich selektiv vorgeführt wurden, sollte nicht über die Realität der eskalierenden Verfolgung in dieser Zeit hinwegtäuschen. Kurt war sich durchaus dieser Realität sowie seiner privilegierten Stellung als Angestellter der Kultusgemeinde bewusst. Am 11. Februar 1941, bevor er an den Zentralfriedhof überstellt wurde, hatte er bereits kommentiert, dass er ab dem Folgetag „wieder im Technischen Amt“ der Kultusgemeinde arbeiten und somit auf der „Liste der Arbeiter“ eingetragen und „vor Polen geschützt“ sein würde, also vor der Deportation. Wie prekär dieser 210 211 212 213 214
Vgl. Hecht/Lappin-Eppel/Raggam-Blesch: Topographie der Shoah, S. 302. Tagebuch von Kurt Mezei, 2. Heft, 21. Juli 1941, JMW, 4465. Raggam-Blesch: Survival of a Peculiar Remnant, S. 11. Tagebuch von Kurt Mezei, 3. Heft, 24. August 1941, JMW, 4465. Tagebuch von Kurt Mezei, 3. Heft, 29. August 1941, JMW, 4465. Dass Ilse das Fragezeichen beifügte, bemerkte ein/e MitarbeiterIn des Jüdischen Museums im Transkript des Tagebuchs. Kurt verwies wiederholt darauf, dass seine Schwester sein Tagebuch lies, und sprach sie einmal auch direkt an: „Bitte, liebe Ilse, wenn Du mein Tagebuch liest: Erzähle den Inhalt niemandem […] und lache nicht darüber! Kurt“. Tagebuch von Kurt Mezei, 1. Heft, 25. Jänner 1941, JMW, 4465.
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Schutz war, kommentierte er selbst am nächsten Tag: „Heute wieder riesig viel Vorladungen wegen Polentransport. Sogar Jozsi! Beamte der [Kultusgemeinde] sind überhaupt nicht geschützt. Furchtbar.“215 Josef „Jozsi“ Horowitz entkam der Deportation schließlich nur durch den Freitod. Er wurde am 24. März 1941 beim IV. Tor bestattet (20-6-39).216 Zwar wussten die Zurückgebliebenen nicht genau, was die „Polentransporte“ bedeuteten, doch ahnten sie Schlimmes, wie Kurt am 15. Februar festhielt, als er sich über die Streiche seiner FreundInnen echauffierte: Nein, das ist keine Gesellschaft für mich, über diese Blödheiten kann ich nicht lachen, wenn am gleichen Tag Verwandte nach Polen mußten! Mehr wie 1000 Juden sind heute früh nach Polen gefahren! Mehr wie 1000 Menschen mußten alles im Stich lassen, um einer ungewissen, schrecklichen (?) [Fragezeichen im Original] Zukunft entgegenzufahren, mit 20 Mark und 50 kg [Kilogramm] Gepäck! Und dabei fürchte ich, daß bald weitere Transporte folgen.217
Vergleichsweise berichtete er bereits in der folgenden Woche wieder von seiner „faden“ Arbeit, damals noch im Umschulungskurs.218 Auch in seinen späteren Einträgen zur Arbeit am Zentralfriedhof stechen einige Hinweise auf das Eindringen der Verfolgung in das Leben beim IV. Tor heraus, sowie darüber hinaus auf die Tatsache, dass es sich hier nach wie vor um einen aktiven Bestattungsraum handelte. Am 22. August 1941 bemerkte Kurt beispielsweise in bloß einem kurzen Satz: „Gehen sicheln, u. a. auch wieder Knochen abladen (zum letzten Mal).“219 Angesichts des Datums handelte es sich hier offensichtlich um die in Kapitel 7 beschriebene Aktion, bei der die Knochenreste aus dem vom Währinger Friedhof ausgebaggerten Erdreich eingesammelt und in einem Massengrab beim IV. Tor in der Gruppe 22 wieder bestattet wurden. Dies erklärt auch, wieso Kurt in den Tagen und Wochen zuvor mehrmals auf Zusammentreffen mit Ernst Feldsberg verwies, der diese Aktion leitete. Kurts legerer Ton, sowie die Tatsache, dass er diese Arbeit in seinem Tagebuch ansonsten mit keinem Wort erwähnte, geschweige denn reflektierte, ist offen interpretierbar. War er aufgrund seiner Jugendlichkeit sowie den Erfahrungen der vergangenen Jahre psychologisch anpassungsfähig geworden? Oder ist sein Schweigen in dieser Hinsicht ein Zeichen eines Unterdrückungsmechanismus? 215 Tagebuch von Kurt Mezei, 1. Heft, 11. und 12. Februar 1941, JMW, 4465. 216 Wenige Monate später beging noch ein Kollege aus der Arbeit, „Berti von II B“, Selbstmord. Vgl. Tagebuch von Kurt Mezei, 2. Heft, 3. Juni 1941, JMW, 4465. 217 Tagebuch von Kurt Mezei, 1. Heft, 15. Februar 1941, JMW, 4465. 218 Tagebuch von Kurt Mezei, 1. Heft, 18. Februar 1941, JMW, 4465. 219 Tagebuch von Kurt Mezei, 3. Heft, 22. August 1941, JMW, 4465.
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Die wenigen Erwähnungen von Tod und Bestattung in seinem Tagebuch – mit Ausnahme der Todesfälle seiner Bekannten – sind allgemein zu kurz und kryptisch, um deren emotionale Auswirkung nachzuvollziehen, so etwa der Eintrag vom 25. September, als er mit einigen Mitarbeitern und mit Feldsberg zusammen „von [Gruppe] 16B“ die Leiche einer „Frau, die Selbstmord begangen hatte“ abholen und zur Leichenhalle bringen musste – der Hinweis auf die Gräbergruppe ist auffallend, da sie impliziert, dass die ungenannte Frau vor Ort am Friedhof ihr Leben nahm, wie es in diesen Jahren immer wieder auf den Friedhöfen beim I. und IV. Tor vorkam. Kurt bemerkte, dass Feldsberg, der bereits „wegen eines Begräbnisses III. Kl[asse] draußen“ am Friedhof war, sich „freut[e]“ und meinte: „der Bann sei gebrochen, er würde mich zum Leichenwaschen anstellen etc.“220 Dass Feldsberg als Leiter des Friedhofamtes und orthodox ausgerichteter Jude sich darüber freuen sollte, wenn Kurt zu einem Leichenwäscher werden und sich überhaupt mehr am Bestattungswesen beteiligen sollte, erklärt sich daraus, dass die tahara, die religiöse Vorbereitung der Leiche auf die Bestattung, als zutiefst pietätvolle Tätigkeit angesehen wird, wie hier in Kapitel 2 in Bezug auf die Entstehung der Chewra Kadisha, der jüdischen Beerdigungsgesellschaft, dargelegt wurde. Hingegen impliziert der Hinweis, dass Feldsberg zufolge ein „Bann gebrochen“ wurde, dass Kurt sich vor dem Umgang mit Tod und Toten scheute, was wiederum das Fehlen bis auf wenige Ausnahmen von expliziten Hinweisen darauf in seinen Tagebüchern sich doch eher als Unterdrückung ausweist. Jedenfalls wurde Kurt bereits am Folgetag für die Bestattung eines oder einer unbenannten Verstorbenen in der Gruppe 21 herangezogen. Das Material zum Zuschütten des Grabes musste die Arbeitsgruppe aus der Gruppe 19 herüber holen, was Kurt als „sehr umständlich“ beschrieb: „Plagen uns bis 1 [Uhr] im Schweiße unseres Angesichtes. Ich lenke den Wagen, habe es also noch verhältnismäßig leicht.“221 Das Tagebuch der Ilse Mezei ist ähnlich lakonisch wie das ihres Bruders, liefert aber viel weniger Informationen über den Zentralfriedhof, obwohl Ilse dort als „Assistentin“ am Grabeland mit den Kindergruppen arbeitete. Auch aus ihren Aufzeichnungen aus dem Jahre 1941 entsteht aber der Eindruck eines „normalen“ Sommers im Freien, so beispielsweise in ihrem Eintrag vom Sonntag, dem 20. Juli 1941: „Vor 2 [Uhr] fahre a[n] d[en] Friedhof, wo zuerst m[it] Edith u[nd] Kurt i[n der] Sonne liege […]. Nicht viel los“. Den 27. Juli beschrieb sie in einem ähnlichen Tonfall wie ihr Bruder als „[z]ieml[ich] fad“.222 Ab Oktober 1941 fuhr Kurt – wahrscheinlich wetterbedingt – nicht mehr auf den Zentralfriedhof hinaus, und der erhaltene Teil seines Tagebuchs endet dann 220 Tagebuch von Kurt Mezei, 3. Heft, 25. September 1941, JMW, 4465. 221 Tagebuch von Kurt Mezei, 3. Heft, 26. September 1941, JMW, 4465. 222 Tagebuch von Ilse Mezei, Einträge vom 20., 23. und 27. Juli 1941, DÖW, 22.176/15A.
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im November. Doch geht aus erhaltenen Photographien hervor, dass die immer weniger werdenden jüdischen Jugendlichen noch bis 1944 ihre Sommertage am Zentralfriedhof verbrachten.
Abb. 23 Ilse und Kurt Mezei Anfang der 1940er-Jahre auf dem „Grabeland“. Im Hintergrund das Friedhofstor und die Arkaden. © Jüdisches Museum Wien
Viele von Kurts Aufnahmen aus den frühen 1940er-Jahren blieben erhalten und sind heute im Archiv des Jüdischen Museums Wien aufbewahrt. Die meisten zeigen Kurts Schwester Ilse, mit oder ohne Kurt, Ilse oft posierend und lächelnd in die Kamera blickend, so beispielsweise beim Gemüseernten oder vor der zerstörten Zeremonienhalle stehend. In vielen Photos sind Gruppen von Jugendlichen zu sehen, von denen manche keine Hemden tragen, als ob sie im Urlaub am Strand photographiert wurden. Ein spätes Beispiel, beschriftet „Sommer 1944 Grabeland“, zeigt eine ganze Gruppe Jugendlicher, die auf der Rückseite mit Vornamen gekennzeichnet sind, darunter an vorderster Stelle Kurts Schwester Ilse. Interessant ist der Stempel des „Photo-Salon Roland Blumentritt“ in der Praterstraße 9, wo diese Aufnahmen als Ansichtskarten gedruckt wurden, die deutlich als „Arische Firma!“ gekennzeichnet ist. Ein schönes Photo, obwohl Kurt darin sehr ernst blickt, zeigt die Zwillinge am Friedhof vor den unverkennbaren Spitzbögen des Friedhofstors sitzend, Ilse lächelnd mit dem Kopf zur Seite geneigt, Kurt mit seinem Arm um ihre Schul-
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ter. Ohne Kontextualisierung würde man nicht meinen, dass es sich hier um einen Friedhof handelt, an den diese Jugendlichen verbannt waren, dass dieses Photo mitten in einem Vernichtungskrieg gemacht wurde, noch, dass beide Jugendlichen innerhalb weniger Monate umkommen beziehungsweise getötet würden.223 Die 1924 in Berlin geborene und 1940 aus der besetzten Tschechoslowakei zu ihrem Vater nach Wien gezogene Elisabeth Welt (später verheiratete Trahan) gehörte zu jenen Jugendlichen, die während der Shoah zwar nicht am Friedhof angestellt waren, jedoch ihre Sonntage am Zentralfriedhof verbrachten. Diese Tage schilderte sie rückblickend in ihren Memoiren aus der Nachkriegszeit noch detaillierter als die Mezei-Zwillinge. Die neu in Wien angekommene Jugendliche Welt kam durch Ilse Mezei, deren Bekanntschaft ab 1941 eine entscheidende Wende in ihrem Sozialleben bedeutete, zur Gruppe, die ihre Sonntage am Friedhof verbrachten: Sonntag war nun der Friedhofstag. Wer immer Zeit hatte, holte sich den notwendigen Erlaubnisschein für die Straßenbahn in der Kultusgemeinde […]. Man traf sich nach dem Mittagessen bei der Straßenbahnlinie 71 und fuhr zum Wiener Zentralfriedhof. Das vierte Tor, die jüdische Abteilung, wurde unser Landhaus, unsere Sommerfrische. Hier war es grün, es gab Bäume und gleich beim Eingang, noch vor den Grabreihen, war eine große Wiese. Hier konnten wir in der Sonne liegen und Ball spielen. Und es gab keine Warnungen oder Verbote: Das vierte Tor hieß alle Juden willkommen, die lebenden und die toten.
Dass der neue Gemeinschaftsraum der jüdischen Jugend zugleich ein Bestattungsraum war, entging ihr jedoch nicht: Zuerst schien es mir ein wenig gruselig, auf einem Friedhof zu picknicken, zu singen, Karten oder Volleyball zu spielen. Ich staunte darüber, daß Ilse und Kurt, die orthodox waren, auch mitmachten. Dann fiel mir ein, daß die Toten ja kaum gegen unsere Anwesenheit protestieren würden. Wer weiß, vielleicht war ihnen unsere Anwesenheit sogar angenehm? Etwas, daß [sic] ich nicht erwartet hatte, entstand in mir: Ein Gefühl der Solidarität, der Zugehörigkeit, und ich fing an, mich auf dem Friedhof zu Hause zu fühlen.
Welt kommentierte an verschiedenen Stellen die Religiosität von Kurt und Ilse Mezei, die recht außergewöhnlich für ihre Altersgruppe gewesen sein dürfte. Tatsächlich beschwerte sich Ilse 1944, nachdem die großen Deportationswellen vorbei waren, dass es fast keinen mehr in Wien gab, „der so denkt wie wir“. Das erzwungene Zusammensein am Friedhof mit anderen Jüdinnen und Juden
223 Alle Photographien in der Reihenfolge ihrer Nennung: JMW, 23612-268 und 23612-269, 10008-1 bis 10008-4, 20740, 10008-5 und 23612-267.
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– und mit den jüdischen Toten – erzeugte jedenfalls einen neuen Gemeinschaftssinn und verstärkte für viele das Zugehörigkeitsgefühl sowie den Sinn der eigenen „Jüdischkeit“. Dass dies eine Folge des wiederholten Aufenthalts am Friedhof war, scheint nicht bloß Zufall zu sein: Es entstanden während der Shoah auch vielfach Belletristik, die die jüdischen Friedhöfe als Sinnbild der „Jüdischkeit“ heranzogen, um dadurch eine verklärte Vergangenheit heraufzubeschwören und ein neu entdecktes Zugehörigkeitsgefühl auszudrücken, wie unten eingehender besprochen wird. Welt betrieb an ihren Sonntagen am Zentralfriedhof nicht nur Freizeitaktivitäten, sondern arbeitete auch am Grabeland mit: In einer Ecke des Friedhofs war von den Mitarbeitern der Kultusgemeinde ein Gemüsegarten angelegt worden, der die Ausspeisung, das Spital und das Waisenhaus versorgte. Jeder Sonntag ohne Regen begann auf dem sogenannten Grabeland, wir stachen um, zupften Unkraut, gossen oder ernteten. Es war teilweise harte Arbeit, aber Kurt und Ilse ließen keinem vom Friedhof gehen, der nicht seinen Teil der Arbeit geleistet hatte.
In dieser Schilderung wird auch Feldsbergs strenge Autorität am Friedhof – sowohl in Bezug auf die Arbeit wie auf die Freizeit – deutlich: Dr. F[eldsberg], der den Friedhof verwaltete […], verfolgte unsere Feldarbeit, aber auch unsere „Freizeitaktivitäten“ mit Argusaugen, und ließ immer wieder anzügliche Bemerkungen fallen, was ihm offensichtlich zweideutiges Vergnügen bereitete. Wir vermieden es, ihm Anlaß für Klatsch zu geben, denn er sorgte dafür, daß alles in der Kultusgemeinde herumerzählt wurde – oftmals recht aufgebauscht. Und wäre es unseren Eltern zu Ohren gekommen, hätte es Schwierigkeiten gegeben. Wie merkwürdig das eigentlich war: Jeder beobachtete den anderen ständig auf vermeintliche Liebschaften, als hätte es keine anderen Probleme gegeben. Wir jedenfalls taten so, und allmählich schien es wirklich der Fall zu sein. Denn einander mit echten oder erfundenen Eroberungen zu necken machte nicht nur Spaß, sondern war auch irgendwie tröstlich.
Eines Tages erwischte Ernst Feldsberg tatsächlich zwei Jugendliche „da liegen“ und „ist bös’ geworden, weil sich das nicht gehört“.224 Auch Ruth Klüger, die Autorin einer der international bekanntesten Autobiographien einer Shoah-Überlebenden aus Wien, erwähnte lakonisch die Rolle des (hier unidentifizierten) jüdischen Friedhofs als Freizeitraum für die verfolgte jüdische Jugend Wiens: „Die jüdische Kultusgemeinde stellte uns, den letzten jüdischen Kindern in Wien, Lese- und Freizeiträume zur Verfügung,
224 Alle Zitate in der Reihenfolge ihrer Nennung: Trahan, Elisabeth: Geisterbeschwörung. Eine jüdische Jugend im Wien der Kriegsjahre, aus dem Englischen von Elfriede Potyka, Wien 1996, S. 157–158, 253, 158, 211.
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und der jüdische Friedhof war unser Park und Spielplatz.“225 Jahre später kam Klüger in einem Interview mit dem Süddeutsche Zeitung Magazin nochmals darauf zu sprechen, dieses Mal die Wichtigkeit dieses Ortes für ihre Kindheit im nationalsozialistischen Wien betonend: „Ich musste meine Schule verlassen, Lesen übte ich an judenfeindlichen Schildern, und als ich auf keiner Parkbank mehr sitzen durfte, wurde mein Lieblingsplatz der jüdische Friedhof. Dort ließ man mich in Ruhe.“226 Ruth Igelberg, eine Zeitzeugin, die als „Mischling“ in Wien aufwuchs, berichtete in einem Interview mit Michaela Raggam-Blesch, dass ihre Familie sowie befreundete „gemischte“ Familien gemeinsam an Sonntagen auf den jüdischen Friedhof beim IV. Tor hinausfuhren, da der Besuch des Wienerwalds als Erholungsgebiet nun den „jüdischen“ Familienmitgliedern verboten war.227 Somit war die Sozialisierung beim IV. Tor auch nicht auf die „innerjüdische“ Gemeinschaft begrenzt. Dass sich der Friedhof im Verlaufe dieses Jahres von einer Stätte des Todes in ein „Haus des Lebens“ verwandelte, an dem die winzige zurückgebliebene jüdische Gemeinschaft nicht nur arbeitete und ihre Freizeit verbrachte, sondern vereinzelt auch lebte, zeigt sich demonstrativ in der Verordnung, dass mit dem 16. April 1941 der Eingang zum Friedhof mit einem „Judenstern“ versehen werden musste, genau wie die „Sammelwohnungen“ von Jüdinnen und Juden in der Stadt.228 Als dann im September die Kennzeichnungspflicht auf jüdische Individuen ausgedehnt wurde, wuchs die Bedeutung des Zentralfriedhofs als Gemeinschaftsort umso mehr, da nun alle als „jüdisch“ Verfolgte nun im öffentlichen Raum erkennbar waren und sich nicht mehr frei und unerkannt in der Stadt bewegen konnten.229 Im Mai 1942 wies die Kultusgemeinde das Friedhofsamt an, dass nun auch „sämtliche auf dem Friedhofe Beschäftigten ohne Ausnahme, also auch die religiösen Funktionäre, auf ihrem Dienstkleid bezw. Arbeitskleid den Judenstern zu tragen“ hatten. Dies galt „insbesondere für die auf dem Grabelande Beschäftigten und für die Erdarbeiter“. Die Friedhofskanzlei würde „dafür Vorsorge treffen, dass die Vornahme religiöser Funktionen nur dann gestattet ist, wenn der Funktionär den Judenstern auf seinem Dienstkleid
225 Klüger: Weiter Leben, S. 58; vgl. auch S. 155. Ein ähnliche Anekdote findet sich in Schneider, Gertrude: Exile and Destruction. The Fate of Austrian Jews, 1938–1945, Westport 1995, S. 52. 226 Ich habe nicht überlebt, ich gehöre zu den toten Kindern, in: Süddeutsche Zeitung Magazin, 15. Juni 2017, S. 14. 227 Hecht/Lappin-Eppel/Raggam-Blesch: Topographie der Shoah, insb. S. 527. 228 Vgl. An die Kanzlei Neuer Friedhof, 10. April 1942 und An die Kanzlei Neuer Friedhof, 16. Mai 1942, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2/2. 229 Vgl. Hecht: Jüdische Jugendliche, S. 112.
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festgenäht hat“.230 Somit wurde auch der innerjüdische Gemeinschaftsraum des Friedhofs symbolisch stigmatisiert. Obwohl der jüdische Friedhof in diesen Jahren eine zeitweilige Oase des Friedens und einer gewissen Freiheit bedeutete, so waren die Grenzen, die dieser Freiheit gesetzt wurden, eng. So verordnete Ernst Feldsberg beispielsweise im Frühjahr 1942, dass es „sämtlichen Arbeitern und freiwilligen Mitarbeitern […] strengstens untersagt“ sei, das Friedhofsgelände während der Arbeitszeit und überhaupt ohne schriftliche Erlaubnis zu verlassen. Feldsberg versuchte ferner, die weitgehende Sozialisierung von Kultusgemeindemitgliedern am Friedhof einzudämmen, indem er am gleichen Tag „das Uebernachten von nicht auf dem Friedhofe polizeilich gemeldeten Personen in den Wohnungen oder sonstigen Räumen des Friedhofes“ verbot.231 Diese Maßnahme ist bestimmt auf die schweren Konsequenzen zurückzuführen, mit denen die Kultusgemeinde oder ihre einzelnen Mitglieder hätten rechnen müssen, wenn die Gestapo von solch freiem Verkehr am Friedhof und den dazugehörigen Wohnräumen erfahren hätte. Ab 1943 verschlechterten sich nochmals die Lebensbedingungen der in Wien zurückgebliebenen „jüdischen“ Bevölkerung, von der nun ein erheblicher Teil in ihrem Selbstverständnis nicht jüdisch war, als sogar die kleinsten Vergehen zur Deportation führen konnten. So wurde beispielsweise 1943 die 21-jährige Katharina Fischer nach Auschwitz deportiert, weil sie in der Öffentlichkeit ohne „Judenstern“ aufgegriffen wurde. Sie wurde dort noch im gleichen Jahr ermordet.232 Mit den andauernden Deportationen sowie Todesfällen fiel es auch am „Haus des Lebens“ immer schwerer, wie Elisabeth Welt über den Oktober 1944 schrieb, sich „Heiterkeit vorzutäuschen. Es war zu deprimierend zu sehen, wie klein unsere Gruppe geworden war“.233 Lotte Freiberger, damals eine Jugendliche, berichtete später, wie die Gruppen immer kleiner wurden, bis schließlich die Luftangriffe auf Wien begannen und sich niemand mehr traute, überhaupt auf den Friedhof hinauszufahren.234 Vermutlich wurden die meisten Individuen, die nach 1942 noch am Grabeland arbeiteten, schließlich ermordet. Am 15. März 1943 hatte Josef Löwenherz beispielsweise fünf weitere Männer „bis auf weiteres der Friedhofverwaltung für Arbeiten auf dem Grabeland“ zugeteilt, nämlich Karl Benedik, Hermann Gleiss, Heinrich Saxl, Emil Pollak
230 An die Kanzlei Neuer Friedhof, 22. Mai 1942, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 231 An die Kanzlei Neuer Friedhof, 14. April 1942, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 232 Raggam-Blesch: Survival of a Peculiar Remnant, S. 15–16. 233 Trahan: Geisterbeschwörung, S. 253. 234 Zit. nach Exenberger: Gleich dem kleinen Häuflein der Makkabäer, S. 301.
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und Wilhelm Lichtmann.235 Die ersten drei kamen in Theresienstadt um. Es fielen zwar fünf Wiener namens Emil Pollak der Shoah zum Opfer, doch wurden diese alle bereits vor dem Zeitpunkt dieser Zuteilung zum Grabeland bereits aus Wien deportiert bzw. ermordet. Dieser Emil Pollak dürfte also überlebt haben. Das Gleiche gilt für Wilhelm Lichtmann, der nicht in den vorhandenen Opferdatenbanken erscheint. Auch auf einer weiteren, undatierten Liste von zwölf ArbeiterInnen am Grabeland fielen alle vier der vollständig genannten Individuen (die restlichen wurden nur per Nachnamen genannt) der Shoah zum Opfer.236 Ilse Mezei kam während des schwersten Luftangriffs auf Wien am 12. März 1945 ums Leben. Sie hatte sich mit anderen Jüdinnen und Juden inklusive ihrer Mutter Margarete in den Kellerräumen der Kultusgemeinde in der Seitenstettengasse in der Inneren Stadt verschanzt – der jüdischen Bevölkerung war der Zutritt zu den städtischen Luftschutzräumen verwehrt – als das Gebäude von einer Bombe getroffen wurde. Insgesamt starben hier 50 Menschen. Elisabeth Welt erinnerte sich, dass es noch möglich war, für Ilses Bestattung am 23. März beim IV. Tor (21-16-35) einen Sarg zu beschaffen – in den letzten Kriegswochen wurde es nämlich immer schwieriger, überhaupt die wachsende Anzahl von Leichen in Wien zu bestatten, ob mit Sarg oder ohne. Der Tag der Bestattung war für Welt der Tag, an dem sie Gott endgültig den Rücken kehrte: „Beim Begräbnis dachte ich, wenn Gott nicht jemanden wie sie beschützte und die vielen anderen, die auch unschuldig und sinnlos hatten sterben müssen, dann liebte er wohl überhaupt die Menschen nicht.“237 Welt beschrieb in ihren Memoiren die Schlacht um die Leopoldstadt im April 1945, wo sich Einheiten der Wehrmacht und SS verschanzt hatten, nachdem sie bei ihrem Rückzug aus der Inneren Stadt die Brücken über den Donaukanal gesprengt hatten. Man hörte Maschinengewehrfeuer und Handgranaten explodieren, als die SS die Leopoldstadt nach ihren letzten Opfern durchkämmte, und darüber hinweg das Hämmern der sowjetischen Artillerie aus der Inneren Stadt am anderen Donaukanalufer. Im Zuge dieser letzten Kriegswirren wurde Kurt Mezei ermordet. Elisabeth Welt spekulierte, dass er in seinem Versteck im Keller in der Förstergasse 7 zurückblieb, obwohl er von der Annäherung der SS gewarnt wurde: „Seit Ilse nicht mehr lebte, war es ihm einerlei, ob er lebte oder nicht, sagte er.“238 Wie die Historikerin Elizabeth Anthony berichtete, wurden die Flüchtigen in der Förstergasse von ihren nichtjüdischen NachbarInnen 235 Beschluss-Nr. 11591, 11. März 1943, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCVVCC. 236 O. T., o. D., AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 237 Trahan: Geisterbeschwörung, S. 278–280. 238 Trahan: Geisterbeschwörung, S. 282, 300.
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verraten. Die SS-Männer beraubten zuerst ihre Opfer, schlugen sie mit ihren Gewehrkolben, stachen mit ihren Bajonetten auf sie ein, bevor sie sie schließlich erschossen. Die Leichen wurden in einen Bombenkrater in der Straße geworfen. Martin Scheier, der sich mit der Gruppe versteckte, den Ort aber vor Ankunft der SS verlassen hatte, kehrte nach diesem sogenannten „Endphaseverbrechen“ mit einigen anderen BewohnerInnen der Förstergasse zurück, um die Leichen einzusammeln und zu bestatten. Wie Anthony schloss, „trennten nur wenige Stunden jene Jüdinnen und Juden, die zuletzt in der Stadt ermordet wurden, von jenen, die [aus ihren Verstecken] auftauchten und ‚heimkehrten‘.“239 Die Grausamkeit, die die jüdische Bevölkerung noch während der Schlacht um Wien erleiden musste, ging nicht nur von den kämpfenden SS und Wehrmachtsoldaten aus, wie der Historiker Herbert Exenberger feststellte: So wurde beispielsweise am 8. April Marie Leerer, eine 48-jährige Kultusgemeindeangestellte, die beim IV. Tor in der Kanzlei arbeitete, von einem sowjetischen Soldaten vergewaltigt und anschließend samt ihrem Mann Max erschossen.240 Das Ehepaar wurde am 27. April – der Tag, an dem die österreichische Unabhängigkeitserklärung proklamiert wurde – beim IV. Tor bestattet (15A-9-40). Die kurzlebige Geschichte des Friedhofs beim IV. Tor als Zufluchtsort und Oase des Friedens, als Gemeinschaftsraum und als Ort des Überlebens – eben als wahrhaftiges „Haus des Lebens“ inmitten der Vernichtung – stellt eine wenig bekannte, aber faszinierende Episode der Geschichte der Shoah dar. Sie war aber auch nicht einzigartig. Die weithin bekannte Israelitische Gartenbauschule in Ahlem in der Nähe von Hannover, die bereits 1893 gegründet wurde, wurde während der Shoah beispielsweise auch zu einer wichtigen Stätte für die Umschulung von Jüdinnen und Juden in Vorbereitung auf eine erhoffte Emigration, wenigstens als Verzögerung der Deportation. In einem Band zu Grünflächen im Leben der jüdischen Bevölkerung im „Dritten Reich“ sind Photographien von Ahlem abgebildet, die jene beim IV. Tor auffällig ähnlich erscheinen, worin junge Menschen bei der gemeinschaftlichen Arbeit bzw. der Freizeitgestaltung zu sehen sind. Den optimistischen Eindruck, der hier wie aus den Hachshara-Dokumenten beim IV. Tor hervorgeht, kommentierten auch die AutorInnen des entsprechenden Beitrags: Obwohl für sie Ahlem im Grunde eine Etappe auf ihrer Flucht vor der nationalsozialistischen Verfolgung war, eine Etappe, bei der sie durch Unterricht und praktische Ausbildung ihre Chancen zur Auswanderung zu erhöhen hofften, vermitteln die Fotos nicht den Eindruck von Bedrückung und Verfolgung. Im Gegenteil: Sie signalisieren Selbstbewusstsein und Optimismus. 239 Anthony, Elizabeth: Return Home. Holocaust Survivors Reestablishing Lives in Postwar Austria, Worcester, MA 2016, Dissertation, S. 55–56. 240 Exenberger: Gleich dem kleinen Häuflein der Makkabäer, S. 303.
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Jedoch schützte auch Ahlem diese Menschen nur vorübergehend: Das Umschulungslager wurde schließlich geschlossen und die TeilnehmerInnen deportiert.241 Auch die Anlegung von Gemüsegärten an unwahrscheinlichen Orten ist keine Wiener Besonderheit: In den polnischen Ghettos wurden Gärten angelegt, die nicht nur eine Beschäftigung für die Gefangenen sowie Lebensmittel durch den Gemüseanbau schafften, sondern gleichzeitig Erholung und Trost. Wie der Architekturwissenschaftler Kenneth Helphand feststellte, boten diese aber bloß „vorübergehende Ruhepausen“, denn der Zwang und der Tod holten schließlich die meisten GhettoinsassInnen ein. Doch unterstreichen selbst diese kurzen „Ruhepausen“ im Leben der Verfolgten die Wichtigkeit dieser Orte für das mindestens kurzfristige Überleben dieser Menschen inmitten des Massentodes der Shoah.242 Dass ein Friedhof für Freizeitaktivitäten umfunktioniert wurde, ist auch keine Wiener Besonderheit: Der Neue Israelitische Friedhof in München wurde 1940 mit Genehmigung der lokalen Gestapo-Zentrale als Sportplatz für die jüdische Gemeinschaft verwendet. Die meisten der Spieler, die in einem Band zum jüdischen Leben in München abgebildet sind, wurden schließlich nach Riga deportiert und ermordet.243 In seinen Tagebüchern verwies Victor Klemperer auf viele Aspekte des Lebens der Gemeinschaft der Verfolgten am jüdischen Friedhof in Dresden, die den hier geschilderten Zuständen am Wiener Zentralfriedhof auffallend ähnlich erscheinen. Auch in Dresden hielten sich die zurückgebliebenen Jüdinnen und Juden in ihrer Freizeit am Friedhof auf – inklusive jene wie Klemperer, die konfessionslos oder sogar christlich, also nicht wirklich „jüdisch“ waren. Manche arbeiteten ehrenamtlich am Friedhof, ein „Refugium“, wo sie die Tage „totgeschlagen“ haben und sich zugleich vor der drohenden Deportation schützten. Klemperer selbst verbrachte seine Zeit dort oft beim Lesen. Auch in Dresden wurde der jüdische Friedhof, wo sich Klemperer sich schon „fast zu Hause“ fühlte, zum Anbau von Gemüsebeeten verwendet. Klemperer empfand in diesen letzten Kriegsjahren, dass sich das Erscheinungsbild des Friedhofs
241 Buchholz, Marlis/Füllberg-Stolberg, Claus/Schmid, Hans-Dieter, Ahlem. Ort der Zuflucht, Ort der Verfolgung, Ort der Hoffnung, in: Fischer, Hubertus/Wolschke-Bulmahn, Joachim (Hg.): Gärten und Parks im Leben der jüdischen Bevölkerung nach 1933, München 2008, S. 104. 242 Helphand, Kenneth: Ghetto Gardens. Life in the Midst of Death, in: Brauch, Julia/Lipphardt, Anna/Nocke, Alexandra (Hg.), Jewish Topographies. Visions of Space, Traditions of Place, Aldershot 2008, S. 84, 95. 243 Heinemann, Herbert: Die jüdische Lehrwerkstatt in München 1939–1942, in: Baumann, Angelika (Hg.), Jüdisches Leben in München. Lesebuch zur Geschichte des Münchner Alltags, München 1995, S. 104–107.
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verändert hatte, „übrigens auf gute Weise: Die Gräber lagen frei, waren zugänglicher, mehr inmitten der Natur; überall waren die Gitter abmontiert, sie lagen noch am Boden (Metallmangel)“ – Letzteres eine Folge des Raubzugs seitens der NS-Behörden zwecks Gewinnung von kriegswichtigen Materialen, wie es in Wien auch geschah. Erstaunlich ist Klemperers Erwähnung, dass noch 1943 jüdische Kinder mit nichtjüdischen Kindern zusammen am Friedhof spielten, ein Beweis, dass die jahrelange NS-Propaganda wohl nicht alle nichtjüdischen Deutschen beeinflussen konnte, doch hätten diese Spiele „den jüdischen Eltern den Kopf kosten“ können. Aus Furcht vor der Deportation setzten jüdische DresdnerInnen immer wieder ihrem eigenen Leben ein Ende, wie Klemperer in einem Eintrag vom 10. August 1942 beschrieb: „An der Mauer entdecken wir ziemlich frische ausgewachsene Gräber. Mehrfach Doppelgräber, Ehepaare, die am selben Tage geendet haben. Das sind die Selbstmörder der letzten Zeit.“ Wie aus den Erinnerungen von jüdischen WienerInnen auch hervorging, war die voranschreitende Shoah natürlich auch am jüdischen Friedhof in Dresden spürbar. So berichtete Klemperer am 18. Dezember 1942, wie einer der ehrenamtlichen Arbeiter eine Leiche aus einem KZ-Transport entladen und am Friedhof bestatten musste. Trotz seiner Erfahrung in der Friedhofsarbeit sei dieser Mann „über diesem Anblick […] fast ohnmächtig geworden“. Dieser jüdische Friedhof wurde schließlich im Dresdner Feuersturm fast vollkommen zerstört.244 Die erhalten gebliebenen Photographien des Grabelands zeigen einem unwissenden Publikum einen Ort des Friedens und des Vergnügens; sie gleichen Aufnahmen eines Sommerurlaubs, vielleicht eines Jugendlagers, wobei nur die Jahresangaben auf den Ausnahmezustand dieser Sommertage hinweisen, inmitten einer erschütternden Gegenwart und angesichts einer schrecklich ungewissen Zukunft. Die Tatsache, dass die meisten der in diesen Photographien abgebildeten sowie der in den überlieferten Schriftstücken genannten Personen, allem früheren Optimismus der Hachshara-Organisationen zum Trotz, die Shoah nicht überlebten, ist ernüchternd. 8.4
Der jüdische Friedhof in belletristischen Auseinandersetzungen mit der Shoah
Etliche SchriftstellerInnen zogen in den Jahren der Verfolgung und danach jüdische Friedhöfe als Motive für ihre belletristischen Verarbeitungen des Vernichtungsversuchs gegen die Judenheiten Europas heran, ob als abstrahierten 244 Alle Zitate in der Reihenfolge ihrer Nennung: Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen, S. 107, 242–243, 325, 290, 376, 202, 290, 617–618.
Der jüdische Friedhof in belletristischen Auseinandersetzungen mit der Shoah
Raum oder in Bezug auf einen spezifischen Friedhof – wiederholt taucht in diesem Zusammenhang auch der Friedhof beim IV. Tor in Wien auf. Hierin zeigt sich vordergründig ein sich neu herauskristallisierender Stellenwert dieser Todesstätten innerhalb der jüdischen Kultur. Auf einer tieferen Ebene veranschaulichen diese künstlerischen Auseinandersetzungen aber auch eine profunde Umdeutung des Judentums und der eigenen „Jüdischkeit“, die durch das Medium der Friedhöfe ihren Ausdruck fand und häufig als „Rückkehr“ zu einer verklärten „jüdischen Vergangenheit“ verstanden wurde. Diese Werke greifen somit das zutiefst gewandelte Selbstverständnis des Judentums in Europa nach der Shoah voraus sowie die zentrale Position, die jüdische Friedhöfe in den zerstrittenen Gemeinschafts- und Erinnerungsdiskursen der Nachkriegszeit einnehmen sollten. Eine ausführliche Auseinandersetzung in belletristischer Form mit dem Friedhof beim IV. Tor veröffentlichte die damals 23-jährige und noch unbekannte Ilse Aichinger am 1. September 1945 im Wiener Kurier – was den Stellenwert dieses Friedhofs als wichtigsten „jüdischen“ Raum im öffentlichen Verständnis Wiens in der Nachkriegszeit bereits vorausgreift, da ihr Stück in dieser großen Tageszeitung ohne jede Einführung oder Erklärung abgedruckt wurde. In unschuldig kindlichem Ton erzählte Aichinger hier in ihrem ersten veröffentlichten Prosastück namens „Das vierte Tor“ von Kindern, die am III. Tor aus der „Tramway“ (Straßenbahn) ausstiegen und „mit schnellen Schritten die kleine Mauer entlang“ zum IV. Tor gingen, „verfolgt von den neugierigen Blicken der Menschen, die vergessen haben, daß es ein viertes [Tor] gibt“ – ein Hinweis bereits zu Beginn auf die vielaussagende Abgeschiedenheit des jüngsten jüdischen Friedhofs Wiens und zugleich eine Anspielung auf die Verdrängung des „Jüdischen“ aus dem Bewusstsein der mehrheitlich nichtjüdischen Stadtbevölkerung. Die Kinder „tragen keine Blumen in den heißen Händen und sind nicht geführt von Vater, Mutter und Großtante, wie andere Kinder, die man behutsam zum erstenmal einweiht in das Mysterium des Todes“, sondern sind „beladen mit Reifen, Ball und Schultasche“. Dann sprach Aichinger direkt ihre LeserInnen an: „Nicht wahr – das erschüttert Sie ein wenig und Sie fragen neugierig: ‚Wohin geht ihr?‘“ Die Kinder antworten: „Wir gehen spielen!“ „Spielen! Auf den Friedhof? Warum geht ihr nicht in den Stadtpark?“ „In den Stadtpark dürfen wir nicht hinein, nicht einmal außen herum dürfen wir gehen!“ „Und wenn ihr doch geht?“ „Konzentrationslager!“ sagt ein kleiner Knabe ernst und gelassen und wirft seinen Ball in den strahlenden Himmel.
Entsetzt fragen die imaginären LeserInnen weiter: „‚Ja, habt ihr denn gar keine Angst vor den Toten?‘ ‚Die Toten tun uns nichts!‘ Sie wollten noch etwas fragen, aber steht nicht dort an der Ecke ein Mensch im hellgrauen Anzug und beob-
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achtet Sie? Könnte es Ihnen nicht schaden, mit diesen Kindern hier gesehen zu werden?“ Die Kurzgeschichte ist ein kryptischer Bericht, fantasiereich geschrieben, von den Lebensgeschichten der Kinder und Jugendlichen, die sich während der Shoah beim IV. Tor aufhielten – als ob Aichinger diese Szenen selbst erlebt hätte, was durchaus möglich ist: Aichinger überlebte die Shoah in Wien als „Mischling“, die Tochter einer jüdischen Mutter und eines nichtjüdischen Vaters.245 Aichinger setzte hier das literarische Pendant zu den oben diskutierten Tagebüchern und Photographien von der „Sommerfrische“ am Friedhof: Auf dem jüdischen Friedhof blüht der Jasmin, strahlend weiß und gelassen und wirft Wolken von Duft in das flirrende Licht der Sonne. Er blüht restlos und hingegeben, ohne Angst, Haß und Vorbehalt, ohne die traurigen Möglichkeiten des Menschlichen. Über die Gräber wuchern Sträucher und Blattpflanzen, die niemand mehr pflegt, ranken sich rund um den Stein, beugen sich tief hernieder und zittern leicht in der Wärme des Mittags, so als wären sie sich der Berufung bewußt, Zeugen einer Trauer zu sein, die in alle Winde verweht wurde, einer unnennbar schweren erschütternden Trauer, der Trauer der Verstoßenen! Und wachsen und wachsen wild und unaufhaltsam wie das Heimweh der Emigranten in Schanghai, Chicago und Sydney, wie die letzte Hoffnung der Verschleppten, wie der letzte Seufzer der Getöteten und verbergen mitleidend die eingesunkenen Hügel. Gelassen liegen die Toten unter den zerfallenden, überwucherten Steinen. Ganz selten nur hört man das Knirschen von Schritten auf Kies, das Geräusch des Grasschneidens oder das leise Weinen Hinterbliebener.
Aichinger führte an, dass „das Sterben an gebrochenem Herzen ebenso wenig ein Märchen ist wie die Sage von den Urnen aus Buchenwald“, ein weiteres Indiz, dass sie sich bestens mit den Gegebenheiten am Friedhof auskannte, aber zugleich, dass der Versand von Ascheurnen scheinbar schon zu Kriegsende vom Faktum zur „Sage“ degradiert war. Auch berichtete sie von einem „Arbeiter“ am Friedhof mit einem „blauen Arbeitsrock mit dem großen, gelben Stern“, den die Friedhofsangestellten tatsächlich ab 1942 tragen mussten. Eindringlich reflektierte Aichinger über das Leben an dieser Stätte der Toten: „Ist es nicht gerade dieser letzte verlorene Friedhof, der durchblutet, durchglüht und durchströmt vom Puls der Welt hier am Rand einer geistig getöteten, gefesselten Stadt zur Insel der Lebendigen wird?“ Zum Schluss kam sie auf die Schlacht um Wien zu sprechen, als die Front „im Dunkel einer windigen wilden Aprilnacht am Rande der zitternden erwartungsvollen Stadt“ ankam. „Wo? Auf welcher Straße? Auf welchem Platz?“, fragten sich die Menschen. Schließlich sahen sie:
245 Vgl. Diemling: Grenzgängertum, S. 57–59.
Der jüdische Friedhof in belletristischen Auseinandersetzungen mit der Shoah
Beim vierten Tor! Dort, wo die Welt seit langem unsichtbar und tröstend zugegen ist, dort, wo der Jasmin sehnsüchtig blühte und sehnsüchtige Kinder den Traum vom Frieden träumten, dort, wo die Tramway nicht einmal eine kleine, einfache Endstation machen wollte, dort ist die erste Station der Freiheit.
Ob Aichinger hier tatsächlich auf den Aufmarsch der Roten Armee durch den Zentralfriedhof, oder allgemeiner auf den Zentralfriedhof als Insel des Friedens bis hin zur Wiedererlangung der Freiheit für die wenigen Überlebenden der jüdischen Bevölkerung Wiens verweisen wollte, sei dahingestellt.246 Eine explizite Auseinandersetzung mit der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung in Wien unternahm auch der Lyriker Erich Fried in einem Gedicht über die Bestattung seines Vaters Hugo. Dieser kam bereits am 24. Mai 1938 aufgrund seiner Misshandlung durch die Gestapo ums Leben und wurde am 27. Mai beim IV. Tor bestattet (22-45-33). Das Gedicht, „Begräbnis meines Vaters“, thematisiert den Massentod, der unter der jüdischen Bevölkerung in Wien bereits mit dem „Anschluß“ in Form von Totschlag und Selbstmord einsetzte, anhand seiner Auswirkung am Friedhof: „Am Judenfriedhof ist viel Land umgebrochen / Und Sarg um Sarg kommt, und die Sonne scheint / Der Pfleger sagt: So geht es schon seit Wochen / Ein Kind hascht Falter, und ein Alter weint“.247 Nach dem „Anschluß“ verfasste der Dichter Franz Werfel im Exil in Südfrankreich das Gedicht „Der gute Ort zu Wien“, dessen Namen auf einen jiddischen Euphemismus für den Friedhof anspielt und der offensichtlich vom Friedhof beim IV. Tor handelt. Das Gedicht öffnet mit einem Ausschnitt aus einer „Zeitungsnachricht Juni 1938“, die verkündete: „In Wien ist den Juden der Besuch aller öffentlichen Anlagen und Gärten untersagt worden. Ihnen bleibt demnach nur die israelitische Abteilung des Zentralfriedhofs zur Erholung.“ Tatsächlich dürfte dies ein von Werfel erfundenes Zitat sein, denn die Vertreibung der jüdischen Bevölkerungen aus öffentlichen Parkanlagen erfolgte schrittweise über Monate, nicht an einem einzigen Tag. Am 25. Juni 1938 wurde beispielsweise in den Tageszeitungen das zuvor bereits vom Wiener Polizeipräsidenten ausgesprochene Verbot des Betretens des Kaiparks (Franz-Josefs-Kai) auf den Lainzer Tiergarten, den Türkenschanzpark, den Schönbrunner Schlosspark und den Stadtpark ausgeweitet.248 Jedenfalls ahnte Werfels Gedicht schon die Zustände voraus, die das Leben der jüdischen Bevölkerung über die folgenden Jahre prägen sollten – und wies zudem bereits zu diesem frühen Zeitpunkt auf die wachsende Bedeutung des 246 Aichinger, Ilse: Das vierte Tor, in: Wiener Kurier, 1. September 1945, S. 3. 247 Zit. nach Exenberger: Gleich dem kleinen Häuflein der Makkabäer, S. 139. 248 Siehe z. B. Arisierung der Parkanlagen, in: Neues Wiener Tagblatt, 25. Juni 1938, S. 9.
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jüdischen Friedhofs nicht nur als neu entdeckten Erholungsraum, sondern darüber hinaus als Schauplatz für die Wiederentdeckung bzw. Umdeutung der „Jüdischkeit“: Volksgarten, Stadt- und Rathauspark, / Ihr Frühling war noch nie so stark. / Den Juden Wiens ist er verboten. / Ihr einziges Grün wächst bei den Toten. / Zur Stunde, da die Stadt erblaßt / Vor sonntäglicher Mittagslast, / Drückt es sich scheu in Straßenbahnen / Hinaus zu halbvergessenen Ahnen.
Bereits in der ersten Strophe wird der Friedhofsbesuch anstelle des Parkbesuchs mit der Wiederentdeckung von „halbvergessenen Ahnen“ in Verbindung gebracht. Eindringlich kommt somit die historische Rolle des Friedhofs als „Grabstätte der Väter“ zum Ausdruck. Zugleich ist unter den Toten am überkonfessionellen Friedhof die „Jüdischkeit“ gewissermaßen gleichgültig, wenigstens im Vergleich zur radikalen Absonderung des „Jüdischen“, die zu dieser Zeit unter den Lebenden stattfand: „Der Totenstadt von Simmering / Sind Christ und Jud das gleiche Ding, / Verschieden nur durch Zins und Kosten ... / Die Juden wohnen gegen Osten.“ Ganz explizit verwies Werfel hier auf die Aufteilung des Zentralfriedhofs nach Gräberklassen sowie nach Konfessionen. Die neuere jüdische Abteilung beim IV. Tor liegt tatsächlich im Osten. Doch das Gedicht fährt immer wieder mit dem Gedanken fort, dass das Ausweichen auf den Friedhof nicht ein bloßer Zufall war, sondern eine tiefere Bedeutung für die nun kollektiv als „Judenheit“ Verfolgten barg: „In Väterzeiten lang verdorrt, / Da hieß der Friedhof: ‚Guter Ort‘. / Nun ist, als Schutz vor feigen Horden, / Zum guten Ort er wieder worden. / Auf seinen Wegen und Alleen / Herrscht großes Kommen, großes Gehn, / Als würden alle, hier begraben, / In diesen Tagen Jahrzeit haben.“ Beginnt diese Strophe mit einem Verweis auf die Zeit der „Väter“, so endet sie mit einem Verweis auf deren jahrzeit, den jiddischen Begriff für den Todestag der ehemals „halbvergessen“ Ahnen. Die Bedeutung dieser „Rückkehr“ zur „Grabstätte der Väter“, die hier nicht zuletzt durch die jiddischen Begrifflichkeiten untermauert wird, so auch für den Friedhof als „guten Ort“, führte Werfel dann unmissverständlich vor: „Senk deine Stimme, Israel, / Es ruft ein höherer Befehl. / Dieweil du wähnst, dich zu erholen, / Bist eigens du hierher befohlen. / Dies Erdenstück, das hier dich trägt, / Geschlechterlang von dir geprägt, / Nur solches Feld, dir zugesprochen, / Hast du bebaut und umgebrochen.“ Mit anderen Worten stellte Werfel zufolge die gesamte Geschichte der Judenheit (ob nur die österreichische oder die allgemeine, bleibt offen) seit ihrer Emanzipation nur eine Illusion dar: Wie vor dem 19. Jahrhundert gehörte der Judenheit heute in Wahrheit nur noch ein Stück Erde: der Friedhof. Nur in der „Versammlung bei den Vätern“ (siehe hier Kapitel 2) war „der Jude“ wirklich zu Hause. Diesen Gedanken führte Werfel
Der jüdische Friedhof in belletristischen Auseinandersetzungen mit der Shoah
gegen Ende des langen Gedichts nochmals ebenso unmissverständlich vor: „Nimm an, nimm auf der Toten Kraft / Als Speisung deiner Wanderschaft, / Damit zu schwer der Weg nicht werde! / Noch gibt es ungeprägte Erde. / Vergißt du immer den Befehl, / Der dich umlastet, Israel!? / Du mußt den Ländern, die dich hassen, / Als Stapfen deine Gräber lassen.“249 Durch die persönliche Anredeform im Singular und den Verweis auf die „Wanderschaft“ beschwor Werfel das althergebrachte Bild des „Wandernden“ oder „Ewigen Juden“ auf, das freilich auch ein Eckstein der NS-Propaganda war. Einen ähnlichen Gedankenstrang führte der in Wien geborene Dichter Alfred Werner (geboren Alfred Siegfried Weintraub) in einem undatierten Gedicht namens „Alter jüdischer Friedhof “ vor, den er vermutlich nach seiner Emigration in die USA verfasste. Noch deutlicher als Werfel vertrat Werner hier die Ansicht, den neuerlichen Schicksalsschlag hätten die Jüdinnen und Juden ihrer Abtrünnigkeit gegen ihre eigene „Jüdischkeit“ zu verdanken: Eines neid ich euch, ihr Toten: / da ihr noch im Leben glühtet, / ward von Engeln ihr behütet: / von Geboten und Verboten! / Lebtet ihr nicht freier, reiner, / gotteshörig, gottgehörig, / im Gesetz, das wissend keiner / übertreten hätte törig, / als wir Freien, ohne Regel, / ohne Gott, mit vielen Göttern – / Schiffe ohne Wind und Segel, / wurden Narren wir und Spötter! / Hier, am Friedhof der Chassiden / spür ich eine unbekannte, / doch im Herzen tief verwandte / Ruhe: Gib uns, Herr, den Frieden!250
Dieses nostalgische, die Vergangenheit verklärende und das „Judentum“ idealisierende Gedicht ahnt eine tiefgreifende Auswirkung der NS-Verfolgung voraus, nämlich die breite „Orthodoxisierung“ der überlebenden jüdischen Gemeinden in Zentraleuropa in der Nachkriegszeit, die den an ihnen verübten Genozid als Folge ihrer verfehlten Bestrebungen zur „Assimilation“ erörterten. Hätten sie sich an die „Gebote und Verbote“ gehalten, „gotteshörig“ und „gottgehörig“, so wären sie vielleicht nicht als „Schiffe ohne Wind und Segel“ in die Katastrophe hineingesteuert, wären nicht als „Narren“ und „Spötter“ verfemt, verfolgt und ermordet. Der Friedhof, die „Grabstätte der Väter“, fungiert hier als Nabelschnur zu einer verklärten Vergangenheit, wobei freilich die wiederholten Verfolgungen religiöser Jüdinnen und Juden über die Jahrhunderte ausgeblendet werden – als ob antijüdische Feindseligkeit jemals in irgendeinem Wechselverhältnis zur jüdischen Religiosität oder vermeintlichen „Traditionalität“ gestanden hätte. Insofern ist auch der Begriff des „Friedhof[s] der Chassiden“ beachtlich, wodurch diese moderne, recht rebellische Bewegung innerhalb der Orthodoxie 249 Werfel, Franz: Gedichte aus den Jahren 1908–1945, Stockholm 1946, S. 135–137. 250 Werner, Alfred: Alter jüdischer Friedhof, in: Herz-Kestranek, Miguel/Kaiser, Konstantin/Strigl, Daniela (Hg.): In welcher Sprache träumen Sie? Österreichische Lyrik des Exils und des Widerstands, Wien 2007, S. 519.
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als Inbegriff der jüdischen „Tradition“ hervorgehoben wird. Nicht zuletzt zeigt sich hier die Tendenz der Nachkriegszeit, eine vermeintlich einheitliche und unveränderliche jüdische Religion retrospektiv zu konstruieren – ein „Gesetz“ bestehend aus klaren „Geboten und Verboten“ – was sich auch in der Wissenschaft zur jüdischen Sepulkralkultur niederschlagen sollte (siehe hier Kapitel 2 und 10). Doch der Zentralfriedhof hielt während und nach der Shoah nicht nur zur Verklärung des Judentums und der jüdischen Vergangenheit her. Der 1896 in Wien geborene, 1938 vor dem Nationalsozialismus in die USA geflohene Dichter Ernst Waldinger schrieb im Sommer 1949, bereits vier Jahre nach Kriegsende, das Gedicht „Simmeringer Hauptstraße“, in dem der Zentralfriedhof stellvertretend für eine versunkene Wiener Vergangenheit herzuhalten scheint – der Wiener Friedhof von heute als Gegenpol zum lebenden Wien von Gestern: Simmering: hier fängt der Osten an; / Staubig ist es, steppenflach, die Straße, / […] sieht anders aus / Als der heitre Hügelkranz, die Villen, / Die koketten Kirchen und die Gäßchen, / […] Endlos läuft sie hin, verläuft gesichtslos / […] Ihre Häuser werden aufgesogen / Von dem breiten, ungeheuern Boden; / Und es scheint ihr Sinn zu sein, daß hier / Endlich der Betrieb des Todes haust: / Steinmetzhütten, Sandsteinengel, Kreuze; / Leichenwagen rollen neben Schienen, / Deren Ziel der Friedhof ist, daß klingelnd / Alles Leben, in den Straßenbahnen / Dicht verfrachtet, hinzustreben scheint / Dorthin, wo Zypressen stehn, wo Taxus / Stumm sich buscht, sich weidenüberhangen / Riesenhaft die Gräberstätte breitet.251
Der Dichter Alfred Frisch schrieb ein ähnliches Gedicht namens „Friedhofsbesuch“ über den Zentralfriedhof als symbolischen Erinnerungsort in der Nachkriegszeit, dessen erste Zeile „Wien – Zentralfriedhof, 4. Tor“ explizit auf den jüngsten Wiener jüdischen Friedhof verweist. Die folgenden Zeilen des kurzen Gedichts verbinden das „Haus der Grabstätten der Väter“ mit der Erfahrung des Genozids, die zugleich vermutlich als Verweis auf die vielen „In Memoriam“-Inschriften auf den dortigen Grabsteinen verstanden werden können: „Auschwitz Brandrauch zyklonfluchbeladen / Inschrift beigesetzt in goldenen Schwaden / Schwarze Wolken aus dem Schornstein auch / Vor Jahrzehnten deine letzten Reste / Vater, Bruder, Mutter allerbeste.“252 Solche belletristischen Auseinandersetzungen mit dem jüdischen Friedhof während und nach der Shoah deuten auf eine erneut verspürte Profundität dieses Ortes als sakraler Raum der tiefsten innerjüdischen Bedeutung, als Gemeinschaftsraum, als Stätte der Ahnen und als Andachtsstätte in Verbindung zu 251 Waldinger, Ernst: Simmeringer Hauptstraße [1949], in: Gauß, Karl-Markus (Hg.): Noch vor dem jüngsten Tag. Ausgewählte Gedichte und Essays, Salzburg 1990, S. 90. 252 Frisch, Alfred: Der Regenbogen. Gedichte, St. Michael 1983, S. 15.
Die Bestattung von verstorbenen jüdisch-ungarischen ZwangsarbeiterInnen beim IV. Tor
Gott und zur eigenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Insofern greifen diese Werke – insbesondere Werfels Auseinandersetzung mit dem Friedhof beim IV. Tor – die prominente Rolle in der gemeinschaftlichen Erinnerungspolitik voraus, die ebendieser Friedhof in den Jahren und Jahrzehnten nach der Shoah innehaben sollte. 8.5
Die Bestattung von verstorbenen jüdisch-ungarischen ZwangsarbeiterInnen beim IV. Tor
Die Stadt Wien profitierte gewaltig von jüdischer Zwangsarbeit während der Kriegsjahre, die bereits in den Jahren 1938/39 mit der Einbeziehung der einheimischen Judenheit begonnen hatte, nachdem diese nach dem „Anschluß“ rasch aus der selbstständigen Wirtschaft verdrängt wurde. Im Frühsommer 1944, als der Krieg längst eine entscheidende Wende zu Ungunsten des „Dritten Reichs“ genommen hatte, forderte der Wiener Gauleiter Baldur von Schirach von Berlin die Zusendung zusätzlicher ZwangsarbeiterInnen, um den Arbeitskräftemangel in „Groß-Wien“ auszugleichen.253 Zu diesem Zweck sollte ein Teil der jüdischen Bevölkerung Ungarns, das seit dem Frühjahr vom „Dritten Reich“ besetzt war, nach Österreich gebracht werden. So geschah es im Sommer 1944, als die Massendeportation und -ermordung der jüdischen Bevölkerung Ungarns in Auschwitz-Birkenau bereits in vollem Gang war, dass etwa 15.000 jüdische UngarInnen nach Ostösterreich umgeleitet wurden, um dort Zwangsarbeit zu verrichten. Etwa 6.000 davon wurden im Raum „Groß-Wiens“ eingesetzt, die demnach leicht die Zahl der einheimischen „Jüdinnen“ und „Juden“ (von denen nur mehr etwa die Hälfte tatsächlich jüdisch war) überwog.254 Somit erfuhr die in den Jahren zuvor fast restlos ausgemerzte jüdische Bevölkerungszahl Österreichs, nachdem zehntausende jüdische ÖsterreicherInnen bereits ermordet worden waren, zu Kriegsende plötzlich einen gewaltigen Aufschwung. Freilich sollten diese zur Zwangsarbeit einbezogenen UngarInnen längerfristig nicht vor der Vernichtung bewahrt bleiben: Vielmehr veranschaulicht dieser Fall das Pendelschwingen der NS-„Judenpolitik“ zwischen unmittelbarem Mord und „Vernichtung durch Arbeit“.255 Bei den Deportierten handelte es sich keineswegs nur um arbeitstüchtige Männer, sondern um ganze Familien: Frauen, Kinder und Senioren, die streng 253 Hecht/Lappin-Eppel/Raggam-Blesch: Topographie der Shoah, S. 362–364, 379. Vgl. allgemein Lappin-Eppel, Eleonore: Ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen in Österreich 1944/45. Arbeitseinsatz, Todesmärsche, Folgen, Wien 2010. 254 Raggam-Blesch: Survival of a Peculiar Remnant, S. 18. 255 Vgl. Roseman: Die Wannsee-Konferenz, insb. S. 111–112
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von der einheimischen Gemeinschaft getrennt in eigenen Wohnlagern lebten.256 Die meisten lebten bzw. arbeiteten in Arbeitslagern in der Bischoffgasse (12. Bezirk), Malzgasse 16 (2. Bezirk), in den sogenannten „Ostmarkwerken“ im Arsenal (3. Bezirk) oder in Strasshof an der Nordbahn (Niederösterreich).257 Die Erfahrung der ungarischen ZwangsarbeiterInnen mit der lokalen nichtjüdischen Bevölkerung Wiens unterschied sich wesentlich von der der einheimischen Jüdinnen und Juden: War die Erfahrung der Letzteren nämlich bereits seit dem „Anschluß“ von pogromartiger Verfolgung geprägt, die auch proaktiv von der nichtjüdischen Zivilbevölkerung ausging, so berichteten viele UngarInnen, dass nichtjüdische WienerInnen ihnen mit Freundlichkeit und Unterstützung begegneten. Dennoch herrschte unter den ZwangsarbeiterInnen eine deutlich höhere Sterblichkeitsrate aufgrund von Hungersnot, der Verrichtung von Schwerstarbeit, schlechter hygienischer Zustände sowie der alliierten Luftangriffe auf Wien, die in den letzten Kriegsmonaten gewaltig zunahmen, und vor denen die ZwangsarbeiterInnen keinen Schutz hatten. Insbesondere Jugendliche im Alter von zehn bis 15 Jahren wurden zu der gefährlichen Arbeit herangezogen, durch Luftangriffe ruinierte Wohnhäuser nach Leichen zu durchkämmen, da sie aufgrund ihrer kleineren Körpern weniger Gefahr liefen, die instabilen Bauwerke zum Einsturz zu bringen. Dabei kamen mehrere Jugendliche um, während die Überlebenden traumatisiert waren vom erzwungenen Umgang mit oft zergliederten menschlichen Leichen.258 Es waren bereits bei der Ankunft der Ungarntransporte in Strasshof dutzende der Verschleppten tot, die gleich am Friedhof beim IV. Tor bestattet wurden. Auch wurden Leichen von den Transporten, die von Ungarn über Österreich nach Auschwitz fuhren, vor Wien aus den Waggons geholt und beim IV. Tor bestattet.259 In den letzten Kriegsmonaten wurden dann auch alle jene beim IV. Tor bestattet, die in Luftangriffen, während des Zwangsarbeitseinsatzes oder sonst aufgrund von Seuchen oder den schlechten Lebensbedingungen in den Wohnlagern umkamen. Aus den eindeutig ungarischen Namen in den allgemeinen Bestattungsprotokollen der Kultusgemeinde aus den letzten Kriegsmonaten wird ersichtlich, dass oft mehrere verstorbene ungarische ZwangsarbeiterInnen pro Tag beim IV. Tor bestattet wurden.260 Das Friedhofsamt fertigte auch Verzeichnisse spezifisch zu den „Begräbnisse[n] ungar[ischer] Arbeiter“ an,
256 Hecht/Lappin-Eppel/Raggam-Blesch: Topographie der Shoah, S. 380. 257 Vgl. den Bestand in AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2/1. 258 Vgl. Raggam-Blesch: Survival of a Peculiar Remnant, S. 22 sowie Hecht/LappinEppel/Raggam-Blesch: Topographie der Shoah, S. 385, 389, 393. 259 Hecht/Lappin-Eppel/Raggam-Blesch: Topographie der Shoah, insb. S. 514. 260 Diese befinden sich chronologisch sortiert in AIKGW, A/VIEIKG/II/BUCH/FH/FRIEDHOFSANGELEGENHEITEN, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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deren Zahl bis Mai 1945 auf 525 beziffert wurde.261 In einem Bericht aus den frühen 1950er-Jahren war hingegen von 445 Bestattungen verstorbener jüdischungarischer ZwangsarbeiterInnen beim IV. Tor die Rede, von denen 284 in Massengräbern und die restlichen 161 in Grabstätten für jeweils bis zu vier Leichen ihre letzte Ruhe fanden.262 Die Grabstätten befinden sich in der Gruppe 22 in der südöstlichen Ecke des Friedhofs, neben den Massengräbern der 1941 aus dem südöstlichen Teil des Währinger Friedhofs exhumierten Leichen. Der Grund für die Zahlendiskrepanz in den Berichten ist nicht klar. Jedenfalls befanden sich unter den Verstorbenen nicht nur jene, die in Wien verstarben und noch während des Krieges beim IV. Tor bestattet wurden, sondern auch Leichen von ZwangsarbeiterInnen, die auf Todesmärschen zu Kriegsende starben oder ermordet wurden und in freiliegenden Massengräbern an verschiedenen Orten im Osten Österreichs verscharrt und in der frühen Nachkriegszeit exhumiert und beim IV. Tor wieder bestattet wurden.263 Somit ist die Gesamtzahl der beim IV. Tor bestatteten bzw. umgebetteten ungarischen ZwangsarbeiterInnen ungewiss. Die Todesanzeigen der ungarischen ZwangarbeiterInnen gaben meist die Religion als „mos.“ (mosaisch), manchmal auch als „israelitisch“ an. Jeder männliche Verstorbene war mit dem Zunamen „Israel“ und jede weibliche mit dem Zunamen „Sara“ genannt, die schon seit 1939 in den Akten des Friedhofsamts obligatorisch angeführt werden mussten. Als Todesursache traten häufig „Pneumonie“, „Herzschwäche“ und „Magenbluten“, aber auch „Selbstmord“ auf.264 Ein Beispiel eines Totenscheins nennt eine Eva Hoffmann, geboren 1879 in Beltek (Beltiug im äußersten Nordwesten Rumäniens, das im Zweiten Weltkrieg von Ungarn annektiert wurde). Sie verstarb am 11. Juli 1944 im jüdischen Altersheim in der Malzgasse an Diabetes und wurde beim IV. Tor bestattet (22-?-15).265 Ein Beispiel eines anonymen Totenscheins vom 5. Juli 1944 listet „Namenslos“, der an „Herzmuskelschwielen“ erlag.266 Es scheint insgesamt aus diesem Konvolut von Totenscheinen, dass jene Personen, die beispielsweise
261 Verzeichnis der Begräbnisse ungar. Arbeiter vom 2. Juni bis 15. Sept. 1944, AIKGW, A/VIEIKG/II/BUCH/FH/FRIEDHOFSANGELEGENHEITEN, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 262 Vgl. An das Friedhofsamt der Israelitischen Kultusgemeinde, 10. August 1951, AIKGW, A/VIE/IKG/III/FH/108/8. 263 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Bericht [1948], o. S., Abschnitt „Friedhof und Beerdigungswesen. 264 Vgl. die Todesanzeigen in AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2/1. 265 Todesbescheinigung, 11. Juli 1944, AIKGW, A/VIEIKG/II/BUCH/FH/FRIEDHOFSANGELEGENHEITEN, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 266 Totenschau-Befund, 5. Juli 1944, AIKGW, A/VIEIKG/II/BUCH/FH/FRIEDHOFSANGELEGENHEITEN, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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im Altersheim aufgenommen wurden, auch namentlich bekannt waren, wohingegen jene, die im Durchgangslager Strasshof verstarben bzw. tot aus den Transporten geborgen wurden, von den Behörden bzw. der Kultusgemeinde nicht identifiziert werden konnten. So finden sich beispielsweise im Begräbnisverzeichnis für den Zeitraum vom 2. Juni bis 15. September 1944 „17 Frauen namenlos“ und „1 Kind namenlos“.267 In einem der Begräbnisverzeichnisse wurden auch einzelne Bestattungen von unidentifizierbaren „Leichenteile[n]“ angeführt, in einem Fall beispielsweise von „Frau Leichenteile“.268 Hierbei handelte es sich vermutlich um Opfer von Luftangriffen. Auch die Rechnungen für die Massengräber sind im Kultusgemeindearchiv aufbewahrt. Ein Beispiel bezieht sich auf die „Beerdigungen ungarischer Arbeiter vom 16. Feber bis 15. März 1945“, insgesamt 25 Leichen, die in einem einzigen Massengrab bestattet wurden. Die Verstorbenen wurden alle per Namen und Bestattungsdatum aufgezählt und für ihr Begräbnis wurden 1.250 Reichsmark verrechnet.269 Erst in der Nachkriegszeit wurden an den Grabstätten der verstorbenen ungarischen ZwangsarbeiterInnen Grabsteine errichtet, die im nächsten Kapitel analysiert werden. Abschließend soll hier aber noch ein repräsentatives Beispiel eines solchen Massenbegräbnisses vorgeführt werden. In der Gruppe 22 befindet sich der Grabstein einer 1945 verstorbenen Frau mit dem synagogalen Namen Chana bat Jehuda Bender (22-49-8), dessen Inschrift spezifisch dieser einen Frau gewidmet ist, aber gleichzeitig aller neun in diesem Massengrab Bestatteten gedenkt. Dieser Fall ist insofern einzigartig, da die Grabsteine in dieser Gruppe meist nur einzelner Verstorbene gedenken, wenngleich die meisten der Gräber eigentlich Massengräber sind. Die Inschrift lautet: „Unserer lieben Mutter Chana, Tochter von Jehuda Bender, ermordet im Sturm der Shoah [bese’arat hashoa] am 21. Februar 1945, taw-nun-tzadi-bet-hei [möge ihre Seele im Bündel des Lebens gebündelt sein; abgeleitet aus 1. Samuel 25,29].“ Darunter folgen in lateinischer Schrift die Namen der hier Bestatteten, nach ungarischer Konvention mit Familiennamen zuerst: „Fried Laszlo Ladislaus / Gardos Josef / Gardos Vilma / Füredi Laura / Grünblatt Anna / Fülor Ilona / Weissner Rosa / Krausz Gyozö / Kraus Samuel“. Es ist nicht klar, welche dieser Personen mit synagogalem Namen und Patronym Chana bat Yehuda Bender hieß – laut der Friedhofsdatenbank liegen auch nur neun Leichen dort bestattet –, doch könnte es sich aufgrund der phonetischen Ähnlichkeit um Anna (Chana?) Grünblatt handeln. Die knappe Inschrift ist auffällig religiös 267 Verzeichnis der Begräbnisse ungar. Arbeiter vom 2. Juni bis 15. Sept. 1944, AIKGW, A/VIEIKG/II/BUCH/FH/FRIEDHOFSANGELEGENHEITEN, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 268 Verzeichnis der Begräbnisse ungarischer Arbeiter vom 16.10.–15.11.1944, AIKGW, A/VIEIKG/II/BUCH/FH/FRIEDHOFSANGELEGENHEITEN, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 269 Rechnung, 25. März 1945, AIKGW, A/VIEIKG/II/BUCH/FH/FRIEDHOFSANGELEGENHEITEN, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
Schlussbemerkungen
und traditionell, wobei das Datum nicht nur im gregorianischen Kalender, sondern auch in arabischen Ziffern (21.2.1945) genannt wird. Der Grabstein wurde offensichtlich von den Angehörigen Chanas errichtet. Dass sich die Inschrift auch auf die anderen acht hier Bestatteten bezieht, erklärt sich vielleicht aus der Tatsache, dass sie alle unter den gleichen Umständen und fast gleichzeitig starben: Sie arbeiteten nämlich alle in der Imperial Feigenkaffeefabrik in der Alxingergasse 64 im 10. Bezirk, die zum ersten Mal am 20. Februar 1945 während eines Tieffliegerangriffs auf Wien getroffen wurde. Die Sterbefallbescheinigungen von Josef und Wilma Gardos gaben jeweils „21.2.1945 – Erstickt durch Erschüttung [sic]“ als Todesursache an. Sie wurden also, wie Chana bat Jehuda, am Tag nach dem Fliegerangriff für tot erklärt.270 Die restlichen sechs Verstorbenen erscheinen alle auf einer Liste von insgesamt 17 ungarischen ZwangsarbeiterInnen, die am 12. März 1945 (wie Ilse Mezei) während des schwersten Luftangriffs auf Wien ums Leben kamen.271 Ungewöhnlich ist dieser Grabstein wie gesagt dadurch, dass er aller der hier bestatteten Opfer gedenkt, obwohl sie außer ihrem gemeinsamen Schicksal womöglich nichts verband. Darüber hinaus ist dieser Grabstein jedoch repräsentativ für alle ungarischen ZwangsarbeiterInnen, die beim IV. Tor in der Gruppe 22 bestattet sind und die alle auf die eine oder andere Weise dem vom NS-Staat ausgelösten Krieg zum Opfer fielen. In der Gruppe 22 befindet sich heute ein Netzwerk von Grabsteinen und Denkmälern für die verstorbenen ungarischen Jüdinnen und Juden mit ungarisch- sowie hebräischsprachigen Inschriften, die alle in der Nachkriegszeit errichtet wurden. Auf diese Denkmäler wie auf die Exhumierung von freiliegenden Massengräbern im Osten Österreichs in den Nachkriegsjahren und der Umbettung der sich darin befindlichen Leichen beim IV. Tor kommen die folgenden zwei Kapiteln zurück. 8.6
Schlussbemerkungen
Die Verfolgungspolitik und der Vernichtungskrieg der NationalsozialistInnen hinterließen auch in den nichtjüdischen Teilen des Zentralfriedhofs Spuren. Zwischen 1938 und 1945 wurden beispielsweise etwa 1.200 Menschen in Österreich von der NS-Justiz hingerichtet, etwa die Hälfte wegen politischen Widerstands gegen das Regime. Die Leichen wurden in der Regel nach der 270 Gardos Josef Israel, 3646, 3. März 1945 und Gardos Wilma Sara, 3647, 3. März 1945, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 271 Wienben elhunyt deportáltak névjegyzéke, Holokauszt Emlékközpont (HDKE), Nevek/T-36 Bécs. Deren Bestattung beim IV. Tor ist protokolliert in Bécs - ben a központi zsidó temetóben elhantolt deportáltak névjegyzéke, HDKE, Nevek/T-34 Bécs. Ich danke Philipp Rohrbach für diesen Hinweis.
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Hinrichtung an das Anatomische Institut der Universität Wien zur „Verwertung“ übergeben, bevor sie dann kurzerhand anonym und ohne Zeremonie in Schachtgruben in der Gruppe 40 im Zentralfriedhof bestattet wurden. Der in Wien geborene, nach dem „Anschluß“ mit seinen Eltern in die USA geflüchtete Historiker Thomas Weyr erzählte die Geschichte einer Frau nach, die eines Abends eine solche Bestattung in der Gruppe 40 beobachtete: Sie hatte Verspätung. Die Dämmerung war eingebrochen, als sie einen Lastwagen vorfahren sah. Plötzlich verunsichert, versteckte sie sich in einem Gebüsch. Dann bemerkte sie ein frisch ausgehobenes Grab da, wo der Lastwagen stehen geblieben war. Sie sah die Männer blutdurchtränkte Säcke ausladen, die sie in das Grab ausleerten. Es fielen abgeschlagene Köpfe raus.
Gegen Kriegsende suchte schließlich auch der durch das NS-Regime ausgelöste Massentod das „Dritte Reich“ heim. Weyr beschrieb die Zustände nach den schweren Luftangriffen auf Wien und das zunehmende Chaos, das die Stadt in den letzten Kriegswochen lahmlegte: Die Toten zu bestatten wurde zu einem schwerwiegenden Problem. Die meisten Leichen wurden in Massengräbern am Zentralfriedhof geschleudert mit Kreuzen, die die Stelle markierten, damit die Angehörigen nach dem Krieg ihre Nächsten wiederbestatten konnten. Es war nun fast unmöglich geworden, Särge anzuschaffen. Die meisten der Toten wurden in papierenen Säcken bestattet oder wurden gar nicht erst bestattet.272
In seinem einflussreichen Nachkriegswerk LTI schrieb Victor Klemperer über den Dresdner Feuersturm, der stellvertretend für das Kriegsende im „Dritten Reich“ wirkt: „derselbe Feuersturm riß Jud und Christ in den Tod“.273 Verweist dieses Zitat auf die historische Gegebenheit, dass der Krieg schließlich die deutsche (und die österreichische) Zivilbevölkerung heimsuchte, übersieht es aber doch den Unterschied, dass noch ganz zum Schluss, als der Krieg endgültig verloren war, während der Luftangriffe den als „Jüdinnen“ und „Juden“ verfolgten Menschen die lebensrettenden Luftschutzräume verwehrt wurden und die Verfolgten noch aus ihren Verstecken gezerrt und ermordet wurden – wie es jeweils Ilse und Kurt Mezei widerfuhr. Die Massen von Grabstätten beim IV. Tor aus dem Zeitraum 1938 bis 1945 legen erschütterndes Zeugnis ab über den Genozid, der an den jüdischen ÖsterreicherInnen verübt wurde – in erheblichem Ausmaß durch ihre nichtjüdischen Landsleute. Aus den Bestattungsprotokollen der Kultusgemeinde geht hervor, dass noch im Mai 1945, also bereits nach der Befreiung Wiens, mehrere Leichen jüdischer Verstorbener 272 Weyr: The Setting of the Pearl, S. 264, 271. 273 Klemperer: LTI, S. 272.
Schlussbemerkungen
aus Wien und Umgebung sowie aus dem Konzentrationslager Mauthausen in Oberösterreich beim IV. Tor zur Bestattung gelangten. Manche wurden in den Wirren der letzten Kriegstage sogar im Augarten im 2. Bezirk bestattet, von wo sie nach Kriegsende geborgen und zum Zentralfriedhof überführt wurden. Einzelne Umbettungen aus Wien und Umgebung fanden noch bis in den Spätherbst statt.274 Beim IV. Tor bekundet ein schlichter schwarzer Marmorstein ohne jede Verzierung: „[Hebräisch:] Hier ist begraben Rachel Tuter. [Deutsch]: Ruchel Tuter, 1865–1941, Eine edle mutige jüdische Frau. Wien, du warst ihrer nicht würdig“ (20B-8-60).275 Die in der Friedhofsdatenbank als „Rachel Tutter“ genannte Frau starb im Alter von 76 Jahren im jüdischen Altersheim in der Malzgasse, somit vermutlich eines natürlichen Todes. Der Grabstein schaut jung aus, dürfte also erst lange nach der Shoah errichtet worden sein, wie auch die Inschrift andeutet, die das NS-Erbe der Stadt Wien in unmissverständlichen Worten verurteilt. Die Betonung der „Jüdischkeit“ der Verstorbenen in der Inschrift ist stellvertretend für die Durchsetzung in der Nachkriegszeit eines zutiefst partikularistischen Selbstverständnisses der überlebenden jüdischen Gemeinschaft. Interessant ist dies vor allem, weil Rachel Tuter unmittelbar neben den Abteilungen für „Nichtglaubensjüdinnen“ bestattet liegt, die heute aussagekräftig mit einem Zaun von den „echt-jüdischen“ Abteilungen abgetrennt sind, der aber seltsamer- und verwirrenderweise auch Tuters Gräbergruppe in ihrer symbolischen Abgesondertheit mit einschließt. Die tiefgreifenden Konflikte über Zugehörigkeit und „Jüdischkeit“, über individuelle und kollektive, erkorene und auferlegte Identifikationen, die die NS-Ära auf einen mörderischen Gipfel trieb, sollten in den Jahrzehnten nach der Shoah zu ebenso tiefgreifenden Spaltungen innerhalb der neu etablierten Kultusgemeinde führen, die sich um die Deutung der Shoah und demzufolge um das Selbstverständnis der Gemeinde drehten. Nirgendwo sonst wurden diese Spaltungen greifbarer wie am jüdischen Friedhof beim IV. Tor, der durch seine komplexe Geschichte während der Shoah als „jüdischer“ Raum eine komplette Umdeutung erfahren hatte. In den ersten Jahrzehnten nach 1945 sollte er zum wichtigsten und, aufgrund der abertausenden Denkmäler, die dort entstanden, die auf familiärer wie gemeinschaftlicher Ebene der Shoah gedenken, gleichzeitig zum komplexesten Erinnerungsort der österreichischen Judenheit werden. Wie in diesem Kapitel aufgezeigt, wirkten sich die Dynamiken der Partikularisierung und „Orthodoxisierung“, kurzerhand der radikalen
274 Die Bestattungsprotokolle befinden sich chronologisch sortiert in AIKGW, A/VIEIKG/II/BUCH/FH/FRIEDHOFSANGELEGENHEITEN, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 275 Ich danke Michaela Raggam-Blesch, der dieser Grabstein aufgefallen ist.
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Umdeutung der „Jüdischkeit“, bereits während der Shoah in der Friedhofspolitik beim IV. Tor aus, insbesondere durch die Einflussnahme Ernst Feldsbergs. Die mannigfaltigen, oftmals zutiefst zerstrittenen Gemeinschafts- und Erinnerungsdiskurse, die damit einhergingen, und die eng mit Feldsbergs Aufstieg erst zum Vizepräsidenten und schließlich zum Präsidenten der Nachkriegskultusgemeinde verbunden waren, bilden den Analysegegenstand des nächsten Kapitels.
9.
Eine neue Gemeinde? Gemeinschaftliche Erinnerungskonstruktionen am Zentralfriedhof Tor IV nach der Shoah
Nach dem Sturz des NS-Regimes kam die Aufarbeitung der Massenverbrechen, das Gedenken an die Opfer und die Frage nach der Verantwortung. So gedachte beispielhaft die postnazistische Wiener Stadtverwaltung am 1. November 1945 – zu Allerheiligen – den hingerichteten und in der Gruppe 40 am Zentralfriedhof verscharrten Opfern der NS-Justiz. Die Verbindung des offiziellen Gedenkens mit einem katholischen Feiertag stellte bereits zu diesem frühen Zeitpunkt eine stillschweigende, aber wirkungsmächtige Umdeutung und Begrenzung des Opferstatus in Österreich dar, der sich in den kommenden Jahren auch in verschiedenen Denkmälern niederschlagen sollte, die in der Gruppe 40 errichtet wurden und bis heute dort stehen. Diese Deutung unterstrich der neue Bürgermeister Theodor Körner bei der Gedenkfeier mit folgenden Worten: Die Stadt Wien hat diese Feier am Tage der Toten veranstaltet, um allen Opfern faschistischer Unterdrückung, welcher politischen Richtung immer sie angehört haben mögen, ihren Gruß zu entbieten. Die Stadt Wien wird, was sterblich war an den Blutzeugen des Faschismus, in einer gemeinsamen, würdigen Grabstätte bestatten, diese Grabstätte mit einem Denkmal schmücken und dieses Heldengrab der Freiheit in ihre besondere Obhut nehmen.1
Beteuerte Körner somit das in der frühen Nachkriegszeit zur Parole gewordene Gedenken an „alle Opfer des Faschismus“, so war die Betonung ihrer „politischen“ Verfolgung – im Gegensatz etwa zur „rassischen“ – sowie die Verbindung zum katholischen Glauben bereits ein Indiz dafür, dass in der neu zu errichtenden Zweiten Republik vordergründig eben nicht „aller Opfern“ des Nationalsozialismus gedacht werden sollte: im Gegenteil. Die Gedenkstätte in der Gruppe 40 kam schon bald unter den maßgeblichen Einfluss des österreichischen KZ-Verbandes, der sich 1948 in verschiedene parteiorientierte Verbände aufspaltete. Am 1. November 1948 – wieder zu Allerheiligen – wurde vom kommunistischen Bundesverband der österreichischen KZler, Häftlinge und politisch Verfolgten, jedoch im Beisein von verschiedenen christlichen Geistlichen sowie einem ungenannten Vertreter der Israelitischen Kultusgemeinde, ein Gedenkkreuz samt Gedenkstein als erstes von verschiedenen materiellen Gedenkzeichen in der Gruppe 40 eingeweiht. 1 Zit. nach Gedenkkreuze und Gedenksteine, http://www.nachkriegsjustiz.at/vgew/1110_simmeringerhptstr_gruppe40.php, letzter Zugriff: 31. August 2020. Vgl. hier auch die Informationen zu den folgenden Denkmälern in der Gruppe 40.
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Der Text verkündet schlicht: „Den Opfern des Nazismus, die für Österreich starben“. Der Stein ist zudem mit einem roten Dreieck versehen – das Abzeichen der politisch Verfolgten im Konzentrationslagersystem – der die Zahl „369“ trägt, ein Hinweis auf die 369 Wochen lange „Besetzung“ Österreichs durch NS-Deutschland. Somit treten hier eklatante historische und ideologische Widersprüche hervor: Österreich – und damit das österreichische Volk – wird als Opfer, nicht als Täter des NS-Regimes dargestellt, zumal als „besetztes“ und nicht freiwillig beigetretenes Land des „Dritten Reiches“, und die Opfer werden alle implizit als christlich und alleine aufgrund ihrer politischen Überzeugung verfolgt inszeniert. Ihr Tod wurde somit als Aufopferung für ein vereinheitlichtes und unmissverständlich politisches Ziel gedeutet, nämlich die Befreiung dieses besetzten christlichen Österreichs. Vom begeisterten Beitritt Österreichs in das „Dritte Reich“ und von seiner vorreitenden Täterrolle im Krieg sowie im Holocaust ist hier so wenig die Rede wie von den Opfern, die weder politisch verfolgt wurden noch christlich waren, geschweige denn „für Österreich“ oder für irgendeine Ideologie starben. Wiederum zu Allerheiligen 1954 wurde in der Gruppe 40 ein weiterer, heute ebenfalls erhaltener Gedenkstein durch die österreichische „Lagergruppe Buchenwald“ anlässlich der Bestattung einer Urne mit Erde aus diesem Konzentrationslager eingeweiht. Die Inschrift verkündet: „Die hier beigesetzte Erde aus dem deutsch-nazistischen Konzentrationslager Buchenwald ist durch das Blut unserer dort ermordeten Kameraden geheiligt“. Die gleichen Abgrenzungen und Widersprüche wurden hier nochmals untermauert: Die Konzentrationslager waren nicht nur „nazistisch“, sondern der „Nazismus“ wurde mit dem „Deutschtum“ gleichgestellt. Dadurch wurde diskursiv zwischen dem nazistischen „Deutschtum“ und dem antinazistisch-konnotierten „Österreichertum“ unterschieden, für das die Opfer angeblich bereitwillig starben. Die Opfer waren darüber hinaus nicht bloß politisch verfolgte „Kameraden“, sondern zugleich „Märtyrer“, die durch ihr Blut die Erde „heiligten“. Österreich-Nationalismus, katholisch-religiöse Märtyrerdiskurse und zum Teil kommunistische Ideologie vereinigten sich hier, als gäbe es dazwischen keine Widersprüche, und wieder einmal wurden die Opfer, die nicht christlich bzw. kommunistisch oder sonst politisch Verfolgte waren – und die mitunter von österreichischen TäterInnen gepeinigt und ermordet wurden – einfach aus dem Kollektivnarrativ ausgeblendet. Schließlich wurde im Jahre 1975 ebenfalls an der gleichen Stelle unter dem Gedenkkreuz ein weiterer Gedenkstein anlässlich der Bestattung der Asche von über 1.600 ermordeten Häftlingen aus verschiedenen Konzentrationslagern und Euthanasieanstalten eingeweiht. Die Inschrift verkündet einfach: „Sie starben für Österreich“. Wäre diese Auffassung schon im Falle von politisch Verfolgten, geschweige denn jenen als „jüdisch“ Verfolgten problematisch genug,
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so muss ihre Anwendung auf körperlich und psychisch kranke Menschen, die aufgrund des eugenischen Rassenwahns der deutschen und österreichischen NationalsozialistInnen ermordet wurden, als reiner Zynismus oder sogar als bewusste Geschichtsverfälschung betrachtet werden. Diese bis heute instand gehaltene Denkmalanlage in der Gruppe 40 wurde in den letzten Jahren seitens der Republik in eine „Nationale Gedenkstätte“ aufgewertet. Die in den ersten Nachkriegsjahren durchwegs von linken Gruppierungen eingesetzte „Heroisierung“ und die Betonung des (eigentlich recht marginalen) Widerstands im NS-Österreich auf Kosten anderer Opfergruppen – allen voran der jüdischen Opfer – verrät enge Parallelen zum kommunistischen Regime in der Deutschen Demokratischen Republik. Dies kritisierte etwa die Regisseurin Ruth Beckermann anhand eines beispielhaften Zitats des steirischen Kommunisten Ernst Fischer, der rühmte: „riesengroß ist das Grab, in dem Leib an Leib die toten Märtyrer Österreichs ruhen, Kommunisten, Sozialisten, Katholiken“. Daraufhin fragte Beckermann: „Was fühlte ein österreichischer Jude, der das las?“2 Die hier zum Ausdruck kommenden, in der Zweiten Republik lange dominanten Diskurse veranschaulichen – neben der Zentralität des Zentralfriedhofs als Erinnerungsort an die begangenen Verbrechen des Nationalsozialismus – wie diese Verbrechen zum Teil verschleiert, das Verhältnis zwischen nichtjüdischen österreichischen Tätern und Opfern verwischt und die Erinnerung an die als Außenseiter konstruierten österreichischen Opfer – vor allem die jüdische Bevölkerung, aber auch etwa körperlich und psychisch Kranke sowie Roma und Sinti, die slawischsprachigen Bevölkerungsgruppen der Grenzgebiete und andere verfolgte Gruppen wie „Asoziale“ und Homosexuelle – verdrängt wurden. Doch wie der Sprachwissenschaftler James Young in seiner bahnbrechenden Arbeit zur Erinnerungskultur rund um den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust feststellte, sollte diese Dynamik nicht einfach als „Verdrängung“ heruntergespielt werden, denn damit ginge auch der „Blick auf viele andere politische und soziale Faktoren nationalen Erinnerns“ verloren.3 Kurz gefasst wurde in der Zweiten Republik ein Geschichtsbild frei konstruiert, wonach die „wahren ÖsterreicherInnen“ – durchwegs als Nichtjüdinnen und -juden verstanden – sich für Österreich aufgeopfert hatten, während die Schuld für die Verbrechen des Nationalsozialismus nach Deutschland ausgelagert wurde.4 Diese Anschau2 Beckermann, Ruth: Unzugehörig. Österreicher und Juden nach 1945, Wien 1989, S. 65, 69. Vgl. Bauernkämper, Arnd: Das umstrittene Gedächtnis. Die Erinnerung am Nationalsozialismus, Faschismus und Krieg in Europa seit 1945, Paderborn 2012, S. 205. 3 Young, James: Formen des Erinnerns. Gedenkstätten des Holocaust, aus dem Englischen von Margit Ozvalda und Susanna Rupprecht, Wien 1997, S. 16. 4 Zu den österreichischen Nachkriegsdiskursen, insbesondere dem berüchtigten „Opfer-Mythos“, vgl. jüngst Pirker, Peter: The Victim Myth Revisited. The Politics of History in Austria up
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ung ermöglichte einen tragbaren politischen Konsens zwischen den zuvor in der Ersten Republik tödlich verfeindeten linken und rechten Flügeln, aufgrund dessen sich die Zweite Republik neu etablierte. Jene Opfergruppen, allen voran die jüdische Bevölkerung, die nicht in das hegemoniale Selbstverständnis der neuen, sich im Prozess des Entstehens befindenden österreichischen „Nation“ passten, waren indes nach 1945 weiterhin unterschiedlichen Schikanen der dominanten Politik und Gesellschaft ausgesetzt. Es sollte noch Jahrzehnte dauern, bis eine halbwegs ehrliche Aufarbeitung der eigenen NS-Vergangenheit in der breiten Öffentlichkeit der Zweiten Republik unternommen wurde. Jüngsten Schätzungen zufolge fielen insgesamt etwa 66.500 ÖsterreicherInnen der Shoah zum Opfer. Das war etwa ein Drittel der jüdischen Bevölkerung Österreichs, plus einiger tausend ÖsterreicherInnen, die nur den Nürnberger Gesetzen zufolge als „jüdisch“ galten. Die übrige jüdische Bevölkerung (nach Eigen- oder Fremddefinition), schätzungsweise 125.000 Menschen, konnten rechtzeitig in schutzgewährende Drittländer fliehen, die nicht von der NSKriegsmaschinerie wieder eingeholt wurden. Etwa 300 über den Osten Österreichs zerstreute Massengräber zeugten unmittelbar nach Kriegsende von den Massakern an den zumeist jüdisch-ungarischen Opfern der Todesmärsche, die in den letzten Tagen der NS-Herrschaft stattfanden. Diese Morde konnte nicht einmal die Zivilbevölkerung leugnen, da sie sich direkt vor ihren Augen abgespielt hatten.5 Die prachtvollen Synagogen sowie unzählige Bethäuser und Geschäfte im Besitz von jüdischen WienerInnen fielen bereits 1938 fast zur Gänze einem andauernden, pogromartigen Staatsterror zum Opfer, an dem sich die nichtjüdische Lokalbevölkerung aktiv und begeistert beteiligt und bereichert hatte. Josef Löwenherz, der von den NationalsozialistInnen genötigte Leiter der Kultusgemeinde während der Shoah, bemerkte in einem privaten Schreiben nach Kriegsende: „Über den glanzvollsten Erinnerungen des Judentums und der Judenheit hier, liegen Asche und Tod.“6 Gegenüber diesen Zahlen standen 1,3 Millionen Österreicher, etwa 18 Prozent der damaligen Bevölkerung, die in der Wehrmacht dienten – ebenso wie bei der deutschen Zivilbevölkerung dienten viele freiwillig, viele nicht.7 Darüber hinaus traten um die 550.000 ÖsterreicherInnen, etwa acht Prozent der Bevöl-
until the Waldheim Affair, in: Günter Bischof/Marc Landry/Christian Karner (Hg.): Myths in Austrian History. Construction and Deconstruction, New Orleans/Innsbruck 2020. 5 Vgl. Albrich, Thomas: Holocaust und Schuldabwehr, in: Steininger, Rolf/Gehler, Michael (Hg.): Österreich im 20. Jahrhundert. Ein Studienbuch in zwei Bänden, Bd. 2, Wien 1997, S. 52–53. 6 Zit. nach Adunka: Die vierte Gemeinde, S. 28. 7 Vgl. Buchmann, Bertrand Michael: Österreicher in der deutschen Wehrmacht. Soldatenalltag im Zweiten Weltkrieg, Wien 2009.
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kerung, der NSDAP oder anderen NS-Organisationen bei.8 Simon Wiesenthal, einer der einflussreichsten Vorkämpfer der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in Österreich, behauptete bekanntermaßen, es seien etwa die Hälfte der sechs Millionen jüdischen Opfer der Shoah österreichischen TäterInnen anzulasten – man denke, abgesehen vom Oberösterreicher Adolf Hitler selbst, an die maßgeblichen Architekten der Shoah aus Österreich wie Ernst Kaltenbrunner, Adolf Eichmann und Odilo Globocnik sowie die berüchtigten MassenmörderInnen aus Österreich wie Franz Stangl, Amon Göth und Hermine Braunsteiner.9 Wird Wiesenthals Behauptung heute kontrovers als Übertreibung oder wenigstens als Überschätzung diskutiert, dann zeigen dennoch jüngere statistische und prosopographische Studien, dass ÖsterreicherInnen insgesamt im Vergleich zu den „Reichsdeutschen“ in NS-Organisationen aller Art sowie in der Vollstreckung des Holocaust überproportional vertreten waren.10 Stand die Republik Österreich in Betracht auf Schuld, Sühne und Aufarbeitung jahrzehntelang im Schatten der Bundesrepublik Deutschland, so machten sich die überlebenden, zumeist im Ausland ansässigen österreichischen Jüdinnen und Juden keine Illusionen über ihr Heimatland und das Ausmaß der Vernichtungswut, die zwischen März 1938 und April 1945 unter ihren nichtjüdischen LandesgenossInnen geherrscht hatte. Als der persische Großkönig Artaxerxes I. seinen jüdischen Hofschenk Nehemia fragte: „Warum siehst du so traurig aus?“, antwortete dieser in Bezug auf seine besiegte und zerstörte Heimatstadt Jerusalem: „Warum sollte ich nicht traurig aussehen, da die Stadt, wo das Haus der Grabstätte meiner Väter ist, verwüstet liegt, und ihre Tore durch das Feuer verbrennet worden sind?“ (Nehemia 2,3). Nach der weitgehenden Vernichtung jüdischen Lebens und jüdischer Gemeinschaftsräume in der Shoah zählten die bis zu 69 jüdischen Friedhöfe (je nach Definition) – diese „Grabstätten der Väter“ –, die im Territorium der Republik Österreich überdauerten, zu den wichtigsten „jüdischen“ Räumen
8 Uhl, Heidemarie: The Politics of Memory. Austria’s Perception of the Second World War and the National Socialist Period, in: Bischof, Günter/Pelinka, Anton (Hg.): Austrian Historical Memory & National Identity, New Brunswick 1997, S. 71. 9 Vgl. Wiesenthal, Simon: Memorandum, in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.): Forschungen zum Nationalsozialismus und dessen Nachwirkungen in Österreich. Festschrift für Brigitte Bailer, Wien 2012. 10 Vgl. zur Kritik an Wiesenthals Behauptung Perz, Bertrand: Der österreichische Anteil an den NS-Verbrechen. Anmerkungen zur Debatte, in: Kramer, Helmut/Liebhart, Karin/Stadler, Friedrich (Hg.): Österreichische Nation – Kultur – Exil und Widerstand, Wien 2006. Vgl. hier die Diskussion am Anfang von Kapitel 7 der einschlägigen Holocaustforschung, die hingegen Österreich und ÖsterreicherInnen als ausschlaggebend in der Radikalisierung der NS-„Judenpolitik“ sowie in der Durchführung des NS-Massenmords anführt.
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im postnazistischen Österreich: als Stätten ungeheurer historischer Gewichtigkeit, materielle Verbindungsorte zu einer sonst entrissenen gemeinschaftlichen wie persönlichen Vergangenheit, und als Spannungsräume in den zahlreichen Konflikten rund um die jüdische Vergangenheit und Gegenwart Österreichs im Schatten der Vernichtung, die sich über die kommenden Jahre und Jahrzehnte stets aufs neue entfalten sollten.11 Der Historiker Philippe Ariès deutete in seinem Meisterwerk zur europäischen Sepulkralgeschichte auf den breiten Wandel, der sich in der westlichen Gesellschaft der Nachkriegszeit vollzog, wonach der zuvor allgegenwärtige Tod weitgehend aus den Räumen der Lebenden in Altersheime und Spitäler verbannt wurde. Fortan verblieb nur mehr der Friedhof als Trauer- und Erinnerungsort, als „Ort des Gedenkens und des Besuchs“.12 Dies galt unter der jüdischen Bevölkerung Wiens umso mehr, da die Mehrzahl der Ermordeten keine Grabstätte erhielten: Somit wurde der Gemeinschaftsfriedhof beim IV. Tor zum Ort nicht nur der gewöhnlichen individuellen, familiären bzw. gemeinschaftlichen Trauer und Erinnerung, sondern darüber hinaus zum Ort einer stellvertretenden, kollektiven Erinnerung an den erlebten Genozid, die sich jahrzehntelang introspektiv auf innerjüdischer Ebene, weitgehend abgegrenzt von den öffentlichen Erinnerungsdiskursen der Zweiten Republik, in diesem Bestattungsraum entfalten sollte. In diesem Kapitel wird anhand von tausenden großen wie kleinen Denkmäler, die ab den späten 1940er-Jahren im Friedhof beim IV. Tor in Erinnerung an die Shoah errichtet wurden und somit den Friedhof lange zum zentralen Erinnerungsort der Shoah in Wien machten, die Konstruktion einer gemeinschaftlichen Erinnerung an die jüngste Vergangenheit sowie eines neuen gegenwärtigen Selbstverständnisses der Wiener Judenheit analysiert. Dabei wird durchgehend zwischen den in den letzten paar Jahrzehnten in der Forschungsliteratur ausgefeilten Konzepten der individuellen/familiären/kommunikativen Erinnerung einerseits und der gemeinschaftlichen/kollektiven/kulturellen Erinnerung andererseits unterschieden.13 Mit individueller/familiä-
11 Diese Zahl nannte Tina Walzer in einer Auflistung, die aber auch „konfessionelle Abteilungen auf Kommunalfriedhöfen“ beinhaltet, die streng gesehen nicht als „jüdische Friedhöfe“ gelten, so etwa der Döblinger Friedhof. Walzer: Jüdische Friedhöfe in Europa und den europäischen Ländern, S. 9. 12 Ariès: Geschichte des Todes, S. 739. 13 In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich die Forschung zur und Theoretisierung der Erinnerung massiv ausgebreitet, und es gibt somit eine erhebliche Literatur zu dieser Thematik. Eine gute, wenn inzwischen ältere Zusammenfassung, zudem mit Bezug auf die räumliche Entfaltung von Erinnerungsdiskursen und -praktiken findet sich in Assmann: Erinnerungsräume. Vgl. auch Kansteiner: Finding Meaning in Memory.
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rer/kommunikativer Erinnerung ist der Bereich der persönlichen Erfahrung gemeint, aus dem sich individuelle und durchaus divergierende Geschichtsbilder und -narrative speisen und im persönlichen Umfeld, meist innerhalb der Familie, tradiert werden – daher das „Kommunikative“. In der Regel erhalten sich kommunikative Erinnerungen über einzelne Menschenleben hinaus und gerade im Hinblick auf familiäre Erinnerung bloß zwei bis drei Generationen, bis die Vorfahren samt ihrem Erinnerungsschatz aus dem Gedächtnis der Lebenden schwinden. Gemeinschaftliche/kollektive/kulturelle Erinnerung verweist hingegen auf die oft bewusste Konstruktion umfassender Geschichtsnarrative durch kollektive Gemeinschaften unterschiedlicher Arten – zum Beispiel bestimmte Bevölkerungsgruppen, Religionsgemeinschaften oder Nationalstaaten. Diese Narrative werden zwar als „Erinnerungen“ an die Vergangenheit vermittelt, sollen jedoch eine formative Sinndeutung der Vergangenheit für die Gegenwart erst begründen, die sodann durch performative Erinnerungszeremonien eine kollektive Gedenkgemeinschaft und dadurch einen Gemeinschaftssinn schlechthin erzeugen sollen. Die Trennung zwischen individueller und kollektiver Erinnerung ist freilich theoretisch. In Wahrheit stehen diese diversen Formen der Erinnerung in einem komplexen Beziehungsgeflecht zueinander: So gründet sich das kollektive Gedächtnis gewissermaßen auf mannigfaltige individuelle Erinnerungen, die sich wiederum auf kollektive Narrative stützen, um die eigenen oder vermittelten Erfahrungen in einem kohärenten Geschichtsbild einordnen und deuten zu können. Zudem stimmt es auch nicht zwingend, dass individuelle/kommunikative Erinnerungen dem Vergessen geweiht sind, wenngleich dies in vielen Privatleben und Familien tatsächlich der Fall ist: Gerade aus dem Abgrund der Shoah heraus ist nämlich eine beispiellose Sammeltätigkeit von individuellen Lebensgeschichten „gewöhnlicher“ Menschen hervorgegangen, die bei einem „normalen“ Lebenslauf weitgehend dem Vergessen anheimgefallen wären. Demzufolge werden heute hunderttausende Erinnerungsstücke (Memoiren, Interviews und so weiter) in unzähligen schriftlichen wie digitalen Archiven aufbewahrt, aus denen sich ein immer komplexeres Geschichtsbild – oder in anderen Worten: ein kollektives/kulturelles Gedächtnis – der Shoah sowie der breiteren jüdischen Vergangenheit ergibt. Wie James Young argumentierte, ist zudem die Vorstellung eines „kollektiven Gedächtnisses“ eigentlich eine Illusion, die nicht zuletzt räumlich ihre Ausprägung findet: „Indem Monumente gemeinsame Orte der Erinnerung schaffen, schaffen sie gleichzeitig die Illusion einer gemeinsamen Erinnerung.“ In diesem Zusammenhang prägte Young einen Begriff, der die vermeintlichen Gegenpole der individuellen und kollektiven Erinnerung zu vereinen sucht, nämlich den der „gesammelten Erinnerung“, mit dem er „all die unterschiedlichen Erinnerungen, die an öffentlichen Gedenkstätten eine gemeinsame Bedeutung
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erzeugen“, betonte.14 Gerade bei einem komplexen Erinnerungsort wie einem Friedhof, an dem sich tausende weitgehend voneinander unabhängig errichtete Erinnerungszeichen und -texte häufen, die insgesamt ein äußerst komplexes und mitunter widersprüchliches Erinnerungsgeflecht erzeugen, trifft dieses Konzept einer „gesammelten Erinnerung“ besonders zu. Diesen theoretischen Denkmustern folgend wird in diesem Kapitel der jüngste jüdische Friedhof Wiens beim IV. Tor des Zentralfriedhofs, seit 1945 der hauptsächliche Bestattungsraum der jüdischen Gemeinde, als Stätte eines zweigleisigen Erinnerungskonflikts aufgezeigt: Zum einen diente er vor allem in den ersten Jahrzehnten nach der Shoah der Konstruktion einer spezifisch „jüdischen“ Kollektiverinnerung, die in vielerlei Hinsicht den zugleich entstehenden hegemonialen Kollektiverinnerungen der Zweiten Republik widersprach, aus der die „jüdische“ Erinnerung weitestgehend ausgeklammert war. Zum anderen aber löste die Konstruktion einer im innerjüdischen Kontext ebenso hegemonialen „jüdischen“ Kollektiverinnerung, die größtenteils von der Führungsschicht der Kultusgemeinde vorangetrieben wurde, Konflikte innerhalb der kleinen, aber vielfältigen jüdischen Gemeinschaft aus, wodurch ein äußerst variables „gesammeltes“ Erinnerungsgeflecht entstand. Neben vielzähligen großen und kleinen offiziellen Denkmälern, die seitens der Kultusgemeinde beim IV. Tor in Erinnerung an die Shoah errichtet wurden und die mitunter das Spannungsgeflecht zwischen der jüdischen Gemeinschaft und der nichtjüdischen Mehrheit in Österreich reflektieren, zeigen sich die Bruchlinien in den innerjüdischen Diskursen der Nachkriegszeit weiterhin vor allem in der Sepulkralepigraphik der abertausenden Grabdenkmäler in diesem Friedhof. Als Hauptakteurin dieser Geschichte trat nun stärker als je zuvor die Israelitische Kultusgemeinde Wien hervor, die sich nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reichs“ nicht nur neu konstituierte, sondern von Grund auf religiös, politisch und ideologisch neu orientierte. 9.1
„Orthodoxisierung“ und „Zionisierung“. Die Neuetablierung und Neuorientierung der Kultusgemeinde nach 1945
Die in Wien geborene, bereits vor dem „Anschluß“ nach London emigrierte Schriftstellerin Hilde Spiel beschrieb in den Schilderungen ihrer Rückkehr nach Wien als Kriegskorrespondentin ihren Besuch in einem Lager für jüdische „Displaced Persons“ (verschleppte oder vertriebene Personen, nun vielfach staatenlos) in Kärnten 1946. Einer der dort ansässigen Shoah-Überlebenden erklärte ihr: „Hier ist niemand, der in Europa bleiben will, schreiben sie das 14 Young: Formen des Erinnerns, S. 16, 33.
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in ihrer Zeitung. Europa ist ein Friedhof, ein einziger Friedhof mit unseren Müttern, Vätern, Schwestern. Für uns gibt es nur noch ein Land: Palästina.“15 Unmittelbar nach Ende der NS-Herrschaft wurde zwar durch die Provisorische Staatsregierung Österreichs ein ebenfalls provisorischer Kultusvorstand berufen, jedoch sah dieser vorerst seine einzige Aufgabe darin, den Überlebenden zur Emigration zu verhelfen. Wie ihr späterer Präsident Ivan Hacker ähnlich wie Hilde Spiels Gesprächspartner im „Displaced Persons“-Lager feststellte, galt die Kultusgemeinde in dieser Zeit nur mehr als „Friedhofsamt“. Auch die Bezeichnung jüdischer ÖsterreicherInnen durch die US-Besatzung als „Displaced Persons“, also in etwa Unbeheimatete, unterstrich die weit verbreitete Auffassung nach 1945, dass selbst die einheimische Judenheit nicht (mehr) als Teil der österreichischen „Nationalgemeinschaft“ galt – wobei wohlgemerkt damit beabsichtigt wurde, den Überlebenden nach Kriegsende Anspruch auf Hilfeleistungen zu verschaffen, die oft seitens des österreichischen Staates nicht erfolgten.16 Tatsächlich forderten auch die wenigen in Wien zurückgebliebenen Jüdinnen und Juden ihre im Ausland überlebenden Angehörigen auf, nicht zurückzukehren, und gaben in einer Umfrage im Jänner 1946 selbst mehrheitlich an, auswandern zu wollen.17 Allerdings wurde Palästina, wo wenige Jahre später der jüdische Staat Israel gegründet wurde, erst an zweiter Stelle hinter den USA als Zielland von jüdisch-österreichischen EmigrantInnen genannt: Allen offenen Bekundungen der Kultusgemeinde über ihre Nähe zum jüdischen Staat zum Trotz zeigt sich bis heute unter der österreichischen Nachkriegsjudenheit oft eine gewisse Ambivalenz zu Israel. Die frühe Verkündung des Endes jüdischen Lebens in Österreich infolge der Shoah erwies sich bald als voreilig. Zwar verblieben die meisten der geflüchteten jüdischen ÖsterreicherInnen in ihren neuen Heimatländern, ein Bruchteil – die Schätzungen schwanken enorm, zwischen 4.500 und bis zu 15.000 Personen – kehrte dennoch als sogenannte „RemigranntInnen“ nach Österreich zurück. Die Schwierigkeit bei der Feststellung exakter Zahlen besteht darin, dass viele Jüdinnen und Juden bzw. jene, die als „jüdisch“ verfolgt wurden, entweder vor 1938 nicht Mitglieder der Kultusgemeinde waren bzw. nach 1945 der Kultusgemeinde nicht erneut beitraten. Wie die Germanistin Jacqueline Vansant in ihrer einfühlsamen Studie zu Memoiren von RemigrantInnen feststellte, verweist die Dunkelziffer bereits auf „die Vielfalt der jüdischen Bevölkerung innerhalb Österreichs sowie die problematische Bezeichnung als ‚jüdisch‘“.18 Die Konzeption 15 Spiel, Hilde: Rückkehr nach Wien. Ein Tagebuch, Wien 2009, S. 123. 16 Vgl. Anthony: Return Home, S. 87 und 143, vgl. auch S. 150. 17 Beckermann: Unzugehörig, S. 98. Vgl. Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Unser Programm fuer die israelitische Kultusgemeinde, Wien o. J. [1946]. 18 Vansant, Jacqueline: Reclaiming Heimat. Trauma and Mourning in Memoirs by Jewish Austrian Reémigrés, Detroit 2001, S. 13.
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der „Jüdischkeit“, die seit jeher umstritten war und die unter der rassistischen Ideologie des Nationalsozialismus so radikal zugespitzt wurde, verblieb bis in die Nachkriegszeit hinein problematisch. So verwies jüngst die Historikerin Elizabeth Anthony etwa auf die allgemeine Skepsis, mit der die neuetablierte Kultusgemeindeverwaltung nach 1945 jenen Überlebenden begegnete, die zwar als „Jüdinnen“ und „Juden“ verfolgt wurden, sich zuvor aber selbst nicht als „jüdisch“ verstanden hatten. Dies ging so weit, dass die Kultusgemeinde oft zögerte, dieser Gruppe, deren Rechte auf Entschädigung vom österreichischen Staat weitgehend ignoriert wurden, irgendwelche Hilfe anzubieten.19 In der Tat stellte die Frage der grundlegenden Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft einen der beständigsten Streitpunkte der Nachkriegsgemeinde dar, die sich greifbar in der jüdischen Sepulkralkultur am Zentralfriedhof niederschlug. In ihrer soeben zitierten Dissertation identifizierte Anthony drei Phasen der Rückkehr, beginnend mit jenen, die die Shoah in Wien überlebten und nach Kriegsende wieder „auftauchten“, gefolgt von Überlebenden aus den Konzentrationslagern und zuletzt jenen, die aus sicheren Drittstaaten zurückkehrten. Die Beweggründe zur Rückkehr waren zumeist familiär (sie wollten mit ihrer Familie in der Heimat vereint sein), politisch (sie wollten am Wiederaufbau des Landes bzw. der Kultusgemeinde mitwirken) oder professionell (sie wollten oder konnten nur in Österreich ihre alte Existenz wieder aufbauen – dies galt vor allem etwa für ÄrztInnen oder RechtsanwältInnen, deren Qualifikationen im Ausland nicht anerkannt wurden, sowie aus sprachlichen Gründen für SchrifstellerInnen). Für manche wiederum, wie es etwa der Historiker Tom Segev mit Hinsicht auf Simon Wiesenthal zeigte, war es die tiefe Verwurzelung in der (alt-)österreichischen Kultur und „Heimat“, die sie zurückkehren bzw. bleiben ließ.20 Für viele aber galt ausschließlich die Stadt Wien als Ziel der Rückkehr, nicht unbedingt das Land Österreich. So verschwand „Österreich“ als Land und Kulturraum auch weitgehend aus der jüdischen Sepulkralepigraphik der Nachkriegszeit. Als neutrale Stadt an der Schnittstelle zwischen Ost und West wurde Wien während des Kalten Krieges zudem zur Drehscheibe für jüdische EmigrantInnen aus Osteuropa und der Sowjetunion, die in wiederholten Wellen und aus unterschiedlichen Gründen, inklusive antisemitischer Verfolgungskampagnen, ihre Heimat verließen. Bis 1955 reisten bereits etwa 300.000 Jüdinnen und Juden auf ihrem Weg in die Emigration durch Wien, gefolgt im Jahr darauf von weiteren 17.000, die nach der Unterdrückung des Volksaufstandes in Ungarn flohen. Zwischen 1968 und 1986 reisten abermals etwa 270.000 sowjetische Jüdinnen 19 Anthony: Return Home, S. 92–94. 20 Segev, Tom: Simon Wiesenthal. Die Biographie, aus dem Hebräischen von Markus Lemke, München 2010, insb. S. 105–107.
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und Juden durch Wien, die vorwiegend nach Israel auswanderten, gefolgt von einer neuen Welle von etwa 10.000 sowjetischen EmigrantInnen in den frühen 1990er-Jahren.21 Immer wieder ließen sich einzelne dieser Durchreisenden in Wien nieder, die stets die jüdische Gemeinschaft aufs Neue belebten und diversifizierten. Daraus ging beispielsweise eine neue Gemeinschaft von bucharischen Jüdinnen und Juden in Wien hervor, die aus den ehemaligen Sowjetstaaten Zentralasiens einwanderten und eine eigentümliche Gemeinschaft innerhalb der jüdischen Gemeinde darstellen, wie die sephardische Gemeinschaft vor der Shoah. Die jüdische Nachkriegsgemeinschaft, die aufgrund dieser Entwicklungen allen Vermutungen zum Trotz nach der Shoah fortbestand, bildete somit weitestgehend eine neue, eigentümliche Gemeinschaft, die nur mittelbar, insbesondere auf organisatorischer und rechtlicher Ebene, die Nachfolgerin der großen ehemaligen jüdischen Gemeinschaft aus der Epoche vor der Shoah darstellte. Dies wurde durch den Umstand unterstrichen, dass in den frühen 1950er-Jahren etwa zehnmal so viele jüdische ÖsterreicherInnen im Ausland wohnten als in Österreich selbst, die vor allem in den USA eine Art Österreichgemeinschaft im Exil darstellten.22 Wie die Historikerin Helga Embacher in ihrer Studie zur Kultusgemeinde nach 1945 herausarbeitete, wurden die jüdischen „Displaced Persons“ aus Osteuropa „nicht nur zu Trägern des Zionismus und der Orthodoxie in Österreich“, wodurch sie maßgeblich die neuetablierte Gemeinde mitprägten, sie verhinderten „letztendlich den endgültigen Tod der jüdischen Gemeinden“ in Wien wie andernorts in Zentraleuropa.23 In seinem Geleitwort zur umfassenden Studie der Historikerin Evelyn Adunka über die Nachkriegsgemeinde aus dem Jahre 2000 betonte ihr langjähriger Präsident Paul Grosz die durch diese wiederholten Einwanderungswellen bedingte Diversität der jungen Gemeinde: Die Wiener jüdische Gemeinde ist in ihrer Zusammensetzung heterogener als vorstellbar. Der Identitätsbogen ihrer Mitglieder spannt sich von Ultrareligiös bis Atheistisch, von politisch weit Links bis weit Rechts, ihre Herkunft läßt sie aus allen Ländern Europas, aus Asien, Afrika, Amerika, Australien stammen, das älteste Gemeindemitglied ist noch im 19. Jahrhundert, das jüngste ist gestern geboren.24 21 Adunka, Die vierte Gemeinde, S. 159, 374 und 381. Vgl. John/Lichtblau: Schmelztiegel Wien, S. 44. 22 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Die Tätigkeit der Israelitischen Kultusgemeinde Wien in den Jahren 1952–1954, Wien 1955, S. 20–21; vgl. auch S. 124. Zur Exilgemeinschaft in den USA vgl. Corbett: Jews and Austrian Culture. 23 Embacher, Helga: Neubeginn ohne Illusionen. Juden in Österreich nach 1945, Wien 1995, S. 72. 24 Grosz, Paul: Zum Geleit, in: Adunka, Evelyn: Die vierte Gemeinde. Die Wiener Juden in der Zeit von 1945 bis heute, Wien 2000, S. 8.
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Wiens jüdische Gemeinschaft kommt bis heute zahlenmäßig nicht annähernd ihrer Vorgängerin gleich, die vor der Shoah zu einer der größten jüdischen Gemeinschaften der Welt zählte. Doch ist sie durch ihre Repräsentativkörperschaft, die Kultusgemeindeorganisation, in ihrem inneren Wesen sowie in der breiteren Gesellschaft und politischen Landschaft der Zweiten Republik wieder fest etabliert. Aus den offiziellen Bevölkerungsstatistiken nach Religionsbekenntnis geht zwar hervor, dass die jüdische Bevölkerung (hier streng nach Mitgliedschaft in der Kultusgemeinde definiert) in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nie mehr als 0,1 Prozent der Gesamtbevölkerung Österreichs und nie mehr als 0,5 Prozent der Gesamtbevölkerung Wiens ausmachte – im Vergleich zu grob zehn Prozent in Wien vor der Shoah. Die offizielle jüdische Bevölkerungszahl Österreichs ist sogar seit den 1950er-Jahren stets zurückgegangen, von etwa 11.000 im Jahre 1951 (von denen 9.000 in Wien wohnten) auf bloß 8.000 (respektive 7.000 in Wien) im Jahre 2001, das letzte Jahr, in dem offizielle Statistiken nach Religionsbekenntnis noch erhoben wurden.25 Dabei sind freilich nicht jene beinhaltet, die sich als jüdisch definieren, aber nicht Kultusgemeindemitglieder sind, geschweige denn jene, die aus (teil-)jüdischen Familien stammen, aber sich nicht unbedingt als „jüdisch“ verstehen, deren Anzahl nicht unbeachtlich sein dürfte. Markant ist bei diesen Zahlen freilich der andauernd hohe Anteil der jüdischen Bevölkerung, der in der Bundeshauptstadt Wien lebte: stets zwischen achtzig bis knapp über neunzig Prozent. Wie in der Ersten Republik stellte Wien somit auch in der Zweiten Republik das unumstrittene Gravitationszentrum der österreichischen Judenheit dar. Die Statistiken deuten beim ersten Blick auf ein Stocken des jüdischen Gemeindelebens in Österreich nach 1945, doch ist ein vergleichender Blick aufschlussreich: Ist nämlich die Mitgliedschaft in der Wiener Kultusgemeinde seit Jahrzehnten recht konstant geblieben, sinkt vergleichsweise die katholische Bevölkerungszahl Wiens gewaltig – also jene, die noch offiziell Kirchenmitglieder sind: von über achtzig Prozent der Gesamtbevölkerung im Jahre 1951 auf knapp unter fünfzig Prozent in 2001. Eine Studie zur Religion in Österreich aus dem Jahre 2005 kam zum entsprechenden Befund, dass die Religiosität in Österreich insgesamt abnimmt, mit Ausnahme von bekennenden MuslimInnen, die zahlenmäßig zunehmen, sowie der wachsenden Zahl von Konfessionslosen, von denen viele nach eigenen Angaben zwar nicht religiös, aber doch auf ihre Art „spirituell“ sind.26 Relativ zum Christentum erweist sich das Judentum 25 Bevölkerung nach dem Religionsbekenntnis und Bundesländern 1951 bis 2001, http://www. statistik.at/web_de/statistiken/menschen_und_gesellschaft/bevoelkerung/volkszaehlungen_ registerzaehlungen_abgestimmte_erwerbsstatistik/bevoelkerung_nach_demographischen_ merkmalen/022885.html, letzter Zugriff: 31. August 2020. 26 Denz, Hermann/Pelinka, Anton/Bischof, Günter: Introduction, in: Bischof, Günter/Pelinka, Anton/Denz, Hermann (Hg.): Religion in Austria, New Brunswick 2005, S. 2.
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damit als durchaus beständig in einer Zeit der weitgehenden Entfremdung von institutionalisierten Religionsgemeinschaften in Österreich. Treffend stellte im Juni 1960 Die Gemeinde, die in der Nachkriegszeit gegründete Zeitschrift der Kultusgemeinde, die Frage: „Ist Österreich noch ‚christlich‘?“27 Interessant ist dabei der Rückschluss, dass Österreich überhaupt jemals kategorisch als „christlich“ zu bezeichnen war: Zwar hatte das Christentum seit der Entstehung „Österreichs“ im Hochmittelalter durchwegs die religiöse und kulturelle Hegemonie inne – einmal abgesehen vom oft übersehenen Kampf zwischen den christlichen Konfessionen, wobei die österreichischen Kronländer während der Reformation eine Zeit lang vorwiegend evangelisch geprägt waren – doch bilden diverse Judenheiten seit jeher einen festen, wenn bisweilen marginalisierten Bestandteil der österreichischen Gesellschaft, wie es in der jüngeren Geschichte auch andere Religionsgemeinschaften wie die islamische tun. Das Festhalten eines erheblichen Teils der jüdischen Bevölkerung an der Kultusgemeinde – und dadurch an einer wie auch immer definierten Vorstellung eines jüdischen Kollektivs – wurde jenseits der Religiosität maßgeblich durch die Erfahrung der jüngsten Vergangenheit bedingt. Infolge der Shoah hat sich in Europa, insbesondere in den ehemaligen Täterländern, nämlich eine negative Identifikation mit der „Jüdischkeit“ herausgebildet, eine oft als aufgezwungen empfundene Zugehörigkeit zur Schicksalsgemeinschaft der „jüdisch“ konnotierten Opfer und ihrer Nachkommen. In ihrer Arbeit zu jüdischen RemigrantInnen nach Wien zeigte Jacqueline Vansant etwa, wie die sechs Millionen Opfer der Shoah fortan ein „moralisches Gebot“ zur fortdauernden Erinnerung bildeten.28 Auf ähnliche Weise deutete der Historiker Pierre Nora auf die zentrale Bedeutung der Erinnerung gerade für nichtpraktizierende „Jüdinnen“ und „Juden“ – sprich, Personen, die nach streng religiöser Definition eigentlich nicht jüdisch waren oder sind: „In dieser Tradition, die keine Geschichte hat außer der eigenen Erinnerung, bedeutet Jüdischsein sich daran zu erinnern, eben dies zu sein.“29 Die Erfahrung der Verfolgung und des Massenmords beschleunigte also die allgemeine „Ethnisierung“ der Jüdischkeit, die bereits um die vorherige Jahrhundertwende durch den Zionismus gefördert wurde und davor schon im Antisemitismus ihren Ausgang genommen hatte, sprich: die Definierung der Jüdischkeit nicht bloß nach religiösen oder kulturellen, sondern auch nach Abstammungskriterien. Dies kam auf gemeinschaftspolitischer Ebene durch
27 Ist Österreich noch „christlich“?, in: Die Gemeinde, 24. Juni 1960, S. 10. 28 Vansant: Reclaiming Heimat, S. 145. 29 Nora, Pierre: Between Memory and History. Les Lieux de Mémoire, in: Representations 26 (Spring 1989), S. 16.
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eine breite „Zionisierung“ zum Ausdruck, sprich: die zunehmende Orientierung zum politischen Zionismus und zum neuen Staat Israel. Die ständige Heraufbeschwörung der Grenze zwischen dem Jüdischen und dem Nichtjüdischen, die infolge der Shoah insbesondere in den ehemaligen Täterländern nochmals verstärkt als Betonung der „jüdischen Differenz“ auftrat, wurde zudem durch eine breite „Orthodoxisierung“ des jüdischen Gemeindewesens in Wien wie in anderen Gemeinschaften Zentraleuropas verkompliziert, sprich: die Durchsetzung einer exklusiven, partikularistischen, orthodoxen Auffassung der jüdischen Religion und „Tradition“. So stand in Wien nach 1945 eine zunehmend zionistisch und orthodoxreligiös ausgerichtete Einheitsgemeinde einer breiteren, heterogenen Gemeinschaft von Individuen gegenüber, die allesamt durch die Erfahrung von Verfolgung zu Mitgliedern einer jüdischen Schicksalsgemeinschaft gemacht wurden, deren Auffassungen der eigenen „Jüdischkeit“ aber nach wie vor von tiefen Unterschieden geprägt waren. Dies brachte der im Londoner Exil geborene Remigrant Timothy Smolka in einem Interview gezielt auf den Punkt: Ich wuchs in dem Bewusstsein auf, dass wir eine jüdische Familie sind, aber nicht religiös. Das hatte zur Folge, dass mein Bruder und ich für die jüdische Gesellschaft nicht jüdisch waren und nicht dazu gehörten, aber jüdisch genug waren für die Antisemiten. Das Judentum für uns war eigentlich nur negativ beladen.30
Seine eigenen Erfahrungen sowie die Erzählungen seiner Eltern leiteten Smolka aber schließlich doch in eine religiös-jüdische Lebensbahn und er trat schließlich der Kultusgemeinde bei – zum Schluss des Interviews erwähnte der Wiener Remigrant noch, dass er für den Fall der Fälle auch eine Wohnung in Israel besitze. Aus dieser Lebensgeschichte tritt beispielhaft die Komplexität der individuellen wie kollektiven Zugehörigkeitsmuster der jüdischen Nachkriegsgemeinschaft hervor. In der Tat unterhielten viele Kultusgemeindemitglieder der Nachkriegszeit familiäre, kulturelle sowie politische Bindungen zu Israel, die sowohl durch pragmatische Gründe (wie etwa die Emigration von Verwandten nach Palästina/Israel) wie den anhaltenden gesellschaftlichen Antisemitismus im Nachkriegsösterreich bedingt waren. Dadurch war die neue jüdische Gemeinschaft von Anbeginn durch eine tiefgreifende Ambivalenz geprägt, wie es die Historiker Michael John und Albert Lichtblau feststellten: „Die Identität bewegt sich oft zwischen den Polen Wien und Israel, Gelassenheit und Angst, Depression und Resistenz. Daheim und nicht zu Hause.“31 Das von Smolka angesprochene 30 Timothy Smolka, http://www.centropa.org/de/biography/timothy-smolka, letzter Zugriff: 31. August 2020. 31 John/Lichtblau: Schmelztiegel Wien, S. 392.
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Paradox von einer mehr oder weniger erzwungenen Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft, die eine(n) aber selbst nicht als zugehörig betrachteten, betraf indes nicht wenige WienerInnen in den Jahren nach der Shoah. Die damit einhergehenden Konflikte über die Grenzen und Definition der „Jüdischkeit“ sollten sich in der Wiener jüdischen Sepulkralkultur zum Teil so heftig niederschlagen, dass es in einigen Fällen sogar zu gerichtlichen Auseinandersetzungen kam. Ist die breite Palette an individuellen Geschichtsauffassungen nur schwer erfassbar, so hinterlassen kollektive Geschichtsdiskurse eine deutliche schriftliche Quellenspur, die wissenschaftlich erfasst und ausgewertet werden kann. In seinem Grundlagenwerk zur jüdischen Erinnerungskultur zeigte der Historiker Yosef Hayim Yerushalmi, wie die Kanonisierung des Tanach – der hebräischen Bibel – im ersten Jahrhundert nach Christus ein Geschichtsparadigma bot, wonach keine weiteren oder neuen Erklärungen für historische Geschehnisse mehr vonnöten waren, da alle Ereignisse im jüdisch-religiösen Schrifttum bereits eine Präzedenz hatten: „So wird der jüngste Unterdrücker zu Haman, und der Hofjude, der der Katastrophe zu entgehen sucht, wird Mordechai“, wie Yerushalmi diesen historischen Deutungsprozess anhand des Buches Ester erklärte. In der Neuzeit, als diese geschlossene Weltanschauung zunehmend ins Wanken geriet und neue, säkulare Geschichtsparadigmen unter den Judenheiten Europas entstanden, führte dies zur Gegenreaktion in Form der Orthodoxie, deren Ablehnung neuer Geschichtsbilder paradigmatisch in der Ermahnung des einflussreichen Preßburger Rabbiners Moses Sofer festgehalten wurde: „chadash assur min hatora“ (Neues ist durch die Tora untersagt). Nach der Shoah, die neben der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 nach Christus oder der Vertreibung der jüdischen Bevölkerung Iberiens in den Jahren 1492 bzw. 1497 zweifellos zu den wichtigsten Einschnitten der jüdischen Universalgeschichte zählt, schien vorerst der Kreis der Geschichte mit der „Wiederkehr“ des jüdischen „Volkes“ in das Heilige Land und der Gründung des Staates Israel geschlossen zu sein.32 Das mystifizierte, aus dem heiligen Schrifttum abgeleitete und universaljüdische Geschichtsbild bot nun wieder die Schablone, um die jüngste Vergangenheit der Verfolgung und Vernichtung zu deuten und einen gemeinschaftlichen Sinn für die Gegenwart und Zukunft der Judenheit zu gründen. So wie in der Frühen Neuzeit die Bibel stets in der Sepulkralepigraphik im Friedhof in der Seegasse für das Gedenken an die Verstorbenen herhielt, so sollte sie dies in der Nachkriegszeit am Zentralfriedhof auch insbesondere für das Gedenken an die Shoah tun. Religiös-kulturelles Erbe mit dem faktisch in der Vergangenheit Geschehenen gleichzustellen, ist aber nicht unproblematisch. In einem schlagkräftigen 32 Yerushalmi: Zachor, S. 29, 48.
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Aufsatz legte der Historiker David Lowenthal die Vorstellung von kulturellem „Erbe“, die sich im 20. Jahrhundert weltweit verbreitete (und heute wohlgemerkt eine zentrale Komponente in Auseinandersetzungen um diverse Gruppenzugehörigkeiten sowie damit verbunden in der Konstruktion vielzähliger Feindbilder darstellt), äußerst kritisch als „populären Kult, fast als religiösen Glauben“ aus, der mehr auf Gefühlen als auf Verstand oder auf „Wahrheit“ beruht. „Erbe“ ist eben oft, wie im Titel Lowenthals Beitrag bereits festgehalten, eine „Fabrikation“: „Erbe ist nicht Geschichte“; es läuft auf „historische Fabeln“ hinaus, die oftmals „der kritischen Auseinandersetzung vorenthalten sind. Erbe ist Kritik gegenüber immun, da es nicht Gelehrsamkeit darstellt, sondern Katechismus“. Die hier erörterte Sakralisierung der Vergangenheit als fabelhafte Geschichte dient nicht zuletzt einem konkreten Zweck, nämlich dem „Erfolg des Kollektivs, sogar dessen Überleben“. Das „Erbe“ des Kollektivs wird schließlich von „einer auserwählten Gruppe“ von VertreterInnen des Kollektivs kontrolliert, die dadurch „exklusive Mythen über den Ursprung und das Überleben [des Kollektivs] vermitteln“.33 Lowenthals Beispiele bezogen sich zwar weitgehend auf hegemonische Vorstellungen von kulturellem Erbe in den westeuropäischen Nationalstaaten der Moderne, doch könnten seine Betrachtungen treffend auf die Vorstellung des „jüdischen Erbes“ nach der Shoah ausgeweitet werden – sowie noch spezifischer das „Erbe“ des „jüdischen Wien“, das seit 1945 als ziemlich ausschließliches Eigentum der Kultusgemeinde in Anspruch genommen, zugleich aber massiv verklärt und mitunter verzerrt wird. So veröffentlichte im Herbst 1974 der Soziologe Peter Stiegnitz in Die Gemeinde einen Artikel mit dem Titel: „Vor uns die Vergangenheit“, der programmatisch das neue Geschichtsbewusstsein und die Zukunftsorientierung der jüdischen Nachkriegsgemeinschaft im Schatten der Shoah zum Ausdruck brachte.34 Der Abgrund der Shoah wurde unter den Überlebenden – sowie in der neueren jüdischen Historiographie – weitgehend als Folge eines verfehlten Drangs seitens ihrer Vorfahren gedeutet, sich in eine (aus dieser Sicht) „nichtjüdischen“ Leitkultur zu „assimilieren“.35 Diesen Fehler galt es dadurch zu überwinden, dass sich die Judenheit nun zu einer verklärten, in Teilen frei konstruierten „jüdischen“ Vergangenheit zurückfand, zu einer jüdischen „Tradition“ und einer jüdischen „Einheit“, die es als solche nie zuvor in der realen Geschichte gegeben hatte, nun jedoch in Form der religiösen Orthodoxie und
33 Lowenthal, David: Fabricating Heritage, in: History and Memory 10/1 (Spring 1998), S. 6–8. 34 Vor uns die Vergangenheit, in: Die Gemeinde, 9. September 1974, S. 4. 35 Dieser Diskurs zeigt sich auch in den jüngsten Publikationen zur Wiener jüdischen Sepulkralkultur, so etwa Walzer: Vier Jahrhunderte zwischen Anpassung und Selbstbewusstsein.
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des politischen Zionismus zu etablieren galt. In diesem Rahmen ist die Entwicklungsgeschichte der Kultusgemeinde nach 1945 zu verstehen. Wie hier in Kapitel 5 geschildert, bestand die Kultusgemeinde seit dem Erlass des Israelitengesetzes 1890 als einheitliche und einzig offiziell anerkannte jüdische Repräsentativkörperschaft. Nach der Gründung der Zweiten Republik 1945 wurde das Israelitengesetz unverändert als rechtliche Grundlage zur Neuetablierung der Kultusgemeinde wieder herangezogen, was wiederum heißt, dass bis heute nur jene, die Mitglieder der Kultusgemeinde sind, offiziell als „jüdisch“ anerkannt werden.36 Nach 1945 wurden in Österreich überhaupt nur fünf Kultusgemeinden neu gegründet, nämlich in Wien, Graz, Linz, Salzburg und Innsbruck, wobei die Wiener Kultusgemeinde angesichts ihrer enormen zahlenmäßigen Überlegenheit als wichtigste jüdische Repräsentativkörperschaft in der Republik gelten kann. Die kleine Grazer Kultusgemeinde wurde zudem 2013 der Kultusgemeinde Wien einverleibt. Die Reichweite der Wiener Kultusgemeinde seit 1945 zeigt sich nicht zuletzt darin, dass sie Eigentümerin von allen sich in Wien, Niederösterreich und dem Burgenland befindlichen jüdischen Friedhöfen ist. In ihrem ersten Nachkriegsbericht formulierte die neuetablierte Wiener Kultusgemeindeorganisation ihr Selbstverständnis folgendermaßen: So sei die „gegenwärtige Israelitische Kultusgemeinde […] nicht die unmittelbare Nachfolgerin der früheren“. Die alte Kultusgemeinde hatte dem Bericht zufolge „einen nur engen Wirkungskreis“, in dem das Augenmerk auf den „religiösen Bedürfnissen der Wiener Judenschaft“ lag. Die neue Kultusgemeinde beschäftige sich hingegen aufgrund der „gegenwärtigen politischen Verhältnisse“ mit einem viel breiteren Spektrum von „Lebensinteressen“ der kleinen, nun mehr denn je als Kollektiv begriffenen jüdischen Bevölkerung Wiens. Es wurde betont, dass die neue Kultusgemeinde „eine öffentlich-rechtliche und bei den Regierungsstellen anerkannte Vertretung“ darstelle, die nicht bloß für die Wiener Judenheit, „sondern für die gesamtösterreichischen Juden als Sachwalter“ zuständig sei. Von den circa 600 Kultusgemeindeangestellten aus der Zeit vor 1938 sei der Großteil emigriert oder in der Shoah umgekommen, womit eine personelle Kontinuität mit den als „KollaborateurInnen“ verfemten Angestellten des „Ältestenrats“ während der NS-Zeit abgestritten wurde, die „nur allzu willig mit der Gestapo und der SS zusammengearbeitet“ hätten. In anderen Worten sollte die gesamte Verwaltungsstruktur der Kultusgemeinde umgewälzt werden, wofür insbesondere die aus Shanghai und Palästina Zurückgekehrten herangezogen werden sollten.37 36 Vgl. zum rechtlichen Hintergrund Budischowsky: Die staatskirchlichenrechtliche Stellung der österreichischen Israeliten, insb. S. 1, 19–20, 42, 63, 94–96. 37 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Bericht [1948], o. S., Abschnitte „Allgemeiner Bericht“ und „Die Beamtenfrage in der Israelitischen Kultusgemeinde“.
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Diesen Grundgedanken erklärte der Kultusvorstand ausführlicher in seinem Tätigkeitsbericht aus dem Jahre 1964: In unvergleichlich größerem Maße als vor 1938 gilt heute die Kultusgemeinde als die offizielle Repräsentanz des Wiener Judentums, als die legitime Vertretung der jüdischen Bevölkerung. […] Bis 1938, bis zum nationalsozialistischen Umbruch, war die Kultusgemeinde in erster Linie eine Religionsgemeinschaft mit allen damit verbundenen Aufgaben […]. Die Zeit nach der Befreiung im Jahre 1945 bewirkte aber […], daß die Kultusgemeinde eben die Vertreterin der jüdischen Bevölkerung ist, in allen Bereichen ihres Lebens, also nicht nur auf religiösem Gebiet.38
Dieses Selbstverständnis prägt die Entwicklung der Kultusgemeinde bis zum heutigen Tag und damit auch das Verhältnis zwischen der Führungsschicht der Kultusgemeinde und der jüdischen Bevölkerung Wiens einerseits sowie zwischen der Judenheit als Kollektiv und dem österreichischen Staat andererseits. Allerdings muss der hier angebotene Vergleich zur Vorgängerorganisation angesichts deren Größe und der Reichweite ihrer Tätigkeiten – vom religiösen Bereich über Kultur und Bildung bis hin zur Kranken- und Altenpflege sowie der politischen Einbindung der ehemaligen Kultusgemeinde und ihrer Funktionäre in die Wiener Stadtverwaltung, im österreichischen Staat und in der breiteren Gesellschaft – als Verdrehung der Tatsachen abgewiesen werden, der einem bewussten tagespolitischen Zweck diente: der Sicherung der Hegemonie der Kultusgemeinde über alle die jüdische Bevölkerung betreffenden Angelegenheiten in der Zweiten Republik. Dieser hegemoniale Machtanspruch der Kultusgemeinde erklärt sich zum Teil durch die abscheuliche Behandlung der entmachteten und entkräfteten Überlebenden seitens der nichtjüdischen Mehrheit während der NS-Zeit, die sich nach 1945 allem voran in der verwerflichen Restitutionspolitik Österreichs fortsetzte. Doch diese Hegemonie sollte innerhalb der Gemeinde zu vielfältigen Konflikten rund um Fragen der Identität, der Gemeinschaft und der Zugehörigkeit führen, die sich ebenso wie in früheren Epochen greifbar in der Sepulkralkultur niederschlugen. Von einem kompletten Neubeginn nach 1945 kann auch nicht die Rede sein, da alteingesessene und nach der Shoah zurückgekehrte Kultusgemeindemitglieder weiterhin eine führende Rolle in der neuetablierten Kultusgemeinde spielen sollten. Der 1897 in Galizien geborene und bereits vor dem Ersten Weltkrieg nach Wien eingewanderte David Schapira legte beispielsweise während seiner Inhaftierung im Konzentrationslager Theresienstadt das Versprechen ab, „sich im Falle des Überlebens für den Wiederaufbau der Jüdischen [sic, richtig: Israelitischen] Kultusgemeinde einzusetzen“, wie Albert Lichtblau berichtete. Schapira sollte 1948 tatsächlich zum Präsidenten der Kultusgemeinde gewählt 38 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Tätigkeit [1964], S. 51.
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werden, eine Funktion, die er vier Jahre lang innehatte.39 Noch um 2008/09 stammte zudem geschätzt etwa ein Achtel der Kultusgemeindemitglieder von der alten Gemeinde ab.40 Kontinuitäten gab es also reichlich. Tatsächlich war es aber doch der neuen Kultusgemeinde in der unmittelbaren Nachkriegszeit vorerst ein Anliegen, wie Helga Embacher jüngst zeigte, mit der Verstrickung von ehemaligen Kultusgemeindefunktionären im NS-Apparat abzurechnen und somit einen Strich unter ihre eigene Vergangenheit zu ziehen. So wurde David Brill, der in Wien als Zwangsarbeiter überlebt hatte, durch Staatssekretär Ernst Fischer genau deswegen zum provisorischen Kultusgemeindepräsidenten ernannt, weil er keine offizielle Verbindung zum „Ältestenrat“ hatte. Emil Tuchmann, ein führender Kultusgemeindefunktionär während der Shoah, beschwerte sich sogar, dass die Kultusgemeinde nunmehr „von bejahrten Bürokraten verwaltet wurde, die auf widerliche Weise Denunziationen und Intrigen einsetzten, um die Kontrolle über die schäbigen Reste einer einst stolzen und reichen Gemeinschaft an sich zu reißen“. Nichtsdestotrotz sollten auch Funktionäre des ehemaligen „Ältestenrats“ in der neuen Gemeindeorganisation zurück in führende Positionen gelangen, allen voran Ernst Feldsberg, der ehemalige Direktor des Friedhofsamts, der es in der Nachkriegszeit zuerst zum Vizepräsidenten, dann zum Präsidenten der Kultusgemeinde schaffen sollte. Solche Kontinuitäten auch mit der Schattenseite der Kultusgemeinde während der Shoah sorgten für reichlich Kontroversen: In einem öffentlichen und für das Ansehen der Kultusgemeinde zutiefst peinlichen Streit Anfang der 1960er-Jahre warf beispielsweise Simon Wiesenthal Feldsberg vor, er hätte 1939 höchstpersönlich die Transportlisten für die Deportation aus Wien nach Nisko am San erstellt.41 Kein anderer Akteur verkörperte so deutlich die Kontinuitäten und Brüche zwischen der alten Gemeinde und der neuen, und niemand spielte eine so maßgebliche Rolle in der weiteren Entwicklungsgeschichte der Wiener jüdischen Friedhöfe wie Ernst Feldsberg. 1894 im mährischen Nikolsburg/Mikulov geboren, kam Feldsberg 1912 nach Wien, kämpfte im Ersten Weltkrieg und promovierte 1920 in den Rechtswissenschaften. Interessanterweise galt er vor 1938 als Anhänger der Union österreichischer Juden und als Antizionist – eine Einstellung, die er aber Evelyn Adunka zufolge in der einzigen biographischen Aufzeichnung, die bis dato über ihn veröffentlich wurde, nach 1945 bewusst herunterspielte. Ab dem 1. November 1938 leitete er das Friedhofsamt der 39 Lichtblau (Hg.): Als hätten wir dazugehört, S. 227. 40 Vgl. Lessing, Hannah: Reaching out to the Victims and Combating Anti-Semitism. The Austrian National Fund and the ITF on Holocaust Education, Vorlesung, 13. Jänner 2009, S. 10, http://www.doew.at/english/1938-2008-legacies-and-lessons-in-post-war-austria, letzter Zugriff: 31. August 2020. 41 Embacher: Viennese Jewish Functionaries on Trial, S. 173, 183–186.
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Kultusgemeinde, bevor er im September 1943 nach Theresienstadt deportiert wurde. Dort arbeitete er weiterhin im Bestattungswesen, wo er bei etwa 10.000 Verstorbenen die tahara, die rituelle Leichenwaschung, durchgeführt haben soll. Adunka betonte sein „Naheverhältnis zur Orthodoxie – besonders im Gegensatz zu seinen Vorgängern“, die auch wesentlich seine Friedhofspolitik prägte, wie hier bereits ansatzweise im vorherigen Kapitel geschildert wurde.42 Ernst Feldsberg wurde erstmals 1953 zum Vizepräsidenten der Kultusgemeinde gewählt und war in den folgenden Jahren für verschiedene Tätigkeitsbereiche zuständig, darunter auch für das Friedhofswesen.43 Im Februar 1963 wurde er einstimmig zum Präsidenten gewählt, eine Position, die er bis zu seinem Tod innehatte.44 Er verstarb am 21. August 1970 und liegt beim IV. Tor bestattet (15-12-35). Ernst Feldsberg, dem die jüdischen Friedhöfe Zeit seines Lebens ein zutiefst persönliches Anliegen waren, hat in Hinblick auf Restitution, Instandsetzung und würdiges Gedenken wahrlich viel geleistet. Seine Friedhofspolitik hingegen, insbesondere die unter ihm stattfindende „Orthodoxisierung“ der Wiener jüdischen Sepulkralkultur, die in diesem Kapitel erstmalig beleuchtet werden soll, erweist sich im Rückblick auch als zutiefst polarisierend. Infolge der Shoah wurde, wie bereits geschildert, die Emanzipation der europäischen Judenheiten weitgehend als verfehlt betrachtet, insbesondere der vermeintliche Versuch des in diesem Verständnis als gesonderte Ethnie verstandenen jüdischen „Volkes“, sich in die als „nichtjüdisch“ konnotierten Gesellschaften und Kulturen Europas zu „assimilieren“. Wie der in Wien geborene Religionswissenschaftler und Shoah-Überlebende Pinchas Lapide feststellte, konnte die „Assimilation“ aus dieser Sicht bloß „in Auschwitz enden“. Dieser vermeintliche Misserfolg – eigentlich eine groteske Täter-Opfer-Umkehr im innerjüdischen Diskurs, wonach den jüdischen Opfern im Nachhinein die Schuld an ihrer eigenen Verfolgung zugewiesen wird – stellte Lapide zufolge die überlebenden Jüdinnen und Juden Europas vor die Wahl: Sie konnten ihr jüdisches Selbst aufopfern (paradoxerweise eigentlich nichts anders als „Assimilation“), sie konnten nach Israel oder in die USA emigrieren, wo sie ihre wie auch immer verstandene „Jüdischkeit“ frei ausleben durften, oder sie konnten sich in einen religiös-kulturellen Partikularismus zurückziehen.45 Letztere Option offenbarte sich eben als „Orthodoxisierung“ bzw. „Zionisierung“, die keineswegs nur in Wien zu beobachten war. Angesichts des rechtlichen Einheitscharakters der Kultusgemeinde bedeutete diese kompromisslose Auswahl 42 43 44 45
Adunka: Die vierte Gemeinde, S. 241–246, Zitat S. 246. Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Tätigkeit [1955], S. 12–13. Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Tätigkeit [1964], S. 15. Lapide, Pinchas: Das Wesen des Judentums, in: Plat, Wolfgang (Hg.): Voll Leben und Tod ist diese Erde. Bilder aus der Geschichte der jüdischen Österreicher (1190 bis 1945), Wien 1988, S. 116.
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aber, dass alle jene, die nicht bereit waren, letzteren Weg einzuschlagen, aus der neuen Gemeindeorganisation faktisch oder praktisch ausgeschlossen wurden, was auch den gewichtigen Unterschied zwischen der offiziellen Mitgliedschaftszahl der Kultusgemeinde und der Dunkelziffer der WienerInnen, die sich ihrem Selbstverständnis nach als jüdisch betrachten, erklärt.46 Mit „Orthodoxisierung“ ist freilich ein Prozess und kein Umsturz gemeint. Wie hier in Kapitel 6 anhand der Streitigkeiten rund um divergierende Sepulkralpraktiken und den „jüdischen Charakter“ des Friedhofs beim IV. Tor in der Zwischenkriegszeit gezeigt wurde, setzte ein solcher Prozess zur allmählichen Durchsetzung von teils importierten orthodox-jüdischen Praktiken bereits vor der Shoah ein. Allerdings fanden nach der Shoah die nach Wien eingewanderten sogenannten Ultraorthodoxen zunächst keine Infrastruktur in der Kultusgemeinde vor, die ihren Bedürfnissen gerecht wurde. Noch im Jahre 1991 beklagte sich ein ungenannter Interviewpartner von Helga Embacher, die „Alt-Wiener Juden“ seien aufgrund ihrer Vorurteile gegen die Orthodoxie „große Antisemiten“ gewesen. Diese Situation änderte sich spätestens ab den 1980er-Jahren allerdings radikal infolge eines Generationenwechsels einerseits und einer erneuten Zuwanderungswelle andererseits.47 Heute machen „Ultraorthodoxe“ – jene streng religiösen Jüdinnen und Juden, die schon alleine durch ihre Tracht auffallen und oft fälschlicherweise kollektiv als „Chassiden“ bezeichnet werden (der Chassidismus ist eine von verschiedenen Bewegungen innerhalb der strengen Orthodoxie) – einen großen und sichtbaren Teil der Mitgliedschaft der Kultusgemeinde aus. Bildete die Orthodoxie vor der Shoah eine Minderheit, die kaum von der Führungsschicht innerhalb der Kultusgemeinde vertreten wurde, so erfuhr die religiöse Orientierung der Kultusgemeinde bereits mit der Ernennung Akiba Eisenbergs 1948 zum neuen Wiener Oberrabbiner einen deutlichen Schub in Richtung Orthodoxie. Akiba Eisenberg wurde 1908 in Nemessur im damaligen Oberungarn (heute Šúrovce in der Slowakei) geboren und studierte an verschiedenen jeshiwot (religiöse Hochschulen) sowie an der Universität Budapest, wo er in Philosophie und orientalischen Sprachen promovierte.48 Im Gegensatz zu seinem Sohn, dem späteren Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg, der seinen Professorentitel ehrenhalber vom seinerzeitigen Bundespräsidenten Thomas Klestil verliehen bekam, war also Akiba Eisenberg ein sowohl religiös wie säkular Gelehrter. Er gehörte der um die vorletzte Jahrhundertwende in Vilnius, damals im Russischen Reich, gegründeten Misrachi-Bewegung 46 Vgl. hierzu die Bemerkungen der Shoah-Überlebenden Ruth Klüger in o. V.: Theodor Herzl Symposium Wien. 100 Jahre „Der Judenstaat“, Wien 1996, S. 179–180. 47 Vgl. Embacher: Neubeginn ohne Illusionen, S. 243, 256 und Adunka: Die vierte Gemeinde, S. 460–468. 48 Oberrabbiner Dr. Akiba Eisenberg, in: Die Gemeinde, September 1948, S. 7.
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an, eine der wenigen orthodoxen Splittergruppen, die die ansonsten recht inkompatiblen, sogar angefeindeten Strömungen der religiösen Orthodoxie mit dem politischen Zionismus verband und deren Ideologie daher als „religiöser Zionismus“ bezeichnet wird. Im Kontext der Nachkriegszeit bedeutete dies konkret ein streng nach orthodoxen Auslegungen der Halacha geführtes Gemeinschaftsleben sowie Loyalität gegenüber dem Staat Israel, wobei sich beides in einem ausgesprochen partikularistischen, ethnischen Verständnis des Judentums gründet. Im Herbst 1948 wurde, wie erwähnt, eine treffend Die Gemeinde genannte Gemeindezeitschrift gegründet, um „einer demokratischen jüdischen Gemeindeverwaltung“ zu dienen und die Gemeindemitglieder über „alle aktuellen Probleme des jüdischen Volkes in und außerhalb Österreichs in objektiver und verantwortungsbewußter Weise“ zu informieren.49 Sie ist eine der wertvollsten Quellen über die Wiener Nachkriegsgemeinde und deren internen Entwicklungsgeschichte. Bereits in der ersten Ausgabe wurde die Programmatik der neuen Kultusgemeinde sowie ihres neuen Oberrabbiners zusammengefasst. Im Bereich der Politik wurde die Begründung des Zionistenkongresses durch den Wiener Journalisten Theodor Herzl als sinnbildend für die vermeintliche historische Kontinuität zwischen der Wiener Kultusgemeinde, der zionistischen Bewegung und dem modernen Staat Israel dargestellt – was freilich historisch nicht gegeben war, da Herzl zur seinerzeitigen, durchaus antizionistisch geprägten Kultusgemeinde ein (gelinde gesagt) angespanntes Verhältnis hatte, was sich nicht zuletzt in seiner ursprünglichen Bestattung in einem überkonfessionellen Friedhof jenseits des Einflussbereichs der Kultusgemeinde zeigte.50 In einem weiteren Artikel in dieser ersten Ausgabe von Die Gemeinde wurde der neue Oberrabbiner vorgestellt und aus seinem Programm zitiert, das er bei der Festsitzung zu seinem Amtsantritt am 15. Juni 1948 vorgetragen hatte. Dabei wurde er seitens des Kultusvorstands beauftragt, „aus den Trümmern der Ruinen wieder eine Stätte jüdischen Glaubens und Schaffens aufzubauen“. Hierzu erwiderte Eisenberg in seiner Rede, die er an jeden „jüdische[n] Vater“, jede „jüdische Mutter“, jedes „jüdische Kind“, jede „jüdische Frau“ und jeden „jüdische[n] Mann“, also insgesamt an „mein [sein] Volk“ richtete, dass nicht nur die Kultusgemeinde, sondern auch „die jüdische Seele“ in Trümmern lag. Deshalb würde er sich in seinem neuen Amt zuvorderst dem „Wiederaufbau der Seelen“ sowie der „Versöhnung mit Gott, deren unerläßliche Vorbedingung die Versöhnung untereinander ist“, widmen. Die Katastrophe der Shoah folgte laut Eisenberg nämlich einer ihr bereits vorhergegangenen Katastrophe der 49 Geleitwort, in: Die Gemeinde, September 1948, S. 1. 50 Der Staat Israel und die Wiener Israelitische Kultusgemeinde, in: Die Gemeinde, September 1948, S. 3.
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jüdischen Religiosität, die es nun zu berichtigen galt. In dieser Hinsicht sah er sich als „Brückenbauer“: „Ich will die Brücke schlagen, die hinüberführt über die schwindelerregende Schlucht zwischen Vergangenheit und Zukunft und auch jene, die diese Leere überbrücken soll, die sich jetzt hier zwischen Euch drohend auftut“. Wie wiederholt in den Reden Akiba Eisenbergs deutlich wird, ging es ihm also besonders um die Einheitlichkeit und Einzigartigkeit und somit um einen tiefen, atavistischen Partikularismus der gesamten Judenheit als „Volk“ in sowohl ethnischem wie religiösem Sinne. Wenn er also von der „Frage des Landes Israel“ und der „Lösung der Probleme der Judenheit im Galut“ (im Exil oder in der Diaspora) sprach, so unterstrich er nicht nur deren Kollektivität, sondern auch deren Abgeschiedenheit von ihrem nichtjüdischen Gegenüber, in anderen Worten ihre „jüdische Differenz“.51 Wenige Wochen nach seiner Ernennung zum Oberrabbiner nahm Eisenberg in einer weiteren jüdischen Zeitschrift Stellung gegenüber dem Einheitscharakter und der Orientierung der jüdischen Gemeindeorganisation: „Auschwitz muß es den Unbelehrbarsten beigebracht haben, daß es keinen Unterschied gibt zwischen österreichischen und zugereisten, zionistischen und agudistischen [antizionistischen Ultraorthodoxen], konservativen oder modernistischen Juden“.52 Eisenberg verstand die Shoah somit als Aufforderung an alle „Jüdinnen“ und „Juden“ (deren Definition freilich einen andauernden Streitpunkt sowohl im innerjüdischen wie im wissenschaftlichen Diskurs darstellte), sich zu ihrer „Jüdischkeit“ zu bekennen, in einer Sprache allerdings, die jene, die das nicht taten – gemeint waren die „Assimilierten“ – implizit die Schuld für ihre eigene Verfolgung in der Shoah in die Schuhe schob und gleichzeitig ebenso implizit die Definition der „Jüdischkeit“ – wohlgemerkt wie die Nürnberger Gesetze – nach Abstammung billigte: Auschwitz galt nun diesen „Unbelehrbaren“ als Mahnung, dass sie ihre „Jüdischkeit“ nicht ablegen konnten. Diese essenzialistische, problematische Deutung der „Jüdischkeit“ ging wohlgemerkt nicht alleine auf die Erfahrung der Verfolgung während der Shoah zurück, sondern bildete bereits in der Zeit davor einen Eckpfeiler der Misrachi-Philosophie. Viktor Bauminger, Sprecher der Misrachi im Kultusvorstand in der Zwischenkriegszeit, als sie noch als äußerst radikale Randfraktion auftrat, hatte diesen Gedanken bereits in sehr ähnlichen Worten gefasst: Es gibt weder polnische noch ungarische Juden [ein Verweis auf die zwei größten orthodoxen Synagogenvereine in Wien damals, die Polnische Schul und die Schiffschul]; es gibt nur Juden, und alle Juden, sogar die Wiener Juden [die hier als besonders „assimiliert“ hervorgehoben wurden], müssen sich vollkommen mit unserer vereinigten religiösen Gemeinschaft identifizieren. 51 Oberrabbiner Dr. Akiba Eisenberg, in: Die Gemeinde, September 1948, S. 7–8. 52 Zit. nach Adunka: Die vierte Gemeinde, S. 88.
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Bauminger bezichtigte die damals eher liberale, jedenfalls äußerst heterogene Kultusgemeinde, ihre Gemeindepolitik führe zu einer regelrechten Apostasie im Wiener Judentum, drückte aber der Historikerin Harriet Freidenreich zufolge gleichzeitig „wenig Bereuen“ aus „für jene, die das Judentum verließen, da diese seiner Meinung nach ohnehin für das Judentum keinen großen Verlust darstellten“.53 Dieses Verständnis sowohl von „Jüdischkeit“ wie den Ursachen der Shoah bleibt kontrovers und wird von vielen Jüdinnen und Juden, wie auch von Menschen, die als solche bezeichnet werden, abgelehnt. In den 1980er-Jahren erklärte beispielsweise der damalige Bundeskanzler Bruno Kreisky – der ein notorisch schwieriges Verhältnis zur Frage der ihm zugeschriebenen „Jüdischkeit“ wie überhaupt zum Judentum hatte – dass „[j]eder Mensch jüdischer Abstammung […] von den Juden zum Juden erklärt“ wurde, und folgerte: „Das ist ein gelber Fleck“.54 Leider finden sich solche Parallelen zwischen innerjüdischen und antisemitischen Diskursen auch im Bereich der jüdischen Studien: So schrieb etwa der jüdisch-amerikanische Historiker George Berkley, um beim Beispiel von Bruno Kreisky zu bleiben, dieser sei „von Geburt aus und sogar vom Aussehen her jüdisch“ – eine bedenkliche, eigentlich antisemitisch anmutende Zuschreibung der „Jüdischkeit“.55 Akiba Eisenbergs Amtsnachfolger, sein Sohn Paul Chaim Eisenberg, nannte die Kultusgemeinde Anfang der 1990er-Jahre „vergleichsweise tolerant“, insofern als bestimmte ultraorthodoxe Bräuche, wie die Erwartung, dass Frauen sich den Kopf rasieren und eine Perücke tragen, nicht zwingend praktiziert wurden.56 Freilich ist diese „Toleranz“ nur relativ. Im Rückschluss ist festzustellen, dass die Kultusgemeinde nach der Shoah im Vergleich zu ihrer Vorgängerinstitution deutlich weniger tolerant ist. In einem Band zur Religion im heutigen Österreich eröffnete Eisenberg aussagekräftig seinen Beitrag mit einem Zitat aus Jeremia 29, in dem sich Gott lekol hagola (an die gesamte Exilgemeinschaft) richtete, die „von Jerusalem nach Babel gefangen weggeführt“ wurde (29,4) und ihr befahl, „den Frieden der Stadt“, in der er sie „gefangen weggeführt“ hat, zu suchen und für sie zu beten: „Denn in ihrem Frieden werdet ihr Frieden haben“ (29,7). In anderen Worten fasste der Oberrabbiner die jüdische Bevölkerung Österreichs im frühen 21. Jahrhundert als Teil eines einheitlichen und abgesonderten „Volkes“ auf, das sich in einem „fremden“ Land im gola (Exil) befindet – wenngleich er dieses Gefühl auch als Folge des fortbestehenden Antisemitismus sowie des Versagens einer gerechten Restitutionspolitik in der Zweiten Republik 53 54 55 56
Freidenreich: Jewish Politics, S. 4. Zit. nach Adunka: Die vierte Gemeinde, S. 385. Berkley: Vienna and its Jews, S. 353. John/Lichtblau: Schmelztiegel Wien, S. 239–240.
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erörterte.57 Nichtsdestotrotz zeugt diese offizielle Stellungnahme von einem radikalen Partikularismus seitens des Rabbinats sowie einer ebenso radikalen Abschottung innerhalb der offiziellen Kultusgemeindeorganisation. Damit verbunden bekannte sich die Kultusgemeinde, inklusive ihrer jeweiligen Oberrabbiner, auf politischer Ebene von Anfang an bedingungslos zum Staat Israel. Seit Jahrhunderten war es unter den Judenheiten Europas gebräuchlich, für das Wohl ihres jeweiligen Staates und des Staatsoberhaupts zu beten, da sich die durch den gesamten Verlauf der europäischen Geschichte wiederholt Verfolgten dadurch Schutz erhofften (ein Brauch, der sich auch auf den eben zitierten Abschnitt in Jeremia 29,7 gründet).58 Seit 1948 wird im Wiener Stadttempel dieses traditionelle Gebet demonstrativ für das Wohl zweier Staaten verrichtet: Österreich und Israel. Am 13. Dezember 1952, dem 25. Todestag von Zwi Perez Chajes, dem ersten zionistischen Oberrabbiner in der Geschichte der Kultusgemeinde, verkündete Oberrabbiner Akiba Eisenberg programmatisch, dass jene Jüdinnen und Juden, die den Zionismus ablehnten, „demonstrativ den Stadttempel verlassen“ hätten, damit im erweiterten Sinne auch die jüdische Gemeinschaft.59 Trotz dieser kompromisslosen Behauptung seitens des Oberrabbiners gab und gibt es unter der Wiener Judenheit eine Bandbreite an Meinungen und Gefühlen zum Zionismus, zu Israel und zur Nahostpolitik, wobei freilich die Verbundenheit vieler jüdischer Individuen zum Staat Israel im Kontext der Shoah verstanden werden muss: als Garantie und als Schutz, wie Timothy Smolka in seinem oben zitierten Interview andeutete, der sich für den Fall der Fälle einen Nebenwohnsitz in Israel erwarb, oder aber als Ausdruck einer jüdischen Solidarität auf einer eher emotionalen Ebene, vor allem im Verhältnis zur mitunter antisemitischen nichtjüdischen Öffentlichkeit. So lässt sich diesbezüglich, hier frei anekdotisch festgestellt, oft eine gewisse Diskrepanz zwischen privat und öffentlich ausgedrückten Meinungen seitens vieler Kultusgemeindemitglieder feststellen. Eisenbergs Position vertrat jedenfalls auch der weltliche Vorstand der Kultusgemeinde, wenigstens offiziell. Bei der Jahrestagung 1954 des im Vorjahr gegründeten und heute noch bestehenden Bundesverbands der Israelitischen Kultusgemeinden Österreichs sprach ihr erster Präsident, zugleich auch Wiener Kultusgemeindepräsident, Emil Maurer, über die „doppelte Pflicht der Juden in Österreich“, die er folgendermaßen umriss:
57 Eisenberg, Paul Chaim: A Rabbi’s Rumination on the Role of Jews in Austria, in: Bischof, Günter/Pelinka, Anton/Denz, Hermann (Hg.): Religion in Austria, New Brunswick 2005, S. 161, 164. 58 Vgl. allgemein Schwartz, Barry: Hanoten Teshua’. The Origin of the Traditional Jewish Prayer for the Government, in: Hebrew Union College Annual 57 (1986). 59 Embacher: Neubeginn ohne Illusionen, S. 87, 216.
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…auf allen unseren Positionen in Österreich auszuharren und sie zu halten, als Juden und als gute Österreicher. Es ist aber auch unsere Pflicht, den Staat Israel zu unterstützen und alles zu tun, was der Festigung Israels in der Welt dient. Diesen zwei Verpflichtungen können wir aber nur dann nachkommen, wenn wir in jeder Beziehung einig und geschlossen auftreten.
Im entsprechenden Tätigkeitsbericht der Kultusgemeinde wurde ihre Unterstützung des jungen Staats Israel als Verkörperung ihrer „tiefe[n] Verbundenheit […] mit dem Judentum in der Welt“ dargestellt, was sich beispielhaft in den jährlichen Feiern innerhalb der Kultusgemeinde zum Jom Ha’atzma’ut, dem israelischen Tag der Unabhängigkeit, zeigte, sowie in alljährlichen Ehrungen von Theodor Herzl, so etwa zu seinem 50. Todestag am 3. Juli 1954.60 In ihrem Tätigkeitsbericht aus dem Jahre 1964 betonte die Kultusgemeinde nochmals ihre Verbundenheit zu Israel, die „eine praktische, eine lebendige“ sei: „Sie bildet eine feste Brücke vom jüdischen Wien zum jüdischen Staat, zum Staate Israel.“61 Die starke Bindung der Gemeinde – jedenfalls der Gemeindeverwaltung – mit dem jungen jüdischen Staat und die Propagierung dieser Bindung unter der Gemeindemitgliedschaft kam auch in der Gemeindezeitschrift zum Ausdruck, wo ab März 1958 in jeder Ausgabe ein ganzer Teilbereich Themen aus dem Staat Israel gewidmet wurde.62 Die kritische Zeit zwischen dem Sechstagekrieg 1967 und dem Jom-Kippur-Krieg 1973, als der Nahostkonflikt längst zum Schauplatz globaler Systemkonflikte geworden war, bewirkte eine weitere, greifbare „Zionisierung“ innerhalb der Kultusgemeinde, die auch in jährlichen Gedenkfeiern am Zentralfriedhof zum Ausdruck kam, wie unten ausführlicher geschildert wird. Symbolisch begann etwa Die Gemeinde mit der Ausgabe vom 26. April 1972, das jeweilige Datum auch im jüdischen Kalender zu nennen – in diesem Fall der 12. Ijar 5732.63 Zwei Monate später wurden dann auch erstmals hebräischsprachige Texte veröffentlicht sowie das alefbet (Alphabet) samt einfachen Begriffen für AnfängerInnen, um der Leserschaft die Möglichkeit zu bieten, sich die Sprache anzueignen.64 Das Thema Israel wurde spätestens seit den frühen 1970er-Jahren schließlich auch zur Projektionsfläche für breitere Diskurse, inklusive des Antisemitismus, und somit gewissermaßen zum Barometer für den Grad an Akzeptanz, den eine jeweilige jüdische Gemeinde in ihrem lokalen wie globalen Kontext zu
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Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Tätigkeit [1955], S. 20–21, 41, vgl. auch S. 18. Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Tätigkeit [1964], S. 37. So zum ersten Mal in Die Gemeinde, 28. März 1958. Vgl. Die Gemeinde, 26. April 1972. Die Gemeinde, 14. Juni 1972.
„Orthodoxisierung“ und „Zionisierung“
verspüren meinte. Die Sensibilität der Kultusgemeinde gegenüber dem Nahostkonflikt in jenen Jahren erklärt sich nicht zuletzt durch die sich vermehrenden antiisraelischen respektive antisemitischen Angriffe (die oft nicht eindeutig zu unterscheiden sind, besonders dann, wenn sie gegen ZivilistInnen gerichtet sind), so beispielsweise die Ermordung von elf israelischen Athleten bei den Olympischen Sommerspielen in München im September 1972 sowie eine Reihe von tödlichen Anschlägen auf Jüdinnen und Juden in Österreich in den späten 1970er- und frühen 1980er-Jahren.65 In diesem Kontext sprach die Gemeinde in ihrer ersten Ausgabe des Jahres 1973 verständlicherweise von einem „[g]edämpfte[n] Optimismus“ über die Zukunft.66 In dieser Ausgabe erschien übrigens erstmals parallel zur Einführung des jüdischen Kalenders und der hebräischen Sprache die laufende Werbung für den „jüdischen Steinmetz“ Koncicky (später umbenannt auf Schreiber) auf Jiddisch.67 Im November 1974 stellte die Zionistische Föderation Österreichs in einem Artikel in Die Gemeinde die Frage, ob „Zionismus die Antwort auf die Assimilation“ sei, wobei nicht nur das in der Nachkriegszeit weit verbreitete dichotome Verständnis von „Jüdischkeit“ und „Nichtjüdischkeit“ zum Ausdruck kam, sondern auch die Grundeinstellung, dass die „Assimilation“ – womit wohl alle nichtpartikularistischen Formen des jüdischen Selbstverständnisses gemeint waren – als abwegig zu betrachten seien.68 Ein auffälliges Kuriosum der Politik der Kultusgemeinde in den letzten Jahrzehnten, die auf tiefgreifende Ambivalenzen und Ambiguitäten deutet, ist die Kluft zwischen der politischen Orientierung ihrer führenden Funktionäre mit Bezug jeweils auf die österreichische und die israelische Innenpolitik. Unterhielten die führenden Funktionäre, wie zum Beispiel der 1967 verstorbene Präsident Emil Maurer, oft starke Beziehungen zu sozialistischen bzw. sozialdemokratischen Verbänden, so war und ist die Leitlinie der Kultusgemeinde in Bezug auf die israelische Parteienlandschaft deutlich rechtskonservativer. Dies kam paradigmatisch im Herbst 1993 nach der Vereinbarung des Oslo-Friedensprozesses zum Vorschein, der auf globaler Ebene optimistisch als Ausgangspunkt für einen genuinen Frieden zwischen Israel und den PalästinenserInnen nach Jahrzehnten tödlicher Konflikte rezipiert wurde. Als Antwort darauf veröffentlichte hingegen in ihrer nächsten Ausgabe Die Gemeinde als Leitartikel eine Stellungnahme von Benjamin Netanjahu, Parteichef der rechten Likud und späterer langjähriger Ministerpräsident Israels, der schon damals als ausgesprochener Gegner des Friedensprozesses auftrat. Dieser trug den unmissverständlich 65 66 67 68
Siehe zusammenfassend Adunka: Die vierte Gemeinde, S. 452–459. Gedämpfter Optimismus für 1973, in: Die Gemeinde, 3. Jänner 1973, S. 2. Vgl. die Werbung in: Die Gemeinde, 3. Jänner 1973, S. 31. Ist Zionismus die Antwort auf die Assimilation?, in: Die Gemeinde, 6. November 1974, S. 13.
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programmatischen Titel: „Eine tödliche Gefahr“.69 Damit bezog die Kultusgemeinde von Anfang an eine deutliche Position zum Friedensprozess mit den PalästinenserInnen. Bedenklich ist zuletzt die Tendenz der Kultusgemeinde in jüngerer Zeit, sich aufgrund realer oder imaginierter Befürchtungen vor der Immigration bzw. der Flucht aus vorwiegend muslimischen Gesellschaften, denen pauschal gewaltbereite antisemitische Haltungen unterstellt werden, auf die Seite der rechtskonservativen, zum Teil rassistischen Politik zu schlagen, was nicht zuletzt im internationalen innerjüdischen Diskurs scharf kritisiert wird.70 Die Regisseurin Ruth Beckermann bezeichnete die Identifikation der Kultusgemeinde mit dem Staat Israel als „kritiklose Bewunderung“, die dafür kompensierte, „was sie an eigener Kultur nicht zu bieten hatte oder vergessen wollte“. Israel schien zudem die lebendige Antithese zum „Europa der Toten“. Beckermann zeigte sich besonders kritisch gegenüber der leeren Politik der Kultusgemeindefunktionäre, die sie lediglich als Vertretung auf inländischer Ebene von österreichischen Parteiinteressen und auf außenpolitischer Ebene von der israelischen Staatspolitik charakterisierte.71 Wenngleich die Kultusgemeinde in Theorie und Praxis als alleinige Stellvertreterin der Judenheit in Wien bzw. Österreich auftritt, muss hier wieder betont werden, dass die Wiener bzw. österreichische Judenheit, also die jüdische Gesamtbevölkerung, nach wie vor keineswegs mit der Kultusgemeindeorganisation gleichzustellen ist, zumal viele Jüdinnen und Juden unterschiedlicher Identifikation nicht Mitglied der Gemeinde sind. Nicht überraschenderweise kam es daher in der Nachkriegszeit auch immer wieder zu erheblichen Meinungsunterschieden zwischen der offiziellen Leitlinie der Kultusgemeinde und einzelnen jüdischer Personen oder Gruppen in Österreich, die wiederholt ihren Niederschlag in der Wiener jüdischen Erinnerungs- und Sepulkralkultur am Zentralfriedhof fanden. Die innerjüdischen Konflikte wurden spätestens ab Ende der 1950er-Jahre auch in Die Gemeinde nachvollziehbar. So betonte Kultusgemeindepräsident Emil Maurer im Leitartikel der Ausgabe vom Februar 1958, dass die Zeitschrift
69 Eine tödliche Gefahr, in: Die Gemeinde, 6. Oktober 1993, S. 4. 70 Vgl. charakteristisch Wie hältst du’s mit der FPÖ?, in: Die Jüdische, 6. Juni 2016, http:// www.juedische.at/pages/juedisches-oesterreich/wie-haeltst-dursquos-mit-der-fpoe.php, letzter Zugriff: 31. August 2020. Vgl. auch einen vom derzeitigen Kultusgemeindepräsidenten Oskar Deutsch herausgegebenen Band, der explizit islamkritisch und zum Teil gegen die Einwanderung von MuslimInnen ausgerichtet ist, wie etwa in einem Beitrag von Bundeskanzler Sebastian Kurz, dessen Politik direkt zur Lebensgefährdung von geflüchteten Menschen beigetragen hat, paradigmatisch zum Ausdruck kommt. Deutsch, Oskar (Hg.): Die Zukunft Europas und das Judentum. Impulse zu einem gesellschaftlichen Diskurs, Wien 2017. 71 Beckermann: Unzugehörig, S. 104–105.
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„in objektiver, überparteilicher und unparteiischer Weise“ Bericht über die Tätigkeiten und Nachrichten der Kultusgemeinde erstatten sollte.72 Gleich auf der nächsten Seite wurde über den Abschluss von Verhandlungen mit der „Orthodoxie“ berichtet, denen die Kultusgemeinde in Bezug auf religiöse Praxis und Gemeindeverwaltung einige Konzessionen machen musste – ein Hinweis, dass der Kultusvorstand sich zu dieser Zeit wenigstens nicht ohne Einschränkung als „orthodox“ verstand, sowie auf die Tatsache, dass es wieder einmal, wie öfters in der Geschichte der Kultusgemeinde seit ihrer Gründung Mitte des 19. Jahrhunderts geschehen, zur Drohung einer inneren Spaltung gekommen war.73 Auffällig ist in dieser Ausgabe zudem die Rubrik über „Austritte aus dem Judentum“, bei der die ApostatInnen mit Namen, Beruf und Adresse genannt wurden – eine von der Zwischenkriegszeit überlieferte Praxis, das wie ein öffentliches Anprangern erscheint.74 Ein weiterer Spaltungsversuch ereignete sich 1981, als ein ungenannter „orthodoxer Jude“ eine Petition einreichte, um §2 des Israelitengesetzes, der die Einheitlichkeit der Kultusgemeinde als Vertreterorganisation in einem politischen Sprengel vorschrieb, dahingegen abzuändern, um die Etablierung von unterschiedlichen jüdischen Repräsentativkörperschaften zu ermöglichen, wie es in den meisten Staaten üblich ist. Begründet wurde diese Petition damit, dass in Österreich unterschiedliche christliche Konfessionen offiziell anerkannt werden und nicht bloß eine einzige „christliche Kirche“. Der Paragraph wurde entsprechend geändert, um die Gründung weiterer jüdischer Vertreterorganisationen in einem Sprengel zu erlauben, doch nur unter der Bedingung, dass diese alle Aufgaben – so etwa die Bereitstellung von Religionsdiensten oder Bildungseinrichtungen für ihre Mitgliedschaft – erfüllen könne, die sonst im Israelitengesetz vorgesehen sind.75 Bis heute konnte dies nicht konkret umgesetzt werden. Entsprangen diese Spaltungsversuche innerhalb der Kultusgemeindeorganisation in den ersten Nachkriegsjahrzehnten noch seitens der strengen Orthodoxie, so zeigte sich eine entgegengesetzte Entwicklung mit der Gründung der „Or-Chadasch Bewegung für fortschrittliches Judentum“ (or chadash bedeutet „neues Licht“) am 16. Juni 1991. Zu den Hauptzielen dieses Vereins zählt „die religiöse Gleichstellung der Frau“ und zugleich die Beachtung religiöser Gebote „wie etwa das Tragen von Kippa“ (Kopfbedeckung). Vor allem aber sieht der Verein „als eine seiner Hauptaufgaben das Wiedererwecken von Interesse an 72 73 74 75
Die Gemeinde, in: Die Gemeinde, 21. Februar 1958, S. 1. Verhandlungen mit der Orthodoxie abgeschlossen, in: Die Gemeinde, 21. Februar 1958, S. 2. Austritte aus dem Judentum, in: Die Gemeinde, 21. Februar 1958, S. 4. Budischowsky: Die staatskirchlichenrechtliche Stellung der österreichischen Israeliten, S. 97–99.
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Religion bei den vielen Jüdinnen und Juden, die durch Assimilation und Indifferenz dem Judentum verloren gingen“.76 Zusammengefasst ging es dem neuen Verein also prinzipiell um die gleichen Themen wie der offiziellen Kultusgemeindeorganisation: die religiöse Observanz und die Stärkung eines jüdischen Gemeinschaftsgefühls. Der wesentliche Unterschied lag in der Auslegung, welche Gebote, welche „Traditionen“, kurz: welche „Jüdischkeit“ beachtet werden sollten, so beispielsweise hinsichtlich der Stellung von Frauen im Judentum. Dieser Unterschied erwies sich aber als gewichtig, wie die „Stellungnahme des Landesoberrabbiners“ Paul Chaim Eisenberg zeigt, die von der Redaktion von Die Gemeinde direkt unter dem Bericht der Generalversammlung des Or Chadasch abgedruckt wurde. Dieser Stellungnahme wurde folgendes Geleitwort von der Redaktion vorausgestellt: Laut Redaktionsstatut haben alle [Kultusgemeinde]-Mitglieder, insbesondere Organisationen, Vereine und informelle Gruppierungen das Recht in angemessenen Rahmen, [die Zeitschrift] Die Gemeinde als Kommunikationsmedium zu benützen. Halachische Erwägungen sind alleinige Ermessenssache des Rabbinats.
Mit anderen Worte konnte die Redaktion den Or Chadasch nicht daran hindern, seine Proklamation in der Gemeindezeitschrift zu veröffentlichen, doch das letzte Wort wurde schließlich dem herrschenden Oberrabbiner vorbehalten, der auch als alleinige Autorität in Sachen Judentum und „Jüdischkeit“ angeführt wurde. Eisenbergs Stellungnahme war eine kompromisslose Ablehnung der Prinzipien des Or Chadasch aufgrund seiner Auslegung der Halacha, die Eisenberg als festgesetztes, indiskutables Religionsgesetz erörterte: „So entsprechen auch die Gebetsversammlungen von Or-Chadasch, bei denen Männer und Frauen zusammensitzen, Frauen Vorbeterfunktionen haben können und an Feiertagen Instrumente gespielt werden können, nicht der Halacha“, resümierte er, und unterstrich seine Ablehnung mit der Mahnung: Es ist aber heute für jede jüdische Gemeinde, so auch für die [Kultusgemeinde] von vitaler Bedeutung, daß ihre religiösen Aktivitäten der Halacha entsprechen. Nur so kann gesichert werden, daß Zeugnisse aller Rabbinate innerhalb der [Kultusgemeinde, …] bei den wichtigsten internationalen Rabbinaten, wie. z. B. dem Oberrabbinat von Israel, der European Conference of Rabbis [sic, richtig: Conference of European Rabbis] und dem Rabbinical Council of America, anerkannt werden. Dies alles könnte durch eine Anerkennung der religiösen Aktivitäten von Or-Chadasch durch die Kultusgemeinde gefährdet werden. Als Oberrabbiner der [Kultusgemeinde] habe ich daher ernste Vorbehalte gegen eine Anerkennung von Or-Chadasch. 76 Generalversammlung der „Or-Chadasch Bewegung für fortschrittliches Judentum“, in: Die Gemeinde, 22. Juli 1991, S. 28.
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Somit erklärte sich Eisenberg nur dazu bereit, den Or Chadasch „als Tempelverein“ der Kultusgemeinde, also ohne Eigenbefugnis und dem Rabbinat der Kultusgemeinde untergeordnet, anzuerkennen.77 Wohlgemerkt sind alle die von Eisenberg genannten internationalen jüdischen Gremien explizit orthodox ausgerichtet. Vergleichbare liberale Gremien wie die Weltunion für Progressives Judentum, dem der Or Chadasch angehört, nannte der orthodoxe Oberrabbiner freilich nicht. Die erste Rabbinerin des Or Chadasch sowie überhaupt die erste Frau in der Geschichte Österreichs, die dieses Amt bekleidete, war die 1934 in Wien geborene und 2001 zur Rabbinerin ernannte Eveline Goodman-Thau, die 1939 mit ihren Eltern in die Niederlande floh, wo sie versteckt die Shoah überlebte. Wie nichtpartikularistisch ihre Weltanschauung im Vergleich zu den amtierenden Oberrabbinern der Nachkriegsgemeinde ist, geht aus ihrer Antrittsrede hervor, die in Die Gemeinde umschrieben zitiert wurde: Vor 1938 habe es Österreicher, Deutsche, Holländer gegeben, egal welcher Religion sie angehörten. Dann habe man sie als „Juden“ abgestempelt. Dieses „Label“ [Etikett] habe sich gehalten. Bis heute sehe man auch in Wien Juden nicht mehr als Teil der Gesellschaft, sondern als Minorität. „Das muss man brechen“, so Goodman-Thau.
Mit dieser Anschauung stand sie im direkten Gegensatz zur etablierten Leitlinie der Kultusgemeinde, insbesondere ihrer Oberrabbiner, den Eisenbergs (Vater und Sohn), die die Judenheit als einheitliches, abgesondertes „Gastvolk“ in Europa darstellten. Wie bereits vor zehn Jahren ließ die Redaktion von Die Gemeinde diese Aussage des Or Chadasch, der inzwischen etwa 160 Mitglieder zählte, nicht stehen, ohne ihr wiederum eine Stellungnahme des Oberrabbiners entgegenzustellen, in der er „betonte“, dass der Or Chadasch „als liberale Gruppe nicht voll in die traditionelle jüdische Gemeinde Wiens integriert“ sei. Dass Goodman-Thau als Frau in Jerusalem ein „Ordinationszeugnis […] von einem orthodoxen Rabbinern ausgestellt“ bekommen hatte, sei Eisenberg zufolge „eine Weltneuheit, die sicher von 99,9 Prozent der orthodoxen Rabbiner nicht anerkannt wird“, wobei wieder deutlich wird, dass in dieser Sichtweise bloß die orthodoxe Auslegung der jüdischen Religion (wohlgemerkt auch nur seitens männlicher Rabbiner) Geltung hat und für die gesamte Einheitsorganisation der Kultusgemeinde als einzige staatlich anerkannte jüdische Repräsentativkörperschaft zu gelten habe.78 2012 beantragte der Or Chadasch von der österreichischen Bundesregierung die Anerkennung als unabhängige Religionsgemeinschaft, was aber angesichts der bestehenden Verordnungen 77 Stellungnahme des Landesoberrabbiners, in: Die Gemeinde, 22. Juli 1991, S. 28. 78 Erste Rabbinerin Österreichs, in: Die Gemeinde, April 2001, S. 56.
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des Israelitengesetzes abgelehnt wurde.79 In Bezug auf die Analyse der Konstruktion einer Kollektiverinnerung am Zentralfriedhof wird der andauernde Streit zwischen dem Or Chadasch und der Kultusgemeinde als Dachverband noch eine wichtige Rolle spielen. In diesem Kapitel wird die Konstruktion einer gemeinschaftlichen Erinnerung an die jüngste Vergangenheit sowie eines neuen gegenwärtigen Selbstverständnisses der Wiener Judenheit analysiert, der sich greifbar im Bereich der Sepulkralkultur am jüngsten Wiener jüdischen Friedhof beim IV. Tor entfaltete. Dies zeigt sich vornehmlich in einer Reihe an großen wie kleinen Denkmälern, die ab den späten 1940er-Jahren am Friedhof in Erinnerung an die Shoah errichtet wurden und somit den Friedhof lange zum zentralen Erinnerungsort der Shoah in Wien machten, bevor sich diese Erinnerung ab etwa der 1980er-Jahren zunehmend in die Innere Stadt verlagerte. Das Kapitel widmet sich aber auch den Konflikten, die diese gemeinschaftlichen Erinnerungs- und Identitätskonstruktionen auslösten. Die ersten Bruchlinien zeigten sich in der Umgestaltung der Friedhofsordnung in den 1950er-Jahren, die die Entscheidungsmacht rund um die Praxis am Friedhof in der Hand der Kultusgemeinde bzw. des Rabbinats konzentrierte, was nicht zuletzt zu einer deutlichen „Orthodoxisierung“ der jüdischen Sepulkralkultur in Wien führte. Dies wird anschließend mit der sich in der Nachkriegszeit weiterentwickelnden Sepulkralepigraphik und -symbolik an diesem Friedhof verglichen, die mitunter die Abweichungen individueller bzw. familiärer Erinnerungen vom gemeinschaftlichen Diskurs zur Schau stellt und ein Fortdauern eines pluralistischen Verständnisses von „Jüdischkeit“, der Zugehörigkeit zur Wiener bzw. zur österreichischen Kultur sowie der Intersektionalität mit anderen Identifikationssphären wie Stand, Berufung, Geschlecht und weiteres aufzeigt. Zuletzt werden Erfahrungen und Auseinandersetzungen mit dem jüdischen Friedhof in Wien seitens vertriebener und im Ausland lebender jüdischer WienerInnen analysiert, die auf die Zentralität dieser „Grabstätte der Väter“ für die persönliche Erinnerung an die eigene Vergangenheit im Exil verweisen. Das einzige Werk, das bis dato den Friedhof beim IV. Tor samt seinen tausenden Denkmälern in den Fokus nimmt (mit Ausnahme von einigen kürzeren Schilderungen), ist der Band Hunderttausend Steine von Patricia Steines, wo allerdings lediglich einige Dutzend Denkmäler aufgelistet werden samt knappen, wenn überhaupt vorhandenen, historischen Hintergründen.80 Im jüngeren, groß angelegten Projekt „Politics of Remembrance and the Transition of Public Spaces“ (Politik der Erinnerung und der Wandel des öffentlichen Raums), 79 Vgl. Liberale Juden wollen eigene Kultusgemeinde, 12. April 2012, http://religionv1.orf.at/ projekt03/news/1204/ne120412_liberalejuden.html, letzter Zugriff: 31. August 2020. 80 Steines: Hunderttausend Steine.
Von Amalek, Märtyrertum und Israel
in dem die gesamte Wiener Stadtlandschaft anhand jedes einzelnen Erinnerungszeichens (wie etwa Denkmäler, Gedenktafeln oder Museen) kartiert und nach Zeitraum, involvierten AkteurInnen und weiteren Aspekten analysiert wurde, entschlossen sich die Projektleiter, die Historiker Walter Manoschek und Peter Pirker, die Grabstätten am Zentralfriedhof komplett aus ihrer Betrachtung auszuschließen. Diese Entscheidung erfolgte nicht nur aufgrund der überwältigenden Anzahl an einzelnen Denkmälern, Inschriftentafeln, Gedenktafeln und Ähnlichem, sondern vordergründig deshalb, weil sich die Erfassung von Grunddaten bezüglich der Entstehung oder Abänderung solcher Erinnerungszeichen, die einen wesentlichen Fokus des Forschungsprojekts ausmachte, als unpraktisch, wenn nicht unmöglich herausstellte.81 Insofern stellt dieses Kapitel einen neuartigen und wesentlichen Beitrag nicht nur zur jüdischen Sepulkralkultur der Nachkriegszeit und überhaupt zur jüdischen Nachkriegsgeschichte Wiens, sondern darüber hinaus zur Erforschung der gesamten Erinnerungstopographie der Stadt dar. Das Areal des Friedhofs beim IV. Tor beträgt heute wie vor der Shoah circa 252.500 Quadratmeter, auf denen bis dato etwa 60.000 Menschen bestattet wurden.82 Ein Plan des Friedhofs (wohlgemerkt von der Simmeringer Hauptstraße „hoch“ gegen Süden ausgerichtet), auf dem die Anlage der Gruppen deutlich verzeichnet ist, kann auf der Website der Kultusgemeinde abgerufen werden.83 Aufgrund des Datenschutzes sind die nach 1945 angelegten Grabstätten nicht in der öffentlich zugänglichen Friedhofsdatenbank der Kultusgemeinde verzeichnet. Somit wird hier in Fällen, wo die Grabstelle nicht eindeutig zu eruieren war, nur die jeweilige Gruppe genannt. 9.2
Von Amalek, Märtyrertum und Israel. Die Konstruktion einer Kollektiverinnerung an die Shoah beim IV. Tor
Mit dem Auftauchen der in Wien Versteckten bzw. der Rückkehr der Überlebenden und der Neuetablierung der Kultusgemeinde stellte sich bald die Frage, wo und in welcher Form die kleine jüdische Restgemeinschaft sich dem Gedenken der weitgehenden Vernichtung ihrer Angehörigen, ihrer GlaubensgenossInnen und ihrer Kulturstätten widmen sollte. Der Hauptbestattungsraum der jüdischen Nachkriegsgemeinde beim IV. Tor des Zentralfriedhofs wurde dabei bald zum wichtigsten Erinnerungsort sowohl für das individuelle/familiäre wie 81 Vgl. About the data, http://www.porem.wien/, letzter Zugriff: 31. August 2020. 82 Vgl. Das Friedhofsamt, Die Gemeinde, November 2009, S. 6–7. 83 Siehe den Link unter Zentralfriedhof Tor IV, https://www.ikg-wien.at/friedhoefe-massengraeber/, letzter Zugriff: 31. August 2020.
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für das gemeinschaftliche/kollektive Gedenken. Finanziert wurden viele der gemeinschaftlichen Gedenkinitiativen durch den Verkauf von Liegenschaften der Kultusgemeinde an die Stadt Wien. Diese wurden über Jahre hinweg in langwierigen, hier im nächsten Kapitel eingehender beleuchteten Restitutionsverhandlungen zurückgewonnen, wobei die Stadt Wien in vielen Fällen die ursprüngliche „Ariseurin“ gewesen war.84 Dies war eine innerhalb der Wiener Judenheit extrem umstrittene Strategie, über die aber viele maßgebliche Projekte in der finanziell strapazierten Nachkriegsgemeinde realisiert werden konnten. Stellen die größeren gemeinschaftlichen Gedenkprojekte am Friedhof die bewusste Konstruktion einer kollektiven Erinnerung dar, so bilden die unzähligen kleineren, von unterschiedlichen AkteurInnen initiierten Denkmäler – insbesondere die Grabsteine selbst, die später analysiert werden – eher eine Form der „gesammelten“ Erinnerung der Shoah dar, die zusammengenommen ein komplexes, zum Teil recht widersprüchliches Erinnerungsgeflecht beim IV. Tor erzeugen. Ein triftiges Beispiel der atavistischen Wiederbelebung des religiösen Erbes in der Wiener jüdischen Sepulkralkultur der Nachkriegszeit, das sich auch in der Sepulkralepigraphik niederschlug, bildet die Interpretation des Massentodes in der Shoah als „Märtyrertum“. Dieses Denkmuster spiegelte gewissermaßen den eingangs beleuchteten, unmittelbar nach Kriegsende seitens der nichtjüdisch geprägten Politik der Republik Österreich propagierten Erinnerungsdiskurs, der wiederum offensichtlich aus religiösen Diskursen abgeleitet wurde. Im innerjüdischen Diskurs, insbesondere im hebräischsprachigen Gebrauch, kam allerdings eine durchaus komplexere Bedeutungsebene hinzu. Das Konzept des „Märtyrertums“ entwickelte sich im mittelalterlichen Judentum in Reaktion auf die wiederholten Pogrome gegen die Judenheiten Europas und wurde schließlich als eine Art Gebot aufgefasst: Gläubige Jüdinnen und Juden sollten lieber den Tod wählen – gegebenenfalls auch den Freitod – statt sich der Zwangstaufe zu ergeben. Die Übertragung dieser mittelalterlichen Auffassung vom Märtyrertum auf die Shoah ist jedoch problematisch, denn die Opfer der antijüdischen Verfolgung unter dem Nationalsozialismus wurden nicht aufgrund ihres Glaubens verfolgt, sondern wegen ihrer „Rasse“, und sie wurden vor keine Wahl gestellt, sie konnten sich also nicht durch die Taufe retten. Darüber hinaus war ein erheblicher Teil dieser Opfergruppe nicht religiös; eine erhebliche, wenn nicht genau feststellbare Zahl war sogar ihrem Selbstverständnis nach nicht einmal jüdisch.85
84 Vgl. zusammenfassend Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Tätigkeit [1955], S. 78. 85 Vgl. zur Problematik Middleton, Paul: Martyrdom. A Guide for the Perplexed, London 2011, insb. S. 150–151.
Von Amalek, Märtyrertum und Israel
Doch diese Bedenken blieben im Judentum der Nachkriegszeit, insbesondere innerhalb der Orthodoxie, weitgehend unbeachtet, indem der Massenmord als kedushat am Israel, als „Heiligung des Volkes Israel“ umgedeutet wurde – eine moderne Umwandlung der klassischen kiddush hashem, der „Heiligung von Gottes Namen“ durch die Ablehnung der Zwangstaufe im Mittelalter. Unter Teilen der jüdischen Nachkriegsgeneration wurde die Staatsgründung Israels im Schatten der Shoah zudem als tikkun am Israel, als „Wiederbelebung des Volkes Israel“ gedeutet – freilich ein Versuch, aus der unbegreiflichen Vernichtung irgendeinen Sinn abzuleiten, doch nichtsdestotrotz eine zutiefst problematische Aneignung der stummen Toten, um für die Belange der Überlebenden und deren Nachkommen herzuhalten. Schlimmstenfalls unterstrich diese Wiederbelebung des mittelalterlichen Märtyrerdiskurses jene extrem partikularistische Geschichtsinterpretation, wonach die Shoah als direkte Konsequenz der religiösen „Abtrünnigkeit“ – der „Assimilation“ – der jüdischen Bevölkerung Europas in der Moderne verstanden wird.86 Im Jahre 1958 schickte der 1926 in Wien geborene und 1939 in die USA geflüchtete Historiker Raul Hilberg das Manuskript seiner Dissertation, Die Vernichtung der europäischen Juden, das heute als Grundlagenwerk der Shoahforschung betrachtet wird, für eine Begutachtung und potenzielle Publikation an Yad Vashem, die Nationalgedenkstätte der Shoah in Israel. In Antwort auf deren Ablehnung seines Manuskripts erklärte Hilberg paradigmatisch seine Auffassung der Shoah: „Dies war kein Märtyrertum. Es war kein Heldentum. Es war eine pure Katastrophe.“ Hilberg schloss, dass sein Meisterwerk es sich in der Tat nicht zur Aufgabe gemacht hatte, wie Yad Vashem die Shoah zu instrumentalisieren, um „die Triumphe Israels zu verherrlichen“.87 In diesem Erfahrungsbericht eines der wichtigsten Protagonisten der Shoahforschung werden bereits die Bruchlinien zwischen der überlieferten individuellen/familiären Erinnerung einerseits und der Konstruktion einer Kollektiverinnerung andererseits deutlich, die sich auch in den Nachkriegsdenkmälern beim IV. Tor manifestieren sollten. Einen ähnlichen Gedanken äußerte in ihrer einflussreichen Autobiographie die in Wien geborene Germanistin Ruth Klüger, die von ihrem Erlebnis in Konzentrationslagern wie Auschwitz schrieb, „daß sie eine
86 Vgl. Katz, Steven: Holocaust, the Practice of Judaism During, in: Neusner, Jacob/AveryPeck, Alan/Green, William Scott (Hg.): The Encyclopaedia of Judaism, Bd. 1, Leiden 2000, S. 432–433. 87 Zit. nach Michman, Dan: Getting it Right, Getting it Wrong. Recent Holocaust Scholarship in Light of the Work of Raul Hilberg, 2017 Annual Raul Hilberg Memorial Lecture, University of Vermont, S. 2, https://www.uvm.edu/sites/default/files/UVM-Center-for-Holocaust-Studies/ Hilberg_Lecture_Michman.pdf, letzter Zugriff: 31. August 2020.
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einzige große Sauerei waren, der mit keiner traditionellen Versöhnlichkeit und Märtyrerverehrung beizukommen ist“.88 Bereits in ihrer ersten Sitzung unterstrich die 1946 von Ernst Feldsberg neu gegründete Chewra Kadisha – die religiöse Beerdigungsgesellschaft, die eine autonome, doch mit der Kultusgemeinde eng verbundene Institution darstellt – die Notwendigkeit, „das Andenken an die Märtyrer des Wiener Judentums“ auf würdige Weise aufrechtzuerhalten, wobei die Wortwahl hier bereits wegweisend für den Charakter des offiziellen Gedenkens der Kultusgemeinde in der Nachkriegszeit war. Aufgrund ihrer nur „bescheidene[n] Mittel“ würde dieses Andenken allerdings nur „etappenweise“ realisiert werden können, eine Feststellung, die sich heute noch bestätigt, denn die Chewra Kadisha errichtet immer noch laufend am Zentralfriedhof Denkmäler für einzelne Opfer. Aufgrund ihrer Initiative pries bereits 1946 der Prediger und Kultusgemeindefunktionär Isidor Oehler die Chewra Kadisha für „ihr unerschütterliches Festhalten an Jahrtausende alter Tradition“, ein charakteristisches Beispiel der modernen Erfindung der Tradition angesichts der Tatsache, dass die Institution der Chewra Kadisha erst in der Frühen Neuzeit entstand.89 Als ersten Schritt errichtete die Chewra Kadisha in der Gruppe 16A zwei symbolische Ehrengräber für die ermordeten Kantoren Mathias Mátyás, Leo Funke, Markus Balaban, Moritz Harendorf und Leopold Weiss zum einen und für die „Chewramänner“ Isidor Löwy, Markus Mandelbaum und Don Goldmann zum anderen. Die Grabstätten, streng gesagt Kenotaphe, die als erste offizielle Shoahdenkmäler in Wien gelten können, wurden am 29. September 1948 eingeweiht.90 Ihre Inschriften bezeichnen die Verstorbenen jeweils als „Märtyrer“ und enthalten beide zudem die aus 2. Moses 17,14 und 5. Moses 25,19 zusammengelegte Mahnung: „Denke daran, was Dir Amalek getan hat – vergiß es nie“. Amalek war ein Ururenkel Abrahams (siehe 1. Moses 36,12) und Stammesvater eines gleichnamigen Volkes, das vereinzelt in der Bibel erscheint und dort als Erzfeind der IsraelitInnen gilt (siehe 2. Moses 17,8–16). Seine Erwähnung in Bezug auf die Shoah birgt eine tiefe, jedoch nicht offensichtliche Bedeutung. Der spätere Wiener Oberrabbiner Adolf Jellinek hielt Mitte des 19. Jahrhunderts eine Predigt, in der er die biblische Gestalt Amalek als ein „tiefes, dunkles Räthsel“ bezeichnete, das er „nie recht verstanden“ habe. Den Begriff verband er allerdings mit der „Verworfenheit“ der jüdischen Geschichte und dem Vorwurf der Untreue, der wiederholt gegen historische Judenheiten seitens ihrer nichtjüdischen ZeitgenossInnen erhoben wurde. Amalek interpretierte 88 Klüger: Weiter Leben, S. 36. 89 Tot ist, wer vergessen ist, in: Die Gemeinde, November 1948, S. 7–8. 90 Die Einweihung wurde photographisch festgehalten in: o. T., o. D., DÖW, 09953.
Von Amalek, Märtyrertum und Israel
Jellinek demnach als „Volksverzehrer“, der wiederholt in der Geschichte auftrat, um „die Staaten und Völker in den tiefsten Abgrund [zu] stürzen“. Als Beispiel nannte er das „fränkische Kaiserreich“, wo Jüdinnen und Juden friedlich lebten, bis „Amalek“ kam – eine Anspielung auf die Verfolgungen im Hochmittelalter, als Europa bereits weitgehend christianisiert war. Zur Zeit seiner Predigt, der Hochzeit des Liberalismus und der Emanzipation, meinte Jellinek einen Amalek in Form von Nationalismus und Volksverhetzung, insbesondere gegen die Judenheit, zu erkennen. Somit bot der Rabbiner eine extrem abstrahierte Deutung dieses bis heute schleierhaften biblischen Kuriosums, rief aber dennoch zum Kampf gegen diesen Amalek auf, „zum Wohle des friedlichen Fortschrittes in der Geschichte, zum zeitlichen und ewigen Glücke der Völker, zur Stärkung und Kräftigung unseres theuern Vaterlandes“ – in anderen Worten gegen den nationalen Zwist und für Harmonie und Verständigung unter den „Völkern“ des österreichischen Kaiserstaats.91 Im Zusammenhang mit den zwei Ehrengräbern für die „Märtyrer“ der Kultusgemeinde wurde Amalek nun ganz anders gedeutet und instrumentalisiert, wie die Berichterstattung in Die Gemeinde festhielt: So galten diese Denkmäler „den Besuchern des Friedhofs [als] ewiger Mahnruf “, dass Amalek nicht eine biblische Erscheinung geblieben ist, sondern in der Jahrtausende alten Geschichte des jüdischen Volkes immer wieder in anderer Gestalt zum Schlag gegen das jüdische Volk ausholte. In den Judenverfolgungen des Altertums, in den Folterkammern und auf den Scheiterhaufen spanischer Inquisition, in den Judenvertreibungen der Neuzeit und in dem Vernichtungsfeldzug hitlerischen Irrsinns stellte sich die Macht der Finsternis als Amalek dem jüdischen Volke entgegen.
Die schleierhafte Gestalt des Amalek diente nun als Brücke, um die gesamte jüdische Geschichte als einheitliches Narrativ zu erfassen, in dem alle Schicksalsschläge, die je eine Judenheit, egal in welchem chronologischen oder geographischen Kontext, betraf, miteinander verband und dadurch alle Judenheiten der Welt, vom biblischen Mythos bis in die historische Vergangenheit, und von der Vergangenheit bis in die Gegenwart, vereinheitlichen sollte. Aus diesem allumfassenden metahistorischen Narrativ ging auch eine besondere jüdische „Mission“ hervor, der dem erlittenen Genozid eine Bedeutung verleihen sollte, wie Die Gemeinde fortfuhr: „Niemals soll die Judenschaft daran vergessen, daß das jüdische Volk eine Mission zu erfüllen hat […]. Niemals darf der Jude daran vergessen, daß der jüdische Glaube ein Leben bedeutet, daß man leben muß, um es zu verstehen.“ 92 In anderen Worten wurde die Shoah als Aufruf 91 Alle Zitate in der Reihenfolge ihrer Nennung: Jellinek, Adolf: Predigten, Wien 1862, S. 65–66, 69, 74. 92 Tot ist, wer vergessen ist, in: Die Gemeinde, November 1948, S. 7–8.
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gedeutet, zur jüdischen Religion und zur jüdischen „Tradition“ zurückzukehren, die hier als ununterbrochenes, unverändertes und allumfassendes Kontinuum aus urgeschichtlichen Zeiten dargestellt wurde. In diesen einfachen, frühesten Denkmälern kristallisierten sich bereits die diskursiven wie ideologischen Ecksteine des kollektiven Gedächtnisses der Nachkriegskultusgemeinde heraus: der Nationalsozialismus als „Amalek“, seine Opfer als „Märtyrer“, die Zukunft als „Rückkehr“ zu einem unverfälschtem, homogenen und in seinem Wesen zutiefst partikularistischem Judentum. Waren diese frühen Denkmäler noch auf eine kleine Handvoll Opfer aus dem engen Kreis der Kultusgemeindefunktionäre beschränkt und somit nur mittelbar als „Shoahdenkmäler“ zu verstehen, so widmete sich die Kultusgemeinde fast ein Jahrzehnt nach Kriegsende der Schaffung eines Denkmals, das explizit stellvertretend für die Vernichtung des Großteils der Gemeinde sowie überhaupt für die sechs Millionen jüdischen Opfer der Shoah gedenken sollte, und zwar bei der gemeinschaftlichen Grabstätte der Opfer des Massakers in der Förstergasse im 2. Wiener Gemeindbezirk, das in den letzten Kriegsstunden stattfand. Die Leichen der neun Opfer wurden sofort nach der Eroberung Wiens durch die Rote Armee geborgen und in sieben Grabstätten – zwei Paar Verwandte wurden gemeinsam bestattet – in der Gruppe 8A direkt vor der Wegkreuzung bestattet, im Schatten der monumentalen Zeremonienhalle.93 In einer Plenarsitzung des Kultusvorstands im Oktober 1954 wurde beschlossen, die Grabstätten mit einem Denkmal zu ergänzen, ein Vorhaben, das der nunmehrige Vizepräsident der Kultusgemeinde, Ernst Feldsberg, in einem Schreiben an die Technische Abteilung als „dringend“ beschrieb, da die Einweihung zum zehnten Jahrestag im nächsten April stattfinden sollte.94 Feldsberg schlug vor, hinter den Grabstätten eine beschriftete Gedenkmauer zu errichten, jedoch unterbreitete die Technische Abteilung ein Gegenkonzept, basierend auf einen Springbrunnen samt einer Steinbank: „Nachdem von diesem Punkt aus ein schöner Blick auf die Zeremonienhalle und auf das ganze Friedhofsareal ist, wäre eine Steinbank dort bestimmt angebracht“, argumentierte sie, und stellte bezüglich der Steinmauer fest: „Die Ausführung der Steinmauer allein ist für diese schwere Tragödie ein viel zu schwaches Dokument.“95 Feldsberg reagierte auf dieses Schreiben erbost und stellte sich „entschieden gegen“ eine Sitzbank:
93 Diese wurden bereits um 1945 photographisch festgehalten in o. T., o. D., LBI, Rothschild Transit Camp Photographs Collection, 1–7 Zentralfriedhof, 4.Tor, ca. 1945, DM 197, Nr. 3. 94 An die Techn. Abtlg. – Friedhofsamt, 21. Oktober 1954, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/1/1, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 95 An Herrn Dr. Feldsberg, 6. Dezember 1954, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/1/1, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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Es würde der Pietät widersprechen, wenn Menschen, die in gar keiner Beziehung zu den dort bestatteten Opfern des Nationalsozialismus stehen, Platz nehmen und profane Gespräche führen würden. Man soll Gräber besuchen, aber nicht neben den Gräbern herumsitzen. Da kann ich mich schon eher mit dem Springbrunnen befreunden, nur müßte der Springbrunnen so aussehen, dass auch der ganz orthodoxe Jude an der Form desselben keinen Anlass zur Kritik findet.96
Charakteristisch war für Feldsberg die explizite Berücksichtigung orthodoxer Sensibilitäten in der Gestaltung des Denkmals. Darüber hinaus erscheint sein Einwand gegen eine Sitzbank aus heutiger Sicht nicht nachvollziehbar. Über die Benützung von Mahnmalen mag gestritten werden, ob sie zum Sitzen einladen oder nicht – man vergleiche die andauernden Diskussionen zum HolocaustMahnmal in Berlin. Tatsache ist jedoch, dass heute überall auf dem Friedhof beim IV. Tor Bänke stehen; manche sind sogar architektonisch in die Grabdenkmäler integriert. Nichtsdestotrotz setzte sich Feldsberg mit seinem Konzept einer Gedenkmauer durch. Von den drei Angeboten, die die Kultusgemeinde zur Ausführung des Denkmals erhielt, wurde angesichts ihrer fortdauernd prekären Finanzlage die billigste gewählt, wofür die Kultusgemeinde knapp 40.000 Schilling bereitstellte.97 Die Fertigstellung des Denkmals erfolgte schließlich nicht rechtzeitig zum zehnten Jahrestag des Massakers am 12. April 1955, sondern zog sich noch über die Sommermonate hinaus. Im Juni unterbreitete die Technische Abteilung ihren Entwurf für die zweisprachige deutsch/hebräische Inschrift. Ursprünglich sollte im deutschsprachigen Text lediglich auf die „ermordeten neun Juden“ verwiesen werden. Es konnten zudem nur die „jüdischen“ (sprich: synagogalen) Vornamen von zwei der Opfer, nämlich Kurt Mezei und Emil Pfeiffer, eruiert werden, weswegen laut der Technischen Abteilung „die jüdischen Namen überhaupt nicht eingraviert“ werden sollten.98 In seinem Gegenentwurf bestand Feldsberg darauf, dass die hebräischsprachige Inschrift „zuerst […] und erst unter der hebräischen die deutsche Inschrift“ eingraviert werden sollte, offensichtlich um dadurch den „jüdischen“ Charakter des Denkmals herauszustreichen, wie es auch in religiösen Grabsteininschriften gang und gäbe war. Feldsberg änderte auch den sachlichen Begriff „Juden“ in den religiös aufgeladenen Begriff „Märtyrer“ um, um den besonderen Status der Ermordeten
96 An die Techn. Abteilung, 17. Dezember 1954, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/1/1, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 97 An die Amtsdirektion, 10. März 1955 und An die Technische Abteilung, 21. April 1955, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/1/1, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 98 Beschriftung des Ehrenmales für die Opfer der Förstergasse am Zentralfriedhof 4. Tor, 16. Juni 1955, AIKGW, A/VIE/IKG/III/PRÄS/1/5.
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zu betonen, „denn alle auf unserem Friedhof Beerdigten sind Juden“. Feldsberg bestand darauf, dass Mezei und Pfeiffer beide auch mit ihrem „jüdischen Namen“ genannt werden, und im Falle Kurt Mezeis, „der ein wirklich streng leigiöser [sic, religiöser] Junge war“, bestand er zudem darauf, dass seiner mit einer besonderen hebräischen Inschrift gedacht werden sollte.99 Am 4. Juli stellte Feldsberg in einer weiteren Notiz fest: „Ich verwahre mich nochmals ganz entschieden dagegen, dass ohne Zustimmung der Frau Mezei [gemeint war Kurts Mutter Margarete] die hebräische Grabinschrift bei Kurt Mezei auf dem neuen Grabstein weggelassen wird.“100 Vermutlich wollte die Technische Abteilung die Einheitlichkeit des Denkmals wahren, doch wie in diesen Jahren üblich, setzte sich Feldsberg mit seinen Wünschen durch.
Abb. 24 Oberrabbiner Akiba Eisenberg bei der Einweihung des Denkmals für die Opfer des Massakers in der Förstergasse in der Gruppe 8A, 13. November 1955. © Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes
Das Denkmal wurde schließlich am 13. November 1955 feierlich von Oberrabbiner Akiba Eisenberg eingeweiht, in einer Zeremonie, der unter anderen 99 Beschriftung des Ehrenmales für die Opfer der Ferstergasse [sic] auf dem Zentralfriedhof, 21. Juni 1955, AIKGW, A/VIE/IKG/III/PRÄS/1/5. 100 An Techn. Abteilung, 4. Juli 1955, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/1/1, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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viele Überlebende beiwohnten. Im Tätigkeitsbericht der Kultusgemeinde aus dem Jahre 1955 wurde das Denkmal wie folgt beschrieben und gedeutet: „Eine Mauer aus Mauthausener Granit, in deren Blöcke die Namen der neun Opfer eingemeißelt sind, symbolisiert den Widerstand, vor welchem die Sturmwellen der Tyrannei halt machen mußten, sie symbolisiert den Sieg des Freiheitswillens gegen die Unterdrükkung [sic].“ Das Denkmal galt schließlich nicht nur „den letzten jüdischen Opfern in Wien, den Opfern in der Förstergasse“, sondern erinnerte „zugleich an die sechs Millionen Opfer des jüdischen Volkes. Niemals vergessen!“101 Somit galt es explizit als allgemeines Shoahdenkmal. Der erste Teil der allgemeinen Inschrift auf dem Denkmal verkündet auf Hebräisch: Pei-nun [Hier liegen begraben] neun kadoshim [Heilige; im übertragenen Sinne „Märtyrer“] die ermordet wurden al kiddush hashem [zur Heiligung von Gottes Namen] ain-jud [durch die Hand] der Mörder, der Nazis jud-shin [mögen ihre Namen ausgetilgt werden] am 29. Nissan 705 hei-jud-dalet [Gott räche ihr Blut].
Diese kurze Laudatio enthält alle wesentlichen Merkmale des sakralisierten Erinnerungsdiskurses, der sich in der Nachkriegszeit in der Wiener jüdischen Sepulkralepigraphik ausbreitete: Die Opfer werden als „Märtyrer“ bezeichnet, deren Tod „zur Heiligung von Gottes Namen“ erfolgte. Es werden zudem die Täter – hanatzim, die Nazis – explizit genannt und verflucht. Die entsprechende Abkürzung „jud-shin“ (jimach shemu), manchmal auch ausführlicher „jud-mem-shin-waw“ (jimach shemu wezichru, mögen ihre Namen und die Erinnerung an sie ausgetilgt werden), findet sich in vielen Inschriften beim IV. Tor in Bezug auf die MörderInnen. Der Sinn bezieht sich wieder auf die biblische Gestalt des Amalek und leitet sich ebenso aus 2. Moses 17,14 („denn ich will die Erinnerung an Amalek unter dem Himmel austilgen“) und 5. Moses 25,19 ab („so sollst du die Erinnerung an Amalek austilgen unter dem Himmel“). Die Redewendung „möge sein Name ausgetilgt werden“ wird auch beim Lesen des Buches Ester immer dann ausgesprochen, wenn Haman, der Erzfeind der IsraelitInnen, erwähnt wird, der oft als Nachfolger des Amalek gedeutet wird. Somit wurden hier biblische Diskurse aus einem zutiefst religiösen, innerjüdischen Zusammenhang herangezogen, um die jüngste Vergangenheit anhand eines bereits bestehenden Geschichtsbildes zu deuten und zu erklären, was wiederum als Aufforderung zur Rückkehr und zur Stärkung eben dieser innerjüdischen Tradition verstanden werden kann. Die Verdammung der TäterInnen und die Heiligsprechung der „Märtyrer“ werden in der letzten Abkürzung „hei-jud-dalet“ (hashem jikom damam) zusammengeführt. 101 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Tätigkeit [1955], S. 20–21, vgl. auch S. 35.
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Die deutsche Inschrift ist im Wesentlichen gleich, enthält jedoch weniger religiöse Kontextualisierung (die sich auf den Begriff „Märtyrer“ beschränkt), dafür aber einen Hinweis auf die Tragik des spezifischen Geschehens in der Förstergasse: „Hier ruhen neun Märtyrer, die am 12. April 1945 unmittelbar vor der Befreiung von den Nazischergen ermordet wurden“. Jede hier bestattete Person bzw. jedes Paar wurde auf einem eigenen Quader mit Namen und Geburtsdaten genannt, von links nach rechts und von oben nach unten: Kurt Mezei (13. Mai 1924), Arthur Holzer (28. Juli 1886), Emil Pfeiffer (24. Dezember 1878), Dr. Nelly Grete Blum (14. April 1891) und ihre Schwester Marie Margolin (18. April 1901), Arthur Klein (3. Juli 1889), Genia Schaier (18. August 1897) und Erna Klüger-Langer (27. Mai 1863) und ihre Tochter Grete Klüger-Langer (17. September 1901). Kurt Mezei erhielt tatsächlich als einziger eine personalisierte Inschrift, und zwar ausschließlich hebräischsprachig: „Der liebe Junge, voller Ehrfurcht, der gemarterte Jeshajahu Josef, Sohn von Maor halewi [der Lewite; Moritz Mezei], seine reine Seele schwand am 29. Nissan 705“. Interessant ist hier die aus der Sepulkralepigraphik der Frühen Neuzeit abgeleitete Euphemisierung der Todesursache, wurde doch in den Märtyrerdiskursen des Mittelalters der Mord als explizite Todesursache genannt. Im emotional unvorstellbar schwierigen Umgang mit dem Genozid im Erinnerungsdiskurs beim IV. Tor kam eine Bandbreite an rhetorischen Mitteln zur Verwendung, dennoch ist im Falle Kurt Mezeis der Rückgriff auf altertümliche, explizit religiöse Diskurse auffallend. Der Stellenwert des Massakers in der Förstergasse in der kollektiven Erinnerung der Kultusgemeinde zeigte sich auch am Tatort selbst, wo noch viele Jahre nach der Shoah diese letzte Gräueltat alljährlich zum Gedenken im engeren Rahmen an die „Befreiung“ Wiens (wobei die jüdischen Überlebenden den April 1945 bei weitem eher als Befreiung wahrnahmen, als das der Großteil der nichtjüdischen Bevölkerung taten), im breiteren Rahmen aber auch stellvertretend zum Gedenken an die „vielen Millionen Märtyrer“ der Shoah diente, wie es Die Gemeinde festhielt. Im April 1960 wurde bei der jährlichen Gedenkveranstaltung eine Gedenktafel eingeweiht, die heute noch an der Hauswand in der Förstergasse 7 hängt. Bei diesem Ereignis zeigte sich auch die Weitervererbung des NS-Gedankenguts in der Wiener Nachkriegsgesellschaft, wie Die Gemeinde in ihrem Bericht festhielt, als im Verlaufe der Feier „aus einem Fenster des Hauses Förstergasse 7 zwei Burschen ‚Heil Hitler‘ riefen und ihre Hand hierbei zum ‚deutschen Gruß‘ hoben“.102 Infolge einer Gedenkfeier in der Förstergasse zum 25. Jahrestag des Massakers im April 1970 veröffentlichte Die Gemeinde einen Artikel mit dem Titel „Unvergessene Opfer“, wobei der Text genau das Gegenteil beklagte: So würden 102 Förstergasse: Niemals vergessen!, in: Die Gemeinde, 29. April 1960, S. 12.
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angeblich alle jene FriedhofsbesucherInnen, die jünger als etwa 35 waren, die am Ehrengrab der Opfer am Zentralfriedhof oder an der Gedenktafel in der Förstergasse vorbeigingen, nicht verstehen, wovon diese Erinnerungszeichen kündeten.103 Der Artikel unterstrich somit den unaufhaltbaren Wandel der Erinnerung von der individuellen Ebene der ZeitzeugInnen zur kommunikativen Ebene der erzählten Erinnerung und erahnte zudem das endgültige, ebenso unaufhaltbare Aufgehen der kommunikativen Erinnerung in der kollektiven, abstrahierten, kulturellen Erinnerung, wie es heute mit dem Aussterben der letzten ZeitzeugInnen geschieht. Nichtsdestotrotz erfuhr die kollektive Erinnerung an die Geschwister Kurt und Ilse Mezei mit Anbruch des 21. Jahrhunderts ein Wiedererstarken, so etwa in der wissenschaftlichen Aufarbeitung, in der sie stellvertretend für die jüdische Jugend Wiens während der Shoah angeführt werden, aber auch im breiteren zivilgesellschaftlichen Diskurs, so beispielsweise in der Einrichtung 2007 des Geschwister-Mezei-Fonds, durch den Frauen im österreichischen Verein Gedenkdienst gefördert werden. Somit bildet die Erinnerung an die Geschwister Kurt und Ilse Mezei gewissermaßen ein österreichisches Pendant zur Erinnerung an die Geschwister Hans und Sophie Scholl in Deutschland: Aufgrund ihrer Jugend, der Weiblichkeit der jeweiligen Schwestern sowie ihres Opferstatus (die Scholls als WiderstandskämpferInnen und die Mezeis als Opfer der Shoah) sind diese Geschwisterpaare in den beiden postnazistischen Täterländern wohl besonders als Symbole der reinen Unschuld und der Aufopferung geeignet. Wenngleich heute keine Gedenkveranstaltungen mehr an der gemeinschaftlichen Grabstätte der Opfer der Förstergasse stattfinden, zumal es in Wien inzwischen längst andere Erinnerungsorte zum allgemeinen Gedenken an die Shoah gibt, so verhindert zumindest der zentrale Standort des Denkmals im Friedhof, dass dieser Erinnerungsort komplett in Vergessenheit gerät. Dass der jüngste jüdische Friedhof Wiens beim IV. Tor in den ersten Nachkriegsjahren als wichtigster Erinnerungsort der überlebenden jüdischen Gemeinde etabliert wurde, zeigt sich vordergründig in den Gedenkfeiern am Jahrestag der Novemberpogrome, die alljährlich vor der Ruine der zerstörten Zeremonienhalle abgehalten wurden. Zu diesem Anlass verkündete der Kultusgemeindepräsident Emil Maurer erstmals am 9. November 1953 vor 1.800 ZuschauerInnen, „daß die zerstörte Zeremonienhalle zu einer Gedenkstätte für die österreichisch-jüdischen Opfer des Nationalsozialismus umgestaltet werden“ sollte. Im Zuge einer allgemeinen Sanierung des monumentalen Kuppelgebäudes sollten in den Wänden „die Namen aller unserer Opfer und Märtyrer“
103 Unvergessene Opfer, in: Die Gemeinde, 29. April 1970, S. 7.
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eingraviert werden.104 Die Instandsetzung der während der Novemberpogrome geschändeten Zeremonienhalle wurde schließlich das bei weitem größte Denkmalprojekt, das die Kultusgemeinde in der Nachkriegszeit beim IV. Tor unternahm.
Abb. 25 Der Innenraum der Zeremonienhalle beim IV. Tor nach deren Schändung während der Novemberpogrome. © Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes
In einer umfassenden Stellungnahme zum Zustand des Friedhofs beim IV. Tor vermerkte Ernst Feldsberg bereits im Juli 1949, dass die Aufbahrungshallen aufgrund von Bombenschäden für normale Begräbnisfeiern fast ungebräuchlich waren, und dass es aus diesem Grund schwierig sei, die erheblichen Gebühren für die Leichenfeiern gegenüber den Gemeindemitgliedern zu rechtfertigen. Somit rief er dringend zur Instandsetzung der Zeremonienhalle auf, die ja in der Zwischenkriegszeit mit Kapazitäten für die Versorgung einer viel größeren Gemeinschaft angelegt worden war. Zugleich schlug Feldsberg die „Anpflanzung von Reihenbäumen“ entlang der Gruppen 18A, 19, 20 und 20A vor, wo viele „Märtyrer aus den Konzentrationslagern“ bestattet lagen, womit er die etwa tausend Ascheurnengräber meinte. Es sei ihm nämlich eine „Ehrensache, den traurigen Eindruck dieser Gruppen zu beseitigen“. Zuletzt sprach er den Gedanken eines „Opferdenkmals“ an, für das am 10. November 1949 104 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Tätigkeit [1955], S. 20–21, siehe auch S. 32–33. Vgl. die photographischen Aufnahmen dieser Gedenkfeier in: o. T., o. D., DÖW, 09971.
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der Grundstein gelegt werden sollte – was vorerst nicht geschah, aber bereits zu diesem Zeitpunkt den Grundgedanken eines allgemeinen Zeichens zum Gedenken an die Shoah verdeutlicht.105 Im Herbst schätzte die Technische Abteilung, dass alleine die Instandsetzung der Zeremonienhalle an die 140.000 Schilling kosten würde – eine, wie sich bald herausstellte, gewaltige Unterschätzung.106 Vorerst wurden etwa 1.300 Kubikmeter Schutt aus der Ruine abgetragen.107 Doch dann stockten die Arbeiten schon. Die Gründe hierfür sind in den Akten nicht verzeichnet, doch dürfte vor allem die fehlende Finanzierung für eine Arbeit dieses monumentalen Ausmaßes maßgeblich gewesen sein. Ganze drei Jahre später, im Dezember 1952, vermerkte die Technische Abteilung, dass das Problem „nur so gelöst werden“ könne, „dass die wundervolle Halle restauriert wird und ihrem ursprünglichem Zweck wieder zugeführt wird“. Dies sei umso wünschenswerter, wie Feldsberg bereits angemerkt hatte, da „die Leichenfeierlichkeiten in den derzeitigen Räumen bei grösserer Beteiligung sich sehr unwürdig“ abspielten.108 Es sollte nochmal anderthalb Jahre dauern, bis schließlich entschlossen wurde, die Zeremonienhalle durch einen Architekten instand setzen zu lassen. Es sollte ein „einfacher geschlossener Raum“ entstehen, in dem die Fenster „bunt verglast“ werden sollten. Als Architekt wurden entweder der ShoahÜberlebende Heinrich Sussmann oder der nichtjüdische Architekt Fritz Judtmann vorgeschlagen.109 Die Kultusgemeinde entschied sich für Judtmann, da dieser bereits „mit dem jüdischen Architekten Riss vor dem Jahre 1938“ zusammengearbeitet hatte. Gemeint war Egon Riss, mit dem Judtmann zusammen das Porrhaus in der Operngasse 9 im 4. Bezirk entworfen hatte, das heute zur Technischen Universität gehört.110 In der Korrespondenz mit Judtmann wurde ausdrücklich betont, dass die instand gesetzte Zeremonienhalle auch „den Charakter einer Gedächtnishalle erhalten soll“, um der „durch den Na-
105 An das Präsidium, 4. Juli 1949, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/1/1, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 106 An Herrn Dr. Ernst Feldsberg, 5. September 1949, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/1/1, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 107 Demolierung, Abbrucharbeiten und Schutt beseitigen, verführen, Planierung und Niveoausgleichung [sic], o. D., AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/1/1, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 108 An die Amtsdirektion, 4. Dezember 1952, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/1/1, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 109 O. T., 29. Juni 1954, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/1/1, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 110 An die Amtsdirektion, 1. Juli 1954, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/1/1, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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tionalsozialismus umgekommenen österreichischen Juden“ zu gedenken.111 In anderen Worten sollte sie als allgemeines Shoahdenkmal dienen. Doch schließlich stockte das Großprojekt abermals aufgrund unzureichender finanzieller Mittel. Im Jahre 1960 erhielt die Kultusgemeinde eine „einmalige Zuwendung“ in der Höhe von 30 Millionen Schilling vom österreichischen Staat sowie eine „fortlaufende jährliche Zuwendung“ von jeweils 900.000 Schilling.112 Dies stellte eine bahnbrechende Hilfeleistung seitens der Republik dar, die sich zuvor weitestgehend der Entschädigung der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus entzogen hatte. Diese Zuwendung sollte schließlich die geplante Instandsetzung der Zeremonienhalle für ihren ursprünglichen Zweck sowie zugleich als Shoahdenkmal ermöglichen, doch widmete sich die Kultusgemeinde Anfang der 1960er-Jahre vorerst einem ganz anderen Großprojekt, nämlich einem gegenwartsorientierten und existenzbejahenden „Jewish Center [Jüdisches Zentrum, …] nach amerikanischem Vorbild“, wie es in den Plänen genannt wurde. Dieses wollte die Kultusgemeinde in der Müllnergasse 21 im 9. Bezirk, unweit des alten jüdischen Friedhofs in der Seegasse, errichten, wo bis zu den Novemberpogromen eine ihrer Synagogen stand. Das Jüdische Zentrum sollte Archivräume, Büroräume, einen Turnsaal, verschiedene Jugendräume für Musik, Handwerk und ähnliches sowie einen großen, wohlbemerkt geschlechtergetrennten Saal für bis zu 400 Personen umfassen, der sowohl für Gottesdienste wie für Vereinszwecke verwendet werden sollte.113 Ernst Feldsberg, der inzwischen zum Kultusgemeindepräsidenten gewählt worden war, und sein enger Vertrauter, Amtsdirektor Wilhelm Krell, traten noch mit dem Konzept, das bald als „Haus der jüdischen Begegnung“ bezeichnet wurde, an den Ringturmarchitekten Erich Boltenstern heran, doch der Plan verlief schließlich aufgrund der enormen projizierten Kosten – 13,6 Millionen Schilling – ins Leere.114 Mit seinem Amtsantritt als Kultusgemeindepräsidenten Anfang 1963 kehrte Feldsberg wieder zum Plan der Instandsetzung der Zeremonienhalle zurück, die er als eines der größten Ziele seiner Amtszeit bezeichnete.115 Als Architekt 111 An Herrn Dr. Ing. Fritz Judtmann, 5. Juli 1954 und An Herrn Dr. Ing. Fritz Judtmann, 11. November 1954, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/1/1, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 112 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Tätigkeit [1964], S. 250. 113 Vgl. Protokoll, 22. Juni 1961 und Entwurf, o. D., AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/4/1, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 114 An Herrn Professor Architekt Dipl.-Ing. Erich Boltenstern, 15. Oktober 1963; Kostenschätzung, 30. April 1962 und Kostenschätzung, 27. Juni 1962, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/4/1, zit. in USHMM, AJCV-VCC. Vgl. hierzu weiterführend Adunka: Die vierte Gemeinde, S. 247–248. 115 Programmatische Erklärung des neugewählten Präsidenten, in: Iskult – Presse – Nachrichten, 21. Februar 1963, S. 3–4.
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für das Großprojekt fungierte schließlich der Remigrant Robert Kanfer, der 1978 die architektonische Gestaltung der später höchst umstrittenen und vor einigen Jahren komplett neugestalteten Österreichausstellung im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz („Österreich – Erstes Opfer des Nationalsozialismus“) entwarf.116 Im Jänner 1966 inspizierte Kanfer die Ruine und kam dabei zum Schluss, dass der Bau aus struktureller Sicht „lediglich kleinere Schäden“ davon getragen hätte, „die Grundkonstruktion […], vor allem die Kuppel, […] in einwandfreiem Zustand“ sei und „somit eine Renovierung des Gebäudes ohne weiteres durchgeführt werden“ könne.117 In einem ausführlicheren Gutachten wurden die durch „Kriegsereignisse, Plünderungen und Witterungseinflüsse“ bedingten Schäden präziser verzeichnet – die Zeremonienhalle stand ja zu diesem Zeitpunkt bereits fast drei Jahrzehnte lang als Ruine. Es mussten hiernach nicht nur die monumentale Halle selbst, sondern der Gesamtkomplex inklusive Verwaltungsgebäude, Haupttor, Arkaden, Leichenwaschgebäude und Außenanlagen neu hergerichtet werden. Im Gutachten wurde im Gegensatz zu Kanfers ursprünglicher Einsichtnahme festgestellt, dass sich insbesondere die „Innenseiten der Halle […] fast durchwegs in einem nicht erhaltungswürdigen Zustand“ befanden, wie auch aus photographischen Zeugnissen hervorgeht, die die Folgen der Schändung und Sprengung während der Novemberpogrome und die jahrelange Verwahrlosung danach veranschaulichen. Schließlich mussten auch alle Einbauten, Fenster, Türen, Heizung und vieles mehr repariert oder neu installiert werden.118 Im September 1966 fand die erste Sitzung der zu diesem Zweck berufenen Sonderkommission statt, in der wieder grundsätzlich festgehalten wurde, dass die instand gesetzte Zeremonienhalle „nicht nur den religiösen Ansprüchen genügen, sondern auch eine würdige Gedenkstätte sein“ sollte. Kanfer schätzte die Gesamtkosten für die umfassenden Instandsetzungsarbeiten auf 6,5 Millionen Schilling. Angesichts dieser gewaltigen Kosten wurde bereits in dieser Sitzung ein Gegenentwurf vorgeschlagen, wonach die Ruine, die als viel zu groß für die radikal verkleinerte Nachkriegsgemeinde angesehen wurde, abgetragen und mit einem kleineren, funktionalen Bauwerk ersetzt werden sollte. Kanfer widersprach jedoch, „dass diese Variante“ aufgrund der bau- und sanitätspolizeilichen Ansprüche, denen selbst bei einem Neubau Rechnung getragen
116 Vgl. Die österreichische Länderausstellung aus dem Jahr 1978, https://www.nationalfonds. org/ausstellung-1978, letzter Zugriff: 31. August 2020. Kanfer ist 2017 verstorben und direkt neben den aus Währing überführten Leichen in der Gruppe 14A bestattet. 117 An die Israelitische Kultusgemeinde, 26. Jänner 1966, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/2/1, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 118 Gutachten, o. D., AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/4/1, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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werden müssten, „keine Ersparnis bedeuten würde“.119 Obwohl sein Name in diesem Protokoll nicht fiel, wurde später stets Simon Wiesenthal samt seiner „Fraktion“ im Zusammenhang mit diesem Vorschlag genannt – Wiesenthal hatte überhaupt in diesen Jahren ein angespanntes Verhältnis zur Kultusgemeinde. Nicht nur die „Fraktion Wiesenthal“, auch die „Orthodoxie“ erhob Einspruch gegen das Vorhaben und nahm die großangelegte Planung als Gelegenheit wahr, ihre Forderungen für eine separate orthodoxe Zeremonienhalle samt „Wandbrunnen“ durchzusetzen, was allerdings scheiterte.120 Die Spaltungen innerhalb der Kultusgemeinde, die durch dieses Großprojekt sichtbar in den Vordergrund traten, erklären wohl auch, wieso die Plenarsitzung zur Beschlussfassung am 24. November 1966 nur nach Einladung erfolgte und nicht der allgemeinen Mitgliedschaft der Kultusgemeinde offen zugänglich war, was wiederum bezeichnend für die zunehmend hegemoniale Entscheidungsmacht des Kultusvorstands unter Feldsbergs Leitung war.121 Im November 1966 genehmigte der Kultusvorstand ein gestrafftes Budget von 4,5 Millionen Schilling für die Instandsetzungsarbeiten, die im folgenden Februar begannen und im November abgeschlossen wurden.122 Angesichts der schlechten Akustik in der monumentalen Kuppel, die bereits in der Zwischenkriegszeit für Probleme sorgte, wurden alleine 55.000 Schilling zur ordentlichen Instandsetzung der nun schallgedämpften Kuppel investiert.123 Selbst nach Abschluss der Großarbeit fielen weitere kostspielige Nacharbeiten an, so beispielsweise im folgenden Jänner, als eine Vertragsfirma zum Preis von 170.000 Schilling beauftragt werden musste, um den Verbindungsgang zwischen dem Leichengebäude und der Zeremonienhalle zu überdachen.124
119 Protokoll, 27. September 1966, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/4/1, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 120 Protokoll, 7. November 1966, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/4/1, zit. in USHMM, AJCV-VCC. Vgl. weiterführend zum Konflikt Adunka: Die vierte Gemeinde, S. 257–258. 121 Einladung, 18. November 1966, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/4/1, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 122 Bericht, 6. April 1967; An die Israelitische Kultusgemeinde Wien, 2. März 1967 und An die Israelitische Kultusgemeinde Wien, 12. Oktober 1967, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/2/1, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 123 Vgl. Referats-Bogen, 20. November 1933, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/7/6 sowie An die Israelitische Kultusgemeinde Wien, 5. April 1967 und AkustikAnlage, 6. April 1967, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/2/1, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 124 An die Israelitische Kultusgemeinde Wien, 24. Jänner 1968, AIKGW, A/VIE/IKG/IIII/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/2/1, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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Die feierliche Einweihung der restaurierten Zeremonienhalle fand schließlich am 17. Dezember 1967 vor einem Publikum von 600 Personen statt.125 In Anwesenheit befanden sich neben der Obrigkeit der Kultusgemeinde auch der israelische Botschafter in Österreich Zeev Shek sowie der Wiener Bürgermeister Bruno Marek. In seiner Rede beteuerte Marek, wie es Die Gemeinde berichtete, dass sich die beim IV. Tor Bestatteten „für das Ansehen Wiens in der Welt auf kulturellem, wissenschaftlichem und wirtschaftlichem Gebiet große und leider vielfach unbedankte Verdienste erworben“ hätten. Zudem gedachte er „alle[r] jener, denen, wie er sagte, beim IV. Tor des Zentralfriedhofes ihre letzte Ruhestätte bereitet war, die jedoch fern ihrer vertrauten Umgebung in Konzentrationslagern und Gaskammern einen grausamen Tod sterben mußten“. Abschließend versprach er, „daß die Stadtgemeinde über die Ehrung und die Ruhe der Toten ohne Unterschied ihrer Herkunft, Rasse oder Religion wachen und dafür sorgen werde, daß ihr Friede ebensowenig [sic] wie der Friede der Lebenden niemals mehr gestört werde“. Angesichts der andauernd zynischen Restitutionspolitik der Stadt Wien klingen diese Worte heute allerdings hohl. Tatsächlich sprach Feldsberg in seinen darauffolgenden Worten direkt „die schwierigen und langen Verhandlungen“ an, „die von der Kultusgemeinde mit dem Staat geführt wurden“, obwohl er somit vorsichtigerweise die Republik und nicht die Stadt als Kontrahentin darstellte. Jedenfalls bezeichnete er die geforderte staatliche Unterstützung für die Instandsetzung der geschändeten jüdischen Friedhöfe als „billig“ im Vergleich zu ihrer „brennende[n] Schuld“ – ein für diese Zeit beachtenswerter Verweis auf die österreichische Mitverantwortung für die Shoah. In diesem Zusammenhang zeigte sich Feldsberg weniger erfreut als „kritisch“ in Hinblick auf die „einmalige Zuwendung“ von 30 Millionen Schilling, die die Republik erst 1960 nach jahrelanger Verhandlung aufbrachte, von denen sie gleich fünf Millionen wieder als Rückzahlung abzog für die „Soforthilfe“, die sie der Kultusgemeinde unmittelbar nach Kriegsende geleistet hatte. Die Kultusgemeinde aber hatte „angenommen“, dass die damalige Hilfe nicht als Darlehen gemeint war. Dann entfielen nochmals 4,5 Millionen, die an die anderen Kultusgemeinden Österreichs ausbezahlt werden mussten, sodass der Wiener Kultusgemeinde schließlich von der Zuwendung nur 20,5 Millionen übrig blieben. Wie Die Gemeinde bemerkte, „langten diese Mittel bei weitem nicht aus, [um] alle Wiederherstellungsarbeiten“ an den jüdischen Friedhöfen durchzuführen. Dieses Problem ist bis heute, über ein halbes Jahrhundert später, längst noch nicht geklärt. Das übrig gebliebene Geld wurde zuerst für die Instandsetzung des Stadttempels in der Seitenstettengasse sowie für die Errichtung einer neuen orthodoxen Synagoge und eines Jugendzentrums verwendet. Was dann noch übrig blieb, wurde zur „Wiederinstandsetzung von 125 Vergleiche die photographischen Aufnahmen in: o. T., o. D., DÖW, 10459.
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rund 40 Friedhöfen und zur Exhumierung und Wiederbestattung der Toten aus Massengräbern“ investiert. Feldsberg kritisierte an dieser Stelle ebenfalls jene innerhalb der Gemeinde, die sich gegen die Instandsetzung der Zeremonienhalle positioniert hatten, mit der Behauptung, dass alleine die Kosten für die Abtragung der Ruine 2 Millionen Schilling betragen hätten, „à fonds perdu“. Als nächstes rief er zu einer Schweigeminute auf im Gedenken an „die Toten der Wiener Judenschaft“, an „jene nichtjüdischen Männer und Frauen“, die gegen den Nationalsozialismus Widerstand geleistet hatten, sowie an „die Israelis, die im legendären Sechstagekrieg vom Juni 1967 für ihr Vaterland und für die Sache der Juden gefallen sind“. Die Inklusion der israelischen SoldatInnen in seiner Schweigeminute veranschaulicht nicht nur die „Zionisierung“ der Nachkriegskultusgemeinde und ihre partikularistische Auffassung des jüdischen „Volkstums“, sondern auch die Verbindung der gesamten jüdischen Weltgeschichte – wie in den Erwähnungen von Amalek in der Sepulkralepigraphik – in ein kontinuierliches Leitnarrativ: von Amalek, Märtyrertum und Israel. Zum Schluss seiner Rede wandte sich Feldsberg wieder dem Friedhof zu, den er als wichtigsten jüdischen Gemeinschaftsraum und Erinnerungsort überhaupt deutete: Das Archiv der jüdischen Geschichte sind die Friedhöfe. Der Friedhof ist keine Stätte des Todes, keine Stätte der Vergänglichkeit, sondern das Haus des Lebens … So stumm die Friedhöfe sind … sie führen doch für den, der das Leben von Vater und Mutter fortlebt, eine sehr laute Sprache, die jeder verstehen soll. Und weil wir diese Sprache zu verstehen glauben, wurde die Zeremonienhalle renoviert und adaptiert.126
Unerwähnt blieb hier, dass Feldsberg diese Gedanken frei nach dem Oberrabbiner Moritz Güdemanns hier in Kapitel 6 zitierten Rede umschrieb, die Güdemann bei der Eröffnung des neuen Friedhofs fünfzig Jahre zuvor, im April 1917 gehalten hatte. Der Bericht in Die Gemeinde wurde begleitet von einer vollständigen Reproduktion von Franz Werfels Gedicht „Der Gute Ort zu Wien“ (hier in Kapitel 8 besprochen). Eindringlich kam hier also die Bedeutung auf Makroebene des abstrakt begriffenen jüdischen Friedhofs für die jüdische Geschichte – als „Haus des Lebens“ – sowie auf Mikroebene des jüdischen Friedhofs beim IV. Tor als zentralem Erinnerungsort für die jüdische Gemeinschaft Wiens – als „Grabstätte der Väter“ – zum Ausdruck. In einem weiteren Artikel in der gleichen Ausgabe rühmte Die Gemeinde: „Nun steht die Zeremonienhalle als würdevolles Bauwerk wie vor 1938 auf unserem Friedhofsgrund. Fast könnte 126 Die Zeremonienhalle eingeweiht, in: Die Gemeinde, 27. Dezember 1967, S. 3. Feldsbergs Rede wurde hier nur umschrieben, der ursprüngliche Wortlaut hier zit. nach Adunka: Die vierte Gemeinde, S. 258.
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man glauben, daß es ein steinerner Wächter unserer Toten ist, an die wir immer denken und die wir niemals vergessen werden.“127 Die Ausgabe enthielt auch mehrere Photographien der Zeremonienhalle infolge ihrer Verwüstung in den Novemberpogromen sowie nach ihrer Instandsetzung.128 Somit hatte die Kultusgemeinde ein würdiges Denkmal in Erinnerung an die Vernichtung ihrer Vorgängergemeinde sowie insgesamt an die Shoah gesetzt, Jahre bevor es im öffentlichen Raum der österreichischen Bundeshauptstadt sonst irgendwelche offiziellen Erinnerungszeichen an dieses jüngste dunkle Kapitel der österreichischen Geschichte gab. Zugleich wurde die Zeremonienhalle ihrem ursprünglichen Zweck zurückgeführt: Wenige Wochen nach ihrer feierlichen Einweihung fand dort auch die erste Leichenfeier statt, gleich eine recht prominente, nämlich die des langjährigen Kultusgemeindepräsidenten Emil Maurer, der Ende Dezember 1967 verstorben war (Grabstelle unbekannt). Der Feier wohnten laut Die Gemeinde „Vertreter des öffentlichen Lebens, der SPÖ, der sozialistischen Freiheitskämpfer und viele, viele Mitglieder der Kultusgemeinde“ bei, in Erinnerung an Maurers langjährige politische Tätigkeit in Österreich, einschließlich seiner Internierung sowohl durch das austrofaschistische als auch durch das NS-Regime.129 Die instand gesetzte Zeremonienhalle diente danach jahrelang als Veranstaltungsort für das jährliche Gedenken an die Novemberpogrome, was wiederum als stellvertretendes Gedenken für die Shoah fungierte – es sollte ja noch fast ein halbes Jahrhundert dauern, bis der 27. Jänner als Internationaler Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust festgesetzt wurde. Am 10. November 1968, dem dreißigsten Jahrestag der Novemberpogrome, versammelten sich beispielsweise wieder 600 Menschen in der Zeremonienhalle zu einer Gedenkveranstaltung, bei der das Jüdische Komitee für Theresienstadt die vier neuen Glasfenster unter der Kuppel präsentierte, die durch Spenden von 26.000 im Ausland lebenden jüdischen ÖsterreicherInnen finanziert und vom Künstler und Shoah-Überlebenden Heinrich Sussmann entworfen wurden, der 1986 selbst in einem Ehrengrab beim IV. Tor bestattet wurde (7A-9-13).130 In seiner Rede verkündete Oberrabbiner Akiba Eisenberg, wie Die Gemeinde berichtete: „Das unschuldig vergossene Blut von sechs Millionen Abel sei zum 127 Die Wiederinstandsetzung der Zeremonienhalle, in: Die Gemeinde, 27. Dezember 1967, S. 16. 128 Zerstörung und Wiederaufbau, in: Die Gemeinde, 27. Dezember 1967, S. 17. 129 Dr. Emil Maurer s. A. zur letzten Ruhe gebettet, in: Die Gemeinde, 31. Januar 1968, S. 15. Die Abkürzung „s. A.“ steht für „seligen Angedenkens“, eine direkte Übertragung der hebräischen Formel „sain-lamed“ (sichrono liwracha) und ein abermaliges Indiz der Resakralisierung des Gemeindelebens in der Nachkriegszeit in Form einer Wiederbelebung von frühneuzeitlichen hebräischsprachigen Sepulkraldiskursen. 130 Abbildungen der Fenster finden sich in Steines: Hunderttausend Steine, S. 257–258.
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Mörtel für den jungen Staat Israel geworden.“ Eindringlicher als je zuvor wurde hier der NS-Genozid somit als Grundvoraussetzung für die Errichtung des Staates Israel vereinnahmt, zugleich in einer Formulierung, die charakteristisch das real Geschehene in biblischen Sprachbildern verkleidete. Dass Unzählige der in der Shoah Ermordeten nicht zionistisch waren, sich sogar vielfach nicht einmal als „jüdisch“ verstanden, wurde hier genauso verschwiegen wie die Tatsache, dass ihr Tod keinen „Zweck“ erfüllte außer dem Versuch der NationalsozialistInnen, ihre pervertierte Vorstellung eines „reinrassigen“ Europa zu realisieren. Kontextuell betrachtet mag diese historische Vereinnahmung der Shoah auf die sich damals verändernden Dynamiken rund um den jüdischen Staat infolge des Sechstagekriegs deuten, aus der Israel mit einem neuen und gestärkten Selbstverständnis hervorging, die öffentliche Meinung weltweit aber bereits begann, jene gespaltenen Züge anzunehmen, die bis heute den gesamten Diskurs rund um den Nahostkonflikt prägen. In der Tat wandelte sich der Ton der Berichterstattung in Die Gemeinde in den kommenden Jahren im Hinblick auf die wachsende antiisraelische Haltung der Öffentlichkeit zunehmend hin zu einer Art Abwehrhaltung, die bis heute die Kultusgemeinde prägt. Bei der Gedenkfeier am 10. November 1968 wurde Eisenbergs Anschauung vom israelischen Botschafter Zeev Shek, selbst ein Überlebender des Konzentrationslagers Theresienstadt, untermauert, der von seinem „Gefühl des Stolzes und der Genugtuung“ sprach, „daß er der Jugend des Staates Israel heute über Ghettos und Konzentrationslager erzählen könne, nachdem sie gelernt habe, mit Maschinengewehren umzugehen und sich nicht wehrlos erschlagen zu lassen“. Er folgerte, wie Die Gemeinde berichtete: „eines stehe fest: für den neuen Typ der Juden werde es kein Theresienstadt, kein KZ, kein Ghetto mehr geben“. Kultusgemeindepräsident Ernst Feldsberg, auch ein Überlebender Theresienstadts, schloss die Veranstaltung mit einer Rede, in der er wieder auf die Bedeutung der instand gesetzten Zeremonienhalle und des Friedhofs allgemein einging. Letzteres zeige nämlich, dass „die Vergangenheit […] die Mutter und die Zukunft die Tochter der Gegenwart“ seien. Mit anderen Worten bildete die „Grabstätte der Väter“ die materielle Verbindung zur Geschichte der eigenen Gemeinschaft. Feldsberg erklärte dann die symbolische Bedeutung der vier neuen bunten Fenster. Der „flammende Leuchter der Freiheit, der von Engeln getragen werde […], gebe die tröstliche Zuversicht, daß es Licht werden müsse, wo immer die Mächte der Finsternis versuchen, die Freiheit in Ketten zu legen“. Das zweite Fenster erinnere an die „Reichskristallnacht“, wie sie damals noch genannt wurde, worin der „Zionsstern […] zur Erinnerung an den ‚Judenstern‘ der Nazizeit in gelbem Glas gehalten“ wurde – man beachte Feldsbergs sprachliche „Zionisierung“ des Davidsterns. „Daneben sehe man eine brennende Thorarolle und einen brennenden Tallith“ (Gebetsmantel), die zeigen, „daß sich der Geist des
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Judentums als stärker erwiesen habe als der Ungeist der Vandalen, der Tempelund Friedhofschänder“. Die letzten beiden Fenster, die recht ähnlich gestaltet sind, repräsentieren jeweils spezifisch „das KZ Theresienstadt“ und verallgemeinert „eines der vielen Konzentrationslager“ als „Anklage gegen alle, die Verbrechen während der Nazizeit begangen, und gegen jene, die geschwiegen haben“. Unter drei der Gedenkfenster stehen jeweils auf Hebräisch und Deutsch biblische Zitate aus Jesaja 57,2 und 5. Moses 32,39, die sich auf den Tod und das Jenseits beziehen, sowie die allgemeine Widmung: „Die Wiederinstandsetzung der durch die Nazivandalen am 10. November 1938 zerstörten Zeremonienhalle wurde von der Israelitischen Kultusgemeinde Wien im Frühjahr 1967 begonnen und am 15. Kislew 5728 (17. Dezember 1967) vollendet.“ Die prominente Stellung des Konzentrationslagers Theresienstadt an diesem Gedenkort erklärt sich dadurch, dass das Jüdische Komitee für Theresienstadt eine maßgebliche Rolle in der Spendensammlung für die Glasfenster gespielt hatte sowie dass viele der beteiligten Akteure Überlebende dieses Lagers waren. Darüber hinaus betont dieser Fokus auf Theresienstadt aber auch implizit das Über- und Weiterleben, wenn man bedenkt, dass aus den Vernichtungsstätten wie Sobibor und Treblinka oder Maly Trostinec, wo die größte Zahl von jüdische ÖsterreicherInnen ermordet wurden, so gut wie gar keine Überlebenden entkamen. Somit repräsentiert dieser Gedenkort paradigmatisch das grundliegende Problem, der Vernichtung an sich zu gedenken. Schließlich kam Feldsberg auf die Gedenktafel zu sprechen, die heute noch im Vorraum der Zeremonienhalle hängt, die mit der zweisprachigen und doppeldeutigen Mahnung „jiskor“ (erinnere dich) und „niemals vergessen“ beschriftet ist – eine Anspielung auf die biblische Mahnung, dass das Volk Israel sich an die Verbrechen des Amalek erinnern sollte. Auf der Tafel wurden die 23 damals bekannten Todesstätten der österreichischen Opfer der Shoah alphabetisch aufgelistet, von den großen, bekannten Vernichtungslagern wie Auschwitz bis zu den kleineren Stätten wie dem Transitlager Westerbork in den Niederlanden. Majdanek, das zuletzt genannt wird und alphabetisch aus der Reihenfolge fällt, wurde offensichtlich nachträglich beigefügt. Der Bericht in Die Gemeinde schloss mit der Verkündung, die möglicherweise ein Zitat aus Feldsbergs Rede bei der Gedenkveranstaltung darstellte: Mit den in die Tafel gravierten Worten „Jiskor“ und „Niemals vergessen“ rufen die Seelen der Märtyrer von 22 Konzentrationslagern: „Gedenke unserer Opfer und gedenke der Opfer, die unser Volk durch die Zerstörung seines Heiligtums in Jerusalem und immer wieder in seiner Jahrtausende-alten Geschichte gebracht hat“.131
131 Dreißig Jahre nach Kristallnacht, in: Die Gemeinde, 27. November 1968, S. 3.
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Wie in der gängigen Verknüpfung des Shoah-Gedenkens mit der biblischen Gestalt des Amalek wurde hier der moderne Genozid mit der Zerstörung des israelitischen Tempels in Verbindung gebracht, um dadurch eine mystifizierte, kollektivierte Kontinuität zwischen den modernen Judenheiten, dem antiken Volk der IsraelitInnen und dem Heilige Land herzustellen. Unterstrichen wurde dieser Zusammenhang dadurch, wie eine Tafel im Vorraum der Zeremonienhalle erklärt, dass die Gedenktafel „aus israelischem Olivenholz“ geschaffen wurde und die Kupfersteine der Erklärungstafel selbst „aus den salomonischen Kupferminen in Timna (Israel)“ stammen. Dass diese Kupferminen zwar aus der Zeit des König Salomon, damals aber wahrscheinlich einem komplett anderen „Volk“ – nämlich den EdomiterInnen – gehörten, wie neueste archäologische Studien gezeigt haben, veranschaulicht, dass solche Mythologisierungen freilich wenig mit Faktizität zu tun haben, ja für ihre Geltungskraft Faktizität nicht brauchen.132 Vergleichsweise stand die 1879 vom Stararchitekten Wilhelm Stiassny errichtete und ebenfalls in den Novemberpogromen 1938 stark verwüstete Zeremonienhalle beim I. Tor viele Jahre nach Kriegsende als Ruine. Die Umstände wurden 1964 in einem der Tätigkeitsberichte der Kultusgemeinde erklärt: Objektiverweise muß festgestellt werden, daß der Bauzustand der Zeremonienhalle beim ersten Tor als nicht ganz entsprechend anzusehen ist. Es werden aber periodisch Instandsetzungsarbeiten durchgeführt. Dabei ist es zu berücksichtigen, daß der jüdische Friedhof beim ersten Tor nicht mehr neu belegt wird, daß somit nur Beilegungen vorkommen. Aus diesen Erwägungen heraus wurde die Zeremonienhalle nicht, wie es vielleicht sonst notwendig gewesen wäre, neu aufgebaut.133
Die Ruine wurde 1978 endgültig abgetragen.134 Die Stellung des Friedhofs beim IV. Tor als zentraler Erinnerungsort der Wiener Judenheit zeigte sich wieder in einem Besuch des Bürgermeisters Bruno Marek im Herbst 1971, um einen Kranz an das Grab des verstorbenen Kultusgemeindepräsidenten Emil Maurer zu legen sowie am „Gemeinschaftsgrab der Märtyrer in der Förstergasse“, wo er der „tragische[n] Geschichte dieser Opfer“ gedachte.135 In den Jahren danach scheint der Friedhof allerdings seinen zentralen Stellenwert zunehmend eingebüßt zu haben, was womöglich auch auf den Tod Ernst Feldsbergs im Jahre 1970 zurückgeführt werden 132 Vgl. den Bericht Reality Check on King Solomon’s Mines. Right Era, Wrong Kingdom, 5. September 2013, https://www.nbcnews.com/science/science-news/reality-check-kingsolomons-mines-right-era-wrong-kingdom-f8C11073742, letzter Zugriff: 31. August 2020. 133 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Tätigkeit [1964], S. 190. 134 Steines: Hunderttausend Steine, S. 39. 135 Besuch auf dem Friedhof, in: Die Gemeinde, 6. Oktober 1971, S. 23.
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könnte, der zu Lebzeiten stets als ausgesprochener Verfechter der würdigen Achtung und Erhaltung dieses Ortes auftrat. In einer ausführlichen Bilanz ihrer Errungenschaften, die Die Gemeinde 1975 zum dreißigsten Jahrestag der Wiederetablierung der Kultusgemeinde zog, waren die Friedhöfe auffällig abwesend, mit Ausnahme der restaurierten Zeremonienhalle beim IV. Tor, der aber auch nur ein paar Zeilen gewidmet wurden.136 Ab den späten 1980er-Jahren wurde schließlich auch die jährliche Gedenkveranstaltung an die Novemberpogrome ins Gemeindezentrum in der Seitenstettengasse verlagert und fand fortan nicht mehr am Friedhof statt.137 Es wäre übertrieben zu sagen, dass dies insgesamt einen Bedeutungsverlust für den Friedhof als gemeinschaftlichen Erinnerungsort darstellte, da der Friedhof nach wie vor angesichts der Universalität des Todes den bindenden Ort der gesamten Gemeinschaft darstellte, wenn auch für manche vielleicht nur im rein persönlichen bzw. familiären Kontext. Doch veranschaulicht diese Zeit die Verlegung des Schwerpunkts der kollektiven Erinnerung zurück in die Stadt, unter die Lebenden, was nicht zuletzt mit einer breiteren, über die jüdische Gemeinschaft hinausreichenden gesellschaftlichen Rezeption der Geschichte des Nationalsozialismus und der Shoah ab den 1980er-Jahren zusammenhing. Ab den 1990er-Jahren entstanden allerdings auf Initiative der Kultusgemeinde noch einige weitere kollektive Denkmäler, die unter anderem den ausgesprochen partikularistischen Charakter der Gemeindeorganisation um die Jahrtausendwende weiterhin zur Schau stellen. Einen durchaus konfliktreichen Erinnerungskomplex beim IV. Tor bildeten seit ihrer Entstehung die Gruppen jener Verstorbenen, deren Bestattung beim IV. Tor ab 1941 von der Stadt Wien verordnet wurde, da sie nach den Nürnberger Gesetzen als „jüdisch“ galten, dies aber im Eigenverständnis bzw. im Verständnis der Kultusgemeinde nicht waren. Es war der Kultusgemeinde von Anfang an ein Anliegen, diese Grabstätten, die sie offenkundig als Affront gegenüber dem „jüdischen“ Charakter des Friedhofs wahrnahm, soweit wie möglich von den umliegenden, genuin „jüdischen“ Abteilungen abzugrenzen, weshalb diese Grabstätten von Anfang an in streng segregierten Gruppen angelegt wurden. Im Herbst 1949 machte sich dann das Friedhofsamt Gedanken, eine weitere „Begrenzung der anders gläubigen Gräbern“ anzulegen, wofür sie mit Kosten von etwa 14.000 Schilling rechnete.138 Aus einem erhaltenen Briefverkehr mit der Gärtnerei Diner von Ende 1952 geht zudem hervor, dass die Kultusgemeinde nicht weiter für den allgemeinen Erhalt der Abteilungen für Konfessionslose und (im Diskurs der 136 1975 – 30 Jahre Israelitische Kultusgemeinde Wien, in: Die Gemeinde, 7. Mai 1975, S. 1. 137 Vgl. z. B. Gedenkveranstaltung, in: Die Gemeinde, 4. November 1988, S. 3. 138 An Herrn Dr. Ernst Feldsberg, 5. September 1949, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/1/1, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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NS-Zeit) „nichtarische ChristInnen“, die hier irreführend als „katholische Abteilungen“ bezeichnet wurden, aufkommen wollte und zudem beabsichtigte, diese „mit einer lebenden Hecke“ vom restlichen Friedhof ästhetisch – wie auch symbolisch – abzugrenzen.139 Schließlich wurden die betroffenen Gräbergruppen von den sie umgebenden jüdischen Teilen des Friedhofs mit Maschendrahtzäunen abgegrenzt, wobei bizarrerweise auch viele jüdische Grabstätten in die „nichtjüdischen“ Abteilungen mit einbezogen wurden, so beispielsweise die Gruppe 20B, wo das im vorherigen Kapitel besprochene Grab der Rachel Tuter liegt. Ebenso liegen einige deutlich als christlich gekennzeichnete Grabsteine außerhalb der Abzäunung. Erst 1993 widmete man sich – es ist nicht eindeutig, wer die InitiatorInnen waren – einem kollektiven Denkmal für die nichtjüdischen Verstorbenen, deren Bestattung im jüdischen Friedhof durch das NS-Regime aufgezwungen wurde. Diese nannte Die Gemeinde in Nichtanerkennung der Konfessionslosen explizit „Christen“, was wiederum auf ein gewisses dichotomes Denkmuster in der Nachkriegszeit weist, in dem alle Nichtjüdinnen und -juden als „christlich“ wahrgenommen wurden. Das Abgrenzungsbegehren seitens der Kultusgemeinde unterstrich Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg bei der Einweihung am 11. November 1993, der auch Kardinal Franz König beiwohnte, mit der Mahnung, „dass es“, wie Die Gemeinde ihn zitierte, „‚normalerweise‘ Grenzen geben müsse, auch konfessionell unterschiedene Friedhöfe“.140 Das Denkmal, das sich in der Gruppe 18K direkt vor dem im vorherigen Kapitel besprochenen Grabstein der Yuana Hilde Ryvarden befindet, besteht aus einem monumentalem schwarzem Marmorstein mit eingravierter Inschrift sowie einer kleineren Metalltafel auf einem steinernen Sockel, der die Namen der Verstorbenen auflistet. Die Inschrift verkündet: In dieser Erde wurden zwischen Herbst 1941 und Frühjahr 1945 auf Anordnung des nationalsozialistischen Regimes an die achthundert Personen bestattet, die nach den „Nürnberger Gesetzen“ als Juden galten, jedoch nicht der jüdischen Religionsgemeinschaft angehörten. Die meisten von ihnen waren Christen, einige konfessionslos. Jahrelang lebten sie in ständiger Bedrohung. Manche setzten ihrem Leben selbst ein Ende, um der Deportation zu entgehen. Die von den Nazibehörden angeordneten Bestattungen erfolgten vor allem in den Gruppen 18K, 19K, sowie 20C, D und E. Alle hier Bestatteten gehören der Leidensgemeinschaft religiös getrennter, im Sterben vereinter Opfer des nationalsozialistischen Rassenwahns an. Sie mögen in Frieden ruhen!
139 Vgl. An Frau Anna Diner, 4. Dezember 1952 und An die Isr. Kultusgemeinde, 19. Dezember 1952, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/1/1, zit. in USHMM, AJCVVCC. 140 Gedenkstein für Christen auf Wiener jüdischen Friedhof, in: Die Gemeinde, Dezember 2003, S. 53.
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Somit erkennt die Inschrift jedenfalls an, dass viele der Verstorbenen nicht religiös und somit auch nicht nach religiösen Kriterien zuordenbar waren, doch schließt auch sie mit der Feststellung, die Verstorbenen seien „religiös“ voneinander „getrennt“ gewesen, wodurch ein bestimmter Grad an Resakralisierung in der Nachkriegszeit deutlich wird, der über die Vermischung bzw. in gewissen Kreisen gänzliche Aufhebung solcher Kategorien in der Vorkriegszeit hinwegtäuschte. Die Tafel mit den Namen der hier Bestatteten weist auch darauf hin, dass ein „Totenbuch“ mit „weiteren Angaben“ in der Friedhofsverwaltung hinterlegt wurde. An den angrenzenden Wegen der entsprechenden Gräbergruppen befinden sich auch Hinweistafeln, die eine ähnliche Erläuterung zur oben zitierten Inschrift anbieten, allerdings mit dem entscheidenden inhaltlichen Unterschied, dass hiernach die Betroffenen „nach den Nürnberger Gesetzen als Juden galten, wiewohl sie dies nach dem jüdischen Religionsgesetz nicht waren“. Interessant ist hier über die Anerkennung der Konfessionslosigkeit eines erheblichen Teils der Betroffenen hinaus die Betonung des „jüdischen Religionsgesetzes“ – das Selbstverständnis, wie in Bezug auf die unten analysierte Entwicklung der Sepulkralpraxis beim IV. Tor nach 1945 deutlich wird, spielte in der zunehmend orthodoxen Sicht der Kultusgemeinde keine entscheidende Rolle mehr. Problematisch ist schließlich die Tatsache, dass die „nichtjüdischen“ Gräbergruppen augenscheinlich oft nicht so gut gepflegt werden wie die „jüdischen“ Gruppen, so gerade in den Sommermonaten, wenn sie mitunter von Unkraut wild überwuchert sind und einen recht verwahrlosten Eindruck machen. In diesem Zusammenhang interessant ist ein Hinweis in Die Gemeinde, dass die betroffenen Grabstätten 2003 auf Initiative des Wiener Historikers Gerald Stourzh instand gesetzt wurden. Seine Beweggründe wurden jedoch nicht genannt.141 Diese Grabstätten zeugen bis heute von jenen Denkmustern, die im 20. Jahrhundert die zentraleuropäische Gesellschaft im Leben – und an diesem Ort bis in den Tod hinaus – spaltete und gegenseitig aufhetzte.142 Im Jahre 1987 wurde auf einer freien Fläche links vom Haupteingang zum Friedhof beim IV. Tor, von den Arkaden umringt, eine sogenannte genisa 141 Gedenkstein für Christen auf Wiener jüdischen Friedhof, in: Die Gemeinde, Dezember 2003, S. 53. Stourzh referierte allerdings in einem einsichtsvollen Essay über jüdische KonvertitInnen in Wien, in dem er zum Schluss diese Gruppen beim IV. Tor und das dazugehörige Denkmal als entsprechendes „lieu de mémoire“ erwähnte. Stourzh, Gerald: From Vienna to Chicago and Back. Essays on Intellectual History and Political Thought in Europe and America, Chicago/London 2007, S. 247. 142 In diesem Zusammenhang ebenfalls verstörend ist die auch von Stourzh angesprochene Tendenz in der jüngeren Forschung, jene Menschen, die vom Judentum zum Christentum konvertierten, ex post facto einfach als „Jüdinnen“ und „Juden“ anzuführen. Stourzh: From Vienna to Chicago and Back, S. 246.
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(sprichwörtlich ein Lager oder Depot) geschaffen: eine Aufbewahrungsstelle für beschädigte und somit aus religiöser Sicht unbrauchbar gewordene Torarollen, die aber als heilige Schriften weiterhin in Ehre gehalten werden müssen und somit wie Menschenleichen bestattet werden. Hierbei handelte es sich spezifisch um Torarollen aus den Wiener Synagogen und Bethäusern, die während der Novemberpogrome geschändet worden waren. Im Sommer 1991 wurde zusätzlich ein Denkmal an der Stelle errichtet, das von der Chewra Kadisha gestiftet und von Steinmetz Schreiber angefertigt wurde. Der marmorne Gedenkstein vor der mit Betonpfeilern und Ketten umringten „Grabstätte“ ähnelt einer zerrissenen Torarolle und trägt eine zweisprachige Inschrift. Der hebräischsprachige Teil besteht aus einer Sammlung von kurzen kinot – Klageliedern, die der Zerstörung des Tempels in Jerusalem gedenken und am Tisha Be’Aw (der 9. Aw, um Juli/August) in der Synagoge rezitiert werden – sowie einer Erklärung des Hintergrunds: „Hier wurden am 17. Siwan 747 [14. Juni 1987] Torarollen geborgen [im Sinne „bestattet“], die in den Zeiten der Shoah ain-jud [durch die Hand] der Nazis jud-mem-shin [mögen ihre Namen ausgetilgt werden] entweiht, zerrissen und verbrannt wurden“. Der deutschsprachige Text verkündet ähnlich: „Hier wurden am 17. Siwan 5747 (14.6.1987) Reste von Torahrollen begraben, die in der ‚Kristallnacht‘ des Jahres 1938 von Nazihorden entweiht, zerrissen und verbrannt wurden“. Auffällig ist hier im Vergleich vor allem die Nennung des Datums in beiden Sprachen im jüdischen Kalender, was auf die weitgehend vollendete Orthodoxisierung der Gemeindeorganisation zu dieser Zeit hinweist. Was keiner während der Vorbereitung dieses Denkmals hätte vorausahnen können, ist der Umstand, dass sich die Einweihung am 30. Juni 1991 schließlich weniger um die Gewaltverbrechen der NS-Zeit drehen würde als um den gemeindeinternen Konflikt, der durch die hier in der Einleitung besprochene Gründung des Or Chadasch genau zwei Wochen davor ausgebrochen war. Nach den Photographien des Ereignisses zu schließen, wohnten der Einweihung nur wenige orthodoxe Männer bei. In seiner Rede rief Kultusgemeindepräsident Paul Grosz die Gemeindemitglieder, auf den Or Chadasch bezugnehmend, dazu auf, „persönliche Auseinandersetzungen und partikularistische, spalterische Quellen zurückzustellen und die mühsam errungene Einheit dieser Gemeinde nicht zu zerstören“. Angesichts der hegemonialen orthodoxen und zionistischen Ausrichtung der Nachkriegskultusgemeinde erscheint dieser Vorwurf des Partikularismus – insbesondere gegenüber einer Organisation, die auf eine inklusivere Religionspolitik etwa im Hinblick auf Frauen abzielte – recht ironisch. Der Rede des Präsidenten folgte die des Oberrabbiners Paul Chaim Eisenberg mit der Feststellung, dass das Errichtungsdatum des Denkmals im jüdischen Kalender – der 17. Tamus – nicht nur als Jahrestag der Zerstörung des Jeru-
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salemer Tempels galt, sondern auch als Datum, an dem der römische Soldat Apostomus eine Torarolle verbrannte, sowie noch weiter zurückreichend als Datum, an dem Moses auf dem Sinai die Gesetzestafeln zerbrach. Eisenberg schloss, „daß wir Juden wenig unternehmen könnten, um Angriffe gegen unsere Tora von Feinden zu verhindern, daß wir aber gleichzeitig uns selbst nie schuldig machen sollen, indem wir unsere Tora entehren wie es damals durch das Anbeten des Goldenen Kalbes geschah“.143 Verband der erste Teil dieser Aussage die Schandtat des Apostomus symbolisch mit der Vernichtungswut der NationalsozialistInnen während der Novemberpogrome, so war der zweite Teil eine nur dünn verschleierte Charakterisierung der Mitgliedschaft im Or Chadasch als Anbetung des „Golden Kalbs“, als Götzenverehrung also, die nicht nur Moses zum Zerbrechen der Gesetzestafeln anspornte, sondern auch Gott dazu führte, die Vernichtung der Abtrünnigen anzudrohen (siehe 2. Moses 32,10). Somit verband Eisenberg die Gründung einer liberalen jüdischen Gemeinde explizit mit der Abtrünnigkeit, mit der Schändung der Torarolle und sogar mit der Vernichtungswut der NationalsozialistInnen, Letzteres der eigentliche Anlass dieser Gedenkveranstaltung, die sich aber schließlich mehr um den Or Chadasch als um die Shoah drehte. Dies waren schwere Vorwürfe, zumal sich der Or Chadasch, wie die Kultusgemeinde allgemein, aus ehemals Verfolgten sowie den Nachkommen der Vertriebenen und Ermordeten zusammensetzte. Zwar am physischen Denkmal alleine nicht ablesbar, zeugt dessen Entstehungsgeschichte von der tiefgreifenden Orthodoxisierung, die sich bis in die 1990er-Jahre innerhalb der Kultusgemeinde vollzogen hatte, sowie auf die ebenso tiefgreifenden Konflikte um die Bedeutung der „Jüdischkeit“ wie um die Frage der Zugehörigkeit, die bis heute die kleine, aber nach wie vor heterogene jüdische Nachkriegsgemeinschaft prägen. Einen ebenso eindringlichen Einblick in den jüdischen Partikularismus, spezifischer den Zionismus der Nachkriegskultusgemeinde, ermöglicht das 1998 zum Gedenken an den 50. Jahrestag der Staatsgründung Israels konzipierte und 2000 realisierte Denkmal für die, wie der deutschsprachige Teil der Inschrift bekundet, „gefallenen israelischen Soldaten 1948–1998“. Das Denkmal, das sich direkt neben der Zeremonienhalle und gegenüber vom Denkmal für die geschändeten Torarollen befindet, besteht aus einer dunklen vierseitigen Metallsäule, auf deren jeder Seite der Umriss des ehemaligen britischen Mandatsgebiets Palästina plus die 1967 von Israel besetzten und 1981 annektierten Golanhöhen herausgestanzt sind. Die Golanhöhen sowie der Gazastreifen und das Westjordanland sind deutlich innerhalb des Ausschnittes durch eingelassene Metallstreifen abgegrenzt, was als ein für die in Hinsicht auf die israelische 143 Einweihung eines Gedenksteines auf dem jüdischen Friedhof, in: Die Gemeinde, 30. August 1991, S. 64.
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Innenpolitik rechtskonservativ ausgerichtete Kultusgemeinde überraschendes Zugeständnis des umstrittenen und bis heute noch nicht völkerrechtlich geklärten Status dieser von den PalästinenserInnen für einen eigenen Staat beanspruchten (bzw. im Falle der Golanhöhen von Syrien zurückgeforderten) Gebiete gedeutet werden kann. Wohlgemerkt wurden in der künstlerischen Darstellung des Denkmals, die nach seiner Einweihung im Juni 2000 auf der Vorderseite von Die Gemeinde abgedruckt wurde, diese Abgrenzungen nicht wiedergegeben, obwohl sie in den Photographien des Denkmals, die dem entsprechenden Artikel beigefügt waren, deutlich erkennbar waren. Wie in ebendiesem Artikel berichtet wurde, wohnten der Einweihung des Denkmals, das mitunter „der Erkenntnis der Bedeutung des Staates Israel für die Gemeinden der Galut [Diaspora] in politisch wechselhaften Zeiten“ dienen sollte, nur wenige Kultusgemeindemitglieder bei. Die Redaktion beteuerte: „Sie hätte die Anwesenheit einer weit größeren Anzahl, auch von Vertretern des Kultusvorstandes, verdient“.144 Kann das Denkmal selbst als kraftvolle Bestärkung des Zionismus seitens des Kultusvorstands verstanden werden, so deutet ihre Geringschätzung durch die Mitgliedschaft womöglich auf wenig Begeisterung ihrerseits für den Staat Israel – oder zumindest für die Gedenkaktionen der Kultusgemeinde am Friedhof. Jedenfalls unterstreicht das Denkmal das ambivalente Zugehörigkeitsgefühl der Nachkriegsgemeinde, betont durch den Verweis im Artikel in Die Gemeinde auf die „Galut“, womit die Judenheit unmissverständlich als fremdes „Volk“ unter den als inhärent „nichtjüdisch“ konnotierten ÖsterreicherInnen ausgewiesen wird. Die vorwiegend hebräischsprachige Inschrift verkündet: „Für die gefallenen SoldatInnen Israels zwischen 708 und 758 [1948 und 1998], schneller waren sie als die Adler und stärker als die Löwen“, Letzteres ein Zitat aus 2. Samuel 1,23 in Bezug auf den Tod des Königs Saul und seines Sohns Jonatan. Dieses Zitat, das sich häufig auf jüdischen bzw. israelischen Kriegerdenkmälern findet, inklusive auf einem der Gedenksteine, die der Bund jüdischer Frontsoldaten 1934 am Kriegerdenkmal beim I. Tor stiftete (siehe hier Kapitel 6), ist in diesem Kontext reich an Assoziationen: Laut 1. Samuel 31,4 versuchte Saul nach einer verlorenen Schlacht gegen die PhilisterInnen, sich selbst das Leben zu nehmen, was laut 2. Samuel 1,2–10 allerdings nicht ganz glückte, denn dort bat der noch lebende König einen vorbeiziehenden Amalekiter, die Tat zu vollbringen. Saul gilt in der biblischen Tradition als die Figur, die die IsraelitInnen von einem bloßen Stamm zu einem Königreich erhob, und gilt somit gewissermaßen als Gründervater des antiken Staat Israels. Die PhilisterInnen hingegen, wie die AmalekiterInnen Erzfeinde Israels, die in der Küstenregion um das antike Gaza lebten, gelten als Namensstifter für „Palästina“ und somit auch (wenngleich 144 Ein Denkmal für die Gefallenen Zahals, in: Die Gemeinde, Juni 2000, S. 4.
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nicht gerade vorsätzlich oder in direkter Folge) für die modernen „PalästinenserInnen“. Das Denkmal beim IV. Tor für die in den andauernden Konflikten mit ihren arabischen NachbarInnen, inklusive den PalästinenserInnen, gefallenen SoldatInnen Israels wurde somit – ob bewusst oder nicht – in einen Zusammenhang mit den tödlichen biblischen Auseinandersetzungen zwischen dem Staatsgründer Saul und seinen IsraelitInnen einerseits und den PhilisterInnen andererseits gebracht. Saul verlor zwar die Schlacht und damit sein Leben, doch Israel gewann schließlich den Krieg gegen seine Erzfeinde, die AmalekiterInnen wie die PhilisterInnen. Die jeweiligen Tafeln des Denkmals sind weiter mit 24 idealisierten hebräischen Namen, männlichen wie weiblichen, verziert, die die abertausenden gefallenen SoldatInnen symbolisieren, Namen wie David, Elishewa, Shimon, Sara und andere. Anlässlich der Einweihung des Denkmals wurden auch zwei Photomontagen im Vorraum der Zeremonienhalle angebracht, die die israelischen Streitkräfte glorifiziert darstellen. War das Denkmal allgemein den damals über 20.000 seit der Staatsgründung in diversen Kriegen und Konflikten gefallenen israelischen SoldatInnen gewidmet, so zählte auch ein kleines Kontingent von ÖsterreicherInnen dazu: So nannte die Chewra Kadisha 2002 insgesamt 225 „im Kampf um die Existenz des Staates Israel gefallenen jungen Juden aus Österreich“.145 Zu Jom Kippur nach der Einweihung des Denkmals, der im Jahre 2000 auf den 9. Oktober fiel, organisierte die Chewra Kadisha ein „Jiskor-Gebet“ (Gedenkgebet) um „der Verstorbenen, der Schoa-Opfer und der gefallenen israelischen Soldaten [zu] gedenken“.146 Dadurch wurden die Verstorbenen der eigenen Gemeinschaft mit allen Opfern der Shoah und darüber hinaus mit den israelischen Streitkräften in ein nahtloses Kontinuum, eine Art universalisierte „jüdische“ Erinnerung, integriert – genauso, wie es Ernst Feldsberg bereits 1967 bei der Einweihung der instand gesetzten Zeremonienhalle getan hatte. Im darauffolgenden Sommer wurde neben dem Denkmal für gefallene israelische SoldatInnen ein weiteres Kriegerdenkmal errichtet, dieses Mal für, wie die deutschsprachige Inschrift verkündet, „hunderttausende jüdische Soldaten in den alliierten Armeen, sowie tausende jüdische Partisanen“, die „in den Jahren 1938–1945 im Kampf gegen die menschenverachtende Herrschaft der Nationalsozialisten ihr Leben“ ließen. Die hebräischsprachige Inschrift fügte noch „und für die Befreiung Europas“ dazu – wieso dieser rühmenswerte Hinweis aus der deutschsprachigen Inschrift weggelassen wurde, ist nicht überliefert. Sowohl die deutschsprachige wie die hebräischsprachige Inschrift dieses einfachen, aus Naturstein gestalteten und vom langjährigen Amtsdirektoren 145 Chewra Kadischa Wien, in: Die Gemeinde, November 2002, S. 12. 146 Chewra Kadischa, in: Die Gemeinde, Oktober 2000, S. 29.
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der Kultusgemeinde Avshalom Hodik initiierten Gedenksteins beginnen indes mit der hebräischen Formel „bet-samech-dalet“, eine Abkürzung von besijata dishmaja, „mit der Hilfe des Himmels“, ein auffällig orthodox-religiöser Brauch, dessen Anwendung auf einem Kriegerdenkmal erneut die bis zur Jahrtausendwende vollzogene Orthodoxisierung der Kultusgemeinde unterstreicht. Der deutschsprachige Abschluss „Ihr Andenken sei gesegnet!“ ist eine direkte Übersetzung vom hebräischen jehi sichrem baruch! Beide Inschriften wurden wie folgt unterschrieben: „Chewra Kadisha Wien [und] die jüdischen Veteranen in Österreich. Wien, im Juni 2001 [Hebräisch: im Monat Tamus 761 der kleinen Zeitrechnung; ohne die Jahrtausendangabe]“. Laut dem Militärhistoriker Erwin Schmidl kämpften insgesamt etwa 10.000 jüdische ÖsterreicherInnen im Zweiten Weltkrieg auf Seiten der Alliierten.147 Einer davon war der 1925 in Laxenburg außerhalb von Wien geborene Schriftsteller Lucien Meysels, der infolge des „Anschlußes“ nach Palästina auswanderte und dort für die britische Luftwaffe kämpfte. Er hielt bei der Einweihung des Denkmals im Sommer 2001 eine Rede, bei der sowohl die österreichische wie die israelische Fahne wehten. Meysels eröffnete seine Ansprache mit einer Kindheitserinnerung aus den frühen 1930er-Jahren, als sein Vater ihn zu einer „Trauerfeier des jüdischen Frontkämpferverbandes in Österreich“ mitnahm – gemeint war der Bund jüdischer Frontsoldaten – und knüpfte somit über die Shoah hinaus an die enge Verbundenheit der Wiener Judenheit in den österreichischen Streitkräften vor 1918 bzw. vor 1938 an: „Gegen wen sie [die Veteranen des Ersten Weltkriegs] gekämpft hatten, wurde kaum erwähnt“, erinnerte er sich allerdings, und fuhr fort: „Ich erinnere mich noch vage, dass viel von ‚Vaterlandsliebe‘ und ‚Heldentod‘ geredet wurde. Und von Kameraden und Kameradschaft“. Diese Worte, so führte er aus, wurden im Zweiten Weltkrieg durch das „Dritte Reich“ vergiftet, und er schloss mit der Feststellung, dass es nun im Gedenken an den Zweiten Weltkrieg im Gegensatz zum Ersten von enormer Wichtigkeit ist, gegen wen gekämpft wurde. Abschließend fragte er dann noch, „warum ein so symbolträchtiger Anlass erst heute stattfindet, 56 Jahre nachdem die letzten Schüsse im Zweiten Weltkrieg gefallen waren“.148 Es ist nicht nur eigenartig, dass es über ein halbes Jahrhundert gedauert hat, um ein Erinnerungszeichen für den Kampf der alliierten Streitkräfte bzw. die jüdische Beteiligung zu setzen, sondern auch, dass dieses Gedenkzeichen erst ein Jahr nach der Errichtung eines Denkmals für die gefallenen israelischen SoldatInnen erfolgte, fast wie ein Nebengedanke – bedenkt man nicht nur die Anzahl der jüdischen ÖsterreicherInnen, die im Zweiten Weltkrieg kämpften, sondern überhaupt die Gewichtigkeit des Zweiten Weltkriegs und der Shoah in 147 Schmidl: Juden in der k. (u.) k. Armee, S. 91. 148 Denkmal für jüdische Gefallene des Zweiten Weltkrieges, in: Die Gemeinde, Juli 2001, S. 8–9.
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der Geschichte der jüdischen Gemeinschaft Wiens im Vergleich zum Nahostkonflikt. Darüber hinaus fällt auch die auf dem Denkmal genannte Zeitspanne 1938–1945 auf, die sich somit nicht bloß auf den Krieg, sondern auf die gesamte Dauer der NS-Herrschaft in Österreich bezieht. In den nationalorientierten Erinnerungskulturen rund um den Faschismus und den Zweiten Weltkrieg wird freilich oft vergessen, dass sich die Zeitspannen zwischen unterschiedlichen Ländern zum Teil gewaltig unterscheiden.149 Dieses Denkmal reflektiert somit auch das in Teilen der österreichischen Gesellschaft weitverbreitete Geschichtsbild der eigenen faschistischen Vergangenheit, in der die austrofaschistische Diktatur von 1933/34 bis 1938 komplett ausgeklammert wird, obwohl dieses Regime – wenngleich an Brutalität und Mordlust dem Nationalsozialismus nicht vergleichbar – auch zahlreiche jüdische ÖsterreicherInnen verfolgte und vertrieb. Zu den prominenten Internierten unter dem Austrofaschismus zählten beispielsweise der bereits erwähnte Sozialist und spätere Kultusgemeindepräsident Emil Maurer sowie der spätere Bundeskanzler Bruno Kreisky, der sich Zeit seines Lebens eher als politisch und weniger als „rassisch“ Verfolgter beider Diktaturen sah. Dass die bewaffneten Konflikte des jungen Staats Israels in der Kollektiverinnerung der Kultusgemeinde im frühen 21. Jahrhundert den ersten Platz einnehmen, sogar vor dem Zweiten Weltkrieg, zeigt indes allgemein, wie die Erinnerung schließlich der Gegenwart dient und nicht der Vergangenheit. Zu Jom Kippur 2001 gedachte jedenfalls die Chewra Kadisha nicht nur wie im Jahr zuvor „der Verstorbenen“, „der Schoah-Opfer“ und „der gefallenen israelischen Soldaten“, sondern nun auch „der gefallenen jüdischen Soldaten der alliierten Armeen des 2. Weltkrieges“, die somit wiederum erst als Nebengedanken in den Erinnerungskanon der Gemeindeorganisation mit einbezogen wurden – wohlgemerkt anachronistisch erst nach den israelischen SoldatInnen.150 Dass über den Zweiten Weltkrieg hinaus die jüdischen Gefallenen des Ersten Weltkriegs längst aus dem historischen Blick geraten waren, hing vermutlich mit den veränderten soziopolitischen Gegebenheiten der österreichischen Judenheit ein Jahrhundert später genauso sehr zusammen wie mit der einfachen Tatsache, dass die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg bereits aus der kommunikativen Erinnerung verschwunden und vielleicht sogar durch die Shoah weitgehend ausgelöscht worden war. Tatsächlich tat sich in diesen Jahren aber auch etwas in Bezug auf das Gedenken an den Ersten Weltkrieg, doch in einem viel breiteren, die Kultusgemeinde überragenden Kontext, worauf im nächsten Kapitel eingegangen wird. 149 Vgl. allgemein Bosworth, R.J.B.: Nations Examine their Past. A Comparative Analysis of the Historiography of the „Long“ Second World War, in: The History Teacher 29/4 (August 1996). 150 Chewra Kadischa, in: Die Gemeinde, September 2001, S. 29.
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Hier endet jedenfalls die jüngste Geschichte der Konstruktion einer Kollektiverinnerung beim IV. Tor, die sich zuletzt nicht bloß auf die Shoah bezog, sondern bereits auf jüngere Geschehnisse, insbesondere auf den jüdischen Staat, ausgeweitet wurde. Das seitdem keine weiteren bedeutenden gemeinschaftlichen Denkmäler am Zentralfriedhof errichtet wurden, mag eben die Verlagerung der Orte der Kollektiverinnerung veranschaulichen: Als 2002 im Vorraum des Stadttempels ein Denkmal für die Wiener Opfer der Shoah errichtet wurde, auf der alle der circa 65.000 bekannten Namen eingeschrieben sind, verlagerte sich das Gedenken an die Shoah wohl endgültig, wenigstens auf der kollektiven Ebene, weg vom Zentralfriedhof und in die Innere Stadt.151 9.3
„Ein Denkmal und ein Name“. Die „gesammelten Erinnerungen“ an die Shoah beim IV. Tor
Über die Jahrzehnte wurden beim IV. Tor viele weitere Denkmäler von unterschiedlichen AkteurInnen errichtet, insbesondere auf den Massengräbern, die aus der NS-Zeit stammen. Diese bilden somit einen Teil des komplexen Erinnerungsgeflechts beim IV. Tor, wobei sie allerdings weniger bewusst kollektivierend wie die oben besprochenen sind und daher eher als Ausdruck einer fragmentierten, „gesammelten“ Erinnerung fungieren. Unmittelbar nach Kriegsende informierte Viktor Schneider vom Kulturamt der Stadt Wien, der sich (wie hier in Kapitel 7 ausgelegt) während der Shoah für die Erhaltung der jüdischen Friedhöfe proaktiv eingesetzt hatte, die Kultusgemeinde, dass die 1942/43 vom Naturhistorischen Museum aus dem Währinger Friedhof exhumierten Leichen von Viktor Christian, dem Dekan der Philosophischen Fakultät an der Universität Wien, gegen Kriegsende auf die Burg Kreuzenstein nahe Leobendorf in Niederösterreich zur Auflagerung verbracht wurden. Die Kultusgemeinde drückte ihre Intention aus, diese „möglichst rasch“ zu bergen und „auf dem Zentralfriedhof der ordentlichen Bestattung“ zuzuführen.152 Im Jahre 1947 wurden die Leichenreste endlich vom Naturhistorischen Museum an die Kultusgemeinde restituiert, bei denen es in vielen Fällen um kollektive Exhumierungen von ganzen Familienverbänden handelte. Da die überdauernden Leichenreste der zum Teil über ein Jahrhundert zuvor Verstorbenen teilweise so gering waren, konnten diese beim IV. Tor in bloß 28 Schachtgräbern entlang Reihe 2 in der Gruppe 14A verscharrt werden, im 151 Eine symbolische Grabstätte für die jüdischen Opfer der Schoah, in: Die Gemeinde, Dezember 2002, S. 6–7. 152 Aktennotiz, 1. September 1945, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 18, Währinger Friedhof/1/3, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
„Ein Denkmal und ein Name“
rechten Winkel zu den Reihen 13 und 14, wo die von der Kultusgemeinde 1941 umgebetteten Leichen von Prominenten aus dem Währinger Friedhof liegen. Somit macht das gesamte Ensemble der aus Währing Umgebetteten einen sehr dichten Eindruck. Eine Aktennotiz Ernst Feldsbergs aus dem Jahre 1951 spricht von 500 Leichenresten, doch haben jüngste Forschungen nur 285 betroffene Leichen identifiziert.153 Im Jahr zuvor vermerkte Feldsberg über die älteren Grabstätten aus dem Jahre 1941: „Die Grabhügel sind verfallen; die während der Nazizeit errichteten hölzernen Namenstafeln sind zum größten Teil nicht mehr vorhanden und zum Teil vollkommen verwittert“. Er bat somit die Amtsdirektion, diese Grabhügel instand setzen zu lassen und auf alle Grabstätten, inklusive der 1947 in dieser Gruppe wiederbestatteten, „Marmortafeln […] mit einfacher Inschrift (Name und Sterbedaten)“ errichten zu lassen.154 Im letzteren Fall sollte bloß der jeweilige Familienname, die Anzahl der dort Bestatteten und die Zeitspanne ihrer Sterbejahre genannt werden: „Zum Beispiel hätte auf der Grabstätte 14a-2-1 eine Tafel angebracht zu werden mit folgendem Text: 28 Mitglieder der Familie Leidesdorff [sic, Leidesdorf], gestorben i.d. Jahren 1789–1868 [sic, 1869]“. Beim ältesten Begräbnis handelte es sich hier um den 1789 verstorbenen Familienpatriarchen Löw Leidesdorf (ehemalige Grabstätte in Währing 4-267). Feldsberg schätzte die Kosten dieses „Akt[s] der Pietät“ auf bis zu 7.000 Schilling.155 Alle der kleinen Steintafeln in den drei Reihen, die jüngst stark verwittert und teils zerfallen waren, wurden 2015 durch eine Initiative der Magistratsabteilung 7 (Kulturabteilung) der Stadt Wien mit neuen Marmorsteinen ersetzt, deren vergoldeten Inschriften inhaltlich allerdings gleichblieben. Dies ist ein Beispiel einer Wende seitens der Stadt Wien, nach jahrzehntelanger Verwahrlosung einen Beitrag – wenngleich äußerst spät und immer noch sehr bescheiden – zur Instandsetzung und Erhaltung der unter ihrer Verwaltung während der NS-Zeit „arisierten“ und stark geschändeten jüdischen Friedhöfe zu leisten. Ein charakteristisches Beispiel eines Einzelgrabes jener Prominenten, die von der Kultusgemeinde 1941 exhumiert und in der Gruppe 14A wiederbestattet wurden, ist das des 1843 verstorbenen „Gründervaters“ der Kultusgemeinde Michael Lazar Biedermann (14A-13-23). Die Inschrift auf dem Musterstein verkündet schlicht: „Pei-nun [Hier ist begraben] Michael Lazar Biedermann, 153 Vgl. Eckstein, Wolf-Erich: Historische Recherche zur Vorbereitung der Restaurierung von Gräbern der 1941/42 aus dem Währinger Israelitischen Friedhof Exhumierten und am Zentralfriedhof, 4. Tor, Gruppe 14a 1941/42 und 1947 Wiederbestatteten, 22. April 2015, https://www.wien.gv.at/kultur/abteilung/ehrenreihen.html, letzter Zugriff: 31. August 2020. 154 An die Amtsdirektion der Israelitischen Kultusgemeinde, Wien, 8. Mai 1950, AIKGW, A/VIE/IKG/III/FH/108/8. 155 An die Amtsdirektion der Israelitischen Kultusgemeinde, 17. April 1951, AIKGW, A/VIE/IKG/III/Präs/1/3.
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geb. 13.8.1769, gest. 21.8.1843“. Nur zwei der in der Gruppe 14A Umgebetteten erhielten eigene, neue Grabsteine, und zwar der 1873 verstorbene Rabbiner Ruben Chaim Klein (14A-13-8) und der 1841 verstorbene Rabbiner Meir Almaš-Popper (14A-13-13). Letzterer war Rabbiner in Mattersdorf (damals in Westungarn gelegen, heute Mattersburg im Burgenland). Es handelt sich um einen monumentalen, senkrechten Granitstein, oben gerundet und mit zwei prominenten Schultern in Anspielung auf die einer Torarolle anmutenden Grabsteine des Währinger Friedhofs, wo der Rabbiner ursprünglich bestattet lag. Neben dem Grabstein, der ausschließlich auf Hebräisch beschriftet ist, steht ein Kasten für Grabkerzen. Die Inschrift lobt den Verstorbenen mit einer langen Reihe von Ehrentiteln, die an die hebräischsprachige Sepulkralepigraphik vergangener Generationen erinnert, und schließt mit der auffällig partikularistischen Formel: „sechuto jagen al Israel“ (sein Andenken beschütze Israel; womit die Religionsgemeinschaft, nicht das Land gemeint ist). Darunter findet sich ein Hinweis auf die Umstände seiner Umbettung: „Sein heiliger Körper [guf hakadosh] wurde in den Jahren der Not [shanot cheirum] vom alten und umstrittenen bet-hei-chet [beit hacha’im, Haus des Lebens; Friedhof] Währing überführt“. Auffällig ist hier nicht bloß die euphemistische Umschreibung der Shoah und die Rechtfertigung der Überführung, sondern auch die Sakralisierung des Leichnams, was angesichts der Lehre der Unsterblichkeit der Seele im Gegensatz zur Unreinheit der Leiche im Judentum, geschweige denn das Verbot der Verehrung von Grabstätten fast „unjüdisch“ erscheinen könnte (die Sakralisierung menschlicher Überreste in Europa ist wohlgemerkt eine urkatholische Prägung).156 Jedenfalls stellt dies ein weiteres Beispiel der radikalen Umdeutung der Grabstätte in der modernen Orthodoxie dar. Im Frühjahr 1962 entschied sich die Kultusgemeinde ferner zur „Aufstellung von einfachen Grabsteinen an den Grabstätten der jüdischen Märtyrer aus den Konzentrationslagern, deren Aschenurnen beim vierten Tor des Zentralfriedhofes beigesetzt sind“.157 Angesichts der Tatsache, dass es durchaus fraglich ist, ob es sich bei der zurückgesandten Asche um die der genannten Verstorbenen handelt, müssen diese Denkmäler eher als symbolische Gesten für ein ansonsten vernichtetes Menschenleben verstanden werden, als reines jad washem – „ein Denkmal und ein Name“, wie auch Israels nationale Gedenkstätte für die Erinnerung an die Shoah heißt (der Ausdruck ist aus Jesaja 56,5 abgeleitet).158 Viele dieser Denkmäler befinden sich in den Gruppen 21 und 22, die weitgehend während der Shoah belegt wurden und somit einen 156 Vgl. Laqueur: The Work of the Dead, S. 46–48. 157 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Tätigkeit [1964], S. 20. 158 Vgl. zur Verbindung zwischen der Nennung des Namens und der Erinnerung an die Toten Laqueur: The Work of the Dead, S. 373.
„Ein Denkmal und ein Name“
erheblichen Fokus der „gesammelten Erinnerung“ an die Shoah beim IV. Tor ausmachen. Es ist nicht immer eindeutig, bei welchen Begräbnissen es sich um eine Ascheurne aus einem Konzentrationslager handelt und bei welchen ein „übliches“ Begräbnis stattfand. Doch liefern die Inschriften manchmal einen Hinweis, so beispielsweise der von der Chewra Kadisha gestiftete Granitquader des 1940 im Alter von 43 Jahren verstorbenen Jakob Lubczer aus Lisko in Galizien (heute Lesko in Polen), der am 16. Jänner im Konzentrationslager Buchenwald umkam und dessen Aschenurne am 18. Februar beim IV. Tor bestattet wurde (21-40-36). Die Inschrift verkündet schlicht: „Pei-nun Jakob Lubczer, 1940 in Buchenwald, tantzaba“, Letzteres die gängige, in früheren Kapiteln besprochene, aus 1. Samuel 25,29 abgeleitete Abschlussformel für Grabinschriften. Prominente Verstorbene, deren vermeintliche Asche aus den Konzentrationslagern in Wien eintrafen, erhielten mitunter aufwendigere Grabdenkmäler, so beispielsweise der am 19. März 1942 in Buchenwald umgekommene Rabbiner Arnold Frankfurter, ein ehemaliger Feldrabbiner der k.u.k. Armee, der im Ersten Weltkrieg diente und später in der Döblinger Vereinssynagoge in Dollinergasse 3 tätig war (16B-111-34). Frankfurter verkörperte seinerzeit den jüdischen Vaterlandspatriotismus, wie etwa in seiner Rede für jüdische Truppen aus Wien im Kriegsjahr 1917, als er beteuerte: „Wir sind so glücklich, ein Vaterland unser nennen zu dürfen“.159 Entsprechend intersektional ist seine vermutlich nach der Shoah verfasste Inschrift, die Frankfurter auf Hebräisch als „Rabbiner und Lehrer in der Synagoge zur heiligen Gemeinde von Döbling“ und auf Deutsch als „Rabbiner Professor Dr. Arnold Frankfurter“ gedenkt und sich somit auf die ehemals gängige Verflechtung von Lebenssphären – Religiosität, weltliche Bildung und Einbindung sowohl in der jüdischen Gemeinschaft wie in der breiteren österreichischen Gesellschaft – zurückbesinnt. Auf den Massengräbern in der Gruppe 22 der 1941 aus der südöstlichen Ecke des Währinger Friedhofs beim Bau des Luftschutzbunkers Exhumierten steht bis heute das von Ernst Feldsberg bereits während der Shoah angeordnete Denkmal (siehe hier Kapitel 8), eine Stele, die aus den alten „Beständen“ entnommen wurde, nämlich den abgetragenen Denkmälern aus ebendiesem zerstörten Teil des Währinger Friedhofs. Ihre Inschrift verkündet: „Pei-nun [sic, kein Bezug auf die folgende Inschrift] Ruhestätte der ehemals auf dem alten Währinger Friedhof Beerdigten. Enterdigt und hier wiederbestattet im Jahre 1941“. Hier zeigt sich eines von vielen Beispielen der pro forma Anwendung der Abkürzung „pei-nun“, die keinerlei sprachlichen Zusammenhang mit der darauffolgenden deutschsprachigen Inschrift aufweist. Das Fehlen eines jeglichen Bezugs zum NS-Kontext in dieser Inschrift fällt auf, was allerdings zur 159 Zit. nach Schmidl: Juden in der k. (u.) k. Armee, S. 179.
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Zeit ihrer Entstehung, also noch unter der NS-Herrschaft, undenkbar gewesen wäre. In den frühen 1960er-Jahren wurde die Massengrabanlage in der Gruppe 22 erstmals instand gesetzt.160 Die Grabstätten der jüdisch-ungarischen ZwangsarbeiterInnen bilden ein eigenständiges Erinnerungsgeflecht beim IV. Tor, das sich ebenfalls vorwiegend auf die abgelegene Gruppe 22 in der südöstlichen Ecke des Friedhofs konzentriert. Viele der dort Bestatteten wurden im letzten Kriegsjahr beigesetzt. Viele andere wurden wiederum erst nach Kriegsende aus Massengräbern im Osten Österreichs exhumiert und beim IV. Tor wiederbestattet. Diese Exhumierungen sind eng mit der Restitutionspolitik der Zweiten Republik verbunden, auf die im nächsten Kapitel näher eingegangen wird. Wie bei den Ascheurnen, die während der Shoah aus Konzentrationslagern nach Wien versandt wurden, ist es jedenfalls fraglich, ob die exhumierten Leichen überhaupt identifizierbar waren. Somit wird vermutlich wenigstens einem Teil der ungarisch-jüdischen ZwangsarbeiterInnen beim IV. Tor bloß „In Memoriam“ gedacht, da man davon ausging, dass sie schließlich dort zu ihrer letzten Ruhe gelangten. Zu einem unbekannten Zeitpunkt nach Kriegsende – vermutlich in den frühen 1960er-Jahren, als die Massengräber aus dem Währinger Friedhof in dieser Gruppe instand gesetzt wurden – erhielten auch die Massengräber der ZwangsarbeiterInnen eine Gedenktafel, die verkündet: „Pei-nun [sic, Wiederholung auf Deutsch:] Hier ruhen zahllose Märtyrer die in verschiedenen Anhaltelagern unter der Herrschaft des Faschismus barbarisch hingemordet wurden tantzaba. Israelitische Kultusgemeinde Wien“. Scheint die Inschrift sich zuerst an den oben besprochenen orthodox-jüdische Märtyrerdiskurse zu orientieren, so ergibt sich durch die Begriffe „Anhaltelager“ und „Faschismus“ eine weitere Leseart: Der Begriff „Faschismus“ wurde nämlich im damaligen linken Diskurs angewandt, um über den Nationalsozialismus hinaus allgemein rechtsextreme Staatsformen zu verurteilen. Der Begriff „Anhaltelager“, obwohl er hier zweifellos auf die NS-Lager für ZwangsarbeiterInnen verweist (schon deswegen verwirrend, da die ZwangsarbeiterInnen zumeist nicht in Lagern, sondern auf Todesmärschen ermordet wurden), entstammt wiederum eigentlich aus dem „Austrofaschismus“. Bei den VerfasserInnen dieser Inschrift handelte es sich also vermutlich um linke Kultusgemeindemitglieder, die bereits vor dem „Anschluß“ in Wien beheimatet waren. Die Massengräberanlage wurde laut einem Zusatz zur Inschrift im Juli 2000 von der Chewra Kadisha abermals instand gesetzt. Im Jahre 2018, infolge mehrerer Forschungsprojekte zur Geschichte der ungarisch-jüdischen ZwangsarbeiterInnen in Wien, wurde ihnen eine neue
160 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Tätigkeit [1964], S. 191.
„Ein Denkmal und ein Name“
Gedenktafel an der Friedhofsmauer bei der Gruppe 22 gewidmet.161 Die Tafel wurde von Mazsök, der vom ungarischen Staat geförderten Gemeinnützigen Stiftung für das jüdische Erbe Ungarns, am 27. Jänner, dem Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust, gestiftet. Die Inschrift ist dreisprachig ungarisch/hebräisch/deutsch und verkündet (im Folgenden auf Deutsch): „Zum Gedenken an 6000 Ungarische [sic, Großschreibung] Seelen, welche von den Nazis gewaltsam aus ihren Häusern entführt und ermordet wurden“. Sie schließt mit einem aus Hiob 16,18 umschriebenen Zitat: „Erde bedecke nicht das vergossene Blut“. Markant ist hier die Vereinnahmung der Opfer als „Ungarische [sic] Seelen“, ohne explizite Erwähnung des unmittelbaren Grunds ihrer Verfolgung, nämlich ihre Jüdischkeit. Gleichzeitig gibt die Inschrift die Schuld an dem begangenen Genozid ausschließlich „den Nazis“ – ob nur deutsche oder auch österreichische, sei dahingestellt – obwohl die ungarischen Opfer der Shoah vorerst nicht von „Nazis“, sondern von ungarischen Gendarmen und Pfeilkreuzlern „aus ihren Häusern entführt“ und erst dann „den Nazis“ entweder zur Zwangsarbeit oder zur Ermordung überliefert wurden. Diese Gedenktafel stellt paradigmatisch die revisionistische Geschichtspolitik der gegenwärtigen ungarischen Regierung dar sowie im erweiterten Sinne eine zutiefst problematische Vereinnahmung der Erinnerung an die Shoah für die Konstruktion legitimierender nationaler Geschichtsmythologien, die in den letzten Jahren zunehmend, vor allem in Zentral- und Osteuropa, erkennbar wird. Der jüdische Friedhof beim IV. Tor wurde in der Nachkriegszeit auch zum stellvertretenden Erinnerungsort für andere jüdische Bestattungsräume in Österreich, die während der NS-Ära geschändet oder gänzlich zerstört wurden, so beispielsweise für den alten jüdischen Friedhof in Deutschkreutz im Burgenland, der ins 18. Jahrhundert zurückreichte und Anfang der 1940er-Jahre zerstört wurde. In den 1950er-Jahren wurden auf Initiative Ernst Feldsbergs und „nach mühseligen Recherchen“ dessen „arisierten“ Grabsteine ausfindig gemacht und beim IV. Tor in der Gruppe 15 errichtet, wie ein späterer Tätigkeitsbericht der Kultusgemeinde festhielt, „so als wenn dort der alte jüdische Friedhof von Deutschkreutz wiedererstanden wäre.“162 Anfang 1955 wurde dort eine Tafel errichtet, die auf Hebräisch und Deutsch verkündete:
161 Vgl. etwa das vom Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien (VWI) durchgeführte Projekt Ungarische Zwangsarbeit in Wien, http://ungarische-zwangsarbeit-in-wien.at/, letzter Zugriff: 31. August 2020. 162 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Tätigkeit [1964], S. 194. Vgl. auch An die Amtsdirektion, 2. Juli 1954, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/Österreich/2/8, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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Die hier aufgestellten Grabsteine waren auf dem jüdischen Friedhof der Heiligen Gemeinde Deutschkreutz (Zelem [der hebräische Name der Stadt]) eine der berühmtesten und ältesten Gemeinde [sic] der (Schewakehiloth) Sieben Gemeinden, nach der Zerstörung und Verwüstung des Friedhofes während der Naziherrschaft [im Hebräischen wurde beigefügt: „mögen ihre Namen ausgetilgt werden“] zurück geblieben. Durch die Initiative der Israelitischen Kultusgemeinde Wien wurden diese Steine zum Andenken an alle Männer und Frauen deren ewige Ruhestätte sich in Deutschkreutz befindet auf diesem Friedhof aufgestellt [im Hebräischen wurde beigefügt: tantzaba].163
Die Grabsteine wurden schließlich in den 1990er-Jahren im Zuge einer Instandsetzungsaktion an ihren ursprünglichen Standort in Deutschkreutz überführt und wiedererrichtet. Die hier zitierte Tafel existiert nicht mehr. Deutschkreutz bildete, worauf der Name „Schewakehiloth“ (shewa kehilot, sieben Gemeinden) hindeuten soll, Teil eines alten Netzwerks von jüdischen Gemeinden im ehemals ungarischen Burgenland, dessen Wurzeln wiederum auf die 1670 aus Wien vertriebenen Jüdinnen und Juden zurückgehen. In der Gruppe 26 – westlich von der monumentalen Zeremonienhalle und direkt vor der alten provisorischen Zeremonienhalle, in der heute der Steinmetzbetrieb Schneider eingerichtet ist – liegen etliche Fragmente von Grabsteinen aus dem alten Friedhof in der Seegasse im Freien, Bruchstücke von zum Teil sehr künstlerischen Barockdenkmälern. Eine auf den 1. August 2007 datierte und vor Ort ausgehängte Notiz des Steinmetzes erklärt den Hintergrund: „Hier wurden von uns Fragmente einiger Grabsteine, welche ursprünglich vom jüdischen Friedhof Rossau, heute bekannt als die Seegasse im 9. Wiener Bezirk, stammen, aufgelegt. Diese Grabsteinteile wurden beim [sic] Planierarbeiten hier am Zentralfriedhof zufällig von uns entdeckt und gerettet.“ Es folgt eine nicht gerade akkurate Zusammenfassung der Geschichte des alten Friedhofs, inklusive der Auffindung dieser Steinfragmente in den 1980er-Jahren. Markanterweise verweist die Notiz abschließend auf den kulturhistorischen Wert des alten jüdischen Friedhofs: „Der jüdische Rossauer Friedhof und der christliche St. Marxer Friedhof gehören zu dem [sic] noch existierenden Friedhöfen aus der Biedermeierepoche und somit zu dem [sic] ältesten in Europa“, wobei der kulturhistorische Vergleich nicht stimmt, denn der Friedhof in der Seegasse wurde bereits vor dem Biedermeier stillgelegt (zudem gehört keines der beiden Friedhöfe, insbesondere nicht der jüngere in St. Marx, zu den ältesten Europas). Dieser Vergleich trifft eher auf den noch bestehenden, wenngleich schwer geschändeten jüdischen Friedhof in Währing zu. Bezeichnenderweise wird aber der St. Marxer Friedhof heute auf einer von der Magistratsabteilung 42 (Stadtgärten) gestifteten Gedenktafel am Friedhofseingang als „letzter 163 An das Rabbinat, 29. Dezember 1954 und An Herrn Emmerich Hagleitner, 12. Jänner 1955, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/1/1, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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Biedermeier-Friedhof der Welt“ angeführt, ein charakteristisches Beispiel der Ausgrenzung der jüdischen Sepulkralkultur aus der kulturellen Topographie Wiens – wie insgesamt aus der öffentlichen Wahrnehmung in der Zweiten Republik. Wenngleich viele Grabsteine aus der Seegasse heute wieder an ursprünglicher Stelle wiedererrichtet wurden, sind die zurückgebliebenen Bruchstücke beim IV. Tor dem langsamen Verfall ausgesetzt und bilden somit Zeugen des kulturellen Genozids der NS-Zeit und die bewusste Ausgrenzung der jüdischen Kulturgeschichte in den Jahrzehnten danach. Die großflächigste Verlagerung von jüdischen Grabstätten zum IV. Tor fand in den Nachkriegsjahren aus dem überkonfessionellen Döblinger Friedhof statt. Viele jüdische Familien – insbesondere aus der weitgehend säkularen bürgerlichen Schicht – legten vor der Shoah im Döblinger Friedhof im 19. Bezirk Grabstätten für ihre verstorbenen Angehörigen an. Diese wurden entweder auf Friedhofsdauer erworben oder nach gängiger nichtjüdischer Praxis für jeweils zehn Jahre gepachtet und gegebenenfalls erneuert oder eben nach Ablauf der Frist aufgelassen. Diese Begräbnisse waren – religiös gesehen – nicht einmal im liberalsten Sinne „jüdische“ Begräbnisse, doch bildeten sie – als Gedenkstätten auch dieses „zerstreuten“ oder entfremdeten Teils einer jüdischen Bevölkerung, die undifferenziert unter dem Nationalsozialismus verfolgt wurde – nach der Shoah Teil der allgemeinen Frage, was nun mit den überdauernden „jüdischen“ Erinnerungsstätten in der Wiener Stadtlandschaft geschehen sollte. Ihre Übernahme in die Verantwortungssphäre der Kultusgemeinde geht freilich auf deren Rolle als kollektive Nachfolgerin der weitgehend vernichteten jüdischen Bevölkerung Österreichs samt ihrem materiellen und kulturellen Erbe zurück. Doch die Einflussnahme der Kultusgemeinde führte auch in diesem Kontext mitunter zu problematischen partikularistisch-kulturellen Vereinnahmungsund Abgrenzungstendenzen, die das Erbe des kulturell verflochtenen Wiener Großbürgertums – jenseits der „jüdisch/nichtjüdischen“ Dichotomie – in den Jahrzehnten vor und nach 1900 widersprachen oder gar aufzulösen drohten. Die Stellung der Nachkriegskultusgemeinde zum Döblinger Friedhof als „jüdischem“ Bestattungsraum geht aus der Sprache eines Berichts aus dem Jahre 1950 hervor, der zusammenfasste, dass „ein kleiner Teil dieses Friedhofes […] als sogenannter jüdischer Friedhof seinerzeit bestimmt“ wurde, doch dass „die Verwaltung des gesamten Friedhofes einschliesslich des jüdischen Teiles“, inklusive des „Verkauf[s] der Gräber“ und der „Instandhaltung des Friedhofes“, der Stadt Wien oblag. Die Kultusgemeinde „führt[e] lediglich die rituellen Begräbnisse durch und [nahm] die Taxen und Gebühren ein“. 1950 erklärte sich die Magistratsabteilung 43 (städtische Friedhöfe, seit 2008 Friedhöfe Wien GmbH) bereit, der Kultusgemeinde eine Liste von „jüdischen“ Gräbern am Döblinger Friedhof zu schicken, „welche durch Zeitablauf verfallen“ waren. Sie würde sich zudem bemühen, „Familienangehörige jener Verstorbenen ausfindig zu ma-
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chen, welche die Kosten der Weiterbenützung dieser Gräber bezahlen“ könnten. Die Kultusgemeinde bat ihrerseits „höflichst, verfallene Gräber auf der jüdischen Abteilung nur für die Belegung durch jüdische Leichen zu reservieren“, da die Bestattung von „Nichtglaubensjuden“ den „religiöse[n] Charakter der ganzen Abteilung“ beeinträchtigen würde.164 Die Aussagen der Kultusgemeinde hier widersprachen sich nicht nur eklatant – scheinbar herrschte Verwirrung über die Frage, ob die sogenannte „Israelitische Abteilung“ am Döblinger Friedhof nun doch im religiösen Sinne einen „jüdischen Friedhof “ darstellte oder nicht – sondern tradierte auch die Diskurse der NS-Zeit zu „Glaubens-“ bzw. „Nichtglaubensjuden“, die in diesem Kontext die Thematik der „Jüdischkeit“ mit religiösen und ethnischen Kriterien durchmengte. Aufgrund der Vertreibung oder Ermordung der meisten Angehörigen der im Döblinger Friedhof Bestatteten, wie die Kultusgemeinde später in einem ihrer Tätigkeitsberichte erklärte, „ist eine große Anzahl der Gräber, die seinerzeit nicht auf Friedhofsdauer angekauft worden waren, verfallen“.165 Ihnen drohte somit die Auflassung seitens der städtischen Friedhofsverwaltung. In den Restitutionsverhandlungen mit der Stadt Wien einigten sich die Kontrahentinnen zwar Ende 1953 darauf, dass unterschieden werden sollte zwischen Grabstätten, die vor bzw. nach dem „Anschluß“ verfallen waren. Im ersteren Fall hätten „die Nachkommen der dort Bestatteten“ eine weitere Erhaltung der Grabstätte „selbst zu verantworten“.166 Im Jänner 1955 schrieb Ernst Feldsberg aber einen „Warnungsruf “ an die Technische Abteilung der Kultusgemeinde, da seiner Ansicht nach die Magistratsabteilung 43 entschlossen war, „eine Erweiterung des Döblinger Friedhofes in der Weise vorzunehmen, dass sie die dort bestatteten jüdischen Leichen unter allen möglichen Vorspiegelungen entfern[en]“ konnte.167 Innerhalb von wenigen Tagen erstellte die Technische Abteilung ein Verzeichnis von etwa 150 verfallenen „jüdischen“ Grabstätten am Döblinger Friedhof, einschließlich der Grabstätten von „Konfessionslosen“, die die Kultusgemeinde hier somit lediglich nach Abstammung als „jüdisch“ definierte. Die Technische Abteilung unterbreitete drei Vorschläge für den Umgang mit diesen Grabstätten: Die Kultusgemeinde konnte entweder die 164 An die Magistratsabteilung 43 (Friedhöfe), 19. Dezember 1950, AIKGW A/VIE/IKG/II/AD/1, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 165 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Tätigkeit [1964], S. 169. 166 Bericht, 10. November 1953, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/ Österreich/1/8, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 167 An das Techn. Amt, 12. Jänner 1955, AIKGW A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 18, Währinger Friedhof/1/3, zit. in USHMM, AJCV-VCC. Dieser Aktenordner, in dem sich das Konvolut zum Döblinger Friedhof befindet, ist ein Beispiel der Verwechslung des Währinger und des Döblinger Friedhofs aufgrund der Anwendung beider dieser Namen für den alten jüdischen Friedhof in Währing.
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Grabstätten zum Preis von jeweils 1.200 bis 1.280 Schilling für weitere zehn Jahre verpachten, wobei weitere 50 Grabstätten bald hinzukommen würden, sobald ihr Nutzungsrecht erlosch; sie konnte die Grabstätten zum Preis von jeweils etwa 280 Schilling exhumieren lassen; oder sie konnte mit der Stadt Wien einen Ausgleich verhandeln, wodurch im Gegenzug für die Erhaltung dieser Grabstätten eine unbenutzte Fläche beim IV. Tor in den Besitz der Stadt übergehen sollte, wobei die Technische Abteilung aber feststellte, dass Letzteres ungünstig wäre, da der Bodenwert in Döbling jenen beim IV. Tor bei weitem überragte.168 Wenige Monate später holte die Kultusgemeinde bei drei Gärtnereien in Döbling und Währing Angebote ein, um 114 Grabstätten in Döbling dauerhaft zu betreuen und sie vor dem Status des „Verfallens“ und somit vor der Auflassung zu bewahren.169 Wenige Tage später protokollierte die Technische Abteilung ferner 95 Grabstätten, die „auf Zeitdauer erworben“ wurden und deren Nutzungsrecht bereits erloschen war, sowie 91 Grabstätten, die „auf Friedhofsdauer erworben“ wurden, die aber instand gesetzt werden mussten, da sie sonst als „verfallen“ galten.170 Die Kultusgemeinde entschloss sich letztendlich, solche mit der Auflassung bedrohte Grabstätten, für die keine Angehörige hafteten, zu exhumieren und die Gebeine auf dem Friedhof beim IV. Tor zu bestatten – Exhumierungen für den Zweck der Umbettung von einem nichtjüdischen auf einen jüdischen Friedhof gelten auch im orthodoxen Judentum nicht nur als zugelassene Handlung, sondern sogar als pietätvolle Pflicht.171 Bis Mitte der 1950er-Jahre wurden bereits 204 Grabstätten am Döblinger Friedhof exhumiert und beim IV. Tor in der nordwestlichen Ecke des Friedhofs wieder bestattet (in der Friedhofsdatenbank erscheinen diese Grabstellen als Gruppe 1D), darunter einige Begräbnisse, die als „Urnen“ gekennzeichnet waren – ein Indiz der Verbreitung der Feuerbestattung auch unter der jüdischen Bevölkerung Wiens in der Zwischenkriegszeit. Auffällig ist auch die Kennzeichnung der Religionszugehörigkeit der Umgebetteten in den Listen der Kultusgemeinde: Wurde die überwiegende Mehrheit als „mos.“ (mosaisch; archaischer Begriff für jüdisch) definiert, so waren auch 5 „konfl.“ (konfessionslose) sowie erstaunlicherweise ein „r.k.“ (römisch-katholischer) Verstorbener dabei, nämlich der 1928 verstorbene Heinrich Weissenberg. Letzterer wurde ursprünglich in der Grabstätte einer 1891 verstorbenen Frau namens Adele 168 An Herrn Dr. Feldsberg, 18. Jänner 1955, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 18, Währinger Friedhof/1/3, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 169 An Leopold Dinstl, Josef Schimek und Anna Diner, 15. April 1955, AIKGW, A/VIE/IKG/IIII/LG/Wien 18, Währinger Friedhof/1/3, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 170 An Vicepr. Dr. Feldsberg, 25. April 1955, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 18, Währinger Friedhof/1/3, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 171 Vgl. Lamm: The Jewish Way, S. 69–70.
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Wiener beigesetzt (ihr Verhältnis zueinander ist unklar). Beide liegen heute beim IV. Tor in 1D-1-14. Dass die Leiche Weissenbergs, offensichtlich ein Konvertit, mit auf den jüdischen Friedhof überführt wurde, deutet darauf, dass die Identifizierung der „Jüdischkeit“ und die darauffolgende räumliche Segregation der ursprünglich in Döbling Bestatteten unter völliger Nichtbeachtung etwaigen Eigenverständnisses und pauschal nach Abstammung vorgenommen wurde, was verstörende Ähnlichkeiten mit der Segregation der Lebenden während der NS-Zeit aufweist. In diesem Bericht wurden weitere 116 als „mosaisch“ gekennzeichnete Grabstätten als „verfallen“ angezeigt, doch ihr weiteres Schicksal wird hieraus nicht ersichtlich.172 Das Problem der Wahrung von „jüdischen“ Grabstätten am Döblinger Friedhof zog sich bis in die 1960er-Jahre weiter. Im April 1962 warnte beispielsweise die Magistratsabteilung 43, dass das Nutzungsrecht von vier weiteren Grabstätten erlöschen würde, wenn sie nicht umgehend instand gesetzt würden.173 Im September 1964 vermerkte Ernst Feldsberg, dass „die Exhumierung und Überführung von Verstorbenen, welche auf dem Döblinger Friedhof beerdigt“ waren, „derzeit in höchstem Maße fortgesetzt“ wurden.174 Insgesamt wurden bis 1964 die Überreste von 313 Verstorbenen vom Döblinger Friedhof auf den Zentralfriedhof überführt.175 Auch die dazugehörigen Grabsteine wurden mitgenommen und beim IV. Tor wieder aufgestellt, die aufgrund ihres Alters sowie ihrer zeitgenössischen Formen herausstechen, so etwa die kupferne Büste des 1900 verstorbenen Josef Laendler, „Ritter des Franz Josef Orden“, wie die rein deutschsprachige Inschrift informiert (1D-8-23). Solche Figurendarstellungen waren beim IV. Tor schon seit der Zwischenkriegszeit streng untersagt. Verkörperte der Döblinger Friedhof seinerzeit die Verschmelzung des „Jüdischen“ und des „Nichtjüdischen“ im bürgerlichen Wien der späten k.u.k. Ära, so repräsentiert dieses seltsame „Friedhofsmuseum“ in einer abgelegenen Ecke des jüdischen Gemeindefriedhofs heute eine räumliche und materielle Ausprägung der krassen Segregation des „Jüdischen“ vom „Nichtjüdischen“ in der Wiener Gesellschaft infolge der Shoah, die sich noch lange danach weiterhin vollzog. Der ebenso starke Kontrast zwischen den gängigen Sepulkralstilen der Döblinger Grabdenkmäler und die der jüngeren Denkmäler beim IV. Tor veranschaulichen darüber hinaus den tiefgreifenden Wandel in der Selbstauffassung
172 Israelitische Abteilung Friedhof Döbling, o. D., AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien, diverse Adressen/2/1, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 173 An das Friedhofsamt, 16. April 1962, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 18, Währinger Friedhof/1/3, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 174 An Herrn Reg.-Rat Krell, 10. September 1964, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 18, Währinger Friedhof/1/3, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 175 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Tätigkeit [1964], S. 169.
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der jüdischen Gemeinde durch das 20. Jahrhundert – durch die Shoah nur noch bestärkt – in Richtung eines orthodox-religiösen jüdischen Partikularismus. Auffällig ist schließlich in diesem Zusammenhang der aus Döbling überführte Grabstein des Ehepaars Jonas und Rosa Weil (1915 bzw. 1936 verstorben, 1D-3-4), ersterer kaiserlicher Rat und Präsident der k.k. priv. OelindustrieGesellschaft. Hier ahmen die lateinischen Buchstaben des deutschsprachigen Teils der zweisprachigen Inschrift das hebräische alefbet nach, um somit die „Jüdischkeit“ der Verstorbenen hervorzuheben: Das „I“ erscheint beispielsweise wie ein „waw“, das „O“ wie ein „samech“ und so weiter, in unbewusster Vorwegnahme der Art und Weise, in der die NationalsozialistInnen später in ihrer Propaganda zynisch die „Jüdischkeit“ ihrer Opfer durch diese Anmutung des Hebräischen unterstrichen, so etwa 1937 in den Plakaten zur antisemitischen Ausstellung „Der Ewige Jude“ und schließlich im Wort „Jude“ in den gelben Kennzeichen, die im September 1941 verpflichtend eingeführt wurden. Direkt neben den Döblinger Grabsteinen liegen in der äußersten nordwestlichen Ecke des Friedhofs jene hier in Kapitel 7 besprochenen Grabstätten, die im März 1942 von der Kultusgemeinde hastig angelegt wurden, um einer versuchten „Arisierung“ dieses Areals seitens der Stadtverwaltung zuvorzukommen. Die meisten der 45 hier Bestatteten, die keine Angehörigen (mehr) hatten, die sich um ihre Grabstätten hätten kümmern können, werden mit einfachen kleinen, von der Kultusgemeinde nach Kriegsende gestifteten Grabplatten gedacht, mit Ausnahme eines schwarzen Grabsteins (in der Datenbank unter 1B-3-5 verzeichnet), welcher der 1942 verstorbenen Anna Kummermann gedenkt und vermutlich nach der Shoah von Angehörigen errichtet wurde. In ihrem Tätigkeitsbericht bemerkte die Kultusgemeinde 1964, dass diese Gruppe „laufend betreut“ wurde, doch macht sie heute einen insgesamt recht verwahrlosten Eindruck.176 Mit der Abnahme an offiziellen Gedenkprojekten seitens der Kultusgemeinde ab den 1970er-Jahren trat am Zentralfriedhof zunehmend die Chewra Kadisha als Hauptakteurin im Denkmalbereich auf. So unternahm sie eine erste große Gedenkaktion im Sommer 1973, als sie die Überreste von 200 jüdischen WienerInnen, die am 11. Dezember 1941 in Brčko in Jugoslawien (heute Bosnien und Herzegowina) von Einheiten der SS und der Ustascha ermordet wurden, an den Friedhof beim IV. Tor überführte und in einem Massengrab in der Gruppe 21A bestattete. Die Überführung erfolgte nach „mühevolle[n] Nachforschungen“ seitens der Chewra Kadisha, die diese Aktion auch komplett finanzierte. Ihr damaliger Präsident Moses Quastler fuhr persönlich mit einem Lastwagen nach Brčko, um die Leichenreste in Kisten nach Wien zurückzubringen.177 Am 176 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Tätigkeit [1964], S. 170. 177 200 Wiener Märtyrer heimgekehrt, in: Die Gemeinde, 22. Oktober 1973, S. 17.
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Wegrand zur Grabstätte wurde eine Marmorplatte im Gedenken an die Opfer errichtet, deren Inschrift verkündet: Pei-nun [sic, kein Bezug auf die folgende Inschrift] Hier wurden 200 jüdische Märtyrer die in Brčko, Jugoslawien am 11. Dezember 1941 durch die nationalsozialistische Herrschaft hingemordet wurden zur letzten Ruhe bestattet, tantzaba, Israelitische Kultusgemeinde Wien, Chewra Kadischa Wien.
Durch diese schlichte, schablonenhafte Inschrift fungiert der Gedenkstein in Form und Sprache wie ein Kollektivgrabstein für die 200 dort verscharrten Opfer. Auffällig ist hier neben der Bezeichnung „Märtyrer“ wieder die semantisch ungereimte hebräische Abkürzung zu Beginn der Inschrift, die mit der darauffolgenden deutschen Inschrift keinen Zusammenhang ergibt und somit die einfache Formalität dieser Abkürzung zur Kennzeichnung der „Jüdischkeit“ der Grabstätte veranschaulicht. Neben diesem Kollektivdenkmal widmete sich die Chewra Kadischa hauptsächlich der Errichtung von Erinnerungsmalen an verwaisten Grabstätten, von denen viele aus der NS-Zeit stammen und somit zahlenmäßig die größte Sammlung von Shoahdenkmälern am Zentralfriedhof ausmachen. Zugleich stellen sie durch ihre Dezentralität eher eine „gesammelte Erinnerung“ als eine „Kollektiverinnerung“ der Gemeinschaft dar. Immer wieder rief die Chewra Kadisha die Mitgliedschaft der Kultusgemeinde zu Spenden auf, um die „Anbringung von Namenstafeln an verlassenen Gräbern, das heißt solchen, die von keinen Angehörigen betreut werden“, zu finanzieren.178 So stellte die Chewra Kadisha 1978 in einem Artikel in der Gemeinde, der über ihre bisherigen Leistungen berichtete, an vorderster Stelle die Anbringung von „zahlreiche Mazzewoth (Grabsteinen) an zum Teil aus dem NS-Regime stammenden Gräbern von Armen und ohne Hinterbliebenen verstorbenen Menschen“ und bat die Gemeindemitglieder um mehr Spenden, um diese Tätigkeit weiterhin zu ermöglichen. Der Artikel erschien unter dem Titel „Sajin Adar“, der 7. Adar im jüdischen Kalender, damals der 14. Februar 1978, als Hinweis auf den „Todestag unseres Lehrers und Erziehers Moshe Rabbenu“ (Moses), an dem die Wiener Chewra Kadisha seit ihrer Gründung im 18. Jahrhundert pflegt, die Grabstätten in ihrer Obhut instand zu setzen.179 Ab den späten 1980er-Jahren intensivierte die Chewra Kadisha ihre Aktivitäten am Friedhof gewaltig. Zwischen 1989 und 1991 investierte sie beispielhaft fast zwei Millionen Schilling in diverse Projekte, inklusive in die Instandsetzung von insgesamt 135 Grabsteinen sowie die Errichtung des oben besprochenen 178 Siehe z. B. Chewra Kadischa, in: Die Gemeinde, 3. April 1974, S. 23. 179 Sajin Adar, in: Die Gemeinde, 15. März 1978, S. 19.
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Denkmals für die während der Novemberpogrome geschändeten Torarollen, von neuen Schildern beim I. Tor, und von Gedenktafeln für Opfer der Shoah im Stadttempel, aber auch für religiöse Funktionen bei Leichenfeiern, inklusive der Bereitstellung eines minjan (das zur Ausführung der religiösen Gebete benötigte Quorum von mindestens zehn gläubigen Juden oder Jüdinnen). Schließlich ließ sie den Grabstein des 1927 verstorbenen, ursprünglich beim I. Tor bestatteten und 1950 samt seinem Grabstein auf den Trumpeldor Friedhof in Tel Aviv überführten Oberrabbiner Zwi Perez Chajes in Israel instand setzen. Der Vorstand der Chewra Kadisha erklärte zudem seine Intention, in den kommenden Jahren alle Gruppen und Reihen beim IV. Tor zu beschildern, was allerdings bis heute nur ungleichmäßig geschehen ist.180 Im Jahre 1994 errichtete die Chewra Kadisha auch neue Denkmäler an den Grabstätten dreier in der Schlacht um Wien gefallenen jüdisch-sowjetischen Soldaten in der Gruppe 8 (genaue Grabstellen unbekannt), von denen lediglich Major Ivan Jakovlevic namentlich bekannt ist. Die anderen beiden erhielten jeweils die knappe Inschrift: „pei-nun [sic, Wiederholung] Hier liegt ein unbekannter jüdischer, russischer Soldat, gefallen im Kampf um Wien 1945. Chewra Kadischa 1994“. Der Hintergrund der Bestattung dieser Soldaten ist ziemlich schleierhaft, obwohl sie deutlich auf den Umstand zurückzuführen sind, dass während der Schlacht um Wien auch direkt am Friedhofsgelände gekämpft wurde und diese gefallenen Soldaten somit „an Ort und Stelle“ bestattet wurden.181 Im Dezember 1952 schrieb Amtsdirektor Wilhelm Krell an Ernst Feldsberg, dass er jedes Mal „ein schlechtes Gefühl“ hatte, als er an diesen Grabstätten vorbeiging, da sie sich in einem verfallenen Zustand befanden. Er schlug vor, die sowjetische Kommandantur zu fragen, ob sie nicht eine Umbettung dieser Verstorbenen im sowjetischen Soldatenfriedhof in der Gruppe 44A des allgemeinen Zentralfriedhofs vornehmen wolle. Ansonsten wollte die Kultusgemeinde die Instandsetzung dieser Grabstätten übernehmen.182 Angesichts des heutigen Weiterbestehens dieser Grabstätten hat sich die sowjetische Kommandantur für eine Umbettung wohl nicht interessiert. In der Gruppe 21 wurden 1995 „27 Grabsteine auf Initiative der Chewra Kadischa vom Witwen- und Waisenverein aufgestellt“, wie ein weißer Gedenkstein mit Messingplatte verkündet, auf dessen Vorderseite ein aus Messing gestalteter Davidstern samt dem hebräischen Wort shalom (Frieden) angebracht ist. 180 Bericht des provisorischen Vorstandes der Chewra Kadischa, in: Die Gemeinde, 6. Mai 1992, S. 28–29. 181 Vgl. Russengräber auf dem jüdischen Friedhof in Wien, in: Iskult – Presse – Nachrichten, 30. August 1955, S. 10–11. 182 An Herrn Dr. Feldsberg, 3. Dezember 1952, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/1/1, zit. in USHMM, AJCV-VCC. Vgl. hier auch An das Friedhofsamt, 12. Februar 1953.
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Besonders aktiv errichtete die Chewra Kadisha in den späten 1990er-Jahren wieder Denkmäler an verwaisten Grabstätten, vorwiegend jenen aus den späten 1930er-Jahren. So errichtete sie beispielsweise zwischen 1997 und 1998 insgesamt 93 Grabsteine in der Gruppe 22 und plante weitere 79 für das Folgejahr, die ebenfalls alle durch Spenden von Gemeindemitgliedern ermöglicht wurden.183 Im Herbst 1999 beklagte die Chewra Kadisha nichtdestotrotz in einem mit Blockschrift betonten Aufruf, dass es beim IV. Tor „noch hunderte Gräber ohne Grabsteine allein aus dem Jahr 1938“ gab, in der sie auch um „eine möglichst grosszügige Spende!“ für das Denkmal für gefallene israelische SoldatInnen bat.184 Im Oktober 2001 wurden weitere 55 Grabsteine für Verstorbene aus den Jahren 1938/39 in der Gruppe 22A errichtet, wovon 15 persönlich von Simon Wiesenthal gestiftet wurden.185 Trotz all dieser Aktivitäten schätzte die Chewra Kadisha im Jahr darauf allerdings, dass noch etwa 4.000 Grabstätten aus der NS-Zeit keine Denkmäler hatten.186
Abb. 26 Von der Chewra Kadisha errichtete Grabsteine in der Gruppe 21. Im Hintergrund die chassidischen ohelim in der „Abteilung für Fromme“. © Autor
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Chewra Kadischa, in: Die Gemeinde, April 1999, S. 39. Chewra Kadischa, in: Die Gemeinde, September 1999, S. 41. 55 neue Grabsteine, in: Die Gemeinde, Dezember 2001, S. 37. Chewra Kadischa, in: Die Gemeinde, März 2002, S. 40.
„Ein Denkmal und ein Name“
Diese wiederholten Gedenkaktionen beeinflussten das Erscheinungsbild des Friedhofs deutlich. Heute sind etliche Gräberfelder optisch durch die weitgehend uniformen Grabsteine der Chewra Kadisha geprägt, wie etwa eine in Die Gemeinde abgedruckte Luftaufnahme der „Abteilung für Fromme“ in der Gruppe 21 aus dem Jahre 2007 veranschaulicht.187 Auch in der Gruppe 22 finden sich viele der seinerzeit verwaisten Grabstätten von Menschen, die während der NS-Zeit verstarben und jahrzehntelang keinen Grabstein erhielten. Diese Grabstellen vermutlich der fünften Klasse – Armenbegräbnisse, die die Kultusgemeinde finanzierte – folgen chronologisch dicht aufeinander, da die Verstorbenen vermutlich der Reihe nach nebeneinander bestattet wurden, manchmal innerhalb von wenigen Tagen. Die Grabsteine bestehen aus einheitlichen Marmorquadern in unterschiedlichen Farbtönen mit weißen Inschriften, die jeweils mit der Abkürzung „pei-nun“ beginnen, mit der Formel „tantzaba“ schließen und die Chewra Kadisha als Urheber nennen, oft samt Jahr der Errichtung. In der Gruppe 20A finden sich noch aus jüngster Zeit unzählige von der Chewra Kadischa gestiftete Denkmäler, zum Teil bestehend aus einfachen Metalltafeln, zum Teil aus Granitblöcken, die in den Jahren 2016 und 2017 errichtet wurden. Im Vorsaal der Zeremonienhalle hängt heute noch eine „im Monat Tischri 5754“ (September/Oktober 1993) datierte und von dem damaligen Präsidenten der Chewra Kadischa Heinrich Schmidt und dem Vizepräsidenten Max Uri unterzeichnete Mitteilung, die „alle Glaubensgenossen“ dazu aufruft, „von Kranz- und Blumenspenden bei Begräbnissen oder Besuchen am jüdischen Friedhof Abstand zu nehmen und stattdessen, einer alten, ehrwürdigen Tradition folgend, Geldspenden an die Chewra Kadischa zu leisten“. Ein schleierhaftes Denkmal findet sich in der Gruppe 15, in den von den Hauptwegen abgelegenen Reihen 6 und 7, das zu einem unbekannten Zeitpunkt von der Kultusgemeinde gemeinsam mit der Chewra Kadisha für die dort liegenden „Kindergräber“ gestiftet wurde. Die Hintergründe – wer diese Kinder waren, wieso sie keine Grabsteine erhielten und wieso sie in einer kollektiven Grabstätte bestattet wurden – gehen aus der schlichten Inschrift nicht hervor, doch handelt es sich einem Bericht in Die Gemeinde zufolge vermutlich um eine ungenannte Anzahl von „Überreste[n] jener jüdischen Kinder“, die während der NS-Zeit in der „Euthanasieanstalt“ Am Spiegelgrund auf der Baumgartner Höhe im 14. Bezirk ermordet wurden und schließlich 1997 der Kultusgemeinde restituiert und beim IV. Tor bestattet wurden.188 Die Chewra Kadisha ist auch beim I. Tor aktiv, wo sie neben der Errichtung von Grabsteinen auch fehlende oder zerbrochene Inschriftentafeln auf 187 Chewra Kadischa, in: Die Gemeinde, Februar 2007, S. 38. 188 Chewra Kadischa, in: Die Gemeinde, September 1997, S. 47.
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bestehende klassizistische Denkmäler mit billigen Blechtafeln mit schwarzen Inschriften ersetzte, selbstverständlich inklusive der vorgeschriebenen, das Grab als „jüdisch“ kennzeichnenden Formel „pei-nun“. Ein charakteristisches Beispiel findet sich auf dem monumentalem Grabstein des Ehepaars Carl und Rosalia Goldschmiedt (1902 bzw. 1909 verstorben), ein Denkmal aus schwarzem Marmor mit einem klassizistischen Pediment getragen von zwei Säulen, auf dessen Architrav der Familienname steht. Das Denkmal wurde offensichtlich während des Krieges stark beschädigt, danach irgendwann wieder aufgerichtet, mit Beton repariert und mit der Inschriftentafel ergänzt (8-1-26). Die Chewra Kadisha errichtete beim I. Tor auch Gedenktafeln bei den Trümmerhaufen von Grabsteinen, die während der alliierten Luftangriffe gegen Kriegsende zerstört wurden und nicht mehr repariert oder überhaupt zugeordnet werden konnten. Diese liegen bis heute entlang der westlichen Friedhofsmauer. Ab den 1980er-Jahren setzte international wie infolge der WaldheimAffäre innerhalb Österreichs eine bedeutende Wende in Bezug auf die NS-Vergangenheit und insbesondere auf die gegen die jüdische Bevölkerung begangenen Verbrechen ein. Im Zusammenhang mit dem Erinnerungsgeflecht beim IV. Tor sollen hier abschließend noch einige Gedenkaktionen besprochen werden, die aus diesem gesellschaftlichen Wandel hervorgingen und die somit die Auseinandersetzung der breiteren, vorwiegend nichtjüdischen Öffentlichkeit mit den jüdischen Friedhöfen vorausgreifen, die im nächsten Kapitel eingehend besprochen wird. Im Jahre 1992 wurden im Zuge interner Recherchen zur NS-Vergangenheit in den Beständen des Naturhistorischen Museums 28 Schädel und Totenmasken von unbekannten Opfern der Shoah identifiziert, die daraufhin der Kultusgemeinde übergeben wurden.189 Diese Überreste wurden beim IV. Tor in nummerierten Grabstätten in der Gruppe 3 entlang der westlichen Friedhofsmauer bestattet. Eine von der Chewra Kadisha errichtete schwarze Marmortafel an der Friedhofsmauer erklärt die Hintergründe auf Hebräisch und Deutsch, wobei subtile Unterschiede zwischen den beiden Texten herausstechen. Beide Inschriften erwähnen die „28 Schädel“ der (im deutschsprachigen Text) „unbekannte[n] jüdische[n] Märtyrer aus Polen“ bzw. (im hebräischsprachigen Text) der „Märtyrer der Shoah aus Polen“, die laut beiden Texten „das Naturhistorische Museum in Wien im Jahre 1942 von der Universität Posen erwarb“. Diese wurden „nach deren Entdeckung“ laut dem deutschsprachigen Text „der Israelitischen Kultusgemeinde Wien“ übergeben, laut dem hebräischsprachigen Text „an unsere Gemeinde“. Während die hebräischsprachige Inschrift also eine interne jüdische Gemeinschaft anspricht, richtet sich die deutschsprachige an AußenseiterInnen. Charakteristisch wird somit ein innerjüdischer Diskurs 189 Teschler-Nicola/Berner: Die Anthropologische Abteilung, S. 3.
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von einem allgemeinen Dialog mit der nichtjüdischen Umwelt durch die Verwendung der hebräischen Sprache abgegrenzt. Darüber hinaus berichtet die Inschrift in beiden Sprachen, dass sich hier „auch 3 Schädel“ befinden, „welche auf dem Zentralfriedhof, I. Tor, gefunden wurden“. Die Umstände dieses Funds sowie der Grund, wieso sie von dem einen jüdischen Friedhof auf den anderen überführt wurden, werden nicht erläutert. An dieser Stelle schließt die hebräischsprachige Inschrift noch mit der traditionell religiösen Formel tantzaba und dem Datum im jüdischen Kalender. Die deutschsprachige Inschrift verweist hingegen auf die Urheberin der Tafel: „Chewra Kadischa Wien Jänner 1992 / Errichtet vom Steinmetzbetrieb I. u. P. [Jiri und Pavel] Schreiber 1993–94“. Im Jänner 2000 wurde an dieser Stelle infolge der Überführung von weiteren Knochenresten aus dem Naturhistorischen Museum eine weitere Tafel errichtet. Hierbei handelte es sich, wie die Inschrift erklärt, um 19 Männer und Frauen, deren sterbliche Überreste am Ende des 19. Jahrhunderts von Dr. August Weisbach, einem Arzt der k.k. Armee [sic, richtig: k.u.k., da gemeinsam österreichisch-ungarisch], aus jüdischen Friedhöfen in Konstantinopel und anderen jüdischen Gemeinden Europas in missverstandener wissenschaftlicher Absicht enterdigt und in seine anthropologische Sammlung aufgenommen wurden, später an das Naturhistorische Museum gelangten und nunmehr hier zur ewigen Ruhe gebettet wurden.190
Obwohl auf dieser Tafel keine hebräischsprachige Inschrift angebracht wurde, trägt sie in der oberen rechten Ecke die vorhin erwähnte streng orthodoxe Formel „bet-samech-dalet“ (mit der Hilfe des Himmels). Der jüdische Partikularismus, der hier zum Ausdruck kommt, wird unterstrichen durch die Nennung des Datums in lateinischen Buchstaben und arabischen Ziffern aber ausschließlich im jüdischen Kalender: „Wien, im Monat Schwat 5760“. In der Gruppe 23 steht schließlich ein undatiertes, vom Aussehen her zu beurteilen aber äußerst rezentes Denkmal in Form eines massiven Doppelgrabsteins aus schwarzem Marmor mit einer weißen, ausschließlich deutschsprachigen Inschrift. Diese verkündet: Hier ruhen die sterblichen Überreste von namentlich nicht bekannten Opfern der nationalsozialistischen Justiz, deren Körper für Zwecke der Forschung und Lehre im anatomischen und in anderen Instituten der medizinischen Fakultät der Universität Wien unrechtmässig verwendet worden sind. Die Universität Wien bedauert diese schuldhafte Verstrickung zutiefst und gedenkt in Ehrfurcht dieser Menschen.
190 Vgl. zum Hintergrund Teschler-Nicola/Berner: Die Anthropologische Abteilung, S. 6–7.
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Es werden jedoch keine Namen oder Daten genannt. Diese Denkmäler veranschaulichen gesammelt die – sehr spät eingesetzte – Auseinandersetzung wissenschaftlicher Institutionen in Wien mit ihrer tiefen Verstrickung in den Gräueltaten des Nationalsozialismus, durch dessen mörderischem Antisemitismus sie in Form etwa von Präparaten profitierten, die zum Teil noch Jahrzehnte nach Ende der NS-Herrschaft in Österreich wissenschaftlich verwertet wurden.191 War es aber bei den früheren Denkmälern in den 1990er-Jahren noch die Kultusgemeinde bzw. die Chewra Kadisha selbst, die an den Grabstätten der restituierten Leichenreste ein Gedenkzeichen setzte, so deutet das vermutlich in jüngster Zeit von der Universität Wien gestiftete Denkmal von einer nun aufrichtigeren Auseinandersetzung mit den seitens der Institution vergangenen Verbrechen. Wie die hier aufgedeckte Matrix sowohl der kollektiven wie der gesammelten Erinnerung beim IV. Tor veranschaulicht, stellt der Bestattungsraum beim IV. Tor zweifellos einen der wichtigsten jüdischen Erinnerungsorte für das Gedenken an die Shoah in der Zweiten Republik dar, vor den 1980er-Jahren sogar den wichtigsten. Ein Vergleich mit dem Neuen Israelitischen Friedhof in München birgt einen spannenden Unterschied und zugleich eine spannende Parallele: Sollte es in Wien nämlich Jahrzehnte dauern, bis seitens der Stadt dem Genozid an der lokalen jüdischen Bevölkerung in Form eines Shoahdenkmals gedacht wurde, ließ die Stadt München bereits 1946 im Zuge allgemeiner Instandsetzungsarbeiten ein Shoahdenkmal am Neuen Israelitischen Friedhof errichten. Zeugt dies von einer ungewöhnlich frühen Anerkennung der begangenen Verbrechen seitens der postnazistischen Münchner Stadtverwaltung, so deutet nichtsdestotrotz die Errichtung eines Shoahdenkmals am dortigen jüdischen Friedhof von der damals grundlegenden Annahme, dass die Erinnerung der Shoah eben Sache der Judenheit, nicht der nichtjüdischen Mehrheit sei – und zugleich, dass der zentrale Ort dieser „jüdischen“ Erinnerung, wie es in Wien Jahrzehnte lang der Fall war, eben der jüdische Friedhof darstelle.192 Hat sich in Wien in den letzten Jahrzehnten der Fokus der Erinnerungstätigkeit sowohl auf jüdischer wie nichtjüdischer Seite weitgehend in die Stadt zurück verlagert – bezeichnenderweise weg von der Nachbarschaft der Toten und zurück in die Nachbarschaft der Lebenden, als lebendige Erinnerung in den veränderten Gegebenheiten der österreichischen Gesellschaft nach der Waldheim-Affäre – so überdauern die über Jahrzehnte diachron errichteten 191 Vgl. Czech, Herwig: Forschen ohne Skrupel. Die wissenschaftliche Verwertung von Opfern der NS-Psychiatriemorde in Wien, in: Gabriel, Eberhard/Neugebauer, Wolfgang (Hg.): Von der Zwangssterilisierung zur Ermordung. Zur Geschichte der NS-Euthanasie in Wien, Teil II, Wien 2002. 192 Vgl. Schubsky: Jüdische Friedhöfe, S. 188.
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Denkmäler, die großen wie die kleinen, am Friedhof bis heute und ermöglichen somit synchron, palimpsestartig im gegenwärtigen Friedhofsraum das Nachvollziehen der komplexen Entwicklung der kollektiven und gesammelten jüdischen Erinnerung über mehrere Generationen seit 1945. Dieser Ort ist aber nach wie vor primär ein Bestattungsraum, und es entstanden somit seit 1945 tausende zusätzliche Denkmäler an diesem Ort, wenn man die einzelnen Grabsteine dazu zählt. Diese weisen sehr ähnliche Prozesse wie die großen, gemeinschaftlichen Erinnerungszeichen auf, so etwa eine stetige Orthodoxisierung der Gemeinschaft nach 1945. Doch sie zeugen auch von einer fortbestehenden Heterogenität unter der Judenheit der Zweiten Republik, die von den großen gemeinschaftlichen Denkmälern weitgehend überdeckt wurde. 9.4
Zwischen Friedhofsamt, Rabbinat und Gerichtshof. Die umstrittene Orthodoxisierung der Wiener jüdischen Sepulkralpraxis unter Ernst Feldsberg
Das Friedhofswesen zählte in der Nachkriegszeit nach wie vor zu einem der wichtigsten Aufgabenkreise der jüdischen Gemeindeverwaltung. So arbeiteten beispielsweise im Jahre 1964 von 72 Kultusgemeindeangestellten 11 am Friedhof, die meisten von ihnen beim IV. Tor. Dieser Bestattungsraum stellte in der Nachkriegszeit den Mittelpunkt des jüdischen Bestattungswesens in Wien dar, wie auch aus den Zahlen hervorgeht: So fanden zwischen 1960 und 1964 von insgesamt 1.035 Bestattungen in den Friedhöfen der Kultusgemeinde 883 beim IV. Tor statt. Hingegen gab es 147 Beisetzungen beim I. Tor sowie 5 Bestattungen in „anderen“, ungenannten Friedhöfen, womit vermutlich Provinzfriedhöfe in Niederösterreich oder dem Burgenland gemeint waren, die sich seit 1945 in der Obhut der Wiener Kultusgemeinde befinden. In diesem Zeitraum fanden auch 22 Exhumierungen statt, größtenteils Überführungen von sogenannten „nichtarischen ChristInnen“ aus der NS-Zeit auf nichtjüdische Friedhöfe. In den restlichen Fällen handelte es sich um Überführungen nach Israel. Das Friedhofswesen stellte so viele Anforderungen, dass sich die Kultusgemeinde in diesen Jahren über einen andauernden Arbeitskräftemangel beschwerte: Wiederholt mußte die freiwillige Hilfe von Mitgliedern der Kultusgemeinde, vor allem bei rituellen Waschungen, in Anspruch genommen werden, weil für diese Zwecke Angestellte oder Bedienstete einfach nicht zur Verfügung standen. Es war der Präsident der Kultusgemeinde selbst, der sich, wann immer es notwendig war, für solche frommen Zwecke zur Verfügung gestellt hat.193
193 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Tätigkeit [1964], S. 27, 179–180.
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Der Präsident zu dieser Zeit war Ernst Feldsberg, der jahrelang das Friedhofsamt der Kultusgemeinde geleitet hatte und der sich weiterhin nach der Shoah, nun als führender Kultusgemeindefunktionär, unermüdlich für die Sache der jüdischen Friedhöfe einsetzte. Unter Feldsberg erfuhr die jüdische Sepulkralpraxis in Wien einen gewaltigen Schub in Richtung Zentralisierung und Orthodoxisierung, der sie nachhaltig prägen sollte, jedoch so umstritten war, dass es in einzelnen Fällen sogar zu gerichtlichen Prozessen gegen die Kultusgemeinde kam. Spannungen rund um Fragen der Religiosität, der „jüdischen“ Praxis sowie allgemeiner der Zugehörigkeit zum Judentum bzw. zur jüdischen Gemeinschaft prägten die Kultusgemeinde bereits seit ihrer Gründung im 19. Jahrhundert. Als die Statuten der Kultusgemeinde infolge des Erlasses des Israelitengesetzes in den 1890er-Jahren endlich festgeschrieben wurden, hatte der damalige Kultusgemeindepräsident Alfred Stern noch bemerkt, dass „ein die rituellen Vorschriften nicht beachtender Jude“ zwar „nicht beanspruchen“ dürfte, „Functionen, welche auf diesen Vorschriften beruhen, zu vollziehen, aber“, so der wesentliche Punkt, „seine Zugehörigkeit zum Judenthume [wurde] durch diesen Umstand nicht beeinträchtigt“.194 In der Nachkriegszeit war die Zugehörigkeit jenseits der religiösen Orthodoxie – bzw., wie im Falle der Exhumierungen aus dem Döblinger Friedhof ersichtlich wurde, der Abstammung nach orthodoxen Kriterien – nicht mehr so selbstverständlich. Heute hängt beim IV. Tor – und sonst an keinem der jüdischen Friedhöfe Wiens – ein Aushang, der die Funktion des Ortes sowie die Erwartungen gegenüber den FriedhofsbesucherInnen deutlich umreißt: „Israelitische Kultusgemeinde Wien. Dieser Friedhof ist ein Ort des Gedenkens. Sportliche und sonstige Freizeitaktivitäten sind zu unterlassen! Aus Gründen der Pietät und der Wahrung der Besonderheit des Ortes ersuchen wir um Verständnis.“ Ein weiterer, mit Davidsternen interpunktierter Aushang verkündet: Jüdischer Friedhof. An Samstagen und an jüdischen Feiertagen ist der Friedhof geschlossen! Aus religiösen Gründen können Männer nur mit Kopfbedeckung den Friedhof besuchen! Radfahren ist am Friedhof nicht gestattet! Es gibt keinen Durchgang zu anderen Friedhöfen! Besten Dank für Ihr Verständnis! Friedhofsverwaltung.
Noch pointierter verkündet daneben ein metallenes Schild: „Aus religiösen Gründen ist für Personen männlichen Geschlechtes das Betreten des Friedhofes ohne Kopfbedeckung verboten.“ Hierdurch wird unmissverständlich der „jüdische“ Charakter dieses Ortes zum Ausdruck gebracht, inklusive des Hinweises auf die bereits seit seiner 194 Stern: Motiven-Bericht, S. 7–8.
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Errichtung im Ersten Weltkrieg geltende Tatsache, dass dies trotz seines irreführenden Beinamens als „IV. Tor“ ein geschlossener, vom restlichen Zentralfriedhof abgegrenzter und autonom verwalteter Raum ist. Als 1950 die Magistratsabteilung 43 bei der Kultusgemeinde beantragte, für den erweiterten Zugang zum Zentralfriedhof im jüdischen Friedhof „zwei Eingänge in die rückwärtige Mauer und eines Einganges in die an den evangelischen Friedhof grenzende Mauer“ einzubauen, lehnte dies die Kultusgemeinde formell mit der Begründung ab, dass „die Gärtner von Simmering […], wenn diese drei Tore vorhanden wären, mit ihren Handwagen und Pferdefuhrwerken durch unseren Friedhof fahren [würden], worunter die ohnedies schwer beschädigten Friedhofsstrassen sehr leiden würden“.195 Dadurch wurde allerdings auch der segregierte Charakter des Raums als abgeschlossener jüdischer Friedhof bewahrt, der ausschließlich der Obrigkeit der Kultusgemeinde unterstand, ganz im Gegensatz zur Sachlage in der alten jüdischen Abteilung beim I. Tor, die nach wie vor komplett in die allgemeine Anlage des Zentralfriedhofs integriert ist und nicht zuletzt deshalb wohl deutlich mehr BesucherInnen anzieht als die neue Abteilung beim IV. Tor. Das Verbot des Radfahrens am Friedhof unterstreicht seine Bedeutung als Trauer- und Erinnerungsort, insbesondere infolge der Shoah – wobei es aber auch im allgemeinen Zentralfriedhof wiederholt Streit gibt um seine Benützung als Sport- und Erholungsraum durch die lokale Bevölkerung.196 Hingegen ist das Gebot, dass männliche Besucher beim IV. Tor eine Kopfbedeckung zu tragen haben, als Ausdruck des inzwischen fest verankerten orthodoxen Selbstverständnisses der Kultusgemeindeorganisation zu verstehen. Dass viele Angehörige wie auch befugte Friedhofsarbeiter augenscheinlich diesem Gebot nicht folgen – ganz zu schweigen von dem Umstand, dass viele Juden in Wien wie anderswo grundsätzlich keine religiöse Kopfbedeckung tragen – ändert freilich nichts am Grundgedanken. Die Beschilderung hat ihren Ursprung in wiederholten Initiativen von Ernst Feldsberg Mitte der 1950er-Jahre, als er noch Vizepräsident der Kultusgemeinde war. Im Herbst 1955 beschwerte er sich bei der Amtsdirektion, dass die Besucher des Zentralfriedhofes 4. Tor (nicht nur Andersgläubige) den Friedhof ohne Kopfbedeckung besuchen. Man verlangt von uns, dass wir vor Religionsvorschriften anderer Kirchen jeden Respekt haben. Wie würde die katholische Kirche reagieren, wenn
195 An die Magistratsabteilung 43 (Friedhöfe), 19. Dezember 1950, AIKGW, A/VIE/IKG/II/AD/1, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 196 Siehe z. B. jüngst: Aufregung um Laufstrecken am Zentralfriedhof, in: Der Standard, 18. April 2019, https://www.derstandard.at/story/2000101678585/aufregung-um-laufstreckenam-zentralfriedhof, letzter Zugriff: 31. August 2020.
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Juden, die aus religiösen Gründen dauernd Kopfbedeckung tragen, diese auch beim Betreten einer Kirche aufbehalten würden. Es ist nicht statthaft, dass bei Begräbnissen Personen erscheinen, welche keine Kopfbedeckung haben.
Feldsberg gab an, „wiederholt von Friedhofsbesuchern gebeten“ worden zu sein, „beim Eingang des Friedhofes eine Tafel anzubringen“, um männliche Besucher zur Kopfbedeckung aufzufordern, eines von vielen Beispielen, in denen Feldsberg die Forderungen von offensichtlich orthodoxen Kultusgemeindemitgliedern als Argument für die Durchsetzung seiner Wünsche instrumentalisierte. In seinem Schreiben forderte er ebenfalls das Friedhofspersonal auf, sie möge eine „Abweisung“ an jene Besucher erteilen, die diesem Gebot nicht folgten. Feldsberg beschwerte sich aber auch über die Friedhofsangestellten selbst, die wiederholt ohne Kopfbedeckung bei Leichenfeiern erschienen.197 Im folgenden Jänner wiederholte Feldsberg seine Forderung nach einem entsprechenden Aushang und legte nach, dass der Portier belehrt werden solle, „in höflicher Form die Parteien zu ersuchen, das religiöse Gebot der Kopfbedeckung zu beachten“. Dem Portier standen „kleine Käppchen“ zur Verfügung, die er Besuchern bei Bedarf auszuhändigen hatte. Sollten diese die Kopfbedeckung verweigern, so sei „diese Tatsache sofort der Kanzlei durch den Portier zu melden“ (Hervorhebung im Original), die sodann die Polizei zu verständigen hatte, „da in einem solchen Falle eine bewusste Religionsstörung vorliegt, die strafrechtlich zu verfolgen ist“.198 Eine Beschilderung empfand er weiterhin als „äußerst dringend“ und beteuerte nochmals: Ich werde wiederholt von orthodoxer Seite angegangen, doch endlich dafür zu sorgen, daß bei unseren Zeremonien in gleicher Weise die Gebote des Glaubens respektiert werden, wie bei den katholischen Zeremonien auf den anderen Friedhöfen. Was würde einem Juden geschehen, der es wagen würde, in der Einsegnungshalle beim 2. Tor den Hut auf den Kopf zu lassen? Das gleiche Recht der Achtung, [sic] verlangen wir auf dem Zentralfriedhof, 4. Tor.199
Scheint Feldsbergs Forderung nach gegenseitiger Achtung zuerst durchaus nachvollziehbar – insbesondere in Hinblick auf die gewaltige und gewalttätige Ausgrenzung, der die Wiener Judenheit vor knapp über einem Jahrzehnt ausgesetzt war – so war sein Vergleich in Wahrheit nicht zutreffend, da der allgemeine Zentralfriedhof schon seit seiner Gründung einen überkonfessionellen Raum darstellt und nicht zwingend „katholisch“ verwaltet wird. Zudem
197 An die Amtsdirektion, 12. Oktober 1955, AIKGW, A/VIE/IKG/III/Präs/1/5. 198 An das Friedhofsamt, 5. Jänner 1956, AIKGW, A/VIE/IKG/III/Präs/1/5. 199 An die Technische Abteilung, 8. März 1956, AIKGW, A/VIE/IKG/III/Präs/1/5.
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ist es fraglich, ob es zu dieser Zeit überhaupt eine bedeutende Anzahl von nichtjüdischen BesucherInnen im Friedhof beim IV. Tor gab. Somit war Feldsbergs Forderung wohl eher gegen die nichtorthodoxen bzw. nichtreligiösen jüdischen Besucher gerichtet. Das Thema Kopfbedeckung veranschaulicht hier eindringlich die Gleichsetzung von „Judentum“ mit orthodoxer Praxis, die Feldsbergs Friedhofsreformen in jenen Jahren durchwegs prägte. Gleich hinter dem Eingangstor, vor der monumentalen Zeremonienhalle, steht eine Tafel aus schwarzem Marmor mit der Aufforderung: „Wer 30 Tage nicht auf dem Friedhof war sagt diesen Segenspruch nahe beim Grab“, worauf ausschließlich auf Hebräisch der aus Brachot 58,2 abgeleitete brachot beit ha’almin (Segen für den Friedhof) folgt. Die Tafel wurde von der Chewra Kadisha zu „Rosh Hashanah 5736“ errichtet, den 6. September 1975. Das Datum im gregorianischen Kalender wird hier aber nicht genannt, nur das Jahr nach dem jüdischen Kalender in arabischen Ziffern. Diese Tafel greift somit ebenfalls der größten Tendenz der Sepulkralepigraphik beim IV. Tor in der Nachkriegszeit vor, nämlich dem Übergang zur orthodox-religiösen Observanz, der Rückkehr hebräischsprachiger Sepulkralepigraphik sowie der weitgehenden Beschränkung des dazugehörigen Diskurses auf religiös-partikularistische, innerjüdische Inhalte. Dadurch wird nicht zuletzt der Charakter dieses nun durchwegs sakralisierten Raums als explizit „jüdischen“ Raum herausgestrichen – wenngleich sich die Geister sowohl nach wie auch vor der Shoah darüber schieden, was unter „Jüdischkeit“ zu verstehen war. Hauptauslöser der mitunter rechtlichen Auseinandersetzungen um die Bestattung beim IV. Tor, die die Kultusgemeinde vor allem in den späten 1950erJahren plagten und die wiederum aus innerjüdischen Auseinandersetzungen um die Definition der „Jüdischkeit“ und – damit verbunden – der Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft hervorgingen, war die Frage nach der Beisetzung in bestehende Familiengräber. Die Beisetzung einer Leiche in einer bestehenden Grabstätte kann bereits auf persönlicher, familiärer Ebene ein explosives Konfliktpotenzial beinhalten, wie ein Beispiel aus dem Jahre 1940 zeigt: Im Herbst schrieb der 1887 geborene Alfred Raimund Kommer an das Friedhofsamt in Bezug auf die Grabstätte seines 1899 verstorbenen Vaters Heinrich Kommer – ein wie damals üblich für mehrere Leichen angelegtes Familiengrab beim I. Tor (50-12-38). Im Frühjahr hatte Alfred „aus ganz bestimmten Gründen“ eine „Sperre“ auf die Beisetzung der zweiten Ehefrau seines Vaters, die im Jänner 1940 verstorbene Magdalena Kommer, erwirken können, hatte aber zehn Jahre zuvor gesetzlich nicht verhindern können, dass deren gemeinsamer Sohn, sein Halbbruder Siegfried (1930 verstorben) in diesem Grab beigesetzt wurde – offensichtlich verstand sich Alfred nicht mit der neuen Familie seines verstorbenen Vaters. Magdalena wurde in ein eigenes Grab beim I. Tor bestattet (20-5-38).
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Nun beschwerte sich Alfred, weil die Schwiegermutter und Schwägerin seines Halbbruders Siegfried im Familiengrab beigesetzt werden wollten. Alfred bemerkte dazu: „Ich würde nie und nimmer dulden, daß sich fremde Leute in das Grab meines verstorbenen Vaters beilegen lassen.“200 Laut der Friedhofsdatenbank wurde auch niemand mehr in dieser Grabstätte beigesetzt, vermutlich weil die hier ungenannten Angehörigen geflüchtet waren oder in der Shoah ermordet wurden. Alfred Raimund Kommer selbst wurde 1942 nach Maly Trostinec deportiert und dort ermordet. Dieses Beispiel zeigt, dass die Beziehungen bzw. die Konflikte der Lebenden ihnen oft in den Tod folgten. Die Anlage des Friedhofs ist demnach mitunter ein Produkt der gesellschaftlichen Verflechtungen der ehemals Lebenden, da die Bestattung nicht nur von überragenden kollektiven Identifikationsmustern geprägt wird, sondern auch einen zutiefst persönlichen, emotionalen Stellenwert für die Nachkommen hat. Wo angespannte Diskurse zur kollektiven Identifikation mit persönlichen, emotional beladenen Geschichten kollidieren, entsteht zwangsläufig Konflikt. Ausgangspunkt seitens der Kultusgemeinde für den sich in den 1950er-Jahren zuspitzenden Konflikt rund um die Frage der Beisetzung in bestehende Familiengräber waren die Bestattungen von hunderten christlichen Verstorbenen während der NS-Zeit beim IV. Tor, wie es Ernst Feldsberg 1951 in einem Bericht festhielt, „welche rassemässig als Juden“ galten, also den Nürnberger Gesetzen zufolge als „jüdisch“ verfolgt wurden, sowie von „Nichtglaubensjuden“, wie sie Feldsberg nannte, also Konfessionslosen, die ebenfalls den Nürnberger Gesetzen zufolge „jüdisch“ waren.201 Feldsbergs Hinweis auf „Rasse“ sowie seine Verwendung des widersprüchlichen Konzepts „Nichtglaubensjuden“ (sofern man „Jüdischkeit“ religiös, und nicht nach Abstammung definiert), stellen eine problematische Aneignung von NS-Diskursen dar, mit denen Feldsberg als damaliger Friedhofsamtsleiter vertraut gewesen war. Auch andere Organe der Kultusgemeinde verwendeten nach 1945 diese in den frühen 1940er-Jahren zwangsweise in das jüdische Verwaltungswesen eingeführten Begriffe. So findet sich beispielsweise im Kultusgemeindearchiv eine „Liste der in Wien lebenden Glaubensjuden“ aus dem Jahre 1946.202 Auch in der ersten Ausgabe von Die Gemeinde im Herbst 1948 wurde eine „Liste der im Juli 1948 verstorbenen Glaubensjuden“ veröffentlicht.203 Dieser Wortlaut wurde allerdings bereits in
200 An das geehrte Friedhofamt, 15. September 1940, CAHJP, HMB/2979. 201 An das Friedhofsamt der Israelitischen Kultusgemeinde, 10. August 1951, AIKGW, A/VIE/IKG/III/FH/108/8. 202 Liste der in Wien lebenden Glaubensjuden, 1946, AIKGW, A/VIE/IKG/III/NAM/4, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 203 Liste der im Juli 1948 verstorbenen Glaubensjuden, in: Die Gemeinde, September 1948, S. 14.
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der folgenden Ausgabe im Oktober weggelassen: Die Rubrik hieß fortan bloß „Todesfälle“.204 Hier ging es offensichtlich nicht bloß um eine semantische Spitzfindigkeit, wie gerade im Bereich des Friedhofswesens bald deutlich werden sollte. So verfasste Feldsberg im Frühjahr 1955 eine interne Stellungnahme zur „Frage der Bestattung nicht-jüdischer Ehegatten auf einem jüdischen Friedhof “, wobei aber, wie sich herausstellen sollte, auch jene einbezogen wurden, die aus (teil-) jüdischen Familien stammten und oft in ihrer Selbstdefinition jüdisch waren, aber nach Definition der Kultusgemeinde nicht als religiös bzw. überhaupt als „jüdisch“ galten. Konkreter Ausgangspunkt dieser Diskussion in der Wiener jüdischen Sepulkralkultur war ein halachischer Streit zwischen dem berühmten, nach der Shoah in London angesiedelten liberalen Rabbiner Leo Baeck aus Deutschland und dem jedenfalls in nichtjüdischen Kreisen weniger bekannten, nach der Shoah in Montreaux in der Schweiz angesiedelten orthodoxen Rabbiner Jechiel Jaakov Weinberg aus Polen. Weinberg vertrat die Ansicht, dass unter keinen Umständen nichtjüdische Verstorbene in einem jüdischen Friedhof zur Bestattung gelangen sollten, während Baeck für eine differenziertere Anschauung eintrat. Zu Beginn seiner Stellungnahme hierzu, die er der Amtsdirektion der Kultusgemeinde mitteilte, schien sich Feldsberg auf die liberale Seite Baecks zu schlagen (den er hier fehlerhaft als „Dr. Bäck“ anführte), den er „zu den grössten Kennern des Talmuds und aller anderen jüdischen Werke“ zählte und der infolge „in der ganzen Welt uneingeschränkte Anerkennung“ fand. Den „Rabbiner Dr. J. Weinberg“ kannte Feldsberg nicht, stellte aber fest, dass dieser „sich auf jeden Fall mit dem Wissen des Herrn Oberrabb[iner] Dr. Bäck nicht messen“ konnte. Feldsberg zufolge hatte Baeck „festgestellt, dass sich im Schulchan Aruch“, der als Standardwerk der Halacha gilt, „keine Stelle befindet, aus der hervorgeht, dass es verboten ist, einen nicht-jüdischen Ehegatten auf dem jüdischen Friedhof zu bestatten“, und dass solche Beisetzungen infolge seinerzeit in Berlin „gestattet“ waren. Weinberg hätte gegen diesen Befund „polemisiert“, jedoch „weder im Schulchan Aruch, noch im Talmud“ ein entsprechendes Verbot finden können, außer an einer Stelle im Traktat Sanhedrin, die die Bestattung eines „Religionsverächter[s] neben einen Frommen“ verbot. „Angehörige einer anderen Glaubensgemeinschaft“ konnten Feldsberg zufolge „keineswegs“ als „Religionsverächter“ abgestempelt werden, so dass Weinberg seine Argumentation darauf hatte „beschränken müssen, dass der Zweck der konfessionellen Friedhöfe ja darin besteht, ihre Glaubensangehörigen auf diesen Friedhöfen zu beerdigen“, sprich: nur ihre Glaubensangehörigen, und keine anderen. Feldsberg fuhr in seiner Stellungnahme fort: 204 Todesfälle, in: Die Gemeinde, Oktober 1948, S. 14.
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In Wien gibt es auch katholische konfessionelle Friedhöfe, über die nur die zuständige Pfarre verfügt. Auf diesen Friedhöfen werden Andersgläubige nicht bestattet. Allerdings wird die Beilegung eines Andersgläubigen in jedem einzelnen Falle bewilligt. Auch wir müssen in Grüften auf Grund gesetzlicher Bestimmungen Andersgläubige beerdigen.
Hatte sich Feldsberg bis hierhin explizit auf Baecks Seite geschlagen, so kippte seine Stellungnahme hiernach in genau die gegensätzliche Richtung, sodass er eigentlich schließlich dem Rabbiner Weinberg, wenigstens in Hinblick auf die konkrete Situation in Wien, doch recht gab: Während er sich ausdrücklich „weit davon entfernt“ sah, „die Ansichten des Herrn Dr. Weinberg in jeder Beziehung für richtig zu halten“, würde Feldsbergs Ansicht nach „die Frage der Beisetzung nicht-jüdischer Ehegatten auf dem jüdischen Friedhof […] nur dann wirklich ernstlich diskutiert werden müssen, wenn es keine Möglichkeit geben würde, beide Ehegatten auf einen anderen Friedhof in einem Grabe zu bestatten“. In anderen Worten sah Feldsberg keinen Grund, jene Verstorbenen, die seiner Ansicht nach „nicht-jüdisch“ waren (die Definition dessen sollte im weiteren Verlauf des Konflikts auch der entscheidende Punkt sein), im jüdischen Friedhof zu bestatten, so lange die Möglichkeit bestand, sie, gegebenenfalls samt ihren jüdischen GattInnen, in einem anderen Friedhof zu bestatten. Er zählte demonstrativ eine Reihe von städtischen Friedhöfen auf, in denen „alle Glaubensangehörigen ohne Unterschied begraben und eingesegnet werden“ konnten. Also musste folglich „die Kultusgemeinde an der Tradition festhalten, dass auf unseren Friedhöfen nur Glaubensangehörige bestattet werden können“. Er schloss mit der Feststellung: „Die übrigen Argumente des Herrn Dr. Weinberg passen zur Unduldsamkeit der Orthodoxie, mit der ich mich aus Prinzip nicht mehr befasse.“205 Stellt die hier geschilderte halachische Auseinandersetzung zwischen den beiden Rabbinern eben die Unergründlichkeit einer „wahren jüdischen Tradition“ zur Schau, wie hier in Kapitel 2 in Bezug auf die jüdische Sepulkralkultur eingehend diskutiert wurde, so ist Feldsbergs Positionierung in diesem Aktenstück mindestens zweideutig, wenn nicht durchwegs bizarr, lehnte er doch explizit und in kompromisslosen Worten die Kompetenz sowie die „intoleranten“ Ansichten des orthodoxen Rabbiners Weinberg ab, um dann schließlich doch dessen prinzipiellen Standpunkt im eigenen Haushalt zu vertreten und sogar als verpflichtende Vorschrift zu fordern. Dabei muss allerdings festgehalten werden, dass sich keine Hinweise finden, dass vor der Shoah jemals wie auch immer definierte „Nichtjüdinnen“ und „-juden“ in den Wiener jüdischen Friedhöfen bestattet wurden. Wenn dies doch geschah, dann kam es einfach nie zur Diskussion. 205 An die Amtsdirektion, 10. Mai 1955, AIKGW, nicht katalogisierter Bestand.
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Die Frage nach der Bestattung von „nichtjüdischen“ GattInnen in jüdischen Friedhöfen – wobei wiederholt werden muss, dass die semantische Trennung zwischen „jüdisch“ und „nichtjüdisch“ keineswegs ontologisch eindeutig ist – stellte ein allgemein vielbesprochenes Thema im europäischen Judentum in der Nachkriegszeit dar. Der wohlgemerkt orthodox ausgerichtete Landesrabbiner von Hessen, Ernst Roth, hielt in seinen einflussreichen Artikeln zur Halacha rund um die jüdische Sepulkralpraxis fest: „Man hört nämlich sehr oft, daß der nichtjüdische Ehepartner – trotz vieler Unannehmlichkeiten [gemeint war während der NS-Zeit] – an der Seite der jüdischen Partei ausharrte; d. h. es wäre angebracht, daß beide im jüdischen Friedhof beerdigt werden sollen.“ Manche jüdischen Gemeinden richteten infolge dessen eine besondere Abteilung für „Mischehen“ ein – man beachte auch hier die unreflektierte Übernahme des NS-Diskurses – was Roth aber ablehnte, „da der gesamte Friedhof, auch der unbelegte Teil, einen einheitlichen Charakter hat“. Überhaupt lehnte Roth grundsätzlich jeden Kompromiss ab, denn ihm zufolge verbot die Halacha die Bestattung aller „Nichtjüdinnen“ und „-juden“ in jüdischen Friedhöfen – inklusive wohlgemerkt jener Verstorbenen, die einen jüdischen Vater, aber eine nichtjüdische Mutter hatten.206 Hiermit kommen wir auf den wesentlichen Punkt der Diskussion, nämlich die Definition der Zugehörigkeit zum Judentum bzw. der Aneignung eines vermeintlich religionsgesetzlichen Diskurses zur bewussten Ausgrenzung jener Personen innerhalb der Gemeinschaft, die seitens der Orthodoxie als nicht zugehörig betrachtet werden – was nicht zuletzt viele jener Gruppe betrifft, die während der NS-Zeit als sogenannte „Mischlinge“ verfolgt wurden, von denen viele sich aber auch selbst als jüdisch definierten. Schließlich ist dies also eine Frage der auferlegten versus der erkorenen Identifikation. Dass Menschen, die nur einen teiljüdischen Hintergrund besaßen, unter dem Nationalsozialismus auch als „jüdisch“ verfolgt wurden, tat freilich nichts zur Sache. Dass darüber hinaus die Halacha, wie in der oben zitierten Diskussion zwischen Leo Baeck und Jechiel Jaakov Weinberg offenbar wurde, kein einheitliches „Religionsgesetz“ darstellt, wie oft fälschlicherweise in der Forschungsliteratur zu jüdischen Friedhöfen behauptet wird, so etwa in puncto matrilinearer Abstammung, sondern ein breites und sich ständig weiterentwickelndes Korpus an Auslegungen der jüdischen Religion, die sich frei nach Weltanschauung unterscheiden, kommt in solchen Diskussionen meist nicht zum Vorschein, wenngleich diese Interpretierbarkeit der Religionsauslegung solche Auseinandersetzungen erst hervorruft. Mit Bezug auf Wien erinnert dieser Diskurs eindringlich an die Konflikte rund um den „jüdischen Charakter“ beim IV. Tor aus der Zwischenkriegszeit: 206 Roth: Zur Halachah des jüdischen Friedhofs, S. 114–115.
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Erhielt damals die Orthodoxie als Kompromiss eine eigene Abteilung, in der sie nach ihren strengen Ansichten der jüdischen „Tradition“ ihre eigene Sepulkralpraxis entfalten konnte, so erhob die Orthodoxie in der Nachkriegszeit Anspruch auf den gesamten jüdischen Friedhof. Dass es in Wien nur eine anerkannte Kultusgemeinde und nur einen aktiv belegten jüdischen Friedhof für alle sich als „jüdisch“ definierenden WienerInnen gibt, nimmt in diesen Diskussionen kaum Raum ein. Gerade diese hegemonialen Ansprüche der Orthodoxie über das gesamte Gemeindewesen – inklusive der Sepulkralpraxis – waren es aber, die in Bezug auf Letzteres bald rechtliche Folgen nach sich ziehen sollten. Im September 1956 schrieb der Rechtsanwalt Victor Deutsch direkt an Ernst Feldsberg mit einem Ersuchen der Familie, die Urne der im Sommer zuvor verstorbenen Anna Fuchs, geborene Rohs, im Grab ihres bereits 1921 verstorbenen Mannes Alexander Fuchs beim IV. Tor beisetzen zu lassen (11-2-13). Zu dieser Zeit befand sich ihre Asche in einem Urnengrab bei der Feuerhalle (3-2-9-316). Deutsch begründete die Beisetzung wie folgt: Frau Anna Fuchs musste aus familiären Gründen zum Katholizismus übertreten, hat jedoch nach den von mir gepflogenen Erhebungen und erteilten Auskünften alles getan, um [während der NS-Zeit] verfolgten Juden beistehen zu können. Bevor sie starb, war es ihr innigster Wunsch, dass sie im Grab ihres geliebten Mannes am Zentralfriedhof 4. Tor […] beigesetzt werde.
Diesen „Herzenswunsch“ zu erfüllen, betrachtete der Rechtsanwalt, der ebenfalls Mitglied der Kultusgemeinde gewesen zu sein scheint, als Akt der „Pietät“.207 Feldsberg lehnte die Anfrage kurzerhand ab, denn „[d]ie Beerdigung von Nichtglaubensjuden auf dem jüdischen Friedhof ist ausgeschlossen. Der Friedhof der Kultusgemeinde ist ein konfessioneller Friedhof “. Man beachte hier wieder die Verwendung des NS-Begriffs „Nichtglaubensjude“, durch den Feldsberg zwar signifikanterweise die jüdische „Abstammung“ der zum Katholizismus übergetretenen Verstorbenen anerkannte, jede weitere Zugehörigkeit zur Judenheit aber – auch ihrem jüdischen Ehemann zum Trotz, dem sie scheinbar durch die gesamte NS-Zeit beigestanden war – ablehnte. Feldsberg führte seine Begründung weiter aus: Selbst wenn Frau Anna Fuchs dem Judentum angehört hätte, könnte eine Bestattung der Aschenurne auf dem jüdischen Friedhof nicht erfolgen, weil nur dann die Bestattung der
207 An Direktor Dr. Ernst Feldsberg, 3. September 1956, AIKGW, A/VIE/IKG/III/Präs/1/5.
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Asche eines verstorbenen Glaubensjuden möglich ist, wenn die Leiche von der Kultusgemeinde vor der Verbrennung auf ihren Friedhof gebracht und dort rituell gewaschen wurde.
Er drückte sein Verständnis für die vom Rechtsanwalt angeführten „Pietätsgründe“ aus, schließlich überwogen aber die „zwingenden religiösen Bestimmungen, die unter keinen Umständen verletzt werden“ durften.208 Es liegen keine weiteren Akten zu diesem Fall im Archiv der Kultusgemeinde vor, was aber schon impliziert, dass die Überreste von Anna Fuchs nicht in das Grab ihres Mannes kamen, wie auch die Entwicklung anderer, vergleichbarer Fälle nahelegt. Im Jahre 1957 verklagte ein Harry Opler die Kultusgemeinde, die die Bestattung seines verstorbenen Vaters beim IV. Tor verweigerte, vor einem österreichischen Gerichtshof. In diesem Fall zeigte sich eine markante Bruchlinie innerhalb der Kultusgemeinde, spezifisch zwischen der weltlichen Leitung unter Feldsbergs Einfluss und der religiösen unter dem Oberrabbiner Akiba Eisenberg. Vertrat ersterer nämlich (paradoxerweise) die eher religiöse Anschauung, dass nur solche Menschen, die praktizierend gläubig waren, als „jüdisch“ zu betrachten waren, so vertrat Eisenberg hingegen die (eher zionistische) Anschauung, dass jemand, der oder die einmal „jüdisch“ war (jedoch freilich nur nach dem orthodoxen Verständnis durch matrilineare Abstammung), immer als „jüdisch“ zu gelten hatte. Eisenberg hatte also keinen Einwand gegen die Bestattung von Menschen beim IV. Tor, die nicht gläubig oder (so impliziert) überhaupt Kultusgemeindemitglieder waren, vorausgesetzt ihre „Jüdischkeit“ wurde durch das Rabbinat (freilich nach ihren Kriterien) bestätigt, wie es auch in den Friedhofsordnungen festgeschrieben war. In seinem Beschluss gab der Richter Feldsberg recht, wie dieser triumphierend in einer Aktennotiz festhielt, in der er ausführlich den richterlichen Befund zitierte: Die Weigerung, einen glaubenslosen, ehemaligen Juden auf dem jüdischen Friedhof zu bestatten, gründet sich auf eine Bestimmung eines in Österreich geltenden Gesetzes. Daran ändert die Tatsache nichts, daß nach Ansicht des Herrn Oberrabbiners Dr. Eisenberg der Vater des Herrn Harry Opler auf dem jüdischen Friedhof hätte begraben werden dürfen, denn die Ansichten und Meinungen eines Religionslehrers sind nicht geeignet, staatliche, gesetzliche Bestimmungen abzuändern.
Interessanterweise nahm der – vermutlich nichtjüdische – Richter dann auch gezielt Stellung zur Rolle des Rabbiners innerhalb der jüdischen Religionslehre:
208 An Dr. Victor Deutsch, 5. September 1956, AIKGW, A/VIE/IKG/III/Präs/1/5.
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Ebenso sei darauf hingewiesen, daß auch nach der Darstellung des Dr. Eisenberg die Auffassung, daß Gottlose oder Getaufte auf dem jüdischen Friedhof begraben werden dürfen, eine Streitfrage war. [… S]o ergibt sich schon daraus, daß es sich um kein klares Gesetz des jüdischen Glaubens handelt. Da in jüdischen Religionssachen jeder selbst die Glaubenssätze so auslegen kann, wie sie nach seiner Meinung richtig sind und die Meinungen der Religionslehrer keine Gesetze sind, etwa im Sinne katholischer Konzilbeschlüsse oder päpstlicher Thesen […], so ist es selbstverständlich auch den leitenden [sprich: weltlichen] Persönlichkeiten der Kultusgemeinde unbenommen, die jüdischen Glaubenssätze so auszulegen, wie sie es für richtig halten.
Feldsberg sah diesen Beschluss selbstverständlich als Rechtfertigung seiner Position, und folgerte: „Die Bestattung von glaubenslosen, ehemaligen Juden oder von getauften, ehemaligen Juden auf dem israelitischen Friedhof ist verboten.“ Eine wichtige rechtliche Ausnahme zu diesem Befund stellte jedoch „Art. 12 des Gesetzes vom 25. Mai 1868, RGBl. 49“ dar, wonach Bestattungen in dem Falle nicht verweigert werden durften, „wenn es sich um eine Bestattung in einem Familiengrabe handelt“. Gemeint war das „Gesetz vom 25. Mai 1868, wodurch die interconfessionellen Verhältnisse der Staatsbürger in den darin angegebenen Beziehungen geregelt werden“. Darin bezog sich Artikel 12 spezifisch auf „Begräbnisse“ und verordnete, dass „keine Religionsgemeinde […] der Leiche eines ihr nicht Angehörigen die anständige Beerdigung auf ihrem Friedhofe verweigern“ darf, wenn nach Punkt 1 „es sich um die Bestattung in einem Familiengrabe handelt“ oder nach Punkt 2 „da, wo der Todesfall eintrat oder die Leiche gefunden wurde, im Umkreis der Ortsgemeinde ein für Genossen der Kirche oder Religionsgenossenschaft des Verstorbenen bestimmter Friedhof sich nicht befindet“.209 Punkt 1 hätte Feldsberg freilich zum Verhängnis werden können, wie der Fall der Grabstätte der Familie Kommer oben bereits zeigte. Doch Feldsberg kam hier gleich diesem weiteren Streitpunkt zuvor, indem er behauptete, dass „der Begriff ‚Familiengrab‘ nach jüdischem Recht überhaupt nicht existiert“. Darüber könnte man streiten – wobei es hierzu in der ausführlichen Fachliteratur, inklusive jener von Rabbinern verfassten, keine offensichtliche Stellungnahme gibt – doch zeigt die Wiener jüdische Sepulkralkultur seit mindestens dem späten 18. Jahrhundert bis in Feldsbergs Zeit hinein, dass diese Feststellung wenigstens in materieller Hinsicht nicht stimmte: Familiengräber prägen weitgehend das Erscheinungsbild der drei jüngeren jüdischen Friedhöfe Wiens. Beim Friedhof in der Seegasse wissen wir schlicht nicht, wie genau die Grabstätten angelegt
209 Gesetz vom 25. Mai 1868, wodurch die interconfessionellen Verhältnisse der Staatsbürger in den darin angegebenen Beziehungen geregelt werden, http://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex? aid=rgb&datum=1868&page=127&size=45, letzter Zugriff: 31. August 2020.
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wurden, weil es hierzu keine überlieferten schriftlichen oder materiellen Zeugnisse gibt. Nichtsdestotrotz verordnete Feldsberg abschließend, dass fortan „zu jeder Beilegung die Kultusgemeinde ihre Zustimmung erteilen“ musste, und stellte noch sicherheitshalber fest, dass „[g]egenteilige Entscheidungen des Rabbinates […] an dieser gesetzlichen Bestimmung nichts ändern“ konnten.210 In einem anonymen und undatierten Schriftstück im Kultusgemeindearchiv, das aber aufgrund ihres Inhalts offensichtlich diesem Fall zuzuordnen ist, wurde abermals das Gesetz vom 25. Mai 1868 zitiert und festgehalten, dass „die theologischen Auffassungen“, sprich in diesem Fall die Auslegung der Religionsgesetze seitens des Oberrabbiners, „für die österreichischen Behörden und für das Gericht unerheblich“ seien. Beachtenswert ist hier zum einen, dass sich Feldsberg offensichtlich in einer Art Machtkampf gegenüber dem Rabbinat durchgesetzt hatte, und zwar mit einer deutlich härteren Linie, zum anderen aber auch die Sprache des Schriftstücks: Im Titel ist nämlich von „Konfessionslosen“ die Rede, wodurch wieder eine grundsätzliche Anerkennung der „Jüdischkeit“ der Betroffenen aufgrund ihrer Abstammung stattfindet, trotzdem aber ihre Zugehörigkeit zur Judenheit in Form der Kultusgemeinde – und damit auch das Zugangsrecht der Verstorbenen zum Bestattungsraum der Gemeinde – verwehrt wurde.211 Bereits einen Monat später traf ein erneutes Ansuchen um eine Beisetzung bzw. Umbettung bei der Kultusgemeinde ein, dieses Mal durch den Rechtsanwalt Gustav Springer im Auftrag der Angehörigen der 1942 im jüdischen Altersheim in der Seegasse verstorbenen Friederike (laut Friedhofsdatenbank eigentlich Franziska) Fleischer, die nach ihrem Tod in ein Einzelgrab in der Gruppe für „konfessionslose Jüdinnen und Juden“ bzw. „nichtarische ChristInnen“ gelangte (18A-22-42). Laut dem Rechtsanwalt war es aber „der Wunsch der Verstorbenen […], gemeinsam mit ihrem Gatten und ihrem Sohn begraben zu sein, daß aber dieser Wunsch infolge der besonderen Verhältnisse des Jahres 1942 unberücksichtigt blieb“. Es handelte sich hier um die Grabstelle 9-23-22, wo der 1923 verstorbene Sohn Ernst und der 1924 verstorbene Mann Siegfried liegen. Scheinbar entschied das Friedhofsamt der Kultusgemeinde 1942, als Feldsberg dessen Direktor war, dass Friederike/Franziska abgesondert im „nichtjüdischen“ Teil des Friedhofs bestattet werden sollte. Feldsberg antwortete Springer, den er als „lieber Freund“ adressierte (vermutlich handelte es sich auch bei diesem Rechtsanwalt um ein Kultusgemeindemitglied), „daß aus religiösen Gründen nur ganz besondere wichtige Gründe maßgebend sein können, die Exhumierung einer Leiche vorzunehmen“, so 210 An die Amtsdirektion, 25. Oktober 1957, AIKGW, A/VIE/IKG/III/Präs/1. 211 Beerdigung von konfessionslosen auf jüdischen Friedhöfen, o. D., AIKGW, A/VIE/IKG/III/PRÄS/1/5.
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insbesondere „die Überführung einer Leiche nach Israel. Umbettungen von Leichen in ein Grab auf demselben Friedhof oder auf andere Friedhöfe in Österreich sind nicht gestattet. Gegen dieses Gesetz des Glaubens können Entscheidungen nicht getroffen werden“.212 Dies muss als bewusste Fehlinformation Feldsbergs gedeutet werden, denn Umbettungen in den Wiener jüdischen Friedhöfen waren in den Nachkriegsjahren keine Seltenheit – viele wurden sogar von Feldsberg höchstpersönlich verordnet, wie im nächsten Kapitel gezeigt wird. Offensichtlich diente dieses zurecht gelegte religiöse Scheinargument lediglich Feldsbergs proaktiver Bestrebung, der Bestattung von Verstorbenen, deren „Jüdischkeit“ er nicht anerkennen wollte, zu verhindern – selbst in diesem Fall, wo die Verstorbene durch das NS-Regime als „jüdisch“ klassifiziert wurde, ohnehin schon im jüdischen Friedhof lag und darüber hinaus ein Familiengrab mit den Leichen ihres Mannes und Sohns bereits existierte. Dass letzterer übrigens nach orthodoxer Auffassung aufgrund seiner „nichtjüdischen“ Mutter ebenfalls als „nichtjüdisch“ hätte gelten sollen, ist eine pikante Ironie, die in den Akten unkommentiert blieb. Laut der Friedhofsdatenbank liegt Franziska/Friederike Fleischer (aufgrund der Lebensdaten zweifellos ein und dieselbe Person) heute jedenfalls doch im Familiengrab in der Gruppe 9. Wann und wieso ihre Umbettung schließlich genehmigt wurde, ist undokumentiert. Im Februar 1958 kam es schließlich aufgrund weiterer diesbezüglicher Verhandlungen im Wiener Landesgericht für Strafsachen zu folgenden Beschluss: „Nach österreichischem Recht gilt derjenige nicht mehr als Angehöriger einer Glaubensgemeinschaft, der sich bei einer Verwaltungsbehörde erster Instanz von seiner Glaubensgemeinschaft abmeldet“. Solchen Individuen durfte in Folge „das Begräbnis auf dem jüdischen Friedhof verweigert werden“. Wie beim früheren Gerichtsbeschluss wurde weiter angeführt: „Die theologischen Auffassungen sind für die österreichischen Behörden und für das Gericht unerheblich.“ Dies untermauerte abermals Feldsbergs Position, der demnach allen betroffenen Stellen der Kultusgemeinde anordnete, dass „Personen, welche aus dem Judentum ausgetreten sind, auf dem jüdischen Friedhof prinzipiell nicht beerdigt werden dürfen“, wobei er aber immer noch auf die bestehende gesetzliche Ausnahme mit Bezug auf Familiengräber verwies. Diese Ausnahme versuchte Feldsberg allerdings zu umgehen, indem er dekretierte: „Bei der Kultusgemeinde gelten nur Grüfte als Familiengrab. Alle anderen Gräber gelten als Einzelgräber.“ Zudem dekretierte er, dass jede neu erworbene Grabstelle fortan „vorerst nur als Einzelgrab“ zu gelten habe „und daß Beilegungen in die Grabstätte nur mit Bewilligung der Kultusgemeinde erfolgen“ durften.213 212 An Gustav Springer, 4. Dezember 1957, AIKGW, A/VIE/IKG/III/Präs/1/5. 213 An die Amtsdirektion, das Friedhofsamt, das Matrikelamt, und an die Abt. f. Bevölkerungswesen, 20. Februar 1958, AIKGW, A/VIE/IKG/III/Präs/1/5.
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Diese Verordnung versuchte Feldsberg ferner durch die Erstellung von Formularen zu verankern, die Angehörige auszufüllen hatten, ehe sie verstorbene Verwandte in einer bestehenden Grabstätte am jüdischen Friedhof beisetzen lassen durften. Der Zweck dieser Formulare war somit vermutlich, dass die „Jüdischkeit“ der Verstorbenen von vornherein überprüft werden konnte. Diesen Schritt bezeichnete Feldsberg als „unbedingt notwendig, denn ich sehe voraus, daß wir in kürzester Zeit wieder einen Prozeß haben werden, in dem sich Familienangehörige anderer Konfessionen darauf berufen werden, daß sie auf Grund des Gesetzes eine Beilegung in Familiengräber wünschen“.214 Wenige Wochen später beschwerte sich Feldsberg in einem als „Dringend!“ markierten und semantisch verwirrenden, vielleicht etwas augenzwinkernd intendierten Schreiben an das Friedhofsamt, dass die verlangten Formulare für Beilegungen noch immer nicht in Verwendung sind. Ich weiß nicht, ob sich die im Friedhofamt Beschäftigten der Tragweite der Unterlassung der Herstellung dieser Formulare bewußt sind. Wir werden eines Tages vom Gericht verurteilt werden, in unseren Familiengräbern, die nicht Grüfte sind, Nichtglaubensjuden beizulegen. Wir werden nicht in der Lage sein, einem österreichischen Gericht klar zu machen, daß Familiengräber, auch wenn sie Familiengräber sind, nicht als Familiengräber gelten.215
Diese Streitpunkte wurden auch im Presseorgan des Bundesverbands der Israelitischen Kultusgemeinden Österreichs thematisiert, was darauf deutet, dass das Thema innerhalb der jüdischen Gemeinschaft recht umstritten sein durfte. Auch in dieser Berichterstattung wurden beachtlicherweise unreflektiert die Diskurse der NS-Zeit über „konfessionslose Jüdinnen und Juden“ weitergeführt – wohlgemerkt in Übereinstimmung mit Feldsberg, dass nur jene, die als religiös „jüdisch“ einzustufen und Mitglied der Kultusgemeinde waren, und nicht etwa jene, die sich der Judenheit zugehörig fühlten, aber nicht religiös bzw. Gemeindemitglied waren, zur Bestattung im jüdischen Friedhof berechtigt waren.216 Es lässt sich demzufolge am Friedhof ab diesen Jahren eine augenscheinliche Wende zu Einzelgräbern feststellen, wobei Ehepaare oft nebeneinander, häufig mit individuellen Grabsteinen, bestattet wurden. Eine spannende Parallele zu dieser für Wien spezifische, innerjüdische Auseinandersetzung in den späten 214 An das Friedhofsamt, 24. April 1958, AIKGW, A/VIE/IKG/III/Präs/1/5. 215 An das Friedhofamt, 15. Juni 1958, AIKGW, A/VIE/IKG/III/PRÄS/1/5. 216 Vgl. Beerdigung von Konfessionslosen auf jüdischen Friedhöfen, Iskult – Presse – Nachrichten, 20. März 1958, S. 10–11 und Beerdigung von Konfessionslosen auf jüdischen Friedhöfen, Die Gemeinde, 28. März 1958, S. 7. Das Presseorgan Die Gemeinde musste 1950 finanzbedingt eingestellt werden. Das schlichtere Format Iskult – Presse – Nachrichten erschien zwischen 1952 und 1963 als Presseorgan des Bundesverbands der Israelitischen Kultusgemeinden Österreichs. Die Gemeinde erschien wieder ab März 1958.
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1950er-Jahren schilderte übrigens der Historiker Thomas Laqueur in Bezug auf England im 18. und 19. Jahrhundert, als zahlreiche, zum Teil auf nationaler Ebene umstrittene Gerichtsfälle rund um die Exklusion bestimmter Leichen auf anglikanischen Friedhöfen stattfanden, die schließlich ab 1880 zu einer weitgehenden Säkularisierung des Friedhofsrechts im Vereinigten Königreich führten.217 Zeigt dies einerseits die Universalität der Ein- und Ausgrenzungsdynamik von religiös-gemeinschaftlicher Zugehörigkeit, so lässt sich daraus rückschließen, dass die Wiederbelebung von strengen, partikularistischen und nicht zuletzt ausgrenzenden Praktiken seitens der Kultusgemeinde Mitte des 20. Jahrhunderts zugleich eine Rückgängigmachung der modernen Liberalisierung der Sepulkralkultur und, darüber hinaus, der Religionspolitik darstellen. Diese Entwicklungen in der Wiener jüdischen Sepulkralkultur müssen in einen breiteren Kontext der Neuorientierung des jüdischen gemeinschaftlichen und religiösen Lebens nach der Shoah gefasst werden, die europaweit in Richtung einer allgemeinen Orthodoxisierung des Judentums weisen aber stets in ihren lokalen Erscheinungen umstritten waren. Im seinen Beiträgen zur Halacha der Sepulkralkultur argumentierte beispielsweise Ernst Roth, dass der Friedhof „eine Gemeinschaftseinrichtung“ sei und dass daher „für jede umstrittene Änderung […] die Zustimmung aller Beteiligten eingeholt werden“ müsse. Er verwies zudem auf die Tatsache, dass „[n]icht alles, was später, während der Bekämpfung der Reform, für verboten erklärt wurde, […] auch ehedem verboten“ war – mit anderen Worten erkannte der Rabbiner auch zu einem gewissen Grad die „Erfindung der Tradition“ an, die innerhalb der Orthodoxie stattfand. Doch dann machte er genau eine solche argumentative Kehrtwende, wie sie Feldsberg in seiner Stellungnahme zum Streit zwischen den Rabbinern Baeck und Weinberg machte, indem er behauptete: „Natürlich, auch die neuen Verbote haben wir mit Achtung zur Kenntnis zu nehmen!“218 Roths Behauptung, dass Änderungen in der Praxis am Friedhof, als jüdischgemeinschaftliche Einrichtung, der „Zustimmung aller Beteiligten“ bedarf, widerspricht nicht nur der Tatsache, dass die Wiener jüdische Sepulkralkultur unter der Direktion Ernst Feldsbergs – wie gleich ausführlicher besprochen wird – einen gewaltigen Zentralisierungsschub erfuhr, der einen strengen jüdischen Partikularismus begünstigte, sondern insgesamt auch dem Geist des Kompromisses, der seit Anfang der Streitigkeiten über den „jüdischen Charakter“ des Bestattungsraums – in Form konkreter Fragen des Brauchtums – seit etwa 1900 die gemeinschaftliche Friedhofspolitik geprägt hatte, charakteristisch von der allgemeinen Kompromissbereitschaft, die die ehemals so große und diverse Wiener Einheitsgemeinde zuvor überhaupt funktionsfähig gemacht 217 Laqueur: The Work of the Dead, S. 148–182. 218 Roth: Zur Halachah des jüdischen Friedhofs II, S. 111–112.
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hatte. Ab den späten 1950er-Jahren stand de facto nur einem Teil der jüdischen Bevölkerung der Friedhof als Bestattungsraum zu. Jene, die nicht als zugehörig galten oder die den ihnen auferlegten Praktiken der Kultusgemeinde nicht folgen wollten, konnten nur mehr auf explizit konfessionslose bzw. nichtjüdische Bestattungsräume ausweichen. Am Döblinger Friedhof erschien jüngst ein neuer Grabstein, der aufgrund seiner teils hebräischsprachigen Inschrift sofort auffällt. Diese verkündet: „Peitet [hier ist verborgen; sic, kein Bezug auf die folgende deutschsprachige Inschrift] Zagreb 8.5.1930 / Peter Rendi / 11.3.2014 Wien tantzaba“ (I6-22). Hierbei handelt es sich um die Grabstätte des Vaters des ehemaligen österreichischen Botschafters in Israel, Michael Rendi, Ehemann der derzeitigen SPÖ-Bundesparteivorsitzenden Pamela Rendi-Wagner. Im weitgehend säkularen Europa des 21. Jahrhundert muss der – wenn auch fehlerhafte – Gebrauch des Hebräischen in einer Inschrift als unmissverständlicher Hinweis auf die Jüdischkeit, vielleicht sogar auf die Religiosität des Verstorbenen verstanden werden, was allerdings in diesem Fall in eklatantem Widerspruch zur Wahl des Bestattungsraumes in einem grundsätzlich – jedenfalls aus religiöser Sicht – nichtjüdischen Friedhof steht. Handelt es sich hier um einen Fall der Bestattung eines Menschen, der sich selbst als jüdisch verstand aber nach den orthodoxen Kriterien der Wiener Kultusgemeinde nicht „jüdisch“ genug war, um auf ihrem Friedhof zur letzten Ruhe zu gelangen? In einem Interview aus dem Jahre 2009 erklärte Michael Rendi, dass sein Vater zwar „Mitglied der Kultusgemeinde, aber nie aktiv und auch nicht religiös“ war. Seine Großmutter mütterlicherseits hatte hingegen einen Katholiken geheiratet und trat zur russisch-orthodoxen Kirche über, ihre Tochter und Michael Rendis Vater Peter heirateten wohlgemerkt in einer Kirche.219 Die Beweggründe dieser durchaus interkulturellen Familie bei der Wahl der Grabstätte (immerhin nur ein Steinwurf von der ehemaligen Grabstätte Theodor Herzls entfernt) wissen nur sie: Dieser Grabstein verweist jedoch auf die Tatsache, dass im heutigen Wien „Jüdischkeit“ und jüdischer Gemeinschaftssinn auch innerhalb der stark verkleinerten jüdischen Gemeinschaft noch so divers ist wie eh und je und sich auch weit über den Wirkungsbereich der jüdischen Gemeindeorganisation erstreckt. Die eng miteinander verknüpften Themenkreise der Bestattung und der gemeinschaftlichen Zugehörigkeit wurden auch von dem in der Sowjetunion geborenen Wiener Schriftsteller Vladimir Vertlib literarisch aufgearbeitet. In seinem Roman Letzter Wunsch erzählte Vertlib von einem jungen Mann, der eben dem letzten Wunsch seines Vaters, am jüdischen Friedhof begraben zu werden, verzweifelt nachzukommen versucht: Die Kultusgemeinde in der kleinen, fiktionalen Stadt in Deutschland, in der sich die Handlung abspielt, 219 Ein Botschafter auf Spurensuche, in: Nu 35/1 (2009), S. 13.
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lehnt die Bestattung des verstorbenen Vaters nämlich ab, weil er vor der Shoah zusammen mit seiner christlichen Mutter durch einen nun als Ketzer wahrgenommenen Reformrabbiner zum Judentum konvertiert war. Somit betrachtet ihn die orthodox ausgerichtete Nachkriegsgemeinde nicht als „echten Juden“ und verbietet seine Bestattung in ihrem Friedhof, obwohl ironischerweise (man denke an den oben geschilderten Fall der Familie Fleischer) die konvertierte Mutter ebendort begraben liegt. Die NationalsozialistInnen betrachteten den Vater freilich als „Juden“ und verfolgten ihn dementsprechend, was ihn nach der Shoah zur Emigration nach Israel bewog. Dort wurde er aber lediglich als „Deutscher“ wahrgenommen und kehrte somit desillusioniert nach Deutschland zurück, wo er – von der jüdischen Gemeinschaft wiederum als goj, als „Nichtjude“ behandelt – schließlich verstirbt. Da alle seine Bemühungen fehlschlagen, entscheidet sich der junge Protagonist schließlich, seinen Vater in internationalen Gewässern zu bestatten, wo er folgende Laudatio spricht: „Die Erde hat dir kein Glück gebracht, nicht jene von Erez Israel oder die geweihte Erde, in der Mutter liegt. Ich hoffe, ich handle in deinem Sinne, wenn ich das Meer zu deinem Friedhof mache, deinem Haus des Lebens“.220 Vor einigen Jahren sprach ich den Autor auf dieses Werk an und fragte ihn, ob er bei den oben geschilderten Ereignissen – trotz der nach Deutschland verlegten Handlung – nicht von den Geschehnissen in Wien, seiner Wahlheimatstadt, inspiriert wurde. Vertlib antwortete, dass die Handlung eigentlich von einem spezifischen Fall inspiriert wurde, der sich um das Jahr 2000 in Regensburg in Bayern abgespielt hatte, doch dass er damit durchaus die allgemeine Verschränkung der Bestattungsthematik mit jüdischen Identitätsdiskursen der Nachkriegszeit in Deutschland wie in Österreich behandeln wollte.221 Bewegend rücken jedenfalls in seinem Roman die Ambivalenzen und Konflikte innerhalb der Judenheit im deutschsprachigen Raum nach der Shoah in den Vordergrund, wo die „Jüdischkeit“ plötzlich eine nochmal ungeheuer verschärfte Kategorie der Differenz darstellt, und wo unzählige Menschen zwar familiär zur jüdischen Schicksalsgemeinschaft gehören, aber von den durchaus orthodox geprägten Nachkriegsgemeinden – die vielerorts problematischerweise zugleich Einheitsgemeinden darstellen und als einzige rechtlich oder überhaupt gesellschaftlich anerkannte Vertreter des Judentums auftreten – ausgeschlossen sind. Nicht zuletzt kommt hier auch die Zentralität der Bestattung als kulturgeschichtliches Ereignis zum Ausdruck, als Moment, in dem die tiefsten Fragen der Verbindung zwischen individueller Identifikation und gemeinschaftlicher Zugehörigkeit ausgelotet werden.
220 Vertlib, Vladimir: Letzter Wunsch, München 2003, S. 381. 221 Korrespondenz zwischen Vladimir Vertlib und dem Autor, 6. Oktober 2013.
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Der Streit um die Bestattung von „Nichtglaubensjuden“ war offensichtlich ein einschneidendes und aufschlussreiches Kapitel, aber schließlich doch nur ein Teilaspekt einer allgemeinen Tendenz in Richtung Zentralisierung und Verschärfung der jüdischen Sepulkralpraxis in Wien in der Nachkriegszeit, die maßgeblich von Ernst Feldsberg vorangetrieben wurde. Im Frühjahr 1956 – wohlgemerkt zu genau der Zeit, als der Streit um die Beisetzung von „Nichtglaubensjuden“ begann – schrieb Feldsberg an das Friedhofsamt, dass die Berliner jüdische Gemeinde von der Wiener Kultusgemeinde eine Kopie ihrer Friedhofsordnung angefragt hatte, worauf er feststellte: „Da wir keine Friedhofsordnung besitzen, habe ich grundlegende Bestimmungen für den Friedhof zusammengestellt. Ich übersende in der Anlage einen Durchschlag dieser Bestimmungen mit dem Ersuchen, hiezu Stellung zu nehmen und mir ergänzende Vorschläge zu machen.“222 Diese Behauptung stimmt offenkundig nicht, wie hier in früheren Kapiteln ausgiebig gezeigt wurde: Bereits mit Eröffnung des Friedhofs beim I. Tor 1879 wurde erstmals eine offizielle Friedhofsordnung erstellt, die über die folgenden Jahrzehnte wiederholt erweitert und abgeändert wurde. Feldsberg, als ehemaliger Direktor des Friedhofsamts, hatte noch persönlich gegen Ende der Shoah an einer Novellierung der geltenden Friedhofsordnung mitgearbeitet. Im Anschluss an die entsprechende Analyse in Kapitel 8 muss hier gefolgert werden, dass Feldsberg in der Nachfrage der Berliner Gemeinde eine Gelegenheit sah, im Kontext der Neuetablierung der Wiener Gemeindeorganisation nach der Shoah die Sepulkralkultur von Grund auf nach seinen orthodox-religiösen Anschauungen neu zu organisieren und die Kontrolle darüber weitestgehend im Friedhofsamt, auf das er offensichtlich noch einen gewaltigen Einfluss ausübte, zu zentralisieren. Feldsbergs Entwurf entsprach augenscheinlich den Positionen, die er zu dieser Zeit in den Rechtsstreiten rund um die Bestattung von sogenannten „Nichtglaubensjuden“ vertrat, so beispielsweise in den Verordnungen, dass das Friedhofsamt das Recht behielt, bei jeder Bestattung die Grabstätte zu bestimmen (§1); dass „[j]eder im Bereich des Sprengels der Israelitischen Kultusgemeinde Wien verstorbene Glaubensjude […] in einer eigenen Grabstätte beigesetzt werden“ sollte, um somit die gesetzliche Bestimmungen bezüglich Familiengräbern zu umgehen (§3); dass die „Beisetzung aller Leichen auf dem jüdischen Friedhof […] streng nach jüdischem Ritus zu erfolgen“ hatte, was insbesondere die „Leichenwaschung und Bekleidung“, sprich die tahara, betraf (§4); und dass in den „jüdischen Friedhöfen […] nur Glaubensjuden bestattet werden“ durften (§5). Somit wurde nicht nur erstmals in der Wiener jüdischen Sepulkralgeschichte ein streng orthodoxes Brauchtum bindend festgeschrieben, es erledigten sich dadurch auch alle übrigen Fragen der Bestattung von 222 An das Friedhofsamt, 20. Mai 1956, AIKGW, A/VIE/IKG/III/PRÄS/2/1.
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Menschen in bestehenden Familiengräbern, die seitens der Kultusgemeinde als „nichtjüdisch“ betrachtet wurden, da diese fortan schlicht nicht mehr angelegt werden sollten. Zwar durften laut §17 noch nahe Verwandte in bestehenden Grabstätten beigesetzt werden (§18 schrieb entsprechend vor, dass jede Grabstätte tief genug sein musste, um darin drei bis vier Leichen bestatten zu können), hingegen durften „Verschwägerte in der gleichen Grabstätte nicht bestattet werden“. Beachtlicherweise wurde laut §6 noch die Feuerbestattung zugelassen, allerdings nur dann, wenn die Leiche des Verstorbenen von der Israelitischen Kultusgemeinde vom Sterbehaus abgeholt, auf den jüdischen Friedhof gebracht und dort nach religiösen Vorschriften rituell bekleidet und eingesargt wurde. Leichen von Glaubensjuden, welche direkt ins Krematorium gebracht werden, können nach der Einäscherung auf dem jüdischen Friedhof nicht beigesetzt werden.
Allerdings durften bei Urnenbestattungen „keine religiösen Funktionen“ stattfinden. Die Wahrung der rituellen „Reinheit“ sowie die klare Abgrenzung des „Jüdischen“ vom „Nichtjüdischen“ wurde zudem in §7 durch die Bestimmung unterstrichen, dass der „gleichzeitige Transport von Glaubensjuden und Nichtglaubensjuden in einem Leichenfourgon […] nicht gestattet“ war. Die Orthodoxisierung des jüdischen Bestattungswesens zeigte sich auch in einer Reihe kleinerer Verordnungen, wie etwa dem Verbot von „Musikbegleitung“ bei Bestattungen (§9) oder in der Vorschrift von „rituellen Holzsärgen“; Metallsärge wurden nur bei beabsichtigter Überführung nach Israel gestattet (§10). §11 räumte endgültig die Entscheidungsmacht über das Bestattungswesen dem Friedhofsamt ein. Der Chewra Kadisha, seit dem 18. Jahrhundert die wichtigste Instanz in der Ausführung von Bestattungen im jüdischen Friedhofswesen in Wien, wurde fortan lediglich die Befugnis zugestanden, „an den rituellen Waschungen teilzunehmen und bei den Begräbnissen für ihre Zwecke zu sammeln“. Somit wurde der weltlichen Leitung der Kultusgemeinde in Form des Friedhofamtes die komplette Kontrolle über das Friedhofswesen übertragen. §19 regelte die bereits seit der Zwischenkriegszeit bestehende „Abteilung für Fromme“, in der nach wie vor „Männer und Frauen nach Gruppen getrennt“ und ausschließlich in „Einzelgräbern“ zu bestatten waren, „in denen Beilegungen nicht vorgenommen werden“ durften. „Die Zuteilung von Grabstätten auf der Abteilung für Fromme“ erfolgte zudem „durch die Israelitische Kultusgemeinde nach Feststellung des religiösen Vorlebens des zu Bestattenden“, was hieß, dass trotz der allgemeinen Orthodoxisierung der Sepulkralpraxis die Abteilung für Fromme nichtsdestotrotz den besonders Orthodoxen weiterhin vorbehalten wurde – eine ultraorthodoxe Sonderabteilung in einem allgemein orthodoxen Friedhof. In §20 stellte Feldsberg auch die Schaffung
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einer „eigene[n] Gruppe für die Bestattung von Leichen sefardischen Glaubensbekenntnisses“ in Aussicht, doch scheint eine solche nicht angelegt worden zu sein. In §21 wurde wiederum eine eigene Abteilung für verstorbene Säuglinge vorgeschrieben; diese befindet sich in der Gruppe 3 direkt gegenüber der alten Zeremonienhalle. Dort liegen zum Beispiel am Rande des Hauptwegs die beide am 22. August 1958, dem Tag nach ihrer Geburt verstorbenen Zwillingen Benjamin und Jael Rosenfeld bestattet. Wie bereits seit der Zwischenkriegszeit gang und gäbe, bedurften Grabdenkmäler samt Inschriften der Genehmigung der Kultusgemeinde (§22). In §24 wurde zudem vorgeschrieben, dass die „Anbringung von Bildern, Eblemen [sic] oder sonstigen profanen Zeichen (z. B. Noten, Violonschlüssel [sic], symbolische Flammen etc.) […] verboten“ war. „Ausgenommen von diesem Verbot ist die Anbringung des Kruges bei den Leviten und der segnenden Hände bei den Kohanim“ – sprich, die einzigen streng „jüdischen“ Symbole in der Sepulkralgeschichte. Auch musste jede Inschrift „mindestens zwei hebräische Buchstaben enthalten. Grabsteine in der Abteilung für Fromme dürfen keinen deutschen Text enthalten, lediglich der Name darf in deutschen Lettern geschrieben werden“ (§25).223 Diese präzedenzlos strengen Vorschriften – bedenkt man, dass schon die ältesten erhalten Grabsteine in der Wiener jüdischen Sepulkralgeschichte mit allerlei Symbolik, auch weltlichen, verziert waren – wurden bzw. konnten aber schließlich nicht durchgesetzt werden, wie die Analyse der Grabsteinsymbolik unten aufzeigt. Der Verweis hier auf „deutsche Lettern“ ist auch interessant, da ja lateinische Schriftzeichen gemeint waren – tatsächlich finden sich, wie unten besprochen wird, vielerlei Sprachen in der Sepulkralepigraphik beim IV. Tor, über die lateinischen hinaus auch etwa in kyrillischen, georgischen und arabischen Schriftzeichen. Fast ein Jahr nach Erstellung dieses Entwurfs wandte sich Feldsberg wieder an das Friedhofsamt mit der wiederholten Behauptung, „dass es jetzt wirklich dringendst notwendig [sei], eine Friedhof-Ordnung zu machen. Es gibt für den Friedhof keine schriftlichen Aufzeichnungen“, fügte er nochmal kontrafaktisch hinzu. In diesem Schreiben merkte er auch explizit die Intention an, durch eine neue Ordnung bezüglich „der Begräbnisse von Konfessionslosen endgültige Verfügungen treffen“ zu können. Über seinen früheren Entwurf schrieb er lediglich, dass er nun „sehe, dass dieser Weg nicht gangbar“ sei – ob er damit die Durchsetzung der Verordnung selbst oder deren Vereinbarung mit dem Friedhofsamt meinte, geht aus seinen Worten nicht hervor.224 Insofern ist auch nicht eindeutig, ob Feldsberg diese Verordnungen, die viele bereits bestehende Verordnungen aufgriffen und verschärften aber auch viele neue 223 Abschrift, 20. Mai 1956, AIKGW, A/VIE/IKG/III/PRÄS/2/1. 224 An das Friedhofsamt, 21. März 1957, AIKGW, A/VIE/IKG/III/PRÄS/2/1.
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hinzufügten, seinerzeit überhaupt umsetzen konnte. Klar ist jedenfalls, dass sie die orthodoxisierenden Tendenzen sowie die allmähliche Zentralisierung der Kontrolle über das jüdische Bestattungswesen seitens der Instanzen der Kultusgemeinde zu dieser Zeit veranschaulichen. Zentral dabei war auch die Umschreibung nach streng orthodoxen Kriterien, wer als „jüdisch“ galt und somit beim IV. Tor bestattet werden durfte, was wiederum einen Einblick in die (enge) vorherrschende Definition der Zugehörigkeit in der Nachkriegsgemeinde gewährt. Wie problematisch diese Definition war und noch ist, zeigt sich im wiederholten Gebrauch von ursprünglich aus dem Nationalsozialismus entsprungenen Begriffen wie „Glaubensjude“ bzw. „Nichtglaubensjude“ in diesen Schriftstücken, die nun scheinbar feste Bestandteile des offiziellen Diskurses der Kultusgemeinde bildeten. Vergleichen kann man Feldsbergs Entwurf aber mit der aktuellen Friedhofsordnung, die im März 2004 in Die Gemeinde veröffentlicht wurde und heute noch („Stand Februar 2004“) in der Kanzlei beim IV. Tor aushängt. Laut Die Gemeinde gründet diese jüngste Novellierung der Ordnung auf der Intention – frei im Sinne des 34 Jahre zuvor verstorbenen Präsidenten Ernst Feldsberg – „eine durch Halachah und Tradition geprägte Friedhofsgestaltung herbei zu führen. In diesbezüglichen Fragen der Halachah entscheidet gemäß dem Statut der IKG [Kultusgemeinde] Wien der Oberrabbiner der IKG“. Mit anderen Worten ging es im Jahre 2004 um eine weitere Zentralisierung der Entscheidungsmacht darüber, was als „jüdische Tradition“ gelte und wie demzufolge die Wiener jüdische Sepulkralkultur zu gestalten war – allerdings nun mit der alleinigen Unterstellung der Entscheidungsmacht nicht dem Friedhofsamt, sondern dem Rabbinat, wodurch ein weiterer Schub in Richtung Orthodoxisierung geleistet wurde. Dies wurde durch die dem Artikel beigefügte, dem jüdischen Photographen Harry Weber zugeschriebene Abbildung eines alten orthodoxen Paares beim Grabbesuch am Zentralfriedhof optisch untermauert.225 Im Wesentlichen unterscheiden sich die inhaltlichen Schwerpunkte der heute geltenden Friedhofsordnung nicht von den früheren Versionen. Die Autoritätsbefestigung der Kultusgemeinde in allen Belangen der Sepulkralkultur ist hier jedoch ein noch deutlicher betontes Anliegen. Grundsätzlich hält bereits die Präambel fest, dass die „Friedhöfe der Israelitischen Kultusgemeinde Wien […] der Bestattung verstorbener Juden auf immerwährende Zeit“ dienen, „wobei der Begriff ‚Juden‘ im Sinne der Halachah zu definieren ist“ – und die Halacha, wie bereits gezeigt, wird schließlich vom Oberrabbiner definiert. Im weiteren Verlauf werden die vielschichtigen Bedeutungen des Friedhofs in der heutigen jüdischen Kultur zum Ausdruck gebracht – aufgezählt werden dabei nicht nur die historischen jüdischen Friedhöfe Wiens (inklusive des 1904 der Wiener 225 Friedhofsordnung, in: Die Gemeinde, März 2004, S. 7–10.
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Kultusgemeinde einverleibten Floridsdorfer Friedhof), sondern alle 36 Friedhöfe in Niederösterreich und im Burgenland, die seit 1945 in Obhut der Wiener Kultusgemeinde stehen: „Sie sind darüber hinaus Stätten des persönlichen und religiösen Gedenkens, Orte der Ruhe und Besinnung und in ihrer Erscheinungsform kulturelles Spiegelbild der Zeit und der jüdischen Gesellschaft.“ Unterstrichen wird der streng religiöse Charakter der Friedhöfe, wie jener der Kultusgemeinde, durch die Anbringung am Anfang dieses Dokuments der nun mehrfach besprochenen orthodoxen hebräischen Abkürzungsformel „bet-samech-dalet“ (mit der Hilfe des Himmels). Die Verordnungen zeigen, dass Feldsbergs beabsichtigte Friedhofsreform – ob zu seinen Lebzeiten oder später – tatsächlich durchgesetzt wurde. Obwohl §4 (2) darauf verweist, dass es beim IV. Tor sowohl Einzelgräber wie Familiengräber und Grüfte gibt, wird unterstrichen, dass „[n]eue Familiengräber und Grüfte […] nicht angelegt“ werden, eine der wichtigsten Neuerungen, die Feldsberg einforderte, um die Bestattung von Menschen, die aus Sicht der orthodoxen Kultusgemeinde nicht als „jüdisch“ gelten, vorzubeugen. Allerdings durften laut Anhang, Absatz VI neue Familiengräber „ausnahmsweise“, jedoch „nur mit Bewilligung des Rabbinats angelegt werden“ – vermutlich also in Fällen, in denen die „Jüdischkeit“ der zu bestattenden Familienangehörigen außer Frage steht. In §6 (4) wird weiter vorgeschrieben, dass zwar die „Beerdigung auf den Friedhöfen der IKG […] prinzipiell auch Nichtmitgliedern“ zusteht, dies gilt aber „natürlich unter der Voraussetzung, daß deren Zugehörigkeit zum Judentum vom Rabbinat eindeutig festgestellt wurde“. Auch die Grabsteine werden hier streng reglementiert: So müssen die „Mazewot [Grabsteine] und deren Inschriften […] den halachischen Vorschriften und der Würde des Friedhofs entsprechen. Die Pläne sind rechtzeitig dem Friedhofsamt und dem Oberrabbinat zur Bewilligung vorzulegen“ (§9 [1]). Es wird aber freilich nicht erläutert, was genau die „halachischen Vorschriften“ sind oder was die „Würde des Friedhofs“ ausmacht. Die Kultusgemeinde ist aber laut Absatz 3 „berechtigt, die Entfernung von Mazewot oder sonstigen Grabausstattungen, die ohne Bewilligung des Friedhofamts errichtet wurden, auf Kosten der Hinterbliebenen ohne deren nochmalige Verständigung zu veranlassen“. Im Anhang zur Ordnung werden noch die „Durchführungsbestimmungen“ zu den Grabsteinen festgeschrieben: Laut Absatz IV müssen für alle „Steinmetzarbeiten am Friedhof […] seitens der beauftragten Firma eine Bewilligung vom Friedhofsamt eingeholt werden […]. Dem Portier muß eine diesbezügliche Bescheinigung vor Einlaß vorgewiesen werden“. In Zusammenhang mit der Friedhofsordnung unterstreicht die Gründung des jüdischen Steinmetzbetriebs Schreiber, dessen Hintergrund hier in Kapitel 2 diskutiert wurde, nochmals die Zentralisierung und Partikularisierung der jüdischen Sepulkralkultur in der Nachkriegszeit: So wurde der Betrieb in den Worten der Unternehmensleitung
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in den 1960er-Jahren „von der damaligen Führung der IKG – und vor allem von Dr. Feldsberg gefördert“, nicht zuletzt, um „religiöse Vorschriften gewahrt zu wissen“.226 Ernst Feldsberg, ein Überlebender des Konzentrationslagers Theresienstadt, verkörpert eine Generation, die zutiefst von der Erfahrung der NS-Verfolgung und der weitgehenden Vernichtung ihres gemeinschaftlichen, kulturellen und religiösen Milieus geprägt war. Doch muss resümierend festgestellt werden, dass die jüdischen Funktionäre, die sich nach der Shoah in Wien wie auch anderswo daran machten, aus den Ruinen ein jüdisches Gemeindewesen neu aufzubauen, dies oft im Zeichen streng partikularistischer Ideologien taten, die Gefahr liefen, breite Teile der überlebenden Judenheiten aus dem Gemeinschaftskreis auszuschließen. Der Fall Ernst Feldsbergs – der zweifellos zu den wichtigsten AkteurInnen in der Geschichte der Wiener jüdischen Friedhöfe wie der Nachkriegskultusgemeinde überhaupt zählt – wird darüber hinaus durch die Tatsache verkompliziert, wie in den oben dargelegten Quellen augenscheinlich wird, dass er sich Tatsachen oftmals frei zurechtlegte, um seinen Willen durchzusetzen – sei es nun, um die Bestattung einer von den NationalsozialistInnen als „Jüdin“ verfolgten Verstorbenen am jüdischen Friedhof zu verhindern, deren „Jüdischkeit“ er nicht anerkennen wollte, oder in der Verschweigung einer fast jahrhundertealten Genealogie von Friedhofsordnungen, um unbehindert seine eigenen strengen Vorstellungen der „jüdischen“ Sepulkralpraxis durchsetzen zu können. Abschließend soll diesbezüglich noch ein seltsamer aber aufschlussreicher Fall vorgeführt werden, der sich fast zeitgleich mit Feldsbergs Bestrebungen um eine Novellierung der Friedhofsordnung ereignete. Im Frühjahr 1954 befand sich der 1938 vom deutschen Reichsluftfahrtministerium in Schwechat unweit vom Zentralfriedhof angelegte Flugplatz – der heutige Flughafen Wien – in einer großen Ausbauphase, um der damals rasant anwachsenden Zivilluftfahrt gerecht zu werden. In diesem Zusammenhang suchte die Flughafenverwaltung nach einem geeigneten Standpunkt in der Umgebung, um eine „Blindenanlage“, also einen Radar, „zu installieren, die es den Flugzeugen auch bei unsichtigem Wetter“ ermöglichen sollte zu landen. Da die Landerichtung damals wie heute aus dem Westen und somit direkt über den Zentralfriedhof verlief, sah die finanziell andauernd strapazierte Kultusgemeinde hierin eine Gelegenheit, um etwas Kapital einzubringen und unterbreitete dem Bundesministerium für Verkehr somit ein entsprechendes Angebot, ihre Radaranlage in der alten Zeremonienhalle vor der Gruppe 3, wo heute der Steinmetzbetrieb untergebracht ist, zu installieren. Ihr Angebot zum Grundpreis von 5.000 Schilling plus eines monatlichen Mietpreises von 150 Schilling 226 Schreiber GesmbH – Die Geschichte eines Steinmetzbetriebes, in: Die Gemeinde, Februar 1997, S. 47.
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schlug die Flughafenverwaltung allerdings aus, da sie ein besseres Angebot erhielt.227 Angesichts der finanziellen Notlage der Kultusgemeinde und den hohen Kosten, die die Friedhofsverwaltung in Anspruch nahm, ist dieser Geschäftsvorschlag durchaus nachvollziehbar. Allerdings stellt dieser recht profane Gebrauch des Friedhofsgeländes – zumal dem technischen Personal des Flughafens laut den Akten ein 24-Stunden-Zugang ins Friedhofsgelände gewährt werden musste, so auch an Samstagen und jüdischen Feiertagen – doch einen starken Widerspruch zu Feldsbergs ansonsten lautstarker Forderung nach einer in jeder Hinsicht „pietätsvollen“ Haltung gegenüber der Sepulkralkultur dar. Man vergleiche alleine seine oben besprochene, genau zu diesem Zeitpunkt erfolgende Ablehnung einer Sitzbank am Denkmal der in der Förstergasse Ermordeten, da FriedhofsbesucherInnen nicht „Platz nehmen und profane Gespräche führen“ sollten. Die Arbeit des Friedhofsamtes wurde 1991 vom Kultusvorstand als „Chessed shel Emet“ bezeichnet, umschrieben: die wahre Nächstenliebe. In ihrem so betitelten Artikel rief das Friedhofsamt die Kultusgemeindemitglieder charakteristischerweise dazu auf, in einem Sterbefall unmittelbar mit ihm Kontakt aufzunehmen und nicht erst mit den städtischen Behörden, damit die Einhaltung der religiösen Vorschriften nicht durch die nichtjüdischen Behörden verletzt werden konnte.228 Einen Einblick in den Alltag der Friedhofsverwaltung beim IV. Tor heutzutage vermitteln indes die Interviews in Die Gemeinde, die hier in Kapitel 2 in Hinsicht auf die Sepulkralpraxis ausführlich besprochen wurden. Wiederholenswert ist die Feststellung, dass heute oft der Kultusgemeinde fremde Personen zum Friedhof kommen, um die Grabstätten ihrer Angehörigen aufzusuchen – die jüdischen Friedhöfe bilden nämlich nicht nur religiöse Gemeinschaftsräume, sondern auch emotional beladene Orte der individuellen bzw. familiären Erinnerung, als „Grabstätten der Väter“ für die weit über die Erdkugel zerstreuten Nachkommen der einst großen jüdischen Gemeinschaft Wiens. Dies zeigt sich auch in immer noch häufig vorkommenden Beisetzungen in bestehenden Familiengräbern im ansonsten faktisch stillgelegten Bestattungsareal beim I. Tor. Wiederum gibt es immer wieder Kultusgemeindemitglieder, die zu Lebzeiten beschließen, dass sie nicht in Wien, sondern in Israel bestattet werden wollen, was das Friedhofsamt der Kultusgemeinde dann auch organisiert. Dies verweist wohl auf ein Gefühl unter Teilen der Mitgliedschaft der Kultusgemeinde, dass Wien bzw. Österreich heute eben doch nicht das „wahre“ Zuhause ist.229 Diese Gegebenheiten – Friedhofsbesuche durch im 227 Vgl. An die Israelitische Kultusgemeinde, 13. Mai 1954; An die Israelitische Kultusgemeinde, 2. Juni 1954; Mietvertrag, o. D. und An die Israelitische Kultusgemeinde, 14. September 1954, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/1/1, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 228 Ein Sterbefall in der Familie – Was tun?, Die Gemeinde, 8. März 1991, 31. 229 Das Friedhofsamt, in: Die Gemeinde, November 2009, S. 6–7.
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Ausland lebende Nachkommen, Beisetzungen in bestehenden Grabstätten und Überführungen nach Israel – sowie die allgemeine Entwicklungsgeschichte der Wiener jüdischen Sepulkralkultur und -epigraphik nach 1945, vor allem im Vergleich zu den eher theoretischen Auslegungen, die hier besprochen wurden, werden in den folgenden zwei Abschnitten ausgeführt. 9.5
Grabsteine, Sepulkralepigraphik und Symbolik im Friedhof beim IV. Tor nach 1945
Die stark veränderte und sich weiterhin verändernde kulturelle und religiöse Zusammensetzung der Mitgliedschaft der neuetablierten Kultusgemeinde einerseits sowie die sukzessiven Novellierungen der Friedhofsordnung andererseits führten in der Nachkriegszeit zu greifbaren Wandlungen im sepulkralepigraphischen Diskurs beim IV. Tor. Dieser weist insgesamt einen recht neuen Gemeindecharakter auf, der sich wesentlich von der großen Vorgängergemeinde unterschied. Im Großen und Ganzen folgten diese Wandlungen der Leitlinie der Kultusgemeinde selbst, nämlich einer radikalen Wende nach innen, zu einem ausgesprochen jüdischen Partikularismus, gepaart mit einer als „Rückkehr“ verstandenen Wende zur religiösen Orthodoxie sowie zum Zionismus bzw. zu Israel als neuem Bezugspunkt in der Erinnerungskultur am Friedhof. Doch gleichzeitig finden sich auch Kontinuitäten mit den dominanten, eher auf der individuellen/familiären Ebene aufzufindenden Erinnerungsdiskursen aus der Zeit vor der Shoah, nämlich Verwurzelung in der Wiener bzw. österreichischen Gesellschaft und Kultur und ein Ineinandergreifen der „Jüdischkeit“ mit breiteren, nicht exklusiv jüdischen Lebens- und Tätigkeitssphären. Dabei kam es auch des Öfteren zu Widersprüchen oder gar Zersetzungen vis-à-vis der immer strenger werdenden Friedhofsordnung, die nicht zuletzt vor Augen führen, dass Erinnerungspraktiken zwar vorgeschrieben, aber schließlich nicht erzwungen werden können, und dass gemeinschaftliche/kollektive Identifikationsmuster nicht unbedingt die individuellen/familiären reflektieren. Die Spannungen innerhalb der jüdischen Sepulkralkultur, die hier aufgezeigt werden, fanden auch eine räumliche Ausprägung, und zwar zwischen dem Friedhof beim IV. Tor als Hauptbestattungsraum der kleinen Nachkriegsgemeinde und dem sich noch in Verwendung befindlichen alten jüdischen Friedhof beim I. Tor sowie dem überkonfessionellen Friedhof in Döbling, die gegen Ende diesen Abschnitts zur vergleichenden Analyse herangezogen werden. Grabstätten waren schon immer von den lebenden Nachkommen geschaffene Räume und dienen den Lebenden vorwiegend zur Erinnerung an ihre verstorbenen Angehörigen. Diese Funktion wurde in jüdischen Friedhöfen infolge der Shoah nachhaltig verstärkt, da diese Orte nun auch stellvertretend
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der Erinnerung an die Millionen Ermordeten dienten, die keine bleibende Grabstätte fanden. Eindringlich kommt die Funktion der Erinnerung an die Verstorbenen in einer deutschsprachigen Formel zum Ausdruck, die beim IV. Tor in der Nachkriegszeit wiederholt angewandt wurde, nämlich „tot ist, wer vergessen ist“. Diese Formel findet sich erstmals in einem Artikel in Die Gemeinde aus dem Jahre 1948, wo sie auf eine Grabinschrift aus dem Währinger Friedhof zurückgeführt wurde.230 Sie findet sich aber auch beispielsweise auf dem Grabstein des 1958 verstorbenen Beresch Rudel (17-25-39), auf dem Grabstein des 1964 verstorbenen „Verwalter[s] des Spitales und Altersheimes der I.K.G. [Israelitischen Kultusgemeinde]“, Alfred Kohn, in der Gruppe 9 sowie in etwas ausgefeilterer Form auf dem älteren Grabstein der bereits 1931 verstorbenen Rudolfine Stern (14-15-49). Auf diesem schwarzen Granitquader mit vergoldeter Inschrift steht: „Pei-nun [hier ist begraben; sic, kein Bezug auf die folgende deutschsprachige Inschrift] Wer im Gedächtnis seiner Lieben lebt, der ist nicht tot. Er ist nur fern, tot ist nur wer vergessen wird. Rudolfine Stern gestorben am 30. Mai 1931 im 58. Lebensjahre. In Memoriam Samuel Stern. Deportiert 1942“. Es gibt mehrere Shoahopfer aus Wien namens Samuel Stern, die 1942 deportiert wurden, somit ist nicht eindeutig, welcher hier gemeint ist. Die zahlenmäßig am weitesten verbreitete Gedenkformel in der Sepulkralepigraphik beim IV. Tor, wie in jüdischen Friedhöfen auf der ganzen Welt, bilden die schlichten Worte „In Memoriam“, mit denen ermordeter oder verschollener Angehöriger gedacht wird. Die Unzähligkeit dieser Gedenkinschriften alleine beim IV. Tor gewährt einen ergreifenden Einblick in die unbegreifliche Reichweite des Genozids, der an dieser Bevölkerungsgruppe verübt wurde, und macht einen ehrfurchtgebietenden Eindruck auf die oder den FriedhofsbesucherIn. Durch diese Formel kommt zudem der Umstand zum Ausdruck, dass die Grabstätten nicht mehr bloß der an dieser Stelle Bestatteten gedenken, sondern auch als Denkmal für Unbestattete fungieren – als wahres jad washem, „ein Denkmal und ein Name“. Paradigmatisch zeigt sich die Reichweite des an den europäischen Judenheiten verübten Genozids auf einem Grabstein in der Gruppe 1, dessen Inschrift elf Verstorbener gedenkt, von denen aber nur eine Frau hier bestattet liegt, nämlich die 1973 verstorbene Regine Kempler. Der Rest ihrer weit verzweigten Familie – Jakob und Rachael Kempler, Gisela Kohn, Hugo und Dora Kirschner sowie Josef, Serina, Franz, Jenö und Jesther Fenakkel – kam in den Ghettos und Konzentrationslagern im besetzten Osten Europas um. Finden sich die meisten „In Memoriam“-Inschriften als Nachtrag zu bestehenden Inschriften, so gibt es keine religiösen Bedenken gegenüber der
230 Tot ist, wer vergessen ist, in: Die Gemeinde, November 1948, S. 7–8.
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Errichtung von rein symbolischen Grabsteinen.231 Ein eindringliches Beispiel einer „In Memoriam“-Inschrift, die vermutlich einen rein symbolischen Charakter hat, sprich ein leeres Grab markiert, findet sich gleich neben dem Friedhofseingang, in den Arkaden auf der rechten Seite. Dort hängt eine schwarze Tafel mit der folgenden vergoldeten Inschrift: Zum Gedenken / Hermann Blumenthal 24.8.1875 – 25.8.1940 Brüssel / Lydia Blumenthal 11.9.1868 – 24.10.1942 Auschwitz / Richard Czollak 4.10.1890 – 29.9.1944 Auschwitz / Lotte Czollak 23.6.1899 – 6.10.1944 Auschwitz / Johanna Czollak 8.2.1865 – 15.2.1940 Berlin / Ludwig Czollak 4.8.1902 – 18.8.1941 Buchenwald. Geliebt, beweint und unvergessen, tantzaba.
Mal werden in solchen „In Memoriam“-Inschriften die Mordstätten genannt, mal wird nur vage auf das Schicksal der Verschollenen hingewiesen, oft dem Stand des Wissens entsprechend. Eine solche ergreifend persönliche „In Memoriam“-Inschrift findet sich als Nachtrag auf dem Grabstein des 1931 verstorbenen Oskar Neumark (14-15-33): In Memoriam an unsere treue und geliebte Gattin von Oskar Neumark, meiner unvergesslichen Mutter Lina Neumark, gest. in den Jahren 1940–1945, unbekannt wo, dein Susilein und Schwiegersohn Lothar, schlafe sanft wo immer du bist. Heinz Neumark, Sohn von Oskar und Lina, mein guter Bruder, gest. 1940–1945, unbekannt wo beerdigt, Susi und Schwager Lothar, Ruhe in Frieden wo immer du auch bist, tantzaba.
Waren zur Zeit der Verfassung dieses Nachtrags keine Informationen vorhanden, so ist heute nachweisbar, dass die 1890 geborene Lina am 27. April 1942 nach Włodawa in Ostpolen deportiert und somit vermutlich im Vernichtungslager Sobibor ermordet wurde. Das Schicksal des 1918 geborenen Heinz ist heute nach wie vor unbekannt. Den beiden gedenkt heute ein Stein der Erinnerung vor ihrer ehemaligen Wohnung in der Gentzgasse 11 im 18. Bezirk.232 Bei den UrheberInnen der Inschrift handelt es sich um Susanne Weiss, geborene Neumark und ihrem Mann Lothar. Auf dem Grabstein des 1936 verstorbenen „Ehrenmitglied[s] und Gründer[s] des 1. Wiener Gewerbevereines“ Julius Feldstein wird seinen Söhnen Walter und Fritz „In Memoriam“ lediglich mit den Worten „deportiert im Jahre 1939 nach Polen“ gedacht (22-20-1). Die Brüder waren unter den 5.000 Juden, die nach Kriegsausbruch im Oktober 1939 nach Nisko am San deportiert wurden 231 Vgl. Roth: Zur Halachah des jüdischen Friedhofs II, S. 97–98. 232 Ein ursprünglicher Stein mit Hinweis auf ein unverwandtes, 1876 geborenes Opfer der Shoah namens Heinz Neumark wurde inzwischen ersetzt. Vgl. Verein Steine der Erinnerung (Hg.): Stationen der Erinnerung in Währing. Eine Initiative des Vereins Steine der Erinnerung, 1. Teil, Wien 2019, S. 7–8. Ich danke Roswitha Hammer für diesen Hinweis.
Grabsteine, Sepulkralepigraphik und Symbolik im Friedhof beim IV. Tor nach 1945
– im Zuge des ersten Experiments seitens Adolf Eichmanns und der von ihm geleiteten „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“, die Deportation in den Osten als „Lösung“ des „Judenproblems“ durchzuführen.233 Die Spur der Brüder verliert sich dort. Auch in der „In Memoriam“-Inschrift auf dem Grabstein der 1925 verstorbenen Laci Klein und ihrem 1936 verstorbenen Vater Hermann, der seiner Frau Emilie, deren Tochter Martha und ihrem Gatten Abraham Lemo gedenkt, steht lediglich ein Wort zur Erklärung: „deportiert“ (3-29-14). Die Inschrift auf dem Grabstein des Ehepaars Miriam und Leopold Schreiber (1980 bzw. 1983 verstorben) in der Gruppe 2 gedenkt „In Memoriam“ neben Leopolds Vater Tivadar (der bereits 1921, also lange vor der Shoah, verstarb und somit vermutlich auf seine Bestattung anderenorts verweist) auch seiner Mutter Josefine, geborene Guttman, sowie der „Kinder Sari, Margit, Arthur, Lili, Zoli, umgekommen in KZ“. Ob damit die Kinder von Leopolds Eltern oder des jüngeren Ehepaars Schreiber gemeint sind, ist unklar. Der allgemeine Verweis auf „KZ“ zeigt jedenfalls, dass nicht einmal die (womöglich verschiedenen) Todesstätten der Familienangehörigen bekannt waren. In anderen „In Memoriam“-Inschriften finden sich hingegen Auflistungen von Todesstätten, wie etwa auf dem Grabstein des 1927 verstorbenen Josef Vogel: Seine Frau Lotti verstarb in Paris, seine Töchter Marie und Natalie kamen in Auschwitz um, während sein Sohn Norbert „in Frankreich […] erschossen“ wurde (3-28-29). Letztere Inschrift veranschaulicht, dass nicht alle der „In Memoriam“ gedachten Opfern in den Konzentrationslagern und Vernichtungsstätten im besetzten Osten Europas umkamen. Darüber hinaus verkörpert dieses Denkmal zudem die Tragödie, die so vielen Familien in der Shoah widerfuhr: Der monumentale Grabstein mit seiner polierten schwarzen Inschriftentafel birgt nämlich im Architrav in goldenen Charakteren den Familiennamen und wurde – dem Brauchtum der Zeit entsprechend – offensichtlich als multigenerationelle Familiengrabstätte konzipiert. Schließlich fand hier jedoch nur der Patriarch Josef seine letzte Ruhe. Die Familientragödie kommt noch deutlicher in Josefs Inschrift zum Ausdruck, die verkündet: „Dein Name wird gerühmt durch den Mund derer, die dich kennen. Deine grosse Gabe werden deine Nachkommen preisend nennen“. Mit dem Mord an den Nachkommen fand auch ein gewisser Mord an der Erinnerung der Vorfahren statt: In Psalm 112,6 wird versprochen, dass „des Gerechten […] nimmermehr vergessen“ wird, doch wenn die Nachkommen ausgelöscht sind, gibt es keinen, der sich erinnern könnte. Die tiefgreifenden generationellen Brüche, die der Wiener Judenheit durch das 20. Jahrhundert widerfuhren, kommen eindringlich auf dem Grabstein 233 Vgl. Moser, Jonny: Nisko. Die ersten Judendeportationen, herausgegeben von Joseph Moser/James Moser, Wien 2012.
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des 1980 verstorbenen Otto Spennadel zum Ausdruck (19-3-11), der seinerzeit bei den Exhumierungen am Währinger Friedhof mitarbeiten musste (siehe hier Kapitel 7). Darauf finden sich drei ganz unterschiedliche „In Memoriam“Inschriften: erstens für seinen 1916 im Ersten Weltkrieg gefallenen Onkel Jakob, zweitens für seinen 1944 in der Shoah umgekommenen Bruder Friedrich und schließlich für seine 1987 verstorbene Schwester Else, die vermutlich in der Emigration verstarb. Ottos 1947 verstorbene Mutter Rosa, eine Überlebende des Konzentrationslager Theresienstadt, liegt ebenfalls in diesem Grab bestattet. Somit vereint dieser eine Grabstein in einer einzigen Inschrift Kriegsdienst, Genozid und Exil, aber auch Überleben und das Weiterleben in Wien. Ähnlich findet sich eine Inschrift auf dem Grabstein des 2007 verstorbenen Edmund Reiss, dem ehemaligen Vizepräsidenten der Kultusgemeinde, in der Gruppe 20A, die eine klassische zweisprachige Laudatio für den Verstorbenen in einer „In Memoriam“-Inschrift für seine ermordeten Eltern integriert: In Memoriam [Hebräisch:] Elijahu, Sohn des Schulem Reiss [Deutsch:] Dipl. Ing. Edmund Reiss, 24.9.1924 – 8.6.2007, Partisan 1942–1944, Leutnant der polnischen Armee 1944–1946, im Kampf verwundet, Vizepräsident der [Kultusgemeinde] Wien. 1942 von Nazis ermordet: Mutter Blina Reiss geb. Edel, Vater Schulem Reiss.
Freilich finden sich auch in der Sepulkralepigraphik am älteren jüdischen Friedhof beim I. Tor viele „In Memoriam“-Zusätze, war dies doch der hauptsächliche Bestattungsraum der Eltern- und Großelterngeneration jener, die in der Shoah verfolgt, vertrieben und ermordet wurden. Diese veranschaulichen noch deutlicher die Tragödie der Geschichtsentwicklung der Judenheit Österreichs vom späten 19. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts, war doch der Sepulkraldiskurs in diesem Bestattungsraum vom optimistischen Geist der Emanzipationsära durchzogen. Der hier in Kapitel 6 besprochene Grabstein des 1932 verstorbenen Josef Löwner, der in seiner Inschrift als „erste[r] Jude“ gerühmt wurde, „der als Richter einem Wiener Gerichtshofe angehörte“, wurde nach 1945 mit einer „In Memoriam“-Inschrift ergänzt für seine Frau Rosa, die 1942 in Theresienstadt umkam sowie für deren Sohn Ernst, der „in Polen […] umgekommen“ ist (20-16-62). Auch am Döblinger Friedhof, der seinerzeit das Verschmelzen der „jüdischen“ und „nichtjüdischen“ Milieus des großbürgerlichen Wiens zur Schau stellte, finden sich „In Memoriam“-Inschriften für Menschen, die der Shoah zum Opfer fielen. Auf dem hier in Kapitel 5 besprochenen Grabstein des Ehepaars Neurath steht eine schlichte „In Memoriam“-Inschrift für „Stephanie Neurath, 28. 11. 1887, gest. 1942“ (I2-8-3). Stephanie wurde 1942 nach Izbica in Polen deportiert, danach verliert sich ihre Spur. Zwei leicht unterschiedliche Schicksale finden sich in der „In Memoriam“-Inschrift auf dem ebenfalls
Grabsteine, Sepulkralepigraphik und Symbolik im Friedhof beim IV. Tor nach 1945
in Kapitel 5 besprochenen Grabstein der Familie Jerusalem, die verkündet: „Zur Erinnerung an Oberlandesgerichtsrat Dr. Erwin Jerusalem 27.IV.1881 – 30.I.1943“, gefolgt von „Professor Irene Jerusalem 10.IX.1882 – Frühjahr 1942“ (I6-19). Erwin lebte zwar zuerst durch eine „Mischehe“ geschützt in Wien, wurde aber verhaftet, da er half, eine untergetauchte jüdische Frau, Margarethe Elvira Wertheimer, zu verstecken. Wertheimer wurde im Oktober 1942 nach Maly Trostinec deportiert und ermordet, Erwin kam einige Monate später in Auschwitz um. Seine Schwester Irene wurde bereits im Oktober 1941 nach Łódź deportiert und vermutlich im Vernichtungslager Chełmno ermordet.234 Beachtlich, aber den Umständen entsprechend nicht überraschend, finden sich „In Memoriam“-Inschriften in Döbling nicht bloß auf „jüdischen“ Grabsteinen (bzw. Grabsteinen von Personen aus jüdischen Familien): Auf dem mit einem Kreuz als christlich markierten Grabstein des Ehepaars Maria und Franz Duschak (1944 bzw. 1948 verstorben) findet sich zum Schluss eine „In Memoriam“-Inschrift für „Stefanie Zweig, Alfred Zweig, Stefan Zweig, Schriftsteller“ (I1-G1-52). Diese bescheidene stellvertretende Grabstätte für einen der berühmtesten Schriftsteller Österreichs, der sich 1942 zusammen mit seiner Frau Charlotte im brasilianischen Exil das Leben nahm und dort in Petrópolis bestattet ist, erklärt sich aus dem familiären Zusammenhang: Franz Duschak war Stefanie Zweigs Bruder. Sie und ihr Mann Alfred, Stefan Zweigs Bruder, verstarben beide 1977 in New York, wo sie im Woodlawn Cemetery in der Bronx bestattet sind, inmitten der Grabstätten unzähliger amerikanischer Berühmtheiten. Ergreifend ist in diesem Zusammenhang auch der Grabstein der Familie Marcus (33-2): Ein prächtiges, aus weißem Marmor und mit zwei kleinen Knaben geschmücktes Denkmal, verweist weder in Form noch Inschrift auf irgendeine religiöse oder „ethnische“ Identifikation. Am Sockel steht jedoch schlicht der Zusatz: „In Memoriam Clara Marcus 1869–1942, Alfred Marcus 1871–1942, Sophie Marcus 1879–1943“ – offensichtlich drei Geschwister, die dem NS-Rassenwahn zum Opfer fielen, ohne dass die Familie scheinbar, wenigstens nach außen, sich als „jüdisch“ identifizierte. Die Namen erscheinen auch nicht in den Opferdatenbanken. Wie ein Artikel in Die Gemeinde aus dem Jahre 1973 richtig verkündete, liegen aufgrund der NS-Verfolgung „Wiener-Juden-Gräber in aller Welt verstreut“: „Sondergedenkstätten in Theresienstadt und Belgrad, Gräber ohne Namen in Konzentrationslagern, auf Fluchtwegen, Grabsteine in allen Emigrationsländern bezeugen in Israel, Amerika, Australien und anderswo, daß die Spuren ihres Lebens nicht ganz verweht sind.“235 So gedenken viele „In Memoriam“Inschriften nicht nur jener, die in der Shoah ermordet wurden, sondern auch 234 Ich danke Michaela Raggam-Blesch für die biographischen Hinweise. 235 Wiener-Juden-Gräber in aller Welt verstreut, in: Die Gemeinde, 1. Juni 1973, S. 40.
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ihrer Angehörigen, die im Exil verstarben und fern der ursprünglichen Heimat bestattet wurden. Durch ihre häufige Erwähnung in den jüdischen Abteilungen des Zentralfriedhofs bildet sich hier im Sepulkraldiskurs eine geographische Matrix des Exils ab, worin die Grabstätten wichtige Knotenpunkte der familiären Erinnerung darstellen. Auf dem Grabstein der 1990 verstorbenen Chana Urach in der Gruppe 21 wird beispielsweise nicht nur auf Deutsch ihrer Eltern „In Memoriam“ gedacht als „Jetti Rubenstein u. Adolf Silberwasser, gestorben im Holocaust“, sondern ihrer wird selbst auf Englisch durch ihre Tochter gedacht: „innig geliebte Mutter von Dr. Margit Korn, Melbourne – Australien“. Eine eindringliche Zusammenfassung des Leidenswegs der in die Emigration Gezwungenen findet sich im englischsprachigen Zusatz auf dem Grabstein der 2009 verstorbenen Edith Herzlinger, der Schwester des Vizepräsidenten der Chewra Kadisha Max Uri, in der Gruppe 10, der prägnant ihre Lebensstationen auflistet: „Wien – Cambridge – New York – Wien“. Auch beim I. Tor findet sich beispielsweise auf dem hier in Kapitel 5 besprochenen Grabstein des Emanuel Weber eine Zusatztafel mit folgender Inschrift: „Pei-nun [hier ist begraben; sic, kein Bezug auf die folgende Inschrift] Zur Erinnerung an die Töchter Lotte Weber 8.3.1901 – 26.11.1949 verstorben in Surrey/Sussex [Vereinigtes Königreich], Clara Roszenfarb 31.1.1899 – 15.7.1985 verstorben in Sydney [Australien]“ (51-17-69). Merkwürdig ist hier neben der Nennung im ersten Fall von zwei unterschiedlicher englischer Grafschaften als Sterbeort die Anwendung der Abkürzung pei-nun, die keinen inhaltlichen Zusammenhang mit der deutschsprachigen Inschrift ergibt, zumal die Verstorbenen nicht hier bestattet liegen. Interessant ist zudem der Nachtrag zur Inschrift des 1936 verstorbenen Philipp Broch beim I. Tor, der verkündet: „In Memoriam Laura Broch geb. Kraemer [Philipps Frau], 1879–1945, begraben in Hartsdale, New York, Dr. Erich Broch [deren Sohn], 1904–1956, begraben in Hartsdale, New York“ (20-24-217). Im Ferncliff Cemetery in Hartsdale nördlich von New York City, wo Berühmtheiten wie etwa Béla Bartók und Malcolm X bestattet liegen, sind nämlich nachweislich auch andere Wiener Jüdinnen und Juden bestattet: Der 1892 in Wien geborene und 1940 nach New York geflüchtete Joseph Bohm ließ beispielsweise nach dem Krieg die Asche seiner 1940 im Londoner Exil verstorbenen Mutter Clara nach Hartsdale überführen und dort bestatten. In ein bestehendes Familiengrab am Wiener Zentralfriedhof wollte er sie offensichtlich nicht überführen, somit gründete er eine neue „Grabstätte seiner Väter“ mit der Asche seiner Mutter in New York.236 236 Bohm, Joseph: About my Family [1892–1940], unveröffentlichte Memoiren, 1969, LBI, ME 1350, S. 27. Auf S. 16 erwähnte er, dass mehrere Angehörige im Zentralfriedhof bestattet waren, doch nannte er keine Grabstellen. In der Friedhofsdatenbank werden keine Bohms, dafür hunderte Böhms verzeichnet.
Grabsteine, Sepulkralepigraphik und Symbolik im Friedhof beim IV. Tor nach 1945
Wie die vielen „In Memoriam“-Inschriften in Wien zeigen, war es den Familien der Geflüchteten wichtig, auch wenn die meisten aus der Emigration nicht zurückkehrten, ihrer dennoch auf den bestehenden Grabdenkmälern in Wien zu gedenken – ein ergreifender Hinweis auf die profunde Bedeutung der „Grabstätte der Väter“ für die individuelle und familiäre Erinnerung, auch über den Abgrund eines Genozids hinaus. Umgekehrt findet sich beim IV. Tor in der Gruppe 1 eine auffällige Inschrift, die eines „1913 in New York“ geborenen „Col. Herman Frankel Esq.“ (also ein Rechtsanwalt und Oberst in der US-Armee) gedenkt, der „2007 in Wien“ verstarb. Ob der Verstorbene Wurzeln in Wien hatte und „remigriert“ ist oder in der Nachkriegszeit frisch zuwanderte, geht aus dieser knappen Inschrift nicht hervor. Das Grab ist mit einem Winkelmaß und Zirkel versehen, was in diesem Zusammenhang wohl doch auf seine Mitgliedschaft in einer Freimaurerorganisation hindeutet (vergleiche hierzu die Diskussion in Kapiteln 2 und 5). Bilden die unzähligen „In Memoriam“-Inschriften eine recht sachliche Darstellung der Umstände des Genozids ab, so stellt der Märtyrerdiskurs, der sich neben den oben besprochenen Gemeinschaftsdenkmälern auch in vielen individuellen Grabinschriften findet, eine religiöse Deutung und Wertung der erlittenen Verbrechen dar. Eines der ausführlichsten Beispiele dieses rein innerjüdischen Märtyrerdiskurses findet sich in der fast ausschließlich hebräischsprachigen Inschrift der 1979 verstorbenen Elisabeth Goldstein in der Gruppe 21A – nur zum Schluss findet sich ein kurzer deutschsprachiger Nachtrag: „Elisabeth Goldstein geb. Friedmann aus Munkacs“ (heute Mukatschewo in Transkarpatien in der Ukraine). Nach der zutiefst religiös-orthodoxen Laudatio für Elisabeth (in der Inschrift mit synagogalem Namen Rebekka genannt) folgt eine „In Memoriam“-Inschrift für ihre Eltern, Geschwister und weiteren Verwandten, die allesamt der Shoah zum Opfer fielen: Dieses matzewa [Denkmal] gilt auch der Erinnerung an ihren Vater reish [raw, im Sinne „Herr“] Jakob Koppel, Sohn von Zwi; ihre Mutter mem [meret, Frau] Debora, Tochter von Moshe; ihre Schwester mem chet-jud [Abkürzung eines Vornamens, vermutlich Chaja, Ehename unbekannt] und ihren Ehemann Josef [Familienname unbekannt] sowie deren Söhne und Töchter; und ihre Schwester Gittl, die ermordet wurden alef-kuf-jud-hei [eine etwas eigenartige Abkürzung von al kiddush hashem, zur Heiligung von Gottes Namen] am Vorabend von Shawuot 704 [27. Mai 1944] in Auschwitz, sowie ihren Bruder Shlomo Salman, der in Russland umgebracht wurde, tantzaba – hei-jud-dalet [Gott räche ihr Blut].
Angesichts des Ursprungs der Familie aus Munkacs/Mukatschewo, das damals von Ungarn besetzt war, kann davon ausgegangen werden, dass die gesamte Familie in den großen Deportationen aus Ungarn im Frühjahr 1944 verschleppt und, wie die Inschrift nahelegt, sofort nach der Ankunft in Auschwitz ermordet
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wurde. Der ausschließlich innerjüdische Diskurs dieser Inschrift mag sich nicht zuletzt aus dem Zusammenhang erklären, dass Elisabeth Goldstein aus einer Stadt im ungarisch/ukrainischen Grenzgebiet mit hohem jüdischen Bevölkerungsanteil stammte und, wie viele der beim IV. Tor bestatteten Überlebenden aus dem Ausland, insbesondere jene aus Ungarn, vor der Shoah keinerlei Bezug zu Österreich oder zur deutschen Sprache besaß. Insbesondere auf den Denkmälern der hier bestatteten ungarisch-jüdischen ZwangsarbeiterInnen fand der innerjüdische Märtyrerdiskurs einen großen Widerhall. Ganz in der letzten Ecke des Friedhofs in der Gruppe 22 findet sich ein repräsentativer Grabstein, der an die Grabmäler für unbekannte Soldaten erinnert, die in unzähligen Ländern aufzufinden sind, was wiederum die Verschränkung des Opfertums mit dem Märtyrertum veranschaulicht.237 Die Inschrift ist zweisprachig hebräisch/deutsch, wobei die Unterschiede zwischen den beiden Teilen interessant sind. Verkündet die Deutschsprachige: „Unbekannter Märtyrer, Opfer des Nationalsozialismus, ermordet im Jahre 1945 in St. Margarethen, Burgenland. Enterdigt und wiederbestattet von der israelitischen Kultusgemeinde Wien“, so erzählt die Hebräischsprachige: Pei-nun [Hier ist begraben; sic, kein Bezug auf die folgende Inschrift] Die Knochen, die wir von einer Grabstelle am Straßenrand entnahmen, sind die toten Knochen eines Juden, dessen Namen wir nicht kennen, der ermordet wurde ain-jud [durch die Hand] der NS-Verbrecher [harasha’im hanatzim] jud-mem-shin [mögen ihre Namen ausgetilgt werden] hei-jud-dalet [Gott räche sein Blut] tantzaba.
Der Grabstein ist seit 2015 zersprungen und umgefallen und wurde bis dato nicht instand gesetzt. Auffallend ist hier die Ungereimtheit der Abkürzung „pei-nun“ selbst in einer hebräischsprachigen Inschrift. Ein namentlich zugeschriebener, jedoch in seiner Inschrift kollektivierter Grabstein gedenkt der 1944 verstorbenen Miriam Schindler in der Gruppe 20, eine Granitstele mit einer Tafel aus weißem Marmor samt schwarzer, ausschließlich hebräischsprachiger Inschrift. Obwohl die Verstorbene hier nur mit synagogalem Namen genannt wird, handelt es sich vermutlich um Josefine Schindler, die laut der Friedhofsdatenbank am 3. Juli 1944 im Alter von 83 Jahren in der Grabstelle 20B-3-48 bestattet wurde: Die Gräbergruppe stimmt nicht nur überein, Miriam verstarb auch laut der Inschrift am 9. Tamus 704, den 30. Juni 1944, also drei Tage vor Josefines Bestattung, „im 84. Lebensjahre“. Auf ihre recht orthodox-jüdische Laudatio folgt der poetische, kollektiv gedenkende Nachruf: „In den Jahren der shoah war sie auf dem Weg mit den anderen Märtyrern Israels [bejachad im shar kadoshei Israel] hei-jud-dalet. Sie gelangte in ein 237 Diesen Bezug machte auch allgemein Laqueur: The Work of the Dead, S. 418–419, siehe auch S. 479.
Grabsteine, Sepulkralepigraphik und Symbolik im Friedhof beim IV. Tor nach 1945
Grab von Israel. Möge sie ruhen und am Ende der Tage ihr Erbteil empfangen tantzaba“, Letzteres umschrieben aus Daniel 12,13. Diese Inschrift verweist außergewöhnlich auf eine Verstorbene, die in ein „Grab von Israel“ gelangte, wo in den meisten „In Memoriam“-Inschriften genau das Gegenteil verkündet wird. Der kollektive Leidensweg, der hier beschrieben wird, unterstreicht die Shoah nicht bloß als Märtyrertum, sondern als bindende, gemeinsame Erfahrung der Judenheit – Israel – die durch das Hebräische, inklusive Verweise auf Gott und ein Bibelzitat, durch das Schema der religiösen Tradition gedeutet und begreiflich gemacht wird.
Abb. 27 Transkription und Übersetzung der Inschrift auf dem Grabstein des 1944 verstorbenen Moritz Gelber (22-49B-1). © Autor
Noch religiöser fällt die ebenfalls ausschließlich hebräischsprachige Inschrift des im Sommer 1944 im Alter von 84 (laut Friedhofsdatenbank 89) Jahren
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verstorbenen Moritz Gelber aus, in der er mit synagogalem Namen Moshe genannt wird (22-49B-1). Der Grabstein besteht aus einem Granitstein mit einer Inschriftentafel aus Aluminium, ein ästhetisch recht unbeeindruckendes Denkmal, das somit die pietätvolle Funktion dieses Gedenkzeichens über das Ästhetische hervorhebt. Gelber erscheint in den Verzeichnissen der verstorbenen ZwangsarbeiterInnen im Kultusgemeindearchiv, laut denen er nach seiner Deportation aus Ungarn in der Mengergasse 23 im 21. Bezirk – ein Zwangsarbeiterlager – interniert war. Er verstarb schon bald nach seiner dortigen Einweisung an „Herzkranzschlag, Aderverkalkung, schwielige Herzfleischentartung, Herzlähmung“ und wurde angeblich „obduziert“; es ist nicht klar, wieso.238 Die Bestattung fand am 26. Juli 1944 statt.239 Seine ausgiebige Inschrift beginnt wie die alten Grabsteine der Seegasse mit einer Art biblischer Präambel, nämlich ein aus Klagelieder 5,17 und Habakuk 2,11 zusammengelegter Nachruf, dem die Worte al mawet kadoshim (sprichwörtlich: über den Tod der Heiligen) beigefügt sind. Diese können auch als „über das Märtyrertum“ umschrieben werden. Die eigentliche Laudatio erinnert eindringlich an die klassisch religiösen Inschriften der Frühen Neuzeit, inklusive der ausgiebigen Ehrentitel, die sich ausschließlich auf jüdisch-religiöse Tugenden (in diesem Fall Gelehrsamkeit und Wohltätigkeit) beziehen und Gelber wohl tatsächlich, nicht bloß ehrenhalber, als Rabbiner ausweisen. Ähnliches gilt für seinen Vater aufgrund des ausgiebigen, ehrenvollen Patronyms, aber auch die abgekürzte Bezeichnung haraw hachassid, sprichwörtlich: „der fromme Rabbiner“, was durch das Eigenschaftswort chassid möglicherweise auf eine spezifische Verbindung zum Chassidismus deuten könnte, der im Osten Ungarns, wo die Familie herkam – aus Bisermin (Hajdúböszörmény), wie die Inschrift besagt – tatsächlich weit verbreitet war. Das Ende des Patronyms („behüte ihn und halte ihn am Leben“), das hier in abgekürzter Form erscheint, ist umschrieben aus Psalm 41,3. Auffällig ist in diesem ansonsten rein innerjüdischen Diskurs der durch seine typographische Absonderung betonte Verweis auf die Herkunft im „Land Ungarn“ (in einer hebräisch-jiddischen Verschmelzung als eretz Ungarn angeführt; auf Hebräisch heißt das Land Hungaria) sowie auf die Stadt Bisermin/Hajdúböszörmény, aus der er nach Österreich „gebracht“ (verschleppt) wurde. Zum Schluss werden nicht nur die Täter explizit genannt, sondern auch mit biblischen Flüchen belegt, die zugleich Gelber als Märtyrer ausweisen.
238 Todesbescheinigung, 25. Juli 1944, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/2, zit. in USHMM, AJCVVCC. 239 Verzeichnis der Begräbnisse ungar. Arbeiter vom 2. Juni bis 15. Sept. 1944, AIKGW, A/VIEIKG/II/BUCH/FH/FRIEDHOFSANGELEGENHEITEN, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
Grabsteine, Sepulkralepigraphik und Symbolik im Friedhof beim IV. Tor nach 1945
Doch gibt es im Erinnerungsdiskurs rund um die jüdisch-ungarische Zwangsarbeit auch Gegenbeispiele zu diesen explizit religiösen, ausschließlich hebräischsprachigen Laudationes. Die Inschrift auf dem Grabstein der am 11. Juli 1944 im jüdischen Altersheim in der Malzgasse an Diabetes verstorbenen Eliasne (laut Todesbescheinigung Eva) Hoffmann, geboren Eva Szinetar (22-?-15) fängt zwar mit der klassischen hebräischen Abkürzung „pei-nun“ an, doch der Rest der Inschrift verkündet schlicht auf Ungarisch: „Während der Deportation [sprich: in Österreich] verstorben, du wirst nie vergessen werden“.240 Die meisten der Grabstätten verstorbener ungarischer ZwangsarbeiterInnen beim IV. Tor sind jedoch Musterbeispiele für die Verbreitung auch auf der Ebene der individuellen bzw. gesammelten Erinnerung eines innerjüdischen, zutiefst religiösen Diskurses infolge der Shoah, der das Geschehene schablonenhaft durch einen biblischen narrativen Rahmen zu deuten versucht, indem es durch den Verweis auf die „Austilgung ihrer Namen“ die NationalsozialistInnen mit der biblischen Gestalt des „Amalek“ in Verbindung bringt und die Opfer als „Märtyrer“, also als Gläubige stilisierte, die mehr oder weniger aus Bekenntnis zu ihrer Religion starben. Dadurch kommt ein ausgesprochenes Selbstverständnis der jüdischen „Differenz“ zum Ausdruck, vertieft durch den Umstand, dass gerade die ungarischen Verstorbenen weitestgehend in ihrem Sepulkraldiskurs keinerlei Bezug zu Wien, zu Österreich oder zur deutschen Sprache aufzuweisen hatten. Überhaupt ist der Märtyrerdiskurs weitestgehend eine rein hebräischsprachige und somit innerjüdische Angelegenheit; selten findet sich ein Beispiel in deutscher Sprache, wie etwa auf dem Grabstein des Ehepaars Hanka und Siegmund Goldwasser in der Gruppe 1, dessen Inschrift verkündet: „In Memoriam Manes Goldwasser, Malka Goldwasser, Lola Goldwasser, die den Märtyrtod starben, tantzaba“. Wie bereits angedeutet, wurden nicht nur die Opfer, sondern oft auch die Täter in den „In Memoriam“-Inschriften erwähnt. Eine explizite Nennung der Täterschaft findet sich beispielsweise auf dem Grabstein des 1937 verstorbenen Knaben Kurt Roubitschek beim I. Tor (19-56-95). Seine Inschrift wurde nach der Shoah um folgende Zeilen erweitert: „In Memoriam unserer armen Schwester und Tante, Frau Grete Hand geb. Füchsel, geb. 24.8.1902, welche im Okt. 1941 dem deutschen Terror zum Opfer fiel“. Grete (eigentlich Margarete) Hand kam im Konzentrationslager Sajmište bei Belgrad um. Ein ausführlicher Hinweis auf Täterschaft beim IV. Tor – zumal in einer für diesen Friedhof einzigartigen, weil rein englischsprachigen Inschrift, die auch explizit auf die Urheberschaft der in den USA lebenden Söhne verweist – findet sich auf dem
240 Todesbescheinigung, 11. Juli 1944, AIKGW, A/VIEIKG/II/BUCH/FH/FRIEDHOFSANGELEGENHEITEN, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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mit einem Davidstern versehenen Grabstein des 1939 in Buchenwald umgekommenen Osias Schwarz (21-41-57). Die Inschrift beginnt mit dem durch Anführungszeichen als Zitat gekennzeichneten Satz „To be on record – as a true memorial“ (Protokolliert zu sein – als wahres Denkmal). Ein solches Zitat lässt sich allerdings nicht ausfindig machen. Die Inschrift fährt aber tatsächlich protokollarisch fort: Hier liegen die sogenannten Aschen unseres lieben Vaters und die teuren Erinnerungen an unsere gütige und liebe Mutter. Unser Vater Osias Schwarz wurde in Buchenwald ermordet – unsere Mutter Sara Schwarz wurde nach Theresienstadt deportiert und von dort aus weiter nach Auschwitz in den Tod. Beide unserer Eltern, unschuldige Opfer der bestialischen NS-Verfolgung – all das – nur wegen unseres jüdischen Glaubens.
Diese vielschichtige Inschrift nennt nicht nur explizit die Ursachen des Todes der Eltern, sondern äußert den berechtigten Verdacht, dass es sich bei der Asche, die 1939 in einer Urne aus Buchenwald nach Wien zur Bestattung gelangte, nicht wirklich um die irdischen Überreste des Vaters handelt. Der Verweis auf das „Begräbnis“ nicht des Leichnams von, sondern der Erinnerungen an die Mutter Taube, die in Auschwitz ermordet wurde, unterstreicht zudem die stellvertretende Rolle der Grabstätte nach der Shoah als jad washem, als „ein Denkmal und ein Name“, wo kein Grab existiert. Die Täterschaft wird bei der Nennung der Namen und Lebensdaten der Ermordeten nochmals explizit genannt: „Osias Israel Schwarz, geb. 28. Februar 1894 – von den Nazis ermordet am 12. Dezember 1939, Sara Taube Schwarz, geb. 10. April 1893 – von den Nazis ermordet im Juli 1942“. Danach endet die Laudatio mit einem personalisierten Nachruf der Söhne: „Gewidmet mit guten und unlöschbar lieben Erinnerungen an unsere geliebten Eltern, für ihr Opfer – ihr Leben – und ihre Liebe uns gegenüber. Jack und Norbert USA“. Interessant sind hier nicht zuletzt die Namen Israel und Sara – die vom NS-Regime auferlegten Zusatznamen, die hier von den Nachkommen im Erinnerungsdiskurs aufgegriffen wurden. Interessant ist indes auch der Verweis auf den „jüdischen Glauben“ als Verfolgungsursache – in Wahrheit verfolgten die NationalsozialistInnen aus ihrer Sicht keine Religion, sondern eine „Rasse“. Die Nichtauseinandersetzung mit dieser Dimension des Genozids seitens der Kinder der Ermordeten zeugt wohl von ihrer Fassungslosigkeit angesichts des Verbrechens. Ein hochspezifischer Hinweis auf einen Todesfall während der Shoah findet sich auf dem Grabstein des Ehepaars Shlomo und Chana Ratner (1984 bzw. 2008 verstorben) in der Gruppe 3. Das Denkmal aus poliertem dunklem Granit ist auffallend orthodox, rein auf Hebräisch beschriftet und mit den segnenden Kohanimhänden verziert. Die Inschrift nennt nur die synagogalen Namen der Verstorbenen – da sie aufgrund des jungen Datums ihres Begräbnis auch
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nicht in der Friedhofsdatenbank erscheinen, sind also ihre bürgerlichen Namen ohne Weiteres nicht zu eruieren – sowie die Sterbedaten allein nach jüdischem Kalender. Der Grabstein enthält auch zwei „In Memoriam“-Inschriften. Unter Shlomos Inschrift steht: Dieser Stein ist auch ein Denkmal für seinen Vater reish [in diesem Kontext „Herr“] Moshe hacohen [der Priester; daher die Kohanimhände] und seine Mutter Frau Rosa aus dem Hause Seidel hei-jud-dalet [Gott räche ihr Blut], die während der shoah ermordet wurden ain-kuf-hei-shin [zur Heiligung von Gottes Namen] und nicht in ein Grab von Israel gelangten.
Die Inschrift von Chana Ratner endet vorerst mit dem Hinweis „shin-alef [shem ima, der Name ihrer Mutter lautet] Jenny“, eine moderne orthodoxe Neuerung in der Wiener jüdischen Sepulkralepigraphik, wie hier in Kapitel 6 besprochen. Dann führt sie „In Memoriam“ weiter: „Dieser Stein ist auch ein Denkmal für ihren Vater, Herrn Max Baum hei-jud-dalet, der während der shoah ermordet wurde ain-kuf-hei-shin, als das Schiff Arandora Star, auf dem er unterwegs war, versenkt wurde am 26. Siwan 740, und der nicht in ein Grab von Israel gelangte tantzaba“. Die „Arandora Star“ war ein Passagierschiff der Reederei Blue Star Line, das während des Krieges von der britischen Kriegsflotte zum Transport von „feindlichen AusländerInnen“ beschlagnahmt wurde. Im Vereinigten Königreich brach mit Kriegsbeginn eine Hysterie über vermeintliche „AgentInnen“ des Feindes aus, das schließlich zur Internierung von etwa 31.000 Geflüchteten aus Deutschland und Österreich führte, inklusive Kindern, egal ob jüdisch oder nicht, von denen mehrere Tausend bald in Internierungslager nach Kanada und Australien deportiert werden sollten.241 Die Arandora Star wurde am 2. Juli 1940 auf dem Weg nach Kanada von einem deutschen U-Boot torpediert und versank nördlich von Irland im atlantischen Ozean mitsamt 865 PassagierInnen, unter ihnen Max Baum. Interessant ist an dieser Inschrift im Übrigen auch die ungewöhnliche Umschreibung des Sterbens bei den beiden hier Bestatteten mit der Abkürzung „nun-lamed-bet-ain“ (maskulin/feminin: niftar/a lebeit olmo/olma, zu seinem/ihrem Haus der Ewigkeit verstorben). Zudem weisen die Laudationes der Ehepartner eine gewisse geschlechtsspezifische Trennung auf, denn wo Shlomo Ratner nach der Nennung seines Namens die Abkürzung „sain-lamed“ (seliges Andenken) erhält, wird Chana Ratner lediglich mit „ain-hei“ (Friede sei mit ihr) gedacht – „selig“ sind in der Orthodoxie wohl nur Männer. Wird in dieser Inschrift der spezifische hebräische Begriff „shoah“ verwendet, so finden sich in der Sepulkralepigraphik beim IV. Tor auch Nennungen des 241 Vgl. Hecht/Lappin-Eppel/Raggam-Blesch: Topographie der Shoah, S. 238.
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Genozids allgemeiner als „Holocaust“, so beispielsweise in der oben bereits erwähnten Inschrift der 1990 verstorbenen Chana Urach. Obskurer wird der Genozid mal auf Hebräisch als „shanot ha’ima“ (Jahre des Schreckens) genannt, und zwar in der ausschließlich hebräischsprachigen Inschrift der 1998 verstorbenen Chana bat Menachem in der Gruppe 21. Ähnlich wird der Genozid im oben besprochenen Nachtrag zur Inschrift des 1841 verstorbenen und aus dem Währinger Friedhof beim IV. Tor umgebetteten Rabbiners Meir AlmašPopper als „shanot cheirum“ (Jahre der Not) bezeichnet. Ein ungewöhnlicher Verweis auf die Täterschaft findet sich schließlich im Nachtrag zur hier in Kapitel 6 besprochenen Inschrift des 1941 verstorbenen Emil Adler, die seiner 1944 in Auschwitz ermordeten Tochter Gertrud gedenkt (in der Inschrift mit synagogalem Namen Kreisl genannt): Ihr Tod „in fremder Erde“ wird „ainjud [durch die Hand des] bösen Reiches [malchut rasha’a]“, also dem „Dritten Reich“ zugeschrieben (6-19A-9A). Über die religiösen Diskurse in Erinnerung an die Shoah hinaus zeigt sich die Orthodoxisierung der Sepulkralpraxis beim IV. Tor, die nicht zuletzt durch die Novellierung der Friedhofsordnung vorangetrieben wurde, in vielen „gewöhnlichen“ Grabstätten, sowohl in Anlage wie in Form und Inhalt. Beispielhaft sind in diesem Zusammenhang die nebeneinanderliegenden Einzelgräber des Ehepaars Malvine und Willy Katz (1971 bzw. 1987 verstorben) in der Gruppe 7, wobei bereits die getrennte Bestattung dem von Feldsberg eingeführten Grundsatz der Einzelbestattung entspricht. Die Grabsteine an sich – einfache Quader aus poliertem schwarzen Marmor und mit knappen Inschriften aus vergoldeten Schriftzeichen – sind wiederum charakteristisch für die europaweite Entwicklung der Sepulkralkultur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die geprägt war von der Demokratisierung der Bestattung, der Massenfertigung der Denkmäler und dem damit einhergehenden Rückgang ihrer Opulenz. Auch die Knappheit der Inschriften ist recht typisch, wobei sie in diesem Fall auch explizit die Jüdischkeit der Verstorbenen zum Ausdruck bringen sollen. Beide Inschriften enthalten die hebräischen Standardformeln „pei-nun“, gefolgt von den Namen der Verstorbenen in lateinischen Schriftzeichen und ihrer Sterbedaten im gregorianischen Kalender, wobei das Weglassen der Geburtsdaten eine Rückkehr zu einem frühneuzeitlichen Brauchtum in der europäischen Sepulkralepigraphik darstellt – jüdische wie nichtjüdische – das mit Anbruch der Moderne weitgehend verschwunden war. Willys Grabstein ist zudem mit den segnenden Kohanimhänden verziert, ein Hinweis auf seine Zugehörigkeit zur Priesterklasse. Könnte der Familienname „Katz“ durchaus deutschsprachigen Ursprungs sein, ist er in diesem Fall also vermutlich abgeleitet von der als „Katz“ ausgesprochenen hebräischen Abkürzung „kuf-tzadi“ (kohen tzadik, heiliger Priester). Überhaupt lässt sich beim IV. Tor ein deutlicher Wandel zurück zu hebräisch-
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sprachigen Inschriften – und damit zu eher „traditionellen“, religiösen, innerjüdischen Diskursen – feststellen, der die allgemeine Tendenz zur Deutschsprachigkeit und der damit einhergehenden Verweltlichung der Sepulkralepigraphik stark gebremst und in Teilen sogar rückgängig machte. Die orthodoxe Wende am Friedhof macht sich in einem Bereich besonders bemerkbar, nämlich bei den ohelim (Grabhäusern) der chassidischen „Wunderrabbiner“. Waren diese nämlich zu ihrer Entstehungszeit Ausdruck einer zutiefst eigentümlichen und recht abgeschotteten Subkultur innerhalb der jüdischen Gemeinde, so deuten verschiedene Entwicklungen der Nachkriegszeit auf eine nun viel breitere Rezeption dieser Grabdenkmäler und der damit verbundenen religiösen Kultur unter der Wiener Judenheit, wie etwa das Brauchtum, zu diesen Rabbinergrabstätten zu pilgern und dort Bittschriften zu hinterlassen. Dieser Wandel veranschaulicht somit die Geisteshaltung, die im hier in Kapitel 8 diskutierten Gedicht „Alter jüdischer Friedhof “ von Alfred Werner zum Ausdruck kommt, wonach der jüdische Friedhof infolge der Shoah eine geistige Rückkehr zu einer verklärten „jüdischen“ Vergangenheit verkörpert, in der die Welt noch heil war: „Hier, am Friedhof der Chassiden / spür ich eine unbekannte, / doch im Herzen tief verwandte / Ruhe: Gib uns, Herr, den Frieden!“ Auch in der Nachkriegszeit wurden noch einige ohelim errichtet, so etwa das des 1993 verstorbenen Rabbiners Shmuel Pressburger und seiner 1997 verstorbenen Frau Lea in der Gruppe 21A, ein weiß bemaltes Betonhäuschen mit einer runden Kuppel aber ohne sonstige Verzierungen. Im Innenraum befinden sich die Scheinsarkophage der beiden Verstorbenen und darüber jeweils eine Inschriftentafel aus weißem Marmor mit einer schwarzen, ausschließlich hebräischsprachigen Inschrift. Shmuels komplexe Inschrift beinhaltet eine ausgiebige Abstammungslinie, aus der hervorgeht, dass seine Eltern Gittel und Aharon Pressburger aus Bonyhád in Südungarn stammten, wo Aharon aw beit din (Haupt des rabbinischen Gerichts) war. Beide kamen in der Shoah um. Shmuels Großvater Josef Pressburger war aw beit din in Mattersdorf (damals in Westungarn gelegen, heute Mattersburg im Burgenland) und stammte wiederum vom 1786 verstorbenen Prager Rabbiner Moses (genannt „Sarach“, im Sinne „glänzend“) Eidlitz ab. Wie in der chassidischen Sepulkralepigraphik allgemein dient hier die Laudatio vorwiegend der dynastischen Selbstbehauptung des verstorbenen Rabbiners. Der zentrale Stellenwert der Kultusgemeinde in der jüdischen Sepulkralepigraphik – sowie die Tatsache, dass der jüdische Friedhof zuvorderst die offizielle Begräbnisstätte der Gemeindeorganisation darstellt – kommt am IV. Tor besonders in der Gruppe 7 zum Ausdruck, am Mittelpunkt des Friedhofs direkt hinter der monumentalen Zeremonienhalle. Dies kann als inoffizielle Ehrengruppe für Kultusgemeindefunktionäre in der Nachkriegszeit beschrieben werden, vergleichbar mit den Grabstätten am Ausgangspunkt der Zeremonienallee vor
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dem I. Tor, wobei in der Gruppe 7 keine bedeutenden Kulturschaffende bestattet liegen. Als langjähriger religiöser Anführer der Kultusgemeinde und einer von nur drei Oberrabbinern in Wien seit 1945 ragt hier der Grabstein des am 7. April 1983 verstorbenen Akiba Eisenberg besonders hervor (7-13-1). Eisenbergs Leichenfeier wurde von dem in Wien geborenen Zürcher Oberrabbiner Mordechai Piron geleitet, der in seiner Rede eine von Eisenbergs ersten Ansprachen aus seiner Amtszeit in Wien zitierte: „Mein Volk geht zugrunde ohne Wissen [abgeleitet aus Hosea 4,6]! Heute am Sabbat des Trostes sage ich euch: Es gibt keinen Trost ohne im jüdischen Geist erzogene Kinder!“ Somit ging Akiba Eisenberg nach seinem Tod wie zu Lebzeiten als Verfechter eines streng partikularistischen jüdischen Volkstums sowie einer orthodoxen Religiosität in die Erinnerung der Gemeinde ein.242 Ganz im Sinne der orthodoxen Sepulkralkultur beim IV. Tor ist die vergoldete Inschrift dieses Denkmals aus poliertem schwarzem Marmor fast ausschließlich hebräischsprachig und äußerst traditionell-religiös gestaltet. Lediglich seine weltlichen Titel, Namen und Lebensdaten werden auf Deutsch bzw. in lateinischen Buchstaben genannt: „Oberrabbiner Prof. Dr. Akiba Eisenberg 30.9.1908–7.4.1983“. Diese weltliche – und eigentlich sehr österreichische – Titulatur findet im Hebräischen ihr religiös-jüdisches Pendant: „Pei-nun […] der Rabbiner, mem-waw-hei-reish [unser Lehrer und Rabbiner, der Rabbiner] Akiba, sain-lamed [seliges Andenken], bet-reish [Sohn des Rabbiners] Chaim Eisenberg sain-lamed, Oberrabbiner hier in kuf-kuf [der heiligen Gemeinde von] Wien“. Wohlgemerkt wird hier Wien in moderner hebräischer Form als „Wina“ (waw-jud-nun-hei), nicht wie in der früheren Sepulkralepigraphik üblichen jiddischen Form als „Wien“ (waw-waw-jud-ain-nun) angeführt, was als subtiler Hinweis auf die zionistische Ausrichtung des Rabbiners verstanden werden kann. Erscheint diese lange Titulatur äußerst orthodox, so unterscheidet sie sich dennoch durch ihre relative Schlichtheit von der noch partikularistischeren chassidischen Sepulkralepigraphik, inklusive durch Anerkennung der Verwurzelung in Wien sowie durch die Nennung des bürgerlichen Familiennamens. Nach der deutschsprachigen Benennung des Verstorbenen fährt die Inschrift mit einer hebräischsprachigen Laudatio fort, die auf der rechten Seite das vertikale Akrostichon ain-kuf-jud-bet-alef-sain-lamed (Akiba, seliges Andenken) ergibt: Sein Werk war das heilige Werk eines Rabbiners und seine Führung verrichtete er im Glauben / Seine Stimme – als Redner der allerhöchsten Begabung – wirkte auf die erhabensten Höhen des Judentums ein / Seine Hände streckte er weit aus für die Armen und Bedürftigen [umschrieben aus Sprüche 31,20] / Seiner Frau ein treuer Ehemann und seinen Kindern ein hingebungsvoller Vater sein Leben lang / Seine Liebe für das Volk Israel 242 Oberrabbiner Prof. Dr. Akiba Eisenberg, in: Die Gemeinde, 1. Mai 1983, S. 4.
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und für sein Land kannte keine Grenzen / Seine gute Erinnerung unter seiner Familie und den Mitgliedern seiner Gemeinde / wird niemals schwinden und sie werden seinen Tod für immer bitter beweinen / Gestorben bet-shin-tet [bashem tow, im guten Namen] am 24. Nissan 743 tantzaba / shin-alef [shem ima, der Name seine Mutter war] Miriam.
Wie in den Laudationes von orthodoxen Rabbinern vergangener Generation findet sich hier eine Verflechtung unterschiedlicher Ebenen der Judenheit: von „seiner Familie“ (mishpachto) und „seiner Gemeinde“ (kahalto) über das „Judentum“ (jahadut) bis zum „Volk Israel“ (am Israel) und „sein Land“ (eretzo), wobei Letzteres zweifellos als Hinweis auf Israel, nicht Österreich, verstanden werden muss. Hier zeigt sich auch ein Unterschied zu Eisenbergs rabbinischen Vorgängern, insbesondere den antizionistischen Chassiden: Wurde der Begriff „Israel“ nämlich im 19. Jahrhundert noch als allgemeinster Verweis auf die jüdische Religionsgemeinschaft verwendet, so kann aus Akiba Eisenbergs religiös-zionistischer Überzeugung geschlossen werden, dass hier explizit der neue Staat Israel und das jüdische „Volk“ nicht nur im religiösen, sondern auch im ethnisch-nationalen Sinn gemeint sind. Werden hier also verschiedene Ebenen der Zugehörigkeit intersektional miteinander verflochten, so beziehen sie sich alle auf eine streng innerjüdische Lebenswelt, ob im engeren Kontext Wiens oder im breiteren in Bezug auf den Staat Israel. In der Grabstätte neben Akiba Eisenberg liegt seine 2011 verstorbene Frau Eva bestattet (7-13-2). Sie erhielt ihren eigenen Grabstein, der aber in Form und Inschrift dem ihres Mannes ähnelt.243 So wird lediglich die Benennung der Verstorbenen samt ihrer Lebensdaten in lateinischen Buchstaben festgehalten. Der Rest der Inschrift ist hebräischsprachig, bildet auf der rechten Seite das Akrostichon lamed-alef-hei-ain-hei (nach hebräischer Schreibweise „Leah“ – ihr synagogale Name – „Friede sei mit ihr“) und verkündet: Pei-nun unsere liebe Mutter, eine fromme Frau, Ehefrau des Oberrabbiners Akiba Eisenberg, Frau Leah, Tochter von Meir, ain-hei [Friede sei mit ihr, Deutsch:] Eva Eisenberg, geb. Kalisch, 20.11.1920–4.2.2011 [Hebräisch:] Ihren Eltern war sie eine treue und hingebungsvolle Tochter / eshet chajil [eine tüchtige Frau; entlehnt aus Sprüche 31,10] die in ihrem Herzen stets ihrem Mann vertraute / Ihre Kinder, Enkelkinder und Großenkelkinder genossen ihre Liebe / In der Wiener Gemeinde war sie geschätzt und respektiert / Ihre Nachkommen trauern um ihren Tod und setzen ihren Weg fort.
Ganz im Zeichen des Gedenkens an Frauen aus der Frühen Neuzeit wird Eva Eisenberg lediglich in Bezug auf ihre Eltern, ihren Ehemann, ihre Kindern und Kindeskinder gedacht, mit Ausnahme des Hinweises auf die (jüdische) 243 Vgl. das Photo und die Diskussion zu diesem Grabstein in Corbett: A „Capable Wife“, S. 95–96.
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Gemeinde, was aber freilich auf die Stellung ihres Mannes als Oberrabbiner zurückzuführen ist. Unterstrichen wird dieses atavistische Frauenbild durch die altertümliche Bezeichnung eshet chajil (siehe dazu die Diskussion hier in Kapitel 3). An diesen beiden Grabstätten, die aufgrund ihrer Lage zu den prominentesten der Führungsschicht der Kultusgemeinde zählen, durch ihre Trennung, ihre ausführlichen hebräischsprachigen Inschriften, die sich ausschließlich auf einen innerjüdischen, orthodoxen und zionistischen Kontext beziehen, sowie nicht zuletzt durch die Wiederbelebung eines äußerst geschlechtsspezifischen Erinnerungsdiskurses, wird die weitreichende Orthodoxisierung der Gemeinde nach 1945 unmittelbar verdeutlicht. In der Gruppe 7 befindet sich auch der Grabstein des ehemaligen Präsidenten des Tempelvorstandes im Stadttempel und Vizepräsidenten der Chewra Kadisha sowie des Keren Hajesod in Wien (eine offizielle Organisation des israelischen Staates, die bereits seit 1920 unter den Judenheiten der Welt für diesen Staat Spenden sammelt), nämlich Max Uri, und seiner Frau Fritzi. Max verstarb am 21. August 2009, Fritzi gleich am Folgetag. Ein Interview mit Max Uri aus dem Jahre 2004 offenbart eine interessante Kluft in der Nachkriegskultusgemeinde zwischen der religiösen Orthodoxie und dem politischen Zionismus, die nicht immer so harmonisch koexistierten wie es die Oberrabbiner vermuten ließen. Im Gegenteil: Mein Großvater war sehr orthodox und in der Betstube, in der mein Großvater betete waren alle sehr orthodox, und ich hatte ein gutes Verhältnis zu ihnen. Aber jetzt, muss ich ehrlich sagen, kommen viele Orthodoxe nach Wien, und sie gehen mir auf die Nerven. Ich weiß nicht, woher sie kommen, vielleicht aus Israel oder aus Amerika. Im 2. Bezirk begegnet man ihnen, sie gehen mit Stramlach [Pelzmützen] und mit weißen Socken. Besonders die mit den weißen Socken mag ich nicht, weil sie den Staat Israel nicht anerkennen. Einmal traf ich einen am Samstag – als Tempelvorstand bin ich jeden Samstagmorgen im Tempel – ich kannte ihn nicht und sagte: „Gut Schabbes!“ und was man noch so sagt. Da fragte er mich: „Wo beten Sie?“ Ich antwortete: „Hier, im Stadttempel.“ Er entsetzt: „Hier beten Sie?“ Ich: „Ja, hier!“ Er: „Da können Sie ja gleich in die Stephanskirche gehen!“244
Die Inschrift des Ehepaars Uri ist auffallend für die Verbindung ihres Privatlebens mit der Weltgeschichte: „Getraut am 7. Dez. 1941, Pearl Harbor Day“ – der Tag, an dem das Japanische Kaiserreich die US-Pazifikflotte auf Hawaii überfiel und dadurch die USA in den Zweiten Weltkrieg riss. In der Gruppe 7 befindet sich auch das Ehrengrab des 1973 verstorbenen Wilhelm Krell, des langjährigen Amtsdirektors der Kultusgemeinde und engen Weggefährten Ernst Feldsbergs (7-2-26). Krell wurde in einer eigenen 244 Max Uri, https://www.centropa.org/de/biography/max-uri, letzter Zugriff: 31. August 2020.
Grabsteine, Sepulkralepigraphik und Symbolik im Friedhof beim IV. Tor nach 1945
Grabstätte neben seiner Frau, Hermine Krell, geborene Moser, bestattet (die Schwester des 2011 verstorbenen Historikers Jonny Moser, der in der Gruppe 24 liegt). Sie erhielten jeweils nach orthodoxem Ritus einen eigenen Grabstein. Auf Wilhelms Grabstein wurde auch seiner „einzige[n] Tochter Cary [es folgt ihr synagogaler Name in hebräischen Schriftzeichen:] Chaja“ aus seiner ersten Ehe mit Diana, geborene Rosenzweig gedacht, die „am 6.1.1945 im Konzentrationslager Auschwitz“ verstarb. Carys Mutter wurde sofort nach Ankunft im Konzentrationslager ermordet, Cary selbst verstarb wenige Wochen vor der Befreiung an Hunger und Typhus. Wilhelm Krell hatte keine weiteren Kinder.245 Interessanterweise befindet sich Ernst Feldsbergs Grabstätte nicht in der Gruppe 7, er wurde nämlich (ironischerweise) in einem Familiengrab mit seiner bereits 1949 verstorbenen Frau Stella, ihrem 1933 verstorbenen Vater Josef Stadler und ihrer 1947 verstorbenen Mutter Emilie Stadler beigesetzt (15-1235). Der Grabstein besteht aus einem einfachen graublauen Marmorquader mit einer durchmischten hebräisch-deutschsprachigen Inschrift, die jeweils die Namen und Daten der Verstorbenen nennt und zwischen ihren synagogalen und bürgerlichen Namen differenziert (Sella/Stella, Milcha/Emilie und Jakob/Ernst – Josef ist in beiden Sprachen identisch). Es folgt in deutscher Sprache: „In Memoriam Regine Feldsberg, Dr. Emil, Max u. Hansi Feldsberg, Max, Valerie u. Marion Knoll, Isidor u. Hermine Schwarz, gestorben als Märtyrer im Konzentrationslager, tantzaba“. Hierbei handelt es sich um Ernst Feldsbergs 1942 in Treblinka ermordete Mutter Regine, seinen 1945 in Dachau ermordeten Bruder Max, Stella Feldsbergs 1944 in Auschwitz ermordete Schwester Valerie sowie weitere angeheiratete Familienangehörige. Es erhielten aber nicht nur Mitglieder des Kultusvorstands prominente Denkmäler beim IV. Tor, sondern auch jüdische Funktionäre aus weiteren Kontexten, so etwa der 2007 verstorbene Maximilian Vergesslich. Sein polierter schwarzer Marmorstein in der Gruppe 1 enthält eine dreisprachige Inschrift, die bereits auf seine Herkunft in Ungarn verweist. Vergesslich wird auf Hebräisch mit synagogalem Patronym in auffällig traditioneller Sprache genannt, nämlich: „Peinun mein Mann und unser Vater, teuer und geliebt, reish [in diesem Kontext „Herr“] Elimelach bet-reish [Sohn des Herrn] Moshe Vergesslich, sain-lamed [seliges Andenken]“. Ungewöhnlich sind hier die Nennung des bürgerlichen Familiennamens sowie die Ich-Form am Anfang des hebräischsprachigen Teils der Inschrift. Eine deutschsprachige Inschrift fährt mit Vergesslichs bürgerlichem Namen samt Titeln und Tätigkeiten fort: „Dr. Maximilian Vergesslich, Rechtsanwalt – Journalist, Generalsekretär des Komitees der deportierten Juden in Budapest“. Ein Vergleich der beiden Inschriftenteile zeigt die Trennung zwischen der privaten, familiären Sphäre auf Hebräisch und der öffentlichen, 245 Ich danke Joseph Moser für die biographischen Informationen.
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offiziellen Sphäre auf Deutsch auf, inklusive der Nennung seiner Lebensdaten sowohl im gregorianischen wie im jüdischen Kalender (im Hebräischen heißt es zudem, er sei beseiwa towa, „in einem guten Alter“, also nicht jung verstorben). Diese Trennung erinnert eindringlich an die Sepulkralepigraphik der Emanzipationsära, die in den Friedhöfen in Währing und beim I. Tor zum Ausdruck kommt. Es folgt auf Ungarisch die zutiefst persönliche Laudatio der Hinterbliebenen: „Apuka szeretünk“ (Papa, wir lieben dich) und die Inschrift schließt mit der hebräischsprachigen „In Memoriam“-Inschrift: Dieser Stein dient auch als Denkmal für die Seelen seines Vaters, reish Moshe sain-lamed, seinen Brüdern: [man beachte die für die hebräische Sprache ungewöhnliche Interpunktion] Leon, Hermann, Frederik und Abraham, sain-lamed, seiner Mutter, Frau Taube ain-hei [Friede sei mit ihr] und seiner Schwester, Frau Chaja Klara ain-hei, hei-jud-dalet [Gott räche ihr Blut], die ermordet wurden ain-kuf-hei-shin [zur Heiligung von Gottes Namen] und nicht in ein Grab von Israel gelangten, tantzaba.
In der Gruppe 7 befindet sich schließlich die Grabstätte des 2007 verstorbenen Leon Zelman (7-11-1). Der in Polen geborene Publizist überlebte verschiedene Konzentrationslager und ließ sich nach seiner Befreiung in Wien nieder. Dort gründete er 1980 den „Jewish Welcome Service“ (Jüdischer Willkommensdienst), einen Verein, der Überlebende und Vertriebene mit ihrer ehemaligen Heimatstadt wieder vertraut machen soll. In diesem Rahmen fungierte Zelman als wichtiges Bindeglied zwischen den jüdischen und nichtjüdischen Gesellschaftssphären innerhalb Österreichs sowie zwischen Österreich und den während der Shoah Vertriebenen, von denen die überwiegende Mehrheit nach 1945 nicht zurückkehrte. Zelmans graublaue Marmorstele trägt eine prägnante zweisprachige Inschrift: „Pei-nun [Deutsch:] Professor Dr. Leon Zelman, Bürger der Stadt Wien, Unser geliebter Opa Leon, geb. 12. Juni 1926 in Szczekociny, gest. 11. Juli 2007 in Wien. In Memoriam seinem Bruder Schajek und seinen Eltern, Opfer der Shoah, [Hebräisch:] tantzaba“. Mit Ausnahme der „In Memoriam“-Inschrift erinnert die Laudatio an die Sepulkralepigraphik des späten 19. Jahrhunderts beim I. Tor, als die vorwiegend aus den Kronländern der Habsburgermonarchie eingewanderten Jüdinnen und Juden neben ihren Geburtsorten auch stolz ihren neuen Status als „Bürger der Stadt Wien“ auf den Grabsteinen ihrer Angehörigen festhalten ließen. Auch die Nennung zweier Titel in Zelmans Inschrift erscheint sehr österreichisch. Die Zeile „unser geliebter Opa Leon“ ist in Kursivschrift eingemeißelt, was den persönlichen Ton unterstreicht, wie auch grammatikalisch in der Ich-Form zum Ausdruck kommt. Noch weniger offiziell mit den Institutionen der Kultusgemeinde verbunden, aber als jüdische Persönlichkeit weitgehend in der Wiener/österreichischen
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Gesellschaft bekannt, ist die 2016 verstorbene Begründerin des Vereins „Steine der Erinnerung“, Elisabeth Ben David-Hindler (man beachte den männlichen Patronym, „Sohn des David“, der hier zum bürgerlichen Familiennamen geworden ist). Seit 2005 hat dieser Verein tausende Gedenksteine an den ehemaligen Wohnorten ermordeter jüdischer WienerInnen gesetzt und gilt somit als wohl breitflächigste Erinnerungsaktion im gegenwärtigen Wien, die die Erinnerung an die Shoah nicht nur individualisiert, sondern greifbar in der physischen Stadttopographie verankert.246 Elisabeth, die in der Gruppe 24 bestattet liegt, gedenkt einzigartig kein steinernes Denkmal, sondern eine persönliche, von ihren Angehörigen handbeschriftete und bunt bemalte Holztafel. Ein letztes Beispiel einer Grabstätte einer außerhalb der engen Sphäre der Kultusgemeinde bekannten jüdischen Persönlichkeit der Nachkriegszeit befindet sich in den Arkaden links vom Friedhofseingang, und zwar die Gruft mit Inschriftentafel für die 2003 verstorbene Cyla Wiesenthal, der Frau von Simon Wiesenthal. Diese heute noch bestehende Inschriftentafel erweckt den Eindruck, dass das Ehepaar nicht gemeinsam bestattet wurde, doch handelt es sich hier nur mehr um ein leeres Grab: Cyla, die vor ihrem Mann verstarb, wurde nämlich nur provisorisch beim IV. Tor bestattet. Nach Simons Tod wurden die sterblichen Überreste des Ehepaars nach Herzlia in Israel überführt und dort bestattet.247 Die Wandlungen, aber auch die Spannungen, die durch die orthodoxisierenden Novellierungen der Friedhofsordnung in der jüdischen Sepulralkultur der Nachkriegszeit entstanden, werden nirgends deutlicher als im Bereich der bildlichen Symbolik auf den Grabsteinen. Der Doppelgrabstein aus poliertem schwarzen Marmor der 2007 verstorbenen Towa Hodjaeva und ihres 2009 verstorbenen Mannes Shmuel Zirkiev in der Gruppe 25 birgt beispielsweise eine zweisprachige hebräisch/russische Inschrift in hebräischen und kyrillischen Schriftzeichen, vollkommen ohne deutschsprachige Inschriftenteile oder lateinischen Buchstaben, und ist mit verschiedenen jüdisch-religiösen Symbolen wie zwei menorot (siebenarmige Leuchter), einem Lewitenkrug und einem Davidstern verziert. Deutet die Inschrift einerseits auf den sprachlich-kulturellen Wandel der Nachkriegsgemeinde, die zunehmend von MigrantInnen aus der ehemaligen Sowjetunion geprägt ist, so stellt die Symbolik ein äußerst partikularistisches, orthodox-religiöses Verständnis der „Jüdischkeit“ der Verstorbenen zur Schau. Gleichzeitig enthalten aber die zwei Hälften des Doppelgrabsteins jeweils ein Photo der Verstorbenen, eine eindeutig „unjüdische“ Praxis, wenn
246 Vgl. Verein Steine der Erinnerung (Hg.): 10 Jahre Steine, die bewegen, Wien 2015. 247 Korrespondenz zwischen Paulinka Kreisberg (der Tochter Simon und Cyla Wiesenthals) und René Bienert, 17. Jänner 2019, mit freundlicher Genehmigung hier zitiert.
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man von der „jüdischen Tradition“ nach orthodoxem Verständnis ausgeht. Dieser Brauch ist auch an anderen Grabstätten russischstämmiger Gemeindemitglieder aufzufinden, so etwa neben traditionell-religiösen hebräischsprachigen Inschriftenelementen auf dem Grabstein der 2014 verstorbenen Zipora (Gulja) Bangiev in der Gruppe 24, und weist somit wieder einmal auf die Pluralität und Kontextbezogenheit sowie auf den wandelbaren Charakter der „Tradition“ in der jüdischen Sepulkralkultur. In der Gruppe 25, in der viele jüngere Grabstätten angelegt wurden, finden sich auf dem Grabstein der 2012 verstorbenen Elena Leah Smirnova Musiknoten (die Melodie konnte ich nicht identifizieren) sowie das folgende Zitat im russischen Teil der zweisprachigen hebräisch-russischen Inschrift: „Am dunklen Himmel, wie ein Muster, trauern die Bäume. O. E. Mandelstam“, ein Verweis auf den in Polen geborenen jüdischen Dichter der russischen Sprache Ossip Emiljewitsch Mandelstam, der 1938 der stalinistischen Verfolgung zum Opfer fiel. Dieser Grabstein sticht somit nicht nur aufgrund seines Widerspruchs zur orthodoxen Friedhofsverordnung heraus, sondern auch in seinem Verweis auf eine säkulare, wenngleich noch jüdische kulturelle Orientierung außerhalb des deutschsprachigen Zentraleuropas. Zuletzt ist auch der Hinweis auf einen unter dem Stalinismus verfolgten Juden interessant – ist der Sepulkraldiskurs an diesem österreichischen Friedhof doch sonst maßgeblich von der Shoah geprägt. Überhaupt finden sich nicht wenige Beispiele der bildlichen Symbolik auf jüngeren Grabsteinen beim IV. Tor, die augenscheinlich der Friedhofsordnung widersprechen, so beispielsweise die eingemeißelte Geige samt Bogen auf dem Grabstein des 1997 verstorbenen Isaak Kuschnir in der Gruppe 15. Es finden sich auf vielen Gräbern zudem Behälter für Kerzen bzw. Blumen, die, wie hier in Kapitel 2 gezeigt, heute in orthodoxen Kreisen, obwohl recht ahistorisch, als „unjüdische Bräuche“ betrachtet werden. Auch einige ältere Grabsteine sind den strengen Vorschriften zum Trotz mit allerlei bildlicher Symbolik – zum Teil ausgesprochen weltlichen Charakters – verziert. Diese gedenken oft zu Lebzeiten intellektuell, kulturell und künstlerisch tätigen Verstorbenen, die somit in direkter Kontinuität mit der Sepulkralepigraphik vergangener Generationen stehen. Der Grabstein des 1967 verstorbenen Opernsängers Emanuel List ist beispielsweise mit Noten samt Bassschlüssel verziert, die seinen Stimmumfang von über zwei Oktaven repräsentieren (1-1-61). Die Inschrift, die auch seiner 1992 verstorbenen und hier bestatteten Frau Johanna gedenkt, ist bis auf das hebräische Wort shalom (Frieden) zum Schluss ausschließlich deutschsprachig und weltlich geprägt – auch das hebräische Wort kann aber an Stelle der eher üblichen, aus der Bibel abgeleiteten Abkürzung tantzaba als irreligiös verstanden werden. Dieser in Wien eher ungewöhnliche Abschluss einer Inschrift findet sich auch auf dem Grabstein von Arthur Schnitzler beim I. Tor, ebenfalls ein eher irreligiöser,
Grabsteine, Sepulkralepigraphik und Symbolik im Friedhof beim IV. Tor nach 1945
seiner eigenen „Jüdischkeit“ gegenüber recht ambivalenter Kulturschaffender des frühen 20. Jahrhunderts. Auf die Inschriften zurückkommend, finden sich in der jüngeren Sepulkralepigraphik auch Beispiele, in denen die Anwendung von hebräischen Inschriften nicht dem Ausdruck der „Jüdischkeit“ als Religiosität dienen, ganz im Gegenteil: Es sind durchwegs irreligiöse bzw. persönliche Inschriften, wo eine eher kulturelle „Jüdischkeit“ zum Ausdruck kommt – womöglich da dies die Mutter- oder eine Umgangssprache der Verstorbenen darstellte, wenn sie in Israel geboren wurden bzw. lange lebten. Vor dem Grabstein der 1992 verstorbenen Anette Marcovici in der Gruppe 7, einem recht konventionellen Marmorquader mit einer ebenso konventionellen zweisprachigen Inschrift, die neben Anettes bürgerlichen Namen auch ihren synagogalen Namen Chana bat Rafael nennt, liegt eine kleine metallene Inschriftentafel, die in hebräischer Kursivschrift verkündet: „Bis ich fand / was ich liebte / hielt meine Seele fest und ließ nicht los“. Selbst die ungewöhnliche Anwendung der Kursivschrift deutet auf den informellen, persönlichen, somit eher irreligiösen Charakter dieser Inschrift, die aus der Perspektive der Verstorbenen selbst verfasst ist. In der Gruppe 7 befindet sich das imposante Grabdenkmal der 1986 verstorbenen Lea Koch, das jene eindringliche Hybridität oder Intersektionalität auch in der Nachkriegsgemeinde zur Schau stellt, die sonst häufig auf den älteren jüdischen Grabsteinen am Zentralfriedhof zum Ausdruck kommt. Der Architrav wird von zwei Säulen getragen, die torartig zwei den mosaischen Gesetzestafeln anmutenden Bögen umrahmen. Architrav, Säulen und Bögen sind alle beinschriftet; über dem Architrav sind in großen Buchstaben die Worte „Über allen Gipfeln ist Ruh“ eingemeißelt, die erste Zeile des zweiten Teils von Johann Wolfgang Goethes „Wandrers Nachtlied“ (1780). Bereits auf den ersten Blick vereint dieses Grabmal also in Form und Text das religiöse Judentum mit dem humanistischen Erbe des deutschsprachigen Zentraleuropas und greift damit zugleich über die Shoah hinweg auf eine Zeit zurück, wo solche Hinweise auf den weltlichen Kanon der deutschsprachigen Kultur, insbesondere Goethe, unter den deutschsprachigen Judenheiten Europas noch eine Selbstverständlichkeit waren. Im Kontrast hierzu verkündet eine deutschsprachige, mit hebräischen Elementen ergänzte „In Memoriam“-Inschrift auf der linken Säule: In ewiger Erinnerung [auf Hebräisch wiederholt: sachar olam] an die während der Naziherrschaft unbekannten Ortes umgekommenen Geschwister meiner Mutter, Rav [Rabbiner] Elias Rosen […], langjähriger letzter Rabbiner von Oswiecim (Auschwitz), mit Gattin Schewa geb. Zeisel und Töchtern Feiga und Ester Klara Bombach geb. Rosen-Stückler mit Gatten Willi u. Söhnchen Mischa (Lemberg).
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Auffällig ist hier die Ich-Form der Inschrift, die offensichtlich vom unbenannten Sohn Lea Kochs, geborene Rosen-Stückler verfasst wurde. Elias Rosen war allerdings wohlgemerkt nicht der letzte Rabbiner der polnischen Stadt Oświęcim/Auschwitz, sondern einer von verschiedenen Rabbinern, die bis zu ihrer Ermordung dort amtierten – der letzte Oberrabbiner von Oświęcim war Eliyahu Bombach, der 1943 im dortigen Vernichtungslager ermordet wurde.248 Am oberen Ende der zwei bogenförmigen Teile des Denkmals steht eine ebenfalls bogenförmige Inschriftenzeile, die somit an die altertümlichen jüdischen Grabsteine der Frühen Neuzeit erinnert. Diese birgt eine Umschreibung auf Hebräisch von Psalm 97,11: „Dem Gerechten muss das Licht immer wieder aufgehen und Frieden [im Original „Freude“] den aufrichtigen Herzen“. Nach einer längeren hebräischsprachigen Laudatio wird Lea Kochs auf Deutsch prägnant (und wieder in der Ich-Form) gedacht als „meine geliebte, aussergewöhnliche Mama, die edle Frau – Zierde ihres erlauchten Stammes“. Wie in der Sepulkralepigraphik der Gründerzeitgeneration beim I. Tor wird prominent Lea Kochs Geburtsort „Mosty Wielkie (Lemberg)“ (damals in Galizien, heute Velyki Mosty in der Ukraine) und ihr Sterbeort schlicht als „Wien“ genannt – eine Rückbesinnung auf die alte Monarchie mit ihren plurikulturellen Vernetzungen, wie auch die Hybridität der Nennung ihrer Lebensdaten sowohl im gregorianischen wie im jüdischen Kalender an die alte Wiener jüdische Gemeinschaft erinnert, in der das Weltliche und das Religiöse, das „Österreichertum“ und die „Jüdischkeit“, sich ergänzten und nicht widersprachen. Diese Intersektionalität kommt schließlich in der letzten Zeile nochmals zum Ausdruck, die der Verfasser eigentümlicherweise über sich selbst schrieb: „Ihre Ideale motivieren mich seit je zum Dienst an meinem Volk u. den Menschen“. Die Inschrift erwähnt, dass Lea Koch verheiratet war mit „Ing. Isak Koch, Architekt u. Stadtbaumeister in Wien“, doch geht hier nicht hervor, ob auch ihr Mann in dieser Grabstätte bestattet ist. Auch auf dem Grabstein des 1943, noch während der NS-Zeit verstorbenen Adolf Nimhin findet sich ein Goethe-Zitat, nämlich aus dem Gedicht „Das Göttliche“ (1783), das bereits um die vorletzte Jahrhundertwende öfters in der Wiener jüdischen Sepulkralepigraphik angewandt wurde (20A-1B-68). In diesem Fall wurde sie aber leicht abgewandelt und in die Vergangenheitsform übertragen: „Edel war der Mensch, hilfreich und gut“. Verglichen mit dem Sterbejahr wird hier subtil und poetisch das Versagen der Menschlichkeit während der Shoah thematisiert, allerdings durch Zitierung eines der größten Dichter der deutschen Sprache. Somit wurde die Zweideutigkeit des modernen 248 Vgl. Rabbi R’ Eliyahu Bombach HY”D, https://www.jewishgen.org/yizkor/oswiecim1/ osw236.html#Page249, letzter Zugriff: 31. August 2020. Ich danke Yael Friedman für diesen Hinweis.
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deutschsprachigen kulturellen Erbes – zwischen Humanismus und Nationalsozialismus – zum Ausdruck gebracht sowie darüber hinaus ein trotz Verfolgung anhaltendes Zugehörigkeitsgefühl so mancher Jüdinnen und Juden zur deutschsprachigen Kultur. Diese Inschrift erinnert an die Feststellung Joseph Roths in seinem einflussreichen Aufsatz „Juden auf Wanderschaft“ (1927), dass den „Ostjuden“ (man könnte allgemeiner sagen der zentraleuropäischen Judenheit) Deutschland „immer noch das Land Goethes und Schillers, der deutschen Dichter“ war, „die jeder lernbegierige jüdische Jüngling besser [kannte] als unser hakenkreuzlerischer Gymnasiast“.249 Nimhins Grabstein birgt weitere spannende Merkmale: So erkennt man rund um die Kanten der weißen Inschriftentafel, dass diese erst nachträglich auf einem älteren Grabstein angebracht wurde. Auf dem älteren Grabstein sind die Konturen einer älteren Inschrift sichtbar, inklusive eines Kreuzes. Vermutlich gedachte aber dieser ältere Grabstein auch Adolf Nimhins, denn die um den Rahmen der Inschriftentafel sichtbaren Charaktere deuten auf ein „A“ am Anfang und ein „N“ am Ende des Namens sowie auf die Ziffern „43“ am Ende des Sterbejahres. Der Grabstein befindet sich am Wegrand in der Gruppe 20A und ist somit den Grabstätten der auf Verordnung der NS-Stadtregierung dort bestatteten „nichtarischen ChristInnen“ zuzurechnen. Auch beim I. Tor findet sich übrigens noch aus der Nachkriegszeit ein Verweis auf diese Zeilen aus Goethes „Das Göttliche“, und zwar in der Laudatio der 1969 verstorbenen Sophie Lenk (53B-29-5). Bis um die Jahrtausendwende lässt sich insgesamt ein deutlicher Wandel zu personalisierten Sepulkralinschriften erkennen, in denen Ichformen und sogar die Namen der lebenden Hinterbliebenen verwendet werden, wie auf dem Grabstein der Lea Koch vorgeführt. Ein vergleichbar ausführliches Beispiel, das zudem die Verwurzelung der Verstorbenen in der breiteren, nicht bloß innerjüdischen Gesellschaft aufzeigt, ist das Denkmal der 2003 verstorbenen Minna Pixner, geborene Kohn, in der Gruppe 17. Dieses besteht aus einem klassizistisch anmutenden Grabstein mit zwei Säulen, deren Kapitelle jeweils die Buchstaben „BKW“ bilden, eine Abkürzung des Namens des Kulturvereins „Basis Kultur Wien“, in der Pixner offensichtlich Mitglied war. Der Architrav birgt in hebräischen Schriftzeichen ihren synagogalen Patronymen, „Ester Tochter von Shlomo [Salomon]“, der Rest der Inschrift ist hingegen deutschsprachig. Diese preist „ein Leben in Kunst und Kultur“ und ist gewidmet „in Liebe Deine Kinder“. Es folgt die Auflistung: „Salomon und Gittel Kohn, Alfred und Hilda Kohn, ihre Kinder Lilly und Georg, Netti Müller geb. Kohn, von den Nationalsozialisten ermordet“. Salomon Kohn war Minnas Vater, ein in Mähren geborener Verleger, der zusammen mit seinen Brüdern Adolf und Alfred in 249 Roth: Juden auf Wanderschaft, S. 295.
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Wien den Postkartenverlag Brüder Kohn gründete, der 1938 „arisiert“ wurde. Salomon und seine Frau Gusti/Gittel wurden in Auschwitz ermordet. Salomons Schwester Netti, deren Bruder Alfred und seine Familie kamen alle im Ghetto Litzmannstadt (Łódź) um. Der ältere Bruder Adolf, wie in der Inschrift zu lesen ist, fiel 1918 im Ersten Weltkrieg. Ein weiteres, recht eigentümliches Beispiel einer Inschrift, die des Wirkens des Verstorbenen in einem breiteren gesellschaftlichen Kontext gedenkt, ist der Grabstein des im Jahre 2000 verstorbenen Jakob Kösten in der Gruppe 14. Köstens Schicksal beschrieb sein Zeitgenosse, der Historiker Helmut Eschwege, eine wichtige jüdische Figur in der ansonsten recht antisemitischen Öffentlichkeit der Deutschen Demokratischen Republik, in seinen Memoiren. Der dort grassierende Antisemitismus führte auch zur Übersiedlung Köstens nach Wien, wie Eschwege mit spezifischen Bezug auf den Staatsfunktionär Anton Joos berichtete: „Einzelne aus dem Ausland zurückkommende jüdische Genossen ließ er mitunter wie Schwerverbrecher unter Polizeibewachung an die Grenze transportieren und hinüberjagen. So geschah es dem aus Israel heimgekehrten Berliner Kommunisten Jakob Kösten, der sich danach in Wien niederließ.“250 Köstens Grabstein ehrt entsprechend den „Kämpfer für eine bessere Welt zur Erinnerung“. Die in sprachlicher Hinsicht auffälligste Entwicklung in der Sepulkralepigraphik der Nachkriegszeit ist die Verbreitung des Russischen neben anderen Sprachen aus dem ehemals sowjetischen Raum, der in deutlichem Kontrast zur überwältigenden deutsch-hebräischen Zweisprachigkeit der vorhergehenden zwei Jahrhunderte steht. Dieser Wandel zeigte sich parallel in Die Gemeinde 2007, als die Zeitschrift eine „russische ‚Gemeinde‘-Seite (mit Übersetzung)“ als neue Rubrik einführte.251 Gleich in der nächsten Ausgabe wurden beispielhaft einige Nachrufe für den kürzlich zuvor verstorbenen Oberarzt der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Alexander Friedmann veröffentlicht, von denen einer auch auf Russisch verfasst war.252 Ein charakteristisches Beispiel einer russischsprachigen Inschrift findet sich auf dem Grabstein des 2009 verstorbenen Leonid Bluvstein in der Gruppe 14, ein Marmorstein mit vergoldeter Inschrift. Diese beginnt und endet mit den hebräischen Standardformeln „pei-nun“ und „tantzaba“, ist aber ansonsten ausschließlich auf Russisch in kyrillischen Buchstaben beschriftet, außer dem Namen des Verstorbenen, der auch in lateinisch Buchstaben erscheint:
250 Eschwege, Helmut: Fremd unter meinesgleichen. Erinnerungen eines Dresdner Juden, Berlin 1991, S. 69. 251 Die russische „Gemeinde“-Seite (mit Übersetzung), in: Die Gemeinde, Juni 2007, S. 8–9. 252 In Memoriam, in: Die Gemeinde, April 2008, S. 4–5.
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Pei-nun Bluvstein [kyrillisch und lateinisch] Leonid, 30.11.1937 – 9.9.2009 / Ohne dich gibt es kein Leben / Deine Frau / Wiederkehren ist unmöglich, vergessen ist nicht möglich / Betrauert von Söhnen, Enkeln, Verwandten, Freunden, tantzaba. In Memoriam Leib und Debora Bluvstein.253
Verweisen die friedhofsordnungsgemäßen hebräischen Abkürzungen formell auf die Jüdischkeit des Verstorbenen, so ist die Inschrift explizit auf das familiäre bzw. soziale Umfeld beschränkt, inklusive des „In Memoriam“-Zusatzes am Schluss, und es finden sich hier keine Hinweise auf Religion oder Gemeinschaft. Somit entspricht der Gebrauch des Russischen hier weitgehend dem deutschen Sprachgebrauch der vorhergehenden Generationen. In der Gruppe 9A findet sich eine dreisprachig hebräisch/georgisch/deutsche Inschrift auf dem Grabstein der 1993 verstorbenen Misha Zhvitiashvili, inklusive einer Unterscheidung zwischen ihrem synagogalem und ihrem bürgerlichen Namen. Auch Ungarisch findet sich beim IV. Tor, insbesondere aufgrund der Zuwanderung von Geflüchteten infolge des Volksaufstands 1956, so beispielsweise auf dem oben besprochenen Grabstein des Maximilian Vergesslich. Einzigartig ist hingegen der Grabstein des 1965 verstorbenen Yuda Arslan Saydun in der Gruppe 14, dessen Inschrift zweisprachig auf Hebräisch und Türkisch verkündet: Pei-nun chet-hei [der respektierte Herr] Jehuda Arslan, Sohn von Chaim Saydun, gestorben am 20. Tamus im Jahre 725 lamed-fei-kuf [der kleinen Zeitrechnung; ohne Jahrtausendangabe, also der 20. Juli 1965. Türkisch:] Ein Händler aus Istanbul, Yuda Arslan Saydun, ruht hier. Er hatte als Händler viele Freunde, er hatte niemanden als er verstarb. Ruhe in Frieden. Bursa – Türkei, 1895–1965.254
Wieder einmal verweist das Hebräische zwar auf die grundsätzliche Jüdischkeit des Verstorbenen, doch die vorwiegend türkischsprachige Inschrift ist hier eindeutig – und dazu recht ergreifend – persönlich und bezieht sich mit Ausnahme des Patronyms nicht einmal auf den familiären Kreis dieses offensichtlich vereinsamt verstorbenen Mannes. Beim IV. Tor finden sich auch einige Inschriften mit englischsprachigen Komponenten, die auf die globale Zerstreuung der Wiener Judenheit während der Shoah verweisen. Die ungewöhnlich kurze Inschrift auf dem Grabstein des 1983 verstorbenen Wilhelm Rosenbaum in der Gruppe 9A könnte je nachdem, wie man den Namen liest, als zwei- oder gar dreisprachig gelesen werden: „Peinun Wilhelm Rosenbaum, dentist [Zahnarzt], 1904–1983“. Der Grabstein des 1923 in Wien geborenen Carl Ludwig Theodor „Teddy“ Reitlinger in der Gruppe 253 Ich danke Michael Hughes für die Übersetzung aus dem Russischen. 254 Ich danke Emin Devrim Fidan für die Übersetzung aus dem Türkischen.
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8A, der während der Shoah im Londoner Exil lebte bevor er nach Österreich zurückkehrte und sich in Kienberg in Niederösterreich niederließ, ist auffallend irreligiös, ohne irgendwelche hebräische Schriftzeichen, die Lebensdaten auf Deutsch genannt und dann mit der knappen Laudatio auf Englisch: „geliebter und liebevoller Mann von Lily Reitlinger“. Ein Grabstein in der Gruppe 21 ist, mit Ausnahme der hebräischen Standardformel „pei-nun“, ausschließlich auf Englisch beschriftet und verkündet: Pei-nun Anny Gelbart Megas, geboren in Wien am 29 Juli 1914, gestorben 27. Mai 1998. Eine außergewöhnliche Frau und Mutter, deren Leben aus dem Triumph der Liebe über das Unheil bestand. Sie wird sehr vermisst – sie wird uns immer im Herzen bleiben und durch uns, ihre Kinder, weiterleben.
Ein ähnliches Beispiel ist der Grabstein des 2004 verstorbenen Michael Braun in der Gruppe 9A, dessen englischsprachige Laudatio allerdings weniger vom familiären Umfeld verkündet als von der offensichtlichen Liebe des Verstorbenen für die Kunst: „Es braucht ein ganzes Leben, um etwas aufzubauen, aber nur Sekunden, um alles wieder zu zerstören. In Liebe, Edna – Matisse – Miro – Cezanne“. Bei Edna handelt es sich vermutlich um die Ehefrau bzw. die Verfasserin der Inschrift. Auf dem Grabstein der 2007 verstorbenen Helene Hirschler in der Gruppe 12A findet sich inmitten der zweisprachig hebräisch/deutschen Inschrift ein einziges englisches Wort: „survivor“ (Überlebende). Es finden sich auch mehrere englische bzw. anglisierte Namen auf den Grabsteinen beim IV. Tor, so etwa der 1968 verstorbene Irwin Firestone (Feuerstein), der mit synagogalem Namen Israel ben Jehuda hieß, dessen Grabstein in der Gruppe 14A steht. Schließlich sei auch auf den in der Gruppe 20B stehenden Grabstein mit einer persischsprachigen Inschrift in arabischen Schriftzeichen verwiesen, der der 1988 verstorbenen Sara Azari gedenkt.255 Ein Grabstein aus der Nachkriegszeit, der noch explizit auf die Vernetzung der Verstorbenen innerhalb der breiteren österreichischen Gesellschaft und Kultur verweist, ist jener der Theaterdirektorin Stella Kadmon, eigentlich ein Zusatz zum Grabstein ihres 1971 verstorbenen Bruders Richard und dessen 1974 verstorbenen Frau Thilde (16A-13-5). Wird die Inschrift der letzteren mit einem Davidstern samt der hebräischen Abkürzung „pei-nun“ wenigstens oberflächlich als „jüdisch“ ausgewiesen, ist Stellas Inschrift ausschließlich deutschsprachig und ohne jegliche religiösen oder sonstigen Hinweise auf die Jüdischkeit: „Theater Direktorin Prof. Stella Kadmon 1902 – 1989, Inhaberin des goldenen Verdienstzeichens des Landes Wien und der silbernen Ehrenmedaille der Bundeshauptstadt Wien“. Kadmon zählte zu den wenigen Wiener jüdischen 255 Ich danke Hala Atera und Ali Gol Sabbagh für die Identifizierung und Übersetzung.
Grabsteine, Sepulkralepigraphik und Symbolik im Friedhof beim IV. Tor nach 1945
Kulturschaffenden, die nach 1945 zurückkehrten – in einem Interview sprach sie von ihrem Glücksgefühl, wieder in ihrem „geliebten Wien“ zu sein, wo sie bereits 1947 ihr Theater „Der liebe Augustin“, später umbenannt in „Theater der Courage“, neueröffnete.256 Ihr Grabstein stellt ein heute sehr seltenes Beispiel einer Laudatio dar, in der eine jüdische Wienerin ausschließlich anhand von Errungenschaften in der breiteren, weltlichen Gesellschaft oder Kultur Österreichs geehrt wird. Der Friedhof beim I. Tor wurde zwar 1942 offiziell von der NS-Stadtregierung geschlossen, doch erfolgten nach Kriegsende hier wieder einige neue Bestattungen sowie zahlreiche Beisetzungen in bestehenden Gräbern, die bis heute andauern. Oftmals waren es im weltlichen Bereich prominente Persönlichkeiten bzw. die Nachkommen solcher, die in diesem Friedhof bestattet bzw. beigesetzt wurden. Dies veranschaulicht einerseits den Charakter des Friedhofs beim I. Tor als eher weltlichem jüdischen Erinnerungsort, der an die Epoche vor der Shoah erinnert, andererseits aber in Bezug auf Beisetzungen auch seinen Stellenwert als „Grabstätte der Väter“, der für die Nachkommen eine wichtige Stätte der persönlichen, familiären Verwurzelung darstellt, auch, wenn sie zu Wien bzw. Österreich sonst keine Anbindung mehr haben. Beim I. Tor sind somit die Kontinuitäten mit der Zeit vor der Shoah markanter als beim IV. Tor. Wie der in die USA geflüchtete Schriftsteller Robert Pick 1953 feststellte, war dieser Friedhof, insbesondere der Teil rund um die sogenannte Zeremonienallee, in der Vorkriegszeit „so etwas wie die Ehrenhalle der Wiener Judenheit“.257 Diese Verbindung des Friedhofs mit der alten Gemeinde scheint auch von der Nachkriegskultusgemeinde gepflegt geworden zu sein, im Vergleich zu ihren eigenen Ehrengräbern, die vorwiegend am neuen Friedhof in der Gruppe 7 zu finden sind. Ein paradigmatisches Beispiel dafür ist der Wandel der Grabstätte von Alois Pick: 1859 in Karolinenthal/Karlín bei Prag geboren, war Pick Arzt und ordentlicher Professor an der Universität Wien, leitete in den 1890er-Jahren die Abteilung für Gastroenterologie im Allgemeinen Krankenhaus und diente im Ersten Weltkrieg als Generaloberstabsarzt in der k.u.k. Armee. Nach seinem Austritt aus dem Militär und trotz seines bereits hohen Alters wandte er sich dann der jüdischen Gemeindepolitik zu und diente von 1920 bis 1932 als Präsident der Kultusgemeinde.258 Pick war einer von wenigen, die im letzten jüdischen Altersheim in der Seegasse 16 die Shoah überlebten, verstarb aber wenige Wochen nach seiner Befreiung im Alter von 85 Jahren.259 Pick wurde 256 257 258 259
Zit. nach Anthony: Return Home, S. 221. Pick: The Vienna of the Departed, S. 154. Vgl. zu seiner Biographie Freidenreich: Jewish Politics, S. 39. Vgl. Hecht/Lappin-Eppel/Raggam-Blesch: Topographie der Shoah, S. 260.
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zuerst beim IV. Tor bestattet (8A-1A-10), jedoch ein Jahr später in ein Ehrengrab in der Prominentenreihe beim I. Tor umgebettet (6-0-1), drei Grabstellen von Arthur Schnitzler entfernt und umgeben von den Gründervätern der alten Gemeinde aus dem späten 19. Jahrhundert.260 Wieso Pick vom IV. zum I. Tor überführt wurde, wo er doch auch beim IV. Tor in ein Ehrengrab hätte bestattet werden können, ist nicht dokumentarisch überliefert. Seine bereits 1930 verstorbene Frau Regine liegt laut Friedhofsdatenbank seit ihrer Bestattung in diesem Grab. Womöglich war Picks Beisetzung hier im Sommer 1945 noch nicht möglich, da sich der Friedhof noch offiziell infolge seiner „Arisierung“ im Besitz der Stadt Wien befand, was Picks Überführung erst ein Jahr später vom IV. Tor in dieses prominente Ehrengrab erklären würde. Nichtsdestotrotz scheint es nur passend, dass dieses Urgestein der alten Monarchie, ein ehemaliger General der k.u.k. Armee, hochangesehen in der Wiener Medizin und langjähriger Anführer der alten Kultusgemeinde, am alten Friedhof, sozusagen unter seinesgleichen, zur letzten Ruhe gelangen sollte. Entsprechend ist auch der Grabstein gestaltet, ein massiver weißer Granitstein ohne Verzierung mit einer schlichten Inschrift, die an die Sepulkralepigraphik vergangener, untergegangener Generationen erinnert: „O. Univ. Prof. Dr. Alois Pick [Hebräisch:] Ein unschuldiger und aufrechter Mann mit einem guten Herzen [Deutsch:] General Oberstabsarzt d[er] R[eserve], Präsident d. Israelit. Kultusgemeinde Wien, 15. Oktober 1859 – 17. Juli 1945“. In ihrer Monographie zu den jüdischen Abteilungen des Zentralfriedhofs behauptete Patricia Steines, dieses Grabmal veranschauliche die „Brüche in der Tradition der Wiener jüdischen Gemeinde“.261 Im Gegenteil: Es scheint eine gewachsene jüdisch-wienerische Tradition über die Brüche eines Genozids hinweg aufrechtzuerhalten. Nur zwei Grabstellen von Alois Pick entfernt, zur linken Seite von Arthur Schnitzler, wurde 1979 der Schriftsteller Friedrich Torberg bestattet (6-0-3). Auch Torberg verkörperte die brüchige, heute fast entschwundene Kontinuität zwischen der alten Kultusgemeinde und der neuen: 1908 in Wien geboren, verbrachte er einen wesentlichen Teil seiner jungen Jahre in Prag, emigrierte nach dem „Anschluß“ in die Schweiz und gelangte 1940 in die USA, zählte aber schließlich zu den wenigen im Exil überlebenden Kulturschaffenden, die nach Österreich zurückkehrten, wo er heute als einer der wichtigsten Schriftsteller der Zweiten Republik gilt. Bei der Beerdigung waren dementsprechend sowohl der österreichische Bundeskanzler Bruno Kreisky wie der Wiener Bürgermeister Leopold Gratz anwesend. Die Feier wurde von Oberrabbiner Akiba Eisenberg geleitet.262 In der gleichen Reihe gelangten 2007 auch der Kabaret260 Steines: Hunderttausend Steine, S. 165. 261 Steines: Hunderttausend Steine, S. 142. 262 Friedrich Torberg gestorben, in: Die Gemeinde, 5. Dezember 1979, S. 2.
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tist Gerhard Bronner und der Photograph Harry Weber zur Bestattung (6-0-2 bzw. 6-0-7). Auf der anderen Seite der Ehrenreihe wurden 1974 der Diplomat und Professor Walter Wodak und 2003 seine Frau Dr. Erna Wodak im Ehrengrab Ernas 1929 verstorbenen Vaters, den Rabbiner und Professor Aron Leiser Mandel, beigesetzt (5B-0-7). In diesem Grabdenkmal, mit seiner gemischt hebräisch- und deutschsprachigen Inschrift samt explizit jüdisch-religiöser Symbolik und zugleich ausgefeilter weltlicher Titulatur, kommt nicht nur die wandelnde soziokulturelle Zusammensetzung der Wiener Judenheit und ihre Stellung in der österreichischen Gesellschaft über sukzessive Generationen zum Ausdruck, sondern auch ein Faden der Kontinuität der Wiener Judenheit über den Abgrund der Shoah hinaus. Jenseits der Ehrenreihe am Ausgangspunkt der Zeremonienallee bringt eine Anzahl von prominenten Beisetzungen den Stellenwert des Friedhofs beim I. Tor über die Shoah hinaus als „Grabstätte der Väter“ für im Ausland verstorbene Nachkommen der Vorkriegsgemeinschaft zum Ausdruck. Louis Nathaniel Freiherr von Rothschild, dem letzten Oberhaupt des Wiener Zweigs der berühmten Bankiersfamilie, gelang die Flucht aus dem „Dritten Reich“ erst nach 15 Monate Isolationshaft im berüchtigten Gestapo-Hauptquartier im Hotel Metropol in der Inneren Stadt. Obwohl er sich nach dem Krieg entschloss, nicht mehr nach Österreich zurückzukehren und schließlich 1955 unterwegs in Jamaica verstarb, hatte er in seinem Testament verfügt, dass er im vom Stararchitekten Wilhelm Stiassny entworfenen Familienmausoleum der Rothschilds beim I. Tor bestattet werden sollte (6-29-51). Der Beisetzung, die das Ende des Wiener Kapitels dieser berühmten jüdischen Familie markierte, wohnten 1.500 Trauergäste bei.263 In der hier in Kapitel 5 besprochenen Grabstätte des Malers Isidor Kaufmann wurde 1969 dessen Sohn Philipp beigesetzt (52A-1-64). Wie dem Vater als „Maler“ gedacht wurde, „dessen Kunst dem Judentum gewidmet war“, wurde der Sohn als „Akad. Maler, geboren Wien 21. Juni 1888, gestorben London 3. März 1969“ bezeichnet, wobei alleine die Nennung des Sterbeorts im letzten Fall auf die gewaltige Zäsur der Shoah hinweist. In der hier ebenfalls in Kapitel 5 besprochenen Grabstätte des 1918 verstorbenen Rabbiners Michael Papo wurde 1966 sein Sohn Manfred Papo, der bis zur Shoah als Rabbiner der sephardischen Gemeinde gedient hatte, beigesetzt (52A-1-37). Nach dem „Anschluß“ vorübergehend im Konzentrationslager Dachau interniert, emigrierte Manfred 1939 in das Vereinigte Königreich und fungierte schließlich zwanzig Jahre lang als Rabbiner der sephardischen Gemeinde in Salisbury in der britischen Kolonie Rhodesien (heute Harare, die Hauptstadt Simbabwes).
263 Beisetzung von Louis Rothschild in Wien, in: Iskult – Presse – Nachrichten, 31. Januar 1955, S. 10.
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Obwohl er gesundheitsbedingt nach Wien zurückkehrte, bildet seine Beisetzung in der „Grabstätte seines Vaters“ ebenfalls eine Kontinuität mit der kleinen sephardischen Gemeinschaft aus der Zeit vor der Shoah. Schließlich ist in diesem Zusammenhang die Beisetzung 1997 von Viktor Frankl nennenswert, dem Begründer der Dritten Wiener Schule der Psychotherapie, in der Grabstätte seiner achtzig Jahre zuvor verstorbenen Großmutter Regine, geborene Lion, in jener Gruppe am hinteren Ende des Friedhofs beim I. Tor, der vorwiegend den Grabstätten von Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg gewidmet ist (76B-23-27). Dieses multigenerationelle Denkmal gedenkt interessanterweise „In Memoriam“ nicht nur seiner in der Shoah ermordeten Eltern Gabriel und Elsa sowie seines Bruders Walter, sondern im gleichen Zug seines Onkels Erwin Lion, der 1931 (also vor der Shoah) „in Aussee“ in der Steiermark verstarb, aber auch in diesem Grab bestattet ist – eine seltsame Ausdehnung der Verwendung der „In Memoriam“-Inschrift. Ebenso interessanterweise wird Frankls erste Frau Tilly, geborene Grosser, die in der Shoah umkam, nicht erwähnt. Der Sockel dieser Stele ist stets mit kleinen Steinchen bedeckt und zeugt somit von häufigen Besuchen. Auch am Döblinger Friedhof fanden nach 1945 noch jüdische Bestattungen statt, wie im oben besprochenen Falle Peter Rendis – und trotz der oben geschilderten Überführung von dort bestatteten Leichen verstorbener Jüdinnen und Juden auf den Friedhof beim IV. Tor. Diese fallen somit außerhalb des Tätigkeitsbereichs sowie überhaupt der Sepulkralkultur der Kultusgemeinde als offizielle jüdische Vertreterorganisation. So wurde beispielsweise 1999 Wilhelm (Willy) Stern, der die Shoah in Wien als junger Angestellter des „Ältestenrats“ überlebte, im Grab des in den 1950er-Jahren verstorbenen Ehepaars Emil und Katharina Bedus beigesetzt (22-3-29). Sterns Verhältnis zum Ehepaar Bedus ist nicht eindeutig. Laut der Friedhofsdatenbank der Wiener Friedhöfe liegt in diesem Grab auch Sterns 2005 verstorbene Frau Margaretha Josefine Emilie – womöglich war sie die Tochter des Ehepaars Bedus. Dieser Grabstein sticht schon allein durch seine Symbolik heraus: Er trägt sowohl ein Kreuz wie einen Davidstern und knüpft somit an das überkonfessionelle, interkulturelle Erbe dieses bürgerlichen Bestattungsraumes aus der Vorkriegszeit an. Laut der Friedhofsdatenbank ist das Grabnutzungsrecht allerdings 2016 erloschen; das Grab wird also wohl bald aufgelöst, wenn das Nutzungsrecht nicht verlängert wird. Dies stellt also in keiner Weise ein Begräbnis nach jüdischer „Tradition“ dar, jedenfalls nicht eine nach religiösem Denken begriffene Tradition. Somit unterstreichen diese Grabstätten in Döbling den Umstand, dass sich heute wie früher die jüdische Sepulkralkultur, wie überhaupt die jüdische Gemeinschaft in Wien, nicht ausschließlich auf die Kultusgemeinde reduzieren lässt. Im Gegensatz zu jenen prominenten jüdischen Kulturschaffenden aus der Zeit vor der Shoah, die sich nach ihrem Tod in der „Grabstätte ihrer Väter“
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in Wien – also im jüdischen Friedhof – bestatten ließen, gab es auch einige, die den Wünschen ihrer Familie oder ihren eigenen Wünschen entsprechend im allgemeinen Teil des Zentralfriedhofs bestattet wurden. So widerfuhr es beispielsweise dem 1959 verstorbenen Kabarettisten Hermann Leopoldi, der in einem Ehrengrab der Stadt Wien bestattet wurde (15C-2-18). Beachtlicherweise entsandte die Kultusgemeinde keine offizielle Vertretung zum Begräbnis, was unter ihrer Mitgliedschaft auf Verwunderung stieß. Hieraufhin veröffentlichte Ernst Feldsberg eine recht defensive Stellungnahme in Die Gemeinde, in der er die Entscheidung von Leopoldis Lebensgefährtin Helly Möslein, ihn in einem nichtjüdischen bzw. überkonfessionellen Friedhof bestatten zu lassen, als „faktische Ablehnung der Beerdigung auf dem jüdischen Friedhof “ auslegte: Ihm zufolge wollte sie das von der Stadt Wien angebotene „Grab an bevorzugter Stelle“, also bei den anderen Prominentengräbern beim II. Tor in Anspruch nehmen, in der Nähe von Komponisten und Staatsoberhäuptern, wo auch sie fast ein halbes Jahrhundert später bestattet werden sollte. Feldsberg rechtfertigte die offizielle Abwesenheit der Kultusgemeinde wie folgt: „Die Beerdigung eines Juden auf dem jüdischen Friedhof ist nicht nur vom religiösen Standpunkt geboten, sondern auch eine moralische Verpflichtung. Für mich ist jedes Grab auf unserem Friedhof ein Ehrengrab“. Dabei nannte er auch einige prominente Bestattungen auf den jüdischen Friedhöfen, darunter wohlgemerkt Arthur Schnitzler.264 Angesichts der Tatsache, dass es freilich in den Friedhöfen der Kultusgemeinde auch Ehrengräber gibt, muss diese Behauptung Feldsbergs allerdings als schöne Redewendung gedeutet werden, die den Tatsachen nicht entsprach. Leopoldis in den USA lebender Sohn aus erster Ehe bat, wie in diesem Bericht Die Gemeinde auch angemerkt, noch vor seiner Bestattung um die Durchführung der tahara, der rituellen Leichenwaschung, beim IV. Tor. Repräsentierte somit Leopoldis Begräbnis mit der vorgenommenen rituellen Leichenwaschung einerseits und der Bestattung in einem überkonfessionellen Friedhof andererseits noch die Intersektionalität der Wiener Kultur aus der Zeit vor der Shoah, so unterstrich Feldsbergs Stellungnahme die ausgesprochen partikularistische Orthodoxie der offiziellen jüdischen Gemeindeverwaltung aus der Zeit danach, die die Wiener jüdische Sepulkralkultur bis heute prägt. Allgemeiner betrachtet, deutet diese Dynamik wohl auch auf die zunehmende Spaltung der österreichischen bzw. europäischen Gesellschaft in eine breite, sich zunehmend von der institutionalisierten Religion distanzierende Sphäre sowie eine Sphäre, die sich nach wie vor in ihren eng gefassten Religions- bzw. Kulturgemeinschaften abschottet – im Leben wie im Tod.
264 Das Begräbnis Hermann Leopoldis, in: Die Gemeinde, 24. Juli 1959, S. 5.
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In seiner bahnbrechenden Studie zu jüdischen „RemigrantInnen“ in Wien verwies der Soziologe Christoph Reinprecht auf den Befund, dass um 1990 nur etwa 1.600 der 3.500 in Wien lebenden RemigrantInnen „damals wie heute“ Kontakt zur Kultusgemeinde hegten – also nicht einmal die Hälfte. Wie ein Interviewpartner feststellte, konnte seine „jüdische“ Identität als etwas rein „Sentimentales“ angesehen werden, „zwischen Beschneidung und Zentralfriedhof “. Der Friedhof war dabei nicht mal von besonderer religiöser oder historischer Bedeutung, wie der Befragte weiter ausführte: „Es gibt ein paar Plätze in Wien, die ich sehr, sehr mag, und dieser Friedhof, der wild verwachsene Teil, den mag ich sehr. Um dort begraben zu werden, muß man Mitglied der Kultusgemeinde sein“.265 In dieser Aussage zeigt sich, dass selbst nach der Shoah Vorsicht geboten ist, der Bestattung in einem jüdischen Friedhof zu viel Bedeutung beizumessen – die Beweggründe für die Bestattung in einem als „jüdisch“ verstandenen Raum sind schließlich so variabel wie das Verständnis der „Jüdischkeit“ selbst. Wie sich die jüdische Sepulkralkultur in Wien weiter entwickeln wird – ob sie sich wieder diversifiziert, wie es ab etwa dem Jahre 1800 der Fall war, oder ob sie weiterhin Ausdruck eines engeren religiös-orthodoxen bzw. partikularistisch-jüdischen Gemeinschaftsverständnisses bleibt – wird sich in den kommenden Jahren und Jahrzehnten zeigen. 9.6
Die Bezugnahme der im Ausland überlebenden Nachkommen zu den Wiener jüdischen Friedhöfen nach 1945
Die in Wien geborene Germanistin und Shoah-Überlebende Ruth Klüger schilderte in ihrer einflussreichen Autobiographie das Verhältnis zwischen den Überlebenden und den Toten, den Ermordeten nach dem Ende des Genozids: „Wo kein Grab ist, hört die Trauerarbeit nicht auf. Oder wir werden wie die Tiere und leisten gar keine.“ Zwar führte sie dazu noch an, dass sie mit dem „Grab […] nicht eine Stelle auf einem Friedhof “ meinte, „sondern das Wissen um das Sterben, den Tod eines Nahestehenden“.266 Doch kann Klügers Feststellung auch sprichwörtlich verstanden werden: Die meisten Menschen spüren ein tiefes Bedürfnis, dem Dahinscheiden ihrer Angehörigen physisch, räumlich zu gedenken. Die fortwährende Wichtigkeit der Grabstätte, selbst wenn es kein Begräbnis gibt, zeigt sich alleine schon in den tausenden „In Memoriam“-Inschriften in den Wiener jüdischen Friedhöfen, die sich in der
265 Reinprecht, Christoph: Zurückgekehrt. Identität und Bruch in der Biographie österreichischer Juden, Wien 1992, S. 29, 120. 266 Klüger: Weiter Leben, S. 94.
Die Bezugnahme der im Ausland überlebenden Nachkommen
Nachkriegszeit vermehrten. Wie Jacqueline Vansant zeigte, behielten die jüdischen ÖsterreicherInnen im Exil überhaupt ein ausgeprägtes topographisches „In Memoriam“-Gedächtnis ihrer einstigen Heimatstadt Wien, dominiert von den Orten diverser erlittener Traumata, so etwa die Straßen, in denen sie gepeinigt wurden oder die Bahnhöfe, von denen sie ihre erzwungene Abreise antraten. Das Wien ihrer Erinnerung war, so schloss Vansant bezeichnenderweise, gleich ein Ort der Abwesenheit: Es ist zum Friedhof der eigenen Vergangenheit geworden.267 Für die meisten Überlebenden war das gegenwärtige Wien nur mehr ein Friedhof, gefüllt mit den Geistern einer traumatischen Vergangenheit, in das sie nicht zurückkehren wollten. Für viele waren aber die tatsächlichen Friedhöfe, die in der Heimatstadt den kulturellen Genozid überdauert hatten, zugleich Orte der lebendigen Erinnerung an ihre verstorbenen oder ermordeten Angehörigen und somit an ihre eigene persönliche Vergangenheit: Sie fungierten nun mehr denn je als „Grabstätten der Väter“ im tiefsten Sinne. Die andauernde Verbundenheit zu diesen Orten zeigt sich in unterschiedlichen Formen, die hier abschließend noch beleuchtet werden sollen: In der geistigen Rückbesinnung auf den Friedhof, in der Fürsorge aus der Ferne für die noch bestehenden Grabstätten von Angehörigen sowie im persönlichen Besuch des Friedhofs vom Exil aus. Bereits im Juni 1946, knapp ein Jahr nach Ende der NS-Herrschaft in Österreich, schrieb beispielhaft der 1896 in Wien geborene und nach dem „Anschluß“ in die USA geflüchtete Philipp Flesch an die Kultusgemeinde mit der Bitte, die Grabstätte seiner bereits vor der Shoah in den Jahren 1913 bzw. 1925 verstorbenen Eltern Josefine und Josef sowie seiner 1923 verstorbenen Schwester Katharina beim I. Tor instand zu setzen und zu pflegen (51-6-73). Die Kultusgemeinde reichte sein Ansuchen an die Firma Seinfeld weiter, die ihren Sitz in Manhattan, New York hatte und die sich laut der darauffolgenden Korrespondenz auf „Ausschmückung von Gräbern in Wien [und] Denkmäler“ spezialisierte, wofür sie „von der Verwaltung des ‚Zentralfriedhofs‘ ermächtigt“ waren. Dies deutet darauf hin, dass die Kultusgemeinde viele solcher Anfragen aus den USA – wohin ja zehntausende jüdische WienerInnen geflüchtet waren – erhielt und gebündelt an diese Firma in Auftrag gab. Die Firma schickte Flesch im Folgejahr ein Photo, um die instand gesetzte Grabstätte samt der neu gestrichenen Eisenumfriedung zu zeigen. Darauf ist der klassizistische Stein aus dunklem Marmor zu sehen mit einer für seine Zeit üblichen Inschrift, bestehend aus einer zweisprachigen Laudatio in vergoldeten Buchstaben. Wie lange Flesch das Familiengrab in Wien noch instand halten ließ, geht aus den Akten nicht hervor – die erhaltene Korrespondenz mit der New Yorker Firma 267 Vansant: Reclaiming Heimat, S. 98, 100–101.
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reicht nur bis 1948, die mindestens bis dahin das Grab regelmäßig jäten ließ und auf die Instandhaltung achtete. Jedenfalls deutet dieses Beispiel paradigmatisch auf die Wichtigkeit der Bewahrung der „Grabstätte der Väter“ seitens jener Nachkommen, die nicht zurückkehren wollten, frei nach Nehemia 2,3: „Warum sollte ich nicht traurig aussehen, da die Stadt, wo das Haus der Grabstätte meiner Väter ist, verwüstet liegt […]?“268 Der Bezug zu den „Grabstätten der Väter“ wurde aber nicht nur aus der Ferne aufrechterhalten, wie verschiedene Quellen belegen. Bereits in den frühen Nachkriegsjahren wurden die Wiener jüdischen Friedhöfe zu obligatorischen Ausflugszielen für die vielen Vertriebenen, die schon bald ihre Heimatstadt kurz oder langfristig wieder aufsuchten. Wie der in die USA geflüchtete Schriftsteller Robert Pick feststellte, war der Friedhof nämlich „in der Überlieferung der Wiener Jüdinnen und Juden äußerst präsent. Es war der Ort, der ihnen allen gemeinsam war.“ Diese Aussage verweist nicht nur allgemein auf die Universalität des Todes sowie infolgedessen der Räume des Todes und der Erinnerung, sondern offenbart auch einen wesentlichen Punkt über die untergegangene jüdische Gemeinschaft Wiens, die von großer Diversität geprägt war und somit wenige überragende Gemeinsamkeiten aufwies, die während der Shoah jedoch weitestgehend gewaltsam aus der Topographie der Stadt entrissen und entwurzelt wurde: Die Friedhöfe zählten nach 1945 für religiöse wie nichtreligiöse, zurückgekehrte wie im Ausland verbleibende Jüdinnen und Juden zu den letzten noch erhaltenen, kollektiv „jüdischen“ Erinnerungsorte der Stadt. Picks Artikel, der 1953 in der jüdisch-amerikanischen Zeitschrift Commentary erschien, wurde treffend von der Redaktion als „Bericht eines einheimischen Sohnes über seine Rückkehr zu den Ruinen der einst stolzen jüdischen Gemeinschaft von Wien“ beschrieben, bei der er „das wahre Andenken an die Wiener jüdische Vergangenheit im jüdischen Friedhof entdeckte“ – gemeint war die alte jüdische Abteilung beim I. Tor. In seinem Bericht beschrieb Pick, wie die seinerzeitigen Zurückkehrenden „ein merkwürdig homogenes Verhaltensmuster in den ersten Tagen nach ihrer Ankunft“ aufwiesen, der stets ein Besuch an den Friedhof miteinbegriff. In Rückbesinnung auf die Kriegszeit, die er in den USA überlebt hatte, erinnerte Pick sich an die „Gerüchte von den geschändeten jüdischen Friedhöfen, die bis Kriegsende ständig aus dem NS-Europa eintrafen“. So erblickte er gleich beim Eintritt am I. Tor die „ausgebrannte Kapelle“, womit er die in den Novemberpogromen geschändete Zeremonienhalle meinte, und fragte sich, ob die Kultusgemeinde „die halbverkohlten Mauern zusammen mit den sie umgebenden Trümmern als grausiges Mahnmal hat stehen lassen“ (was allerdings nicht stimmte). Die Zeremonienallee, wie oben bereits 268 Care of Flesch Family Grave in Vienna, o. D., LBI, Philipp Flesch Collection, Box 1, Folder 7, AR 25197.
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zitiert, beschrieb er als einst „so was wie die Ehrenhalle der Wiener Judenheit. Auf eine melancholische Art ist sie das immer noch“, fuhr er in Bezug auf die Verwahrlosung des Friedhofs fort, die bis in die 1990er-Jahre andauern sollte. Insgesamt charakterisierte er die Atmosphäre am Friedhof als eine „der Verwüstung“, „des Verfalls“: „Doch der Friedhof ist noch nicht dem Dschungel erlegen. Seine Wege sind von Abfall frei gehalten, seine Bäume sind noch in gutem Zustand, seine Wegschilder sind neu gestrichen.“ Trotz den Aufräumarbeiten aber, bei denen bereits zu dieser Zeit die Bombenschäden vom Kriegsende weitgehend beseitigt worden waren, waren immer noch überall „von Granaten zerfetzte Denkmäler“ sichtbar, die „in Bruchstücke zerstreut lagen“. Seltsamerweise fand Pick auf seinem Familiengrab (er gab keine Indizien, wo es sich befindet, und in der Friedhofsdatenbank sind fast 300 Verstorbene mit dem Nachnamen Pick auf diesem Friedhof verzeichnet) ein einziges Steinchen liegen, ohne zu wissen, wer die Grabstätte in seiner vierzehnjährigen Abwesenheit besucht hatte. Doch dieses einsame, anonyme Erinnerungszeichen brachte keinen Trost, im Gegenteil, es unterstrich für ihn „den unlöschbaren Eindruck der Verlassenheit“ des Friedhofs. Angesichts der riesigen Anzahl an Grabstätten von Verstorbenen, deren Nachkommen vertrieben oder ermordet wurden, wurde Pick das Gefühl nicht los, dass der ganze Ort „eines Tages von der Wildnis verschluckt“ sein würde. Sein Bericht offenbart, dass Pick, der bereits 1939 flüchten konnte, dennoch über den weiteren Ablauf der Shoah in Wien sowie über die spezifischen Geschehnisse auf den jüdischen Friedhöfen in diesen Jahren gut informiert war. Er vergegenwärtigte sich die Pietät, mit der die jüdische Gemeinschaft stets die „Grabstätten ihrer Väter“ bewahrt hatte, sogar noch während der Shoah, „als die Asche von sprichwörtlich unzähligen Jüdinnen und Juden im 24-Stunden-Takt aus Hitlers Krematorien rausgeschaufelt wurde – und die Handvoll Jüdinnen und Juden in Wien sich keine Illusionen mehr machen konnten von der Immanenz ihres eigenen Endes“. In Anbetracht der vielen Todesdaten auf den Grabsteinen, die nach 1938 fielen, besann er sich auf „ein Gefolge jüdischer Trauernder, die im NS-Wien einen Sarg zu seiner Grabstätte brachten – hohläugige Männer und Frauen, in Todesangst vor den Spitzeln der Gestapo, die bekannterweise bei solchen Gelegenheiten auf der Lauer lagen“. Entsprechend düster endete er auch seinen Bericht, in dem er in Gedanken zum Plätzchen vor der ausgebrannten Zeremonienhalle zurückkehrte und dort unter anderem auf die Grabstätte Arthur Schnitzlers verwies, „jenen passioniertesten aller jüdischen Liebhaber von Wien“, wie er ironisch bemerkte. Das ganze Areal, umringt von den Grabstätten der Gründerväter der Kultusgemeinde, der großen Kulturschaffenden und der mächtigen Großindustriellen Wiens in der k.u.k. Ära und der Zwischenkriegszeit, jetzt aber dominiert von der „obszönen Ruine in ihrer Mitte“, zeigte, so Pick resümierend, „die gesamte moderne Geschichte
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der Wiener Judenheit“ auf, sowie „die Illusionen dieser Judenheit“.269 Diese „Leseart“ des alten Friedhofs beim I. Tor findet sich bis in die jüngste Zeit wieder, so beispielsweise in einem Artikel aus dem Jahre 2012 eines Israelis der zweiten Generation, dessen Mutter 1939 aus Wien flüchtete und dessen Großmutter 1942 ermordet wurde, Gabriel Alexander. Am Friedhof, den er in den späten 1950er-Jahren besuchte, empfand er noch den „Glanz des Wiener Judentums“ vergangener Zeiten im Gegensatz zur „Stadt ohne Juden“, dem lebendige Wien. Wie etliche andere Erfahrungsberichte über den Friedhof beim I. Tor war dieser von einem Photo der Grabstätte Arthur Schnitzlers begleitet, der die untergegangene Welt der Wiener Judenheit greifbar versinnbildlichen sollte.270 Im Jahre 1959 verfasste in seiner neuen amerikanischen Heimat der in Wien geborene Lyriker Ernst Waldinger ein Gedicht, das dem Titel zufolge von einem Besuch im Sommer zuvor an der Grabstätte seines 1933 verstorbenen Vaters Salomon Waldinger beim IV. Tor inspiriert wurde (14-8-19). Darin kommt eindringlich, wie bei Picks Bericht zuvor aber in eher poetischer Form, der neue Stellenwert des jüdischen Friedhofs nach der Shoah als abstrahierter Erinnerungsort zum Ausdruck als die auf noch tieferer Ebene verstandene „Grabstätte der Väter“: [N]icht prahlt, nicht lügt / Ein Friedhof, wenn er jüdisch ist, mit Prunk. / Kein Massengrab und keine Mausoleen! / Sechs Bretter decken wir mit Erde zu. / Doch bleibt die Friedensstätte stets bestehn; / Unangetastet sei der Toten Ruh! / So lieg in frommer Unschuld hier, mein Vater, / In Sonne, Sturm und Schnee, der Nächte Samt, / Und in Gestrüpp, in Schutt und Bombenkrater, / Sei ewig die Herodestat verdammt!271
Ist in Picks Schilderung „der jüdische Friedhof “ – wohlgemerkt in spezifischem Bezug auf den älteren Friedhof beim I. Tor, mit seinen prächtigen, wenngleich damals verfallenen Mausoleen – ein Sinnbild der Torheit, der „Illusionen“ der vorangegangen Generationen, so ist „der jüdische Friedhof “ in Waldingers Gedicht – in Bezug auf den etwas bescheideneren Friedhof beim IV. Tor – genau das Gegenteil: Er „prahlt“ und „lügt“ nicht „mit Prunk“, „wenn er jüdisch ist“ – eine markante Bezugnahme, ob bewusst oder nicht, auf die Kontroversen rund um den „jüdischen Charakter“ dieses Raums, die seine Entwicklungsgeschichte fast von Anfang an prägten. Doch ist den beiden Überlebenden ein 269 Pick: The Vienna of the Departed, S. 153–157. 270 Alexander, Gabriel: Wien Ohne Juden, in: Yakinton. Mitteilungsblatt der Vereinigung der Israelis Mitteleuropäischer Herkunft 245 (September 2012), S. 22–25. 271 Waldinger, Ernst: Wiener Zentralfriedhof, jüdische Abteilung. 4. Tor. Vor dem Grab meines Vaters, Juli 1958 [1959], in: Gauß, Karl-Markus (Hg.): Noch vor dem jüngsten Tag. Ausgewählte Gedichte und Essays, Salzburg 1990, S. 136–137.
Die Bezugnahme der im Ausland überlebenden Nachkommen
grundlegender Eindruck gemeinsam: Der Weg, den ihre Vorfahren gingen, war verfehlt, und nun erinnert nur mehr der Friedhof an die untergegangene Gemeinschaft. Freilich bietet insbesondere der jüdische Friedhof beim I. Tor seit seiner weitgehenden Instandsetzung, die in den 1990er-Jahren begann, heute ein viel komplexeres Bild. Darauf kommt das nächste Kapitel zurück. Auch jüngere Erinnerungstexte berichten in eher sachlicher Form von Friedhofsbesuchen durch Vertriebene und die Eindrücke, die dabei entstanden. So erzählte ein 1919 in Wien geborener, in die USA emigrierter und bloß als „Friedrich K.“ genannter Befragter im Rahmen eines weitläufigen Interviewprojekts am Leo Baeck Institute in New York (bedeutungsvoll auf Englisch und nicht Deutsch): Ich besuchte Wien im Jahre 1982, um die Grabstätte meines Vaters am Zentralfriedhof, V. Tor [wie das IV. Tor vor den 1990er-Jahren noch offiziell hieß], zu besuchen und um eine Gedenktafel für meine Mutter zu errichten, die „in Auschwitz umgekommen“ war. Ich empfand die WienerInnen genauso verlogen wie sie es schon immer waren. Zu Ihrer Frage, ob ich mir jemals Gedanken machte, dauerhaft zurückzukehren, kann ich nur antworten: Das muss wohl ein Witz sein!272
Ähnlich negativ berichtete Harvey Fireside, 1929 in Wien als Heinz Wallner geboren und später in die USA geflüchtet, in einer kurzen, ebenfalls englischsprachigen Denkschrift über seine Eindrücke von einem Besuch am Friedhof beim IV. Tor viele Jahrzehnte nach Ende der Shoah. Fireside wurde vom „Jewish Welcome Service“ nach Wien eingeladen, dem oben erwähnten, vom Shoah-Überlebenden Leon Zelman gegründeten Verein, der Überlebenden und Vertriebenen ihre ehemalige Heimatstadt wieder vertraut machen sollte. Fireside – dessen Namensänderung vom ursprünglichen „Feuerzeug“ bereits als Indiz für seine allgemeine Abneigung gegenüber seiner österreichischen Vergangenheit gelesen werden kann – beschrieb seine Ankunft am 17. September 2000 als „Eintritt in eine Zeitschleife vergangener Alpträume“. Trotz seiner „emotionalen Zerrissenheit“ zeigte er sich dennoch dafür „dankbar“, dass die Reise ihm „die Gelegenheit gab, die Grabstätten der wenigen Verwandten zu besuchen, die dort zur letzten Ruhe bestattet wurden“. Nach einigen Tagen unterwegs in Wien, die in seiner Erinnerung von Begegnungen mit antisemitischen ÖsterreicherInnen, wohlgemerkt zu Beginn der Schüssel-Haider-Ära, dominiert waren, war „die Zeit gekommen, um unseren geplanten Besuch an den jüdischen Friedhof abzustatten.“ Es war ein kühler, 272 Zit. nach Lichtblau, Albert: Community-orientiertes Arbeiten konkret. Die Austrian Heritage Collection in New York, in: Ulla, Kriebernegg/Lamprecht, Gerald/Maierhofer, Roberta/Strutz, Andrea (Hg.): „Nach Amerika nämlich!“ Jüdische Migrationen in die Amerikas des 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2012, S. 149. Meine Übersetzung ins Deutsche.
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verregneter Herbsttag als die Gruppe bejahrter EmigrantInnen mit Autobussen hinaus zum Zentralfriedhof in Simmering begleitet werden sollte. Fireside saß mit seiner Frau im Hotel Stefanie im Herzen der alten Leopoldstadt beim Frühstücksbuffet, als er vom Begleiter angesprochen wurde: Es konnten keine Grabstätten der Familie Feuerzeug aufgefunden werden. Auch gab es keine Hinweise auf die Grabstätte seiner Mutter, die bereits in seiner Kindheit verstarb. Fireside entschied sich mit seiner Frau, trotzdem mitzufahren, aus Solidarität mit den dreißig WeggefährtInnen, „wenn nur, um Kaddish [das Trauergebet] für die ganzen unruhigen Seelen zu beten“. Am Friedhof konnte schließlich ein Angestellter doch vier Mitglieder der Familie Feuerzeug identifizieren, von denen einer in Buchenwald umkam (nämlich sein Onkel Walter Feuerzeug, dessen Schicksal hier im vorherigen Kapitel geschildert wurde). Fireside merkte hier an, dass insgesamt etwa ein Dutzend weiterer Familienangehöriger „in den Todeslagern verschwunden“ seien. Fireside und seine Frau gaben schließlich die Suche nach dem Grab seiner Mutter auf und suchten stattdessen nach der Grabstätte seines Onkels und seiner Tante, der 1918 verstorbenen Lotti Feuerzeug. „Wir sahen andere aus unserer Gruppe an Grabsteine vorbeigehen, von denen viele auf dem Boden lagen oder schief standen. Hochgewachsene Unkräuter machten es schwierig, die Denkmäler zu entziffern. Es war ein entmutigender Anblick“. Die wenigen Schilder, die auf die Gruppen-, Reihen- bzw. Grabstellennummern verwiesen, halfen bei der Suche nicht weiter – eine Erfahrung, die man heute noch am Friedhof macht. Sie fanden zwar die Grabstätten von Lotti (4-29-73) und Walter (22-42B-11), doch derer wurde mit keinem Denkmal gedacht. Fireside fischte „einen kleinen Stein aus dem Dreck heraus, um von unserem Besuch Zeugnis abzulegen und um die Seelen meiner Vorfahren zu besänftigen“ – er legte den Stein offensichtlich auf das Grab – denn „eine nackte Steinplatte zeugt von einer beschämenden Vernachlässigung seitens der Angehörigen“. Nachdem sie einige Minuten bei der Grabstätte verweilt hatten, „stapften“ sie hinüber zur „Mauer in der hinteren Ecke der jüdischen Abteilung. Jemand hatte einen großen Davidstern auf die Steinplatten gemalt. Eine Tafel bekundete (auf Deutsch): ‚Hier ruhen zahllose Märtyrer die in verschiedenen Anhaltelagern unter der Herrschaft des Faschismus barbarisch hingemordet wurden.‘“ Fireside wusste es nicht, aber er war auf eines der oben diskutierten Denkmäler in der Gruppe 22 gestoßen, die den dort verscharrten ZwangsarbeiterInnen gewidmet war. Jedenfalls bemerkte er allgemein dazu: „Es war das erste Denkmal, das wir gesehen hatten, das von den siebzigtausend [sic] oder so Opfern bekundete aus einem Ort, der einst ein florierendes jüdisches Zentrum von Gelehrsamkeit, Theater, Musik und Wissenschaft war.“ In Klammern bemerkte er noch dazu, dass erst nach ihrer Heimreise das Shoahdenkmal von der Künstlerin Rachel Whiteread am Judenplatz in der Inneren Stadt eingeweiht wurde (dies geschah
Die Bezugnahme der im Ausland überlebenden Nachkommen
ein Monat später). Diese Denkschrift, die erst 2004 verfasst wurde, unterstreicht somit den obigen Befund, dass bis frühestens in die 1990er-Jahre der Friedhof beim IV. Tor als wichtigster Erinnerungsort der Shoah in Wien fungierte. Fireside berichtete, dass eine der Weggefährtinnen aus der Gruppe ebenfalls keinen Grabstein für ihre Angehörigen finden konnte. Laut einem Friedhofsangestellten „fielen die fehlenden Grabsteine sicherlich im Krieg den alliierten Luftangriffen zum Opfer“. Diese Erklärung tat die Weggefährtin als „unwahrscheinliche Geschichte“ ab, dem Fireside nur zustimmen konnte: [E]s ist in der Tat unglaubwürdig, dass die dreißig amerikanischen Bombenflugzeuge, die es endlich 1944 nach Wien schafften, für die Beschädigung bloß dieses einen Friedhofs hätten verantwortlich sein können. Eher wahrscheinlich ist diese verwahrloste Abteilung, mit ihren Lücken, ihrem Unkraut und den zerfallenen Denkmälern, einfach ein Stiefkind der Behörden.
Zwar kam es sehr wohl bei Luftangriffen gegen Kriegsende zu erheblichen Schäden an beiden jüdischen Abteilungen des Zentralfriedhofs, doch kann Firesides Verdruss stellvertretend für die Reaktion vieler EmigrantInnen und ihren Nachkommen verstanden werden, wenn sie die „Grabstätten ihrer Väter“ in Wien teils verwildert vorfanden – und heute noch zum Teil vorfinden. Signifikanterweise richtete sich Firesides Zorn jedoch nicht gegen die Kultusgemeinde als Inhaberin und Verwalterin dieses Friedhofs, sondern gegen die breitere Wiener bzw. österreichische Gesellschaft: Die geschändeten und dann vergessenen jüdischen Friedhöfe verkörperten seiner Ansicht nach die Art und Weise, wie die nichtjüdische Mehrheit ihre jüdischen Landsleute geschändet und dann vergessen habe. „Auf dem Weg zurück ins Hotel haben wir nicht viel geredet“, fuhr Fireside fort. Eine der Weggefährtinnen bemerkte: „Das nennen sie ‚immerwährende Fürsorge‘? Es gleicht eher ewiger Verwahrlosung.“ Fireside antwortete: „Tja, was erwartest du von deinen vergesslichen Landsleuten? […] Sie haben das ganze Nazikapitel aus ihren Geschichtsbüchern gelöscht.“ Die Frustration dieses Besuchs machte mir immer noch zu schaffen: ein Morgen, an dem wir durch ein verwildertes Gewirr von vermodernden Grabsteinen stolperten, die alte Knochen bedecken. Könnten die WienerInnen, mit ihrer zwanghaften Ordentlichkeit, diesen Ort nicht aufräumen?273
Dies ist eine berechtigte Frage, auf die das nächste Kapitel ausführlich zurückkommt. Stellvertretend für die Erfahrung vieler Nachkommen berichtete auch der Historiker Eric Hobsbawm (geboren Hobsbaum) von seiner Suche nach 273 Alle Zitate in der Reihenfolge ihrer Nennung: Fireside, Harvey: Visit to a Viennese Cemetery, unveröffentlichte Memoiren, 2004, LBI, ME 1486, S. 1–2, 11–15.
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den Grabstätten seiner Eltern beim IV. Tor im ausgehenden 20. Jahrhundert. Sind diese noch in der Friedhofsdatenbank verzeichnet (Nelly Hobsbaum, verstorben 16. Juli 1931, und Percy Hobsbaum, von dem hier nur das Bestattungsdatum mit 11. Februar 1929 verzeichnet ist, 16-8-27), so finden sich heute tatsächlich in dieser verwahrlosten Reihe keine entsprechenden Denkmäler.274 Ein letztes Beispiel einer etwas anderen Art des Friedhofsbesuchs ist das einflussreiche Werk des amerikanischen Schriftstellers Daniel Mendelsohn, Eine Suche nach sechs von sechs Millionen. Darin berichtete Mendelsohn von seiner Spurensuche nach seinen in der Shoah umgekommenen Vorfahren, wobei er von seinem Besuch am Wiener Zentralfriedhof erzählte. Dort, beim IV. Tor, suchte er die ursprüngliche Grabstätte des 1949 nach Israel überführten Theodor Herzl – vergeblich, denn Herzls ursprüngliche Grabstätte liegt ja im überkonfessionellen Döblinger Friedhof.275 Diese kurze, aber für Mendelsohn bedeutungsvolle Episode veranschaulicht zwei wesentliche Punkte über die jüdische Erinnerungskultur der Nachkriegszeit: einerseits die Wichtigkeit der jüdischen Friedhöfe Europas als „Grabstätten der Väter“ im weitesten Sinne, als Nabelschnur einer jahrtausendealten jüdischen Geschichte, andererseits aber auch die Annahme des Autors, dass ein großer Jude des ausgehenden 19. Jahrhunderts – zumal der Begründer des zionistischen Kongresses – zwangsläufig in einem jüdischen Gemeinschaftsfriedhof zu finden sein müsse.276 Der jüdische Friedhof beim IV. Tor existierte nicht einmal, als Herzl 1904 verstarb. Darüber hinaus war es alles andere als Zufall, dass Herzl für seine Eltern und somit auch für sich selbst eine vorläufige Grabstätte in einem – wenigstens im gemeinschaftspolitischen Sinne – „nichtjüdischen“ Friedhof wählte. Mendelsohns vergebliche Suche nach Herzls Grab beim IV. Tor weist hingegen auf eine in der Nachkriegsvorstellung erfolgte Verschmelzung der Erinnerung an Herzl mit der Wiener jüdischen Gemeindeorganisation, dem Staate Israel und dem jüdischen „Volk“ schlechthin, genauso wie auf die Vereinnahmung Herzls durch die Kultusgemeinde, zu der er ein äußerst angespanntes und distanziertes Verhältnis hatte – und nicht zuletzt auf die Ballung der „jüdischen Erinnerung“ am jüdischen Friedhof.
274 Hobsbawm, Eric: Interesting Times. A Twentieth-Century Life, London 2002, S. xi–xii. 275 Mendelsohn, Daniel: Die Verlorenen. Eine Suche nach sechs von sechs Millionen, aus dem Englischen von Eike Schönfeld, Frankfurt am Main 2012, S. 354–356. 276 Vgl. zum ersten Befund und mit spezifischem Bezug auf Wien Windsperger, Marianne: Zwischen Ringstraße, Mazzesinsel und Simmering. Die Gegenwartsliteratur als Archiv jüdischer Geschichte in Österreich, in: Keil, Martha (Hg.): Fremd/Vertraut. Zur Geschichte der Juden in Österreich, Sonderausgabe von Österreich. Geschichte, Literatur, Geographie 61/2 (2017), S. 182–186.
Schlussbemerkungen
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Schlussbemerkungen
Der Friedhof beim IV. Tor stellt einen der wirkungsmächtigsten Orte der Erinnerung sowie der gegenwärtigen Gemeinschaft für die jüdische Bevölkerung der Zweiten Republik dar, womöglich heutzutage nur vom Gemeindezentrum in der Seitenstettengasse in der Inneren Stadt übertroffen, wohin sich nach den 1980er-Jahren der Fokus der kollektiven Erinnerung zunehmend verlagert hatte. Doch der Friedhof bleibt zugleich der wichtigste Ort für individuelle, familiäre und kommunikative Erinnerungen der breiten und diversen, wenngleich viel kleineren jüdischen Gemeinschaft des heutigen Österreichs. Wenn auch viele der gemeinschaftlichen Denkmäler, die aufeinanderfolgend in den Jahren und Jahrzehnten nach der Shoah dort errichtet wurden, inzwischen vielen nicht mehr bekannt sind oder nicht mehr wahrgenommen werden, so stehen sie heute noch an diesem in der Stadtlandschaft physisch präsenten Erinnerungsort, wo sie ein profundes aber zum Teil widersprüchliches Erinnerungsgeflecht der Nachkriegsjudenheit bilden. Der Friedhof ist ein Raum des innerjüdischen Diskurses, der nach wie vor die Diversität der jüdischen Bevölkerung zur Schau stellt, jedoch gleichzeitig auch die Polarisierung kollektivgemeinschaftlicher Diskurse – vor allem deren Tendenz in Richtung religiöser Orthodoxisierung sowie teilweise politischer Zionisierung, die aber nicht von allen Teilen der Gemeinschaft geteilt wird. Insofern zeugt dieser Raum, wie alle seiner Vorgänger in Wien, von den sich heute nach wie vor entfaltenden Selbstverständnissen von und Auseinandersetzungen mit der „Jüdischkeit“ und dem Verhältnis zu Wien und zu Österreich in einem neuen Europa, welche seit 1945 größtenteils von den Wunden des Nationalsozialismus und der Shoah geprägt sind. Die komplexe Erinnerungsmatrix in den jüdischen Abteilungen des Zentralfriedhofs weist eine tiefe Doppelsinnigkeit in der Erinnerungskultur der Nachkriegskultusgemeinde auf, gefangen zwischen einem jüdischen Partikularismus, der sich insbesondere am Staat Israel orientiert, wie etwa im Denkmal für gefallene israelische SoldatInnen beim IV. Tor zum Ausdruck kommt, und einem breiter gefassten Erinnerungsdiskurs, der versucht, einen Platz für die heutige Judenheit Österreichs sowie für die Erinnerung an vergangene österreichische Judenheiten in der gesamtgesellschaftlichen Erinnerungslandschaft der Zweiten Republik zu finden. Nun, im 21. Jahrhundert, wo der Großteil der jüdischen Bevölkerung der Welt nach wie vor nicht in Israel, sondern in Amerika oder erneut in Europa lebt, und wo zugleich kein Ende des Nahostkonflikts oder des Antisemitismus erkennbar ist, ist allerdings die Auffassung von Israel als Kulminationspunkt der jüdischen Geschichte alles andere als offensichtlich. Wie Yosef Hayim Yerushalmi in seinem Meisterwerk zur jüdischen Erinnerungskultur schloss, scheinen die Judenheiten der Welt, die keineswegs ihre historische Vielfalt eingebüßt haben, „lieber auf einen neuen, metahis-
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torischen Mythos warten zu wollen“.277 Welchen Weg die Kultusgemeinde in Zukunft beschreitet, wie dieser Weg von der breiteren jüdischen Gemeinschaft aufgegriffen wird und wie sich das am Friedhof als allgemeinstem jüdischen Erinnerungsort in Wien auswirkt, wird sich in Zukunft zeigen. Wir wenden uns indes dem letzten Kapitel dieser Untersuchung der Wiener jüdischen Friedhöfe zu: und zwar dem äußerst umstrittenen Umgang mit diesen Erinnerungsorten und deren Stellenwert im breiteren gesellschaftlichen und politischen Kontext der Zweiten Republik.
277 Yerushalmi: Zachor, S. 104.
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… und immer schon eine Wiener G’schicht. Die jüdischen Friedhöfe als Schauplätze konkurrierender Erinnerungskulturen in der Zweiten Republik
In den Jahren und Jahrzehnten nach Ende des Zweiten Weltkriegs und der Neuetablierung der Republik Österreich versuchten HistorikerInnen durch verklärte Darstellungen des vermeintlich eigentümlichen Charakters der Stadt Wien eine lokale kulturelle Identität „wiederzuentdecken“, die über die jüngste Geschichte von Faschismus, Krieg und Genozid hinweghelfen sollte.1 Dieses Unterfangen der Identitätsschaffung befasste sich in auffälligem Maße mit der städtischen Sepulkralgeschichte, das in bestimmten Leitmotiven wie die „schöne Leich“, die „Wiener Morbidität“ oder „der Tod muss ein Wiener sein“ paradigmatisch zum Ausdruck kam – vorerst freilich ohne Bezugnahme des vermeintlich morbiden Charakterzugs des „rechten Wieners“, wie es in einer Publikation hieß, auf die mörderischen Gräueltaten so einiger NS-MassenmörderInnen, die aus dieser Stadt stammten.2 In der ausgiebigen und stets wachsenden Nachkriegsliteratur zur Wiener Sepulkralgeschichte, sowohl wissenschaftlichen wie populären Charakters, wurden indes die alten, geschändeten und verwahrlosten jüdischen Friedhöfe der Stadt lange Zeit vollkommen ausgegrenzt. Als sie ab etwa den 1990er-Jahren doch rezipiert wurden, wurde ihre Geschichte zumeist verzerrt, verklärt und verharmlost. Die Ausgrenzung der jüdischen Friedhöfe bzw. die verharmloste Darstellung deren Schicksals unter dem Nationalsozialismus in der allgemeinen Sepulkralgeschichte der Nachkriegszeit verkörpert paradigmatisch die Ausradierung der jüdischen Geschichte und Kultur aus dem Gedächtnis und der Selbstwahrnehmung der allgemeinen nichtjüdischen Bevölkerung der Stadt – eine Ausradierung, die sich erst nach der weitgehenden Vernichtung der jüdischen Bevölkerung vollzog. Die jüdischen Friedhöfe, geschändete Erinnerungsorte, 1 Siehe als frühe und charakteristische Beispiele die zwei Sonderhefte der Zeitschrift Wiener G’schichten aus dem Jahre 1947: Pemmer/Lackner: Der Döblinger Friedhof und Markl: AltWiener Friedhöfe. 2 Siehe dieser Wortlaut in Sandgruber, Roman: Alltag des Fin de Siècle, in: Kühnel, Harry (Hg.): Das Zeitalter Kaiser Franz Josephs – 2. Teil 1880–1916. Glanz und Elend, Wien 1987, S. 149. Der NS-Bezug wurde später z. B. in einer Biographie über den Wiener Amon Göth, den „Schlächter von Płaszów“, hergestellt, in Abwandlung einer Zeile aus dem Gedicht „Todesfuge“ (1945) von Paul Celan. Sachslehner, Johannes: Der Tod ist ein Meister aus Wien. Leben und Taten des Amon Leopold Göth, Wien 2008. Dieser Bezug findet sich auf allgemeinerer kulturhistorischer Ebene in Veigl: Morbides Wien, S. 135–140, siehe auch S. 237–238. Noch allgemeiner wurde die Faszination mit dem Tod als wesentlichem Impuls zur Massenvernichtung unter dem Nationalsozialismus untersucht in Friedländer, Saul: Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus, aus dem Französischen von Michael Grendacher, München 1984.
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… und immer schon eine Wiener G’schicht
die zu den letzten materiellen Zeugnissen der jüdischen Geschichte Österreichs vor der Shoah zählten, sollten aber trotz – oder gerade aufgrund – ihrer weitgehenden Verwahrlosung und zeitweiligen weiteren Schändung seitens der nichtjüdischen Obrigkeit in der Nachkriegszeit schließlich zu den umstrittensten Schauplätzen für Österreichs verspätete Auseinandersetzung mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit, seiner Verstrickung in die NSGräueltaten, aber auch für eine zunehmende Wertschätzung für das jüdische kulturelle Erbe des Landes heranwachsen.
Abb. 28 Bombentrichter beim I. Tor entlang der westlichen Friedhofsmauer und des Weichseltalwegs, 1945. Im Vordergrund ist die umgestürzte Stele des 1938 verstorbenen Osias Isak Juer erkennbar (20-24-206). © Österreichische Nationalbibliothek
Einige Jahre nach Kriegsende bemerkte in einer Aktennotiz Ernst Feldsberg, der ehemalige Friedhofsamtsleiter und spätere Präsident der Kultusgemeinde, dass von den meisten der jüdischen Friedhöfe Österreichs nur mehr „überwucherte Flächen“ übrig blieben: „Die Grabhügel auf den einzelnen Friedhöfen existier[t]en nicht mehr“, und „die Friedhofsgrundbücher wurden während der Nazizeit vernichtet, sodass eine Aufstellung von Grabsteinen auf den einzelnen Friedhöfen ausgeschlossen“ erschien. Darüber hinaus lagen infolge der Todesmärsche und Massaker, sogenannte „Endphasenverbrechen“, die in den letzten Wochen des Kriegs stattfanden, um die 300 Massengräber über das
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Gebiet der jungen Zweiten Republik zerstreut, die die Kultusgemeinde identifizieren, exhumieren bzw. auf würdige Weise kennzeichnen lassen wollte.3 Die jüdischen Friedhöfe der Bundeshauptstadt Wien zählten zu den letzten erhalten gebliebenen „jüdischen“ Räume der Stadt, die den kulturellen Genozid des Nationalsozialismus überdauerten, doch diese befanden sich in einem verwüsteten und gefährdeten Zustand, wie bereits der erste Tätigkeitsbericht der Kultusgemeinde nach der Shoah festhielt. Die großen jüdischen Abteilungen des Zentralfriedhofs beim I. und IV. Tor, die zu den größten jüdischen Friedhöfen Europas zählen, waren von 168 Bombentrichtern übersät, die Folge von fehlgeleiteten alliierten Luftangriffen, die auf die neben dem Friedhof beim I. Tor verlaufende Aspangbahn zielten und zum Kollateralschaden von etwa 2.250 jüdische Grabsteine führten. Die Wege wurden infolge der letzten Kriegswirren, wobei es auch zu Kämpfen am Friedhofsgelände kam, komplett „unpassierbar“. Erst im Frühjahr 1946 konnten beim I. Tor wieder Bestattungen vorgenommen werden.4 Die Kultusgemeinde investierte bereits in den frühen 1950er-Jahren viel Geld und Aufwand, um „diesen schwerstbeschädigten Gottesacker wieder in eine würdige Begräbnisstätte zu verwandeln“, was aber nur bedingt gelingen würde.5 Obwohl der Friedhof beim IV. Tor in der Nachkriegszeit als hauptsächlicher Bestattungsraum der neuetablierten jüdischen Gemeinde diente – sowie als deren zentraler Erinnerungsort – wird der ältere Friedhof beim I. Tor bis heute noch vereinzelt für Begräbnisse und Beisetzungen in bestehenden Grabstätten verwendet. In den Jahren unmittelbar nach Kriegsende verblieb dieser jedoch, wie der schwer geschändete jüdische Friedhof in Währing an der Grenze zwischen den 18. und 19. Wiener Gemeindebezirken, erstmal im Besitz seiner „Ariseurin“: der Stadt Wien. Der Friedhof beim IV. Tor bildete eine Ausnahme in der Restitutionsgeschichte in Wien, da dieser als einziger jüdische Friedhof Wiens während der NS-Zeit nicht komplett „arisiert“ wurde. Eine weitere Ausnahme bildete der jüdische Friedhof in der Seegasse im 9. Bezirk, da dieser älteste erhaltene Bestattungsraum Wiens sofort nach Kriegsende der Kultusgemeinde restituiert wurde – allerdings nur auf Druck der US-Besatzung, in 3 Aktennotiz, 4. Juni 1954, AIKGW, nicht katalogisierter Bestand. 4 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Bericht [1948], o. S., Abschnitt „Friedhof und Beerdigungswesen“. Vgl. die Photographien von zerstörten Gräbergruppen sowie der ausgebrannten Zeremonienhalle beim I. Tor und dem dschungelartigen Zustand des Friedhofs nach 1945: o. T., o. D., LBI, Rothschild Transit Camp Photographs Collection, 1–7 Zentralfriedhof, 4.Tor, ca. 1945, DM 197, Nr. 13, 15–18, 20–21, 25, 27. Vgl. auch die photographischen Aufnahmen von zerstörten Friedhofsmauern und Grabsteinen sowie von der Bergung von Blindgängern am Zentralfriedhof in den Sammlungen der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB), 111.272-B, E3-1113 und 1114, E3-1223 sowie US 9859-5. 5 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Tätigkeit [1955], S. 77.
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deren Zone sich der Friedhof befand, da das ehemalige jüdische Altersheim auf diesem Grundstück dringend als Rückkehrerheim und Spital für Überlebende benötigt wurde.6 Einzigartig war der Friedhof in der Seegasse aber auch aufgrund des Ausmaßes seiner Verwüstung: Infolge der „Arisierung“ des Grundstücks 1943 war dies der einzige jüdische Friedhof in Wien, dessen Grabsteine zur Gänze entfernt bzw. vernichtet wurden, mit Ausnahme bloß der in den Mauernischen befestigten mittelalterlichen Steinfragmente, sodass dieser als einziger der Wiener jüdischen Friedhöfe nach der Shoah nicht einmal mehr optisch als Bestattungsraum erkennbar war. Wie das jüdische Presseorgan Iskult – Presse – Nachrichten am 10. März 1954 resümierte: „Die Friedhöfe sind Zeugen hiefür, dass die Nazi [sic] nicht nur ihre Vernichtungspläne gegen die lebenden Juden realisiert haben. Jahrhundertealte Friedhöfe fielen [auch] der nazistischen Barbarei zum Opfer.“ Somit betonte der Artikel neben der Vernichtung unzähliger Menschenleben auch den kulturellen Aspekt des verbrochenen Genozids. Der Artikel schloss: „Die jüdischen Friedhöfe und Massengräber sind traurige Erinnerungsstätten der jüdischen Tragödie in Österreich.“7 In vielen christlichen, kommunalen und überkonfessionellen Friedhöfen in Europa werden Grabstätten nicht permanent, sondern zeitbegrenzt angelegt, mit Ausnahme von Ehrengräbern und Parzellen, die zum Verkauf (oder, wie es in den Wiener städtischen Friedhöfen offiziell heißt, „auf Friedhofsdauer“) angeboten werden. Sollte die Pachtfrist nicht verlängert werden oder auch die Grabstätte verfallen (was nach vielen Friedhofsordnungen bereits als Auflassungsgrund gilt), wird in der Regel das Grabdenkmal entfernt, die Grabstätte eingeebnet und zur Wiederbenützung freigegeben. Etwaige Überreste werden entweder in einer Sammelgrabstätte bzw. einem Ossuarium wiederbestattet oder eingeäschert. Diese Praxis ist jederzeit am Wiener Zentralfriedhof ersichtlich, wo verfristete oder verfallene Grabstätten, bei denen keine Angehörige amtlich bekannt sind, von der Friedhöfe Wien GmbH mit Schildern markiert werden, die die Angehörigen auffordern, sich mit der Friedhofsverwaltung in Kontakt zu setzen, um die Frist zu verlängern oder die Grabstätte instand setzen zu lassen. Zur Auflassung freigegebene Grabsteine werden mit einem roten „X“ markiert und verschwinden in nächster Zeit. So sah ich beispielsweise bei Friedhofsbesuchen am Wegrand in den allgemeinen Abteilungen mehrmals Schuttmulden, die mit abgetragenen und zerbrochenen Grabsteinen gefüllt waren. Sic transit gloria mundi: So vergeht der Ruhm der Welt. Diese Praxis unterscheidet sich deutlich von der weltweit fest verankerten Praxis in der jüdischen Sepulkralkultur, Grabstätten „auf Ewigkeit“ zu bewahren. Doch ist auch hier Vorsicht geboten, voreilig zwischen einer „jüdischen“ 6 Anthony: Return Home, S. 140. 7 Die jüdischen Friedhöfe in Österreich, in: Iskult – Presse – Nachrichten, 10. März 1954, S. 5–8.
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und einer „nichtjüdischen“ oder „christlichen“ Praxis zu unterscheiden: Es finden sich nämlich vielerorts in Europa, Nordamerika und weltweit, so auch etwa in alten Kirchhöfen in kleineren Gemeinden in Österreich, jahrhundertealte nichtjüdische Grabstätten von „gewöhnlichen“, also nicht berühmten Verstorbenen, die weiterhin erhalten werden. Umgekehrt gibt es Beispiele, wenngleich als Ausnahmen zu bewerten, von „jüdischen“ Grabstätten (also Grabstätten von Verstorbenen, die im Selbstverständnis „jüdisch“ waren), die bewusst nicht auf Dauer angelegt wurden, weil die Verstorbenen bzw. ihre Angehörigen sich wohl von jeglicher sogar im breitesten Sinne gefassten jüdisch-religiösen „Tradition“ losgelöst hatten, so in Wien beispielsweise im überkonfessionellen Döblinger Friedhof im 19. Bezirk. Nichtsdestotrotz ist der universelle Brauch der Kultusgemeinde als Einheitsgemeinde und jüdischer Dachverband in Wien, die Grabstätten in ihren Friedhöfen „auf Ewigkeit“ (insofern dies überhaupt vorstellbar ist) zu erhalten. Nach der Shoah wurde also nicht nur die Frage der Restitution und Instandsetzung von „arisierten“ und geschändeten jüdischen Friedhöfen, sondern auch der fortdauernden Erhaltung jüdischer Grabstätten in Österreich zu einem der umstrittensten Brennpunkte in der Beziehung zwischen den wenigen neuetablierten Kultusgemeinden und der politischen Obrigkeit auf verschiedenen Ebenen: Gemeinden, Länder und Bundesregierung. Hatten nämlich zuvor die jüdischen Gemeinden selbst für den Erhalt ihrer Friedhöfe gesorgt, so konnte die winzige Gemeinschaft der Überlebenden, die österreichweit seit 1945 nie erheblich mehr als etwa 10.000 Personen ausmachten, unmöglich weiterhin für die dutzenden Friedhöfe in ihrer Obhut samt ihren hunderttausenden Grabstätten sorgen. Bis heute fehlt es an einem umfassenden und nachhaltigen Konzept, um das Problem der geschändeten und verwahrlosten jüdischen Friedhöfe in der Zweiten Republik zu lösen, wenngleich in den letzten Jahren vielerorts positive Entwicklungen zu konstatieren sind. Indes zeugen die zum Teil krassen Unterschiede im Umgang mit jüdischen und nichtjüdischen Friedhöfen in Wien und Österreich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht nur von einer gewissen Heuchelei seitens der nichtjüdischen Gesellschaft, sondern auch insgesamt von ihrer oftmals geringen Wertschätzung für diese geschändeten jüdischen Kultur- und Erinnerungsorte, wenngleich es zumeist österreichische Instanzen waren, die die Schuld für deren Schändung unter dem Nationalsozialismus und ihrer Verwahrlosung danach trugen. Einige kurze Beispiele, die in die in diesem Kapitel analysierten Restitutions- und Instandsetzungsdebatten miteinflossen, veranschaulichen eindringlich diese Heuchelei. Seit Verabschiedung des Kriegsgräberfürsorgegesetzes 1948 werden alle sich „im Gebiete der Republik Österreich befindlichen Kriegsgräber […] dauernd erhalten. Die Sorge für die würdige und geziemende Erhaltung dieser Gräber obliegt in Ergänzung einer Pflege von anderer Seite dem Bund“ (§1). In die-
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sem Gesetz wurden drei Kategorien von „Kriegsgräbern“ definiert: jene der Angehörigen von Streitkräften jeweils im Ersten und Zweiten Weltkrieg sowie drittens „die Gräber jener Personen, welche als Kriegsgefangene oder als Zivilinternierte oder als sonstige Kriegsteilnehmer oder Opfer dieser Kriege […] im Bundesgebiete bestattet wurden“ (§6).8 Das heißt in der Umsetzung, dass seit mehr als siebzig Jahren auch die Grabstätten von KriegsverbrecherInnen sowie von Mitgliedern verbrecherischer Organisationen wie der SS aus staatlichen Mitteln gepflegt werden, während es bis heute an umfassenden Mitteln fehlt, um die jüdischen Friedhöfe Österreichs endlich komplett instand zu setzen und laufend zu erhalten.9 Diese Thematik fällt in der Bundeshauptstadt Wien besonders brisant aus, wo sich zahlenmäßig die überwiegende Mehrheit der jüdischen Grabstätten Österreichs befindet. Wie hier ausführlich in Kapitel 7 gezeigt, hegte die Stadtverwaltung seit eh und je keinen besonders pietätvollen Zugang zu historischen Bestattungsräumen, die lange weniger als erhaltenswürdige Kulturräume und eher als wertvolle oder nützliche Immobilien betrachtet wurden. Dies führte bis in das frühe 20. Jahrhundert dazu, dass die meisten historischen Bestattungsräume der Stadt, mit Ausnahme der jüdischen Friedhöfe, aufgelassen, in Parks umgewandelt oder überbaut wurden. Bereits seit den 1950er-Jahren gab es dann auch Bestrebungen seitens der Stadt Wien, einen Großteil der mit dem Zentralfriedhof überflüssig gewordenen überkonfessionellen Vorortsfriedhöfe aufzulassen, die vorwiegend im 19. Jahrhundert angelegt wurden. Aufgrund wiederholter Proteste seitens der Bevölkerung – die diese Orte, wenn nicht die jüdischen Friedhöfe, als historisch wertvolle und zum Teil auch emotional geladene Komponente der Stadtlandschaft betrachteten – wurde die Entscheidung immer wieder aufgeschoben, bis die Stadt 1980 das Thema durch eine Volksbefragung entscheiden ließ. Dabei trat insbesondere die katholische Kirche als lautstarker Gegner der Auflassung auf und ermahnte ihre Kongregation, dagegen zu stimmen. Die Volkspartei (ÖVP), als kirchennahe Partei, stellte sich ebenfalls mit folgender Auffassung gegen das Vorhaben, die in ihrer Zeitschrift Kontrast abgedruckt wurde: „Friedhöfe zuschütten ist pietätlos und bedeutet Verlust an Kulturgut. Denken Sie bitte an die Angehörigen der dort Beerdigten.“ Dies beteuerte auch der Vizebürgermeister Erhard Busek (ÖVP) in einem Brief an seine „Mitbürger“, in dem er feststellte: „Friedhöfe sind Gedenkstätten, welche die 8 Bundesgesetz vom 7. Juli 1948 über die Fürsorge für Kriegsgräber aus dem ersten und zweiten Weltkrieg, https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10005217, letzter Zugriff: 31. August 2020. 9 Vgl. Uhl, Heidemarie: Nach der Shoah. Jüdische Friedhöfe als Gedächtnisorte, in: Lamprecht, Gerald (Hg.): Jüdische Friedhöfe in Österreich. Aspekte der Erhaltung – Dokumentation einer Expertenkonferenz, Graz 2010, S. 42.
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selbstverständliche Achtung der lebenden Generation gegenüber ihren Vorfahren ausdrücken.“ Die städtischen Friedhöfe, so fuhr er fort, hätten „als Zeugen unserer Vergangenheit trotz Kriegswirren, Naturkatastrophen, Wiederaufbau und Neubesiedlung oft Jahrtausende [sic, gewaltige Übertreibung] überdauert“ und seien keine bloßen „Grundstücksreserve“. Die Auflassung eines Friedhofs bedeute auch, dass „ein Stück Menschheitsgeschichte ausgelöscht“ wird, denn die „Beziehung zum Leben und zum Tod, die Erinnerung der Lebenden an die Verstorbenen, sind auch Richtmaße für die Kultur eines Volkes. Gerade in einer Zeit, wo ideelle Werte immer mehr in Frage gestellt werden, sollten wir die Grenzen einer zweifelhaften Modernität erkennen“. Dieser Auffassung folgend, stellt sich in Bezug auf die jüdischen Bestattungsräume der Stadt die Frage, was ihre stiefmütterliche Behandlung seitens der nichtjüdischen Gesellschaft, die in diesem Kapitel im Detail aufgezeigt wird, über die „Kultur“ des österreichischen „Volkes“ sagt. Unterstrichen wurde diese heuchlerische Einstellung der ÖVP durch die Unterschrift unter ein beigefügtes Photo, die verkündete: „Wie die Menschen ihre Friedhöfe behandeln, zeigt ihre kulturelle Gesinnung – und die Wiener waren immer Menschen mit viel Kultur.“ Auch ein paar Pensionistinnen kamen hier zu Wort, die sich beispielsweise fragten, „ob nicht einmal auf Gräbern Tanzlokale gebaut werden“ – vergleichbar mit dem Wiener Gemeindebau, der 1959/60 auf einem ehemals „arisierten“ Teil eines jüdischen Bestattungsraums gebaut wurde, wie später in diesem Kapitel besprochen wird. Das Ergebnis der Volksbefragung war jedenfalls zwei zu eins gegen die Auflassung, und es stehen heute alle existenten Friedhöfe in Wien, inzwischen wohlgemerkt auch die jüdischen Friedhöfe, unter Denkmalschutz.10 Der Historiker Franz Knispel resümierte 1986, dass die Magistratsabteilung 43 der Stadt Wien (heute Friedhöfe Wien GmbH) in Folge „ein Konzept für die Sanierung“ der überkonfessionellen Friedhöfe entwickelte.11 Ein vorbildliches Beispiel der Denkmalpflege eines nichtjüdischen Friedhofs bildet heute der historische St. Marxer Friedhof im 3. Bezirk: Dieser überdauert als einziger der fünf Josephinischen Kommunalfriedhöfe, die zeitgleich mit dem Währinger jüdischen Friedhof im späten 18. Jahrhundert angelegt wurden, wurde aber ebenfalls 1945 von Bombenschäden und Kampfhandlungen in der Schlacht um Wien beschädigt. Im Kontrast zu den jüdischen Friedhöfen jedoch, allen voran dem zeitgenössischen Währinger Friedhof, wurde der St. Marxer Friedhof, wo berühmterweise Wolfgang Amadeus Mozart 1791 bestattet wurde, phasenweise 10 Zit. in Loidl, Franz: Volksbefragung über Sperrung von sechzehn Wiener Friedhöfen, März 1980, in: Miscellanea / Wiener Katholische Akademie, Arbeitskreis für Kirchliche Zeit- und Wiener Diözesangeschichte 3. 11 Knispel, Franz: Die Friedhöfe in Wien, in: Killmeyer, Franz: Friedhöfe in Wien, Wien 1986, S. 119.
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seit 1945, insbesondere in einer Großaktion, die 2005 einsetzte und heute noch läuft, instand gesetzt und laufend gepflegt. Heute macht er einen ehrwürdigen Eindruck als Parkfriedhof und Touristenattraktion. Am Ausgangspunkt des Hauptweges steht eine Steintafel mit folgendem undatierten, vermutlich aus dem späten 20. Jahrhundert stammenden Hinweis der Magistratsabteilung 42 (Stadtgärten): „Dieser alte St. Marxer Friedhof als letzter Biedermeier Friedhof der Welt steht unter Denkmalschutz. Er wurde für die Bevölkerung als Erholungsort freigegeben. Es möge daher jeder Besucher diese Gedenkstätte würdigen und zur Erhaltung beitragen.“ Hinter dem Eingang stand zudem um 2019/20 ein Aushang mit folgenden Informationen: Restaurierung Friedhof St. Marx. Der Friedhof St. Marx ist der einzige noch bestehende Biedermeierfriedhof Wiens. Von 1784 bis 1874 fanden hier Beerdigungen statt. Zur Erhaltung dieses Kulturdenkmals wurden Restaurierungsmaßnahmen an den Grabsteinen eingeleitet. Die Umsetzung des Gesamtkonzeptes wird sich über mehrere Jahre erstrecken.
Gefördert werden diese Maßnahmen unter anderem von der Magistratsabteilung 7 (Kultur) und vom Bundesdenkmalamt. Der noch bestehende, wenngleich stark beschädigte zeitgenössische jüdische Friedhof in Währing weist nicht nur vergleichbare Dimensionen, sondern die gleiche kulturhistorische Prägung wie der St. Marxer Friedhof auf – viele Grabdenkmäler wurden augenscheinlich von den gleichen Steinmetzen angefertigt, haben zum Teil sogar parallele Inschriften. Die Behauptung, die sich auch wiederholt in der einschlägigen Historiographie findet, der St. Marxer Friedhof sei „der einzige noch bestehende Biedermeierfriedhof Wiens“, ist somit eine mehr oder weniger bewusste Fehldarstellung sowie eine Ausblendung der jüdischen aus der allgemeinen Sepulkralgeschichte Wiens. Darüber hinaus zeugt die Bereitschaft der Stadt Wien bzw. des Bundesdenkmalamts, in die umfassende und dauerhafte Instandsetzung dieses historischen nichtjüdischen Friedhofs zu investieren, während der von der Stadt Wien wiederholt geschändete und verwahrloste jüdische Friedhof in Währing zusehends zugrunde geht, von einer zutiefst zynischen Ablehnung des jüdischen Kulturguts der Stadt seitens dieser österreichischen Instanzen – trotz ihrer historischen Schuld an dem begangenen Kulturgenozid des Nationalsozialismus. Wie Simon Wiesenthal, einer der einflussreichsten Vorkämpfer der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in Österreich, 1960 die Mängel der Nachkriegsjustiz in der Zweiten Republik treffend zusammenfasste: „Es bleibt eine unbestrittene Tatsache, die von niemandem beschönigt werden kann, daß im Nachkriegs-Österreich für die Juden der Tod schneller war als die Wiedergutmachung.“ Die Restitutionspolitik der Zweiten Republik bezeichnete er ebenso treffend als „zweite Arisierung“, wobei er diese
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bissige Kritik aber auch wiederholt gegen die Kultusgemeinde richtete, wie unten weiter besprochen wird.12 „Das Erinnern“, so resümierte der Historiker Dirk Rupnow in einer Sammlung von Aufsätzen zu den „Aporien des Gedenkens“ an die Shoah, „kann nicht versöhnen und keine Brüche heilen, sondern nur das Bewußtsein des Bruchs aufrechterhalten“.13 In diesem abschließenden Kapitel wird der gewaltige Bruch, den die Shoah in der österreichischen Gesellschaft zwischen der „jüdischen“ und der „nichtjüdischen“ Erinnerungskultur auftat, anhand der verwahrlosten jüdischen Friedhöfe in der gegenwärtigen Topographie der Bundeshauptstadt Wien sowie anhand einiger relevanten Beispiele aus der österreichischen Provinz aufgezeigt. Es werden die Diskurse und Konflikte rund um die Restitution, Instandsetzung und Erhaltung der geschändeten jüdischen Friedhöfe analysiert, die sich nach 1945 im Kontext der neugegründeten Zweiten Republik, der Entwicklung einer neuen österreichischen politischen Kultur und der Neuetablierung jüdischen Lebens hierzulande ausbreiteten. Standen nach 1945 die geschändeten Friedhöfe als stilles Zeugnis der NS-Vergangenheit und den hierzulande weitgehend von nichtjüdischen ÖsterreicherInnen begangenen Verbrechen, so stellte die kleine Gemeinschaft der Überlebenden eine lebendige gegenwärtige Aufforderung dar, sich dieser Vergangenheit zu stellen und entsprechend Sühne zu leisten. Diese Nachkriegsgeschichte, die sich bereits über mehrere Generationen erstreckt, zeigt nicht nur tiefe Klüfte zwischen der kleinen jüdischen Gemeinschaft und der überwiegenden, in Gesellschaft und Politik vorherrschenden nichtjüdischen Mehrheit auf, sondern auch zwischen einer lange dominanten Einstellung in der Zweiten Republik, weder für die NS-Vergangenheit noch für die Unterstützung der jüdischen Überlebenden in der Gegenwart Verantwortung übernehmen zu wollen, und die Anschauung einer progressiven, insbesondere nach der Waldheim-Affäre der 1980er-Jahren verstärkt einsetzenden Strömung in der nichtjüdischen Öffentlichkeit, dass die Vergangenheit aufgeklärt werden muss, um in Österreich eine progressive, inklusive politische Gesellschaft in der Gegenwart zu erzeugen. Wie in diesem Kapitel deutlich wird, ist diese Nachkriegsgeschichte noch lange nicht zur „Geschichte“ geworden, denn es wird noch heute um das Schicksal der jüdischen Friedhöfe in Österreich und somit auf tieferer Ebene um die Deutung sowohl der jüdischen wie der nationalsozialistischen Vergangenheit dieses Landes gerungen. Eine wahre Conclusio dieser Geschichte gibt es also (noch) nicht, doch soll eines 12 Zit. nach Adunka: Die vierte Gemeinde, S. 269. Diese Bezeichnung wurde auch vom Presseorgan des Bundesverbands der Israelitischen Kultusgemeinden Österreichs verwendet: Wird eine zweite Arisierung vorbereitet?, in: Iskult – Presse – Nachrichten, 28. Februar 1959, S. 1–4. 13 Rupnow: Aporien des Gedenkens, S. 36.
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hier anhand der Auseinandersetzungen mit diesen Erinnerungsorten im Nachkriegsösterreich deutlich gemacht werden: Bei der Geschichte der jüdischen Friedhöfe wie der jüdischen Geschichte der Stadt Wien überhaupt, handelte es sich immer schon um eine zutiefst Wiener G’schicht. 10.1
Zwischen Scham und Schuld. Der Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und dem jüdischen Erbe in Österreich nach 1945
Für Österreich stellte die Gründung der Zweiten Republik am 27. April 1945 den Ausgangspunkt nicht nur für ein neues Staatswesen dar, sondern auch für eine neue Erinnerungskultur und – längerfristig betrachtet – für eine prozessuale „Nationswerdung“.14 Mit diesem durch die Moskauer Deklaration der Alliierten ermöglichtem „Neubeginn“ verstand sich die Republik vom linken bis zum rechten Flügel und ganz im Kontrast zu den waltenden Umständen der Ersten Republik konsequent nicht mehr als bloßer Bestandteil einer „deutschen Kulturnation“, eine Auffassung, die nur wenige Jahre zuvor breite Teile der österreichischen Bevölkerung zur begeisterten Beteiligung am Nationalsozialismus geführt hatte. Diese Loslösung Österreichs von seiner früher schichten- und parteienübergreifend betonten „Schicksalsgemeinschaft“ mit Deutschland war aber nicht bloß eine Grundvoraussetzung für die verspätete Nationswerdung des Landes, die in der Ersten Republik nur bedingt gelang, sondern schließlich – nach einer ersten, jedoch kurzlebigen Welle der strafrechtlichen Verfolgung von NS-TäterInnen – auch für die Auslagerung der Schuld und Verantwortung für die Folgen des Nationalsozialismus nach Deutschland, während zuhause die gleichen Denkmuster, die die NS-Gewaltverbrechen überhaupt erst ermöglicht hatten, so beispielhaft der Antisemitismus, weiterhin grassieren durften.15 Jahrzehnte später etablierte sich das heute im In- wie im Ausland dominante Erklärungsmuster, die Zweite Republik hätte sich lediglich als „Opfer“ des NS-Staats aufgefasst, was bis heute als Erklärung dafür dient, dass die Entschädigung der tatsächlichen Opfer nur schleppend, wenn überhaupt, stattfand.16 14 Vgl. etwa Wodak, Ruth/Cillia, Rudolf de/Reisigl, Martin/Liebhart, Karin: The Discursive Construction of National Identity, aus dem Deutschen ins Englische von Angelika Hirsch und Richard Mitten, Edinburgh 1999, S. 49 und Rupnow: Aporien des Gedenkens, S. 173. 15 Vgl. etwa Wodak, Ruth/Nowak, Peter/Pelikan, Johanna/Gruber, Helmut/Cillia, Rudolf de/Mitten, Richard: „Wir sind alle unschuldige Täter“. Diskurshistorische Studien zum Nachkriegsantisemitismus, Frankfurt am Main 1990, insb. S. 10. 16 Vgl. als klassisches Beispiel der „Opferthese“ Bailer, Brigitte: They were all Victims. The Selective Treatment of the Consequences of National Socialism, in: Bischof, Günter/Pelinka, Anton (Hg.): Austrian Historical Memory & National Identity, New Brunswick 1997.
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Doch, wie der Historiker Peter Pirker jüngst zeigte, greift dies bei Weitem zu kurz, denn – wenngleich es auf manche Milieus zutraf, wie etwa den Linken und AntifaschistInnen, wie hier im vorherigen Kapitel in Bezug auf die Denkmäler in der Gruppe 40 am Zentralfriedhof gezeigt wurde – werden durch dieses Denkschema die weitreichenden Kontinuitäten mit dem Nationalsozialismus auf staatlicher, rechtlicher sowie gesellschaftlicher Ebene in der jungen Zweiten Republik – wie in anderen Staaten Europas – verschleiert.17 So wurden die Opfer der genozidalen Vernichtungswut des Nationalsozialismus – die jüdische Bevölkerung wie Roma und Sinti – nach 1945 nicht deshalb vernachlässigt, ausgeblendet und weiterhin diskriminiert, weil sich Österreich nun plötzlich als „Opfer“ verstand, sondern weil tiefliegende Vorurteile nicht mit der Gründung der demokratischen Zweiten Republik von einem Tag auf den nächsten einfach verschwanden. Manche Opfergruppen – so beispielhaft Homosexuelle – wurden sogar weiterhin misshandelt, strafrechtlich verfolgt und mitunter eingesperrt, weil die rechtliche Grundlage hierfür in der Gesetzgebung aus der NS-Zeit und wohlgemerkt davor schon einfach weiterhin übernommen wurde. Homosexualität wurde in Österreich erst 1971 entkriminalisiert. Erst infolge der sogenannten Waldheim-Affäre in den 1980er-Jahren kam es in Österreich – unter dem Einfluss von breiteren internationalen Entwicklungen in Bezug auf die Erinnerung an den Holocaust – zu einer weitreichenden Wende in der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit. Diese Entwicklung hat bis heute zu einem durchaus ambivalenten Geschichtsbild von Österreich geführt, sowohl im Eigenverständnis wie in der Fremdwahrnehmung, zugespitzt gesagt, zwischen dem prunkvollen Österreich der Habsburger und des Barock einerseits, was eifrig und erfolgreich durch die Tourismusbranche vermarktet wird, andererseits das dunkle Österreich von Hitler, Pogromen und Massenmord, was vor allem in der Wissenschaft und der Gedenkkultur bezüglich des Nationalsozialismus hervortritt.18 Dies fasste der Kulturhistoriker Steven Beller pointiert als „Janusköpfigkeit“ der österreichischen Moderne auf: eine Gesellschaft, die zeitgleich in Kunstmuseen und Todeslagern verkörpert wird: „Beide Gesichter waren Teil des enormen ‚Beitrags‘ Österreichs zum 20. Jahrhundert.“19 Die jüdische Geschichte Österreichs wurde lange überhaupt aus dem Geschichtsbewusstsein der jungen Republik ausgeklammert, doch inzwischen ist sie aus keinem dieser dominanten Geschichtsbilder wegzudenken: weder aus der kulturellen Genese der Moderne – Stichwort „Wien 1900“ – noch
17 Pirker: The Victim Myth Revisited. 18 Vgl. etwa Utgaard, Peter: Remembering and Forgetting Nazism. Education, National Identity, and the Victim Myth in Postwar Austria, New York 2003, S. 1–2. 19 Beller, Steven: A Concise History of Austria, Cambridge 2006, S. 142.
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aus dem kulturellen Genozid des Nationalsozialismus – Stichwort „Eichmanns Wiener Modell“. Der Politikwissenschaftler Peter Reichel bemerkte in Bezug auf die Bundesrepublik Deutschland, dass die ersten Jahrzehnte der Nachkriegszeit eigentlich als „zweite Geschichte des Nationalsozialismus“ betrachtet werden müssen: Durch den Nürnberger Prozessen etablierte sich für die breite Masse der Bevölkerung eine Abwehrstrategie, bei der Adolf Hitler als „Teufel“ stilisiert wurde (wie ihn etwa der „Schlächter von Polen“, Hans Frank, bezeichnete), der das „unschuldige“ Volk verführt hatte und somit als optimaler Sündenbock für die kollektive Schuld an den begangenen Verbrechen diente. Auch dort fand erst in den 1980er und 1990er-Jahren ein grundsätzliches Umdenken statt, weswegen Reichel dies als Ära der „Bewältigung der Vergangenheitsbewältigung“ beschrieb.20 Dies gilt umso mehr für die Zweite Republik, in der lange Deutschland und „die Deutschen“ kollektiv die Schuld für den Nationalsozialismus übertragen wurden. Dass nicht zuletzt der „Führer“ Adolf Hitler ein in Braunau am Inn geborener und in Linz und Wien sozialisierter Österreicher war, wurde indes einfach totgeschwiegen. Wie Simon Wiesenthal zusammenfassend über die Politik der Restitution und Entschädigung in Österreich bemerkte: „Die Nazis haben den Krieg verloren, wir haben die Nachkriegszeit verloren.“21 Die Anerkennung, die in Österreich schließlich ab den 1980er-Jahren einsetzte und allmählich zur wenigstens symbolischen Entschädigung der Opfer führte, kam schließlich für viele zu spät: Bis 2008 war nur etwa die Hälfte der versprochenen Entschädigungszahlungen erfolgt, inzwischen war aber ein Großteil der Überlebenden bereits verstorben.22 Wie der Historiker Günter Bischof bereits 1997 bemerkte, zählt die Geschichte der Restitution in Österreich zu den „dunkelsten, unmoralischsten und [wenigstens damals, wenn nicht heute] am wenigsten bekannten Kapitel der österreichischen Nachkriegsgeschichte“.23 In seinem 1928 veröffentlichten Werk Die Juden im alten Wien bemerkte der Historiker Ludwig Bato über Kaiser Franz I., der im frühen 19. Jahrhundert die regelrecht verknechtete jüdische Bevölkerung seines Reichs jahrzehntelang auf ihre Emanzipation hoffen ließ, er sei „ein unübertrefflicher Meister im Hinausziehen von Entscheidungen“ gewesen.24 Somit hat das „Hinauszie20 Reichel, Peter: Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur von 1945 bis heute, München 2001, S. 9, 52, 68, 107–108. 21 Zit. nach Segev: Simon Wiesenthal, S. 19. 22 Cillia, Rudolf de/Wodak, Ruth: Restitution. Yes, but…, in: Wodak, Ruth/Auer Borea, Gertraud (Hg.): Justice and Memory. Confronting Traumatic Pasts – An International Comparison, Wien 2009, S. 203. 23 Bischof, Günter: Introduction, in: Bischof/Pelinka (Hg.): Austrian Historical Memory & National Identity, S. 9. 24 Bato: Die Juden im alten Wien, S. 148.
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hen“ der Gerechtigkeit im österreichischen Staatswesen eine längere Tradition. Wie der Historiker Robert Knight in einer bahnbrechenden und für die österreichische Politik zutiefst peinlichen Studie Ende der 1980er-Jahre zeigte, einigten sich die linken und rechten Flügel der österreichischen Nachkriegspolitik wie Kaiser Franz über ein Jahrhundert zuvor darauf, die Entschädigung der jüdisch-österreichischen Opfer des Nationalsozialismus und die Restitution geraubten jüdisch-österreichischen Eigentums einfach „in die Länge zu ziehen“ – damit die einstigen „AriseurInnen“, darunter die Stadt Wien, ihren illegal und gewaltsam eroberten Besitz weiterhin behalten konnten, während die Last der Aufarbeitung und Entschädigung in die Bundesrepublik Deutschland ausgelagert wurde.25 So wurden auch die Restitutionsverhandlungen um die „arisierten“ jüdischen Friedhöfe Wiens über Jahre „in die Länge gezogen“, wobei die Stadt Wien stets bemüht war, so viel Gewinn wie möglich aus ihrem während der NS-Zeit illegal geraubtem Grundbesitz zu erpressen, während sie die tatsächliche Restitution so gering und billig wie möglich gestaltete. Dadurch wurde die winzige und politisch isolierte Nachkriegskultusgemeinde regelrecht gezwungen, immer wieder auf Kompromisse einzugehen, die zur weiteren Veräußerung bzw. Schändung jüdischer Liegenschaften führte – ebenjene „zweite Arisierung“, die Simon Wiesenthal beklagte. Nach den Restitutionsvergleichen der frühen 1950er-Jahre verkaufte die Kultusgemeinde aber auch auf eigene Faust viele Liegenschaften zurück an die Stadt Wien, vielfach brachliegende Grundstücke, wo einst die in den Novemberpogromen in Brand gesteckten oder gesprengten und schließlich abgetragenen Synagogen und Bethäuser standen. Die dezimierte jüdische Gemeinde hatte für so viel Grundbesitz schlicht keinen Nützen mehr, wohingegen das Kapital, das durch ihren Verkauf gewonnen wurde, vielen Gemeinschaftsprojekten zugute kam, wie jene im vorherigen Kapitel besprochenen.26 Bis 1981 soll die Kultusgemeinde so 170 ihrer 230 Liegenschaften verkauft haben.27 Dies entfachte aber wiederum Spannungen im „innerjüdischen“ Diskurs – so etwa zwischen der Kultusgemeinde, ihrer Mitgliedschaft, diversen jüdischen Verbänden und den Nachkommen von jüdischen WienerInnen im Ausland. So fand sich die Kultusgemeinde in den ersten Jahrzehnten nach der Zerschlagung des Nationalsozialismus immer wieder in einer unmöglichen Zwickmühle gefangen zwischen der unnachgiebigen Wiener Stadtverwaltung auf der einen und einem oft verbitterten jüdischen Kollektiv, dem die Kultusgemeinde als Repräsentativkörperschaft dienen sollte, auf der anderen Seite. 25 Knight, Robert (Hg.): „Ich bin dafür, die Sache in die Länge zu ziehen“. Die Wortprotokolle der österreichischen Bundesregierung von 1945–52 über die Entschädigung der Juden, Frankfurt am Main 1988. 26 Vgl. Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Tätigkeit [1955], S. 78. 27 Aus dem Büro des Präsidenten, in: Die Gemeinde, Juni 2003, S. 3.
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Im ersten Tätigkeitsbericht der neuetablierten Kultusgemeinde nach 1945, der die „Wiedergutmachung“ als ihr dringendster Aufgabenbereich anführte, wurde folgender Grundsatz gegenüber der Zweiten Republik und der Frage von Schuld und Sühne festgehalten: „Die österreichischen Juden sind von keinen Haß- und Rachegefühlen bewegt, sondern bereit, am Aufbau eines neuen Österreichs mitzuwirken. Das bedeutet aber keineswegs eine nachsichtige Gesinnung gegenüber den Ariseuren.“ Ohne jede Unterstützung seitens der nichtjüdischen Politik, also „[o]hne Vertretung bei der Regierung, bar jeden Einflusses im Parlament“, war sie aber in diesem Bestreben weitgehend auf sich alleine gestellt.28 Daher war die Gemeinschaft der Überlebenden in Österreich als „RechtsnachfolgerInnen“ der während der Shoah fast zur Gänze Vertriebenen oder Ermordeten oft auf die Unterstützung der großen jüdischen Repräsentativkörperschaften im Ausland, insbesondere jener in den USA wie die Claims Conference, für finanzielle Unterstützung und politische Einflussnahme angewiesen. Die Historikerin Helga Embacher zeigte die komplexen Spannungsverhältnisse auf, die sich auf innerjüdischer Seite daraus ergaben, da die diversen Repräsentativkörperschaften oft unterschiedliche Ziele verfolgten und somit eine Verhandlungsschwäche erzeugten, die wiederum vom österreichischen Staat ausgebeutet werden konnte. Der junge Staat Israel indes spielte, im Gegensatz zur Sachlage in der Bundesrepublik Deutschland, in den österreichischen Verhandlungen offiziell keine Rolle, was die Position der Kultusgemeinde nochmals schwächte.29 In Bezug auf die verwaisten jüdischen Friedhöfe, die die Shoah überdauert hatten, entstanden in der Bundesrepublik Deutschland schon früh nach der Zerschlagung des Nationalsozialismus regionale Instandsetzungsinitiativen, so beispielsweise in Bayern, wo zwischen 1948 und 1954 die jüdischen Friedhöfe inventarisiert und Mittel zu ihrer grundlegenden Instandsetzung aufgestellt wurden. Diese Initiative breitete sich ab 1953 auf Bundesebene aus, als das Bundesministerium des Innern begann, „einen regelmäßigen Beitrag zur Instandsetzung“ zu leisten. Schließlich kamen bereits 1957 durch ein Abkommen zwischen Bund, Ländern und jüdischen Repräsentativkörperschaften die jüdischen Friedhöfe bundesweit unter Denkmalschutz und es wurde ihre umgehende Instandsetzung und immerwährende Pflege gesetzlich festgeschrieben.30 Dieses Abkommen wurde und wird wiederholt in den österreichischen Debatten zum Umgang mit den weitgehend verwahrlosten jüdischen Friedhöfe als Vorbild herangezogen – ironischerweise, angesichts der jahrzehntelangen 28 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Bericht [1948], o. S., Abschnitt „Tätigkeitsbericht des Wiedergutmachungsreferates“. 29 Embacher: Restitutionsverhandlungen mit Österreich, S. 9, 29, 10. 30 Wirsching: Jüdische Friedhöfe in Deutschland, S. 31, 35, 39–40.
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Strategie der Republik Österreich, die Schuld für den Nationalsozialismus alleine dem größeren Nachbarland anzuhängen.31 1953, während des absoluten Tiefpunkts der Restitutionsverhandlungen in Österreich, prangerte beispielsweise der damalige Kultusgemeindepräsident Emil Maurer die Bundesregierung an, dass im Gegensatz zu Deutschland „eben der gute Wille“ fehlte.32 Noch Jahre nach Verabschiedung der österreichischen Rückstellungsgesetze – die die jüdischen Opfer weit hintenan stellten – kritisierte die Kultusgemeinde „zum Unterschied von der Bundesrepublik Deutschland“ die „in Österreich fehlende innere Bereitschaft zur Wiedergutmachung“.33 Interessanterweise wurde dieser Vergleich auch auf deutscher Seite erhoben: So berichtete das jüdisch-österreichische Presseorgan Iskult – Presse – Nachrichten 1955 von der Aufforderung in einer Westberliner Zeitung, dass auch Österreich sich seiner Verantwortung gegenüber seinen jüdischen Opfern stelle.34 Selbst unter dem kommunistischen Regime kam in Ostberlin der alte jüdische Friedhof in der Schönhauser Allee, ein Zeitgenosse des heute noch verwahrlosten Währinger Friedhofs in Wien, unter Denkmalschutz.35 Freilich kann die Politik der „Wiedergutmachung“ in der Bundesrepublik wenigstens partiell als politisches Kalkül aufgefasst werden, um ihre politische Integration mit den westlichen Demokratien und die Normalisierung ihrer Beziehungen zum Staat Israel zu beschleunigen. Überhaupt war jedenfalls der internationale Fokus seit 1945 bezüglich der juridischen Aufarbeitung des Nationalsozialismus und der materiellen Entschädigung seiner Opfer überwiegend auf Deutschland gerichtet, was sicherlich dazu beitrug, dass sich die Republik Österreich weitgehend ihrer historischen und moralischen Verantwortung entziehen konnte. Hinzu kam aber der fortdauernde Antisemitismus, der keineswegs von einem Tag auf den nächsten mit der Kapitulation des „Dritten Reichs“ aus der europäischen Gesellschaft verschwunden war.36 Wie Robert Knight die Situation der kleinen Gemeinschaft der jüdischen Überlebenden in Österreich in den ersten Nachkriegsjahren zusammenfasste: Es gab in Österreich keine Zukunft für die jüdische Gemeinschaft; der Antisemitismus – im Gegensatz zu den Behauptungen österreichischer PolitikerInnen – war so stark wie eh 31 So beispielsweise in Walzer: Jüdische Friedhöfe in Europa und den europäischen Ländern, S. 28. 32 Zit. nach Adunka: Die vierte Gemeinde, S. 187. 33 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Tätigkeit [1964], S. 251. 34 Eine deutsche Stimme zur Wiedergutmachung in Österreich, in: Iskult – Presse – Nachrichten, 25. Februar 1955, S. 1–2. 35 Hüttenmeister/Müller: Umstrittene Räume, S. 270–271. 36 Vgl. grundlegend Wodak et al.: „Wir sind alle unschuldige Täter“ sowie Wassermann, Heinz (Hg.): Antisemitismus in Österreich nach 1945. Ergebnisse, Positionen und Perspektiven der Forschung, Innsbruck 2002.
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und je; Jüdinnen und Juden, die nach dem Anschluss aus Österreich vertrieben wurden, sollten nicht zurückkehren; und Emigration nach Palästina war die einzige Lösung.37
So verband sich entlang des gesamten politischen Spektrums – links, Mitte und rechts – die grundsätzliche Ablehnung der Restitution mit althergebrachten antisemitischen Klischees jüdischer „Habgier“ und „Rachelust“. Der überwiegende Teil der österreichischen Judenheit, die aus der Emigration nicht zurückkehrten, und in deren Namen internationale jüdische Repräsentativkörperschaften Forderungen gegen die Republik Österreich erhoben, wurden als Fremde verfemt, die im Ausland saßen, die Vergangenheit nicht ruhen lassen wollten und gegen Österreich „hetz[t]en“.38 Die Tätigkeitsberichte der Kultusgemeinde aus den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten veranschaulichen die weitreichende antisemitische Hetze, der die kleine Gemeinschaft der Überlebenden ausgesetzt war, ob seitens der katholischen Kirche (siehe etwa die Ritualmordlegende von Rinn in Tirol, derer noch bis 1953 im kirchlichen Kalender gedacht wurde), der Medien oder der Politik, allen voran des neonazistischen Verbands der Unabhängigen bzw. seiner Nachfolgerin, der Freiheitlichen Partei (FPÖ).39 Zwar wurde nach 1945 mit der Entnazifizierung und der Realisierung des Ausmaßes des an den Judenheiten Europas begangenen Genozids der offene Antisemitismus in Österreich wie sonst in Europa politisch und gesellschaftlich tabuisiert.40 Doch artete er auch in der Nachkriegszeit immer wieder in physische Gewalt aus, ob gegen jüdische Institutionen oder Menschen gerichtet. Ab dem 1. Jänner 1960 fing beispielsweise eine Welle von antisemitischen Schmierereien auf den Gebäuden der Kultusgemeinde an, so etwa am Stadttempel in der Seitenstettengasse oder am damaligen Verwaltungsgebäude auf dem Schottenring in der Inneren Stadt, denen Drohbriefen, inklusive Bombendrohungen, folgten. Seitdem bilden Polizeiwachen in Wien einen festen Bestandteil des optischen Erscheinungsbilds vieler jüdischer Institutionen.41 Wie bereits im vorherigen Kapitel bemerkt, eskalierte die antisemitische Gewaltbereitschaft in 37 Knight, Robert: „Neutrality“, Not Sympathy. Jews in Post-War Austria, in: Wistrich, Robert (Hg.): Austrians and Jews in the Twentieth Century. From Franz Joseph to Waldheim, London 1992, S. 220. 38 Wodak et al.: „Wir sind alle unschuldige Täter“, S. 22–23, 27. Vgl. ebenfalls die Zitate führender österreichischer Politiker der Nachkriegszeit in Hanak-Lettner, Werner (Hg.): Unsere Stadt! Jüdisches Wien bis Heute, Wien 2013, S. 20 39 Vgl. etwa den Abschnitt „Kampf gegen Antisemitismus und Neofaschismus“ in Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Tätigkeit [1955], S. 28–31. 40 Vgl. Loewenstein: Psychoanalyse des Antisemitismus, insb. S. 165 und Knight: „Neutrality“, Not Sympathy, S. 220. 41 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Tätigkeit [1964], S. 52–54.
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den späten 1970er- und frühen 1980er-Jahren mit einer Reihe von tödlichen Anschlägen auf Jüdinnen und Juden in Österreich, zumeist von palästinensischen aber auch von einheimischen neonazistischen TerroristInnen verübt.42 Der wegweisende, übrigens in Wien geborene Antisemitismusforscher Peter Pulzer unterschied zwischen den eher „rationalen“ ideologischen Formen des Antisemitismus und dem radikaleren „nihilistischen“ Antisemitismus, der aus sadistischen Wurzeln rührt, in physische Gewalt ausartet und insofern „an Fetischismus […] grenzt“. Diese Gewalt, so führte er fort, kann auch „stellvertretend“ sein, „wie etwa die Schändung jüdischer Friedhöfe“.43 Die nihilistische Vernichtungswut stellte, wenn nicht den einzigen, dann doch einen prägenden Aspekt des Umgangs mit jüdischen Friedhöfen während der NS-Zeit dar, doch auch in der Nachkriegszeit wurden und werden jüdische Friedhöfe in Österreich zu Zielscheiben antisemitischer Gewalt. Die Schändung von Grabstätten, Grabdenkmälern und Leichen ist überhaupt ein wirkungsmächtiges Instrument, um kulturelle und ideologische Ordnungen anzugreifen oder umzustürzen, und als solches lässt sie sich weltweit in geradezu allen historischen Kontexten nachweisen. Ein herausragendes Beispiel ist die Vernichtung der Königsgräber und der sich darin befindlichen menschlichen Überresten in der Basilique de Saint-Denis außerhalb von Paris während der Französischen Revolution, deren Absicht es war, den gewaltsamen Umsturz des jahrtausendalten ancien regime auf zutiefst materielle Weise zum Ausdruck zu bringen.44 Auch die gezielte Schändung von jüdischen Grabstätten hat eine lange Tradition, die mindestens in das Mittelalter zurückreicht, laut dem Leipziger Rabbiner Gustav Cohn sogar bis in die Antike.45 Im Jüdischen Lexikon, das in den späten 1920er-Jahren in Deutschland erschien, wurde noch ein ganzer Artikel zum Thema „Friedhofsschändungen“ gewidmet, was auf die Aktualität dieses Phänomens bereits vor der NS-Machtübernahme verweist, die von „nationalistische[n] und völkische[n] Kreise[n]“ nach dem Ersten Weltkrieg angetrieben wurde.46 Es finden sich in diesem Beitrag keine Verweise auf solche Vorfälle in der Ersten Republik, doch wurden beispielsweise in Niederösterreich bereits seit den 1890er-Jahren Schändungen von jüdischen Friedhöfen dokumentiert,
42 Siehe zusammenfassend Adunka: Die vierte Gemeinde, S. 452–459. 43 Pulzer, Peter: Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867 bis 1914, aus dem Englischen von Jutta Knust und Theodor Knust, Göttingen 2004, S. 117. 44 Vgl. Laqueur: The Work of the Dead, S. 103–106. 45 Cohn: Der jüdische Friedhof, S. 21. 46 Holländer, Ludwig: Friedhofsschändungen, in: Jüdisches Lexikon. Ein enzyklopädisches Handbuch des jüdischen Wissens in vier Bänden, Bd. 2, Berlin 1928, S. 821.
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die mit dem Aufkommen der damals offen antisemitischen christlichsozialen Bewegung, der Vorgängerin der heutigen ÖVP, einhergingen.47 Die Schändung von jüdischen Friedhöfen infolge der Shoah kann wenigstens teilweise als Auswirkung der gesellschaftlichen Tabuisierung des Antisemitismus verstanden werden: Wo offener Antisemitismus, inklusive verbale Ausschreitungen, abgelehnt oder geahndet werden, bilden Friedhöfe als oft geographisch abgeschiedene, verwahrloste, unbewachte, wehrlose und zugleich explizit „jüdisch“ konnotierte Räume ein leichtes Ziel für die Austragung antisemitischen Gedankenguts. Bei jeder Form des Vandalismus spielt natürlich jenseits von Ideologie auch der gesellschaftliche Schockwert, den die entsprechende Schändung hervorruft, eine motivierende Rolle. Friedhöfe bieten überhaupt einen großen Schockwert, da die Grabstätten verstorbener Menschen universell, auch in nichtreligiösen Milieus, als sakrosankt gelten. Jüdische Friedhöfe stellen aufgrund der Shoah somit einen beispiellos konzentrierten Schockwert dar. In Deutschland häuften sich Grabschändungen und ähnliche Verbrechen bereits ab den späten 1940er-Jahren, ein deutlicher Hinweis auf die stellvertretende Funktion dieses Handelns für den Ausdruck antisemitischen Gedankenguts in einer Gesellschaft, wo offene antisemitische Gewalt plötzlich tabuisiert war.48 Eine Studie von antisemitischen Grabschändungen in Österreich wurde bisher noch nicht vorgenommen. In diesem Kapitel wird eine skizzenhafte Zusammenfassung solcher Vorfälle vorgeführt, mit besonderem Augenmerk auf die Reaktionen, die diese seitens der nichtjüdischen Öffentlichkeit hervorriefen. Die Tabuisierung des Antisemitismus nach 1945 hatte aber auch andere Auswirkungen. Wie der Historiker Frank Stern aufzeigte, breitete sich in der europäischen Nachkriegsgesellschaft im Schatten der Shoah eine Art Verehrung, eigentlich eine Verklärung des „Jüdischen“ aus, die auf der Oberfläche als positive Auffassung von jüdischen Menschen und Kulturen erscheint, sich jedoch bei näherer Betrachtung als bloße Umkehrung antisemitischer Vorurteile entlarvt. Ein Beispiel dieses sogenannten „Philosemitismus“ ist, wenn „die Juden“ (wie oft diskursiv, auch im Wissenschaftsdiskurs, kollektiviert wird) für ihre angeblich überdurchschnittlich hohe Intelligenz oder ihren ausgeprägten Wirtschaftssinn gepriesen werden.49 „Im Philosemitismus werden die Juden nicht ‚verdrängt‘, sondern romantisiert, monumentalisiert, respektabel neutralisiert und damit kulturell erneut stigmatisiert und ausgegrenzt“, schrieb Stern zusammenfassend in einem Band zum Antisemitismus, wobei diese Verehrung 47 Vgl. Lind, Christoph: Die letzten Zeugnisse, in: Keil, Martha/Forisch, Elke/Scheiber, Ernst (Hg.): Denkmale. Jüdische Friedhöfe in Wien, Niederösterreich und Burgenland, Wien 2006, S. 98–100. 48 Wirsching: Jüdische Friedhöfe in Deutschland, S. 32. 49 Vgl. grundlegend Stern, Frank: Im Anfang war Auschwitz. Antisemitismus und Philosemitismus im deutschen Nachkrieg, Gerlingen 1991.
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oftmals der ermordeten bzw. emigrierten Jüdinnen und Juden gilt, während die überlebende jüdische Gemeinschaft in Österreich weiterhin als antisemitische Projektionsfläche diente.50 Der Philosemitismus findet sich nicht nur in der breiten Öffentlichkeit und auf politischer Ebene wieder, sondern auch in der einschlägigen Historiographie, so beispielsweise in der Vorstellung, der erhebliche „Beitrag“ jüdischer Intellektueller zur österreichischen Kultur und Wissenschaft könne durch den „typisch jüdischen“ Hang – als „Volk des Buches“ – zur Gelehrsamkeit erklärt werden.51 Der Schriftsteller Manès Sperber brachte seine persönliche Erfahrung mit dem österreichischen Nachkriegsphilosemitismus ergreifend auf den Punkt: „Ihr Philosemitismus bedrückt mich, erniedrigt mich wie ein Kompliment, das auf einem absurden Mißverständnis beruht und das man überdies weder verdient hat noch verdienen möchte.“52 Ab den 1980er-Jahren trat eine deutliche Wende in der österreichischen Politik, Gesellschaft und Erinnerungskultur ein, die zum Teil mit der wachsenden Auseinandersetzung auf internationaler Ebene mit dem „Holocaust“ (ein Wort, das erst zu dieser Zeit weitgehend in Gebrauch kam) einherging, und im innenpolitischen Kontext wesentlich von der sogenannten Waldheim-Affäre ausgelöst wurde. Unmittelbar führte diese zu einer offenen Entfachung antisemitischer Diskurse in der österreichischen Öffentlichkeit, doch längerfristig – wie man nun nach über dreißig Jahre konstatieren kann – bedeutete sie auch den Beginn eines genuinen Umdenkens der Verstrickung Österreichs in den Nationalsozialismus.53 Ein Meilenstein in der österreichischen Innenpolitik dieser Zeit war die Gründung 1986 der Grünen Partei, die sich von Anfang an neben anderen progressiven Programmpunkten für eine kritische Auseinandersetzung mit Österreichs historischer Verantwortung einsetzte und über die Jahre zu einem regelrechten Paradigmenwechsel in der österreichischen Politik beitrug.54 Die Grünen stellten sich nicht zuletzt an die Spitze des bis heute andauernden politischen Kampfes um eine gerechte Instandsetzung der jüdischen Friedhöfe in Österreich. Über die Jahre hat sich in Folge eine im Wesen recht ambivalente Haltung in Österreich gegenüber der NS-Vergangenheit 50 Stern, Frank: Der geschönte Judenfleck. Antisemitismus und Philosemitismus, in: Klamper, Elisabeth (Hg.): Die Macht der Bilder. Antisemitische Vorurteile und Mythen, Wien 1995, S. 402, 399. 51 Vgl. etwa die Thesen von Beller: Wien und die Juden. Zum Vorwurf des Philosemitismus in Bellers Arbeit vgl. Gombrich, Ernst: The Visual Arts in Vienna Circa 1900. Reflections on the Jewish Catastrophe, London 1997. 52 Zit. nach John/Lichtblau: Schmelztiegel Wien, S. 398. 53 Vgl. Mitten, Richard: New Faces of Anti-Semitic Prejudice in Austria. Reflections on the „Waldheim Affair“, in: Wistrich, Robert (Hg.): Austrians and Jews in the Twentieth Century. From Franz Joseph to Waldheim, New York 1992. 54 Bauerkämper: Das Umstrittene Gedächtnis, S. 219.
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etabliert, in der mehrheitlich wenigstens eine „Mitverantwortung“, wie es etwa das neue Haus der Geschichte Österreich relativierend nennt, grundsätzlich anerkannt wird. Nicht zuletzt erfuhren diese Jahre auch einen markanten Anstieg in der Rezeption der jüdischen Geschichte und Kultur seitens der mehrheitlich nichtjüdischen Öffentlichkeit. Dies zeigte sich etwa 1988 in der Gründung des Instituts für jüdische Geschichte Österreichs in St. Pölten oder 1993 in der Wiedereröffnung des Jüdischen Museum Wiens im Palais Eskeles in der Inneren Stadt. Der neue Stellenwert, den die jüdische Geschichte auf einmal in Österreich genoss, sollte sich bald sowohl im wissenschaftlichen Bereich wie in Initiativen zur Instandsetzung von jüdischen Friedhöfen bemerkbar machen, wobei die Friedhöfe nun auch seitens breiter Teile der nichtjüdischen Bevölkerung als wichtige Erinnerungsorte wahrgenommen wurden, deren Pflege auch als Verantwortung der nichtjüdischen Öffentlichkeit aufgefasst wurde. Diese Tendenz wurde aber keineswegs nur positiv rezipiert. So kritisierte etwa die Regisseurin Ruth Beckermann bereits 1989 in Verweis auf das bereits besprochene Problem des Philosemitismus: „Österreich hat im Jahr 1988 entdeckt, wie nützlich die toten Juden sein können. Da ein Museum aufgestellt, dort eine Gedenktafel angebracht – das macht sich im Ausland gut und gefällt dem jüdischen Establishment.“55 Wie Dirk Rupnow zudem in einem Band zum Umgang mit traumatischen Vergangenheiten in verschiedenen globalen Kontexten bemerkte, kann die Wende zur Erinnerung an die Opfer der Shoah in Österreich auch gewissermaßen als Facette einer in manchen Teilen der Gesellschaft ausgeprägten „Opferthese“ verstanden werden, denn – wie etwa das Shoahdenkmal am Judenplatz verkörpert – beschränkt sich das offizielle Gedenken in der Zweiten Republik weitgehend auf die österreichischen Opfer der Shoah, und bezieht sich nicht auf die weiteren Millionen, die anderswo in Europa der Kriegs- und Vernichtungsmaschinerie zum Opfer fielen, geschweige denn die Tatsache – in diesem Zusammenhang ein wesentlicher Punkt – dass Unzählige von ihnen TäterInnen aus Österreich zum Opfer fielen.56 Die Wende der 1980er- und 1990er-Jahre war nicht zuletzt eine Folge des zunehmenden Drucks, den internationale Regierungen und Organisationen auf Österreich auszuüben begannen, als dessen völlig mangelhafte Restitutionsbemühungen in den vier Jahrzehnten seit der Zerschlagung des Nationalsozialismus und die für die Gemeinschaft der jüdischen Überlebenden zutiefst
55 Beckermann: Unzugehörig, S. 11. 56 Rupnow, Dirk: Transforming the Holocaust. Remarks after the Beginning of the 21st Century, in: Wodak, Ruth/Auer Borea, Gertraud (Hg.): Justice and Memory. Confronting Traumatic Pasts – An International Comparison, Wien 2009, S. 73.
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unvorteilhafte Ausgänge, die daraus entstanden waren, zunehmende internationale Aufmerksamkeit auf sich zogen.57 Der internationale Skandal, den die Koalition der ÖVP mit der rechtsextremen und in Teilen neonazistischen FPÖ ab 1999 entfachte, führte schließlich zur Unterschreibung am 17. Jänner 2001 des sogenannten „Washingtoner Abkommens“, in dem sich die Republik Österreich verpflichtete, endlich Entschädigungen gegenüber den noch lebenden Opfern zu leisten.58 Beauftragt wurde damit der bereits 1995 gegründete Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus, und es folgte 2006 – auf die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit bezogen – die Gründung des Zukunftsfonds der Republik Österreich. Die Entschädigung war allerdings größtenteils rein symbolisch: Bis zum Jahre 2011 hatte die Republik Österreich über den Nationalfonds lediglich 210 Millionen US-Dollar an Opfer des Nationalsozialismus ausbezahlt, obwohl geschätzt wurde, dass ihnen etwa 1,5 Milliarden zustanden. Die Bundesrepublik Deutschland hat vergleichsweise bis dato 71 Milliarden Euro an verschiedene Opfergruppen sowie ehemals besetzte Länder ausbezahlt.59 Für die meisten Opfer kam die Entschädigungsgeste der Zweiten Republik zu spät.60 Einschlägige Studien zeigen derweilen auf, dass der Antisemitismus in Österreich heute noch wie jeher beträchtlich tief in der Gesellschaft verankert ist.61 Der hier kurz skizzierte Überblick der Restitution und Entschädigung und darüber hinaus der Vergangenheitsbewältigung in der Zweiten Republik zeigt
57 Vgl. Bailer, Brigitte: „Ohne den Staat weiter damit zu belasten…“. Bemerkungen zur österreichischen Rückstellungsgesetzgebung, in: Zeitgeschichte 11/12 (November/Dezember 1993), S. 367–381 sowie Aicher, Josef/Kussbach, Erich/Reinisch, August (Hg.): Decisions of the Arbitration Panel for In Rem Restitution, Bd. 4, Wien 2011, S. 10–12. 58 Abkommen zwischen der Österreichischen Bundesregierung und der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika zur Regelung von Fragen der Entschädigung und Restitution für Opfer des Nationalsozialismus, https://www.nationalfonds.org/gesetze, letzter Zugriff: 31. August 2020. Vgl. zum Hintergrund Silberman, Murray Gordon: Austria, in: American Jewish Yearbook 102 (2002). 59 Summe der Schande, in: Süddeutsche Zeitung, 17. März 2015, https://www.sueddeutsche.de/ politik/reparationen-deutschlands-fuer-zweiten-weltkrieg-summe-der-schande-1.2395520, letzter Zugriff: 31. August 2020. 60 Eizenstat, Stuart: 10 Years After the Washington Agreement. Background, Successes, and the Future, in: Khol, Andreas/Ofner, Günther/Karner, Stefan/Halper, Dietmar (Hg.): Österreichisches Jahrbuch für Politik 2010, Wien 2011, S. 394. 61 Vgl. Gottschlich, Maximilian: Die große Abneigung. Wie antisemitisch ist Österreich?, Wien 2012. Siehe auch Berichterstattungen wie: 25 Jahre nach der Waldheim-Wahl, in: Profil, 28. April 2011, https://www.profil.at/home/25-jahre-waldheim-wahl-294714 oder: Attacken gegen Juden nehmen zu, in: Kurier, 7. Jänner 2013, http://kurier.at/politik/inland/attackengegen-juden-nehmen-zu-oskar-deutsch-antisemitische-vorfaelle-nehmen-zu-wo-ist-deraufschrei/2.345.837, letzter Zugriff: 31. August 2020.
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bereits ein dynamisches Verhältnis auf zwischen der innenpolitischen Situation und dem internationalen Kontext. Tatsächlich lässt sich breitflächig die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit und der daraus entstehenden Verantwortung Österreichs seit 1945 in einem Spannungsverhältnis verorten zwischen einem authentischen Schuldbewusstsein einerseits und der Besorgnis um den Ruf des Landes im Ausland andererseits. Dies kann im Rahmen der infolge des Zweiten Weltkriegs von der Anthropologin Ruth Benedict entwickelten theoretischen Unterscheidung zwischen „Scham-“ und „Schuldkulturen“ begriffen werden: Leitet sich das Schuldgefühl a priori aus einem objektiven moralischen Wertesystem und in Verbindung zum subjektiven Wissen um das eigene Fehlverhalten ab, so dringt das Schamgefühl nur, wenn überhaupt, im Nachhinein von außen ein durch die gesellschaftliche Ungnade, die entsteht, wenn Drittparteien vom eigenen Fehlverhalten erfahren. Somit trägt in einer Schuldkultur das Individuum selbst die Verantwortung für sein Handeln, während in einer Schamkultur die individuelle Schuld, wo sie überhaupt entsteht, gleich in kollektive Schuld aufgeht aufgrund der Scham, die das Wissen um das individuelle Vergehen im Kollektiv erzeugt hat.62 Eine berechtigte Kritik dieses Modells bezieht sich auf den kulturellen Essenzialismus, der ihm unterliegt, da hier implizit eine vermeintliche orientale Schamkultur im Japanischen Kaiserreich, auf das sich Benedicts Studie empirisch bezog, einer als moralisch überlegen verstandenen christlichen Schuldkultur des Westens gegenübergestellt wurde. Die Unterscheidung zwischen Scham und Schuld wurde jüngst vom Historiker Thomas Kühne auf den Umgang mit der NS-Vergangenheit in Deutschland angewandt, wobei Kühne betonte, dass Scham und Schuld eher ein diskursives Argumentationsmuster darstellten, die in jeder Gesellschaft zu allen Zeiten, manchmal sogar gleichzeitig vorhanden sind, und nicht eine ganze „Kultur“ an sich definieren.63 Tatsächlich lässt sich das konzeptionelle Paar Scham/Schuld treffend auf den Kontext der Zweiten Republik anwenden, wo sich zu unterschiedlichen Zeiten und seitens unterschiedlicher AkteurInnen mal die Scham (so etwa in Verweis auf den Ruf Österreichs im Ausland) und mal die Schuld (so etwa als aufrichtige Auseinandersetzung mit der eigenen NS-Vergangenheit) als dominantes diskursives Muster herausstellt. Diese Dynamik wird insbesondere gegen Ende des Kapitels in Bezug auf die jüngsten politischen Auseinandersetzungen rund um die Instandsetzung der jüdischen Friedhöfe in Österreich aufgezeigt.
62 Benedict, Ruth: The Chrysanthemum and the Sword. Patterns of Japanese Culture, Boston 1946. 63 Kühne, Thomas: Belonging and Genocide. Hitler’s Community, 1918–1945, New Haven 2010, S. 29.
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Die Auflassung der provinziellen Kultusgemeinden nach dem „Anschluß“ und die Vertreibung bzw. Ermordung ihrer Mitglieder bedeutete, dass nach 1945 nahezu alle erhalten gebliebenen jüdischen Erinnerungsorte, inklusive der meisten jüdischen Friedhöfe Österreichs, sozusagen „verwaist“ waren. Diese wurden nach erfolgter Restitution unter den wenigen neuetablierten Kultusgemeinden aufgeteilt: So übernahm die Wiener Kultusgemeinde die Verantwortung für jüdische Liegenschaften im benachbarten Niederösterreich und dem Burgenland.64 Dazu zählen heute insgesamt 13 Friedhöfe im Burgenland, 25 in Niederösterreich und 5 in Wien (inklusive des 1904 der Wiener Kultusgemeinde einverleibten Floridsdorfer Friedhof), zusätzlich zu den etlichen Massengräbern im Osten Österreichs, von denen aber viele im Laufe der Jahrzehnte exhumiert und aufgelassen wurden, nachdem die Leichen auf bestehende jüdische Friedhöfe überführt wurden. Mit der Einverleibung der Grazer in die Wiener Kultusgemeinde 2013 kamen noch 4 Friedhöfe in der Steiermark hinzu. Somit ist die Wiener Kultusgemeinde heute Eigentümerin von bzw. verantwortlich für insgesamt 47 jüdische Friedhöfe in Österreich, den Großteil der in Österreich überdauernden jüdischen Begräbnisstätten. Die restlichen 13 befinden sich über die 6 weiteren Bundesländer verstreut und werden von den Kultusgemeinden in Linz, Salzburg und Innsbruck betreut.65 Die Anzahl der Grabstätten in Obhut der Wiener Kultusgemeinde beträgt etwa 350.000, das sind etwa 50 Grabstätten pro heute in Wien lebendem Mitglied der Kultusgemeinde.66 An dieser Statistik wird nicht nur das Ausmaß der Restitutions- und später der Instandsetzungsproblematik ersichtlich, sondern stellvertretend auch die Ausbreitung des Einzugsbereichs der Wiener Kultusgemeinde auf breite Teile der Republik jenseits der Bundeshauptstadt. Deswegen kommt dieses abschließende Kapitel auch mehrfach auf die jüdischen Friedhöfe und Massengräber in der österreichischen Provinz zu sprechen. Aus den Berichten in Die Gemeinde, dem Presseorgan der Kultusgemeinde (sowie aus jenen in Iskult – Presse – Nachrichten, dem Presseorgan des Bundesverbands der Israelitischen Kultusgemeinden Österreichs, das zwischen 1952 und 1963 erschien), wird der pulsierende Rhythmus der Aufmerksamkeit, die der Friedhofsthematik über die Jahrzehnte geschenkt wurde anhand bestimmter chronologischer Kristallisationspunkte deutlich, so etwa um 1953 mit den Verhandlungen zwischen der Kultusgemeinde und dem Innenministerium über die Exhumierung von Massengräbern, um 1955 mit dem Abschluss eines umfassenden Restitutionsvergleichs mit der Stadt Wien, der vor allem 64 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Tätigkeit [1964], S. 176. 65 Vgl. Jüdische Friedhöfe in Österreich, https://www.friedhofsfonds.org/instandsetzung, letzter Zugriff: 31. August 2020. 66 Walzer: Jüdische Friedhöfe in Europa und den europäischen Ländern, S. 26.
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die Friedhöfe in Währing und beim I. Tor betraf, oder um 1967 mit dem Großprojekt zur Instandsetzung der monumentalen Zeremonienhalle beim IV. Tor. Im Folgenden wird grob chronologisch aber vorwiegend thematisch die Nachkriegsgeschichte der Friedhöfe im gesamtösterreichischen Kontext analysiert, wobei aufgezeigt wird, dass es sich hier eben nicht um eine rein „innerjüdische“ Geschichte handelt, sondern zugleich immer schon um eine „Wiener G’schicht“. 10.2
Der Kampf um Anerkennung, Restitution und Instandsetzung in den ersten zehn Jahren nach Kriegsende
Nach der Zerschlagung des „Dritten Reichs“ und der Gründung der Zweiten Republik befanden sich vier der fünf jüdischen Friedhöfe Wiens (inklusive jener im 21. Bezirk Floridsdorf) nach wie vor als „arisierte“ Grundstücke im Besitz der Stadt Wien. Vom Friedhof beim IV. Tor waren lediglich die sogenannten „Liebfrauengründe“, eine etwa 71.000 Quadratmeter große Parzelle am östlichen Rand des Friedhofs, „arisiert“ worden. Der Rest verblieb im Besitz der Kultusgemeinde, da dieser noch durch die gesamte NS-Zeit als Bestattungsraum für die kleine Gemeinschaft der Zurückgebliebenen benötigt wurde. Im Folgenden werden die langwierigen Restitutionsverhandlungen zwischen der Kultusgemeinde und der Stadt Wien geschildert, die erst zehn Jahre nach Kriegsende, im Sommer 1955, zu einem Vergleich führten, die der Kultusgemeinde nicht in allen Aspekten zugute kam. Einerseits musste sich die Kultusgemeinde auf Kompromisse einlassen, die in den Jahren danach wiederholt zu Kontroversen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft in Österreich und im Ausland führen sollten, andererseits wurden bei der Rückgabe der Liegenschaften grundlegende Fragen der Instandsetzung und fortwährenden Pflege der jüdischen Friedhöfe nicht geregelt und bleiben bis heute praktisch ungelöst und politisch umstritten. Parallel zu diesen Entwicklungen innerhalb Wiens führte die Kultusgemeinde Verhandlungen mit dem Innenministerium über das Schicksal der Massengräber von jüdischen ZwangsarbeiterInnen, die in verschiedenen Bundesländern in Endphasenverbrechen ermordet wurden, sowie mit verschiedenen Gemeinden in Niederösterreich und dem Burgenland über die Restitution und Instandsetzung von Provinzfriedhöfen. Diese Verhandlungen gingen schließlich insgesamt besser aus als die Verhandlungen mit der Stadt Wien. Schon zu dieser frühen Zeit zeichnete sich in der Zweiten Republik also ein markanter Unterschied ab zwischen verschiedenen politischen Instanzen in Bezug auf die Auseinandersetzung mit den Folgen des Nationalsozialismus, der ebenfalls bis heute noch bemerkbar ist. Neben dem Friedhof in der Seegasse, dessen Nachkriegsgeschichte unten gesondert analysiert wird, war wohl der Währinger Friedhof der am schwers-
Der Kampf um Anerkennung, Restitution und Instandsetzung
ten geschändete, da tausende seiner Grabstätten bei der Ausbaggerung des südöstlichen Areals zerstört wurden und hunderte weitere Grabstätten für die rassistische Forschung vom Naturhistorischen Museum exhumiert wurden. Darüber hinaus erlitten viele Grabsteine durch Vandalismus und während der Luftangriffe gegen Kriegsende erhebliche Schäden. Wie hier in Kapitel 7 geschildert, hatte sich in den frühen 1940er-Jahren das Institut für Denkmalpflege des städtischen Kulturamtes in Person von Viktor Schneider proaktiv für die Bewahrung der jüdischen Friedhöfe als bedeutende Kulturdenkmäler eingesetzt. Am 23. August 1945, wenige Monate nach Kriegsende und der Ausrufung der Zweiten Republik, schrieb auf offiziellem Briefpapier ein Direktor Eigner der „Gemeindeverwaltung Wien“ – die Worte „des Reichgaues“ waren einfach mit Kugelschreiber durchgestrichen worden – im Namen Viktor Schneiders eine Nachricht an die neuetablierte Kultusgemeinde bezüglich des Währinger Friedhofs, der sich nämlich aufgrund der weitgehenden Schändungen „in höchster Gefahr“ befand. „Es war schon lange meine Absicht“, so Schneider, „durch die dem Kulturamt zur Verfügung stehenden Arbeitstruppe, die aus freiwilligen Helfern bestehen, den Friedhof sichern zu lassen“. Diese Arbeiten ließen nun „nicht länger“ auf sich warten und somit lud das Kulturamt den kürzlich zuvor aus dem Konzentrationslager Theresienstadt zurückgekehrten Friedhofsamtsdirektor Ernst Feldsberg ein, um den Vorgang zu besprechen. Der Brief schloss mit den persönlichen an Feldsberg gerichteten Worten: „Dr. Schneider läßt Sie bestens grüßen und gibt seiner Freude darüber Ausdruck, daß Sie nach mancherlei Fährlichkeiten nun wieder heimgekehrt sind.“67 Wenige Wochen später unternahmen Feldsberg und Schneider zusammen mit einem Vertreter des Stadtbauamts des Bezirks Döbling, auf dessen Sprengel das Friedhofsareal größtenteils liegt, eine Besichtigung des Geländes. Dabei stellten sie fest, dass die westliche Mauer entlang des Währinger Parks (dem ehemaligen Allgemeinen Friedhof) bei Luftangriffen direkte Treffer abbekommen hatte und dass sich hier nun ein etwa 250 Kubikmeter großer Schutthaufen befand. Es wurde beschlossen, diesen umgehend abzutragen und die übrig gebliebenen Ziegelsteine zur Instandsetzung der Mauer zu verwenden. Das südöstliche, 1941 von der Stadt Wien ausgebaggerte Areal sollte wiederum als vorläufige Maßnahme mit Drahtgitter abgezäunt werden. Auf Schneiders Initiative sollten die Arbeiten „durch die im Arbeitseinsatz zu verwendenden Nazistudenten besorgt werden“. Die Kosten, die die Kultusgemeinde tragen würde aufgrund deren „eminenten Interesses“, beliefen sich auf geschätzt 1.000 Reichsmark (der Schilling sollte in Österreich erst zum Jahresende wieder
67 An Herrn Dr. Feldsberg, 23. August 1945, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 18, Währinger Friedhof/1/3, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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komplett eingeführt werden), sollten jedoch später in den Restitutionsverhandlungen mitberechnet werden. Neben den Arbeitskräften besorgte das Kulturamt das Material und die nötigen Genehmigungen.68 Somit war das Friedhofsareal im Vorfeld der Restitutionsverhandlungen wenigstens rudimentär abgesichert. Der Friedhof beim I. Tor überdauerte zwar vorerst, von den Schändungen während den Novemberpogromen abgesehen, verhältnismäßig unbeschädigt die NS-Zeit, da das Areal insgesamt nach Ablauf einer zehnjährigen Frist planiert und dem allgemeinen Zentralfriedhof einverleibt werden sollte. Doch wurde der Friedhof schließlich während der Luftangriffe und Kampfhandlungen gegen Kriegsende stark in Mitleidenschaft gezogen. Der Bestattungsraum wurde dennoch von der Stadt Wien schnell für Bestattungen freigegeben, sodass in den ersten zwei Jahren nach Kriegsende insgesamt 60 Verstorbene dort bestattet wurden.69 Der Fall des Friedhofs beim I. Tor war insofern einzigartig, als dies der einzige jüdische Friedhof in Wien war, der zuvor nicht das Eigentum der Kultusgemeinde, sondern von der Stadt Wien gepachtetes Land darstellte. Somit handelte es sich in diesem Fall vorerst nicht um eine Frage der „Restitution“ des Grundstücks, wenngleich schon seiner „arisierten“ Bauten und Denkmäler, sondern um die Neuverhandlung der von der NSStadtverwaltung aufgehobenen vertraglichen Übereinkommen zur Nutzung dieses Bestattungsraums. In einem ersten „Vergleichsvorschlag“, in dem die Kultusgemeinde im Oktober 1947 die Restitution unter anderem ihrer Friedhöfe in Währing, Floridsdorf und im niederösterreichischen Groß-Enzersdorf verlangte, erklärte sie sich bereit, der Stadt Wien die Liebfrauengründe beim IV. Tor zu überlassen, da die dezimierte jüdische Gemeinschaft diese bereits in der Vorkriegszeit groß angelegte Erweiterung des Friedhofs nicht mehr benötigte.70 Bezeichnenderweise wurde in den darauffolgenden Restitutionsverhandlungen mit der Kultusgemeinde die Magistratsabteilung 57 (Liegenschaften) der Stadt Wien durch den gleichen Dr. Walz vertreten, der in den frühen 1940er-Jahren die „Arisierung“ der Friedhöfe vollstreckte. Dieser legte in der ersten offiziellen Reaktion seitens der Stadtverwaltung deren grundsätzlichen Standpunkt aus, dass während der NS-Zeit all Erwerbungen der Stadt Wien aus dem Liegenschaftsvermögen der Israelitischen Kultusgemeinde und deren Organisationen ohne jeden Druck oder Zwang seitens der Stadt
68 Aktennotiz, 11. September 1945, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 18, Währinger Friedhof/1/3, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 69 Mitteilung, 13. Februar 1948, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/ Österreich/1/3, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 70 Bericht, 8. Oktober 1947, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/3, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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Wien oder ihrer Organe und durchwegs im Einvernehmen mit den Vertretern der Kultusgemeinde erfolgt sind. Die Stadt Wien hat diese Erwerbungen ausschliesslich im öffentlichen Interesse vorgenommen, es wurde aber auch das Interesse der Kultusgemeinde besser gewahrt, als wenn diese Liegenschaften in private Hände gelangt wären.
Gleichzeitig erklärte sich die Stadtverwaltung in Berücksichtigung des Umstandes, dass die Veräusserungen des Liegenschaftsvermögens der Israelitischen Kultusgemeinde, [sic, Beistrich] durch die [nationalsozialistische] Machtübernahme veranlasst wurden und eine schwere Schädigung bedeuten, bereit, den Rückstellungsansprüchen weitgehendst zu entsprechen.
In anderen Worten übernahm die Stadtverwaltung zwar eine gewisse Haftung, die hier als Art Kulanz vorgeführt wurde, gestand jedoch keine wirkliche Schuld oder Verantwortung für die Raubzüge und Schändungen der jüdischen Kulturstätten in Wien während der Shoah. Diese Unterscheidung bot der Stadt von Anbeginn eine starke Verhandlungsposition. Zwar erklärte sie sich demnach grundsätzlich bereit, auf die Restitutionsforderungen der Kultusgemeinde einzugehen, doch verlangte sie sogleich die neuerliche Inkraftsetzung des Pachtvertrags von 1891 bezüglich des Friedhofs beim I. Tor sowie eine sofortige Zahlung von 180.000 Schilling, da sie „bereits seit 1945 wieder die Beilegung von Leichen auf diesem Friedhofsteile gestattet“ hatte.71 In den frühen 1950er-Jahren, als diese Forderung noch verhandelt wurde, gelang es Ernst Feldsberg, mit Dokumenten aufzuzeigen, dass beim „Verkauf “ der Liegenschaften während der NS-Zeit die Stadt Wien die Preise festlegte, dass die Kultusgemeinde gezwungen wurde, die Kaufverträge zu unterschreiben und dass eine Auszahlung nie erfolgte, sodass unmöglich von einem ehrlichen Geschäftsvorgang die Rede sein konnte. Zudem thematisierte er den tatsächlichen Wert des Grundstücks sowie der Grabsteine am Währinger Friedhof, die allesamt zu einem extrem niedrigen Preis durch die Stadt Wien aufgeschnappt wurden.72 Da die Verhandlungen fehlschlugen, reichte die Kultusgemeinde am 31. Dezember 1948 bei der Rückstellungskommission im Landesgericht für Zivilrechtssachen eine Klage gegen die Stadt Wien ein mit der Forderung nach Restitution etlicher Liegenschaften, die unter der NS-Herrschaft „arisiert“ wurden. Darunter befanden sich viele Grundstücke, auf denen bis zu den Novemberpogromen und ihrem späteren Abriss Synagogen standen, sowie der jüdische
71 An die Israelitische Kultusgemeinde Wien, 1. Februar 1948, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/3, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 72 Embacher: Restitutionsverhandlungen mit Österreich, S. 296, 298.
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Friedhof in Währing.73 In der Klage wurde vorerst eine Frist von vierzehn Tagen festgesetzt, doch das Gericht gab der Stadtverwaltung bis zum 1. März 1949 Zeit, um auf die Klage zu reagieren.74 Es folgte ein regelrecht in die Länge gezogenes Verfahren, bei dem die Stadt Wien wiederholt um Fristenverlängerungen ansuchte, um angeblich die stockenden Verhandlungen mit der Kultusgemeinde fortführen zu können. Die Fristen zogen sich durch 1949 bis in das Folgejahr, bis schließlich die Stadtverwaltung am 20. Februar 1951 dem Gericht erklärte, dass die „Vergleichsverhandlungen mit der Israelitischen Kultusgemeinde Wien noch nicht abgeschlossen“ waren, da „es die Rückstellungswerberin unterlassen [hatte], einen für beide Teile annehmbaren Vergleichsvorschlag zu unterbreiten“, wobei sie „die Vorlage eines solchen jedoch in absehbarer Zeit in Aussicht gestellt“ hatte.75 Acht Monate später, am 18. Oktober, also fast drei Jahre nach Einreichung der Klage, erklärte die Stadtverwaltung schließlich, dass die „Vergleichsverhandlungen seitens der Stadt Wien nicht wieder aufgenommen“ wurden, da die Kultusgemeinde „bis heute noch keine Äusserung“ getan hatte.76 Gleich am nächsten Tag erwiderte die Klägerin, dass die Verhandlungen „von der Klärung von Vorfragen abhängig“ und „deshalb noch nicht beendet“ waren.77 Scheinbar konnten sich die VerhandlungspartnerInnen nicht auf elementare Fragen einigen, woraufhin die Verhandlungen zu einem kompletten Stillstand kamen. Wie Ernst Feldsberg, der kurz zuvor zum Vizepräsidenten der Kultusgemeinde gewählt worden war, in einer Aktennotiz am 17. April 1953 vermerkte, handelte es sich hier um eine deutliche „Verzögerungstaktik“ seitens der Stadt. Er deutete in Verweis auf einen Artikel in der jüdischen Zeitschrift Neuer Weg auf die steigenden Angriffe seitens der Mitgliedschaft der Kultusgemeinde, die die Repräsentativkörperschaft für die stockenden Restitutionsverhandlungen verantwortlich machten, und fragte in spezifischem Bezug auf den Währinger Friedhof, ob es nicht „zweckmässiger“ wäre, „die Stadt Wien [anzugreifen], welche es duldet, dass in solch pietätloser Weise ein von ihr verwalteter Friedhof geschändet wird. Haftbar für den Zustand auf dem Währinger Friedhof ist vor allem der Eigentümer und Eigentümer ist die 73 An die Rückstellungskommission beim Landesgericht für ZRS Wien, 31. Dezember 1948, WStLA, Landesgericht f. Zivilrechtssachen, A29 – RK: 6 RK 488/55. 74 Beschluß, 27. Jänner 1949, WStLA, Landesgericht f. Zivilrechtssachen, A29 – RK: 6 RK 488/55. 75 An die Rückstellungskommission beim Landesgericht für ZRS Wien, 29. März 1949; 12. August 1949; 28. Dezember 1949; 6. Juni 1950; 20. Februar 1951, WStLA, Landesgericht f. Zivilrechtssachen, A29 – RK: 6 RK 488/55. 76 An die Rückstellungskommission beim Landesgericht für ZRS Wien, 18. Oktober 1951, WStLA, Landesgericht f. Zivilrechtssachen, A29 – RK: 6 RK 488/55. 77 An die Rückstellungskommission beim Landesgericht für ZRS Wien, 19. Oktober 1951, WStLA, Landesgericht f. Zivilrechtssachen, A29 – RK: 6 RK 488/55.
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Stadt Wien“. Er verwies auf den historischen Umstand, dass die Kultusgemeinde „diesen Friedhof, so lange sie ihn besass, in Ehren gehalten“ hatte, während die Stadt Wien „unter der nationalsozialistischen Aera durch ihren Vizebürgemeister [Hanns] Blaschke den Friedhof zerstört, devastiert und geschändet“ hat. Es sei demnach „die moralische Pflicht der Stadt Wien, diesen Friedhof wiederherzustellen“. Ferner verwies er darauf, dass die Kultusgemeinde nicht einmal den ausgebaggerten Teil des Friedhofs abgrenzen konnte, „weil wir nicht wissen, wo diese Mauer errichtet werden soll. Bekanntlich soll im Zuge der Vergleichsverhandlungen der ausgebaggerte Teil als Kompensationsobjekt der Gemeinde Wien angeboten werden“.78 Diese letzte Bemerkung ist für den weiteren Verlauf der Verhandlungen sowie insgesamt für die darauffolgende Entwicklungsgeschichte des Währinger Friedhofs von besonderer Bedeutung. Bereits Anfang 1951 wurde in einer Aktennotiz des Rechtsbüros der Kultusgemeinde Feldsbergs „private Meinung“ zitiert, die er „gegenüber dem Bezirksvorsteher des 19. Bezirkes hinsichtlich des Währinger Friedhofes […] zum Ausdruck“ brachte, wonach er sich bereit erklärte, den Friedhof „neuerlich zu parzellieren“, um den „ausgebaggerte[n] Teil im Eigentum der Gemeinde Wien“ zu belassen. Die Kultusgemeinde würde in dem Fall „auf ihre Kosten den Friedhof durch eine Mauer gegen den neu parzellierten Teil abmauern“.79 Das Rechtsbüro lehnte diese Auffassung prinzipiell ab, wie es im Sommer 1951 unter Berufung auf das Israelitengesetz von 1890 der Stadt Wien mitteilte, wodurch die Statuten der Kultusgemeinde rechtskräftig gemacht wurden, sowie auf §3.2 der Statuten selbst, in der „die immerwährende und unantastbare Erhaltung bestandener und aufgelassener israelitischer Friedhöfe“ festgeschrieben stand. Es verwies auch auf §15 des Staatsgrundgesetzes von 1867, in dem das Recht einer jeden gesetzlich anerkannten Religionsgemeinschaft auf die freie Ausübung ihrer Religion sowie auf die Verwaltung ihrer inneren Angelegenheiten und Institutionen festgeschrieben war. „Die Durchführung der gegenständlichen Umwidmung“, so schloss das Schreiben, „wäre demnach gesetz- und verfassungswidrig“.80 In den Jahren vor dem Abschluss eines Vergleichs, als die Stadt Wien weiter an dem von ihr geraubten jüdischen Friedhof festhielt, wurden vom Liegenschaftsamt Pläne angefertigt, um diesen jüdischen Erinnerungsort endgültig aus dem Stadtbild zu löschen, wie es die Stadtverwaltung eigentlich schon seit Ende des 19. Jahrhunderts angestrebt hatte. 1953 entstand beispielsweise der 78 An die Amtsdirektion der Israelitischen Kultusgemeinde, 17. April 1953, AIKGW, A/VIE/IKG/III/Präs/3/1. 79 An das Rechtsbüro, 23. Februar 1951, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 18, Währinger Friedhof/1/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 80 An den Magistrat der Stadt Wien M.Abt. 18, Stadtregulierung, 16. Juli 1951, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 18, Währinger Friedhof/1/2, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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Plan, den Friedhof samt dem ausgebaggerten südöstlichen Teil dem Währinger Park anzuschließen – der ja um 1922 auf genau dieser Weise durch Auflassung des Allgemeinen Friedhofs entstanden war. Bei Umsetzung dieses Plans hätten die Friedhofsmauern und die Grabsteine entfernt und auf dem Areal ein Kleinkinderspielplatz, ein Wasserbecken und ein Korbballplatz angelegt werden sollen. Lediglich ein kleiner Bereich in der südwestlichen Ecke vor dem Taharahäuschen (die kleine, von Joseph Kornhäusel entworfene Zeremonienhalle in der Schrottenbachgasse) sollte als „Grabdenkmalhain“ umgestaltet werden, genauso wie in manchen aufgelassenen nichtjüdischen Friedhöfen wie im nahegelegenen Schubertpark (der ehemalige Währinger Ortsfriedhof) einige auserkorene Grabdenkmäler von Prominenten stellvertretend auf die ehemalige Funktion der nunmehrigen Grünflache verweisen.81 Ging die Stadt Wien aus ihrer Sicht also bloß in diesem Fall genau so um, wie sie sonst mit stillgelegten Bestattungsräumen im Stadtbild waltete, so verfehlt dies den wesentlichen Punkt – überhaupt vom religiösen Argument der immerwährenden Erhaltung jüdischer Grabstätten abgesehen – dass es sich hier um das geraubte Eigentum der Kultusgemeinde handelte, das in den Jahrzehnten vor der Shoah mit viel Aufwand als Parkanlage umgestaltet und gepflegt worden war, um eben eine solche Zweckentfremdung zu verhindern. Die Haltung der Stadt Wien in diesen Jahren zeugt nicht nur von einer zynischen Ablehnung ihrer offensichtlichen Schuld am Raub und der Schändung dieser Kulturstätte während der Shoah, sondern überhaupt von ihrem Mangel an Achtung vor dem historischen jüdischen Erbe der Stadt. Die stockenden Verhandlungen in Österreich führten schon bald zu einer Inter- oder Transnationalisierung der Restitutionsbemühungen. 1953 wurde in New York das Committee for Jewish Claims on Austria (Komitee für jüdische Forderungen an Österreich) gegründet, ein Dachverband von 21 internationalen jüdisch-österreichischen Repräsentativkörperschaften. Innerhalb Österreichs wurde zugleich der Joint Executive Board for Jewish Claims on Austria (Vereinigter Exekutiv-Ausschuss für jüdische Forderungen an Österreich) gegründet. Beide Dachverbände richteten sich nach dem Vorbild der zwei Jahre zuvor ebenfalls in New York gegründeten Conference on Jewish Material Claims Against Germany und traten für eine gerechte Entschädigung der österreichischen Opfer der Shoah ein, die auf internationaler Ebene völlig vernachlässigt wurden. Wurde nämlich zu dieser Zeit die Bundesrepublik Deutschland weitgehend als rechtlicher Nachfolgestaat des „Dritten Reichs“ aufgefasst, so galt Österreich in der Außenwahrnehmung weder als „Täterland“ noch als „Opferland“, wie etwa im Vergleich zu einem ehemals besetzten 81 19., Alter israel. Friedhof – gärtnerische Ausgestaltung, Juni 1953, AIKGW, A/VIE/IKG/III/PRÄS/3/1.
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Weststaat wie den Niederlanden. Somit stand der österreichischen Judenheit – sowohl der kleinen Gemeinschaft innerhalb Österreichs wie der großen Exilgemeinschaft im Ausland – keine Anlaufstelle für Entschädigungsforderungen zur Verfügung, eine Sachlage, die sich bis in die 1990er-Jahre nicht ändern sollte, als viele der Überlebenden bereits verstorben waren. Am 18. Juni 1953 richtete der Vereinigte Exekutiv-Ausschuss ein Memorandum an den österreichischen Bundeskanzler Julius Raab, in dem auffälligerweise die Forderung nach Entschädigung eben nicht mit der Täterschaft vieler ÖsterreicherInnen, sondern im Gegenteil mit der Verantwortung der Republik als angeblich zuvor „besetztem“ demokratischen Staat begründet wurde. Wie es der entsprechende Tätigkeitsbericht der Kultusgemeinde umschrieb: „Es sei ein Gebot der Gerechtigkeit, daß ein Rechtsstaat, der in einer bestimmten Periode nicht die Macht oder Autorität hatte, seine Bürger vor Unrecht zu schützen, alles in seinen Kräften Stehende tun muß, um dies wiedergutzumachen, sobald er hierzu wieder in der Lage ist (Schutztheorie).“ Gerade die geraubten Liegenschaften verblieben ja weitgehend in städtischer bzw. staatlicher österreichischer Hand und hätten also ohne Weiteres restituiert werden können. Die Antwort Raabs – vor dem „Anschluß“ wohlgemerkt ein Christlichsozialer und wie viele seiner ParteigenossInnen, ein ausgesprochener Antisemit – steht stellvertretend für die Verdrehung der Tatsachen und die gezielte Vernachlässigung der tatsächlichen Opfer seitens sukzessive Regierungen in der jungen Zweiten Republik. Ihre Bestürzung über die Stoßrichtung von Raabs hier zitierter Aussage, die die Leitlinie der Republik seit Kriegsende reflektierte, kommentierte die Kultusgemeinde lediglich mit Ausrufezeichen in Klammern: „Die jüdischen Forderungen und Ansprüche wurden als nicht aktuell und mit den Grundsätzen der Gleichberechtigung der Staatsbürger vor dem Gesetz (!!!) unvereinbar dargestellt.“ Die Kultusgemeinde berichtete ferner, dass Raab wenige Wochen später im Nationalrat durch den Verband der Unabhängigen, der Vorgängerpartei der FPÖ, „die Rückstellungsbetroffenen“ („das heißt die Ariseure“, fügte richtigerweise die Kultusgemeinde in Klammern hinzu) einlud, „ihrerseits deren Wünsche der Bundesregierung bekanntzugeben“. Die österreichischen Opfer eines gezielten Genozids zu entschädigen, entsprach also nicht dem demokratischen Prinzip der „Gleichberechtigung“, doch sollten die ehemaligen VerbrecherInnen, die in der Zweiten Republik weiterhin ihre rassistische und rechtsextreme Politik betrieben, von der Bundesregierung eine Sonderbehandlung erfahren.82 1953 intensivierte auch Nahum Goldmann, der Präsident des Jüdischen Weltkongresses, zusammen mit dem Joint Distribution Committee, einer der weltweit größten jüdischen philanthropischen Vereine mit Sitz in den USA, und 82 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Tätigkeit [1955], S. 125–126, 128–129.
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mithilfe des Außenministeriums der USA den Druck auf Österreich, um die stockenden Restitutionsverhandlungen voranzutreiben. Im Dezember 1954 erklärte das US-Außenministerium, dass die große Zahl der „ex-österreichischen Jüdinnen und Juden“ und jüdischen Repräsentativkörperschaften in den USA, insbesondere „im Großraum New York“, aus dieser Thematik für die USA einen „inländischen politischen Faktor“ machte.83 Hierin zeigte sich schon früh die transnationale Bedeutung der österreichischen Restitutionspolitik, die über die folgenden Jahrzehnte immer wieder einen rückwirkenden Einfluss innerhalb Österreichs auswirken sollte. Der Vereinigte Exekutiv-Ausschuss kalkulierte, dass sich die Schäden an jüdischen Kulturstätten, die während der Shoah zu „Schauobjekte[n] des Mutes der Nazihorden“ wurden, unter denen betont „einheimische Elemente aktiv beteiligt waren“, alleine in Wien auf etwa 4,4 Millionen Schilling beliefen, wovon die Hälfte wiederum alleine am Währinger Friedhof zu verzeichnen waren.84 Im Juni 1954 fasste Feldsberg infolge einer Verhandlung mit dem Innenministerium in einer Aktennotiz nochmals die gesamten Schäden zusammen: Beim IV. Tor wurde die Zeremonienhalle „durch Sprengungen am 10. November 1938 vollkommen vernichtet, sodas [sic] lediglich die Dachkonstruktion übrig geblieben ist“ und die Seitengebäude abgetragen werden mussten, um deren Einsturz zu verhindern. Zudem wurden Grabsteine umgeworfen, die „gesamte Einrichtung des Zeremoniengebäudes wurde zerstört [und] die vorhandenen Leichenwagen derart zugerichtet, dass eine Verwendung vollkommen ausgeschlossen war“. Beim I. Tor wurden nicht nur die Gebäude „vollkommen zerstört“ (was nicht ganz stimmte), auch die „Schäden an den Grabsteinen auf diesem Friedhof “ waren „unermesslich“. Im Zuge der Ausbaggerung am Währinger Friedhof wurden die betroffenen Grabsteine „zum grössten Teile umgeworfen und auf grössere Haufen zusammengetragen“, die zum Teil bis heute noch bestehen. Ferner erwähnte Feldsberg die Exhumierung von Leichen in etwa 500 Grabstätten (obwohl diese Zahl tatsächlich etwas übertrieben war) zum „Zwecke der Forschung über die Degeneration des Judentums“. Er behauptete, dass die betroffenen Grabsteine „demoliert und vernichtet“ wurden, was wiederum auch nicht ganz stimmt: Wie hier in Kapitel 7 und 8 gezeigt, wurden davon viele von der Kultusgemeinde selbst wieder verwendet. Bezüglich des Friedhofs in der Seegasse behauptete er ebenfalls, dass die Grabsteine „vernichtet“ und die Trümmer „auf dem Zentralfriedhof 4. Tor abgelagert“ wurden, was nur bedingt stimmt. Richtig war dennoch die Feststellung, dass dort die Gräber, also als erkennbare Grabstätten, „dem Erdboden gleichgemacht“ wurden. Von 83 Embacher: Restitutionsverhandlungen mit Österreich, S. 110–119, 139, 151–152, 158. 84 Memorandum über Ansprüche aus dem Titel der zerstörten Friedhöfe sowie geraubten Grabsteine [sic] und vernichtetem Friedhofsinventar, o. D., AIKGW, nicht katalogisierter Bestand.
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den dutzenden Provinzfriedhöfen in Österreich verblieben derweilen meist bloß „überwucherte Flächen“. Daraufhin erkundigte sich das Innenministerium, ob nicht die Wiederherstellung der zerstörten Friedhöfe im Zuge der Wiedergutmachung möglich wäre. In dieser Diskussion wurde seitens der Kultusgemeinde festgestellt, dass eine Wiederherstellung im allgemeinen Sinne nicht in Frage kommen könne. Die Grabhügel auf den einzelnen Friedhöfen existieren nicht mehr, die Friedhofsgrundbücher wurden während der Nazizeit vernichtet, sodas [sic] eine Aufstellung von Grabsteinen auf den einzelnen Friedhöfen ausgeschlossen erscheint.
Die Kultusgemeinde verlangte deswegen nicht „die Wiederherstellung der Friedhöfe“, sondern einen Schadenersatz für die auf allen Friedhöfen erfolgten Zerstörungen. Selbstverständlich wird aus dieser Schadenersatzsumme die Wiederherstellung der Friedhöfe als Kultstätte erfolgen. Man wird bei jedem einzelnen Friedhof dafür sorgen, dass er ordnungsmässig abgegrenzt wird und dass auf dem Friedhof zur Erinnerung an die dort Bestatteten ein gemeinsamer Gedenkstein errichtet wird. Die Pflege und Erhaltung dieser Kultstätten wird Sache der Kultusgemeinden in Österreich sein.
Gleichzeitig wurde grundsätzlich betont, „dass eine Auflassung jüdischer Friedhöfe absolut nicht in Frage“ kam.85 Das Schicksal der Provinzfriedhöfe wird unten eingehender behandelt. Bereits im November 1953 hatte die Kultusgemeinde eine Zusammenfassung der bisherigen Verhandlungen erstellt samt den vorläufigen Vereinbarungen, die noch der Zusage sowohl der Kultusgemeinde wie der Stadt Wien bedurften, jedoch weitestgehend den Konditionen des endgültigen Vergleichs entsprachen. Der Bericht begann mit einer grundsätzlichen Feststellung der Schuld und Verantwortung der Stadt Wien: „Bevor die Details erörtert werden[,] wird prinzipiell festgestellt, dass sämtliche Arisierungen durch die Gemeinde Wien als unredlich im Sinne des 3. Rückstellungsgesetzes anzusehen sind“. Im Gegensatz zum Sachverhalt noch vor wenigen Jahren wurde diese Unredlichkeit nun auch „von der Gemeinde Wien anerkannt.“ Es wurde festgestellt, dass damals die „Zahlungen“ für die „Arisierung“ nicht an die Kultusgemeinde, sondern an die „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ gelangten und somit der weiteren Verfolgung der Judenheiten Europas dienten. Somit waren diese nicht als tatsächlich erfolgte Zahlungen an die Kultusgemeinde zu betrachten. Es wurde festgehalten, dass die „ca. 2000 Leichen“ im südöstlichen Teil des Währinger Friedhofs „gemeinsam mit dem ausgehobenen Erdreich abgeführt 85 Aktennotiz, 4. Juni 1954, AIKGW, nicht katalogisierter Bestand.
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worden [wären], wenn es nicht mit Zustimmung der Gestapo der Kultusgemeinde gelungen wäre, durchzusetzen, dass die durch den Bagger mit dem Erdreich gehobenen Knochenreste der dort Bestatteten eingesammelt“ wurden. Es wurde zudem auf den „Verbauungsplan der Stadt Wien“ aus den frühen 1950er-Jahren verwiesen, wonach das gesamte Friedhofsareal „in einen Park umgewandelt“ werden sollte: Schon bei der ersten Besprechung verlangten die Vertreter der Stadt Wien, dass die Kultusgemeinde ihre Zustimmung erteile, dass diese Parkanlagen errichtet werden. Die Gemeinde Wien ist bereit, die Planierung des ganzen Geländes vorzunehmen und symbolisch an irgendeiner Stelle des Friedhofes durch ein Denkmal das Andenken an diesen Friedhof zu wahren. Die Vertreter der Kultusgemeinde haben diesen Vorschlag aus konfessionellen Gründen abgelehnt.
Scheinbar versuchten die Vertreter der Gemeinde Wien, während der Verhandlungen „darauf hinzuweisen, dass ihnen aufgrund der Gesetze die Möglichkeit zustände, die Kultusgemeinde zu zwingen, der Arrondierung des Friedhofes für Parkzwecke die Zustimmung zu erteilen“. Hierauf antwortete aber die Kultusgemeinde, „dass der Verwaltungsgerichtshof schon einmal in einer solchen ähnlichen Frage eine prinzipielle Entscheidung zu Gunsten der Kultusgemeinde getroffen habe“. Infolge nahmen „die Vertreter der Stadt Wien von ihrer Forderung auf Umwandlung des Friedhofes in einen Park Abstand“, wandelten diese allerdings dahingegen ab, dass sie für die „Auflassung jenes Teiles des Friedhofes, der für die Zwecke des Löschwasserteiches ausgebaggert wurde, eintraten“. Diesem Plan, bei dem die Stadt Wien dieses Grundstück rechtmäßig käuflich erwerben sollte, stimmte die Kultusgemeinde grundsätzlich zu, allerdings unter der Bedingung, „dass die der Gemeinde Wien zu überlassende Fläche nur als Garten- oder Parkanlage benützt werden darf “ – ein wesentlicher Punkt in der späteren Entwicklung am Währinger Friedhof. Der Bericht hielt ferner fest: Aufgrund der wiederholten öffentlichen Rekriminationen über den Zustand des Währinger Friedhofes, insbesondere über die Vernachlässigung des sog. Löschwasserteiches, sah sich die Gemeinde Wien erst vor einigen Monaten veranlasst, den sonst durch die Ausbaggerung der Allgemeinheit zugänglichen aufgelassenen Friedhof gegen die Döblinger Hauptstrasse durch einen Drahtgitterzaun (Kosten: S[chilling] 7.730.–) abzugrenzen.
Die Stadt Wien versuchte zudem, für die Anstellung der Friedhofswärter ab 1942 in den „arisierten“ Friedhöfen in Währing und Flordisdorf von der Kultusgemeinde rückwirkend eine Entschädigung zu erhalten, was die Kultusgemeinde dezidiert ablehnte, da „die beiden Angestellten sich in keiner Weise um die Betreuung des Friedhofes gekümmert“ hatten, sondern „vielmehr ge-
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stattet, dass die Friedhöfe geschändet und die Grabsteine umgeworfen und verschleppt wurden“ und weil „von den beiden Angestellten auf dem Friedhofe keine wie immer geartete Arbeit geleistet wurde“. Ebenfalls verlangte die Stadt Wien rückwirkend für die Wiederaufnahme der Benützung des Friedhofs beim I. Tor seit 1945 insgesamt 600.000 Schilling, was die Kultusgemeinde wiederum ablehnte, da erstens „seitens der Stadt Wien für die administrative Verwaltung des Zentralfriedhofes 1. Tor keinerlei Leistung erbracht wurde“ und zweitens die Stadt Wien „bis zum heutigen Tage“ keinerlei Beitrag zur Instandsetzung dieses Bestattungsraums gemacht hatte, nicht einmal, um das in den Novemberpogromen „zerstörte Gebäude“, also die Zeremonienhalle, instand zu setzen. In Bezug auf den überkonfessionellen Döblinger Friedhof trat seitens der Kultusgemeinde die hier im vorherigen Kapitel besprochene problematische Aneignung von NS-Diskursen auf, als sie behauptete, dass der östliche Teil des Friedhofs „nur für die Beerdigung von Glaubensjuden verwendet“ wurde. Von seinem Ursprung im NS-Sprachgebrauch abgesehen, stimmt die Bezeichnung „Glaubensjuden“ in Bezug auf die hier Bestatteten schon kategorisch nicht, da die betroffenen Grabstätten zum Teil komplett irreligiös gestaltet sind und manchmal sogar innerhalb ein und derselben Familie eine Bandbreite vom Judentum über die Konfessionslosigkeit bis in das Christentum aufweist.86 Bezüglich des Beitrags, den die Kultusgemeinde laut Pachtvertrag von 1891 an die Stadt Wien zu leisten hatte, erklärte Feldsberg in einem Argumentationsmuster, der schon bei der „Arisierung“ des Friedhofs eingesetzt wurde, dass dieser Vertrag aufgrund der veränderten Gegebenheiten am Friedhof „weit überholt“ war. Stellte nämlich „bei Abschluss des Vertrages im Jahre 1888 [sic, 1891] der Zentralfriedhof 1. Tor die Hauptbegräbnisstätte der W[iener] Kultusgemeinde“ dar, so wurde diese Funktion bereits 1917 vom neuen Friedhof beim IV. Tor übernommen. Sämtliche Gebäude beim I. Tor waren zudem „als Super-Ädifikate seit jeher Eigentum der Kultusgemeinde“, weswegen hier keine Rede von einem an die Stadt Wien zu leistenden Beitrag sein konnte. Die Kultusgemeinde erklärte, wenn die Stadt Wien tatsächlich den Pachtvertrag von 1891 mit seinen ursprünglichen Bedingungen wieder in Kraft setzen wollte, dass sie dann auch verpflichtet wäre, alle Schäden zu beseitigen, die seit 1938 am Friedhof beim I. Tor entstanden waren. Doch waren sich Kultusgemeinde und Stadt einig, dass keine von beiden diesen Vertrag wiederbeleben wollte. Die Kultusgemeinde ließ zwar die Eingänge und Fenster in der Zeremonienhalle
86 Bericht, 10. November 1953, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/ Österreich/1/8, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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instand setzen, hatte aber „kein Interesse“ an einer Instandsetzung der Ruinen des Nebengebäudes.87 Der Vergleich wurde offiziell am 4. Juli 1955 unterschrieben, ganze zehn Jahre nach Kriegsende und nur Wochen nach Verkündigung des Österreichischen Staatsvertrags, mit dem die Republik ihre vollständige Unabhängigkeit erlangte.88 Der Vergleich regelte die Restitution neben anderer Liegenschaften der Wiener jüdischen Friedhöfe in Währing, Floridsdorf und beim I. Tor sowie jene in Groß-Enzersdorf und Mödling in Niederösterreich. Im Gegenzug verzichtete die Kultusgemeinde auf die Liebfrauengründe beim IV. Tor sowie auf das etwa 2.500 Quadratmeter große ausgebaggerte Areal im Währinger Friedhof. Für diese zahlte die Stadt Wien eine einmalige Vergütung von jeweils 1,3 Millionen und 87.500 Schilling. Ebenfalls übernahm sie die Kosten für die Instandsetzung der Friedhofsmauer am Währinger Friedhof, wodurch der ausgebaggerte Teil endgültig vom Friedhof abgetrennt wurde. In §8 erklärte die Kultusgemeinde in Bezug auf den abgetretenen Teil „für den Fall einer Umwidmung dieses Liegenschaftsteiles in Bauland und seiner Bebauung durch die Stadt Wien keinerlei Ansprüche an die Stadt Wien zu stellen“. Dieser Punkt sollte später zu heftigen Konflikten innerhalb der Kultusgemeinde führen. Durch den Vergleich wurde bezüglich des Friedhofs beim I. Tor der Pachtvertrag von 1891 endgültig aufgehoben. Dadurch oblag es der Kultusgemeinde, „nunmehr die baulichen und gärtnerischen Anlagen beim Zentralfriedhof 1. Tor zu erhalten“. Als unsichtbare Grenzen dieses weiterhin nicht durch eine Mauer abgetrennten jüdischen Bestattungsraums galten fortan die Hauptwege zwischen den allgemeinen und den jüdischen Gräbergruppen, die auf „einer Entfernung von 1m [Meter] von den äussersten Gräbern der jüdischen Abteilung“ festgelegt wurde. „Auf diese Weise wird den Besuchern der jüdischen Gräber die Möglichkeit gegeben, auf dem der Kultusgemeinde gehörigen Territorium ihre Andacht zu verrichten“. Das eigentliche I. Tor, das heute noch einer der Haupteingänge zum Zentralfriedhof darstellt, zumal das am nächsten der Stadt gelegene, verblieb samt Loge und Verkaufsstände in Obhut der Stadt Wien, genauso wie das XII. Tor, das sich gänzlich in der jüdischen Abteilung am Hauptweg zwischen den Gruppen 51 und 52A befand, jedoch später abgetragen und zugemauert wurde.89 Die weiteren Gebäude, die sich auf dem Areal des jüdischen Friedhofs befanden, also die 1978 abgetragene Zeremonienhalle samt Nebengebäuden, verblieben als „Super-Ädifikate im Eigentum 87 Aktennotiz, 9. April 1954 und Aktennotiz, 20. Mai 1954, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/ Österreich/1/8, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 88 Öffentliche mündliche Verhandlung vor der Rückstellungskommission beim Landesgericht für ZRS Wien, 4. Juli 1955, WStLA, Landesgericht f. Zivilrechtssachen, A29 – RK: 6 RK 488/55. 89 Dieser ist noch auf einem Plan aus dem Jahre 1953 eingezeichnet. Wiener Zentralfriedhof, 1953, ÖNB, KI 104092.
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der Israelitischen Kultusgemeinde Wien“. Die Kriegsgräber in der Gruppe 76B sollten „durch die Stadt Wien aus öffentlichen Mitteln erhalten“ werden, wobei diese augenscheinlich bis in die 1980er-Jahre recht stiefmütterlich behandelt wurden. Die Kultusgemeinde hatte sich schon im Frühsommer 1952 an das Städtische Friedhofsamt gewandt mit der Mitteilung, dass sie sich unmöglich um deren weitere Instandhaltung kümmern konnte und dass das Joint Distribution Committee „vollkommen ausgeschlossen“ hatte, hierfür die Kosten zu übernehmen. Somit bat sie, „von unserer Ausführung Kenntnis nehmen zu wollen“, also mit anderen Worten, um die Instandhaltung seitens der Stadt Wien zu übernehmen.90 Am wichtigsten war schließlich an der Aufhebung des Pachtvertrags, dass somit auch die Bestimmungen wegfielen, „mit welchen sich die Gemeinde Wien das Recht wahrte, den Friedhof auflösen zu können bzw. der Enteignung des Friedhofes zuzustimmen“.91 Mit anderen Worten stellt dieser Friedhof seither das Eigentum der Kultusgemeinde dar. Der Vergleich von 1955 bildete somit im Wesentlichen einen Kompromiss, bei dem die Kultusgemeinde den ausgebaggerten Teil des Währinger Friedhofs im Gegenzug für die Restitution des restlichen Geländes aufgab sowie, noch wichtiger, für die komplette Übernahme in ihre Obhut der jüdischen Abteilung beim I. Tor. Somit waren nun zwar die grundsätzlichen Rechtsverhältnisse dieser Friedhöfe geregelt, jedoch nicht die Frage ihrer Instandsetzung oder dauerhaften Pflege. Die Zugeständnisse, die die Kultusgemeinde beim Währinger Friedhof machte, sollten sich als Flammpunkt in späteren Konflikten innerhalb der jüdischen Gemeinschaft erweisen und längerfristig dazu beitragen, dass dieser verwahrloste Friedhof zu eines der umstrittensten Erinnerungsorte in Österreich in Hinsicht auf die Geschichte des Nationalsozialismus, der Shoah und des jüdischen kulturellen Erbe des Landes wurde. Wie Helga Embacher in einer ausführlichen Studie zur Restitutionsgeschichte in Österreich zeigte, ging die Kultusgemeinde letztendlich diesen Kompromiss ein, um ein kostspieliges Gerichtsverfahren mit möglichem negativen Bescheid zu vermeiden, sowie nicht zuletzt, um der fortschreitenden Verwahrlosung der Friedhöfe seitens der Stadt Wien ein Ende zu setzen. Embacher bezeichnete die Kultusgemeinde zusammenfassend als „Verlierer der ersten Verhandlungsrunde“ 1955, wobei sie die Friedhöfe als besonders enttäuschenden Aspekt des Vergleichs hervorhob. Im Zuge der Verhandlungen hatte die Bundesregierung ein Paket von insgesamt 3,5 Millionen Schilling als „Förderung der Denkmalpflege“ angeboten, ein „schmutziges“ Angebot, wie es der Amtsdirektor der 90 An den Magistrat der Stadt Wien Abteilung 43 – Friedhöfe, 19. Juni 1952, AIKGW, nicht katalogisierter Bestand. 91 Bescheid des Vertreterkollegiums, o. D. und Vereinbarung, 18. Mai 1955, AIKGW, A/VIE/IKG/III/PRÄS/3/1.
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Kultusgemeinde, Wilhelm Krell, bezeichnete, das die Kultusgemeinde kurzerhand abschlug. Die tatsächlichen Kosten für die Instandsetzung nicht nur ihrer Friedhöfe, sondern auch der geschändeten Synagogen und rituellen Gegenstände wurden auf etwa 132 Millionen Schilling geschätzt. Solch dürftige Gesten, die sich bis in den heutigen Tag wiederholen, wurden in späteren Jahrzehnten, als Österreichs mangelnde Bemühungen um eine gerechte Entschädigung ihrer Opfer zunehmend scharf kritisiert wurden, immer wieder seitens der Republik bzw. der Stadt Wien in Abwehr zitiert, als Beispiele ihres vermeintlichen guten Willens. Die begrenzte Hilfsbereitschaft verschiedener Ebenen der österreichischen Politik in den ersten Nachkriegsjahrzehnten müssen im Rückblick jedoch eher als reines Kalkül verstanden werden. Einen umfassenden Vorschlag der Kultusgemeinde für die Restitution und Instandsetzung aller ihrer Friedhöfe hatte die Republik ihrerseits bereits 1953 abgeschlagen. Wie das Innenministerium dies rechtfertigte, konnte der Republik eine Ersatzpflicht für [die Schändung der jüdischen Friedhöfe] nicht angelastet werden, da sich diese Ereignisse während der Zeit des nationalsozialistischen Regimes abgespielt haben und zum großen Teil auch Kriegsschäden darstellen, deren Ersatz mangels gesetzlicher Bestimmungen abgelehnt werden muß.
Wie im vorliegenden Werk hinlänglich aufgezeigt, hatte es sich zumeist um österreichische Instanzen gehandelt, die diese Räume raubten und schändeten, sie nach 1945 weitgehend in ihrem Besitz behielten und deren weiteren Verfall zuließen oder sogar vorantrieben. Diese Dynamik zog sich noch über Jahre weiter, wie Embacher ausführlich zeigte, bis die Republik schließlich 1960 den Zuschuss von 30 Millionen Schilling leistete, aus dem unter anderem die Zeremonienhalle beim IV. Tor instand gesetzt wurde. Dabei war die Argumentation der Kultusgemeinde interessant, dass der Staat ja seit eh und je die katholische Kirche den Erhalt ihrer „Kirchen, Pfarrhöfe, Klostergebäuden etc.“ finanziell unterstützte. Folgerichtig interpretierte Embacher den Erlass des „Bundesgesetzes vom 26. Oktober 1960 über die finanziellen Leistungen an die israelitische Religionsgemeinschaft“, mit dem die 30 Millionen Schilling ausbezahlt wurden, als Gleichstellung der Kultusgemeinde mit den christlichen Kirchengemeinden in Österreich. Nichtsdestotrotz: „Im Unterschied zur [Bundesrepublik Deutschland] lehnte Österreich unter Berufung auf die Opferthese die Übernahme der Pflege von jüdischen Friedhöfen ab“, wie Embacher folgerte, sodass die Kultusgemeinde „sich zum Verkauf von Liegenschaften gezwungen [sah], die ihr in Rückstellungsverfahren zugesprochen wurden“.92 Wieder einmal war also diese 92 Alle Zitate in der Reihenfolge ihrer Nennung: Embacher: Restitutionsverhandlungen mit Österreich, S. 304, 182, 233–240, 242–243, 271.
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Hilfeleistung seitens der Republik bloß eine Übergangslösung: Die Frage der umfassenden Instandsetzung und dauerhafte Pflege der jüdischen Friedhöfe Österreichs war nach 1960 ebenfalls nicht geklärt. Parallel zu den engeren Verhandlungen über Restitution und Instandsetzung der jüdischen Friedhöfe in Wien vollzog sich in den ersten zehn Jahren nach Kriegsende eine Diskussion zwischen der Bundesregierung und der Kultusgemeinde über das Schicksal der zahlreichen jüdischen Provinzfriedhöfe sowie der Massengräber von zumeist ungarisch-jüdischen ZwangsarbeiterInnen, deren Schicksal sich die Wiener Kultusgemeinde als wichtigste jüdische Repräsentativkörperschaft in der Zweiten Republik annahm. Durch die Auflassung und Abtragung ihrer Denkmäler waren die Provinzfriedhöfe oft nicht mehr als Bestattungsräume zu erkennen, die anonymen Massengräber sowieso nicht. Bestrebungen um eine Kennzeichnung insbesondere der Massengräber waren also von Anbeginn eng mit der Aufarbeitung der dort begangenen Verbrechen verbunden. Wie Simon Wiesenthal 1966 in seinem berüchtigten „Memorandum“ über die Verwicklung von ÖsterreicherInnen in die NS-Verbrechen bemerkte, wurden ja schließlich die abertausenden Opfer der Todesmärsche und der Endphasenverbrechen, die in den Massengräbern verscharrt lagen, von ÖsterreicherInnen ermordet, während die jüdischen Friedhöfe des Landes, wie hinlänglich aufgezeigt, größtenteils von lokalen österreichischen Instanzen geraubt, geschändet und zerstört wurden.93 In den Verhandlungen zeigten sich die Bundesregierung, spezifisch in Form des Innenministeriums, sowie zahlreiche Gemeinden in verschiedenen Bundesländern mitunter entgegenkommender als es die Stadt Wien in diesen Jahren war. Durch die Bemühungen der Kultusgemeinde, diese unterschiedlichen Bestattungsräume instand zu setzen und zu kennzeichnen bzw. die Leichen in den Massengräber exhumieren zu lassen und auf bestehenden jüdischen Friedhöfen in ebenfalls entsprechend gekennzeichneten Grabstätten wieder zu bestatten, kristallisierte sich schließlich ein über die österreichische Landschaft ausgebreitetes Erinnerungsgeflecht in Bezug auf die Shoah, die Vernichtung jüdischen Lebens und die Schändung jüdischen kulturellen Erbes heraus. Dabei kamen manchmal aber auch solche Kontroversen um die Frage der „Jüdischkeit“ und die Deutung des Genozids auf, die hier bereits in Bezug auf das Erinnerungsgeflecht beim IV. Tor im vorherigen Kapitel besprochen wurden. Die pietätlose Weise, auf die während der Shoah die Leichen der Opfer behandelt wurde, entweder, indem sie anonym in Massengräbern bestattet oder einfach eingeäschert, also sprichwörtlich „vernichtet“ wurden, bereitete den überlebenden Angehörigen nicht nur Kummer, sondern sorgte auch unter
93 Wiesenthal: Memorandum, S. 211.
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den religiösen Judenheiten der Nachwelt für angespannte Auseinandersetzungen um die Frage des Umgangs mit jenen irdischen Überresten, die nicht in Flammen und Rauch aufgegangen waren. Wie der polnische Rabbiner Shimon Efrati nach der Shoah feststellte, ließ das „schiere Ausmaß“ des Genozids wenig Raum für die ordentliche Ausführung einer Bestattung nach religiösem Ritus. Er plädierte für die kategorische Exhumierung von Leichen aus Massengräbern und ihre Überführung auf jüdischen Friedhöfen, wonach die Gruben nicht mehr als Grabstätten zu gelten hatten.94 Tatsächlich fanden unmittelbar nach Kriegsende weitreichende Exhumierungen in Wien und Umgebung statt, nicht nur aufgrund des Verscharrens von ermordeten Opfern, sondern weil in den Wirren der letzten Kriegswochen sogar „normale“ Bestattungen nicht mehr möglich waren. Am 19. und 20. Juli wurden beispielsweise zehn Leichen von jüdisch-ungarischen ZwangsarbeiterInnen bei der Reichsstraße in der Nähe von Engerau/Petržalka in Bratislava geborgen, die Ende März bei einem Todesmarsch umgekommen und dort bestattet worden waren. Diese wurden am 27. Juli beim IV. Tor wiederbestattet, eine Grabstelle wird in den Akten aber nicht genannt. Es ist anzunehmen, dass diese Opfer wie viele ihrer LeidensgenossInnen in die Massengräber in der Gruppe 22 gelangten. Am 5. bzw. 7. November wurden jeweils zwei Leichen von jüdischen Verstorbenen im Augarten geborgen – Beispiele der notdürftigen Bestattungen der letzten Kriegstage – die allesamt beim IV. Tor bestattet wurden.95 In ihrem ersten Tätigkeitsbericht vermerkte die neuetablierte Kultusgemeinde 1948, dass sie damals bereits zahlreiche „Massengräber der aus Ungarn verschleppten Personen exhumiert und auf jüdischen Friedhöfen wiederbestattet“ hatte, nämlich 38 Leichen, die in Sulzbach bei Pottenstein in Niederösterreich geborgen und im jüdischen Friedhof in Baden bei Wien „nach jüdischem Ritus in Anwesenheit aller Behörden von Baden und dem Präsidiumsvertreter der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien“ wiederbestattet wurden, sowie 15 Leichen in Thenneberg, ebenfalls im Bezirk Pottenstein, die beim IV. Tor wiederbestattet wurden.96 Auch hier wurde nicht angegeben, wo diese Wieder94 Efrati, Shimon: On the Status of Mass Graves and Execution Sites [1961], in: Kirschner, Robert (Hg.): Rabbinic Responsa of the Holocaust Era, New York 1985, S. 148–151. 95 O. T., o. D., AIKGW, A/VIEIKG/II/BUCH/FH/FRIEDHOFSANGELEGENHEITEN, zit. in USHMM, AJCV-VCC. Vgl. zum Todesmarsch aus Engerau Kuretsidis-Haider, Claudia: 14. Gedenkfahrt nach Engerau. 30. März 2014, http://www.nachkriegsjustiz.at/service/archiv/ Engerau_Endbericht_2014.pdf, S. 20–22, 24, letzter Zugriff: 31. August 2020. In den Akten der Kultusgemeinde war nur von neun Leichen die Rede, doch werden in diesem Bericht zeitgenössische Quellen mit den Namen von zehn Verstorbenen zitiert. 96 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Bericht [1948], o. S., Abschnitt „Friedhof und Beerdigungswesen“.
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bestattungen stattfanden, doch ist wieder die Gruppe 22 die wahrscheinlichste Grabstelle. Dort wurden nämlich 1974 im Zuge der Gedenkveranstaltung zum Jahrestag der Novemberpogrome, die damals noch jährlich am Zentralfriedhof abgehalten wurde, einige „Mazeves [Grabsteine] der Märtyrergräber“ enthüllt, wie eine Annonce in Die Gemeinde verkündete.97 Viele der Leichen konnten nicht identifiziert werden und erhielten somit symbolische bzw. kollektive Mahnmale. „Für einige, deren Namen bekannt sind, wurden separate Tafeln und Grabsteine aufgestellt“, hieß es in einem weiteren Bericht.98 Ein Massengrab in dieser Gruppe enthält beispielhaft folgende allgemeine und undatierte Inschrift: „[Hebräisch:] Pei-nun [Hier sind begraben; Deutsch:] als Märtyrer exhumiert und zur letzten Ruhe wieder bestattet Ignatz Weisz, Malvine Weisz, Moritz Neumann, Dr. Moritz Gross. Israelitische Kultusgemeinde Wien, Chewra Kadischa.“ Meist wurden die aus Massengräbern exhumierten Leichen in den nächstgelegenen jüdischen Friedhof überführt, so beispielsweise einige aus Grabstätten, die 1949 in verschiedenen Außenlagern vom Konzentrationslager Mauthausen in Oberösterreich aufgefunden wurden, die im jüdischen Friedhof in Linz wiederbestattet wurden.99 Ein inzwischen berüchtigter Fall bezieht sich auf ein Massengrab in den Nachbargemeinden Persenbeug/Hofamt Priel, wo Anfang Mai 1945 nach heutigem Wissensstand 228 ZwangsarbeiterInnen erschossen und verscharrt wurden. Unmittelbar nach Kriegsende ließ der Bürgermeister von Persenbeug, Josef Haider, am Massengrab eine Gedenktafel errichten, der verkündete: „Hier ruhen 223 von SS ermordete Juden“, wobei ungewöhnlicherweise für diese Zeit sowohl Täter und Opfer explizit genannt wurden. Laut dem Amtsdirektor der Kultusgemeinde, Wilhelm Krell, musste Haider im Sommer 1952 diese Gedenktafel „über Anordnung der [niederösterreichischen] Landesregierung entfernen. Die [Landesregierung] hat dann selbst einen Stein setzen lassen mit folgender Inschrift: Kriegergrab aus 1945 / für 223 unbekannte ungarische Israeliten“, womit die historischen Gegebenheiten verschleiert wurden.100 1964 wurden die Leichen aus der Grabstätte schließlich exhumiert und auf den jüdischen Friedhof in St. Pölten überführt.101 Am 3. Mai 2015, dem 70. Jahrestag des Massakers, wurde dort ein kollektiver Grabstein mit den Namen der Opfer enthüllt.102 Dies ist ein frühes Beispiel der zum Teil 97 Vgl. die Anzeige in: Die Gemeinde, 7. Oktober 1974, S. 3. 98 Gedenkreden zum 10. November 1938, in: Die Gemeinde, 4. Dezember 1974, S. 9. 99 Gräber für die jüdischen Naziopfer in Linz, in: Die Gemeinde, Dezember 1949, S. 13. 100 An Herrn Dr. Ernst Feldsberg, 7. Juli 1952, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/Österreich/2/8, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 101 223 jüdische Märtyrer finden ihre ewige Ruhestätte, in: Die Gemeinde, 23. April 1964, S. 1. 102 Vgl. Das Massengrab für die 228 Opfer von Hofamt Priel, http://www.juden-in-st-poelten.at/de/ns-zeit/massengrab-hofamt-priel, letzter Zugriff: 31. August 2020.
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sehr unterschiedlichen Auseinandersetzungen auf lokalen Ebenen mit den NS-Massenverbrechen seitens der österreichischen Politik. Ein verstörender Fall, der noch im Kontext der Wiederbestattung der Opfer erwähnt werden soll, ist die Errichtung 1953 eines „tragischen Gedenksteins“ für die im jüdischen Friedhof in Salzburg bestattete Seife, die angeblich aus den Leichen von jüdischen Konzentrationslageropfern hergestellt wurde.103 Unternahm zuerst die Kultusgemeinde auf eigene Faust die Identifizierung, Exhumierung und Umbettung der Massengräber, so zeigte bald das Innenministerium ein Entgegenkommen, indem es die Verantwortung für diese Grabstätten aufgrund §6 (c) des oben besprochenen Kriegsgräberfürsorgegesetzes von 1948 übernahm.104 Als das Thema 1954 im Zuge der Verhandlungen mit dem Innenministerium bezüglich der Instandsetzung der zu restituierenden jüdischen Friedhöfe in Wien aufkam, war „ein Teil der Massengräber bereits exhumiert und die Leichen in geschlossene Friedhöfe überführt“ worden. Die Kultusgemeinde forderte zuerst, dass auch bei den restlichen Massengräbern so vorgegangen werde. Auf den Hinweis des Innenministeriums, dass das Kriegsgräberfürsorgegesetz deren Unantastbarkeit rechtlich gewährleistete, erwiderte Feldsberg – in stillschweigender Anspielung nicht nur auf die ursprüngliche Schändung der Friedhöfe seitens vorwiegend österreichischer Instanzen, sondern auch auf den fortdauernden Antisemitismus unter den politischen Eliten der Zweiten Republik – dass er dem Nationalrat, der dieses Gesetz verabschiedet hatte, nicht vertraue, dieses später nicht zu widerrufen. Nur die Kultusgemeinde konnte Feldsbergs Auffassung nach die immerwährende Erhaltung dieser Grabstätten garantieren.105 Aufgrund der historischen Umstände – viele der Massengräber entstanden in chaotischen Endphasenverbrechen bzw. wurden deren Standorte von den einstweiligen TäterInnen sowie von lokalen nichtjüdischen ZeugInnen nach Kriegsende verschwiegen – verfügte die Kultusgemeinde allerdings nicht über ausreichende Informationen, um die Massengräber überhaupt restlos zu identifizieren. Somit erklärte das Innenministerium, dass sie sich bei den jeweiligen Landesregierungen über deren Wissensstand erkundigen werde. Zudem erklärte sie sich bereit, die Kosten der Exhumierungen zu decken, während die Kultusgemeinde „die Obsorge für die Erhaltung dieser Gräber“ übernehmen sollte. Gegen Ende der Verhandlung „wurde noch die Frage erörtert, wer als Jude zu gelten habe“, also wer aus diesen Massengräbern exhumiert und auf einen jüdischen Friedhof überführt werden sollte – eine Frage von bedeutender 103 Ein tragischer Gedenkstein, in: Iskult – Presse – Nachrichten, 4. November 1953, S. 2. 104 Siehe auch Massengräber und Begräbnisstätten jüdischer Naziopfer in Österreich, in: Iskult – Presse – Nachrichten, 30. Juni 1954, S. 3–4. 105 Diese Position wurde auch zur offiziellen Leitlinie der Kultusgemeinde. Vgl. Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Tätigkeit [1964], S. 181.
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Tragweite, da sie sich schließlich auch auf die Frage bezog, wer von der Kultusgemeinde als „jüdisch“ definiert wurde und somit als zur Opfergemeinschaft zugehörig betrachtet werden sollte. Feldsberg verkündete charakteristisch, dass nur solche Verstorbene betroffen seien, „welche mosaischen [archaisch: jüdischen] Glaubens sind. Die Rassentheorie gibt es nicht mehr. Wer also nach Hitlergesetzen wohl als Jude gelten würde, aber konfessionell dem Judentum nicht angehört, kommt für eine Wiederbestattung auf einem jüdischen Friedhof nicht in Frage“.106 Unbesprochen blieb hier die Problematik, wie das religiöse, kulturelle oder gar familiäre Zugehörigkeitsgefühl der Toten – überhaupt die namentliche Identität der anonym bestatteten Leichen – nach einem fast jahrzehntelangen Verwesungsprozess festzustellen sei. Die Leichen wurden ja nicht in irgendeiner Ordnung in die Schachtgräber geworfen, und es wurden keine Beerdigungsprotokolle geführt. Diese Thematik spiegelt die allgemein innerhalb der Kultusgemeinde betriebene und hier im vorherigen Kapitel geschilderte Bestattungspolitik dieser Jahre, die nicht zuletzt in wiederholten gerichtlichen Verhandlungen mündete. Auch in Bezug auf die Massengräber muss Feldsbergs Politik als polarisierend aufgefasst werden: War nämlich seine Bestrebung, die „Rassentheorie“ des Nationalsozialismus für null und nichtig zu erklären, verständlich wie lobenswert, so rührten seine Segregationswünsche jedoch zugleich von einem Bestreben, die Friedhöfe der Kultusgemeinde „rein jüdisch“ zu halten, wobei tendenziöse Definitionen der „Jüdischkeit“ betätigt und die Wünsche der Verstorbenen und ihrer Angehörigen völlig außer Acht gelassen wurden. Mit diesem Beschluss wären ja auch unzählige Verstorbene, die zwar nicht religiös waren, aber gut möglich eine wie auch immer geartete „jüdische Identität“ besaßen, einfach aus der jüdischen Opfergemeinschaft ausgeschlossen. Die Opfer konnten auch nicht im Nachhinein befragt werden, inwiefern sich ihr Zugehörigkeitsgefühl möglicherweise durch die Verfolgungserfahrung wandelte. Im Falle der Überlebenden bzw. der Geflüchteten lässt sich jedoch sehr wohl eine Erstarkung der eigenen „Jüdischkeit“ infolge der Shoah konstatieren. Man denke beispielhaft an den Komponisten Arnold Schönberg, der bereits 1898 zum evangelischen Glauben übergetreten war, jedoch umgehend nach der NS-Machtübernahme 1933 zurück zum Judentum konvertierte (schließlich aber auch nicht in einem jüdischen Friedhof bestattet wurde). So kann nicht ausgeschlossen werden, dass Menschen, die sich früher nicht zugehörig fühlten, vielleicht sogar getauft waren, durch ihre Verfolgung ein jüdisches Zugehörigkeitsgefühl entwickelten oder wiederentdeckten. Aus den Akten geht nicht hervor, ob und wie diese Thematik bei den Exhumierungen konkret verhandelt wurde, doch lässt sich
106 Aktennotiz, 4. Juni 1954, AIKGW, nicht katalogisierter Bestand.
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vermuten, dass die Anonymität sowie der langjährige Verwesungsprozess eine solche Kategorisierung der Leichen schließlich ausschlossen. Der Umgang mit den Massengräbern stellt einen ungewöhnlichen Aspekt in der Nachkriegsgeschichte bezüglich jüdischer Grabstätten in Österreich dar, da sich die Kultusgemeinde hier ausnahmsweise auf den guten Willen und die proaktive Hilfsbereitschaft verschiedener österreichischer Instanzen verlassen konnte. Das Presseorgan Iskult – Presse – Nachrichten berichtete bereits im März 1954: In vorbildlicher Zusammenarbeit der Landesregierungen, des „[Österreichischen] Schwarzen Kreuzes“, der Kultusgemeinden und der Flüchtlingskomitees wurden die Massengräber geordnet, in vielen Fällen die Toten exhumiert und dort wo es nötig war auf zentralen KZ-Friedhöfen oder Massengräbern beigesetzt und auch Gedenksteine aufgestellt.
Allerdings wurde auch auf „berechtigte Vermutungen“ verwiesen, „dass sich ausser diesen Massengräbern noch welche befinden, in Wäldern und auf Feldern, und dass oft die Bauern, um dieses kleine Grundstück nicht zu verlieren, über diese Gräber Stillschweigen bewahrt haben“.107 Zudem beschwerte sich die Kultusgemeinde über die gängige Praxis des Österreichischen Schwarzen Kreuzes (ÖSK), Soldatenfriedhöfe und KZ-Friedhöfe gleichermaßen als „Kriegsgedächtnisstätten“ zu bezeichnen, was die Redaktion als Gleichstellung der TäterInnen und Opfer auffasste und in bewusster Anlehnung an NS-Diskurse als unhaltbare „Gleichschaltung“ der Erinnerung bezeichnete.108 Beim ÖSK handelt es sich um einen bereits nach dem Ersten Weltkrieg gegründeter Veteranenverein, der sich im Auftrag der Republik um die Kriegsgräberfürsorge in Österreich sowie um österreichische Kriegsgräber im Ausland kümmert und in Bezug auf jüdische Grabstätten seit den 1980er-Jahren vorbildliche Arbeit geleistet hat, wie unten besprochen wird. Im Sommer 1954 wurde geschätzt, dass sich noch um die 165 Massengräber über den Osten und der Mitte Österreichs erstreckten. Es berichtete das Presseorgan Iskult – Presse – Nachrichten, dass Angehörige die weitere Exhumierung der Opfer verlangten, die noch in Massengräbern verscharrt lagen.109 Wie aus erhaltenen Akten im Kultusgemeindearchiv hervorgeht, bezog sich dieser Bericht spezifisch auf eine Anfrage eines Ladilaus Blahm aus Novi Sad – damals in Jugoslawien, heute in Serbien, während der Shoah von Ungarn besetzt – die 107 Die jüdischen Friedhöfe in Österreich, in: Iskult – Presse – Nachrichten, 10. März 1954, S. 5–8. 108 Gleichschaltung der KZ-Friedhöfe, in: Iskult – Presse – Nachrichten, 31. Mai 1955, S. 12. 109 Massengräber und Begräbnisstätten jüdischer Naziopfer in Österreich, in: Iskult – Presse – Nachrichten, 30. Juni 1954, S. 3–4.
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Leiche seiner Schwiegermutter Leona Hirschl, geborene Spitzer, exhumieren und nach Novi Sad überführen zu lassen. Blahm wurde 1944 zusammen mit seiner Schwiegermutter im Zuge der Deportation der jüdischen Bevölkerung aus dem damaligen ungarischen Herrschaftsgebiet nach Österreich verschleppt, wo sie in ein Zwangsarbeitslager im niederösterreichischen Deutsch-Wagram, unweit des Ankunftsbahnhofs in Strasshof an der Nordbahn, eingeliefert wurden. Dort verstarb Leona Hirschl im Winter 1944 aufgrund der schrecklichen Lebensbedingungen im Alter von 81 Jahren und wurde in einem Massengrab hinter dem katholischen Friedhof von Strasshof verscharrt.110 Nach der Publikation des oben genannten Berichts richtete Blahm ein Schreiben an die Redaktion, in der er die Hintergründe zu seinem Begehren erläuterte, die Leiche seiner Schwiegermutter zu bergen. Nach ihrer Bestattung, als Blahm noch im Lager interniert war, versicherte ihm scheinbar der Friedhofswärter in Strasshof, der „sich uns Juden gegenüber stets freundlich benahm“ und ihnen „hilfreiche Dienste leistete“, dass er jede Grabstelle wieder identifizieren könne, wenn man in Zukunft eine bestimmte Leiche wieder bergen wollte. Dies hatte Blahm „nach Rückkehr aus unserer Deportation im Jahre 1945“ bereits im Falle seines Sohns Otto und zwei dessen Bekannten, Franz Kardo und Rudolf Grün, bewirken können, die alle am 27. Oktober 1941 ermordet und in einem serbischen Friedhof verscharrt wurden, bis Blahm ihre Leichen auf den jüdischen Friedhof in Novi Sad überführen ließ. Dies wollte er nun auch im Falle der Leiche seiner Schwiegermutter vornehmen, sprich: sie nach Hause, in die „Grabstätte ihrer Väter“ überführen.111 In einem internen Schreiben an die Amtsdirektion erklärte Ernst Feldsberg, dass eine Exhumierung dieses Massengrabs unangebracht sei, da hier auch „Leichen von Ukrainern“ lagen, womit er nichtjüdische Verstorbene meinte, bzw. Menschen, die nach Feldsbergs streng orthodoxen Ansichten nicht jüdisch waren. Anscheinend wollte Feldsberg nicht das Risiko eingehen, „nichtjüdische“ Leichen aus dieser „gemischten“ Grabstätte auf einen jüdischen Friedhof überführen zu lassen.112 Im Frühjahr 1955 ersuchte er dennoch zweimal von der Stadtverwaltung in Strasshof Informationen über das Massengrab bzw. über eine mögliche Exhumierung, erhielt aber beide Male keine Antwort, woraufhin er sich an die niederösterreichische Landesregierung wandte und sie um
110 An das Bürgermeisteramt in Strasshof, 27. Juli 1954, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/Österreich/2/8, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 111 Abschrift, 30. November 1954, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/Österreich/2/8, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 112 An die Amtsdirektion, 4. November 1954, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/Österreich/2/8, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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Intervention bat.113 Dies glückte anscheinend, denn wenig später richtete er an Ladilaus Blahm ein Schreiben, um ihn von der Sachlage zu informieren. Darin behauptete er, dass es überhaupt schwierig sei, die genauen Grabstellen von verstorbenen jüdischen ZwangsarbeiterInnen festzustellen aufgrund des weitgreifenden Personalwechsels, der seit 1945 sowohl in der Stadt- wie in der Friedhofsverwaltung stattgefunden hatte. Die Stadtverwaltung in Strasshof hatte mitgeteilt, dass in ihrem Sprengel über 600 Leichen in Massengräbern verscharrt waren, aber dass genaue Informationen hierzu fehlten. Abgesehen davon, dass bei anonymen Massengräbern die genaue Grabstelle einer einzigen Leiche zu eruieren an das Unmögliche grenze, verwies die Stadtverwaltung darauf, wie Feldsberg hier zusammenfasste, dass „durch die Tatsache, dass die Beerdigung ohne Särge erfolgte, die in einem Massengrab bestatteten Leichenreste derart untereinander durch die chemischen Vorgänge im Erdreich vermengt wurden, dass eine Exhumierung bestimmter Knochen ganz ausgeschlossen ist“. Einerseits empfahl Feldsberg demnach, „das Andenken der Frau Leona Hirschl dadurch zu ehren, dass Sie auf der Grabstätte eine Gedenktafel errichten“, verwies aber zugleich auf das Vorhaben der Kultusgemeinde, das gesamte Massengrab in Strasshof zu exhumieren und auf einem jüdischen Friedhof wieder bestatten zu lassen, weshalb er Blahm riet, kein aufwendiges Denkmal errichten zu lassen. Seine wenige Monate zuvor ausgedrückten Vorbehalte bezüglich etwaiger „Leichen von Ukrainern“ in diesen Grabstätten erscheinen jedoch nicht weiter in diesen Aktenstücken.114 Einige Tage später untermauerte die niederösterreichische Landesregierung in einem Schreiben an die Kultusgemeinde die Feststellung, dass „eine Exhumierung der sterblichen Überreste von Frau Leona Hirschl, geborene Spitzer (1863–1944), aus dem Gemeinschaftsgrab Nr. 45 des Gemeindefriedhofes Strasshof kaum möglich erscheint“.115 Es gab aber nachweislich auch vergleichbare Anfragen nach individuellen Umbettungen, die die Kultusgemeinde bewilligte, so beispielsweise im Fall der Grabstätte des 1944 im Zwangsarbeiterlager in der Viehofner Au bei St. Pölten verstorbenen Iso (Iszo) Potasman, dessen in Israel wohnender Sohn seine Überführung auf den jüdischen Friedhof in Wien anforderte. Dies bewilligte die Kultusgemeinde aufgrund der „äusserste[n] Gefahr, dass dieses Grab verfällt“
113 An das Amt der niederösterr. Landesregierung, 9. Februar 1955, AIKGW, A/VIE/IKG/IIII/LG/diverse Adressen/Österreich/2/8, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 114 An Herrn Ladilaus Blahm, 14. März 1955, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/Österreich/2/8, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 115 An die israelitische Kultusgemeinde, 24. März 1955, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/Österreich/2/8, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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und von der Stadtverwaltung in St. Pölten aufgelassen werde.116 In diesem Fall gab es vermutlich ausreichende Dokumentation, um die Identifizierung der spezifischen Grabstelle bzw. der entsprechenden Leiche zu ermöglichen. Die neue Grabstelle in Wien ist hingegen in der Friedhofsdatenbank nicht verzeichnet. Ende 1969 zitierte Die Gemeinde den Beschluss eines bundesdeutschen Gerichtshofs, der das Ansuchen einiger französischer Familien ablehnte, die Leichen ihrer Angehörigen aus dem jüdischen Friedhof im ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen zu exhumieren, da angeblich das jüdische Religionsgesetz vorschreibt, die Totenruhe in jenen Fällen zu respektieren, wo die Leichen bereits in einem jüdischen Bestattungsraum liegen – eine tendenziöse Auffassung. Dieser Hinweis wurde vermutlich deswegen im Presseorgan der Kultusgemeinde abgedruckt, weil der Kultusvorstand mit diesem Standpunkt übereinstimmte. Einmal von der Tatsache abgesehen, dass Umbettungen von einem jüdischen Friedhof auf einen anderen sehr wohl geschehen, auch in Wien, veranschaulicht dieser Beschluss ferner eine bedenkliche Bevorzugung seitens der laizistischen Justiz von orthodox-religiösen Standpunkten über die Wünsche der nächsten Angehörigen, die die Heimführung der Leichen wünschten und nicht ihre Bestattung am fernen Tatort.117 Überhaupt zeigen diese Fälle auf, wie sich die Frage des pietätvollen Umgangs mit den zunächst anonymen Massengräbern ermordeter Opfer mit religionspolitischen Konflikten vermengte, sowie die Tatsache, dass sich von Fall zu Fall recht widersprüchliche Aussagen und Handlungen seitens der Kultusgemeinde konstatieren lassen, obgleich sie angeblich stets in Übereinstimmung mit dem „jüdischen Religionsgesetz“ handelte. Diese Feststellung zeigte sich auch daran, dass schließlich nicht alle Massengräber in Österreich exhumiert wurden, obwohl dieser Umgang wiederholt seitens der Kultusgemeinde als religiöses Gebot hervorgehoben wurde. Es gab auch solche, die als Grabstätten belassen, umzäunt und mit Denkmälern versehen wurden, so beispielsweise das Massengrab am Präbichl bei Eisenerz in der Steiermark, in dem über 250 Opfer verscharrt liegen, die durch den lokalen „Volkssturm“ massakriert wurden.118 Ein weiteres Beispiel ist das noch größere Massengrab im niederösterreichischen Felixdorf, in dem bis zu 2.000 im dortigen Zwangsarbeitslager unter elenden Bedingungen Verstorbene verscharrt liegen. Dort errichtete die Kultusgemeinde Wien im Herbst 1948 ein 116 An das Friedhofsamt, 28. November 1956 und An Herrn Ing. Potasman, 31. Mai 1957, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/Österreich/2/8, zit. in USHMM, AJCVVCC. 117 Jüdischer KZ-Friedhof in Bergen-Belsen, in: Die Gemeinde, 3. Dezember 1969, S. 5. 118 Denkmal- und Gräbereinweihung in der Steiermark, in: Die Gemeinde, Oktober 1948, S. 15.
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Denkmal.119 Im Herbst 1956 ließ die Stadtverwaltung das Massengrab instand setzen, allerdings auf Kosten der Kultusgemeinde.120 In einer „sicherlich unvollständige[n] Liste“ werden auf der Website der Kultusgemeinde etliche weitere Beispiele im Burgenland, in der Steiermark und in Nieder- wie Oberösterreich aufgezählt, von denen manche aber in späteren Jahrzehnten zur Gänze oder zum Teil doch exhumiert wurden.121 Die Tatsache, dass noch Jahrzehnte nach Zerschlagung des Nationalsozialismus Massengräber in Österreich aufgefunden wurden, zeugt vom Ausmaß der Endphasenverbrechen, was wiederum von der begeisterten Hingabe vieler nichtjüdischer ÖsterreicherInnen zum NS-Verbrecherregime bekundet, die proaktiv ihre hilflosen Opfer massakrierten, obwohl – oder genau weil – sie wussten, dass der Krieg innerhalb weniger Tage vorbei sein würde. Diese beschämende Episode der österreichischen Zeitgeschichte, die eindringlich die unmittelbare Schuld unzähliger ÖsterreicherInnen an den Verbrechen des Nationalsozialismus zur Schau stellt, zog sich bis in die Nachkriegszeit herein, wie der Fall des Massakers von Rechnitz im Burgenland zeigt: Bis heute konnte der Standort des Massengrabs, in dem die Leichen von geschätzt zwischen 180 und 200 ermordeten ZwangsarbeiterInnen verscharrt sind, nicht identifiziert werden, da sämtliche TäterInnen und ZeugInnen, inklusive der Lokalbevölkerung, zu diesem Verbrechen schwiegen.122 Infolge der Errichtung einer Gedenktafel auf einem Massengrab am jüdischen Friedhof im burgenländischen Deutschkreutz im Jahre 1974, in dem die Opfer eines Massakers vom Dezember 1944 verscharrt sind, betitelte Die Gemeinde treffend ihren Bericht: „Es nimmt kein Ende…“.123 Noch im Jahre 1995 wurden in Deutsch Schützen sowie in Schattendorf, beide ebenfalls im Burgenland, Massengräber von ermordeten ZwangsarbeiterInnen aufgefunden, die im Folgejahr von der Kultusgemeinde Wien als Gedenkstätten hergerichtet wurden.124 Der Historikerin Tina Walzer zufolge konnten bis 2011 insgesamt 233 Massengräber identifiziert werden, von denen lediglich 58 komplett exhumiert und aufgelas-
119 Zweitausend jüdische Naziopfer finden ihre letzte Ruhestätte, in: Die Gemeinde, Dezember 1948, S. 11. Vgl. die photographischen Aufnahmen in DÖW, 4135. 120 An das Friedhofamt, 25. Oktober 1956, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/Österreich/2/8, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 121 Massengräber, https://www.ikg-wien.at/friedhoefe-massengraeber/#massengrab, letzter Zugriff: 31. August 2020. 122 Vgl. Pollack, Martin: Kontaminierte Landschaften, St. Pölten/Salzburg/Wien 2014, S. 34–36. 123 Es nimmt kein Ende…, in: Die Gemeinde, 8. Mai 1974, S. 19. 124 Weihe für Grabmal ermordeter jüdischer Zwangsarbeiter, und Schattendorf Grenzstein B 18/4, in: Die Gemeinde, 29. Juli 1996, S. 14.
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sen wurden.125 Die Erforschung von und Suche nach den Massengräbern der Endphasenverbrechen laufen heute noch. Ein gänzlich anderer Fall von Shoah-bezogenen Exhumierungen geschah am Friedhof beim IV. Tor in den Gruppen für jene zwischen 1941 und 1945 aufgrund einer Verordnung der NS-Stadtverwaltung als „NichtarierInnen“ Bestatteten: Bis 1951 wurden 140 dieser 765 größtenteils christlichen Verstorbenen auf Wunsch ihrer Angehörigen exhumiert und auf nichtjüdische Friedhöfe überführt, eine aussagekräftige Negierung der vom Nationalsozialismus aufgezwungenen Zugehörigkeitskategorien.126 Ein früher Tätigkeitsbericht der Kultusgemeinde führte diese allerdings als „Nichtglaubensjuden“ an, die auf einen unbenannten „interkonfessionellen Friedhof in Wien“ überführt wurden, wiederum ein Beispiel der fraglichen Fortschreibung von NS-Diskursen in den Akten der Kultusgemeinde.127 Ein letzter wichtiger Themenkreis aus der Restitutions- und Instandsetzungsgeschichte der jungen Zweiten Republik bezieht sich auf die dutzenden jüdischen Friedhöfe in den österreichischen Bundesländern, die aufgrund der Auflassung ihrer Kultusgemeinden nach 1945 in den Besitz der Wiener Kultusgemeinde übergingen und somit hier noch skizzenhaft besprochen werden sollen. Eine umfassende Geschichte des Schicksals der jüdischen Provinzfriedhöfe in Österreich nach 1945 bleibt indes ein Forschungsdesiderat. Anfang 1949 listete die Kultusgemeinde insgesamt 53 „arisierte“ Liegenschaften in Wien auf, inklusive jener von liquidierten jüdischen Vereinen und Stiftungen, bei denen die Kultusgemeinde als Rechtsnachfolgerin auftrat. Dieser standen insgesamt 117 „arisierte“ Liegenschaften in den Bundesländern gegenüber, bei denen es sich größtenteils um „einem kleinen Tempelgebäude, das aber oft zerstört ist, aus einem kleinen Haus für die Wohnung des Rabbiners und einem kleinen Friedhof “ handelte.128 Aus diesen Zahlen wird die große materielle und gewissermaßen auch moralische Bürde ersichtlich, die die kleine neuetablierte Wiener Kultusgemeinde nach 1945 als Nachfolgergemeinschaft zu tragen hatte. Bis Ende 1948 war es der Kultusgemeinde bereits gelungen, viele der überdauernden jüdischen Friedhöfe in Niederösterreich wieder in einen guten Zustand zu bringen – da es sich hier größtenteils um sehr kleine Bestattungsräume handelt, benötigten diese bei Weitem nicht den Aufwand, der bis heute die 125 Walzer: Jüdische Friedhöfe in Europa und den europäischen Ländern, S. 15. Vgl. die Liste auf S. 17–26. 126 An das Friedhofamt der Israelitischen Kultusgemeinde, 10. August 1951, AIKGW, A/VIE/IKG/III/FH/1/2. 127 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Bericht [1948], o. S., Abschnitt „Friedhof und Beerdigungswesen“. 128 Bericht, 14. Februar 1949, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/Österreich/2/6, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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vollständige Instandsetzung der Wiener jüdischen Friedhöfe erschwert. Bei einigen setzte die Kultusgemeinde tatsächlich lokale nichtjüdische Friedhofswärter ein, die für ihre Arbeit einen bescheidenen Lohn bezogen, so etwa in den Gemeinden Klosterneuburg, Mistelbach und Stockerau, ein frühes Beispiel von positiver Beteiligung seitens der nichtjüdischen Bevölkerung bei der Instandsetzung von jüdischen Friedhöfen nach 1945, wenngleich gegen Bezahlung.129 Wie aus den erhaltenen Akten der Kultusgemeinde hervorgeht, warb sie aktiv um die Involvierung lokaler Gemeinden bei der Pflege der Provinzfriedhöfe. So richtete sie im Sommer 1949 ein Schreiben an die burgenländischen Gemeinden von Frauenkirchen, Lackenbach und Kobersdorf, in dem sie diese auf die „Bestimmungen des Denkmalschutzgesetzes (BG. vom 25.9.1923, BGBl. Nr. 533, §2)“ verwies, die sie nach Ansicht der Kultusgemeinde verpflichteten, für die Instandsetzung und Bewahrung des (wie es diplomatisch formuliert wurde) „glücklicherweise während der nationalsozialistischen Zwangsherrschaft erhalten gebliebene[n] Friedhof[s]“ in ihrem Sprengel zu sorgen.130 Im Herbst 1950 drückte die Kultusgemeinde in einem Schreiben an die Stadtverwaltung in Krems die Sorge aus, dass sie „bezw. das Land Niederösterreich in Erwägung“ zogen, den dortigen „arisierten“ jüdischen Friedhof „aufzulassen und für andere Zwecke zu verwenden“. Die Kultusgemeinde verwies auf die damals andauernden Restitutionsverhandlungen und bat vor diesem Hintergrund – sowie allgemein mit Verweis auf die „Pietät“ – so lange von diesen Absichten Abstand zu halten, bis die eigentumsrechtliche Sachlage geklärt war.131 Wenige Wochen später schrieb Amtsdirektor Wilhelm Krell an das Friedhofsamt, „dass es überhaupt verschiedene jüdische Gedenkstätten der Nazi-Aera in Niederösterreich und im Burgenland gibt, die in Vergessenheit“ gerieten und drängte somit das Friedhofsamt, eine „Gesamtliste aller Friedhöfe und aller Gedenkstätten“ anzufertigen und einen „Terminkalender anzulegen, nach welchem diese Stätten wenigstens einmal im Jahr zu besuchen wären, um deren Zustand zu überprüfen und jeweils das Nötige zu veranlassen“.132 Von den Reaktionen der lokalen Gemeinden zu beurteilen, zeichnete sich in diesen frühen Jahren ein durchaus unterschiedliches Bild im Umgang mit den Provinzfriedhöfen, der aber oft auffällig positiv ausfiel. Ende 1948 bemerkte 129 Bericht, 24. November 1948, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/ Österreich/1/6, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 130 An die politische Gemeinden Fraunkirchen [sic], Lackenbach und Kobersdorf, 17. August 1949, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/Österreich/2/8, zit. in USHMM, AJCVVCC. 131 An die Stadtgemeinde Krems, 2. Oktober 1950, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/Österreich/2/8, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 132 An das Friedhofsamt, 3. November 1950, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/Österreich/2/8, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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etwa die Kultusgemeinde in einer Aktennotiz, dass es beim jüdischen Friedhof im burgenländischen Lackenbach nur Dank der Intervention des jetzigen Gemeinderates Johann Fuchs […] zu einer Zerstörung dieses Friedhofes nicht [kam], was Genannter mit einer Gestappohaft [sic] büssen musste. Fuchs widmet bis zum heutigen Tage der Erhaltung des Friedhofes seine Aufmerksamkeit, sodas [sic] er in einem Zustande ist, wie vor Einbruch des Nazismus.133
Ende 1950 schrieb Ernst Feldsberg in einem weiteren solchen Beispiel an die Stadt Krems, um ihr für die Übertragung des dortigen jüdischen Friedhofs in den Besitz der Wiener Kultusgemeinde zu danken.134 Auch die burgenländische Gemeinde Frauenkirchen hatte bereits im Sommer 1949 ihre Bereitschaft erklärt, den dortigen jüdischen Friedhof in den Besitz der Wiener Kultusgemeinde zu übertragen, doch verzögerte sich dies anscheinend aufgrund rechtlicher Komplikationen. Derweilen hatte es der lokale Friedhofswärter Michael Ehrmann auf sich genommen, die Grabsteine wieder aufzurichten und instand zu halten, wofür die Kultusgemeinde sich in einem Schreiben herzlich bedankte und ihm 727 Schilling überwies „für den Zweck der Instandsetzung [seiner] Wohnung“.135 Wenige Monate später bekundete die Kultusgemeinde ebenfalls dem Friedhofswärter in Krems, Leopold Katauschek, mit einer Zahlung von 500 Schilling ihren Dank „für seine treuen und aufopferungsvollen Dienste und für die Rettung des jüdischen Friedhofes“.136 Anfang 1956 entschied sich das Friedhofsamt, alle Provinzfriedhöfe wenigstens mit Tafeln als jüdische Bestattungsräume auszuweisen.137 Nicht überraschenderweise gab es in diesen Jahren aber auch negative Erfahrungen im Umgang der nichtjüdischen Instanzen mit den Provinzfriedhöfen. Im Sommer 1954 erhielt beispielsweise der Verband der österreichischen Kultusgemeinden, der aufgrund deren Größe de facto mit der Wiener Kultusgemeinde gleichzusetzen ist, ein Brief von einem Ernest Hoffman, der die Grabstätten seiner Großeltern und seines Vaters im jüdischen Friedhof im niederösterreichischen Ybbs aufgesucht hatte. Der Friedhof machte ihm zufolge 133 Bericht, 9. November 1948, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/ Österreich/1/7, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 134 An den Magistrat der Stadtgemeinde Krems, 26. Dezember 1950, AIKGW, A/VIE/IKG/IIII/LG/diverse Adressen/Österreich/2/8, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 135 An die Amtsdirektion der Israelitischen Kultusgemeinde, 8. Jänner 1951 und An Herrn Michael Ehmann, 2. Februar 1951, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/Österreich/2/8, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 136 Abschrift, 11. Juni 1951 und An Herrn Dr. Feldsberg, 15. Juni 1951, AIKGW, A/VIE/IKG/IIII/LG/diverse Adressen/Österreich/2/8, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 137 An Herrn Vizepr. Dr. Feldsberg, 10. Jänner 1956, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/Österreich/2/8, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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„ein[en] bedrueckende[n] Anblick“. Die Zeremonienhalle war mit Brettern zugenagelt, und es stand nur noch ein einziger Grabstein: Die restlichen Grabstätten waren eingeebnet. Hoffman erkundigte sich, wieso der Friedhof nicht instand gesetzt wurde und empfahl dem Verband, er solle die Gemeinde Ybbs „fuer den Diebstahl der Steine und fuer die Demolierung“ verklagen.138 Infolge von Ermittlungen seitens der Technischen Abteilung der Kultusgemeinde teilte diese Ernst Feldsberg mit, dass Hoffmans Darstellung „bezüglich skandalösen Aussehens dieses Friedhofes […] leider der Wahrheit“ entsprach, dass aber die Mittel fehlten, um dagegen etwas zu unternehmen.139 Feldsberg wiederum teilte Hoffman mit, dass die Wiener Kultusgemeinde bis dato in die Instandsetzung von Friedhöfen bereits 300.000 Schilling investiert habe, Geld, das nur durch den Abverkauf ihrer Liegenschaften gewonnen werden konnte. Darüber hinaus bemerkte er, dass im Falle einer sofortige Instandsetzung „eine diesbezügliche Vergütung im Wege der Wiedergutmachung nicht mehr in Frage“ komme, so dass man abwarten müsse, bis „die Verhandlungen zwischen der Regierung und den [jüdischen] Weltorganisationen zu einem Ergebnis“ führten.140 Anfang der 1960er-Jahre sollte es der Kultusgemeinde schließlich gelingen, die noch existenten Grabsteine des Ybbser Friedhofs restituiert zu bekommen und am Friedhof wieder aufzustellen. In diesem Zusammenhang auch erwähnenswert ist eine Aktennotiz der Technischen Abteilung an Ernst Feldsberg vom Herbst 1957 mit der Information, dass die Stadtverwaltungen im burgenländischen Deutschkreutz und im niederösterreichischen Mistelbach versuchten, von der Kultusgemeinde Steuer auf Liegenschaften zu erheben, auf denen vor der Shoah Synagogen und Friedhöfe bestanden. Die Technische Abteilung bat Feldsberg, diesen Gemeinden auszurichten, „dass man von der Israelitischen Kultusgemeinde Wien doch nicht Steuerzahlungen verlangen kann, für Objekte die die dortige Bevölkerung zerstört hat“.141 Ebenfalls zeigte sich eine gewisse Transnationalität der jüdischen Erinnerungskultur in Bezug auf die Provinzfriedhöfe in diesen Jahren. So wurde etwa im Frühsommer 1955 berichtet, dass die St. Gallener Kultusgemeinde in der Schweiz die Pflege des alten jüdischen Friedhofs in Hohenems, im äußersten
138 An den Vicepräsidenten des Verbandes oesterr. Kultusgemeinden, 11. August 1954, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/Österreich/2/8, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 139 An Herrn Dr. Feldsberg, 31. August 1954, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/Österreich/2/8, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 140 An Herrn Ernest Hoffman, 7. September 1954, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/Österreich/2/8, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 141 An Herrn Vicepr. Dr. Feldsberg, 20. September 1957, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/Österreich/2/8, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
Grabschändungen als stellvertretende antisemitische Gewalt in der Zweiten Republik
Westen des Landes nahe der schweizerischen Grenze, übernehmen würde.142 Hohenems ist einer der wenigen Orte in der Republik Österreich jenseits von Wien, wo sich bereits seit Jahrhunderten eine jüdische Gemeinde befand und woher unter anderen der 1890 verstorbene, hier in Kapitel 5 besprochene Oberkantor Salomon Sulzer stammte. Der Hohenemser jüdische Friedhof ist fast so alt wie der Wiener Friedhof in der Seegasse und bildet somit einen der ältesten erhaltenen jüdischen Friedhöfe Österreichs. Neben der Transnationalisierung der Friedhofsthematik zeigte die Übernahme dieses Erinnerungsorts in die Obhut der St. Gallener Kultusgemeinde wiederum die weitgehende Reduzierung des jüdischen Lebens in Österreich infolge der Shoah wie nie zuvor auf Wien. 1968 stellte schließlich das Bundesdenkmalamt „den altehrwürdigen Friedhof “ in Hohenems unter Denkmalschutz – wohlgemerkt zu einer Zeit, wo sie das noch bei den ebenso „altehrwürdigen“ Friedhöfen in der Seegasse und Währing nicht tat.143 10.3
Grabschändungen als stellvertretende antisemitische Gewalt in der Zweiten Republik
Grabschändungen verschiedener Ausprägungen zählen zu den häufigsten Formen der antisemitischen Gewalt, die seit 1945 in Europa, auch in Österreich, verübt werden – eine stellvertretende Gewalt, die sich nicht gegen Menschen, sondern gegen Stätten der Erinnerung und Kultur mit tiefgehender emotionaler wie religiöser Bedeutung richten. Eine ausführliche Studie dieses Phänomens in der Bundesrepublik Deutschland unternahm der Historiker und Auschwitzüberlebende Adolf Diamant in Form einer quantitativen sowie qualitativen Analyse von über 1.000 Fällen, die sich zwischen 1945 und 1999 ereigneten, in der Diamant auch die Beweggründe und breitere Bedeutung dieser Gewalttaten deutete. Wie er bemerkte, handelte es sich bei der genannten Zahl nur um solche Fälle, denen das Bundeskriminalamt einen „rechtsextremistischen Hintergrund“ zuschrieb, bzw. solche, die überhaupt behördlich gemeldet wurden. Die tatsächliche Zahl dürfte viel höher liegen. Das Bundeskriminalamt bemerkte 1966 jedenfalls, dass die Anzahl von Schändungen jüdischer Grabstätten im Vergleich zu christlichen „erschreckend hoch“ sei, was klar auf „antisemitische Vorurteile“ zurückzuführen war. Dies wurde durch eine Fallstudie aus Duisburg im Ruhrgebiet untermauert, die zeigte, dass sich Grabschändungen in jüdischen Friedhöfen um bedeutungsvolle Daten häufen, so etwa den Jahrestag 142 Kultusgemeinde St. Gallen übernimmt jüdischen Friedhof in Hohenems, in: Iskult – Presse – Nachrichten, 31. Mai 1955, S. 16. 143 Jüdischer Friedhof unter Denkmalschutz, in: Die Gemeinde, 31. Jänner 1968, S. 27.
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des Ausbruchs der Novemberpogrome am 9. November oder um Ostern, da im Christentum „die Juden“ lange als „Gottesmörder“ galten. Gleichzeitig bemerkte Diamant, wie hier in der Einleitung besprochen wurde, dass die Schändung jüdischer Grabstätten freilich mehr Schockwert erzeugt als es bei nichtjüdischen Grabstätten in Europa der Fall ist, was auch auf eine mögliche beiläufige, nicht zwangsweise antisemitische Motivation deuten könnte, obwohl das eine das andere nicht grundsätzlich ausschließt. Nicht zuletzt macht ihre häufige räumliche Isolation jüdischer Friedhöfe – die ja bereits seit dem Mittelalter außerhalb von Siedlungen angelegt werden – zu idealen Zielen für Vandalismus. Betrachtet man die jüdischen Friedhöfe Wiens, so stellen sie mit Ausnahme von jenem in der Seegasse weitgehend abgesonderte Räume dar. Einen problematischen Diskurs identifizierte Diamant aber in den behördlichen Ermittlungen zu Grabschändungen, in denen die TäterInnen oft schlicht als „Jugendliche“ bezeichnet werden, was impliziert, dass es sich dabei um einen „völlig unpolitischen Vandalismus jugendlicher Rowdies“ handle, was aber „mitunter nur dazu dient, von einem unangenehmen Sachverhalt abzulenken“. Die Hypothese von unpolitischen jugendlichen Bagatellvergehen, die sich aufgrund der Abgeschiedenheit jüdischer Bestattungsräume einerseits und dem mit ihrer Schändung zu erzielenden Schockwert andererseits erklären, mag sicherlich in manchen Fällen zutreffen, doch dürfen freilich nach der Shoah antisemitische Triebe weder ausgeblendet noch unterschätzt werden.144 Wie in der folgenden Abhandlung klar wird, steht der Antisemitismus als Beweggrund in den meisten hier besprochenen Fällen völlig außer Frage. Beachtenswerterweise wurde in Österreich bis dato keine solch umfassende Studie unternommen, wie sie Adolf Diamant für Deutschland bot. Im Folgenden wird beispielhaft die Geschichte der Grabschändung in der Zweiten Republik umrissen, mit besonderem Augenmerk auf die wechselhaften Reaktionen insbesondere seitens der nichtjüdischen österreichischen Öffentlichkeit. Grabschändungen gehörten unter der NS-Herrschaft zur Alltagserfahrung in den Wiener jüdischen Friedhöfen. Die erste Aufzeichnung eines solchen Falls nach Kriegsende, den ich identifizieren konnte, ereignete sich im Mai 1950, als Unbekannte in die Zeremonienhalle beim IV. Tor einbrachen. Der Fall wurde nicht zuletzt deshalb dokumentiert, weil das Friedhofsamt bei der Versicherungsanstalt um eine Schadensanmeldung bat. Es wurden hier keine weiteren Details genannt, doch zeigt dieser Vorfall, dass jüdische Friedhöfe schon in der frühen Nachkriegszeit zu Zielscheiben für Bagatellkriminalität wurden.145 Im 144 Alle Zitate in der Reihenfolge ihrer Nennung: Diamant, Adolf: Geschändete jüdische Friedhöfe in Deutschland 1945 bis 1999, Potsdam 2000, S. 14, 11–12, 87, 92. 145 An H. Ing. K. Schneider, 20. Mai 1954, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/1/1, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
Grabschändungen als stellvertretende antisemitische Gewalt in der Zweiten Republik
Sommer 1956 veröffentlichte das Presseorgan Iskult – Presse – Nachrichten einen Artikel mit dem aussagekräftigen Titel „Wieder eine Friedhofsschändung“. Beim entsprechenden Vorfall konnte „gerade noch eine Anzahl von ‚Halbstarken‘ (wie diese Art von Jugendlichen in Wien jetzt bezeichnet wird)“ erfasst werden – man bemerke auch hier den Verweis auf die problematische Verharmlosung jugendlicher Kriminalität in Bezug auf antisemitische Gewalt.146 Man bedenke, dass Jugendliche in diesen frühen Jahren unter dem Nationalsozialismus noch als Kleinkinder sozialisiert wurden. Ende 1958 wurde von einer Mehrung solcher Fälle berichtet, die schließlich dazu führte, dass „vier Burschen im Alter von 17 bis 20 Jahren“, die den jüdischen Friedhof in Hohenems im Vorarlberg schändeten, der Prozess gemacht wurde.147 Einen Monat später wurde einer der älteren dieser „Friedhofschänder“ nach §306 des Strafgesetzes (Beschädigung von Grabstätten) für schuldig gefunden. Er erhielt eine Haftstrafe von vierzehn Tagen unbedingt und drei Jahren bedingt. Allerdings wurde die Kultusgemeinde „mit ihren Schadenersatzansprüchen auf den Zivilrechtsweg verwiesen“. Die drei weiteren Angeklagten wurden einem Jugendgericht ausgeliefert.148 Wie die Kultusgemeinde über diese „braunen Vandalen“ folgerte: „Die Anzeichen über eine unterirdische Aktivität der Neonazi [sic] mehren sich!“149 Eine weitere Eskalation antisemitischer Gewalt fand in Österreich nach der Festnahme Adolf Eichmanns 1960 in Argentinien durch den israelischen Nachrichtendienst statt. In den Wochen darauf ging bei der Kultusgemeinde eine Bombendrohung ein, und es wurden Grabsteine am Floridsdorfer jüdischen Friedhof umgeworfen.150 Ende 1961 veröffentlichte das Presseorgan Iskult – Presse – Nachrichten infolge einer Schändungsaktion im jüdischen Friedhof in Innsbruck einen ausführlichen Artikel über Grabschändungen, der dieses wiederkehrende Phänomen der letzten Jahre historisch kontextualisierte. Grabschändungen wurden hier als ein „besondere[s] Kapitel“ der Shoah erörtert, in dem österreichweit jüdische Grabsteine „arisiert“ und an Steinmetze veräußert wurden, die diese schliffen und wiederverkauften, also den kulturellen Genozid in finanziellen Gewinn umwandelten. In manchen Gemeinden, insbesondere im Burgenland, wurden jüdische Grabsteine als Baumaterial zweckentfremdet, wie es in den Pogromen des Mittelalters üblich war. Der Artikel verzeichnete einzelne Gemeinden samt den geschätzten Beträgen, die sie der Kultusgemeinde für die geraubten Denkmäler schuldig waren. So schuldete die Gemeinde 146 147 148 149 150
Wieder eine Friedhofschändung, in: Iskult – Presse – Nachrichten, 27. Juni 1956, S. 10. Friedhofschänder am Werk, in: Iskult – Presse – Nachrichten, 23. Dezember 1958, S. 6–7. Friedhofschänder, in: Iskult – Presse – Nachrichten, 22. Jänner 1959, S. 6. Braune Vandalen wieder am Werk, in: Iskult – Presse – Nachrichten, 22. Jänner 1959, S. 6. Rache für Eichmann, und Schändung eines jüdischen Friedhofes, in: Iskult – Presse – Nachrichten, 17. Juni 1960, S. 1
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Stadtschlaining 150.000, die Gemeinde Rechnitz 242.000 und die Gemeinde Mattersburg sogar 1.160.000 Schilling. Die Kultusgemeinde erklärte, daß sie mit Rücksicht auf deren finanzielle Lage auf die Ersatzleistung für die arisierten Grabsteine verzichten wolle, wenn die Gemeindeverwaltungen den örtlichen jüdischen Friedhof wiederherstellen und instand halten, eine Umzäunung errichten und auf dem Friedhof einen Gedenkstein aufstellen [würden].
Keine der genannten Gemeinden sah sich veranlasst, auch nur auf diesen Vorschlag zu antworten, was die Redaktion des jüdischen Pressorgans zur Aussage verleitete: „Soll man sich da noch wundern, daß der jüdische Friedhof in Innsbruck in der dritten Novemberwoche von Neonazis geschändet, daß Gräber von jüdischen Soldaten des Ersten Weltkrieges, die ihr Leben für die Verteidigung [Österreichs] gegeben haben, verunziert und geschändet wurden?“151 Der Friedhof in Mattersburg wurde noch in den 1960er-Jahren, der in Rechnitz Ende der 1980er-Jahre, der in Stadtschlaining aber erst Ende der 1990er-Jahre instand gesetzt. Ein herausragender Fall betrifft den jüdischen Friedhof in Horn im niederösterreichischen Waldviertel, der in den 1950er- und 1960er-Jahren wiederholt geschändet wurde.152 Zwischen 1955 und 1962 gab es dort vier besonders schwere Schändungsaktionen, bei denen nahezu alle Grabsteine umgeworfen wurden bzw. im letzten Vorfall, der sich im Frühsommer 1962 ereignete, in der Zeremonienhalle eingebrochen wurde. Dies verleitete Die Gemeinde dazu, Horn als „Stadt der Vandalen“ zu bezeichnen.153 Wenige Wochen zuvor hatte das Presseorgan Iskult – Presse – Nachrichten nach einer abermaligen Schändung bemerkt: „Es scheint nun in Horn geradezu eine Traditionssache zu sein, den jüdischen Friedhof zu schänden“. Bei diesem Vorfall wurden drei Jugendliche im Alter von 14 bis 16 Jahren bei der Tat erwischt. Die Redaktion verwies zuletzt auf den Umstand, dass es in Horn seit ihrer Vertreibung nach dem „Anschluß“ keine jüdische Bevölkerung mehr gab.154 Somit veranschaulichten diese Schändungen eindringlich das Phänomen des „Antisemitismus ohne Juden“ der Nachkriegszeit und das Wesen der Grabschändung als stellvertretende antisemitische Gewalt. Eine besonders schwere Schändungsaktion fand im Spätsommer 1977 auf dem Friedhof beim IV. Tor statt. Dabei wurden die Außenwände der Zeremonienhalle sowie etliche Grabsteine mit neonazistischen Schimpfworten und 151 152 153 154
Friedhofschändungen verewigt, in: Iskult – Presse – Nachrichten, 21. Dezember 1961, S. 3–5. Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Tätigkeit [1964], S. 20. Horn – Die Stadt der Vandalen, in: Die Gemeinde, 29. Juni 1962, S. 1. Zum dritten Mal: Schändung des jüdischen Friedhofes in Horn, in: Iskult – Presse – Nachrichten, 30. Mai 1962, S. 1–2.
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Kampfparolen wie „Juda verrecke“, „Judenschweine“, „Saujud“ und „Judensau“ beschmiert. Auch wurden Davidsterne auf die Grabsteine gesprüht in Anspielung auf die von den NationalsozialistInnen aufgezwungenen „Judensterne“.155 Zur gleichen Zeit wurde das Amtsgebäude der Kultusgemeinde in der Inneren Stadt beschmiert und eine gerade vier Monate zuvor errichtete Gedenktafel am Cobenzl im Wienerwald, die den Psychoanalytiker Sigmund Freud für sein 1899 erschienenes Werk Die Traumdeutung ehrte (Freud pflegte oft und gerne im Wienerwald spazieren zu gehen, wo er seine Ideen entwickelte), wurde ebenfalls mit den Parolen „Saujud“ und „Juda verrecke!“ beschmiert.156 Dieses Mal war die Reaktion auf staatlicher Seite beachtlich: So bot das Innenministerium eine „Ergreiferprämie“ von 50.000 Schilling, und die Stadt Wien beauftragte ihre Friedhofsverwaltung mit der Entfernung der Schmierereien am Zentralfriedhof.157 Es folgte eine Protestaktion im Stadttempel, bei der der Kultusgemeindepräsident Anton Pick beteuerte: „Es sind das nicht Bubenstreiche und Lausbübereien gewesen, das waren gezielte und gesteuerte Aktionen neonazistischer und faschistischer Verbände und Gruppen, die die Zeit der Greuel und Vernichtung, die Zeit des Dritten Reiches wieder auferstehen lassen wollen.“158 Im Frühjahr 1981 wurden insgesamt 56 Grabsteine in den Gruppen 6 und 7 beim I. Tor beschmiert, umgeworfen und zertrümmert.159 Auch bei diesem Vorfall wurde in der gleichen Nacht ein Hakenkreuz auf die Außenwand des Amtsgebäudes der Kultusgemeinde in der Seitenstettengasse geschmiert. In einem Leitartikel zu diesem Vorfall bemerkte die Redaktion von Die Gemeinde bestürzt, dass sich in diesen Jahren „in der ganzen Welt Terrorhandlungen, Flugzeugentführungen, Bombenattentate usw.“ häuften, und verwies darauf, dass nur wenige Jahrzehnte zuvor „Terrorakte in Deutschland und in Österreich […] die Vorläufer der Machtergreifung des Nationalsozialismus“ waren. Auch in diesem Fall erklärte die Stadt Wien, dass sie die Instandsetzungsarbeiten übernehmen würde.160 Zeugt diese Hilfsbereitschaft von einer positiven Wende seitens der österreichischen Obrigkeit in diesen Jahren, so ließ sich während der Waldheim-Affäre, wie bereits in der Einleitung bemerkt, auch ein gegensätzlicher Umschwung konstatieren. Als im Mai 1986 mehr als ein dutzend Grabsteine im Floridsdorfer Friedhof „sehr schwer beschädigt und beschmiert“ wurden, stellte die 155 156 157 158 159 160
Vgl. die photographischen Aufnahmen in DÖW, 04117. „Nachruf “, in: Die Gemeinde, 1. September 1977, S. 5. Neofaschistische „Heldentaten“, in: Die Gemeinde, 1. September 1977, S. 3. Protest im Wiener Stadttempel, in: Die Gemeinde, 1. September 1977, S. 4. Vgl. die photographischen Aufnahmen in DÖW, 05913. Ein Akt des Vandalismus, in: Die Gemeinde, 8. April 1981, S. 1.
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Kultusgemeinde explizit „einen Zusammenhang mit der durch die innenpolitischen Auseinandersetzungen um die Präsidentschaftswahlen geschaffenen Atmosphäre in der Bevölkerung“ fest.161 In den folgenden Jahren häuften sich wiederum die Fälle von Grabschändungen in Österreich. Alleine im Jahre 1991 gab es über 30 Fälle. So wurden am 3. September etliche Grabsteine beim I. Tor zertrümmert und sogar Grabstätten aufgegraben. Ein Bericht der Tageszeitung Der Standard behauptete: „Goldzähne werden geraubt, in vielen Fällen sind auch Totenköpfe verschwunden, die sich gut verkaufen lassen sollen“. Impliziert dies ein eher finanzielles Motiv, so rührt der Gedanke, dass Jüdinnen und Juden auch im Tod mit Gold ausgestattet sind, freilich von antisemitischem Denken her. Indes gab die Wiener Polizei bekannt, dass sie diese Verbrechen nicht untersuchen würde, „weil es ‚schwierig‘ sei“.162 Ende 1992 wurden etliche Grabsteine in einem der jüdischen Friedhöfe im burgenländischen Eisenstadt mit Parolen wie „Sieg Haider“, „SS“ und „Gas“ beschmiert – Ersteres ein Verweis auf Jörg Haider, den langjährigen Vorsitzenden der FPÖ, was auf den politischen Hintergrund der TäterInnen deutet und insgesamt auf den Aufstieg unter Haiders Führung dieser Partei mit rechtsextremen und zum Teil neonazistischen Elementen zurückgeführt werden kann. Beachtenswert war dabei die Reaktion des Bundeskanzlers Franz Vranitzky (Sozialdemokratische Partei, SPÖ), der beteuerte: „Wer einen jüdischen Friedhof schändet, schändet auch Österreich.“163 Somit wurde hier auf höchster politischer Ebene das jüdische kulturelle Erbe mit der gesamtösterreichischen Kultur identifiziert, ein klares Zeichen der Gesinnungswandlung, die breite Teile der österreichischen Bevölkerung in diesen Jahren durchmachten. Infolge der Schändung des Friedhofs unternahm das in Eisenstadt beheimatete Österreichische Jüdische Museum ein Projekt zur Dokumentation der 280 erhaltenen Inschriften, die „fotografiert, alle hebräischen Grabinschriften originalgetreu wiedergegeben, ins Deutsche übersetzt und kommentiert“ wurden. Diese Arbeit wurde 1996 veröffentlicht und mit Kurzbiographien der Verstorbenen ergänzt. Laut Die Gemeinde bildete dies „nach über 70 Jahren die erste vollständige Monographie über einen jüdischen Friedhof seit der aus dem Jahr 1922 stammenden Arbeit des Historikers Bernhard Wachsteins über den älteren jüdischen Friedhof in Eisenstadt“.164 Beachtenswert ist an dieser Geschichte das neuerliche Wechselspiel von Vernichtungs- und Bewahrungstrieben, die bereits 161 Vandalismus auf einem jüdischen Friedhof in Wien, in: Die Gemeinde, 9. Mai 1986, S. 4. 162 Jüdischer Friedhof Verwüstet, in: Der Standard, 5 September 1991, S. 12. 163 Vranitzky: Wer einen jüdischen Friedhof schändet, schändet auch Österreich, in: Die Gemeinde, 9. Dezember 1992, S. 4. 164 Steinerne Zeugen: Monographie über einen jüdischen Friedhof in Eisenstadt, in: Die Gemeinde, 30. April 1996, S. 38. Bei den zwei genannten Werken handelte es sich um Wachstein, Bernhard: Die Grabschriften des alten Judenfriedhofes in Eisenstadt, Wien 1922, und Reiss,
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seit dem 19. Jahrhundert die Auseinandersetzung mit den Wiener jüdischen Friedhöfen geprägt hatten. Wenige Wochen später wurden drei Jugendliche für die Schändung des jüdischen Friedhofs in Rechnitz schuldig gefunden, doch schloss hier das Gericht ein „politisches Motiv für den Vandalenakt“ aus. Die Jugendlichen hätten „nach einer gemeinsamen Alkoholorgie mit Freunden und einem ‚Fest‘ auf dem Friedhof die Verwüstungen angerichtet. Zwischen den Gräbern waren leere Bierdosen und Flaschen, zerschlagene Gläser und leere Zigarettenschachteln gefunden worden“.165 Wie aber bereits bemerkt, schließen Bagatellvergehen einen antisemitischen Hintergrund nicht aus: Jedenfalls zeugen solche Vorfälle von der Respektlosigkeit der TäterInnen gegenüber jüdischen Erinnerungsorten. Noch im Jahre 2000 beschwerte sich die Kultusgemeinde über die Berichterstattung bezüglich antisemitischer Grabschändungen, die entweder verharmlost oder komplett verschwiegen wurden. Als beispielsweise am 28. Februar 2000 wieder einmal 11 jüdische Grabsteine am Zentralfriedhof umgeworfen wurden, behauptete die Wiener Polizei, dass es keinen „Hinweis auf ein antisemitisches Motiv der Täter“ gäbe, da die Grabsteine nicht zusätzlich mit „Schmierereien“ verunstaltet wurden. Dabei hatte nur wenige Tage zuvor der ehemalige Wiener Bürgermeister Helmut Zilk in einem Zeitungsartikel die Fehlbehauptung ausgedrückt: „Seit 20 Jahren wurden in Österreich keine Gräber geschändet“. Schließlich verwies der Artikel in Die Gemeinde auf einen Bericht in der Kronen Zeitung über die Schändung 1992 des jüdischen Friedhofs im burgenländischen Eisenstadt durch Neonazis, der zusammen mit einem Leserbrief abgedruckt wurde, der die Schuld für solche Schändungsaktionen dem sowjetischen Geheimdienst KGB zuschrieb – eine wahrlich verblüffende Behauptung, da der KGB mit dem Zerfall der Sowjetunion bereits 1991 aufgelöst worden war.166 Anfang 2004 wurde die Gedenkstätte in Hinterbrühl vor Wien geschändet, ein ehemaliges Außenlager des Konzentrationslagers Mauthausen, wobei unter Anderem das Wort „Lüge“ gesprüht wurde. An diesem Vorfall zeigt sich, wie die neofaschistische bzw. den Nationalsozialismus glorifizierende Gewaltbereitschaft mit der Leugnung, dass es überhaupt unter dem Nationalsozialismus Gewaltverbrechen gegeben hatte, Hand in Hand gehen kann.167 Aus einem anderen politischen Zusammenhang herrührend wurde in jenem Herbst, als Johannes (Hg.): Hier in der heiligen jüdischen Gemeinde Eisenstadt. Die Grabinschriften des jüngeren jüdischen Friedhofes in Eisenstadt, Eisenstadt 1995. 165 Friedhofsschändung in Rechnitz, in: Die Gemeinde, 30. Juni 1996, S. 16. 166 Zur Berichterstattung über die Schändung jüdischer Friedhöfe, in: Die Gemeinde, Mai 2000, S. 40. 167 KZ-Gedenkstätte Hinterbrühl verwüstet, in: Die Gemeinde, Jänner/Februar 2004, S. 19.
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in Israel/Palästina die Zweite Intifada wütete, die Tafel an der 1996 so benannten Theodor-Herzl-Stiege, die des hundertsten Jahrestags der Publikation von Herzls Der Judenstaat gedachte, zerschmettert. Unmissverständlich wurden daneben auf Englisch die Worte gesprüht: „Stop Zionism victory for intifada“ (stoppt den Zionismus, Sieg der Intifada).168 War in der Zweiten Republik der linke Flügel der Politik oft ebenso von antisemitischen Vorurteilen durchzogen, wie dieser Vorfall auch andeutet (der Antizionismus ist weitgehend ein linkes Phänomen), so war es der rechte Flügel, bei dem antisemitisches Gedankengut viel eher in antisemitische Gewalttaten umschlug. So konnten in einigen Fällen, wie die Historikerin Evelyn Adunka aufzeigte, Schändungen von jüdischen Friedhöfen direkt in das Umfeld der FPÖ zurückverfolgt werden.169 Die Schändung der jüdischen Friedhöfe Österreichs durch das 20. Jahrhundert hat nicht zuletzt dazu geführt, dass sich heute materielle Zeugnisse der Friedhöfe auch in verschiedenen Museen der Stadt Wien befinden. Im Weltmuseum steht beispielsweise der teilweise zerstörte Grabstein aus poliertem schwarzen Marmor des 1891 verstorbenen „Königl[ich] Pers[ischen] Leibarzt[es]“ Jakob Eduard Pollak (in anderen Quellen auch Polak), der beim I. Tor bestattet liegt (19-57-45). Der Grabstein, der mit einer traditionell bogenförmigen, jedoch nicht hebräisch- sondern persischsprachigen Inschrift samt Übersetzung ins Deutsche versehen ist – ein Zitat des persischen Dichters Saadi aus dem 13. Jahrhundert: „Der Ewige schliesst kein Thor, Er öffnet denn ein anderes“ – wurde vermutlich bei Luftangriffen gegen Kriegsende beschädigt und laut Ausstellungstext Anfang der 2010er-Jahre durch „ein[en] iranische[n] Arzt als Ehrenbezeugung“ ersetzt. Danach machten, wie die Erklärung lakonisch schließt, die „Reste des alten Grabsteins ihren Weg ins Museum“. Aufgefunden wurden diese 2007 von der Soziologin Afsaneh Gächter; beim „iranischen Arzt“ handelt es sich um Ahmad Haschemian, dessen gestifteter Grabstein von Steinmetz Schreiber geschaffen und von der Kultusgemeinde errichtet wurde. Da die Reste des Grabsteines „entsorgt“ werden sollten, erhielt Gächter die Erlaubnis, sie mitzunehmen – übrigens ein Indiz, dass Grabsteine eben nicht unbedingt sakrale Gegenstände darstellen, obwohl dieser Eindruck manchmal vermittelt wird, wie unten eingehender besprochen wird. Gächters Entscheidung, den Grabstein dem Weltmuseum zu stiften, kam nicht von ungefähr: In einem Beitrag zur Geschichte des Verstorbenen Pollak hob sie die mehrsprachige und vielschichtige Inschrift als Beispiel eines „in mehreren Kulturen beheima-
168 Pro-Palästinensischer Vandalismus im Herzen von Wien, in: Die Gemeinde, Oktober 2004, S. 19. 169 Adunka: Die vierte Gemeinde, S. 535.
Die innerjüdischen Konflikte rund um die fortdauernde Verwahrlosung der Friedhöfe
teten Mann[es]“ hervor – ein paradigmatisches Beispiel der plurikulturellen jüdischen Gemeinschaft Wiens im ausgehenden 19. Jahrhundert.170 Eine weniger positive Provenienz findet sich im neuen Haus der Geschichte Österreichs, nämlich bei der Grabstele des 1945 verstorbenen Pisko Wistrika, die 1994 in der Bregenzer Ach in Vorarlberg aufgefunden wurde, wo sie hineingeworfen wurde, nachdem Unbekannte sie in einer vermutlich antisemitisch motivierten Aktion aus dem Friedhof in Bregenz entfernt hatten. Die mit einem Davidstern, aber vermutlich falschen polnischen Decknamen eines jüdischen Zwangsarbeiters versehene Stele im österreichischen Zeitgeschichtemuseum legt Zeugnis ab vom andauernden Antisemitismus der Zweiten Republik und der Gefährdung, der jüdische Grabstätten stets als stellvertretende „jüdische Orte“ ausgesetzt sind. In ihrer Geschichte des Friedhofs in der Seegasse bemerkte die Schriftstellerin Traude Veran 2002, dass Grabschändungen in jüdischen Friedhöfen in Österreich heutzutage „eher von Betrunkenen als von Judenfeinden“ ausgehen, doch muss wiederholt werden, dass das eine das andere nicht ausschließt.171 Noch in den letzten Jahren sorgten Hakenkreuzschmierereien auf der Außenmauer beim IV. Tor für Entsetzen.172 Wie anfangs festgestellt, gibt es Grabschändungen in allen Epochen und in allen Kulturen. Jüdische Grabstätten werden seit Menschengedenken geschändet. Somit gibt es wohl in absehbarer Zukunft keine Aussicht auf ein Ende dieses Phänomens. Wichtig ist jedenfalls, wie die Öffentlichkeit und die Politik darauf reagieren. Die Reaktionen im Kontext der Zweiten Republik haben sich, wie hier kurz skizziert, deutlich über die letzten Jahrzehnte gewandelt und zeugen inzwischen von der Anteilnahme breiter Teile der nichtjüdischen Öffentlichkeit bei Angriffen auf jüdische Erinnerungsorte. Dieser Gesinnungswandel wird später noch ausführlicher in Bezug auf die weitere Entwicklungsgeschichte der jüdischen Friedhöfe aufgezeigt. 10.4
Die innerjüdischen Konflikte rund um die fortdauernde Verwahrlosung der Friedhöfe nach dem Vergleich von 1955
Mit dem Vergleich von 1955 konnte die Kultusgemeinde die größtmögliche Restitution ihrer geraubten Liegenschaften in Wien sowie von weiteren jüdischen
170 Gächter, Afsaneh: Die Vermessung Persiens. Notizen zur Person Jacob Eduard Polak anlässlich der Auffindung seines Grabsteines, in: Archiv für Völkerkunde 61/62 (2013), 255–257. 171 Veran: Das Steinerne Archiv, S. 26. 172 IKG bringt Nazischmierereien am Jüdischen Friedhof Wien zur Anzeige, 29. November 2016 https://www.ikg-wien.at/ikg-bringt-nazischmierereien-am-juedischen-friedhof-wienzur-anzeige/, letzter Zugriff: 31. August 2020.
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Eigentümern in den Bundesländern bewirken. Mithilfe der Kooperationsbereitschaft des Innenministeriums sowie einiger Lokalgemeinden in den Bundesländern war es ihr auch gelungen, eine Anzahl von Provinzfriedhöfen und Massengräbern instand zu setzen und ggf. weiterhin pflegen zu lassen. Doch die Frage, wie die dringend benötigten Instandsetzungsarbeiten, insbesondere der großen und kulturhistorisch wertvollen Friedhöfe in Wien, durchzuführen seien, geschweige denn, wie diese dauerhaft gepflegt werden sollten, blieb im Restitutionsvergleich unbeantwortet. Nach 1955 strengte sich die Wiener Kultusgemeinde an, die nötigsten Arbeiten in ihren Friedhöfen, inklusive der Provinzfriedhöfe, zu verrichten, doch ihre Mittel reichen bis heute nicht aus, die schweren Schäden der NS-Ära umfassend zu beseitigen. Indes verfielen die verwahrlosten Friedhöfe immer mehr, so insbesondere jene alten in Währing und beim I. Tor. Der Friedhof in der Seegasse verblieb überhaupt in diesen Jahren eine grabsteinentleerte Öde. Mit dem Restitutionsvergleich sah sich die österreichische Politik weitgehend von der Verantwortung für die geschändeten jüdischen Friedhöfe entlastet. Auf innerjüdischer Seite aber – sowohl im Inland seitens der Mitgliedschaft der Kultusgemeinde wie im Ausland seitens der Exilgemeinschaft – sorgten diese „Brandstätten“, wie sie später bezeichnet werden sollten, in den späten 1950er- und 1960er-Jahren für bittere Konflikte. In einem Bericht vom Oktober 1955 resümierte die Technische Abteilung der Kultusgemeinde ihre Leistungen bei der Instandsetzung der jüdischen Friedhöfe in den vergangenen zehn Jahren. So konnten bis dahin bereits 25 Provinzfriedhöfe instand gesetzt werden, wobei wiederholt werden muss, dass diese in der Regel um ein vielfaches kleiner waren als die urbanen jüdischen Friedhöfe in Wien. Hingegen betonte die Technische Abteilung den besonders schlechten Zustand der beiden jüdischen Abteilungen am Zentralfriedhof. Insbesondere benötigte es „die allerdringendsten Arbeiten, um die zerstörte Zeremonienhalle am 4. Tor vor dem Zerfall zu schützen“. Zwar wurden die baufälligen Ruinen der Verwaltungsräume beim IV. Tor auf Initiative der Liga für Menschenrechte abgetragen, während die Stadt Wien die Instandsetzung der Kriegsgräber in der Gruppe 76B beim I. Tor unterstützte. Doch der Bericht schloss folgerichtig: „Die vollkommene Wiederherstellung des Areals auf den Zentralfriedhöfen [also die jüdischen Friedhöfe beim I. und IV. Tor] wird noch viele Jahre beanspruchen“. Die verwüsteten Friedhöfen in der Seegasse und Währing wurden hier nicht einmal erwähnt.173 Verschiedene Berichte aus den folgenden Wochen gewähren Einblick in den Aufwand, den die Kultusgemeinde in die Instandsetzungsarbeiten investierte, inklusive finanzieller Art. Beim IV. Tor wurden 55.000 Schilling für die 173 Bericht, 6. Oktober 1955, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/ Österreich/1/1, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
Die innerjüdischen Konflikte rund um die fortdauernde Verwahrlosung der Friedhöfe
Instandsetzung der kriegsbeschädigten Mauer ausgegeben.174 Im Währinger Friedhof beliefen sich die nötigsten Rodungsarbeiten und die Wiedererrichtung umgefallener Grabsteine auf 140.000 Schilling. Die beauftragte Gärtnerei Vacano bemerkte aber, dass die unzähligen „Grabsteine und Eisengitter die durcheinander auf verschiedenen Sammelplätzen liegen […] in ihrem jetzigem Zustand belassen“ werden mussten.175 Der Zustand beim I. Tor war Ende 1955 solcher, wie die beauftragte Gärtnerei Schimek an die Kultusgemeinde berichtete, „daß nicht einmal ein Begehen der in den Gruppen bestehenden Wege, geschweige denn ein Besuch der Grabstellen möglich“ war. Die Kosten alleine für die nötigen Rodungsarbeiten beliefen sich hier schließlich auf 210.000 Schilling. Interessant ist, dass in der Summierung auch explizit die Gruppe 76B, der Soldatenfriedhof, erwähnt wird, was darauf hinweist, dass diese Gruppe doch nicht ordentlich von der Stadtverwaltung betreut wurde, obwohl sie wiederholt in diesen Jahren ihre Bereitschaft dazu erklärte.176 Die Kosten für die Wiedererrichtung von etwa 1.000 Grabsteinen, die Wegschaffung von in Luftangriffen zerstörten Grabsteinen in der Gruppe 19 und die Einebnung der Bombentrichter beliefen sich auf weitere 47.000 Schilling.177 Ende 1955 erstellte die Kultusgemeinde eine Kostenaufstellung für diese grundlegendsten Instandsetzungsarbeiten, inklusive in den Provinzfriedhöfen: Die Gesamtsumme belief sich auf knapp 1.350.000 Schilling.178 Im folgenden Jahrzehnt, zwischen 1955 und 1964, investierte die Kultusgemeinde insgesamt nochmals fast 3,5 Millionen Schilling in die Instandsetzung ihrer Friedhöfe, wobei die beiden Abteilungen des Zentralfriedhofs, bei weitem die größten der jüdischen Friedhöfe Österreichs, den Löwenanteil in Anspruch nahmen. In ihrem Tätigkeitsbericht 1964 – der längste und zugleich letzte dieser Berichte, die die Kultusgemeinde seit ihrer Institutionalisierung 1890/96 herausgab – unterstrich sie die „religiöse Pflicht“ ihrer Mitgliedschaft, die Kultussteuer zu verrichten (bereits in der Zwischenkriegszeit ein großes Streitthema; siehe hier Kapitel 6), denn hierdurch sorgten sie nicht zuletzt für den Bestand und die Erhaltung eines israelitischen Friedhofes [gemeint war ein aktiver Friedhof, hier also der Hauptbestattungsraum der Gemeinde beim IV. Tor] sowie für 174 An die Israelit. Kultusgemeinde, 12. Oktober 1955, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien, diverse Adressen/2/1, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 175 An die Israelitische Kultusgemeinde, 26. Oktober 1955, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien, diverse Adressen/2/1, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 176 An die Israelitische Kultusgemeinde Wien, 10. November 1955, AIKGW, A/VIE/IKG/IIII/LG/Wien, diverse Adressen/2/1, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 177 An das technische Amt der Isr. Kultusgemeinde Wien, 14. November 1955, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien, diverse Adressen/2/1, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 178 Zusammenstellung, 16. Dezember 1955, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/1/1, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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die immerwährende und unantastbare Erhaltung bestandener und aufgelassener israelitischer Friedhöfe [die sonstigen stillgelegten Friedhöfe] und die dem Ritus entsprechende Beerdigung der Verstorbenen.
Ferner verwies der Bericht auf die Tatsache, dass bis 1938 „das Budget der Kultusgemeinde fast zur Gänze aus den Erträgnissen der Kultussteuer und der Friedhöfe gedeckt“ wurde, was nicht nur die Wichtigkeit der Steuerverrichtung, sondern auch den zentralen Stellenwert des Bestattungswesens innerhalb der Gemeindeorganisation unterstrich. Die Kultusgemeinde hielt auch nach 1945 an ihrem althergebrachten – man könnte auch sagen undemokratischen – Prinzip fest, dass nur diejenigen wahlberechtigt waren, die die Kultussteuer zahlten, mit Ausnahme von „Befürsorgten“ innerhalb der Gemeinde.179 Die finanziell strapazierte Kultusgemeinde verfügte bei Weitem nicht über die nötigen Mittel, die vielen Friedhöfe in ihrer Obhut instand zu setzen und laufend zu pflegen. In ihrem letzten Tätigkeitsbericht beschwerte sie sich, dass wiederholt „die freiwillige Hilfe von Mitgliedern der Kultusgemeinde, vor allem bei rituellen Waschungen, in Anspruch genommen werden“ musste, „weil für diese Zwecke Angestellte oder Bedienstete einfach nicht zur Verfügung standen. Es war der Präsident der Kultusgemeinde selbst“, also Ernst Feldsberg, der jahrelang das Friedhofsamt geleitet hatte, „der sich, wann immer es notwendig war, für solche frommen Zwecke zur Verfügung gestellt hat“.180 Wie oben erwähnt, leistete die Republik Österreich 1960 eine einmalige Zahlung von 30 Millionen Schilling an die Kultusgemeinde, womit sie verschiedene Großprojekte in Angriff nahm, darunter die Instandsetzung und Umgestaltung der monumentalen Zeremonienhalle beim IV. Tor als Shoahdenkmal. Diese Leistung reichte jedoch nicht einmal ansatzweise aus, um eine Instandsetzung der geschändeten Friedhöfe zu unternehmen. Diese Widerwilligkeit der österreichischen Politik, sich über die grundlegende Restitution geraubter Liegenschaften hinaus ihrer historischen Verantwortung für die Schändung jüdischer Erinnerungsorte zu stellen, führte die Kultusgemeinde zu ihrer oben bereits zitierten Feststellung aus diesen Jahren, dass in Österreich eben die „innere Bereitschaft zur Wiedergutmachung“ fehlte. Trotz ihrer augenscheinlichen Ohnmacht angesichts des Ausmaßes der Schändungen der NS-Zeit und dem Widerwillen der österreichischen Politik, bei der Instandsetzung der jüdischen Friedhöfe mitzuwirken, wurde die Kultusgemeinde immer wieder von ihrer Mitgliedschaft sowie von der im Ausland lebenden jüdisch-österreichischen Exilgemeinschaft über den wüsten Zustand ihrer Friedhöfe angegriffen, größtenteils zu Unrecht. Ein frühes 179 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Tätigkeit [1964], S. 178, 220–224. 180 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Tätigkeit [1964], S. 180.
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Beispiel ereignete sich bereits 1951, als ein während der NS-Zeit geflüchteter und in Miami ansässiger Professor Fischer einen Beschwerdebrief an die Kultusgemeinde in Wien richtete. Der Brief öffnete mit den Worten, in Blockbuchstaben geschrieben: „EHRET DIE TOTEN!“, und fuhr fort: „Es obliegt nicht mir, fuer 20 Jahren [sic] weg aus Europa, die Grabstelle, die Ihnen anvertraut war, zu reinigen“, nämlich die Grabstätte seines Vaters. Er nannte weder den Standort der Grabstätte noch den Namen seines Vaters, so dass diese nicht zu eruieren sind, doch handelte es sich um eine „Bombenbeschuetteten [sic] Stelle“, also um eine der vielen Grabstätten am Zentralfriedhof, die in Luftangriffen gegen Kriegsende zerstört wurden. Wieder in Blockbuchstaben schreibend fragte Fischer, ob die Kultusgemeinde „nicht die moralische Verpflichtung“ habe, „fuer die Graber [sic], fuer welche sie verantwortlich sind, zu sorgen“, und dozierte, dass ihm dieser Sachverhalt verdeutliche, dass in Europa „mehr Kultur zurueckschauend zu finden ist, als Zivilisation heute“. Er schloss dieses eigens als „Vorwurf “ bezeichnete Schreiben mit der Feststellung (wieder in Blockschrift), dass die Kultusgemeinde „das Judentum beleidig[te] und schaedig[te]“, wofür es „keine Entschuldigung“ gebe. Darum forderte er sie auf, „nicht nur das Grab meines Vaters zu reinigen, sondern alle Graeber, die unwuerdig gehalten sind“. Abschließend zum Thema der hier postulierten „jüdischen Verantwortung“ für die Erhaltung von Grabstätten bemerkte er noch (ebenfalls in Blockschrift): „Ich persoenlich bin ein Protestant.“181 In einem internen Schreiben an Feldsberg kommentierte das Friedhofsamt den Brief verächtlich: Herr Prof. Fischer Komtur des Kronenordens, ist vor 20 Jahren von Europa ausgewandert und dürfte die siebn [sic] Jahre Hitler verschlafen haben, oder so gut gelebt, dass er nur das Schöne gesehen hat. In seinem grenzenlosen Unsinn, hat der Kronenordensritter vergessen überhaupt anzugeben um welches Grab es sich handelt.182
An Fischer selbst antwortete die Kultusgemeinde lediglich mit der abweisenden Feststellung: „Wir bitten Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir mit Andersgläubigen, welche ehemals unserer Glaubensgemeinschaft angehört haben, Diskussionen über jüdische Ethik und Moral, über jüdische Tradition und jüdische religiöse Verpflichtung prinzipiell ablehnen.“183 Diese bissige Auseinandersetzung veranschaulicht eine zweifache Kluft: einerseits zwischen der großen Exilgemeinschaft jüdischer ÖsterreicherInnen (bzw., wie hier, ihre Nachkommen) und der kleinen Gemeinschaft der Zurückgebliebenen, andererseits zwischen den am religiösen Judentum Verhafteten und jenen, die nur 181 Abschrift, 26. März 1951, AIKGW, nicht katalogisierter Bestand. 182 An Herrn Dr. Ernst Feldsberg, 23. April 1951, AIKGW, nicht katalogisierter Bestand. 183 An Herrn Prof. Th. Fischer, 16. Mai 1951, AIKGW, nicht katalogisierter Bestand.
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mehr, wenn überhaupt, an einer familiären oder schicksalsbedingten jüdischen Zugehörigkeit hafteten. Bei allen Betroffenen, wie hier auch deutlich wird, war der Wesen der „Jüdischkeit“ so bedeutungsvoll wie unklar definiert. 1958 gab Ernst Feldsberg schließlich ein Interview mit dem Schriftsteller Peter Herz, um zu dem Umstand Stellung zu nehmen, dass sowohl viele Juden in Wien als auch ehemalige Wiener, die im Ausland leben und nur auf Besuch hierherkommen, immer wieder Klage und Beschwerde darüber führen, daß soviele Gräber auf den jüdischen Friedhöfen Wien’s [sic] ungepflegt, von Gras und Unkraut überwuchert sind, wodurch in vielen Fällen der Zugang sogar unmöglich ist. Diese vergessenen Gräber – so wird beanständet – wären Ankläger gegen die Kultusgemeinde, die ihre Pflicht angeblich nicht erfülle.184
Das Interview wurde jedoch nicht veröffentlicht, weshalb Feldsberg stattdessen über das folgende Jahr versuchte, seine Aussagen in Artikelform an die Öffentlichkeit zu bringen. Vorerst erstellte er eine längere Rohfassung auf Basis des Interviews, die noch im Kultusgemeindearchiv aufbewahrt ist.185 Im November 1958 beschwerte er sich dann gegenüber der Amtsdirektion, dass auch diese Fassung noch nicht veröffentlicht wurde, obwohl die jüdische Zeitschrift Heruth inzwischen einen weiteren Beitrag veröffentlicht hatte, der den Zustand der Friedhöfe scharf kritisierte und die Kultusgemeinde dafür verantwortlich machte. Nun komme Feldsbergs Artikel dieser Kritik nicht mehr zuvor, sondern würde lediglich als Reaktion aufgefasst werden. Er schloss seinen Brief mit den Worten: „Ich bitte also sehr, auch die Frage der Wiener jüdischen Friedhöfe als eine sehr wichtige Frage der Wiener Kultusgemeinde anzusehen“.186 Es dauert noch fast ein ganzes Jahr, bis Feldsberg seinem Kollegen, den Amtsdirektor Wilhelm Krell, eine neuerliche Rohfassung zukommen ließ, die Krell aber „in der vorliegenden Form [als] zur Veröffentlichung nicht [ge]eignet“ betrachtete, offensichtlich weil er Feldsbergs Angriffe gegen seine KritikerInnen als überspitzt empfand.187 Feldsberg erwiderte, er wolle mit seinem Artikel bewirken, dass „die Leute aufhören, immerwieder [sic] gerade mir Vorwürfe wegen des Zustandes der Friedhöfe zu machen“, in Bezugnahme auf seinen wahrlich beispiellosen Einsatz für die Sache der jüdischen Friedhöfe über die letzten zwanzig Jahre. Schließlich befolgte er jedoch Krells Rat und milderte seine Kritik „gegenüber den ausländischen Juden“ etwas ab. Nichtsdestotrotz hoffte er, dass der Artikel „immerhin scharf genug“ blieb, „um die Kultusge-
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Die vergessenen Gräber, o. D., AIKGW, nicht katalogisierter Bestand. Das tragische Schicksal der jüdischen Friedhöfe, o. D., AIKGW, A/VIE/IKG/III/PRÄS/2/1. An die Amtsdirektion, 11. November 1958, AIKGW, A/VIE/IKG/III/PRÄS/2/1. An Herrn Dr. Ernst Feldsberg, 11. September 1959, AIKGW, A/VIE/IKG/III/PRÄS/2/1.
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meinde gegen die Angriffe dieser Leute zu verteidigen“.188 Der Artikel wurde schließlich Ende Oktober 1959 in Die Gemeinde veröffentlicht.189 In allen drei Fassungen – Interview, Rohtextfassung und Publikation – ging es also vordergründig um die Zurückweisung der Kritik, die auf innerjüdischer Seite erhoben wurde, indem betont wurde, dass die Kultusgemeinde weder die Schuld für die Schändung ihrer Friedhöfe trug noch bemittelt war, die Schäden selbstständig zu beheben. Im Interview von Peter Herz wurden die Bestrebungen der Kultusgemeinde seit Kriegsende zwecks Restitution und Instandsetzung der Friedhöfe als „Ruhmesblatt“ ihrer jüngsten Geschichte bezeichnet, ein Wortlaut von Herz, der Feldsberg offensichtlich gefiel, denn er verwendete ihn später in seinen eigenen Schriften. Im Interview, wie Herz über Feldsberg schrieb, „donnert[e] nun erregt der so eifrige Referent für das jüdische Friedhofwesen“ gegen jene, denen es gelang, sich im Inland und vor allem im Ausland wieder sehr erfolgreich in die Wirtschaft einzugliedern, die zu Vermögen gelangt sind, aber an die Gräber ihrer Lieben vergessen haben! Warum wollen diese Zehntausende von emigrierten und im Ausland zu Wohlstand gelangten Juden keine Opfer für die Erhaltung der Friedhöfe aufbringen?
Es fällt auf, dass Feldsberg im Transkript des Interviews erst nach fünf Seiten von den „ausländischen Juden“ weg- und auf die eigentlichen Urheber der Schäden zu sprechen kam: Sonderbarerweise kam noch keiner unserer Kritikaster auf die Idee, ihre Anklagen gegen die öffentliche Hand zu richten. Sind die jüdischen Friedhöfe nicht auch Opfer des Nazismus? Brutal und barbarisch zerstört von Österreichern, die in den Jahren 1938/1939 ihren nationalsozialistischen Enthusiasmus, ihre Treue zum „Führer“ dadurch unter Beweis stellten, dass sie die jüdischen Friedhöfe, die letzte Ruhestätte der Toten, verheert, devastiert und geschändet haben.
Das Interview schloss er aber mit einem weiteren Angriff auf seine Glaubensund SchicksalsgenossInnen, wobei der Hinweis auf Österreich als „Kulturstaat“ in Hinblick auf die mangelnde Auseinandersetzung mit dem von ihm mitbegangenen kulturellen Genozid auffällig ist: Statt anzuklagen und uns zu Unrecht zu beschuldigen, sollten unsere Glaubensbrüder im In- und Ausland sich geschlossen uns zur Seite stellen, um der Kultusgemeinde zu helfen, die Überreste der Nazibarbarei zu beseitigen. Der Kulturstaat Österreich müßte selbst das größte Interesse daran haben.
188 An Reg. Rat Wilhelm Krell, 13. Oktober 1959, AIKGW, A/VIE/IKG/III/PRÄS/2/1. 189 Vergessene Gräber, in: Die Gemeinde, 29. Oktober 1959, S. 7.
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In seiner Rohfassung für den Artikel in Die Gemeinde identifizierte Feldsberg vorerst noch schärfer die Zielgruppe seines Zorns als jene „[e]hemalige österreichische[n] Juden, welche während der Machtherrschaft des Nationalsozialismus emigriert sind und nun als Besucher nach Wien kommen, aber auch in Wien lebende Juden“, die „Anklage“ erhoben „gegen die Wiener Kultusgemeinde und behaupten, daß die Kultusgemeinde ihre Pflicht nicht erfülle, sondern die Friedhöfe verwahrlosen lasse.“ Feldsberg unterstrich mit Recht die Tatsache, dass deren Kritik über das Ausmaß der Verfolgung in der NS-Zeit hinwegsah und den Umstand verfehlte, dass die wenigen Überlebenden, die zurückblieben, „zum großen Teil überaltert und durch die Leiden der nationalsozialistischen Aera seelisch und körperlich gebrochen nicht imstande sind, jene Opfer zu bringen, die notwendig wären, um die jüdischen Friedhöfe in jenem Glanz zu erhalten, in dem sie sich vor dem Jahre 1938 den Besuchern boten“. Die Kultusgemeinde war selbst finanziell auf „die Hilfe des Weltjudentums“ angewiesen und vordergründig mit der Versorgung der Alten und Kranken beschäftigt. Das einzige, was diese Gemeinschaft der Überlebenden wirklich bieten konnte, war die Erfüllung der „Pietät“, indem sie die Friedhöfe aufsuchten, „um gleichsam allen denen, die wirklich tot sind, weil sie vergessen wurden, einen Besuch abzustatten“. Feldsberg listete die „außerordentliche[n] Opfer“ auf, die die Kultusgemeinde für die Sache der Friedhöfe bereits aufgebracht hatte, so etwa Ausgaben von fast einer Millionen Schilling jeweils in den Jahren 1956 und 1957. Über die damals 27 Friedhöfe in Niederösterreich und im Burgenland, die sich nun ebenfalls in Obhut der Kultusgemeinde befanden, bemerkte er, dass sich diese „im Jahre 1945 in einem Zustand der Verwüstung“ befanden: „Die Mauern der Friedhöfe waren niedergerissen, die Grabsteine zum Großteil entfernt. Auf den Friedhöfen weideten Pferde und Kühe“. Die meisten davon konnte die Kultusgemeinde, wie bereits besprochen, wenigstens rudimentär instand setzen. Hier wiederholte Feldsberg die Formulierung von Peter Herz: „Die Opfer, welche die Kultusgemeinde für die Friedhöfe erbracht hat, sind ein Ruhmesblatt in der Geschichte der Wiener Kultusgemeinde.“ Hingegen prangerte er in noch schärferen Worten den vermeintlichen Mangel an Aufopferungsbereitschaft unter den Emigrierten an, die im Ausland wieder sich in den Wirtschaftsprozeß eingegliedert haben und zu Vermögen gekommen sind. Warum haben diese Zehntausende von Juden keine Opfer für die Erhaltung der Friedhöfe gebracht, auf denen ihre Familienangehörigen ruhen? […] Alle vergessen, sich selbst zu prüfen, ob jeder einzelne von ihnen im Rahmen seiner Vermögensverhältnisse freiwillig Opfer gebracht hat, um diese Stätten der Pietät in würdigem Zustand zu erhalten […]. Sie kritisieren und glauben, durch diese Kritik ihr schuldbeladenes Gewissen zu beruhigen.
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Feldsberg erwähnte einen Aufruf, den die Kultusgemeinde am 16. März 1957 in den USA in der jüdischen Zeitschrift Aufbau veröffentlichte, um unter den Emigrierten für Spenden zur Instandsetzung der jüdischen Friedhöfe aufzurufen.190 Dabei deckten die „Eingänge [nämlich 180 US-Dollar], welche diesem Aufruf der Kultusgemeinde folgten, nicht einmal die Kosten der Kultusgemeinde für die Einschaltung dieses Aufrufes [nämlich 200 US-Dollar]“. Auch die Emigrierten mussten „Opfer bringen, um eine jüdische Kultstätte, die für alle, auch für diejenigen, die emigriert sind, für ewige Zeiten eine Kultstätte bleiben wird, instandsetzen zu können“ – eine eindringliche Betonung des Stellenwerts der Friedhöfe auch für die Emigrierten als „Grabstätten der Väter“. Er schloss mit einer aus dem Interview mit Peter Herz abgewandelten Frage, bei der er explizit die aus historischer Perspektive wohl relevantere Problematik der Schuld der nichtjüdischen österreichischen Bevölkerung an der Schändung der jüdischen Friedhöfe und ihre daraus erwachsende Verantwortung thematisierte: Warum haben diese Kritiker nicht einmal ihre Forderungen und Anklagen an die öffentliche Hand gerichtet? […] Die Zerstörung dieser Friedhöfe wurde von Österreichern vorgenommen, von Österreichern, welche vor allem in den Jahren 1938 und 1939 ihre Treue zum Nationalsozialismus dadurch unter Beweis stellen wollten, daß sie das Andenken der Toten geschändet haben. Wäre es nicht Pflicht jeder einzelnen Gemeinde in Österreich, in deren Territorium sich ein jüdischer Friedhof befindet, irgend einen Beitrag zu leisten, um diese Friedhöfe zu erhalten?
Für seinen tatsächlichen Beitrag in Die Gemeinde kürzte Feldsberg diese Abhandlung erheblich ab, ergänzte sie aber zugleich mit einem für ihn typisch verklärenden Exkurs zur biblischen Tradition der jüdischen Bestattungskultur. Bezeichnenderweise richtete sich dieser endgültige Aufsatz viel schneller und viel expliziter auf die historische Schuld Österreichs an den kulturellen Genozid und die verfehlte Restitutionspolitik der Republik in den Jahren danach, wobei Feldsberg nun diese Gelegenheit nützte, um eine konkrete Forderung zu stellen: Das Problem der Wiederherstellung und Erhaltung der jüdischen Friedhöfe in Wien und in den übrigen Bundesländern kann nur dann einer Lösung zugeführt werden, wenn vorerst die Republik Österreich endlich, nach fast 15 Jahren [seit Kriegsende], durch die Bereitstellung von Geldmitteln ihre moralische Pflicht gegenüber den Opfern der Verfolgung erfüllt, denn schliesslich waren es Österreicher, die am 10. November 1938 in ganz Österreich die Gotteshäuser, die Kultstätten und die Zeremonienhallen der jüdischen Friedhöfe zerstört haben, es waren Österreicher, die das Andenken an die Toten geschändet und Friedhöfe devastiert haben. Das Bekenntnis zur Kultur, das Österreich immerwieder [sic] und bei jeder Gelegenheit im In- und Auslande ablegt, bleibt vor der gesitteten Welt so lange nur ein Lippenbekenntnis, als zerstörte Gotteshäuser, zerstörte Zeremonienhallen und zerstörte Friedhöfe die Kulturschande der Nazizeit anklagen. 190 Die jüdischen Friedhöfe in Wien, in: Aufbau, 16. März 1951, S. 25.
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Interessant ist für diese frühe Zeit die explizite Problematisierung des Selbstverständnisses der Zweiten Republik als „Kulturnation“, das seit 1945 so wirksam im In- und Ausland vermarktet wird, angesichts ihrer weitgehenden Weigerung, bei der Instandsetzung geschändeter jüdischer Kulturstätten mitzuwirken. Diese Thematik sollte im öffentlichen Diskurs in den Jahrzehnten um die Jahrtausendwende nochmals verstärkt aufkommen. Erst dann richtete sich Feldsberg ebenso polemisch wie in den früheren Fassungen dieses Textes gegen den hier typisierten „im Ausland lebende[n] ehemalige[n] Österreicher“, der „oft in sehr unhöflicher Weise […] Beschwerden vorbringt, ohne aber selbst zu einem Opfer bereit zu sein“. Feldsberg wiederholte die bereits angeführten Punkte über das Ausmaß der Schändungen, die von der Kultusgemeinde erbrachten Opfer und die Apathie, mit der die Exilgemeinschaft in den USA auf den Aufruf im Aufbau reagiert hatte. Er schloss zweigleisig mit einer Kritik an die Exilgemeinschaft und einer Forderung an die Republik Österreich: Von den im Ausland lebenden ehemaligen österreichischen Juden aber verlangen wir, dass sie sich ihrer Pflicht gegenüber ihren Familienangehörigen, die auf diesen Friedhöfen ruhen, besinnen und, statt Kritik zu üben, Opfer bringen. Von der Republik Österreich aber fordern wir im Namen des Rechtes und der Gerechtigkeit, dass sie die Schuldigen des 10. November 1938 moralisch verurteilt, indem sie deren Schandtaten ein Werk der Kultur und Menschenliebe gegenüberstellt. / Tot ist, wer vergessen ist. / Wir vergessen die Toten nicht! / Die Vergangenheit bleibt über die Gegenwart mit der Zukunft verbunden!
Feldsbergs schroffe Zurückweisung von Kritik auf jüdischer Seite im Ausland reflektierte nicht zuletzt das massive Ungleichgewicht zwischen der großen Exilgemeinschaft, insbesondere in den USA, und der kleinen Nachkriegsgemeinde in Wien. Doch ist die Unterstellung, erstere hätten es alle zu „Vermögen“ geschafft, freilich nicht pauschal zutreffend, im Gegenteil: Das Exil und die häufige Unmöglichkeit einer Neuintegration bedeutete für viele EmigrantInnen wirtschaftliches Versagen und persönliches Leid. Ein stellvertretendes – und ergreifendes – Beispiel von Tausenden liefert Eduard Bloch, ein Linzer Arzt, der Adolf Hitlers Mutter Klara bis zu ihrem Tod 1907 behandelte, deswegen 1940 infolge der persönlichen Intervention des „Führers“ unter günstigen Umständen in die USA emigrieren konnte, dort aber nicht approbiert wurde und schließlich 1945 als gebrochener Mann verstarb.191 Jedenfalls veranschaulichen die emotionalen Beschuldigungen von emigrierten jüdischen ÖsterreicherInnen und die ebenso emotionale Reaktion der Kultusgemeinde in der Person Ernst Feldsbergs mit seiner Aufforderung, selbst jene, die nicht mehr in die 191 Vgl. Hamann: Hitlers Wien, S. 57.
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Heimat zurückgekehrt waren, sollten sich an der Erhaltung der zurückgelassenen jüdischen Friedhöfe beteiligen, den fortwährenden Stellenwert über den Genozid hinaus dieser „Grabstätten der Väter“. Obwohl der alte Friedhof in der Seegasse aufgrund der fast vollständigen Räumung seiner Grabsteine den faktisch weitestgehend geschändeten jüdischen Friedhof in Wien darstellte, war es der Währinger Friedhof, der nach dem Vergleich von 1955 immer wieder als umstrittenster jüdischer Erinnerungsort der Stadt hervortrat. Dies mag sich zum Teil im Kontrast zum kahlen Areal des hinter der Straßenfassade verborgenen Friedhofs in der Seegasse aus der Augenscheinlichkeit der Schändung in Währing erklären, wo bis heute große Flächen mit zusammengehäuften, zerbrochenen Grabdenkmälern übersät sind und sogar einige während der Shoah geöffnete Grabstätten noch offen liegen. Doch entsprangen die Kontroversen um den Währinger Friedhof, vorerst auf den innerjüdischen Diskurs beschränkt, auch aus weiteren Schändungen, die nach dem Vergleich von 1955 dort geschahen. Der ehemalige Aufseher des Währinger Friedhofs, Theodor Schreiber, ein Nichtjude bewohnte mit seiner Frau Emma nicht nur nach der „Arisierung“ des Areals 1942, sondern weiterhin nach Kriegsende und bis zu seinem Tod das daneben gelegene Taharahäuschen. Im Frühjahr 1950 erhielt die Kultusgemeinde eine Mitteilung, die scheinbar (der zu Akten gelegte Brief enthält keine Über- oder Unterschrift) von Angestellten der Verkehrsbetriebe der Wiener Stadtwerke (heute die Wiener Linien) stammte, die gegenüber des jüdischen Friedhofs eine ihrer Remisen beherbergt. Der Brief berichtete, dass die Witwe, die scheinbar nun selbst als „Friedhofsaufseherin“ angestellt war, von den Grabsteinen die Marmorplatten mit den Inschriften [nimmt] und verkauft. Ebenso würden die Bäume von ihr abgeschnitten und als Brennholz weiterverkauft. Auch kleine Grabsteine werden veräussert. Diese Geschäfte betreibt sie schon seit dem Tod ihres Mannes. Es wäre höchste Zeit, diese Frau von dort zu entfernen, denn das ganze Friedhofsinventar ist für sie nur Verkaufsobjekt.
Danach folgt der Hinweis auf die Urheberschaft der Mitteilung, denn der oder die VerfasserIn beschwerte sich, dass „wir [… s]chon jahrelang […] von der Remise aus das Treiben dieser Frau auf dem Friedhof […] beobachten“, und sprach die Meinung aus, dass die Frau dort nicht wohnen dürfen sollte.192 Aus diesem Schreiben lassen sich zwei wichtige Einsichten ableiten: Zum Ersten wurde der Friedhof samt seinen wertvollen Denkmälern in den Jahren, in denen er sich noch im „arisierten“ Eigentum der Stadt Wien befand, durch
192 An die Jüdische Kultusgemeinde, 13. März 1950, AIKGW, A/VIE/IKG/II/FH/3, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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die von der Stadt Wien nach 1942 angestellten „WärterInnen“ weiterhin geschändet und beraubt. Zum Zweiten aber zeigt sich hier eine für diese Zeit beachtliche Intervention seitens (vermutlich nichtjüdischen) Angestellten eines städtischen Betriebs zum Schutz einer jüdischen Kulturstätte. Dieser Vorfall ließ die breite Auseinandersetzung seitens der nichtjüdischen Öffentlichkeit mit dem Schicksal dieses Friedhofs ab etwa den 1990er-Jahren vorausahnen. Im Kontext der frühen Nachkriegsgeschichte bildete dies jedoch in der zivilgesellschaftlichen Rezeption des Währinger Friedhofs eine Ausnahme. Ende April 1955, also wenige Wochen vor Abschluss des Vergleichs zwischen der Kultusgemeinde und der Stadt Wien, veröffentlichte der Neue Kurier einen sensationslustigen Artikel über den Währinger Friedhof unter dem Titel „Grüfte offen, Särge aufgebrochen“. Darin wurde von einer „jugendliche[n] Bande“ bzw. von „Halbwüchsige[n]“ berichtet, „die in der Nacht die Grüfte plündert“, und das angeblich schon „seit Monaten“. Angetrieben wurden sie von der „Gier nach Buntmetall, Schmuckstücken und Goldzähnen“. Graphisch beschrieb der Artikel, der mit Photographien von ausgehöhlten Grabstätten illustriert war, wie die TäterInnen mit „Brechstangen […] die Särge“ öffneten und „nach Ringen und anderen Schmuckstücken [suchten], die man den Toten bei ihrer Beerdigung nicht wegnehmen wollte“, und sogar „Goldzähne aus den Totenschädeln“ herausbrachen.193 Der Wortlaut implizierte, dass diese vermeintlichen Raubaktionen, die zugleich durch Bezeichnungen wie „Jugendliche“ und „Halbwüchsige“ verharmlost wurden, einen regelmäßigen Vorfall am Friedhof darstellten. Im Bericht wurde weder die Verwüstung des Friedhofs während der NS-Zeit erwähnt noch seine jahrzehntlange Verwahrlosung durch die „Ariseurin“, die Stadt Wien, die überhaupt erst solche Schändungsaktionen ermöglicht hatte. In Wahrheit ging es bei den hier abgebildeten offenstehenden Grabstätten augenscheinlich nicht um rezente Schändungen, sondern um Grabstätten, die bereits in den 1940er-Jahren vom Naturhistorischen Museum geöffnet worden waren. Manche von ihnen stehen bis heute offen, sind sogar teilweise mit Sperrmüll gefüllt. In einer Aktennotiz reagierte Ernst Feldsberg erbost auf diese Berichterstattung. Er bemerkte, dass es ein einmaliges Vorkommnis gewesen sei, dass „[h]albwüchisge Burschen“ in Währing „Gräber geschändet“, „Metallsärge geöffnet“ und „das Metall verkauft“ hatten, und dass diese „Bande“ umgehend „von der Polizei aufgegriffen [wurde] und sitzt“. Auf die Behauptung, es wurden Wertsachen und Goldzähne gestohlen, erwiderte er in Bezug auf die Ausgrabungen der frühen 1940er-Jahre: „Ich habe selbst auf diesem Friedhof ca. 500 Gräber exhumiert und zwar Gräber von Mitgliedern reichster Familien. Nicht ein einziges Mal habe ich einen Ring, einen Goldzahn oder sonstige Schmuckstücke 193 Döbling: Grüfte offen, Särge aufgebrochen, in: Neuer Kurier, 30. April 1955, S. 3.
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gefunden.“ Er fragte, wo denn diese Wertsachen gefunden sein sollten, wenn von vielen der über ein Jahrhundert alten Leichen nicht einmal ein Schädel übrig geblieben ist. Nachdem er somit diese antisemitische Vorstellung widerlegt hatte – nämlich dass Jüdinnen und Juden sogar im Tod mit Gold beladen seien – konstatierte er, dass der Kurier von diesen Umständen wusste, aber dennoch „mit diesen Mitteilungen andere Verbrecher auf[munterte], bei anderen Friedhöfen dasselbe zu tun“. Abschließend bemerkte er, dass die Stadtverwaltung neuerlich dazu aufgerufen werden sollte, den ausgebaggerten Teil des Friedhofs, von wo die VandalInnen eindrangen, endlich zuzumauern.194 Dieses Beispiel veranschaulicht nicht nur die negativen Auswirkungen, die die Renitenz der Stadt Wien in den Restitutionsverhandlungen für den Währinger Friedhof bedeutete, sondern auch das andauernde antisemitische Gewaltpotenzial in der Wiener Nachkriegsgesellschaft, das an bereits geschändeten jüdischen Erinnerungsorten ausgetobt wurde. Nicht zuletzt zeigt es die Effekthascherei in Teilen der Medienlandschaft, die ebenfalls subtile antisemitische Inhalte verrät. Im Herbst 1957 schrieb die Technische Abteilung an Feldsberg, dass sie eine Vertragsfirma beauftragt hatte, die Lücken in der Mauer am Währinger Friedhof zu schließen, um dem „Treiben dieser unlautbaren Elemente“ ein Ende zu setzen, und erkundigte sich, ob nicht das Polizeikommissariat informiert werden sollte, dass „immer wieder neue Löcher aufgerissen“ wurden.195 Dies unternahm Feldsberg eine Woche später in einem Schreiben, in dem er sich beschwerte, dass der Friedhof „dauernd durch Jugendliche, die in den Friedhof einsteigen, geschändet“ wurde. „Wir erhalten laufend anonyme Anzeigen und zwar von nicht jüdischen Personen, welche in der Nähe des Friedhofes wohnen.“196 Eine Antwort des Polizeikommissariats ist nicht erhalten. Auffällig ist jedenfalls auch hier der Hinweis, dass es nichtjüdische AnrainerInnen waren, die die Schändungen meldeten. Indes unterbreitete die Stadt Wien 1959 der Kultusgemeinde trotz des abgeschlossenen Vergleichs wieder ein Kaufangebot für den Währinger Friedhof mit der Absicht, diesen aufzulassen, „wobei die Gemeinde Wien sich verpflichten würde, die Gebeine der dort Beerdigten aus allen Gräbern zu exhumieren und für jede Grabstätte gesondert auf dem neuen israelitischen Friedhof auf Kosten der Gemeinde Wien zu bestatten“. Die Kultusgemeinde antwortete, wie üblich, ablehnend mit Verweis auf ihre Praxis der immerwährenden Bewahrung stillgelegter jüdischer Friedhöfe.197 194 An die Amtsdirektion, 10. Mai 1955, AIKGW, A/VIE/IKG/III/Präs/1/3. 195 An Vicepr. Dr. Feldsberg, 21. Oktober 1957, AIKGW, nicht katalogisierter Bestand. 196 An das Polizeikommissariat Währing, 28. Oktober 1957, AIKGW, nicht katalogisierter Bestand. 197 An den Magistrat der Stadt Wien, Magistratsabteilung 65 (Rechtliche Verkehrsangelegenheiten), 2. September 1959, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 18, Währinger Friedhof/1/3, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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Neben weiteren Schändungen und die ausstehende Instandsetzung des Friedhofs sorgte die Abtretung des ausgebaggerten Areals an die Stadt Wien noch Jahre nach Abschluss des Vergleichs für Konflikte innerhalb der jüdischen Gemeinschaft. Noch im Jahre 1967 berief sich die Amtsdirektion im Laufe interner Diskussionen auf die Verhandlungen der frühen 1950er-Jahre, bei der Feldsberg verkündet hatte, dass der ausgebaggerte Teil „mit einem minimalen Preis bewertet [wurde], weil bei der Festsetzung dieses Preises davon ausgegangen wurde, dass ein Bauverbot vorliege“. Mit anderen Worten wurde die Liegenschaft billig verkauft, weil man davon ausging, dass sie als Grünflache bewahrt und nicht in Bauland umgewidmet werden sollte. Wie die Aktennotiz rückblickend bemerkte, wurde das Bauverbot aber tatsächlich „kurze Zeit später aufgehoben“.198 Dass die Kultusgemeinde von einem Bauverbot ausging, erwies sich indes als Fehlinformation: In Wahrheit gingen in den Verhandlungen beide Seiten unverhohlen von einer Bebauung dieser Fläche aus. Das Rechtsbüro der Kultusgemeinde fasste den Ablauf der Verhandlungen in einer Aktennotiz zusammen, als es um die Erhaltung des südöstlichen Teils des Friedhofs als „Grünland“ ging: Diese Bemerkung der Kultusgemeinde haben die Vertreter der Gemeinde Wien mit einem Lächeln beantwortet und auch die Vertreter der Kultusgemeinde haben sich mit Lächeln der Reaktion der Gemeinde Wien auf den Einwand der Kultusgemeinde angeschlossen. Es herrschte Übereinstimmung zwischen der Kultusgemeinde und der Gemeinde Wien, daß trotz Aufrechterhaltung des Kaufpreises für Grünland die Gemeinde Wien dort bauen wird. Dieses Zugeständnis der Vertreter der Kultusgemeinde war darin begründet, daß die Gemeinde Wien auf die Pachtzinsforderung für das Areal des I. Tores der Kultusgemeinde unentgeltlich zur Benützung überlassen wird.199
Vier Jahre nach Abschluss des Vergleichs widmete die Stadt Wien das Areal tatsächlich in Bauland um, mit der Absicht, dort einen Gemeindebau zu errichten. Im Sommer 1959 veröffentlichte Feldsberg eine Stellungnahme dazu, in der er nochmals die Geschichte der „Arisierung“ und Ausbaggerung diesen Teils des Friedhofs zusammenfasste, um der „Flüsterpropaganda“ innerhalb der jüdischen Gemeinde entgegenzutreten. Feldsberg zufolge konnte sich dort „kein Grab mehr befinden, weil die Ausbaggerungen mindestens doppelt so tief waren als die seinerzeit auf diesem Teil bestehenden Gräber“. Somit sah er keinen Einwand aus religiöser oder pietätvoller Sicht gegen die Umwidmung und Bebauung dieses Grundstücks. Eine von der Kultusgemeinde 2002 in Auftrag gegebene Untersuchung ergab aber, dass sich damals tatsächlich noch 198 An Herrn Dr. Schenk, Herrn Dipl. Ing. Schneider, 23. Oktober 1967, AIKGW, A/VIE/IKG/IIII/LG/diverse Adressen/ Österreich/1/8, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 199 An die Amtsdirektion, 3. November 1967, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/diverse Adressen/ Österreich/1/8, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
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Grabstätten entlang des Baugeländes befanden, die während der Konstruktion des Gemeindebaus zerstört wurden.200 Feldsberg erwähnte nebenbei in diesem Beitrag noch die 1941 auf Bestreben der Kultusgemeinde exhumierten „Persönlichkeiten […], die das wirtschaftliche, kulturelle und wissenschaftliche Leben Wiens maßgeblich beeinflußt haben“ und deswegen beim IV. Tor umgebettet wurden, um ihre Leichen vor den rassistischen WissenschaftlerInnen der Universität Wien und des Naturhistorischen Museums zu schützen. „Über deren Wirken und Schaffen im Rahmen einer Artikelserie ausführlich zu schreiben“, wie er seine Intention erklärte, „wird eine ehrenvolle Aufgabe sein“.201 Allen erhaltenen Quellen zufolge verfasste Feldsberg nie eine solche Artikelserie, doch unterstreicht diese Erwägung die Privilegierung von prominenten, zumeist männlichen Persönlichkeiten, die der kollektiven Erinnerungskultur sowie einem Großteil der bisherigen Historiographie zu den Wiener jüdischen Friedhöfen zugrunde liegt. Die Bebauung der Fläche sollte zeitverzögert einen bitteren Konflikt innerhalb der jüdischen Gemeinde auslösen. Doch vorerst ergab sich schon bei der Benennung des neuen Gemeindebaus eine Kontroverse: Im Mai 1962 beschloss die Stadtverwaltung, den neuen Bau in der Döblinger Hauptstraße 1 nach Arthur Schnitzler zu benennen, der in den Sitzungsprotokollen lediglich als „bedeutender österreichischer Dichter“ genannt wurde, der „aus Anlaß seines 100. Geburtstages“ geehrt werden sollte.202 Auf Schnitzlers Jüdischkeit wurde nicht hingewiesen, noch auf eine mögliche Signifikanz der Benennung eines Gemeindebaus nach einem Kulturschaffenden aus einem Milieu, das wenige Jahre zuvor fast restlos ausgemerzt wurde, geschweige denn auf das Paradox dieser Ehrung eines jüdischen Kulturschaffenden in Form eines Bauwerks, das auf einem geschändeten Teil eines jüdischen Friedhofs errichtet wurde, wodurch etliche weitere jüdische Grabstätten geschändet wurden. Im Dezember 1930, weniger als ein Jahr vor seinem Tod, schrieb Arthur Schnitzler an seinem Sohn Heinrich, dass man im Freundeskreis eine „Schnitzler-Renaissance“ prophezeie, worauf er bemerkte: „Ich auch: für 1962“, nämlich seinen hundertsten Geburtstag.203 Er sollte Recht behalten, denn das Jahr 1962 wurde tatsächlich als großes Schnitzlerjahr begangen, paradigmatisch für wie es die Zweite Republik seit ihrer Gründung verstanden hat, aus den kulturellen Strömungen vergangener Epochen zu kapitalisieren. Im März 1962 kündigten die VeranstalterInnen der Wiener Festwochen an, dass der 200 Vgl. Walzer: Der jüdische Friedhof Währing in Wien, S. 189–196. 201 Der alte Währinger Friedhof, in: Die Gemeinde, 26. Juni 1959, S. 5. 202 Gemeinderat, B25/2. Ex. – Gemeinderatsausschüsse GRA III für Kultur, Sitzung von 2.5.1962, WStLA. 203 Wagner, Renate: Wie ein weites Land. Arthur Schnitzler und seine Zeit, Wien 2006, S. 351.
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sudetendeutsche Germanist Herbert Cysarz, ein emeritierter Professor an der Ludwig-Maximilian-Universität München, eingeladen wurde, um die Festrede zu Arthur Schnitzler abzuhalten. Diese Wahl nannte Die Gemeinde einen „macabren Scherz“ angesichts des politischen Hintergrunds des Professors, der in der Zwischenkriegszeit als ausgesprochener Vertreter des „Volkstumskampfes“ in der Ersten Tschechoslowakischen Republik auftrat, später der NSDAP beitrat und nach 1945 in seinen Schriften den Nationalsozialismus verharmloste. Auf eine Beschwerde der Kultusgemeinde hin erwiderten die VeranstalterInnen, man „mache doch endlich einen Schlußstrich unter der Vergangenheit“.204 Schließlich beugten sie sich aber dem Protest und sagten die Festrede ab.205 Der 1923 in Wien geborene, 1938 vertriebene und 2010 in den USA verstorbene Wissenschaftler John Emanuel Ullmann fasste in einem einfühlsamen Vortrag 1992 pointiert den Umgang Österreichs mit den Kulturerzeugnissen der vertriebenen und ermordeten jüdischen Bevölkerung zusammen, die vor der Shoah zu „einem kulturellen Wandel beitrugen, der nicht nur die Region, sondern die ganze Welt beeinflusste“. Er erzählte beispielhaft von einem Besuch in Wien 1963, bei dem er eine Auslage in einer Buchhandlung sah zum Thema „österreichische Nationalliteratur im 20. Jahrhundert“. Die vorgezeigten AutorInnen waren „fast alle jüdisch oder wenigstens ‚angebunden‘“. Ullmann folgerte: Wenn Österreich auf der Weltkulturbühne sein Bestes zeigt, präsentiert es immer noch unsere alten Sachen. Es gibt wenige andere Länder – Griechenland oder Ägypten fielen mir ein – die zu einem vergleichbaren Ausmaß auf ihr Kulturkapital zurückgreifen, und in diesen Ländern hat die heutige Bevölkerung nicht aktiv an seiner eigenen Vernichtung teilgenommen.206
Die Benennung des Arthur-Schnitzler-Hofes wurde weder damals noch heute reflektiert, doch zeugt sie von einer „zweiten Arisierung“ im erweiterten Sinn: nicht nur im oben besprochenen Sinne des von der Stadt Wien nach 1945 erzwungenen Wiederverkaufs jüdischer Liegenschaften, sondern auch die flächendeckende „Arisierung“ jüdischer Kulturschaffender, die zwar nach 1945 lobenswerterweise in den Kanon der „österreichischen“ Kultur wiederaufgenommen wurden, jedoch in völlig „entjudeter“ Form, während die österreichische Politik und Gesellschaft weiterhin einen mehr oder weniger offenen Antisemitismus betätigte, der sich fast ironischerweise soweit erstreckte, dass
204 Der macabre Scherz einer Wiener Dichterehrung, in: Die Gemeinde, 30. März 1962, S. 11. 205 Cysarz-Vortrag über Schnitzler abgesagt, in: Die Gemeinde, 27. April 1962, S. 3. 206 Ullmann: The Jews of Vienna, S. 1, 22, 24.
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die noch lebenden, theoretisch gefeierten, jedoch faktisch verbannten jüdischen Kulturschaffenden im Ausland nicht zurückgebeten wurden. Wie erwähnt, wurde die Kontroverse zum Bau des Arthur-Schnitzler-Hofs aber erst nach einer Verzögerung von ein paar Jahren richtig greifbar. Die Schlüsselfigur war dabei Simon Wiesenthal, der einige Jahre später auch inbrünstig gegen die Instandsetzung der monumentalen Zeremonienhalle beim IV. Tor auftrat. Der Alt-Österreicher wurde 1945 von der US-Armee im oberösterreichischen Konzentrationslager Mauthausen befreit und ließ sich danach im nahegelegenen Linz nieder, von wo aus er sein Dokumentationszentrum betrieb, durch das er versuchte, NS-VerbrecherInnen zu identifizieren, ausfindig zu machen und zur Rechenschaft zu ziehen. Wie der Historiker Tom Segev schilderte, verwickelte sich Wiesenthal, der nicht nur für seinen Kampf um Gerechtigkeit, sondern auch für seine Streitlustigkeit berühmt wurde, 1953 in einen Konflikt mit der Linzer Kultusgemeinde, der fast genau jenen Streit vorausahnte, den Wiesenthal einige Jahre später mit der Wiener Kultusgemeinde führen sollte. Spezifisch warf er der Linzer Repräsentativkörperschaft vor, gemeinschaftliche Liegenschaften „zu einem zu geringen Preis“ zu verkaufen, „darunter auch Teile des Friedhofs“. Die Wiener Kultusgemeinde freute sich zuerst, als Wiesenthal 1961 infolge der Festnahme Adolf Eichmanns samt seinem Dokumentationszentrum nach Wien übersiedelte. Doch bald vergällte das Verhältnis. Segev zitierte Aktennotizen der israelischen Botschaft in Wien, die 1963 bereits der Anschauung war, dass die Situation zweifellos „zu einem öffentlichen Skandal auswachsen [würde], was dem Ansehen der jüdischen Gemeinde insgesamt sicher nicht zuträglich sein wird“. Der Konflikt drehte sich vordergründig um die Verwaltung von jüdischen Gemeindeangelegenheiten, doch artete der Streit zunehmend auf einer persönlichen Ebene zwischen Wiesenthal und Ernst Feldsberg auf, „Ego gegen Ego“, wie es Segev zusammenfasste. Wiesenthal ging so weit, dass er Feldsberg vorwarf, während der Shoah ein Kollaborateur des NS-Regimes gewesen zu sein und an den Deportationen aus Wien nach Nisko am San mitgewirkt zu haben.207 Im Juni 1964 bezog Wiesenthal in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Der Ausweg öffentlich Stellung zum Umgang mit dem ausgebaggerten Teil des Währinger Friedhofs in einem Leitartikel unter dem Titel „Haben wir Hochhausgrundstücke zu verschenken?“, das mit einem ganzseitigen Photo des Arthur-Schnitzler-Hofs illustriert war. Darin konstatierte Wiesenthal, dass die waltenden Umstände in der Kultusgemeinde „zu einer Liquidation des österreichischen Judentums führen könnten“ und behauptete, es sei überhaupt die „ursprüngliche Intention der Machthaber der Kultusgemeinde“ gewesen, eine Auflösung der Gemeinde herbeizusteuern, die schließlich nur durch die 207 Segev: Simon Wiesenthal, S. 162, 221–223.
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andauernde Immigration von „Displaced Persons“ und später von jüdischen Geflüchteten aus dem Ostblock aufgehalten werden konnte – was angesichts der Endzeitstimmung, die unmittelbar nach Kriegsende unter den wenigen Überlebenden in Wien herrschte, gewissermaßen stimmt. Wiesenthal unterstellte der Führungsspitze der Kultusgemeinde aber ferner, sie hätte die Gemeindeverwaltung so organisiert, dass „zwei Sorten von Juden geschaffen“ wurden, also dass die Kultusgemeinde im Wesen undemokratisch war – eine Unterstellung, die auch von anderen Seiten erhoben wurde – und dass sie schließlich versichert hatte, dass „die jüdische Jugend Wiens kein zuhause“ hatte, da es fast kein Schulwesen, keine Bibliothek und kein Kulturprogramm gab. Somit kam er auf den wesentlichen Punkt: „Wenn man dem Judentum in Österreich keine Zukunft einräumt, dann braucht man auch kein Vermögen und deshalb wurde der Großteil des Vermögens der Kultusgemeinde verkauft“, womit er auf den Verkauf verschiedener Liegenschaften in den 1950er-Jahren an die Stadt Wien verwies, inklusive des ausgebaggerten Teils des Währinger Friedhofs. Wiesenthal behauptete, was freilich nicht stimmt, dass verschiedenste Liegenschaften, inklusive das Areal in Währing sowie etwa die Liebfrauengründe beim IV. Tor, insgesamt zum Preis von nur 2.240 Schilling verkauft wurden und dass der tatsächliche Wert alleine von den verkauften Parzellen des Friedhofs das Fünfzigfache ausgemacht hätte. Ferner behauptete er, dass die Kultusgemeinde sich „vertraglich verpflichten mußte“, die noch vorhandenen Grabstätten (deren Existenz Feldsberg ja lautstark dementierte) zu öffnen, und verwies auf die Klausel im Vergleichsvertrag, wonach die Kultusgemeinde keinen Einspruch gegen eine Umwidmung in Bauland des Areals erheben würde. Zusammengenommen demonstrierte diese Sachlage Wiesenthal zufolge, „daß das jüdische Gemeindeeigentum schlecht verwaltet wurde. […] In Berlin, Mailand und vielen anderen Städten wurden kulturelle Einrichtungen geschaffen, in Wien wurden aber nicht einmal die im Bereich der Kultusgemeinde liegenden Friedhöfe geordnet“. Zurückkommend auf seine Unterstellungen des Amtsmissbrauches seitens des Kultusvorstands, bezeichnete Wiesenthal die Kultusgemeinde als „antidemokratisch und diktatorisch“. In Worten, die heute als rassistisch gelten würden, verglich er die zu dieser Zeit voranschreitende Dekolonisierung Afrikas mit der Situation der Judenheit in Österreich: „Was man in Afrika jedem Negerstamm zubilligt, muß auch den Wiener Juden zugebilligt werden“, nämlich die Möglichkeit, „ihre Angelegenheiten unter sich […] zu erledigen“ – Wiesenthal hat auch an anderer Stelle die aus seiner Sicht althergebrachte kulturelle Überlegenheit des jüdischen „Volkes“ betont. Er fragte, was die „Politik überhaupt in der Kultusgemeinde zu suchen“ hatte, und behauptete, dass „die Wiener Kultusgemeinde, als einzige im freien Westen, […] politisch ausgerichtet“ war. Diese Aussage mag zugespitzt sein, doch benannte Wiesenthal somit die tatsächlich
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tendenziöse Politik, die die Wiener Kultusgemeinde seit ihrer Neuetablierung nach Ende der Shoah prägte. Er bestand darauf, dass die Gemeindeorganisation „im wahrsten Sinne des Wortes eine Gemeinde sein [sollte], in der sich jeder Jude zu Hause fühlt“, und forderte einen „Schluß mit dem Liquidationsprogramm und dem Ausverkauf des Gemeindeeigentums“.208 In einem weiteren Beitrag in der gleichen Ausgabe beklagte er zudem, seinen kriegerischen Aussagen hier zum Trotz, dass er von gewissen Seiten zu Unrecht „vom Eichmannjäger zum Kultusgemeindejäger“ verwandelt wurde und beteuerte stattdessen, dass er, als „Ankläger und Sprecher“ für „die Millionen jüdischer Märtyrer und Opfer“, nicht schweigen konnte angesichts des „schreiende[n] Unrecht[s]“ und der „Ungerechtigkeit in unserer Kultusgemeinde“.209 Wenige Wochen vor Erscheinen dieses Artikels schrieb Ernst Feldsberg an Otto Binder, den Generaldirektor der Wiener Städtischen Wechselseitigen Versicherungsanstalt mit der Bitte, ihm eine ungefähre Kalkulation übermitteln zu lassen von den Ersparnissen, die sich die Kultusgemeinde im Zeitraum von 1954 bis zum Jahre 2000 erringen würde durch die Aufhebung ihres Beitrags laut Pachtvertrag von 1891 zu den allgemeinen Erhaltungskosten des Zentralfriedhofs, der durch den Vergleich von 1955 bewirkt wurde.210 Vermutlich wollte er dies gegen Wiesenthal als Argument vorhalten, dass der Vergleich ganz im Interesse der jüdischen Gemeinde stand. Nach Erscheinen von Wiesenthals Beitrag teilte Feldsberg mit seinem Kollegen Wilhelm Krell seine punktuelle Zurückweisung von Wiesenthals Behauptungen. Auffallend ist hier Feldsbergs persönliche Entrüstung („Wer wagt es, zu behaupten, dass hier eine Pietätspflicht verletzt wurde?“) über Wiesenthals Behauptung, es wurden entlang des ausgebaggerten Teiles „restliche Teile von menschlichen Skeletten in der Mauer belassen“, was Wiesenthal zur Aufforderung verleitet hatte, „die Leichenreste zu enterdigen und in würdiger Weise wiederzubestatten“.211 Wie bereits erwähnt, stellte sich Wiesenthals Behauptung Jahrzehnte später allerdings als richtig heraus. Einen Monat später veröffentlichte Ernst Feldsberg eine bissige offizielle Stellungnahme in Die Gemeinde gegen Wiesenthals „demagogische Angriffe“, die „nicht ein Wort der Anerkennung für Leistungen, welche von der Kultusgemeinde vollbracht wurden“ enthielten. Feldsberg erklärte, dass er die „Wertung“ der Sachlage jenen überließ, „denen das Judentum mehr bedeutet als ein Lippenbekenntnis“ – ein deutlicher ad hominem Angriff auf Wiesenthal. Für das 208 Haben wir Hochhausgrundstücke zu verschenken?, in: Der Ausweg, Juni 1964, S. 1–2, 4. 209 Simon Wiesenthal: Ein offener Brief, in: Der Ausweg, Juni 1964, S. 4. Hervorhebung im Original. 210 An Herrn Generaldirektor Otto Binder, 22. Mai 1964, AIKGW, A/VIE/IKG/III/PRÄS/3/1. 211 An Herrn Reg. Rat Krell, 30. Juni 1964, AIKGW, A/VIE/IKG/III/PRÄS/3/1.
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„Ansehen nach außen hin“ der österreichischen Judenheit betrachtete er es allerdings als notwendig, Wiesenthals Behauptungen zu widerlegen, da bereits die Salzburger Nachrichten und das Salzburger Volksblatt über den Konflikt Bericht erstattet hatten, „die beide deutschnationalen und FPÖ-Kreisen nahestehen“. Somit warf er dem „Ingenieur Wiesenthal“ vor, er schade dem Ruf der Judenheit in Österreich mit seinen öffentlichen Angriffen. Seine Erwiderung eröffnete er mit einer längeren „Vorgeschichte“ des Währinger Friedhofs, die bis 1941 zurückreichte, wobei er die Ausbaggerung und die Exhumierungen resümierte sowie die „Arisierung“ des Friedhofs beim I. Tor, die „nach Ablauf der zehnjährigen gesetzlichen Frist“ dazu geführt hätte, dass dieser Bestattungsraum „eingeebnet“ wäre. Dann zitierte er den Originalwortlaut des Vergleichs mit der Stadt Wien, der das „dauernd[e] und unentgeltlich[e]“ Benützungsrecht letzteren Friedhofs durch die Kultusgemeinde als „ausschließliche Friedhofseigentümerin“ gewährleistete. Die Abtretung des ausgebaggerten Areals in Währing, so schloss er, war ein winziger und angemessener Preis für diese Errungenschaft. Zudem verwies er auf sein persönliches Mitwirken an der Wegschaffung der ausgegrabenen Leichenteile 1942, wodurch er Wiesenthals Behauptung zu widersprechen meinte, dass sich dort beim Bau des Arthur-Schnitlzler-Hofs noch Leichen befanden. Ferner bemerkte er, dass die Stadt Wien auf Anforderung der Kultusgemeinde „eine Reihe von Wohnungen“ im neuen Gemeindebau für jüdische Familien reserviert hatte – rückblickend betrachtet so etwas wie ein Sündenerlass für die Stadt Wien. Beachtenswert ist übrigens an Feldsbergs Stellungnahme, dass sie auf der Vorderseite des Presseorgans der Kultusgemeinde abgedruckt wurde, ein offensichtliches Privileg aufgrund von Feldsbergs Machtposition als Präsident der Kultusgemeinde, das Wiesenthals Unterstellung von antidemokratischen Verhaltensweisen unter der Führungsschicht nicht gerade widersprach.212 Dies erinnert an die im vorherigen Kapitel aufgezeigte Ausgrenzung der liberalen Gemeinde Or Chadasch in den 1990er-Jahren, die keine Mitteilung in Die Gemeinde veröffentlichen konnte, ohne dass dieser gleich ein Widerspruch vom feindlich gesinnten orthodoxen Oberrabbiner gegenübergestellt wurde. Diese öffentliche Fehde trug, wie die israelische Botschaft vorausgesagt hatte, wahrlich nicht positiv zum Ansehen der österreichischen Judenheit in dieser ohnehin schwierigen Zeit bei. Schließlich reagierte die Kultusgemeinde mit der Übernahme von Wiesenthals Dokumentationszentrum, was laut der Botschaft „mit reichlich Verschlagenheit und unter dem Deckmantel demokratischer Gepflogenheiten erfolgte“.213 Wiesenthals Protest über den „billigen“ Verkauf des südöstlichen Teils des Währinger Friedhofs, der von vielen Seiten innerhalb 212 Die Wahrheit ist unbesiegbar, in: Die Gemeinde, 31. Juli 1964, S. 1. 213 Zit. nach Segev: Simon Wiesenthal, S. 223.
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der Kultusgemeinde geteilt wurde (die Feldsberg als „Fraktion Wiesenthal“ herabsetzte), führte aber schließlich doch 1971 zu einer Nachzahlung der Stadt Wien in Höhe von einer halben Millionen Schilling, das Fünffache, was sie ursprünglich 1955 bezahlt hatte.214 Ende 1964 kam es nochmals zu einem ähnlichen Streit zwischen Wiesenthal und Feldsberg, dieses Mal in Bezug auf die Exhumierung von Massengräbern. Wiesenthal hatte im Ausweg behauptet, dass es allen anderen Kultusgemeinden in Österreich gelungen war, die Massengräber in ihren Sprengeln zu identifizieren und zu exhumieren, aber dass die Wiener Kultusgemeinde diese Pflicht der Pietät versäumt hatte, wobei wieder bemerkt werden muss, dass seit 1945 der überwiegende Teil der jüdischen Grabstätten in Österreich in Obhut der Wiener Kultusgemeinde steht. Feldsberg verwies in Die Gemeinde in Reaktion auf diese „unrichtigen Anschuldigungen und Verdächtigungen“ auf ein Massengrab in der Nähe von Linz, wo Wiesenthal bis vor Kurzem Vizepräsident des Kultusvorstands gewesen war, bei der die Entscheidung getroffen wurde, nicht zu exhumieren. Er bezog sich auf den Wiener Oberrabbiner Akiba Eisenberg, dass es aber ein religiöses Gebot sei, die Leichen aus Massengräbern zu exhumieren und in jüdischen Friedhöfen wieder zu bestatten. Ferner verwies er richtigerweise darauf, dass die Wiener Kultusgemeinde laufend solche Exhumierungen vornahm, und ergänzte noch: „Ich habe an alle Exhumierungen persönlich teilgenommen, ich selbst habe die Gebeine von Hunderten Märtyrern in Särge gelegt und wiederbestattet“. Wiesenthals Anschuldigungen wies er auf Denglisch als pure Sucht nach „Publicity“ ab, also als Art Sensationslust.215 Wiesenthal trat schließlich auch 1967 bei der Instandsetzung der Zeremonienhalle beim IV. Tor als Kontrahent des Kultusvorstands auf, wobei er sich allerdings nicht durchsetzen konnte. Das Hochhausfiasko um 1964 – bei dem der Währinger Friedhof nicht zum letzten Mal als Schauplatz für die Verhandlung des Erbes und der gegenwärtigen Ausrichtung des jüdischen Gemeinschaftswesens diente – stellte vorerst einen Höhepunkt in den innerjüdischen Diskursen um die Friedhöfe dar. Bis zu den späten 1970er-Jahren setzte dann aber wieder Schweigen über das Thema der Friedhöfe ein. Ein interessanter Vergleich mit der Bebauung des Areals in Währing findet sich beim ehemaligen jüdischen Friedhof im Hamburger Stadtteil Ottensen.216 Auf diesem Grundstück sollte in den späten 1980er-Jahren ein Warenhaus entstehen, doch nach heftigen Proteststürmen wurden die Baupläne wenigstens so abgeändert, dass die Grabstätten im Erdreich selbst unangetastet belassen wurden. Heute gedenkt eine Tafel im Innenbereich der namentlich bekannten 214 Adunka: Die vierte Gemeinde, S. 275. 215 Die Toten selbst legen Zeugnis ab, in: Die Gemeinde, 16. Dezember 1964, S. 3. 216 Vgl. zum Hintergrund Wirsching: Jüdische Friedhöfe in Deutschland, S. 8.
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Verstorbenen. Hier zeigt sich eine fortlaufende Dynamik in der Bundesrepublik, wobei antijüdische oder wenigstens unsensible Vorfälle dermaßen kritisch im In- wie im Ausland rezipiert werden, dass es einen greifbaren Einfluss auf den Umgang mit jüdischem materiellem Erbe bewirkt. In Österreich hingegen fehlte es, vor allem vor den 1980er-Jahren, oft an solchen kritischen Stimmen, sodass Projekte wie der Bau des Arthur-Schnitzler-Hofs außerhalb der jüdischen Gemeinschaft weitgehend unbeachtet vorangetrieben werden konnten. Bis heute gibt es keinerlei Gedenkzeichen an dieser Stelle, das auf die Hintergründe der Entstehung dieses Gemeindebaus aufmerksam macht.217 Nur der Name des Wohnhauses steht stellvertretend für die zynische Erinnerungs- und Kulturpolitik, für die „zweite Arisierung“ der Zweiten Republik. 10.5
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Keiner der Wiener jüdischen Friedhöfe wurde so vollkommen geschändet wie der älteste, der Friedhof in der Seegasse, wo bis auf die in den Mauernischen befestigten mittelalterlichen Grabsteinfragmente der sichtliche Friedhofscharakter des Areals durch die Wegschaffung der Grabsteine 1943 de facto ausgelöscht wurde. Doch schon bald nach Kriegsende sollte dieser Bestattungsraum, wie es bereits im 19. und frühen 20. Jahrhundert der Fall war, aufgrund seiner „Historizität“, also seines empfundenen kulturhistorischen Werts, zum Gegenstand diverser Instandsetzungsinitiativen werden, sowohl von jüdischer wie von nichtjüdischer Seite. Dies führte schließlich in den frühen 1980er-Jahren zu einer weitreichenden Restaurierung des Friedhofs, die sich als Vorbote einer breiteren Wende im politischen und gesellschaftlichen Umgang mit den jüdischen Friedhöfen Wiens erweisen sollte. Wie eingangs erwähnt, stellte der Friedhof in der Seegasse eine bedeutende Ausnahme in der Wiener Restitutionsgeschichte dar, als einziger „arisierter“ jüdischer Friedhof, der sofort nach Kriegsende der Kultusgemeinde restituiert wurde – allerdings bezeichnenderweise nur unter Druck der US-Besatzung, da das ehemalige jüdische Altersheim, auf dessen Grundstück der Friedhof bestand, dringend als Rückkehrerheim und Spital benötigt wurde. Wie die 217 2007 verlangte die FPÖ die Errichtung einer Gedenktafel, was aber aufgrund des beträchtlichen innerhalb der Partei grassierenden Antisemitismus offensichtlich nichts weiteres als einen zynischen Einfall darstellte, um die sozialdemokratische Stadtregierung zu verunglimpfen, was auch explizit aus ihrem Pressebericht hervorgeht: FPÖ fordert Gedenktafel am Arthur-Schnitzler-Hof in Währing!, 16. März 2007, https://www.ots.at/presseaussendung/ OTS_20070316_OTS0161/fpoe-fordert-gedenktafel-am-arthur-schnitzler-hof-in-waehring, letzter Zugriff: 31. August 2020.
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Historikerin Elizabeth Anthony folgerte, veranschaulicht dieser Fall paradigmatisch die „Kooperation der Kultusgemeinde mit und ihre Abhängigkeit von den US-Besatzungskräften“, die als Schutzmantel fungierten gegenüber den nach wie vor vom rechten bis zum linken politischen Flügel antisemitisch eingestellten österreichischen Nachkriegsbehörden. Die Zuneigung der Überlebenden zu den USA als befreiende Staatsmacht zeigte sich etwa in der Gedenkveranstaltung, die am 12. April 1946 im Rückkehrerheim zum ersten Todestag des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt abgehalten wurde. Viele dieser jüdischen Überlebenden wanderten schließlich auch in die USA aus. In Anthonys Studie findet sich zudem als Randbemerkung der interessante Hinweis, dass die Überlebenden in der Seegasse „im Garten Sport trieben“.218 Bei einem erheblichen Teil des „Gartens“ handelte es sich um den aufgelassenen, nun mehr grabsteinleeren Friedhof. Scheinbar störte es die Gemeinschaft der jüdischen Überlebenden nicht, auf diesem Bestattungsraum solch „profane“ Aktivitäten auszuüben, was wiederum die Notwendigkeit unterstreicht, die heute recht hegemonial gewordenen Anschauungen des orthodox-religiösen Judentums nicht ohne Weiteres als „gesamtjüdische“ Praxis zu akzeptieren, wie es allzu oft in der laizistischen Wissenschaft zur jüdischen Sepulkralkultur geschieht. Im Sommer 1947, als die Folgen des Kriegs im Wiener Stadtbild noch weithin sichtbar waren, veröffentlichte die Wiener Zeitung, die älteste Tageszeitung Wiens und zugleich das offizielle Amtsblatt der österreichischen Regierung, einen Artikel über die „halbtausendjährige Begräbnisstätte“ in der Seegasse und ihre Zerstörung während der NS-Zeit. Auffällig ist hier nicht nur das erstaunlich frühe Datum dieser Auseinandersetzung seitens der medialen Öffentlichkeit mit diesem jüdischen Erinnerungsort und dem kürzlich vergangenen kulturellen Genozid, sondern auch die offensichtliche Wertschätzung, die dabei den jüdischen Erinnerungsorten Wiens und der Kultur, die sie verkörperten, beigemessen wurde. So bezeichnete der Artikel die beiden Friedhöfe in der Seegasse und in Währing nicht nur als „ein achtenswertes Denkmal der Pietät des Judenvolkes für seine Toten, sondern in ihren Grabsteinen auch ein halbes Jahrtausend Geschichte des Wiener Judentums“. Auffällig ist aber auch die Zuweisung der Schuld an ihrer Schändung an das „braune Regiment“: Als allgemeiner Verweis auf die NationalsozialistInnen war dies nicht vollkommen unrichtig. Dieser Hinweis kann jedoch als eine für die Zweite Republik recht typische, wenngleich stillschweigende Gleichstellung der Verbrechen mit „den Nazis“ und somit als gewisse Schuldentlastung der lokalen Wiener Instanzen
218 Anthony: Return Home, S. 147–149.
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verstanden werden, die tatsächlich für die „Arisierung“ und Schändung der jüdischen Friedhöfe der Stadt verantwortlich waren.219 Bezugnehmend auf diesen Artikel kontaktierte gegen Jahresende das Bundesdenkmalamt auf Initiative den bereits mehrfach besprochenen Stadtkulturratsbeamten Viktor Schneider die Kultusgemeinde mit der Nachfrage, ob diese vorhatte, eine Instandsetzung des Friedhofs in Angriff zu nehmen, wofür das Bundesdenkmalamt seine Unterstützung anbot – wie Schneider sich bereits unmittelbar nach Kriegsende für grundlegende Instandsetzungsarbeiten im Währinger Friedhof eingesetzt hatte. Der Kultusgemeindepräsident David Brill, der offensichtlich von Schneiders Bemühungen zur Erhaltung des Friedhofs in der Seegasse während der NS-Zeit Bescheid wusste, antwortete auf dieses „geschätzte Schreiben“, um seinen herzlichsten und verbindlichsten Dank für die Obsorge um den historischen jüdischen Friedhof in der Seegasse auszusprechen. Es ist ermutigend und wohltuend, in dieser Zeit von Menschen zu hören, die während der nationalsozialistischen Herrschaft – vielleicht sogar unter Gefährdung ihrer Sicherheit – den Mut und die Menschlichkeit aufgebracht haben, sich um solche ehrwürdige jüdische Kulturdenkmäler zu bekümmern. In der Angelegenheit des Friedhofes bzw. seiner evtl. Restaurierung lassen wir genaue Erhebungen machen, von denen wir Sie zeitgerecht verständigen werden.220
Angesichts der schleppenden, ja zynischen Restitutionspolitik, die in diesen Jahren seitens der Stadt Wien in Bezug auf den von ihr geraubten und geschändeten jüdischen Erinnerungsorten betrieben wurde, ist die erneute Anteilnahme des Bundesdenkmalamts beachtenswert. Es wird hier eine erstaunliche Kontinuität mit ihren Vorgängerinstitutionen sichtbar, die sich schon zu k.u.k. Zeiten, in der Ersten Republik, unter dem Austrofaschismus und dann sogar noch während der NS-Zeit stets für die Bewahrung dieses Friedhofs, dem ältesten erhaltenen der Stadt Wien, einsetzte. Anfang 1948 tagte die Friedhofskommission der Kultusgemeinde, um eine mögliche Instandsetzung zu besprechen. Es wurde in Erwägung gezogen, „das Offert einer Steinmetzfirma“ einzuholen um die Grabsteine, die seit 1943 beim IV. Tor lagerten, wiedererrichten zu lassen, doch die Kommission war sich im Vorfeld bewusst, dass dabei mit „grosse Kosten“ zu rechnen war. Das Vertreterkollegium der Kultusgemeinde schlug vor, die „Friedhofinstandhaltungsbeiträge, welche bei Beerdigungen zu leisten sind“ zu erhöhen, doch wurde sogleich festgestellt, dass bei „der geringen Zahl der Beerdigungen […] eine solche Auflage die faktischen Kosten auch nicht annähernd decken“ würde. Hier handelte es sich um den bereits in der Vorkriegszeit etablierten Brauch, 219 Eine halbtausendjährige Begräbnisstätte zerstört, in: Wiener Zeitung, 13. Juli 1947, S. 2. 220 An das Bundesdenkmalamt, 8. Jänner 1948, AIKGW, A/VIE/IKG/III/AD/33/5.
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bei Begräbnissen der höheren Klassen einen zusätzlichen Betrag zu erheben, um die Begräbnisse der ärmeren Klassen mitzufinanzieren. Eine erhaltene Rechnung für eine Grabstelle der ersten Klasse aus dem Jahre 1977 beinhaltet beispielsweise einen „Friedhof-Erhaltungsbeitrag“ von 1.000 Schilling, etwa fünf Prozent der Gesamtkosten dieser Rechnung.221 Es ist jedoch fraglich, insbesondere in Bezug auf die frühe Nachkriegszeit, ob die kleine Gemeinschaft größtenteils mittelloser Überlebender solche Kosten überhaupt hätte tragen können. Die Kommission entschloss sich demnach, sich vorerst um die Restitution der Friedhöfe in Währing und Floridsdorf zu bemühen und das nun leere Friedhofsareal in der Seegasse lediglich einzuzäunen und mit einem Rasen zu bedecken, „in dessen Mitte eine würdige Gedenktafel mit einer entsprechenden Inschrift aufzustellen wäre“.222 Diese minimalistische Instandsetzung entsprach dem Format, das in den darauffolgenden Jahren erfolgreich in den kleineren, oft ebenso grabsteinleeren jüdischen Friedhöfen in den Bundesländern angewandt wurde, das den Vorteil hatte, kostengünstig zu sein und die Friedhöfe als pflegeleichte Mahnmale zu erhalten.223 Dennoch offenbart sich hier die Auffassung der Kultusgemeinde in der frühen Nachkriegszeit, dass der Friedhof in der Seegasse grundsätzlich nicht in seinem früheren Erscheinungsbild instand zu setzen sei. In den folgenden Jahren wurden dann anscheinend die Verfrachtung und das Begräbnis der Grabsteine auf dem jüngsten jüdischen Friedhof beim IV. Tor vergessen, denn ihre „Entdeckung“ in den 1980er-Jahren kam als Überraschung. 1954 berichtete die Wiener Zeitung wieder vom Friedhof in der Seegasse, den sie in (bewusster oder unbewusster) Anlehnung an die Historiographie der vorherigen Jahrhundertwende als „eine der eigenartigsten Gedenkstätten Wiens“ bezeichnete. Die Geschichte des Friedhofs wurde wahrheitsgetreu wiedergegeben, dieses Mal inklusive der in den frühen 1940er-Jahren von NS-WissenschaftlerInnen geplanten, doch schließlich nicht durchgeführten Exhumierungen. Richtig resümierte der Artikel, dass „die in der Gartenmauer eingearbeiteten Trümmer von Grabsteinen […] die einzigen Denkzeichen“ darstellten, „die jetzt noch auf ihrem alten Platz zu sehen sind“.224 Der Artikel wurde nur drei Tage später im Presseorgan Iskult – Presse – Nachrichten als „bemerkenswerte Darstellung“ rezipiert, die „eindringlich an eines der grössten Kulturverbrechen des NS-Regimes“ erinnerte, wobei es als erfreulich aufgefasst 221 Rechnung, 4. März 1977, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 11, Zentralfriedhof/1/1, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 222 Protokoll der Sitzung der Friedhofskommission am 19. Feber 1948, AIKGW, nicht katalogisierter Bestand. 223 Vgl. Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Tätigkeit [1964], S. 191–195. 224 Der alte Judenfriedhof in der Seegasse, in: Wiener Zeitung, 7. März 1954, S. 6.
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wurde, dass sich die nichtjüdische Öffentlichkeit überhaupt mit dieser Thematik befasste.225 Wie auch in späteren Jahren klar wurde, war die jüdische Gemeinde stets sensibel gegenüber der Auseinandersetzung mit jüdischen Belangen seitens der nichtjüdischen Bevölkerung. Insgesamt rückte dann aber der Friedhof in der Seegasse jahrelang deutlich in den Hintergrund, da die Kultusgemeinde mit anderen Instandsetzungsund Erinnerungsprojekten beschäftigt war. Ab 1953 war in den Gebäuden in der Seegasse sowohl das Altersheim wie das Spital der Kultusgemeinde untergebracht, da das große Rothschild-Spital am Währinger Gürtel unweit des Währinger Friedhofs, das ab 1945 auch als Heim für „Displaced Persons“ diente, im Krieg zu schwer beschädigt worden war, um weiterhin seiner ursprünglichen Funktion zu dienen.226 Als 1970 schließlich ein neues jüdisches Altersheim im 19. Bezirk öffnete, wurde das im späten 19. Jahrhundert errichtete Heim in der Seegasse endgültig geschlossen. Demnach stand vor dem verwahrlosten, grabsteinleeren Bestattungsraum ein leeres Haus. In diesem Zusammenhang flammte Mitte der 1970er-Jahre wieder die Kontroverse um den Verkauf von gemeinschaftlichen Liegenschaften auf, als Gerüchte kursierten, dass die Kultusgemeinde das ehemalige Altersheim samt dem daneben gelegenen Friedhofsareal an die Stadt Wien verkaufen wollte. Daraufhin veröffentlichte die Kultusgemeinde einen Artikel, den sie als „notwendige Aufklärung“ angesichts dieser „vollkommen unrichtig[en]“ Vorwürfe bezeichnete. Auffallend ist an diesem Artikel nicht nur die Verbreitung von Fehlinformationen über die Geschichte des Friedhofs, sondern auch die anscheinend geringe Wertschätzung des damaligen Kultusvorstands, die implizit aus dem Text hervorgeht. So wurde fälschlich behauptet, dass „die Grabsteine“ (womit alle Grabsteine impliziert wurden) 1952/53 „in die Grenzmauer“ des Friedhofs eingearbeitet wurden, die zuvor „in wüsten Haufen durcheinander“ auf dem Friedhofsgelände lagen, da dieser Friedhof „wie alle anderen Friedhöfe während der NS-Gewaltherrschaft von vandalischen Horden“ geschändet worden war. Hier zeigte sich im Vergleich zur oben zitierten Kommissionssitzung, dass das tatsächliche Schicksal der Grabsteine bereits in Vergessenheit geraten war. Der Artikel bezeichnete den alten Bestattungsraum als „längst aufgelassenen Friedhof “, wobei eine Diskussion um dessen Erhaltungswert implizit vorweggenommen wurde. In Bezug auf seine mögliche Veräußerung wurde zwar eingestanden, dass dem Kuratorium der Wiener Pensionistenheime gestattet wurde, eine Besichtigung und sogar Messungen des Geländes durchzuführen, doch wurde zugleich vehement betont, dass dies „überhaupt nichts 225 Der alte Judenfriedhof in der Seegasse, in: Iskult – Presse – Nachrichten, 10. März 1954, S. 9–10. 226 Israelitische Kultusgemeinde Wien (Hg.): Tätigkeit [1964], S. 135–136.
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bedeutet“; dass die Kultusgemeinde „die genannten Gründe nicht zu verkaufen“ intendierte und dass alle gegenteiligen Aussagen „einfach unwahr“ seien. Erst dann wurde eingestanden, dass der Kultusvorstand das Grundstück allerdings freigeben würde, um „ein Gebäude, ein Hotel oder ein anderes Bauwerk aufzuführen. Es muß jedoch das Eigentum an dieser Realität der Kultusgemeinde erhalten bleiben“.227 Was dabei mit dem Friedhof geschehen sollte, wurde hier nicht ausgeführt. In einem weiteren Artikel in der gleichen Ausgabe wurde aber auf die hohen Kosten verwiesen, die die Friedhöfe der Kultusgemeinde insgesamt in Anspruch nahmen, nämlich etwa 800.000 Schilling pro Jahr. Lakonisch wurde dazu bemerkt: „Das Präsidium und die Amtsdirektion führen Verhandlungen, um weitere Friedhöfe der Verwaltung der betreffenden Gemeinden zu übergeben“, also in anderen Worten die Liegenschaften in die Obhut von nichtjüdischen Behörden zu übergeben, wobei es sich vermutlich um Provinzfriedhöfe handelte.228 Dies war eine deutliche Kehrtwende im grundsätzlichen Umgang der Kultusgemeinde mit ihren historischen Friedhöfen, die wohl erst nach Ernst Feldsbergs Tod 1970 möglich wurde. Die folgenden zwei Jahre waren von Unentschlossenheit über das weitere Schicksal des Grundstücks in der Seegasse geprägt. Einer, der sich besonders intensiv mit dieser Problematik beschäftigte, war der Historiker und Publizist Josef Toch. Dieser war in der Zwischenkriegszeit eine führende Persönlichkeit im Wiener Hechaluz, dem linken zionistischen Jugendverband und kämpfte im Spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Internationalen Brigaden.229 Die Shoah, die er im Vereinigten Königreich überlebte, wirkte offensichtlich tief auf sein Selbstverständnis als Jude ein, denn zu genau der Zeit, als er sich mit der Seegasse auseinandersetzte, bezeichnete er sich in einem Beitrag in Die Gemeinde zudem als Zionist und als „ein wissender Jude und ein gläubiger Jude“.230 Toch hatte scheinbar einiges an Material zum Friedhof angesammelt, denn in einem Brief an den Wiener Vizebürgermeister Hubert Pfoch – ebenfalls ein langjähriger Sozialdemokrat, Wehrmachtsdeserteur und späterer Präsident des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands – schrieb er von „einer ziemlich umfangreichen Dokumentation zu dem Thema aus dem durch meine Wohnungsrenovierung durcheinandergekommenen Archiv“.231 In seinem Nachlass befindet sich einiges an Material, inklusive handgeschriebener Notizen zum Friedhof, das vermutlich genau aus diesem Zeitraum um 227 228 229 230 231
Zum Thema „Seegasse“, in: Die Gemeinde, 8. Jänner 1975, S. 3. Das Budget der Kultusgemeinde, in: Die Gemeinde, 8. Jänner 1975, S. 18. Vgl. Berkley: Vienna and its Jews, S. 191 und Adunka: Die Vierte Gemeinde, S. 337. Von der Schwierigkeit, ein Zionist zu sein, in: Die Gemeinde, 7. April 1976, S. 15. O. T., 5. Februar 1981, DÖW, 51.173-123.
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etwa 1976/77 stammt. Darin resümierte er poetisch die Geschichte des alten Bestattungsraums: „Eine große Vergangenheit – eine kleine Gegenwart. Ein großer Schatten“, und fragte sich: „Problem: Den Friedhof so zu restaurieren wie er gewesen war […]? Er soll echt sein aber eben nicht [unlesbares Wort], nicht verhübscht, nicht idyllisch. […] Er soll nichts verheimlichen und dennoch den Frieden vermitteln.“232 Anderswo beschrieb er den Friedhof als eine „mit Unkraut überwachsene Wüstenei, auf der keine Grabmäler mehr zu sehen sind“.233 Die Intensität, mit der Toch sich nicht nur mit dem Schicksal des alten Friedhofs, sondern insgesamt mit den „Brandstätten“ der zerstörten Wiener jüdischen Kultur auseinandersetzte, geht auch aus einem Appell hervor, den er an die Kultusgemeinde richtete, in dem er den Mangel nicht zuletzt an Erinnerungszeichen im Stadtbild anprangerte, die diese Zerstörung sichtbar machen sollten: Jeder Jude muß beim Anblick der Brandstätten, auf denen sich einmal jüdische Gotteshäuser befunden haben, mit Schmerz feststellen, daß dort keinerlei Hinweis an ihr früheres Bestehen erinnert. Auch die Neubauten, die dort – zu anderen Zwecken – nach 1945 zum Teil errichtet wurden, ermangeln insgesamt jedes manifesten Zeichens der Heiligkeit und der Schande, auf denen sie gebaut worden sind. So wird, was dort gewesen und geschehen ist, in naher Zukunft zum Nichtgewesenen und zum Ungeschehen verdämmern.
Diesen Zustand führte er darauf zurück, dass Jene, die schon durch ihre Zahl auf Behebung solchen Mißstands gedrängt hätten – die 250.000 [sic, Übertreibung] österreichischen Juden vor 1938 – selber zunichte gemacht worden sind. Wie gering sind im Vergleich hierzu die Zahl und die Kraft der Zurückgekehrten oder Derjenigen, die sich nach 1945 hier niedergelassen haben! Jetzt jedoch, da sie sich eine neue Existenz aufgebaut haben, muß ihnen gesagt werden, daß sie es sich selber schuldig sind, das Andenken an ihre Vorgänger und an deren Errungenschaften und Einrichtungen aufrecht zu erhalten. Daher wende ich mich an Jene, die sie als Juden führen und vertreten, mit der Bitte, sie mögen beschließen und ermöglichen, daß an den erwähnten Grundstücken oder Neubauten Gedenktafeln angebracht werden. Diese Aufgabe sollen die israelitischen Kultusgemeinden in ganz Österreich auf sich nehmen, auch wenn die Brandstätten unterdessen verkauft oder bereits verbaut worden sind. Wenn die neuen Grund-, Bau- oder Hausherren dies nicht zulassen sollten, dann mögen entsprechende Verfügungen von den Gemeindeverwaltungen, Landesregierungen und wenn nötig, auch von der Bundesregierung erwirkt werden.
232 Die Seegasse, o. D., DöW, 51.173/123. 233 Zit. nach Veran: Das Steinerne Archiv, S. 164.
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Diesem Schreiben fügte er einen „vorgeschlagene[n] Text für die Gedenktafeln“ bei, eine Gedenktextschablone, in der nur entsprechende Namen und Daten eingetragen werden mussten.234 Einerseits wiederholte Toch hier weitgehend die doppelte Verantwortung, die Ernst Feldsberg Jahre zuvor bereits betont hatte, als die Instandsetzung und Kennzeichnung der jüdischen Friedhöfe in Österreich wiederholt zur Diskussion kam: die Verantwortung der nichtjüdischen Öffentlichkeit aufgrund ihrer historischen Schuld und die Verantwortung der jüdischen Bevölkerung gegenüber ihren Ahnen – die Friedhöfe bildeten auch im erweiterten kulturellen Sinn „Grabstätten der Väter“, selbst wenn die heutige Gemeinschaft nicht direkt mit der vorherigen verwandt war. Andererseits griff Toch durch seinen Appell an verschiedene Ebenen der Politik – Gemeinde, Länder und Bund sowie selbstverständlich die Kultusgemeinden selbst – den „Kompetenzstreitigkeiten“ vor, die ab der Jahrtausendwende verstärkt in diesen erinnerungspolitischen Fragen auftreten sollten. Im April 1977 veröffentlichte das Bezirksjournal des 9. Bezirks, wo die Seegasse liegt, einen sensationslustigen Artikel mit dem Titel: „Anrainer von Spitalsruine in der Seegasse belästigt!“ Darin wurde der heruntergekommene Zustand des zu dieser Zeit bereits sieben Jahre lang leerstehenden Altersheims angeprangert, ein Zustand, zu dem anscheinend die „belästigten Anrainer“ selber beitrugen, in dem sie Schutt, Laub und Müll über die Friedhofsmauern warfen. „Seit Jahren laufen Verhandlungen zwischen der Israelitischen Kultusgemeinde und der Gemeinde Wien über den Verkauf der gesamten Liegenschaft. Sie konnten jedoch bis heute noch nicht abgeschlossen werden“, erklärte die Redaktion. Boulevardzeitungsähnlich fuhr das Bezirksjournal fort, dass die von ihnen selbst verursachten Zustände eine Zumutung für die „Bewohner umliegender Häuser“ seien, und schloss, dass es doch „möglich sein“ müsste, „die alte jüdische Weihestätte würdig in einen kleinen Park zu integrieren“, in anderen Worten so zu gestalten, wie sonst bei aufgelassenen nichtjüdischen Friedhöfen vorgegangen wurde.235 Der Artikel, der offensichtlich für Empörung sorgte, wurde in der Folgeausgabe von Die Gemeinde vollständig abgedruckt. Darunter wurde als Replik auf die Unterstellungen seitens der Bezirksverwaltung ein Gedicht veröffentlicht: Im Garten, da hinter den Mauern, / da mag man vor Ehrfurcht erschauern. / Für ewig den Toten, / so ist es geboten, / der Friede am Friedhof muß dauern. / Wir wollen die Stätte erhalten, / den Friedhof als Mahnmal gestalten, / uns selbst zu bewahren / in künftigen Jahren / Wiens Juden für schnöde zu halten…
234 O. T., o. D., DÖW, 51.173-123. 235 Anrainer von Spitalsruine in der Seegasse belästigt, in: Bezirksjournal Alsergrund, April 1977, S. 1.
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Es folgte eine explizitere Stellungnahme seitens des konservativ ausgerichteten Vereinigten Jüdischen Wahlblocks innerhalb der Kultusgemeinde, der auf den eklatanten Widerspruch verwies, dass sich die Anrainer anscheinend durch ihr eigenes Benehmen belästigt fühlten: Sicher sind Sie mit uns einer Meinung, daß nicht „das scheinbare Desinteresse der Israelitischen Kultusgemeinde“ zum Staunen Anlaß bietet, sondern Ihre Auffassung, daß es Anrainer – Bürger des IX. Bezirkes –, gibt, die dadurch belästigt werden, daß sie jüdische Kultstätten verunreinigen. Wir fordern Sie auf, derartige Artikel, deren Sinn wohl nur darin liegen kann, die Israelitische Kultusgemeinde unter Druck zu setzen, Liegenschaften zu verschleudern, zu unterlassen, und den irreführenden und hetzerischen Charakter ihrer Überschriften durch Veröffentlichung dieses Schreibens zurechtzurücken.236
Tatsächlich folgte nur drei Monate später die Meldung von der Kultusgemeinde: „Die ‚Seegasse‘ wird verkauft.“ Der Vorsitzende der Finanzkommission Jakob Bindel plädierte darin in auffallendem Wortlaut für einen „Schlußstrich“ unter „das desolate Objekt in der Seegasse“, womit spezifisch das Altersheim gemeint war, das nun „seine letzte Funktion verloren“ hatte. Er wies alle Proteste als bloße „ideelle Momente gegen den Verkauf “ ab und verwies auf die finanzielle Notwendigkeit, aufgrund der hohen Ausgaben das Areal zu veräußern, die der Kultusgemeinde für „Kindergarten, Elternheim und Friedhöfe“ zufielen, welche bereits zum Teil vom Staat subventioniert werden mussten. Des Weiteren argumentierte er, dass schließlich die „jüdische Bevölkerung“ doch die Vertreter der Kultusgemeinde gewählt hätten, womit deren Entscheidungshoheit und die Richtigkeit ihrer Vorgehensweisen vermeintlich außer Frage gestellt wurden. Nichtsdestotrotz besänftigte er potenzielle KritikerInnen durch den Hinweis, dass in Hinsicht auf den Friedhof der zukünftige „Bieter die von den Oberrabbinern Prof. Dr. Akiba Eisenberg und Chaim Grünfeld gestellten religiösen Forderungen zu erfüllen“ hatte – letztere war der Rabbiner der ultraorthodoxen Agudat Israel.237 Das Grundstück ging für 20 Millionen Schilling in den Besitz der Stadt Wien über, allerdings wohlgemerkt ohne das Friedhofsareal, das weiterhin im Besitz der Kultusgemeinde verbleibt. Doch, wie Evelyn Adunka bemerkte, konnte während der Konstruktion des städtischen Altersheims, das Ende der 1970er-Jahre auf dem verkauften Grundstück errichtet wurde, die tatsächliche Bewahrung des Friedhofs „nur durch das Eingreifen orthodoxer Kreise Wiens, Israels und der USA gesichert werden“.238 Die Frage um die Erhaltung des Friedhofs schien nun aktueller denn je. Anfang 1981 appellierte Josef Toch an Hubert Pfoch, 236 Zit. in Nachlaß Josef Toch, DÖW, 51.173-123. 237 Die „Seegasse“ wird verkauft, in: Die Gemeinde, 6. Juli 1977, S. 18. 238 Adunka: Die vierte Gemeinde, S. 356.
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nun Erster Präsident des Wiener Landtags, um Unterstützung. Pfoch versprach, die Sache an Helmut Zilk heranzutragen, den späteren Bürgermeister, der sich damals als Stadtrat für Kultur mit „denkmalschützerischen Agenden“ befasste, um ihm die „historische Bedeutung dieses Grundstückes“ zu erklären, in der Hoffnung, „eine Regelung zu finden, die auch Ihren [Tochs] Vorstellungen gerecht wird“.239 Dies ist der Zusammenhang, in dem schließlich die alten Grabsteine im Erdreich beim IV. Tor wiederentdeckt wurden. Wie Traude Veran zeigte, rechnete man „mit einigen wenigen Steinen, deren Rücktransport das Stadtbauamt 1981 zusagte“. Doch als mit der Bergung begonnen wurde, „entdeckte man den wahren Inhalt des Haupthügels: Hunderte Steine lagen, Schicht über Schicht, dicht gepackt“, um die 280 Steine, also etwas mehr als ein Viertel des ursprünglichen Bestands vor der Shoah. Hieraufhin bestand der Generalsekretär der Kultusgemeinde Avshalom Hodik, dass alle Steine geborgen und restauriert werden sollten.240 Die Technische Kommission der Kultusgemeinde erklärte in ihrem Jahresbericht 1982, dass nach „Fertigstellung des Pensionistenheimes […] nunmehr der alte jüdische Friedhof in der Seegasse komplett saniert“ werden sollte. „Die alten Grabsteine werden aufgestellt, die halachischen Prinzipien eingehalten“. Was für „halachische Prinzipien“ gemeint waren, wurde nicht erläutert.241 Schließlich drängte auch die Stadt Wien auf die Fertigstellung der Instandsetzungsarbeiten, bevor das neue Altersheim bezogen wurde, stellte jedoch keine finanziellen Mittel hierzu zur Verfügung. Als ab November 1982 die ersten BewohnerInnen in das Heim einzogen, beschwerte sich die Leitung, „dass die alten Menschen zusätzlich zu den Schwierigkeiten der Umgewöhnung den verwahrlosten Anblick des zerstörten Friedhofs vor sich“ hatten. Wie Traude Veran darstellte, war es schließlich das Kuratorium der Pensionistenheime selbst, das die nötigen Mittel aufbrachte. Somit wurde in diesen Jahren etwa ein Viertel der ursprünglichen Steine restauriert und der Friedhof am 4. September 1984 eingeweiht.242 Bei der Instandsetzungsarbeit wurde festgestellt, dass der Standort mancher Grabsteine, wie sie auf Bernhard Wachsteins Plänen eingezeichnet waren, vom Laufsteg überdeckt wurden, der um den Seitentrakt des neuen Altersheims läuft. So befinden sich manche restaurierten Grabsteine, so etwa der des 1727 verstorbenen Isaschar Beer ben Moses Pinchas, unterhalb des Laufstegs.243 Im Februar 239 O. T., 5. Februar 1981, DÖW, 51.173-123 und Herrn Josef Toch, 13. Februar 1981, DÖW, 20.912-36. 240 Veran: Das steinerne Archiv, S. 164–167. 241 Jahresbericht 1982 der technischen Kommission, in: Die Gemeinde, 25. Jänner 1983, S. 40–41. 242 Veran: Das steinerne Archiv, S. 165–167. 243 Vgl. zum ursprünglichen Grabstein Wachstein: Die Inschriften, 2. Teil, S. 172.
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1983 schrieb jedenfalls Josef Toch in Die Gemeinde, dass die Instandsetzung dieses Friedhofs „und übrigens auch des nach ihm 1783 entstandenen Friedhofs am Währinger Gürtel“ helfen würden, „um ein neues Vorstellungsbild von den Juden in Österreich zu schaffen“.244 Dieses Argument des breiteren gesellschaftlichen Wertes einer ordentlichen Instandsetzung der jüdischen Friedhöfe sollte in den kommenden Jahren im öffentlichen Diskurs vermehrt auftauchen. Josef Toch verstarb noch im November 1983; seine Grabstelle konnte ich nicht eruieren. Die Instandsetzung des Friedhofs in der Seegasse zeigte zu einem im Kontext der österreichischen Zeitgeschichte frühen Zeitpunkt, dass umfassende Instandsetzungen mithilfe nichtjüdischer bzw. staatlicher Instanzen durchaus realisierbar sind. Angesichts der Tatsache, dass es sich hier nichtsdestotrotz nur um eine partielle Instandsetzung handelte, wurde der Friedhof auch in den Jahren danach zum Schauplatz für weiterführende Instandsetzungsarbeiten, von denen manche aus privaten Initiativen herrührten, so beispielsweise bei der Neuerrichtung des prunkvollen Sarkophags des 1724 verstorbenen, hier in Kapitel 3 besprochenen shtadlan Samson Wertheimer, der während der Shoah verschollen ist. Die Rekonstruktion wurde 1996 auf Initiative eines Nachkommens in New York und mit der finanziellen Unterstützung der Kulturabteilung der Stadt Wien unternommen, wie die Historikerin Patricia Steines in einem Artikel in Die Gemeinde erklärte. Darin bezeichnete sie das Denkmal als „Ohel aus dem Land der Väter“, eine für die jüdischen Studien dieser Jahre typische Verklärung jüdischer Grabstätten, zumal dieses Denkmal weder ein ohel darstellt noch aus Israel stammt.245 Eine weiße Erklärungstafel mit ausschließlich hebräischsprachiger Inschrift, die gegenüber dem Grabdenkmal an der Friedhofsmauer befestigt ist, liest sich selbst wie eine Grabinschrift, also wie ein Denkmal für ein Denkmal: Die matzewa [das Denkmal] auf der Grabstätte des gaon [sprichwörtlich: Genie; eine hohe rabbinische Ehrenbezeichnung], reish [Rabbiner] Shimshon Wertheimer, sain-jud-ain [sechuto jagen aleinu; sein Verdienst beschütze uns], wurde ain-jud [durch die Hand der] Stadt Wien instandgesetzt aufgrund der Anstrengungen des hei-reish-hei-gimmel [genialen Rabbiners], reish Jehoshua Zwi Halewi Jungreis, shin-lamed-jud-tet-alef [shejehije lo jamim towim amen; möge er gute Tage erleben, amen], Rabbiner aus Tolcsva [Ungarn] in New York, Nachkommen des gaon sain-tzadi-lamed [secher tzadik liwracha; sein seliges Andenken sei ein Segen].
2012 ließ das Bundesdenkmalamt den Grabstein des 1660 verstorbenen, hier ebenfalls in Kapitel 3 besprochenen Kabbalisten Sabbatai Horowitz instand 244 Die Seegasse, in: Die Gemeinde, 25. Februar 1983, S. 28–29. 245 Ein Ohel aus dem Land der Väter, in: Die Gemeinde, 29. Juli 1996, S. 22–23.
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setzen. Bei der Gelegenheit wurde eine Broschüre herausgegeben, in der die Absicht des Kulturamtes der Stadt Wien sowie der Kultusgemeinde betont wurde, auch die restlichen Steine und Steinfragmente so weit wie möglich zu restaurieren. Darunter gelte es, „108 Grabsteine in den Wandnischen der Einfriedungsmauer, 237 derzeit aufgefundene Steinmonumente im Gräberfeld sowie rund 130 Objekte und Fragmente vom Wiener Zentralfriedhof “ instand zu setzen. Hier wurde auch die Vorgehensweise umrissen: Das für die Grabsteine des Gräberfeldes entwickelte Restaurierkonzept sieht vor, den Alterswert der Grabsteine zu bewahren und die bewegte Geschichte des Friedhofes sichtbar zu machen. Bei der Restaurierung der einzelnen Grabsteine wird ein Hauptaugenmerk auf die Wiederherstellung eines intakten Erscheinungsbildes mit geschlossenen Umrisslinien gelegt […]. Ein Nachziehen der Inschriften kommt nur in wenigen Ausnahmefällen in Frage.246
Gerade der Grabstein von Horowitz bildete aufgrund seiner Bedeutung als Pilgerstätte für fromme Jüdinnen und Juden eine solche Ausnahme. Gleich im Folgejahr gab es einen weiteren Sensationsfund, als mehrere kolossale Barocksteine vor Ort im Erdreich des Friedhofsareals aufgefunden wurden. Tina Walzer bemerkte, dass es die „orthodoxe“ Kultusgemeinde selbst war, die „sich in Hinblick auf die rituellen Vorschriften immer geweigert“ hatte, Grabungen am Friedhof zuzulassen, obwohl man hier schon länger vergrabene Denkmäler vermutet hatte. Unter den aufgefundenen Grabsteinen befand sich auch jener des 1703 verstorbenen, hier ebenfalls hier in Kapitel 3 besprochenen shtadlan Samuel Oppenheimer, das zuvor als verschollen galt.247 Auch diese werden derzeit instand gesetzt und wiedererrichtet. Walzer schrieb um die Jahrtausendwende, dass angesichts der Historizität des alten Friedhofs in der Seegasse „eine vollständige Restaurierung aller erhaltenen Steine wünschenswert“ sei, eine Anschauung, die offensichtlich auch von denkmalpflegerischer Seite geteilt wird.248 Es stellt sich aber die Frage, was dadurch bewirkt werden soll. Der Restbestand an Grabsteinen, der sowieso nur einen Teil der ursprünglichen Denkmäler ausmacht, ist stark verwittert bzw. besteht nur aus Fragmenten, was eine umfassende Instandsetzung des Friedhofs wie vor der Shoah weitgehend ausschließt. Dazu müssen die stark veränderten Dimensionen des Areals aufgrund von Nachkriegsabrissen und Neubauten in 246 Gärtner, Eva-Maria: Der jüdische Friedhof in der Seegasse. Der Grabstein von Rabbi Sabbatai Scheftel, Wien 2012, o. S. 247 Walzer, Tina: Österreichs jüdische Themen im Jahr 2013, in: David. Jüdische Kulturzeitschrift 98 (September 2013), S. 77–78. 248 Walzer, Tina: Weißbuch über Pflegezustand und Sanierungserfordernisse der jüdischen Friedhöfe in Österreich, Bd. 6, Wien 2002, o. S.
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Erwägung gezogen werden. Das authentische Erscheinungsbild eines aus der Frühen Neuzeit überdauernden, man könnte sagen „organisch gewachsenen“ Friedhofs, wie es jener in der Seegasse vor der Shoah bot, kann künstlich nicht wiederhergestellt werden. Somit dient die Instandsetzung dieses Friedhofs zwar der Aufarbeitung eines historischen Verbrechens, der alte Friedhof in der Seegasse muss jedoch in seinem Wesen als unwiederbringlich verloren gelten. Ein ganz anderer Fall bietet indes der jüdische Friedhof in Währing, der in den drei Jahrzehnten seit der Instandsetzung des Friedhofs in der Seegasse zum umstrittensten jüdischen Erinnerungsort der Zweiten Republik heranwuchs, wie gegen Ende dieses Kapitel gezeigt wird. 10.6
Die Wende im Umgang mit dem jüdischen Erbe Österreichs infolge der Waldheim-Affäre
Im Rückblick, nun über dreißig Jahre später, löste die Waldheim-Affäre eine entscheidende Wende in der Zweiten Republik aus. Führte die Kontroverse rund um die Bundespräsidentschaftswahl unmittelbar zu einem Wiedererwachen des extrovertierten Antisemitismus in der österreichischen Politik und Gesellschaft, so entzündete sie zugleich eine entgegengesetzte Bewegung, durch die sich ein erheblicher Teil der Bevölkerung zunehmend für eine offene, tolerante und respektvolle Gesellschaft einsetzte und, damit einhergehend, nach jahrzehntelangem Versäumnis, für eine aufrichtige Auseinandersetzung mit der nazistischen Vergangenheit des Landes und die aus dieser Schuld entwachsenden Verantwortung der Bevölkerung gegenüber den lange Zeit vernachlässigten Opfern. Diese Wende ist sicherlich zum Teil auf einen Generationswechsel innerhalb Österreichs zurückzuführen, hing aber auch mit einschneidenden internationalen Entwicklungen zusammen, so etwa die ab den 1980er-Jahren global wachsende Auseinandersetzung mit dem „Holocaust“ – damals noch ein relativ junger Begriff – sowie die zunehmende Integration Europas infolge der Wende 1989/90, die 1995 auch zum Beitritt des „neutralen“ Österreichs zur Europäischen Union führte. Die erinnerungspolitische Wende innerhalb Österreichs sollte einen erheblichen Einfluss auf das weitere Schicksal der jüdischen Friedhöfe bewirken, so etwa in einer Bandbreite an neuen Instandsetzungsinitiativen, die maßgeblich seitens der nichtjüdischen Zivilbevölkerung sowie anderer Instanzen ausgingen. Diese Entwicklung wurde wiederum seitens der jüdischen Öffentlichkeit sehr positiv rezipiert, wie eine Fülle an Berichten in Die Gemeinde aus diesen Jahren zeigt. Im folgenden Abschnitt werden zuerst diese verschiedenen Initiativen als Ausdruck der sich wandelnden Erinnerungskultur in Österreich untersucht. Danach wird, anschließend an der Diskussion hier in Kapitel 7 zur wissenschaft-
Die Wende im Umgang mit dem jüdischen Erbe Österreichs infolge der Waldheim-Affäre
lichen Rezeption der Wiener jüdischen Friedhöfe vor der Shoah, ihre neuerliche Rezeption infolge dieser Wende aufgezeichnet. Ist diese Wende weitgehend positiv zu bewerten, wird hier aber auch der bedenkliche Philosemitismus aufgezeigt, der die neue Rezeption der jüdischen Sepulkralgeschichte in Österreich seitens der nichtjüdischen Bevölkerung begleitete. Dadurch wurde der Bruch nach der Shoah zwischen einer „jüdischen“ und „nichtjüdischen“ Erinnerungskultur in der Zweiten Republik maßgeblich aufrechterhalten und sogar befestigt, wobei die jüdische Geschichte Österreichs insgesamt letzten Endes oft weniger erklärt als verklärt wurde. Bereits vor der Waldheim-Affäre traten vereinzelt Berichte in den österreichischen Medien auf, die den verwahrlosten Zustand der Wiener jüdischen Friedhöfe thematisierten. Ende 1984 erschien beispielsweise in Die Presse ein Artikel über den „verwilderten und verwachsenen“ Zustand des dschungelhaften Friedhofs beim I. Tor, den der damalige Kultusgemeindepräsidenten Ivan Hacker kulturhistorisch mit der Ringstraße verglich. Der Artikel kritisierte auffällig die Stadt Wien aufgrund ihres Widerwillens, für die Instandsetzung dieses Friedhofs aufzukommen, beklagte aber auch den jämmerlichen Eindruck, den dieser auf ausländische BesucherInnen machte – eine eklatante Zurschaustellung von den in der Einleitung zu diesem Kapitel besprochenen Schuld- versus Schamdiskursen in der Erinnerungspolitik.249 Im Frühjahr 1988 veröffentlichte das Nachrichtenmagazin Profil einen langen, mit vielen hochqualitativen Photographien illustrierten Artikel zu den Wiener jüdischen Friedhöfen, der sowohl ihren kulturhistorischen Wert wie ihre gegenwärtige Verwahrlosung schilderte, ein Motivenmuster, das später auch stark im wissenschaftlichen Diskurs auftrat.250 Im Jahr darauf veröffentlichte die Wochenpresse einen ähnlichen Beitrag, ebenfalls mit vielen Photographien, der unter anderen Aspekten Fälle von neonazistischem Vandalismus thematisierte, den gegenwärtigen Zustand der Friedhöfe mit den Verhältnissen infolge der Novemberpogrome verglich und die diesbezügliche Apathie seitens breiter Teile der österreichischen Öffentlichkeit anprangerte.251 Diese Artikel in führenden Zeitungen veranschaulichen beispielhaft die damals neu entstehende Auseinandersetzung seitens der nichtjüdischen Bevölkerung mit dem jüdischen Erbe Österreichs. Ein beachtenswerter und auffällig früher Fall der Auseinandersetzung mit jüdischen Erinnerungsorten seitens nichtjüdischer AkteurInnen bezieht sich auf die Kriegsgräber in der Gruppe 76B beim I. Tor. Wie erwähnt, wurden diese bereits seit den 1950er-Jahren offiziell von der Stadt Wien betreut, doch geht aus den vorhandenen Quellen hervor, dass sie eher stiefmütterlich behandelt 249 Verwilderte und verwachsene Gräber, in: Die Presse, 10. Dezember 1984, S. 9. 250 Tod ist, wer vergessen ist, in: Profil, 21. März 1988, S. 74. 251 Unheimliche Begegnung, in: Wochenpresse, 17. November 1989, S. 60.
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wurden: Photographien aus den frühen 1990er-Jahren zeigen etwa den dschungelartigen Zustand, der damals noch waltete. Das erste Mal, dass die jüdischen Soldaten des Ersten Weltkriegs in der Zweiten Republik seitens des Bundesheers offiziell geehrt wurden, scheint sich hingegen bereits im Herbst 1965 ereignet zu haben – das Jahr, in dem Österreich überhaupt ein großes „Gedenkjahr“ beging, bei der die Erinnerung an den Kriegsdienst auf linker wie rechter Seite eine maßgebliche Rolle spielte.252 In einer Zeremonie in der Gruppe 76B legte Oberst Josef Gerstmann im Namen des Militärkommandos Wien im Kriegerdenkmal einen Kranz nieder „mit einer Schleife in den österreichischen Farben“ und mit der Aufschrift: „Im treuen Gedenken – das österreichische Bundesheer“. Gerstmann war wohlgemerkt, wie viele Österreicher seiner Generation, ein Veteran der deutschen Wehrmacht, der im Zweiten Weltkrieg unter anderem in Griechenland und Polen diente.253 In den folgenden zwei Jahren verwies Die Gemeinde auf eine jeweilige Wiederholung dieser Zeremonie mit den gleichen Akteuren.254 Ob diese Gedenkveranstaltungen bereits damals zum alljährlichen Ereignis wurden, ist nicht eindeutig. Erst aus dem Jahre 1974 findet sich wieder in Die Gemeinde ein Bericht über eine solche Ehrung, bei der dieses Mal Brigadier Karl Schrems, Militärkommandant in Wien, und Oberst Leopold Langers einen Kranz niederlegten. Bei dieser Gelegenheit bedankte sich der Vizepräsident der Kultusgemeinde Josef Heilpern beim Österreichischen Schwarzen Kreuz (ÖSK) und beim Militärkommandant dafür, „daß nach so vielen Jahren noch der jüdischen Mannschaften und Offiziere gedacht wird“.255 Wie Peter Pirker aber bemerkte, muss diese „Ehrung“ am jüdischen Friedhof seitens des Bundesheers im Kontext der Zeit auch als Kalkül verstanden werden, nämlich als Mittel zum Ausschluss der Kultusgemeinde und somit paradigmatisch des Gedenkens an jüdische Soldaten des österreichischen Heers vor 1938 aus dem um diese Zeit grundlegend neugestalteten Heldendenkmal in der Inneren Stadt und somit aus der Kollektiverinnerung der Zweiten Republik.256
252 Vgl. Pirker, Peter/Koch, Magnus/Kramer, Johannes: Contested Heroes, Contested Spaces. Politics of Remembrance at Heldenplatz/Ballhausplatz in Vienna, aus dem Deutschen ins Englische von Tim Corbett, in: Echternkamp, Jörg/Jaeger, Stephan (Hg.): Views of Violence. Representing the Second World War in German and European Museums and Memorials, New York 2019, S. 187–188. 253 Ehrung gefallener jüdischer Soldaten des Ersten Weltkrieges, in: Die Gemeinde, 15. Dezember 1965, S. 15. 254 Ehrung gefallener jüdischer Soldaten des Ersten Weltkrieges, in: Die Gemeinde, 17. November 1966, S. 17 und Heldenehrung, in: Die Gemeinde, 24. November 1967, S. 23. 255 Ehrung der gefallenen jüdischen Soldaten im Ersten Weltkrieg, in: Die Gemeinde, 4. Dezember 1974, S. 19. 256 Vgl. Pirker, Peter: Erbrachte Opfer. Das Heldendenkmal als Symbol der postnationalsozialistischen Demokratie in Österreich, in: Uhl, Heidemarie/Hufschmied, Richard/Binder, Dieter
Die Wende im Umgang mit dem jüdischen Erbe Österreichs infolge der Waldheim-Affäre
Abb. 29 Soldaten des österreichischen Bundesheers bei der Rodung der jüdischen Kriegsgräber in der Gruppe 76B beim I. Tor, 1992. © Österreichisches Schwarzes Kreuz
Laut dem ÖSK wurde der alte Friedhof beim I. Tor in den 1980er-Jahren wiederholt zum Ziel von antisemitischem Vandalismus.257 1992 unternahmen schließlich Soldaten des Bundesheers im Auftrag des ÖSK umfassende Instandsetzungsarbeiten, um diesen Zuständen ein Ende zu bereiten. Seither wird der jüdische Soldatenfriedhof von der ÖSK vorbildlich betreut, zählt überhaupt neben den jüngeren Grabstätten beim IV. Tor zu den bestbetreuten historischen jüdischen Gräbergruppen in Wien. Alljährlich legt das ÖSK im Kriegerdenkmal einen Kranz „zum Gedenken an die gefallenen Österreicher“ nieder – man bemerke die Wortwahl – wohlgemerkt aber am katholischen Gedenktag zum 1. November, beispielhaft für eine gewisse Dissonanz zwischen der jüdischen und nichtjüdischen Erinnerungskultur im heutigen Österreich.258 Am 5. Mai 1999 wurden zudem auf Initiative des Militärkommandos Wien und des ÖSK zwei Gedenktafeln im Vorraum des Kriegerdenkmals enthüllt, die jeweils auf Deutsch und Hebräisch der „jüdischen Soldaten der k.u.k. Armee und des Bundesheeres der 1. Republik“ gedenken, „die Opfer der Shoa geworden sind“. Das (Hg.): Gedächtnisort der Republik. Das Österreichische Heldendenkmal im Äußeren Burgtor der Wiener Hofburg: Geschichte – Kontroversen – Perspektiven, Wien 2020. 257 Ich berufe mich in diesem Abschnitt, wenn nicht anders angegeben, auf Dokumente und Photographien, die mir das ÖSK freundlicherweise digital zur Verfügung stellte. 258 Vgl. Senekowitsch: Ein Ungewöhnliches Kriegerdenkmal, o. S.
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Bundesheer initiierte auch in anderen Teilen Österreichs proaktiv Instandsetzungsmaßnahmen für jüdische Grabstätten, so beispielsweise im Herbst 1997, als Mitglieder des 5. Jägerregiments den jüdischen Friedhof in Graz instand setzten.259 2006 fand eine beachtenswerte Veranstaltung in der Gruppe 76B beim I. Tor statt, die das gewaltig veränderte erinnerungspolitische Klima in der Zweiten Republik zu Beginn des neuen Jahrtausends veranschaulicht. Zusammen mit dem Militärkommando Wien organisierte die Kultusgemeinde am 27. Juni eine Gedenkfeier am jüdischen Kriegerdenkmal, bei der nicht nur der im Ersten Weltkrieg gefallenen und hier bestatteten jüdischen Soldaten und Veteranen gedacht wurden, sondern auch der „überlebenden und vielfach ausgezeichneten Offiziere und Soldaten der Monarchie und des Ersten Bundesheeres, die im Holocaust umgekommen waren“. Der Veranstaltung wohnten zusätzlich auf Initiative der Organisation Edim Bamadim (ZeugInnen in Uniform) 180 israelische SoldatInnen bei. Bei diesem Verein handelt es sich um einen Ausschuss der israelischen Streitkräfte, der sich zum Ziel macht, das zeitgeschichtliche Wissen der Soldaten und deren emotionale Bindung zu den Geschehnissen zu vertiefen, ihnen jüdische Geschichte „vor Ort“ zu vermitteln, Kenntnisse und Verständnisse für die jüdische Diaspora zu erwerben und die Verbindungen zum Judentum außerhalb Israels zu stärken.
Dies wird beispielsweise durch Besuche, eben in Uniform, an jüdischen Erinnerungsorten sowie Shoahgedenkstätten in Europa bewirkt. Bei der Gedenkveranstaltung am jüdischen Kriegerdenkmal erschienen in Anwesenheit des israelischen Botschafters in Österreich Dan Ashbel sowie von führenden VertreterInnen der Kultusgemeinde die österreichischen und israelischen SoldatInnen in voller Uniform. In seiner Rede äußerte Bgdr Mag. Franz Reiszner, Militärkommandant in Wien, in Bezug auf die Enthüllung der Gedenktafeln sieben Jahre zuvor ein deutliches Schuldbekenntnis: Es hat nach der Niederschlagung des nationalsozialistischen Gewaltregimes durch die Alliierten noch 54 Jahre gedauert, bis diese Selbstverständlichkeit der Würdigung des Dienstes der jüdischen Soldaten in den österreichischen Streitkräften wieder aufgenommen wurde. So viel Zeit ist offensichtlich vergangen, bis die Verwerfungen in der Gesellschaft der Täter soweit beseitigt war, dass das Selbstverständliche wieder möglich wurde.
Anschließend wurden die österreichischen und israelischen Nationalhymnen gespielt, während Sara Tessler, eine 85-jährige Auschwitzüberlebende, eine 259 Sanierung des jüdischen Friedhofs in Graz mit Bundesheerfreiwilligen, in: Die Gemeinde, Oktober 1997, S. 49.
Die Wende im Umgang mit dem jüdischen Erbe Österreichs infolge der Waldheim-Affäre
Flamme in Gedenken an die ermordeten Soldaten zündete und Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg Psalm 74 und das Kaddish rezitierte.260 Die Erinnerung an jene jüdische Soldaten, die neunzig Jahre zuvor für das plurikulturelle „Österreich“ der Habsburger im Ersten Weltkrieg kämpften und starben, wurde somit von zwei sehr unterschiedlichen Republiken mobilisiert, die beide erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bzw. nach der Shoah gegründet wurden und zu denen die Verstorbenen bzw. Ermordeten demzufolge kein direktes Verhältnis hatten. Beide dieser Republik ringen – wenngleich aus sehr unterschiedlichen Gründen – sowohl mit ihrer Vergangenheit wie auch ihrem gegenwärtigen „nationalen“ Selbstverständnis, insbesondere aufgrund der Tatsache, dass ihrer beider jüngste Geschichte, allen Verklärungen zum Trotz, eher von Brüchigkeit als von Kontinuität charakterisiert ist. Diese Brüchigkeit kommt genau in dem Umstand zum Ausdruck, dass zwei geographisch, demographisch und kulturell so disparate Staatsgebilde wie Österreich und Israel an das jüdische Erbe der k.u.k. Ära, in diesem Fall spezifisch der jüdischen Soldaten der k.u.k. Armee, anzuknüpfen vermögen, um einen Sinn der Kontinuität erst zu konstruieren: im Falle Israels zur jüdischen Vergangenheit in Europa vor dem Genozid, der Emigration und der Staatsbildung, und im Falle Österreichs zu „Alt-Österreich“ vor den gewaltigen, zum Teil selbstverschuldeten Brüchen des 20. Jahrhunderts. Erhob hier der jüdische Staat Anspruch auf diesen Bestattungsraum als „jüdischem“ Erinnerungsort, der über den tiefgreifenden Österreichpatriotismus nicht nur der k.u.k. Ära, sondern auch des „Austrofaschismus“ hinwegsieht, der an diesem Ort so fest eingeschrieben ist, so versuchte der österreichische Staat über den Abgrund des Nationalsozialismus und der Vertreibung und Ermordung unter anderen der jüdischen Bevölkerung des Landes auf eine Zeit des vergleichsweise friedlichen Zusammenlebens in einem übernationalen, plurikulturellen Staatsgeflecht anzuknüpfen. So problematisch wie diese „Rehabilitierung“ angesichts der Verstrickung Österreichs – inklusive hunderttausender österreichischer SoldatInnen – im Nationalsozialismus bewertet werden muss, so muss aber gleichzeitig die posthume Anerkennung der Einbindung der jüdischen Soldaten in und ihrer Loyalität gegenüber Österreich, stellvertretend für die österreichische Judenheit vor der Shoah überhaupt, als progressive Entwicklung der nichtjüdischen österreichischen Erinnerungskultur bewertet werden. Diese Anerkennung dauert durch die Erhaltungs- und Gedenkmaßnahmen des ÖSK in der Gruppe 76B bis heute an. Somit bildet
260 Senekowitsch: „Ich hatt’ einen Kameraden“, S. 16. Ich berufe mich hier auch auf photographische Aufnahmen der Gedenkfeier, die mir das ÖSK freundlicherweise digital zur Verfügung stellte.
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dieser Ort heute einen nicht ausschließlich jüdischen, sondern zugleich einen österreichischen Erinnerungsort. Ein Nachteil von ad hoc Instandsetzungen, die aus solchen Initiativen wie der seitens des ÖSK entsteht, zeigt sich allerdings in vermehrten Fehlern in den Inschriften, die vermutlich von nicht sprach- bzw. sachkundigen RestauratorInnen in Angriff genommen wurden. Diese Vermutung wird durch den Umstand untermauert, dass es sich bei diesen Fehlern oft um die Verwechslung von ähnlich aussehenden Schriftzeichen handelt. Dies tritt besonders deutlich im Soldatenfriedhof in der Gruppe 76B in Erscheinung. Die Inschriftentafel auf dem hier in Kapitel 5 besprochenen Denkmal des 1915 gefallenen Kadett-Aspiranten Heinz Koch wurde beispielhaft schon so oft in schwarzer Tinte nachgetragen, dass sich Fehler auf Fehler vermehrt haben und Teile der deutschsprachigen Inschrift inzwischen nicht mehr von sich heraus verständlich sind. Mit Stand 2020 war beispielsweise statt „Kadett“ nur mehr „Kadeu“ zu lesen und statt „gefallen v. d. Feinde“ nur mehr „gefallen u. d. Femde“. Der hebräischsprachige Teil der Inschrift wurde inzwischen gar nicht mehr erneuert (76B-1-4A). Dieses Problem lässt sich auch bei seitens der Stadt Wien initiierten Instandsetzungen feststellen, so beispielsweise in der ebenfalls in Kapitel 5 besprochenen hebräischsprachigen Inschrift auf der Stele des 1890 verstorbenen Oberkantors Salomon Sulzer, wo das Wort „ne’im“ durch die Verwechslung eines „memsofit“ mit einem „bet“ fehlerhaft als „ne’iw“ erscheint, obwohl dies ein Zitat aus 2. Samuel 23,1 darstellt (ne’im smirot Israel, „Liebling der Lieder Israels“) und somit eigentlich leicht nachvollziehbar sein sollte (5B-1-1). Obwohl diese Instandsetzungs- und Gedenkinitiativen seitens des Bundesheers der letzten Jahrzehnte lobenswert sind, zeigen sich in der militärischen Erinnerungskultur der Zweiten Republik zugleich verwerfliche Kontinuitäten mit dem bzw. Verharmlosungen oder gar Glorifizierungen des Nationalsozialismus. Ein berüchtigtes Beispiel ist die Kameradschaft IV der Waffen-SS, die seit 1954 unter anderem jährlich zu Allerheiligen einen Kranz bei den SS-Grabstätten im Salzburger Kommunalfriedhof niederlegte. Wurde dies jahrzehntelang von der Obrigkeit und der Bevölkerung gebilligt, so wuchs ab den 1990er-Jahren ein öffentlicher Protest, der auch von der Wiener Kultusgemeinde mitgetragen wurde. Als am 1. November 1999 eine Klezmergruppe ihren Protest vor Ort musikalisch verkündete, wurden aus der FPÖ-nahen Versammlung offen rassistische Bemerkungen verzeichnet wie: „Zigeiner-Musik! Müssen mir uns des g’falln lassen. Mir san doch da in Deitschland.“261 Erst 2008 wurden diese Gedenkfeiern eingestellt, als sich der Salzburger Landesverband der Kameradschaft aufgrund seiner wegsterbenden Mitgliedschaft auflöste. Auch
261 Alle Jahre wieder…, in: Die Gemeinde, Dezember 1999, S. 21.
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in Wien zeigen sich solche offenen Kontinuitäten mit dem Gedenken an NSVerbrecherInnen seitens der Republik: So wurde beispielhaft erst 2012, infolge erheblicher politischer und zivilgesellschaftlicher Proteste, inklusive seitens der Kultusgemeinde, der Vorarlberger Josef Vallaster offiziell aus der Liste der „Gefallenen“ Österreichs im Totenbuch in der Krypta des Heldendenkmals im Äußeren Burgtor gestrichen. Vallaster war kein Soldat, sondern ein Massenmörder, der zuerst in der Tötungsanstalt Hartheim bei der Vergasung von körperlich und psychisch kranken Menschen mitwirkte, bevor er in das Vernichtungslager Sobibor versetzt wurde und am Mord von unzähligen jüdischen Menschen beteiligt war, wo er während des Häftlingsaufstands 1943 getötet wurde. Die bisher weitreichendste Initiative auf nichtjüdischer Seite für die Instandsetzung jüdischer Grabstätten in Österreich, die zugleich komplett unabhängig vom Staat oder von sonstigen Behörden hervorging und somit eine wahre Graswurzelinitiative darstellt, ist der „Verein Schalom“. Dieser wurde 1991 von Walter Pagler, einem nichtjüdischen Wiener, gegründet, dessen Motivation nach eigenen Angaben „allein aus Solidarität zu unseren Nachbarn“, also der jüdischen Bevölkerung Österreichs, herrührte.262 Ende 1991 veröffentlichte der Verein Schalom einen Spendenaufruf für ihre Instandsetzungsaktion, für das österreichweit geschätzte 60 Millionen Schilling benötigt wurden. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits verschiedene Hilfeleistungsangebote eingetroffen, so etwa seitens der Wiener Polizei, die den „Einsatz von 200 Polizeischülern in ihrer Freizeit“ bei der Instandsetzung des Friedhofs beim I. Tor anboten. „Für die Versorgung der auf dem Friedhof Arbeitenden“ sollten derweilen eine ungenannte „Wiener Großbäckerei und ein Wiener Großfleischhauer sorgen“, während eine ungenannte „Wiener Versicherung“ die „nötigen Versicherungen“ besorgen würde. Schließlich hatten eine „Gärtnerei und eine Baumaterialfirma“ jeweils „Spenden zugesagt“. Pagler hatte somit eine Initiative ins Leben gerufen, die eine breitflächige Beteiligung seitens der nichtjüdischen Gesellschaft anspornte, die wenige Jahre zuvor noch undenkbar gewesen wäre.263 Der Verein Schalom hat über die letzten drei Jahrzehnte den Löwenanteil der Instandsetzungsarbeit auf den jüdischen Friedhöfen in ganz Österreich geleistet, der hier mit besonderem Augenmerk auf die Beteiligung unterschiedlicher Freiwilligen kurz zusammengefasst werden soll.
262 Zit. nach „Wiener“ Benefizabend für den „Verein Schalom“, in: Die Gemeinde, Oktober 1998, S. 39. 263 Verein bittet um Mithilfe zur Renovierung des jüdischen Friedhofes, in: Die Gemeinde, 2. Dezember 1991, S. 6.
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Anfang 1993 ebnete der Verein beim I. Tor über 100 Bombentrichter ein und restaurierte an die 1.300 Grabstätten.264 Dabei half auch ein Gruppe evangelischer ReligionslehrerInnen zusammen mit ihren Schulklassen. Die Gemeinde erkannte lobend die Beteiligung dieser „nichtjüdische[n] Wiener Bürger[Innen]“ an.265 Gegen Ende desselben Jahres wurde in der Kultusgemeindezeitschrift der Verein, der bis dahin über 2.000 Grabstätten instand gesetzt hatte, als „leuchtendes Signal“ gepriesen. In diesem Bericht wurde auch bekannt gegeben, dass der Verband Österreichischer Zeitungen 135.000 Schilling für die Instandsetzung der Grabstätten von 17 jüdischen Redakteuren und Herausgebern am Zentralfriedhof stiftete. Abschließend wurde Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg zitiert, der den neuerlichen Zustand des Friedhofs mit dem von vor nur zwei Jahren verglich, als „dieser Teil des Zentralfriedhofs noch einem Urwald“ glich.266 Dieser neuerliche Zustand wurde im Jahr darauf durch eine Reihe von Photographien vorgeführt.267 1994 restaurierte der Verein mit finanzieller Unterstützung der Wiener Chewra Kadisha und des Burgenländischen Landtags den gesamten jüdischen Friedhof von Mattersburg, eine bedeutungsvolle Übernahme von Verantwortung seitens dieser politischen Instanz, die beweist, dass es durchaus möglich ist, einen geschändeten Friedhof umfassend instand zu setzen, wenn der politische Wille gegeben ist. Wie Die Gemeinde resümierte: „Eine schmerzhafte Wunde wird so geschlossen.“268 Am Pfingsten 1995 wurden im jüdischen Friedhof im niederösterreichischen Oberstockstall insgesamt 16 Grabsteine geschändet, ein weiterer Vorfall in der andauernden Reihe von Grabschändungen in der Zweiten Republik. Dieses Mal erschienen aber gleich am folgenden Freitag Freiwillige des Verein Schalom, um die geschändeten Grabsteine instand zu setzen, mit Unterstützung eines Steinmetzes und einiger SchülerInnen.269 Nach nun mehrjähriger Tätigkeit beschloss der Verein dann auch 1996, einen „Wegweiser“ für die jüdischen Friedhöfe und Gedenkstätten in Wien, Niederösterreich, Burgenland, Steiermark und Kärnten herauszugeben, da es „für Ortsfremde sehr schwierig ist, diese Orte aufzusuchen“. Die Herstellung der Broschüre wurde von der Kulturabteilung des Landes Niederösterreich gefördert und von einem St. Pöltener Verlag betreut.270 Es erschienen in den Jahren danach wiederholte 264 Verein Schalom will heuer 10.000 jüdische Gräber sanieren, in: Die Gemeinde, 15. April 1993, S. 6. 265 Evangelische Religionslehrer und Schulklassen sanieren jüdische Friedhöfe, in: Die Gemeinde, 13. Mai 1993, S. 12. 266 Verein Schalom: Leuchtendes Signal, in: Die Gemeinde, 1. Dezember 1993, S. 6. 267 Fortschritte bei den Vorhaben des Verein Schalom, in: Die Gemeinde, 5. Oktober 1994, S. 27. 268 Der jüdische Friedhof von Mattersburg, in: Die Gemeinde, 19. August 1994, S. 83. 269 Jüdischer Friedhof in Oberstockstall geschändet, in: Die Gemeinde, 20. Juli 1995, S. 7. 270 Verein Schalom verfaßt Friedhof-Wegweiser, in: Die Gemeinde, 29. Juli 1996, S. 14.
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Neuauflagen, die in vielen Foren und bei Veranstaltungen zu jüdischen Themen in Österreich gratis erhältlich sind.271 Bis Anfang 1997 konnte Die Gemeinde berichten, dass der Verein einen „Großteil“ der etwa 60.000 Grabstätten beim I. Tor „restauriert, die Wege zugänglich gemacht, die Steine aufgerichtet, die gemeißelte Schrift weiß oder Gold nachgezogen“ hatte. Zudem hatte sie mithilfe von hunderten Freiwilligen eine Datenbank geschaffen – die heute noch über die Website der Kultusgemeinde zugängliche Friedhofsdatenbank – die „250.000 jüdische Bürger mit Name, Alter, Beruf, Wohnadresse, Datum der Beerdigung und Grabstelle“ auflistete. Dieses Verzeichnis, das als „umfangreichste[s] EDV-Totenverzeichnis der Welt“ bezeichnet wurde, reicht bis ins 18. Jahrhundert zurück und umfasst etliche Friedhöfe in Wien, Niederösterreich und dem Burgenland. Damals wie heute war der Verein direkt am I. Tor in Büromodulen untergebracht, wo Freiwillige bereitstehen, um anreisende Nachkommen bei der Suche nach den „Grabstätten ihrer Väter“ zu helfen, was in diesem Bericht als teilweise recht emotionales Erlebnis geschildert wurde. Viele Nachkommen waren bereit zu zahlen, um die Grabstätten herrichten zu lassen: So standen damals etwa 2.500 Aufträge auf der Warteliste des Vereins.272 1997 machten sich Freiwillige des Vereins auf die Suche nach den Grabstätten von jüdisch-ungarischen ZwangsarbeiterInnen im burgenländischen Schattendorf, nachdem sie von einem Zeitzeugen, der „als Rabbiner in New York“ lebte und damals „selbst 26 Tote begraben“ hatte, eine Information zum Standort erhielten. Die aufgefundenen Grabstätten wurden „wieder zugeschüttet und zu letzten Ruhestätten erklärt“.273 Wenige Monate später wurde an dieser Stelle auch ein Grabstein errichtet, der vom Innenministerium auf Basis des Kriegsgräberfürsorgegesetzes finanziert wurde.274 In diesem Jahr ereignete sich auch die hier in Kapitel 2 angesprochene Unannehmlichkeit bei der Errichtung eines Gedenksteins im jüdischen Friedhof in Mattersburg, als sich herausstellte, dass das Hebräische in der zweisprachigen Inschrift auf den Kopf gestellt war. Wie Walter Pagler bemerkte, war dies eine Folge der Tatsache, dass der Steinmetz nicht Hebräisch konnte und die Inschrift umdrehte, damit sie wie die lateinische Schrift linksbündig war. Da Pagler selbst kein Hebräisch kann, fiel der Fehler erst auf, als ein Photo des bereits errichteten Denkmals auf der Titelseite von Die Gemeinde abgedruckt wurde, wonach die Inschrift ausgebessert wurde.275 271 Z. B. Verein Schalom (Hg.): Wegweiser, Wien 2000. 272 Freiwillige Helfer des Vereins Schalom schufen in 50.000 Arbeitsstunden das umfangreichste EDV-Totenverzeichnis der Welt, in: Die Gemeinde, März 1997, S. 17. 273 Gräber jüdischer Zwangsarbeiter in Schattendorf entdeckt, in: Die Gemeinde, November 1997, S. 36. 274 Verein „Schalom“ auf geglückter Spurensuche, in: Die Gemeinde, Februar 1998, S. 33. 275 Richtig(-)gestellt, in: Die Gemeinde, Februar 1998, S. 33.
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Wie bei den Kriegsgräbern beim I. Tor ist dies ein Nachteil des wohlwollenden Großeinsatzes von Freiwilligen ohne Hebräischkenntnisse bei Instandsetzungsarbeiten, wo sachkundige RestauratorInnen gefragt wären. Darüber hinaus verweist es aber auch auf eine gewisse pro forma Anwendung des Hebräischen in jüdischen Erinnerungsdiskursen nach der Shoah. Um das Jahr 2000 berichtete der Verein Schalom jedenfalls, dass bis dato an die 2.500 Freiwillige aus ganz Österreich etwa 350.000 Arbeitsstunden in Instandsetzungsarbeiten investiert hatten. Finanzielle Unterstützung erhielt der Verein inzwischen von den Ländern und „die meisten“ der instand gesetzten Friedhöfe wurden fortan von ihren lokalen Gemeinden betreut.276 Der Verein verkörpert nicht nur den markanten Wandel in der Auseinandersetzung mit jüdischem kulturellem Erbe in Österreich seitens der nichtjüdischen Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten, sondern auch den weiten Horizont der Möglichkeiten bei der Aufarbeitung und „Wiedergutmachung“ (wenigstens materiell bzw. symbolisch) der Folgen eines Genozids, wenn nur der Wille dazu besteht. Eine ganze Reihe von kleineren Initiativen sollen abschließend noch genannt werden, die zwar nicht die Dimensionen der vom Verein Schalom übernommenen Arbeiten erreichten, jedoch die Bandbreite und Diversität der Hilfsbereitschaft in der nichtjüdischen Öffentlichkeit aufzeigen, gelegentlich mit der Involvierung und Unterstützung von verschiedenen Behörden. 1988 wurden beispielsweise im Rahmen der „Aktion 8000“ zwei arbeitslose Bauarbeiter, die in der Berichterstattung als Johann K. und Rudolf K. angeführt wurden, zu Instandsetzungsarbeiten in jüdischen Friedhöfen in Niederösterreich herangezogen, spezifisch zur Schaffung neuer Friedhofsmauern und zum Entfernen von Unkraut. Bei dieser Aktion handelte es sich um ein Experiment, um Langzeitarbeitslose kurzfristige Arbeit im öffentlichen Bereich zu verschaffen. In ihrer Berichterstattung bezeichnete Die Gemeinde in Anlehnung an die Schuldargumentation die 25 überdauernden jüdischen Friedhöfe in Niederösterreich, deren Instandsetzung bzw. -haltung für die Kultusgemeinde „eine unmögliche Aufgabe“ darstellte, als „Reservate des schlechten Gewissens, die letzten Überreste einer Kultur, deren Vertreter in den Gaskammern ermordet wurden oder heute im Ausland leben“. Die Bauarbeiter selbst zeigten sich eher zurückhaltend, in ein solches „jüdisches“ Projekt involviert zu werden. So wurde einer zitiert: „Da kommen s’ dann gleich zu mir und fragen, bist du auch ein Jud’.“277 Im Sommer 1990 nahmen 25 internationale Jugendliche aus Österreich, der Tschechoslowakei, der Deutschen Demokratischen Republik (die gerade noch
276 Verein Schalom (Hg.): Wegweiser, o. S. 277 Restaurierung jüdischer Friedhöfe in NÖ, in: Die Gemeinde, 2. September 1988, S. 14.
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bestand), der Sowjetunion und dem Vereinigten Königreich an einer vom Internationalen Mauthausen Komitee organisierten Aktion teil, um den jüdischen Friedhof in Steyr (Oberösterreich) instand zu setzen.278 Im darauffolgenden Jahr nahm die Wiener städtische Friedhofsverwaltung im Döblinger Friedhof 27 Grüfte entlang der Friedhofsmauer als „eine Art Denkmalhain“ in ihre Obhut und bewahrte sie somit vor der Auflassung.279 In diesem Sommer 1992 wurde auch, wie auf einer Tafel auf der Außenwand zu lesen ist, das hier in Kapitel 5 besprochene Mausoleum des „Miterbauers des [Wiener] Rathauses Architekt k.u.k. Baurat Max Fleischer“ vom Wiener Gewerbe „mit Lehrlingen“ und „unter Beratung des Bundesdenkmalamtes“ instand gesetzt (5B-35-85). Die Tafel verweist weiter auf die breite Palette der Beteiligten: Durch die tatkräftige Mithilfe der Innungen der Baugewerbe, Gärtner, Glaser, Maler u. Anstreicher, Schlosser, Landmaschinenmechaniker u. Schmiede, Spengler u. Kupferschmiede, Steinmetzmeister u. Zimmermeister sowie durch Geldspenden vieler weiterer Innungen war es möglich, dieses Bauwerk neu wiedererstehen zu lassen.280
Ende der 1990er-Jahre fand auch am Floridsdorfer Friedhof eine „einmalige Rodung durch Feuerwehrschüler gemeinsam mit Mormonen“ statt.281 Beim IV. Tor finanzierte indes der Nationalfonds im Jahre 2000 die Errichtung von 700 Grabsteinen auf verwaisten Grabstellen, die von der Chewra Kadischa durchgeführt wurde, sowie die Erneuerung der östlichen Friedhofsmauer und die Instandsetzung der Massengräber in der Gruppe 22.282 Die neuen Grabsteine sind im Anhang des von Tina Walzer herausgegebenen Weißbuch zu den jüdischen Friedhöfen in Österreich nach Namen und Grabstelle verzeichnet. Die Chewra Kadisha schätzte zwar zu dieser Zeit, dass noch etwa 13.700 Grabstellen ohne Denkmal verblieben. Doch ein Vergleich des heutigen Erscheinungsbilds des Friedhofs beim IV. Tor mit den im Weißbuch aus dem Jahre 2002 abgedruckten Photographien zeigt, dass sich in den letzten zwei Jahrzehnten bereits viel getan hat: Auch die restlichen Friedhofsmauern und Arkaden wurden seitdem augenscheinlich instand gesetzt.283 Bund, Länder, Gemeinden, Bundesheer, Polizei, Universitäten, Schulen, Unternehmen, Vereine, Freiwillige: Diese Zusammenfassung zeigt eindringlich 278 Steyr: Jüdischer Friedhof von Jugend renoviert, in: Die Gemeinde, 7. September 1990, S. 7. 279 Walzer: Weißbuch, Bd. 6, o. S. 280 Vgl. die Photographien von den Instandsetzungsarbeiten in Steines: Hunderttausend Steine, S. 65–67 281 Walzer: Weißbuch, Bd. 6, o. S. 282 Sanierung von Holocaustschäden am Zentralfriedhof, in: Die Gemeinde, November 2000, S. 4. 283 Walzer: Weißbuch, Bd. 6, o. S.
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den breiten Wandel im historischen Verantwortungsbewusstsein und in der Wertschätzung der jüdischen Kultur, die seit den 1980er-Jahren unter der (weitgehend zivilen) nichtjüdischen Bevölkerung Österreichs stattfand. Dadurch wird das Bild der Zweiten Republik, das sich aus der oben geschilderten Verwahrlosung und gezielten Schändung jüdischer Friedhöfe ergab, maßgeblich verkompliziert. Zusammenfassend kann man von einer deutlichen Entgegenstellung im heutigen Österreich sprechen zwischen einer offenen, progressiven Gesellschaftsschicht auf der einen Seite, die den gesellschaftlichen Pluralismus grundsätzlich positiv auffasst, und einer nach wie vor geschlossenen, reuelosen, in Teilen noch rassistischen Schicht auf der anderen. Diese grobe Spaltung sollte sich auch in den politischen Auseinandersetzungen rund um die Instandsetzung der jüdischen Friedhöfe zeigen, die ab der Jahrtausendwende erneut einsetzten, die gegen Ende des Kapitels besprochen werden. Eine weitere Ebene, auf der sich die Auseinandersetzung der nichtjüdischen Öffentlichkeit mit der jüdischen Geschichte und Kultur nachvollziehen lässt, ist die Wissenschaft, insbesondere die Historiographie. Grundsätzlich begann die Nachkriegswissenschaft in Österreich erst in den 1980er-Jahren, sich intensiv mit der jüdischen Geschichte zu befassen bzw. Jüdinnen und Juden in die österreichische Geschichtsschreibung miteinzubeziehen. Erste Dokumentationsinitiativen begannen jedoch schon bald nach Kriegsende. Bereits 1948 erkundigte sich beispielsweise Simon Wiesenthal beim Jüdischen Weltkongress wie bei der Jewish National Workers’ Alliance (Jüdischnationaler Arbeiterverband), ein linker Interessenverband mit Sitz in New York, ob sie bereit seien, einen „wissenschaftlich historischen Film“ über „Denkmäler des Synagogenbaues und Friedhöfe“ zu fördern, da Wiesenthals Angaben zufolge neunzig Prozent der Synagogen sowie zwanzig Prozent der jüdischen Friedhöfe in „Mitteleuropa“ während der Shoah zerstört wurden. Darüber hinaus verwies er auf die Gefahr, dass die restlichen aufgrund von Maßnahmen lokaler „Städtebau-Aemter“ früher oder später ebenso verschwinden würden. Er beantragte 100.000 Schilling für einen fünfzehn- bis zwanzigminütigen Film, der wohl nie realisiert wurde.284 1951 wurde wiederum Ernst Feldsberg vom Joint Distribution Committee gebeten, „die Geschichte der Wiener jüdischen Friedhöfe in der Zeit von 1938 bis 1945“ aufzuzeichnen, „damit die Maßnahmen der nationalsozialistischen Aera und die sich daraus ergebenden Folgen der Nachwelt erhalten werden“. 284 An die Jewish National Workers’ Alliance für Herrn Dr. Silberschein, 30. Dezember 1948 und An das World Jewish Congress, 30. Dezember 1948, Wiener Wiesenthal Institut für HolocaustStudien (VWI) – Simon Wiesenthal Archiv, Mappe Synagogen. Vgl. auch Kostenvoranschlag, Yad Vashem, M.9 (= Wiesenthal Collection Linz), Ordner 45, Dokument 302. Ich danke René Bienert für diesen Hinweis.
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Daraufhin wandte sich Feldsberg mit einer Liste von Fragen an das Friedhofsamt der Kultusgemeinde mit der Bitte, diese nachzuforschen. Aufschlussreich sind dabei nicht nur die Informationen, die dadurch gesammelt und dokumentiert wurden, sondern auch gerade die Lücken im Wissen von Feldsberg selbst, der ja wie niemand sonst die Schändung der Friedhöfe während der Shoah miterlebte. So verlangte er beispielsweise eine Namensliste der auf Initiative der Kultusgemeinde aus dem Währinger Friedhof exhumierten Prominenten samt ihrem jeweiligen „Beruf “, die er offensichtlich in seinem Schreiben für das Joint Distribution Committee hervorheben wollte, obwohl er selber 1941 an der Erstellung der entsprechenden Listen mitgearbeitet hatte. Auch fragte er, „welche Enterdigungen […] auf dem Friedhof in der Seegasse vorgenommen“ wurden, obwohl dort keine Exhumierungen stattfanden und es überhaupt sehr fraglich ist, ob dort nach Jahrhunderten der Verwesung überhaupt noch Leichenreste auffindbar wären.285 Hieraus wird deutlich, wie schnell die Einzelheiten der Geschichte dieser teils jahrhundertealten Erinnerungsorte verschwammen oder gar vergessen wurden. Im Gegensatz zu diesen frühen, schließlich ins Leere laufenden Dokumentationsversuchen auf jüdischer Seite grenzte die von zumeist nichtjüdischen ForscherInnen betriebene allgemeine Wissenschaft in Österreich die jüdische Geschichte weitgehend aus ihrem Diskurs aus. Ein frühes und kontrastreiches Beispiel der allgemeinen Friedhofsforschung bieten zwei Sonderhefte der Zeitschrift Wiener G’schichten aus dem Jahre 1947, die das zu Beginn dieses Kapitels angesprochene Unterfangen von Wiener HistorikerInnen in der unmittelbaren Nachkriegszeit zur Schau stellen, jenseits der jüngsten Geschichte von Faschismus, Krieg und Genozid eine lokalisierte Wiener „Identität“ aufgrund eines „wiederentdeckten“, verklärten „Alt-Wiens“ zu konstruieren – durch das Medium, unter anderem, der historischen Friedhöfe der Stadt. Ziel dieser Hefte war es, wie jeweils auf der Umschlaginnenseite zu lesen ist, bei ihrem Publikum „die Liebe zu Wien zu vertiefen“. Das erste Heft wurde von den HeimatforscherInnen Hans Pemmer und Franziska „Ninni“ Lackner verfasst und befasste sich mit dem überkonfessionellen Döblinger Friedhof. Das zweite wurde von dem Heimatforscher Hans Markl verfasst und befasste sich allgemeiner mit „Alt-Wiener Friedhöfen“. Die Unterschiede zwischen den beiden Bänden in Bezug auf die jüdische Sepulkralgeschichte sind markant: Stellte der erste zwar eine typische „Prominentengeschichte“ dar, in dem der Döblinger Friedhof lediglich zur Verfassung einer Sammelbiographie berühmter dort Bestatteten diente, so ist die Einbeziehung zahlreicher jüdischer Prominenter bzw. jener mit einem (teil-)jüdischen 285 Vgl. An das Friedhofamt der Israelitischen Kultusgemeinde, 10. August 1951, AIKGW, A/VIE/IKG/III/FH/1/2.
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Hintergrund beachtlich, so etwa der Familien Wertheimstein, Todesco und Gomperz. Zudem wurde hier explizit auf hier bestattete jüdische Prominente eingegangen aufgrund ihres Einflusses auf die „innerjüdische“ Geschichte, so allen voran Theodor Herzl (dessen Leiche erst zwei Jahre nach Erscheinen dieses Heftes nach Jerusalem überführt wurde) und seine prägende Rolle in der Geschichte des Zionismus, oder Jakob Gartner und seine (inzwischen zerstörten bzw. abgetragenen) Synagogenbauten in Wien (Grabstelle MO-52). Auch Max Fleischer wurde hier samt seiner Kreationen sowohl am Döblinger wie am Zentralfriedhof eingehend besprochen sowie die Unternehmer Moriz und Wilhelm Kuffner, die eine herausragende Rolle in der Geschichte der Gemeinde Ottakring, seit 1892 der 16. Wiener Gemeindebezirk, spielten, deren größtes Vermächtnis heute die Ottakringer Brauerei ist. Wilhelm verstarb 1923 und liegt in Döbling bestattet (I1-G1-17), Moriz verstarb 1939 im Exil in Zürich. Zwar gingen die VerfasserInnen nicht auf die Vertreibung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung und die „Arisierung“ bzw. Vernichtung ihrer Kulturgüter ein, doch stellt dies – insbesondere für eine Publikation so unmittelbar nach Ende der NS-Herrschaft – eine auffällig inklusive Geschichtsschreibung dar, die unverfälscht die intersektionale Geschichte dieses bürgerlichen Friedhofs wiedergibt. Dies sollte aber nicht überraschen, denn Hans Pemmer hatte sich bereits in der Zwischenkriegszeit neben dem Denkmalschutz für die noch bestehenden alten überkonfessionellen Friedhöfe Wiens auch für die Erforschung und Erhaltung der alten jüdischen Friedhöfe eingesetzt.286 Das Heft von Hans Markl zu „Alt-Wiener Friedhöfe“ stellt ganz im Gegenteil die hegemoniale Forschung seiner Ära zur Schau, in der die Kulturgeschichte Wiens gänzlich „arisiert“ wurde. So wurden hier mit keinem Wort die jüdischen Friedhöfe der Stadt erwähnt.287 Die Ausgrenzung der jüdischen aus der allgemeinen Wiener Geschichte einerseits sowie der Tradierung antisemitischer Klischees andererseits finden sich paradigmatisch in der frühesten ausführlichen wissenschaftlichen Studie zum Wiener Zentralfriedhof wieder: die hier in Kapitel 5 im Detail besprochene Dissertation von Gabriele Schulter-Kettner, die 1979 an der Universität Wien verteidigt wurde. Das bedenkliche Gedankengut, das dieser Dissertation zugrunde liegt, reflektiert wohl ein gewissermaßen normatives Geschichtsbild ihrer Entstehungszeit, erklärt sich aber zudem durch die Tatsache, dass als akademischer Betreuer dieser Arbeit Professor Adam Wandruszka fungierte, der bereits vor dem „Anschluß“ begeisterter Anhänger des Nationalsozialismus war und trotz seines nach den Nürnberger Gesetzen „Achteljüdischseins“ 286 Alle Zitate in der Reihenfolge ihrer Nennung: Pemmer/Lackner: Der Döblinger Friedhof, S. 5–7, 13, 32, 22. 287 Markl: Alt-Wiener Friedhöfe.
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in die NSDAP aufgenommen wurde und es schließlich zum Rang eines SAObertruppführers schaffte. In ihrer mehrere Seiten langen Beschreibung der infolge der Josephinischen Reformen neugeschaffenen Wiener Friedhöfe widmete Schulte-Kettner dem Währinger jüdischen Friedhof – sowie interessanterweise auch dem evangelischen Friedhof in Matzleinsdorf – lediglich einen Satz, womit diese Räume der „Anderen“ kategorisch aus der hegemonialen Geschichtsschreibung der Hauptstadt des „katholischen“ Österreich ausgeschlossen wurden. Ferner behauptete sie, dass die „Vororte-Friedhöfe“ mit „Ausnahme des St. Marxer Friedhofes“ alle später „in Parkanlagen umgewandelt“ wurden. Der Währinger jüdische Friedhof wurde tatsächlich im frühen 20. Jahrhundert parkähnlich neugestaltet – wohlgemerkt eben als Maßnahme, um den Vernichtungsbestrebungen der Wiener Stadtverwaltung entgegenzutreten – jedoch bestand der jüdische Friedhof, im Vergleich etwa zum angrenzenden Allgemeinen Währinger Friedhof, mit seinen Grabsteinen als erhaltener, wenngleich stillgelegter Bestattungsraum genauso wie der St. Marxer Friedhof weiter fort. Diese Fehlbeschreibung des St. Marxer Friedhofs als einzigem erhaltenen Wiener Friedhof der Biedermeierära dauert bis heute in der allgemeinen Sepulkralhistoriographie fort. In Bezug auf die Geschichte des Zentralfriedhofs erwähnte Schulte-Kettner die neue jüdische Abteilung beim IV. Tor mit keinem Wort. Zwar bildete dieser Friedhof von Anbeginn ein autonom verwaltetes Grundstück der Kultusgemeinde, doch veranschaulicht seine Ausgrenzung aus dieser historischen Überschau – stellt er ja, wie der evangelische Friedhof, nichtsdestotrotz Teil des Gesamtkomplexes des Zentralfriedhofs dar, wie ihre umgangssprachliche Bezeichnungen nicht als „evangelischen“ und „jüdischen“ Friedhof sondern als „III.“ bzw. „IV. Tor“ verraten – zugleich den Ausschluss der Judenheit aus der allgemeinen Geschichtsschreibung. In einem Abschnitt zu „Bauten am Zentralfriedhof “ wurden keine der von Stararchitekten entworfenen Zeremonienhallen in den jüdischen Abteilungen noch das jüdische Kriegerdenkmal erwähnt, genauso wie in einem Abschnitt zu Leichenkammern in Wien im Jahre 1874 das vom Stararchitekten Joseph Kornhäusel entworfene Taharahäuschen am Währinger Friedhof nicht erwähnt wurde. Charakteristisch ist hier für die allgemeine Geschichtsschreibung zudem die selektive Darstellung des Zweiten Weltkriegs und seiner Folgen: So wurden „536 Bombentrichter, 12.000 zerstörte Gräber und 200 vernichtete Gruften, sowie die Zerstörung der Kuppel der Luegerkirche [die ehemals nach Karl Lueger benannte Zentralfriedhofskirche]“ als „Ergebnis der Bombardierung Wiens“ beklagt, doch wurden mit keinem Wort die Ursachen dieses sowohl von österreichischen wie deutschen NationalsozialistInnen entfachten Vernichtungskriegs erwähnt – inklusive der Flächenbombardierung ganzer Städte und der gezielten Vernichtung von kulturellen Erinnerungsorten seitens des
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NS-Regimes, geschweige denn der Schändung und Vernichtung von jüdischen Grabstätten, inklusive am Wiener Zentralfriedhof, die in Wien fast ausschließlich von nichtjüdischen ÖsterreicherInnen verbrochen wurde. Die selektive Präsentation der österreichischen Zeitgeschichte zeigte sich auch in der darauffolgenden Zusammenfassung der Restaurationsgeschichte: „Vom Jahre 1947 an konnten dann die Arbeiten zur Behebung der Schäden so verstärkt werden, daß der [Zentralf]riedhof bald wieder instand gesetzt war“ – mit Ausnahme, freilich der jüdischen Abteilungen, die zu dieser Zeit noch teilweise in Trümmern lagen. Zudem wurde das Gedenken an die „Helden“ der beiden Weltkriege hier in äußerst bedenklicher Sprache gelobt, die eben im Gegensatz zur oftmals konstatierten „Opferthese“ ein „Aufopferungsnarrativ“ und somit eigentlich eine in der Zweiten Republik offiziell tradierte Kontinuität mit dem Nationalsozialismus zur Schau stellt: Ausgelöst durch die beiden Weltkriege wurde der Wunsch laut, der Nachwelt die vollbrachten Opfer kund zu tun. Darin können wir nichts anderes als einen sehr begreiflichen Ehrgeiz sehen, einen Ehrgeiz, der umso berechtigter ist, als sich mit ihm die pietätvolle und selbstverständliche Ehrung der Helden der Kriege verbindet.288
In diesem Zusammenhang wurden zugleich „die Opfer, die für ein freies Österreich ihr Leben ließen“ genannt, wodurch die „Pflichterfüllung“ von ÖsterreicherInnen in der deutschen Wehrmacht widerspruchslos der Vorstellung der „Besatzung“ Österreichs durch Deutschland gegenübergestellt wurde. In den langen Listen von Ehrengräbern und Denkmälern erschienen hier keine Jüdinnen oder Juden, mit einer Ausnahme: das Ehrengrab Arnold Schönbergs in der allgemeinen Abteilung (32C-21A). Zwar verwies Schulte-Kettner auf die Tatsache, dass der „Begründer der Zwölftonmusik […] in Los Angeles [verstarb] und 1974 nach Wien überführt“ wurde, doch erwähnte sie mit keinem Wort die Umstände, weshalb Schönberg überhaupt im fernen Ausland verstarb. Dies ist ein Paradebeispiel der „kulturellen Arisierung“ jüdischer Kulturschaffender nach der Shoah, die für den Kanon der „österreichischen Kultur“ frei herangezogen wurden, jedoch stets in „entjudeter“ Form.289 1985 veröffentlichte der Heimatforscher Hans Havelka sein Standardwerk zur Geschichte des Zentralfriedhofs, das charakteristisch für diese Zeit die jüdische Geschichte entweder weiterhin ausgrenzte oder verklärt darstellte. So wurde der neue jüdische Friedhof beim IV. Tor überhaupt nicht erwähnt, während beim schriftlichen Rundgang durch den alten jüdischen Friedhof beim I. Tor beispielhaft zu lesen ist, dass man „einen freien Platz“ erreicht, „auf dem 288 Vgl. zu diesem „sakrifiziellen Erinnerungsregime“ Pirker: The Victim Myth Revisited. 289 Alle Zitate in der Reihenfolge ihrer Nennung: Schulte-Kettner: Der Wiener Zentralfriedhof, S. 16, 23–24, 78–94, 50, 189, 193, 180.
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sich noch bis vor wenigen Jahren die alte Zeremonienhalle befand“ – ohne Erwähnung ihrer Zerstörung durch Nazivandalen während der Novemberpogrome.290 Wohlgemerkt schenkte der Verfasser aber in der dritten Ausgabe 1989, als in Österreich infolge der Waldheim-Affäre bereits eine weitreichende Gewissensprüfung eingesetzt hatte, den jüdischen Abteilungen mehr Aufmerksamkeit, ein Zeichen der damals ebenfalls wandelnden Rezeption der jüdischen Geschichte seitens der nichtjüdischen Öffentlichkeit.291 1986 gab der Photograph Franz Killmeyer einen Bildband zu Wiener Friedhöfen heraus, der mit einem seltsamen Vorwort des Schriftstellers Hans Weigel eingeleitet wurde. Darin bezeichnete Weigel, der während der NS-Zeit selbst aufgrund seines jüdischen Familienhintergrunds in die Emigration gezwungen wurde, die alte jüdische Abteilung beim I. Tor als „gestorbenen Friedhof “ und als „einzige Judenstadt, die geblieben ist, wie sie gewesen ist“. Er verwies auf die nebeneinander liegenden Grabstätten seines wenige Jahre zuvor verstorbenen Kollegen Friedrich Torberg und Arthur Schnitzler, sowie „dahinter [die] ‚Prominenz‘ von anno dazumal, Namen, die man kaum mehr kennt. Und dahinter erstrecken sich Gräberalleen, weit, weit, wie in die Unendlichkeit“. Wie seine nichtjüdischen ZeitgenossInnen romantisierte Weigel die Folgen der Schändung und Verwahrlosung dieses Friedhofs und deutete dessen wild verwachsene Erscheinung auf fragliche Art als etwas Urwienerisches: Viele Gräber sind verfallen, zerstört, überwuchert, manche sind gepflegt – und ich weiß nicht, was rührender ist, der Verfall oder die armselige Schmückung. Doch dies alles stimmt mich nicht traurig, für mich ist dieser Wiener Friedhof wie ein langsamer Satz von Franz Schubert. Ich bin immer dort, vorher oder nachher, wenn ich bei einem Begräbnis sein muß, und ich besuche meine Großeltern und entferne das Unkraut und die dürren Blätter von ihrem Grab und frage mich dabei, warum man das tut.292
Weigel selbst wurde nach seinem Tod 1991 in einem Ehrengrab in der allgemeinen Abteilung bestattet (33G-79). Ähnlich verstellt ist die darauffolgende historische Zusammenfassung des Historikers Franz Knispel, der über die jüdischen Bestattungsräume der Stadt lediglich schrieb, dass sich 1938 in „Groß-Wien“ (man beachte die unreflektierte Übernahme dieser NS-Bezeichnung) „die 7 israelitischen Friedhöfe […] in der Obhut der Stadt Wien“ befanden, womit auch die damals eingemeindeten niederösterreichischen Friedhöfe gemeint waren. Abgesehen von der Fehldarstellung – die „Arisierungen“ wurden erst 1942 vollzogen bzw. wurde der Friedhof beim IV. Tor nie „arisiert“ – ist dies 290 Havelka: Zentralfriedhof, Zitat S. 57. 291 Havelka, Hans: Der Wiener Zentralfriedhof, Wien 1989. 292 Weigel, Hans: Ich liebe den November, in: Killmeyer, Franz: Friedhöfe in Wien, Wien 1986, S. 5.
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der einzige, dazu recht lakonische Hinweis in diesem Band auf die Sepulkralgeschichte Wiens während der NS-Zeit, mit Ausnahme der gängigen Feststellung, dass gegen Kriegsende „allein auf den Zentralfriedhof […] 536 Bomben“ fielen, wodurch die toten wie die lebenden WienerInnen kollektiv als Opfer des Weltkriegs dargestellt wurden.293 Ein 1989 vom Wiener Stadt- und Landesarchiv herausgegebener Band zu „aufgelassenen und verschwundenen Friedhöfe in Wien“ schloss immer noch die Wiener jüdischen Friedhöfe weitgehend aus der Betrachtung aus. So eröffnete der Verfasser, der Historiker Günther Berger, mit der Behauptung, „die beiden ältesten Friedhöfe Wiens“ seien „der noch im 15. Jahrhundert bestehende um die Ruprechtskirche und der erst 1783 restlos verschwundene um die Peterskirche“. Vom 1421 zerstörten jüdischen Friedhof vor dem Kärntnertor, der auch als Kandidat für diese Bezeichnung auftreten dürfte, war hier keine Rede. Erst später wurde in einer Auflistung aufgelassener Friedhöfe der jüdische Friedhof in der Seegasse erwähnt. Charakteristisch wurden hier die Zerstörungen der NS-Zeit entweder verharmlost dargestellt oder den Alliierten zugeschrieben, so beispielsweise im Hinweis, dass 1943 „eine große Anzahl von Grabsteinen“ aus dem Friedhof in der Seegasse „zum 4. Tor des Zentralfriedhofes geschafft“ wurden, „wo sie sich, soweit sie nicht Bomben zum Opfer fielen, noch heute befinden“, was auch nicht mehr stimmte, denn ein Großteil wurde zuvor bereits in der Seegasse wiedererrichtet. Ferner wurde behauptet, ein Teil des Währinger Friedhofs sei „zur Errichtung eines Luftschutzbunkers abgetrennt“ worden, ohne Erwähnung der Schändung von Grabsteinen und Menschenleichen, die diese „Abtrennung“ bzw. in Bezug auf die Seegasse die „Wegschaffung“ der Grabsteine beinhalteten. Dieser Band stellt ein Paradebeispiel der romantischen Verklärung aufgelassener Bestattungsräume in Wien dar, wobei jüdische Friedhöfe höchstens als fremdartiges Kuriosum auftreten, die Geschichte ihrer Schändung aber nicht mit der gemütlichen Vorstellung der Wiener „schönen Leich“ vereinbar ist und somit einfach ausgeblendet wird.294 1994 gab die Friedhofsverwaltung der Stadt Wien einen Band zum 120. Jahrestag der Gründung des Zentralfriedhofs heraus, der noch bedenkliche, damals im wissenschaftlichen Diskurs längst überholte Formulierungen beinhaltete. So wurde gleich zu Beginn behauptet, der Zentralfriedhof sei „ohne Rücksicht auf Rasse und Glauben“ geschaffen worden. Die hier gebotene Zusammenfassung der Wiener Sepulkralgeschichte legte ein deutliches Augenmerk auf das Schicksal der Bestattungsräume in Kriegszeiten, von der Zweiten Osmanenbelagerung 1683 über die Besatzung Wiens durch Napoleons Heer 1809 bis zu den Luftangriffen im Zweiten Weltkrieg 1944/45, womit die Betonung stets auf 293 Knispel, Die Friedhöfe in Wien, S. 118. 294 Berger: Spuren der Vergänglichkeit, S. 3, 5.
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Schändungen seitens feindlicher Kriegsteilnehmer lag. Die gezielte Schändung jüdischer Bestattungsräume seitens der NS-Stadtverwaltung und weiterer Wiener Institutionen wurde mit keinem Wort erwähnt. Wurde die „Ehre“ betont, die am Zentralfriedhof „vor allem auch jenen erwiesen [wurde], die für das Land nach Faschismus und Besetzung – Freiheit und Souveränität errungen haben“, so wurden die abertausenden Opfer der lokalen NationalsozialistInnen, die am Zentralfriedhof verscharrt liegen – jüdisch wie nichtjüdisch – einfach nicht erwähnt.295 Der Schriftsteller Peter Pleyel fasste 1999 in einem Band zu „Friedhöfen in Wien vom Mittelalter bis heute“ explizit die Faszination mit dem Tod und den Räumen des Todes als Eckstein der Wiener Lokalidentität auf, allerdings recht essenzialistisch und orientalistisch als „eine Art sentimental-melancholische Koketterie, die vielleicht den ungarischen oder slawischen Wurzeln des typischen Wieners entstammt“. In seiner Auflistung von Akteuren, die angeblich den Tod im kulturellen Bewusstsein Wiens verankerten (als ob der Tod nicht schon seit Urzeiten im Bewusstsein der gesamten Menschengattung verankert wäre), nannte er neben Thomas Masaryk und Johann Nestroy auch Sigmund Freud, Otto Weininger und Johann Strauss. Ob also die genannten „ungarischen und slawischen Wurzeln des typischen Wieners“ hier als Kurzschrift für „jüdische Wurzeln“ fungierten, sei dahingestellt. Dieser Band veranschaulicht zwar insgesamt den Wandel der Historiographie um die Jahrhundertwende bezüglich einer breiteren Inklusion der jüdischen Sepulkralgeschichte, diese wurde aber dennoch segregiert und oft zutiefst romantisiert bzw. selektiv dargestellt. So findet sich zwar ein ganzes Kapitel zu „Jüdische Friedhöfe in Wien“ und sogar die Rückseite des Buchumschlags enthält unter anderem ein Photo eines orthodox-jüdischen Pilgers am Grabstein des Kabbalisten Sabbatai Horowitz im Friedhof in der Seegasse. Gleichzeitig wurde aber der St. Marxer Friedhof als „idyllische[r] letzte[r] Biedermeierfriedhof Wiens“ angeführt, in völliger Ausgrenzung des Währinger jüdischen Friedhofs, der überhaupt erst in Anschluss an eine Diskussion des Allgemeinen Währinger Friedhofs erwähnt wurde. Somit wurde auch nicht problematisiert, dass sich die Stadt Wien der „langdauernde[n] Beseitigung der Kriegsschäden“ in St. Marx widmete, während sie gleichzeitig zuließ, dass der von ihr geschändete Währinger jüdische Friedhof langsam zugrunde ging. Überhaupt wurden die Folgen der gezielten Schändung der jüdischen Friedhöfe hier hochromantisiert dargestellt, so etwa in Bezug auf den Friedhof beim I. Tor, dessen Verwahrlosung, die mit einem Photo von überwachsenen Grabsteinen und unpassierbaren Wegen veranschaulicht wurde, laut Begleittext „einen wildromantischen Anblick“ bot. In Bezug 295 Magistrat der Stadt Wien (Hg.): 120 Jahre Zentralfriedhof, Wien 1994, o. S.
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auf den Währinger Friedhof wurde erst viel später bemerkt, dass dieser „ein trauriges Bild der Verwüstung und Verwahrlosung“ und „ein trauriges Bild des Verfalls“ bot. Zwar ging Pleyel schon auf die Ursache dieser Verwüstung in der NS-Zeit ein, doch wiederholte er dann sogleich den damals gängigen Mythos der vermeintlichen Rettung dieses Raums durch den „damaligen Senatsrat Robert Kraus vom Kulturamt der Stadt Wien“, der „dem damaligen Bürgermeister Hanns Blaschke“ – ein hochrangiger österreichischer Nationalsozialist – erklärt haben soll, „wie wichtig es wäre, diesen mit alten Bäumen bestandenen Friedhof im Interesse der Ornithologen als ungestörtes Vogelschutzgebiet zu erhalten“. Diese Schuldentlastung bzw. „Denazifizierung“ der Stadtverwaltung, für die Pleyel keine Quellen angab und die in den Jahren danach von etlichen HistorikerInnen wiederholt wurde, stellte in Wahrheit eine Fehlbehauptung dar. Dieser Mythos wurde inzwischen von Tina Walzer widerlegt.296 Pleyels wiederholte Charakterisierung des Erscheinungsbilds der Wiener jüdischen Friedhöfe als „traurig“ kann auch gewissermaßen als händeringende Schuldabweisung verstanden werden (Tragik ist nun einmal willkürlich), genauso wie die Feststellung, dass beim I. Tor „leider Bomben des 2. Weltkrieges irreparable Zerstörungen angerichtet“ hatten (meine Hervorhebung), zugleich eine implizite Schuldzuweisung den Alliierten gegenüber, ohne Erwähnung der gezielten Vernichtungsaktionen der NS-Stadtverwaltung oder ihren Nachfolgerinnen. Auch in späteren Werken wurde das pathetische Adverbium „leider“ in Bezug auf die Verwahrlosung der Wiener jüdischen Friedhöfe angewandt, als ob es sich hier um einen natürlichen und unvermeidbaren Verfallprozess handelte.297 Diese Verzerrung der historischen Tatsachen kam bei Pleyels Werk greifbar in einem Photo zum Ausdruck, das mit der Unterschrift „durch Bomben des 2. Weltkriegs verwüstet“ betitelt ist, jedoch deutlich Grabsteine zeigt, die entweder gezielt per Hand umgeworfen oder durch jahrzehntelanger Verwahrlosung umstürzten. Abschließend ging er zwar auf die Schändung der Zeremonienhalle beim IV. Tor ein, doch die Zeremonienhalle beim I. Tor wurde gar nicht erst erwähnt – dieser aufgrund des kulturellen Genozids freigewordene Fleck vor einem der meist frequentierten Kreuzpunkte des Wiener Zentralfriedhofs ist in der allgemeinen Sepulkralgeschichte Wiens zum Ort des Vergessens geworden.298 Ein neuerer, im Jahre 2000 vom städtischen Friedhofsamt herausgegebene Band erwähnte zwar nun die vielen Denkmäler am Zentralfriedhof, die der 296 Walzer: Der jüdische Friedhof Währing in Wien, S. 88–90. Walzer hatte allerdings zuvor selbst in verschiedenen Publikationen diese Fabel wiederholt, so z. B. in Der Währinger jüdischer [sic] Friedhof, S. 22. 297 So z. B. in Ackerl/Bouchal/Schödl: Der schöne Tod in Wien, S. 11. 298 Alle Zitate in der Reihenfolge ihrer Nennung: Pleyel: Friedhöfe, S. 11–12, 81–82, 91, 83, 154, 187–190, 195–196.
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jüdischen wie nichtjüdischen Opfer des Nationalsozialismus gedenken, bezeichnete diese aber lakonisch als „Mahnmale zum Gedenken an schlimme Zeiten“, wodurch das Geschehene verniedlicht und die Verantwortlichen komplett ausgeblendet wurden. Im gleichen Band wurde zudem die geschändete und seit Jahrzehnten verwahrloste jüdische Abteilung beim I. Tor perverserweise als „verwachsene[r] Garten“ dargestellt, „der die Vergänglichkeit alles Irdischen sichtbar werden lässt“.299 Somit wurde der NS-Genozid selbst anhand seiner Folgen verschleiert, verschönert und verharmlost. Zwar nicht direkt auf Friedhöfe bezogen, aber dennoch in diesem Zusammenhang erwähnenswert ist das Vorwort zu einem von Simon Wiesenthal ebenfalls im Jahre 2000 herausgegebenen Band zur Geschichte des Judenplatzes in Wien, der infolge der Errichtung, nach 55 langen Jahren, eines ersten sichtbaren Shoahdenkmals im Zentrum der Stadt veröffentlicht wurde. Darin verwiesen der damalige Bürgermeister Michael Häupl und der damalige Stadtrat für Kultur Peter Marboe in Bezug auf die Ruinen der in der „Wiener Gesera“ 1421 zerstörten Synagoge, die sich unterhalb des Denkmals befindet, auf die historischen Kontinuitäten des mörderischen Hasses gegenüber Jüdinnen und Juden in Wien, von den Pogromen des Mittelalters bis in die Shoah, und bezeichneten somit den Judenplatz als „Sinnbild für die Aufarbeitung von Schuld […] die in dieser Stadt zu bewältigen ist“.300 Mit diesen Worten, wie im großangelegten Judenplatzprojekt überhaupt, kam eindringlich der Wandel seitens der politischen Obrigkeit in Österreich um die Jahrtausendwende von einer dominanten „Scham-“ hin zu einer weitreichenden „Schuldkultur“ zum Ausdruck. In einem „Wiener Friedhofsführer“ aus dem Jahre 2004 behauptete der Historiker Werner Bauer aber weiterhin charakteristisch, der Friedhof in der Seegasse hätte „wie durch ein Wunder die Katastrophe des Holocaust überstanden“ – ohne jeden Hinweis auf das Ausmaß der Verwüstung dieses ältesten Wiener Friedhofs.301 Durch die Bezeichnung des Überdauerns des kargen Areals bis Mai 1945 als „Wunder“ und des NS-Genozids als „Katastrophe“ wurde die historische Gegebenheit verdrängt, dass es wohl nur dem zeitigen Kriegsende und der Besatzung Wiens durch die Alliierten zu verdanken war, dass jüdisches Kulturgut überhaupt die Shoah durchstand, während die von zumeist lokalen AkteurInnen gezielt verbrochenen Vernichtungsaktionen als „natürliche“ Phänomene verharmlost wurden. Dies entspricht einem längst von DiskursanalytikerInnen und PolitikwissenschaftlerInnen identifizierten Muster der 299 Barta, Franz-Josef: Der Wiener Zentralfriedhof. Ein Friedhof für alle Religionen, Wien 2000, S. 33, 37. 300 Häupl, Michael/Marboe, Peter: Vorwort, in: Wiesenthal, Simon (Hg.): Projekt: Judenplatz Wien. Zur Konstruktion von Erinnerung, Wien 2000, S. 7. 301 Bauer: Wiener Friedhofsführer, S. 216.
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Erinnerungskultur in der Zweiten Republik, wodurch die Verbrechen des Nationalsozialismus metaphorisch umschrieben werden, um die Handlungen lokaler TäterInnen auszublenden und die Schuld auf externe AkteurInnen zu schieben – entweder auf Deutschland, das mit dem Nationalsozialismus gleichgesetzt und somit gegen Österreich kontrastiert wurde, oder auf die Alliierten und ihre Luftangriffe auf Wien.302 In einem „Zentralfriedhofs-Führer“ aus dem Jahre 2008 behauptete der Schriftsteller Jürgen Heimlich eingangs, dass die nebeneinander bestatteten Schriftsteller Arthur Schnitzler und Friedrich Torberg beide die „Vergänglichkeit“ in den Mittelpunkt ihrer Werke stellten. Dies diente als Übergang zu seiner Verklärung des verwahrlosten Zustands des Friedhofs: „Und gerade der israelitische Friedhof ist Zeuge dieser Vergänglichkeit. Die Gräber werden kaum oder gar nicht gepflegt.“ Zwar erwähnte Heimlich auch einige, „die größtenteils zerstört sind“, führte dies aber kurz darauf auf „Bombenangriffe“ zurück. Somit wurde Verwahrlosung infolge eines Genozids zum Ausdruck einer seltsamen Konstruktion angeblich jüdischen Brauchtums, während die Schuld für die augenscheinlichen und somit nicht schönzuredenden Zerstörungen auf die Alliierten geschoben wurde. Obwohl sich hier der Wandel im allgemeinen Diskurs hingegen einer größeren Inklusion der jüdischen Sepulkralgeschichte feststellen lässt, besteht in diesem Diskurs nach wie vor kein Platz für die Schändung und andauernde Verwahrlosung der jüdischen Friedhöfe, was hingegen einfach romantisiert und verharmlost wird. Dies steht im starken Kontrast zur Heroisierung gegen Ende des Werks der „Opfer des Nazismus, die für Österreich starben“, wobei Heimlich unhinterfragt den hier in Kapitel 9 besprochenen Diskurs der Mahnmale in der Gruppe 40 übernahm. Der Schriftsteller rief zum Schluss noch fraglicherweise und ohne Begründung dazu auf, den Grabstätten der „Krieger 1938 bis 1945“ einen Besuch abzustatten.303 Eine Studie des Wien Museums noch aus dem Jahre 2013 zu „vergessenen“ – gemeint waren aufgelassenen – neuzeitlichen Bestattungsräumen in der Bundeshauptstadt verriet weiterhin die zuvor gängige Ausgrenzung der jüdischen Sepulkralgeschichte – und somit der jüdischen Geschichte überhaupt – aus der allgemeinen Geschichtsschreibung. Zwar erklärt sich hier das Fehlen von jüdischen Bestattungsräumen im engeren Untersuchungsrahmen dadurch, dass die neuzeitlichen jüdischen Friedhöfe allesamt noch bestehen – doch in
302 Vgl. etwa Distelberger, Teresa/Cillia, Rudolf de/Wodak, Ruth: Österreichische Identitäten in politischen Gedenkreden des Jubiläumsjahres 2005, in: Cillia, Rudolf de/Wodak, Ruth (Hg.): Gedenken im „Gedankenjahr“. Zur diskursiven Konstruktion österreichischer Identitäten in Jubiläumsjahr 2005, Innsbruck 2009. 303 Alle Zitate in der Reihenfolge ihrer Nennung: Heimlich, Jürgen: Zentralfriedhofs-Führer. Den Wiener Zentralfriedhof individuell entdecken, Hamburg 2008, S. 32–33, 43, 45–46.
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einer Auflistung gegen Ende des Bands aller bekannten aufgelassenen Bestattungsräume in Wien ist eben das Fehlen des im 15. Jahrhundert zerstörten Friedhofs vor dem Kärntnertor auffällig. Ebenso wurde in der Diskussion zur Auflassung von Friedhöfen im Kontext des 19. und 20. Jahrhunderts weder auf die wiederholten Versuche seitens der Stadtverwaltung, den Währinger jüdischen Friedhof aufzulassen, noch auf die „Arisierung“ und Schändung von jüdischen Friedhöfen während der NS-Zeit, noch auf den fortlaufenden Mangel an Instandsetzungsbereitschaft seitens der Stadt Wien Bezug genommen. So stellt diese Studie anhand von aufgelassenen nichtjüdischen Friedhöfen paradigmatisch die Nostalgie für ein „verschwundenes“ Wien dar, während die noch bestehenden, aber stark beschädigten historischen jüdischen Friedhöfe weiterhin einfach ausgeblendet werden.304 Ebenfalls aus dem Jahre 2013 findet sich eine Publikation, die sich als „Führer“ zu „Friedhöfen in Wien“ ausgibt, in deren einführender Zusammenfassung man allerdings fast vergeblich nach nichtchristlichen Friedhöfen sucht – nur in einem Satz wurden die beiden jüdischen Friedhöfe in der Seegasse und in Währing genannt. Zwar wurde hier, gerade im Kontrast zu vielen Vorgängern in diesem Bereich, die Tatsache erwähnt, dass „[d]ie Nationalsozialisten […] in den israelitischen Abteilungen [des Zentralfriedhofs] Gebäude und eine große Anzahl der jüdischen Gräber“ zerstörten, doch wurden wiederum in einer Diskussion zum Denkmalschutz von historisch wertvollen Erinnerungsorten wie dem St. Marxer Friedhof oder der Karl-Borromäus-Kirche am Zentralfriedhof wieder einmal die für Wien einzigartige Historizität der alten jüdischen Friedhöfe in der Seegasse und Währing nicht anerkannt. Dieses Werk – das wie ein Großteil der allgemeinen Wiener Friedhofsliteratur versucht, anhand alter Bestattungsräume ein geschöntes, verklärtes Geschichtsbild der Stadt Wien zu erzeugen, so paradigmatisch im Untertitel: „Der Führer zu schaurig-schönen Orten und Inseln der Ruhe“ – scheint die politisch-historischen Hintergründe und damit einhergehend jeden verstörenden Aspekt seines Sujets regelrecht zu scheuen. Paradigmatisch wird etwa erwähnt, dass Ludwig Wittgenstein nicht im Familiengrab in Mauer bei Wien, „sondern in Cambridge beerdigt wurde“, wobei der Grund hierfür unerwähnt bleibt, während wiederum die Grabstätte des „ehemalige[n] Bundeskanzler[s] Engelbert Dollfuss“ im Hietzinger Friedhof (27-12) erwähnt wird, ohne auf seine Zerschlagung der demokratischen Ersten Republik und Gründung eines faschistischen Staatssystems zu verweisen. Zwar findet sich später gesondert ein kurzer Abschnitt zu den jüdischen Friedhöfen in der Seegasse und in Währing, doch wurde deren Geschichte teils inakkurat, teils beschönigt dargestellt, inklusive der Wiederholung der inzwi-
304 Ranseder (Hg.): Zur Erden bestattet, insb. S. 159–169.
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schen widerlegten Fabel der Rettung des letzteren Bestattungsraums durch den Wiener Stadtbeamten Robert Kraus.305 Lässt sich zusammengefasst in jüngeren Werken zur allgemeinen Wiener Sepulkralgeschichte ein Wandel feststellen hin zur größeren Inklusion der jüdischen Friedhöfe, so bedarf es offensichtlich noch einer viel tiefergehenden und einfühlsameren Realisierung der Verflechtung und Parallelität verschiedener Bevölkerungsgruppen in der Geschichte dieser Stadt, die paradigmatisch in ihren Sepulkralkulturen zum Ausdruck kommen. Dabei sei kurz festgehalten, dass auf vergleichbare Weise die islamischen Bestattungsräume in Wien in solchen Werken bis heute komplett ausgeblendet bleiben. Bildeten diese zwar keine Zielscheiben eines kulturellen Genozids, wie es die jüdischen Friedhöfe taten, so würde eine Aufarbeitung dieser Erinnerungsräume, die eine mindestens bis in das 19. Jahrhundert zurückreichende Geschichte haben, gewiss einen ähnlichen Erkenntnisgewinn für die allgemeine Sepulkralgeschichte bedeuten. Der vermeintliche, hierzulande raffiniert vermarktete Hang der WienerInnen zur Morbidität hat längst auch im Ausland Konjunktur, wie sich an einer Reihe von Publikationen nachweisen lässt. Allerdings unterscheiden sich darin sowohl die Geschichtsbilder von Österreich insgesamt wie der Grad und die Qualität der Inklusion der jüdischen Geschichte markant von der innerösterreichischen Geschichtsschreibung. Im Jahre 2000 erschien in den Niederlanden beispielsweise ein Werk zu den „Weense dodenakkers“ (Wiener Totenäcker) unter dem Motto „De dood moet een Wener zijn“ (Der Tod muss ein Wiener sein, das vom Komponisten Georg Kreisler geprägte Bonmot, ein Vertriebener, der nach der Shoah ebenfalls das Bonmot „Wie schön wäre Wien ohne Wiener“ schuf). Dieses Werk befasste sich mit den wohl berühmtesten Bestattungsräumen Wiens – dem Zentralfriedhof, dem St. Marxer Friedhof und der Kapuzinergruft – sowie mit verschiedenen Vorortsfriedhöfen und ihren „legendären BewohnerInnen“. In Übereinstimmung mit der dominanten Wiener Geschichtsschreibung finden sich hier keine direkten Auseinandersetzungen mit den jüdischen Friedhöfen der Stadt – dafür aber einen dreiseitiger Exkurs samt einer Auswahl von Einzelbiographien über die „abwesenden […] jüdischen WienerInnen“ (joodse Weners), eine bedeutungsvolle Charakterisierung, die im Gegensatz zur im deutschsprachigen Diskurs dominanten Bezeichnung „Wiener Jüdinnen und Juden“ deren Wienerischkeit über ihre Jüdischkeit hervorhebt. Hier wurden auch einzelne Grabstätten jüdischer Prominenter genannt, so etwa – wie üblich – die von Arthur Schnitzler beim I. Tor oder das Ehrengrab Jean Amérys in der allgemeinen Abteilung des Zentralfriedhofs (40-132). 305 Alle Zitate in der Reihenfolge ihrer Nennung: Scherabon, Kerstin: Friedhöfe in Wien. Der Führer zu schaurig-schönen Orten und Inseln der Ruhe, Wien 2013, S. 6–8, 24, 96, 39–40, 117.
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Hier wurde zudem Österreich mit Bezug auf seine Vergangenheitsbewältigung auffälligerweise mit der Bundesrepublik Deutschland verglichen, denn „viele ÖsterreicherInnen sind bis heute davon überzeugt, dass ihr Land ein unschuldiges Opfer des deutschen Expansionismus“ darstellte. Überhaupt unterschied sich dieses Werk vom Großteil der zeitgenössischen österreichischen Literatur mit „nichtjüdischem“ Fokus in Bezug auf die Hintergründe der Verwüstung der jüdischen Friedhöfe wie überhaupt im historischen Überblick über den „Anschluß“, den Zweiten Weltkrieg und sogar zuvor den „Austrofaschismus“. Diese Sensibilität seitens der niederländischen Verfasserin erklärt sich nicht zuletzt durch den Umstand, der hier explizit angesprochen wurde, dass Österreicher wie Adolf Hitler nicht nur maßgeblich zur „Durchführung der Shoah“ beitrugen, sondern auch an der Besatzung der Niederland beteiligt waren, so etwa Arthur Seyss-Inquart, der „Landvogt der besetzten Niederlande“.306 In einem populären Führer des britischen Reiseschriftstellers Duncan Smith zu „sonderbaren Orten, geheimen Plätzen und versteckten Sehenswürdigkeiten“ in Wien aus dem Jahre 2005 findet sich ein Kapitel über den „vergessenen jüdischen Friedhof “ in der Seegasse, der wie in der Historiographie des frühen 20. Jahrhunderts mit dem berühmten Prager jüdischen Friedhof verglichen wird. Smith verwies auch auf die jüdischen Friedhöfe in Währing und beim I. Tor, dessen Verwahrlosung allerdings in markantem Unterschied zur dominanten Literatur in Österreich nicht romantisiert, sondern explizit als Verkörperung des an der jüdischen Bevölkerung begangenen Verbrechens dargestellt wurde.307 Schließlich soll hier noch das bereits in einem anderen Zusammenhang in Kapitel 8 besprochene, 2006 in Krakau herausgegebene polnischsprachige Werk eines Priesters in der katholischen Pfarrkirche St. Lukas in der AntonSteinböck-Gasse, direkt hinter dem jüdischen Friedhof beim I. Tor, erwähnt werden. Inspiriert wurde dieses essayistische Werk, das über verschiedene Grabsteine und die Geschichten der darunter Bestatteten berichtet, von den Spaziergängen des Verfassers durch den neben seiner Kirche gelegenen historischen Bestattungsraum – auf der Rückseite ist der Priester am Friedhofsgelände neben einem Grabstein abgebildet. Zeigt dieses Buch einerseits die inzwischen breite Rezeption der Wiener jüdischen Sepulkralgeschichte sogar im Ausland auf, so stellt es andererseits eine recht konventionelle Sicht der Friedhofsgeschichte als 306 Alle Zitate in der Reihenfolge ihrer Nennung: Vossen, Mirjam (Hg.): „De dood moet een Wener zijn“. Weense dodenakkers en hun legendarische bewoners, Rijswijk 2000, S. 29, 151, 153, 191, 202–203, 207–209, 204–207, 217. 307 Smith, Duncan: Nur in Wien. Ein Reiseführer zu sonderbaren Orten, geheimen Plätzen und versteckten Sehenswürdigkeiten, aus dem Englischen von Brigitte Hilzensauer, Wien 2005, S. 134–137.
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Beitrags- und Prominentengeschichte dar, in dem historische Bestattungsräume lediglich als „Spiegel“ ihrer Gemeinden fungieren.308 Wurden die jüdischen Friedhöfe nach der Shoah weitgehend in der allgemeinen Wiener Sepulkralgeschichte ausgeblendet – wohlgemerkt im starken Kontrast zur Zeit vor der Shoah – so stellten sie bereits mit dem Aufkommen einer jüdischen Geschichtsschreibung ab den 1980er-Jahren einen zentral Schwerpunkt der Forschung dar, zumal diese Erinnerungsorte zu den letzten materiellen Zeugnissen der weitgehend zerstörten jüdischen Kultur Österreichs zählten. Doch die Entwicklung der „jüdischen“ Historiographie – also innerhalb des sich stetig etablierenden Felds der jüdischen Studien in Österreich – war in der Auffassung des Stellenwerts der jüdischen innerhalb der österreichischen Kulturgeschichte bzw. der Relation zwischen der jüdischen und der nichtjüdischen Sepulkralgeschichte oft nicht weniger essenzialistisch als die „allgemeine“ Geschichtsschreibung. Vielmehr lässt sie sich als deren Pendant konstatieren, bei der vielfach eine Ausgrenzung von innen heraus betätigt wurde. Wie Dirk Rupnow aufzeigte, verrät überhaupt die Auseinandersetzung mit der jüdischen Geschichte in vielen Staaten Zentraleuropas nach der Shoah aufgrund der institutionellen Entwicklungsgeschichte der „jüdischen Studien“ eine gewisse Kontinuität mit den Anschauungen der NS-„Judenforschung“, wobei die „jüdische“ Kultur als grundsätzlich der sie umgebenden, a priori als „nichtjüdisch“ verstandenen „Mehrheitskulturen“ fremd aufgefasst wird.309 Dies zeigt sich bis heute in der andauernden Trennung der „jüdischen“ von der „allgemeinen“ oder „nationalen“ Geschichtsschreibung Österreichs.310 Dies wird auch in der Forschung zu den Wiener jüdischen Friedhöfen deutlich, auf deren Wiederentstehung um 1990 deswegen noch kurz beispielhaft eingegangen wird. In einer der ersten Ausgaben der „jüdischen Kulturzeitschrift“ David, die seit 1989 erscheint und in sich bereits das damals florierende öffentliche Interesse an jüdisch-österreichischer Geschichte verkörperte, veröffentlichte Rüdiger Schiferer, ein Bibliothekar an der Österreichischen Nationalbibliothek, einen Beitrag zum „Interesse an jüdischen Friedhöfen“. Gleich zu Beginn führte er an, dass es eine „Flut von gegenwärtigen Veröffentlichungen zu jüdischen Friedhöfen“ gab. Diesen kontrastierte er aber zugleich mit einem vermeintlich zuvor bestehenden Mangel an Interesse an diesem Thema und behauptete, dass die frühere Wissenschaft dazu „ausschließlich von jüdischer Seite erfolgte“. Bei dieser Behauptung handelt es sich, wie hier in Kapitel 7 ausgiebig aufgezeigt, um eine reine Fabel der jüdischen Studien jüngerer Zeit. Beachtenswert ist 308 Skrzypczak: Lapidarium. 309 Rupnow: Aporien des Gedenkens, S. 33–35. 310 Vgl. hierzu jüngst Hödl: „Jewish History“ as Part of „General History“.
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jedenfalls die Annahme, dass das Wiederaufleben von Interesse in den 1980erJahren eine Neuigkeit in der jüdischen Geschichtsschreibung darstellte, was wiederum die darauffolgende Historiographie maßgeblich prägte, in der die weitreichenden Auseinandersetzungen mit den jüdischen Friedhöfen vergangener Epochen ausgeblendet blieben. Diese neue Historiographie entstand freilich im Schatten der Shoah, wonach die Geschichte des Antisemitismus, die schließlich im Genozid mündete, alle sonstigen Schnittpunkte und Verflechtungen der jüdischen und nichtjüdischen Geschichte in Wien wie sonst in Zentraleuropa in den Schatten stellte. Folgerichtig war wiederum Schiferers Kritik, dass das damalige Wiederaufleben von Interesse an jüdischen Friedhöfen sich in oft extrem oberflächlichen Formen ausdrückte, so etwa in Photobüchern, die diese Friedhöfe auf „meist überwachsene, urtümlich anmutende ‚Landschaftsräume‘“ reduzierte, „Bilder einer vergangenen Welt, ohne den Versuch, einen Konnex mit unserem eigenen Kulturkreis herzustellen“ – wobei das Pronomen „unser“ wiederum verrät, wie das „Jüdische“ von vornherein semantisch vom kollektiven österreichischen „Wir“ ausgeschlossen wurde.311 Im Mai 1991 veröffentlichte Patricia Steines, die die erste Monographie zu Wiener jüdischen Friedhöfen seit der Shoah verfasste, in Die Gemeinde einen Zwischenbericht zu ihrer laufenden Forschung, in der sie behauptete, das „Wichtigste“ dabei sei, „daß die Forschungsarbeit anhand von Gräbern und Grabstellen bedeutender Persönlichkeiten die Geschichte der Wiener jüdischen Gemeinde im historischen Sinn wieder ‚lebendig‘ machen kann“.312 Wie Die Gemeinde selbst 1998 die neuere Forschung zur Wiener jüdischen Geschichte resümierte, die oft durch das Medium der Friedhöfe unternommen wurde, war es lobenswert, das herkömmliche Narrativ zu hinterfragen, wonach (salopp zusammengefasst) alle Wiener Jüdinnen und Juden aus Galizien einwanderten und es zu Reichtum verschafften.313 Doch der hartnäckige „Beitragsnarrativ“, den HistorikerInnen wie Steines tradierten, und der sich heute nur schwer in den Diskursen zur jüdischen Sepulkralgeschichte überwinden lässt, generierte schließlich seine eigenen Probleme. So wird die jüdische Bevölkerung oft weiterhin als – wenngleich nicht unbedingt „aus Galizien immigriert“ – doch in ihrem Wesen außenseitige Gruppe dargestellt, deren „Beitrag“ zur autochthonen „österreichischen“ Kultur quasi erst als „Legitimierung“ ihres Existenzrechts hochgehalten wird. In anderen Worten ist die Geschichte von Jüdinnen und Juden überhaupt erst aufgrund ihres wie auch immer gearteten „Beitrags“ zur „Gesamtkultur“ forschungswürdig. 311 Schiferer, Rüdiger: Interesse an jüdischen Friedhöfen, in: David. Jüdische Kulturzeitschrift 2 (September 1989), 22–24. 312 Der alte Währinger Israelitischer Friedhof, in: Die Gemeinde, 17. Mai 1991, S. 22. 313 Der jüdische Friedhof im Währingerpark, in: Die Gemeinde, Jänner 1998, S. 33.
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Der schließlich 1993 von Steines herausgegebene Band zu den jüdischen Abteilungen des Zentralfriedhofs – bis heute die einzige Monographie zu diesen Friedhöfen – stellt paradigmatisch dieses dominante Geschichtsbild der jüdischen Studien in den frühen 1990er-Jahre zur Schau, so beispielhaft im Untertitel: „Grabmale großer Österreicher jüdischer Konfession“. Einerseits wurden hier also Juden integrativ als „Österreicher“ aufgefasst, wobei die „Jüdischkeit“ auf Religionszugehörigkeit reduziert wurde. War dies eine für diese Zeit progressive Haltung, die über den „ethnischen“ Essenzialismus der zuvor dominanten Geschichtsauffassungen hinwegkam, so barg sie dennoch ihre eigenen Probleme, denn so einfach lassen sich Judentum, Judenheiten, Jüdischkeit und jüdische Individuen im modernen Wien nicht kategorisieren, wie im vorliegenden Werk hinlänglich gezeigt. Andererseits wurde die jüdische Gemeinschaft hier nur aufgrund einiger weniger prominenter, oftmals privilegierter Beispiele und deren „Beitrag“ zur „Mehrheitsgesellschaft“ und „Gesamtkultur“ rezipiert, was zu einem völlig verzerrten Bild der jüdischen Geschichte führt. Diese Verzerrung zeigt sich paradigmatisch in der Ausgrenzung von Frauen in solchen „Beitragsgeschichten“: So finden sich in dieser Monographie unter der Auswahl von knapp unter 500 Persönlichkeiten aus den über 170.000 in diesen beiden Friedhöfen Bestatteten lediglich 20 Frauen.314 Gleichzeitig mit der Publikation ihres Buches organisierte Steines eine Ausstellung zu den Wiener jüdischen Friedhöfen im nur wenige Jahre zuvor neugegründeten Jüdischen Museum.315 Das Buch und die Ausstellung wurden in Die Gemeinde nicht zuletzt deswegen positiv rezensiert, da sie eine breite Aufmerksamkeit für die geschändeten, weitgehend vergessenen und deshalb zunehmend verfallenen jüdischen Friedhöfe erzeugten. Zu dieser Zeit war, wie die Rezension bemerkte, der Friedhof beim I. Tor so verwachsen, dass er fast nicht begehbar war. Nichtsdestotrotz wurde auch hier bereits darauf hingewiesen, dass das Buch im Wesentlichen nur aus einer Auflistung „der jüdischen Persönlichkeiten“ bestand, die in diesen Friedhöfen bestattet liegen.316 Eine kulturhistorische Aufarbeitung der großen und im gesamteuropäischen Kontext so bedeutenden jüdischen Abteilungen des Wiener Zentralfriedhofs blieb weiterhin aus. Ein wichtiges, von Steines mit herausgegebenes Werk erschien zeitgleich 1992, nämlich der vom Institut für jüdische Geschichte Österreichs veröffentlichte Band Mahnmale, der bis dato einzige Versuch, eine umfassende Darstellung der jüdischen Friedhöfe Österreichs aus unterschiedlichen kultur- und sozialhistorischen Perspektiven zu bieten. In Rückbesinnung auf die großen 314 Steines: Hunderttausend Steine. 315 100 000 Steine – Jüdische Friedhöfe in Wien, in: Die Gemeinde, 15. März 1993, S. 19. 316 Hunderttausend Steine, in: Die Gemeinde, 15. April 1993, S. 16.
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oben besprochenen Instandsetzungsinitiativen dieser Zeit lag diesem Werk nicht zuletzt die politische Motivation zugrunde, für die Instandsetzung und Erhaltung der Friedhöfe als wertvolle Denkmäler zu plädieren (die Neuauflage aus dem Jahre 2006 wurde aussagekräftig auf das positiver konnotierte Denkmale umbenannt).317 Auch dieses Buch wurde positiv in Die Gemeinde rezensiert, doch wurde es zugleich als „bedauerlich“ aufgefasst, daß versucht wurde, Dutzende Friedhöfe in ein Buch dieses Umfangs zu pressen. Eine kleine Buchreihe wäre hier ausgesprochen wertvoll gewesen […]. Eine wissenschaftliche Aufarbeitung der vielen Friedhöfe, wo wirklich jeder Stein abfotografiert und transkribiert wird, fehlt bis auf wenige Arbeiten von Bernhard Wachstein.318
Diese Auffassung trifft heute noch zu, und nicht nur in Österreich: Umfassende Studien von jüdischen Friedhöfen inklusive ihrer Denkmäler und deren Inschriften bleiben weitgehend ein Forschungsdesideratum, wobei bemerkt werden muss, dass wissenschaftliche Aufarbeitung nicht auf photographische Dokumentationen und Transkriptionen beschränkt sein sollte – aber auch, dass eine solche Dokumentation bei über hunderttausend erhaltenen Denkmälern in Wien ein beispielloses Unterfangen darstellen würde. Nichtsdestotrotz stellte dieser Band eine wichtige Neuerscheinung in diesem Feld dar, der zudem aufgrund der Bandbreite der Beitragenden auffällt: Neben Historikerinnen wie Erika Weinzierl enthielt es auch Beiträge des damaligen Wiener Oberrabbiners Paul Chaim Eisenberg sowie von Kardinal Franz König, wodurch der vermeintlich sakrale Charakter des jüdischen Friedhofs unterstrichen und die Versöhnlichkeit – aber zugleich auch die Differenz – zwischen den Religionen heraufbeschworen wurde. Das Vorwort von Erwin Pröll, dem damaligen niederösterreichischen Landeshauptmann, und Ernst Scheiber vom Club Niederösterreich, der den Band herausgab (beides Mitglieder der ÖVP), stellte indes paradigmatisch den Gesinnungswandel der nichtjüdischen Bevölkerung Österreichs um die Jahrtausendwende zur Schau. So behaupteten die Politiker, dass „eine Betrachtung ‚unserer‘ Geschichte und Kultur ohne Miteinbezug des Judentums falsch und auch kaum möglich wäre“, und dass es „geradezu beschämend [sei] zu sehen, in welchem Zustand sich die meisten der jüdischen Friedhöfe in Wien, Niederösterreich und dem Burgenland befinden“. Obwohl sie betonten, dass es nicht nur eine „sentimentale Reminiszenz“ sei, die die Instandsetzung der jüdischen Friedhöfe Österreichs verlangte, sondern 317 Steines, Patricia/Lohrmann, Klaus/Forisch Elke (Hg.): Mahnmale. Jüdische Friedhöfe in Wien, Niederösterreich und Burgenland, Wien 1992. Vgl. Keil, Martha/Forisch, Elke/Scheiber, Ernst (Hg.): Denkmale. Jüdische Friedhöfe in Wien, Niederösterreich und Burgenland, Wien 2006. 318 Mahnmale, in: Die Gemeinde, 5. Februar 1993, S. 30–31.
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auch die wissenschaftliche Erforschung, so zeigte sich das Verständnis des Erkenntniswertes dieser Orte noch als durchaus oberflächlich, so etwa, um an diesen Orten den „Assimilierungsgrad“ der dort bestatteten Jüdinnen und Juden abzulesen, die hier zutiefst archaisch als „unsere Landsleute mosaischer Konfession“ beschrieben wurden, die „stolze Österreicher“ sind und waren, „gleichzeitig aber auch Kosmopoliten“ – eine recht kollektivierende, fast philosemitische Zusammenfassung einer Bevölkerungsschicht, die vor und nach der Shoah in ihrem Wesen und ihren Anschauungen überhaupt nicht so homogen zu erfassen ist. Der Assimilationsdiskurs, der zu dieser Zeit in der Wissenschaft zur jüdischen Kultur seinen Zenit erreichte, wurde im Band paradigmatisch in einem Beitrag von Patricia Steines mit dem Titel „Zwischen Tradition und Assimilation“ untermauert.319 Auffälligerweise wurde dieser Beitrag in der neuen Ausgabe Denkmale nicht übernommen. Dafür wurde diese mit fundierteren Beiträgen zu verschiedenen Gruppen von Friedhöfen ergänzt. Es folgten in den Jahrzehnten danach freilich weitere Werke zu den Wiener bzw. österreichischen jüdischen Friedhöfen. Da diese aber durch das gesamte vorliegende Werk bereits ausgiebig an inhaltlich relevanten Stellen rezipiert wurden, werden sie hier nicht noch einmal gesondert behandelt. Allerdings kommt der letzte Abschnitt dieses Kapitels doch auf einige dieser Werke zu sprechen, die im Kontext der regen zivilgesellschaftlichen Auseinandersetzungen der letzten zwei Jahrzehnte mit dem sehr verwahrlosten jüdischen Friedhof in Währing entstanden. Abschließend sei hier noch ein Wort der Kultusgemeinde gewidmet, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert enorme Ressourcen in die Erforschung ihrer Geschichte investierte, seit der Shoah jedoch mit Ausnahme der Wiedereröffnung ihres Archivs wenig Interesse an ihrer eigenen Geschichte jenseits der Aufarbeitung der NS-Verbrechen gezeigt hat. Dies dürfte nicht zuletzt auf den orthodoxen Wandel innerhalb der Nachkriegskultusgemeinde zurückzuführen sein, verbunden mit der Tatsache, dass die Mehrheit ihrer Mitgliedschaft keine Wurzeln in Österreich hat – nicht einmal im k.u.k. Sinne – die über die Shoah hinaus greifen. Dies kritisierte die Publizistin Rita Koch in den 1990er-Jahren – genau zu der Zeit, in der die Forschung zur Wiener jüdischen Geschichte einen gewaltigen Aufschwung erfuhr, jedoch wohlgemerkt weitgehend von nichtjüdischen bzw. ausländischen HistorikerInnen betrieben wurde – wobei sie sich spezifisch auf das Desinteresse bezog, mit der die Kultusgemeindemitglieder damals anscheinend der sensationellen Aufdeckung der Grundmauern der mittelalterlichen Synagoge am Judenplatz begegneten. Koch veröffentliche einen 319 Diese Zitate: Pröll, Erwin/Scheiber, Ernst: Wider der Gleichgültigkeit, in: Steines, Patricia/Lohrmann, Klaus/Forisch Elke (Hg.): Mahnmale. Jüdische Friedhöfe in Wien, Niederösterreich und Burgenland, Wien 1992, S. 7–8.
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Beitrag in Die Gemeinde mit dem provokanten Titel „Wo bleibt der jüdische Stolz?“, in dem sie konstatierte, dass ihre GlaubensgenossInnen „unberührt und uninteressiert“ schienen: „Sie fahren lieber auf die Suche nach Steinen und nach Gräbern von Heiligen Männern aus dem Osten…“.320 Wie in ihrer im folgenden Abschnitt analysierten Instandsetzungspolitik seit der Jahrtausendwende ersichtlich wird, interessiert sich die Kultusgemeinde anscheinend mehr für die Aufrechterhaltung orthodox-religiöser Praktiken in ihren Friedhöfen – selbst, wenn diese „Traditionen“ früher nie gegeben waren – als für deren kulturhistorischen Wert oder ihre tatsächliche Entwicklungsgeschichte. 10.7
Der Währinger Friedhof als Kristallisationspunkt der österreichischen Vergangenheitsbewältigung im 21. Jahrhundert
Ein großer Einschnitt im öffentlichen Umgang mit den verwahrlosten jüdischen Friedhöfen in Österreich ereignete sich 2001 mit der Vereinbarung des Washingtoner Abkommens, wodurch sich die Zweite Republik nach jahrzehntelanger Widerspenstigkeit zu ihrer grundsätzlichen historischen Verantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus bekannte und, daraus folgend, sich zu weitreichenden Entschädigungsmaßnahmen für die Opfer bereit erklärte, inklusive in Bezug auf die Instandsetzung von jüdischen Friedhöfen. Die Umsetzung dieses vagen Versprechens scheiterte aber schnell am Widerstand einiger lokaler Gemeinden, allen voran der Stadt Wien, wo sich ja die flächenmäßig größten jüdischen Friedhöfe und zahlenmäßig die meisten jüdischen Grabstätten Österreichs befinden. Der Zusammenfluss von politischen Handlungsbestrebungen, Graswurzelinitiativen, wissenschaftlicher Aufarbeitung und medialer sowie öffentlicher Rezeption fokussierte sich rasch auf einen spezifischen Ort: den arg geschändeten und seit Jahrzehnten vor sich hin verfallenden jüdischen Friedhof in Währing. Im folgenden Abschnitt wird aufgezeigt, wie der Währinger Friedhof in den ersten zehn Jahren seit der Jahrtausendwende nicht nur zum Kristallisationspunkt diverser Instandsetzungsinitiativen wurde, sondern darüber hinaus zum lokalen, nationalen sowie internationalen Schauplatz für die Behandlung sowohl der jüdischen wie der nationalsozialistischen Vergangenheit Österreichs und die gegenwärtige Auseinandersetzung des Landes und seiner Bevölkerung mit den verbundenen Fragen der historischen Verantwortung sowie überhaupt des Stellenwerts der jüdischen Kultur im Selbstverständnis der Republik im 21. Jahrhundert. 320 Wo bleibt der jüdische Stolz?, in: Die Gemeinde, 21. August 1996, S. 5. Vgl. hierzu die Diskussion in Lehnguth, Cornelius: Waldheim und die Folgen. Der parteipolitische Umgang mit dem Nationalsozialismus in Österreich, Frankfurt am Main 2013, S. 384.
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In den späten 1960er-Jahren, als die oben analysierten Konflikte rund um die Konstruktion des Arthur-Schnitzler-Hofs abgeklungen waren, bildete der stillliegende Währinger Friedhof weiterhin eine Zielscheibe für schwerwiegende Schändungen. Im November 1968 informierte beispielsweise die Technische Abteilung den inzwischen betagten Kultusgemeindepräsidenten Ernst Feldsberg, dass dort ein Zinnsarg von Unbekannten „gewaltsam geöffnet“ wurde: „Es sind die Gebeine teilweise sichtbar geworden und dürften von wilden Katzen der Sarg durchstöbert worden sein.“ Zudem sei ein Teil des Gruftdeckels an dieser ausgehobenen Grabstätte eingestürzt. Dieser Vorfall ereignete sich in einem Teil des Friedhofs, in dem etwa zehn Grüfte „in den Kriegstagen auf ähnliche Weise gewaltsam geöffnet wurden“, was eine verstörende Kontinuität mit der NS-Ära aufzeigt. Die Technische Abteilung schätzte die Kosten für die benötigten Reparaturen auf bis zu 2.000 Schilling.321 Wenige Wochen zuvor hatte sie sich bereits beschwert, dass der Stacheldraht, der Eindringende fernhalten sollte, „abgerissen“ worden sei und dass „der Friedhof immer wieder von Jugendlichen betreten wird und dies vor allem über die niedere Mauer in der Semperstraße geschieht“, also die 1945 instand gesetzte westliche Mauer an der Grenze zum Währinger Park.322 Anfang November hatte die Kultusgemeinde noch eine Schlosserei beauftragt, diese Mauer zu reparieren.323 Um 1969 wurde der Währinger Friedhof anscheinend von einer Frau Greta Kubek und ihren Söhnen betreut und wurde laut einer Aktennotiz nach einer „vom Stadtgartenamt angeordnete[n] Rodung und durch intensive Pflege der Friedhofswärterin zu einer ansehnlichen Gedenkstätte“.324 Dies ist allerdings ein vereinzelter Hinweis in den Akten und scheint daher einen eher vorübergehenden Tatbestand zu reflektieren als eine dauerhafte Wende im Pflegezustand dieses Erinnerungsorts. Im Gegenteil: Bis heute liegt der Friedhof in einem derart verwüsteten Zustand, dass eine Besichtigung nur im Rahmen einer offiziellen Führung und nach Unterschreiben einer Verzichterklärung möglich ist, die die Kultusgemeinde im Falle von persönlicher Verletzung von rechtlicher Haftung freistellt. Bis heute sind die Friedhofsmauern von eingebetteten Glasscherben und Stacheldraht umringt, ein materieller wie ästhetischer Ausdruck der Verdrängung von Schuld und Verantwortung sowie der Vernachlässigung von jüdischem kulturellem Erbe in der Zweiten Republik. 321 An Präsident Dr. Feldsberg, 28. November 1968, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 18, Währinger Friedhof/1/3, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 322 An die Amtsdirektion, 29. Oktober 1968, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 18, Währinger Friedhof/1/3, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 323 An Firma Johann Breier, 6. November 1968, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 18, Währinger Friedhof/1/3, zit. in USHMM, AJCV-VCC. 324 An die Amtsdirektion, 4. Juni 1969, AIKGW, A/VIE/IKG/I-III/LG/Wien 18, Währinger Friedhof/1/3, zit. in USHMM, AJCV-VCC.
Der Währinger Friedhof als Kristallisationspunkt der österreichischen Vergangenheitsbewältigung
Abb. 30 Trümmerhaufen von Grabsteinen im wiederholt geschändeten südöstlichen Teil des Währinger Friedhofs. © Autor
In ihrem oben besprochenen Beitrag in Die Gemeinde zu den Wiener jüdischen Friedhöfen schrieb Patricia Steines im Mai 1991 in womöglich bewusster Reflektion der gängigen Verklärungen in der allgemeinen Friedhofsliteratur, dass der Währinger Friedhof auf den ersten Blick „in all der friedlichen Stille und Natur fast romantisch“ erscheint. „Der zweite Eindruck – etwa nach einem Friedhofsrundgang – ist desillusionierend unromantisch“, fuhr sie fort: Es ist ein Bild der „zerstörerische[n] Gewalt“, geprägt von „aufgebrochene[n] Grüfte[n]“, wobei, wie sie schockiert bemerkte, „immer wieder offen auf der Erde liegende Menschenknochen“ zu finden waren.325 Dies war keine Übertreibung: Im Sommer 1997 wurde beispielsweise berichtet, dass ein Dachs im Friedhof menschliche Knochen ausgegraben hatte. Um diesem pietätlosen Zustand ein Ende zu setzen, machten sich schließlich 300 Kultusgemeindemitglieder an die Arbeit, die Erdoberschicht zu durchsieben und alle Knochenfunde in einem Sondergrab zu bestatten. Der Artikel in Die Gemeinde wurde von einem unwirklich anmutenden Photo begleitet, der orthodoxe Juden in schwarzer Tracht
325 Der alte Währinger israelitische Friedhof, in: Die Gemeinde, 17. Mai 1991, S. 19–22.
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auf dem Friedhof, einer mit einem menschlichen Oberschenkelknochen in den Händen zeigt.326 Diese Zustände waren die Folge nicht nur von Schändungen des Friedhofs während der NS-Zeit, sondern auch von dezidierter Verwahrlosung seitens der Stadtverwaltung und weiteren Schändungen in den Jahrzehnten danach. Wie gezeigt, zogen diese Zustände ab den 1980er-Jahren zunehmend mediale Aufmerksamkeit auf sich. Als dann vereinzelte Graswurzelinitiativen, wie die eben geschilderte seitens der Kultusgemeinde, sowie einzelne WissenschaftlerInnen begannen, sich mit dem geschändeten Friedhof auseinanderzusetzen, ergab sich allmählich ein regelrechtes Wechselspiel zwischen Instandsetzungsund Forschungstätigkeit sowie medialer Aufmerksamkeit, die diesen Friedhof schließlich zum Kristallisationspunkt gesamtösterreichischer Diskussionen zu Schuld und Verantwortung machte, die auf jeder politischen Ebene Auswirkungen haben sollten. Ein frühes Beispiel dieses Wechselspiels ereignete sich 1996, als Tina Walzer ein Forschungsprojekt zum Friedhof durchführte, das in der Folge von einflussreichen Tageszeitungen aufgegriffen wurde, die die Schändung und Verwahrlosung dieses Erinnerungsorts für ein breiteres Publikum thematisierten.327 Das Ende 2001 unterschriebene Washingtoner Abkommen, das eine weitreichende symbolische Entschädigung der NS-Opfer garantierte, thematisierte die jüdischen Friedhöfe mit genau einem Satz: „Österreich wird zusätzliche Unterstützung für die Restaurierung und Erhaltung bekannter und unbekannter jüdischer Friedhöfe in Österreich leisten“ (§8).328 Dieser Wortlaut ist äußerst vage. Nicht zuletzt wurde hier angesichts der föderalistischen Struktur der Republik Österreich auf keine Weise die Zuständigkeit für diese „Unterstützung“ spezifiziert, noch wurde die zu erbringende Leistung quantifiziert. Der Währinger Friedhof unterliegt administrativ und geographisch mindestens vier unterschiedlichen Instanzen: der Bezirksvertretung Döbling (auf dessen heutigem Sprengel sich der Friedhof, trotz seines Namens, größtenteils befindet), dem Wiener Gemeinderat bzw. Landtag, der österreichischen Bundesverwaltung („die Republik“) sowie natürlich seiner Eigentümerin, der Wiener Kultusgemeinde. Zudem fiele eine Instandsetzung des Friedhofs theoretisch in den Aufgabenbereich einer ganzen Reihe von Behörden, wie etwa dem Bundesdenkmalamt oder dem Nationalfonds. Die aus dem Washingtoner Abkommen zwangsläufig resultierenden „Kompetenzstreitigkeiten“, wie sie einige Jahre 326 Chessed Schelmet [sic], in: Die Gemeinde, Juli 1997, S. 47. 327 Siehe etwa: Eine „neue“ Geschichte der Wiener Juden, in: Der Standard, 6. Februar 1996, S. 7 und Gräber und Testamente bringen neues Wissen, in: Die Presse, 6. Februar 1996, S. 8. 328 Siehe den vollständigen Text unter https://www.nationalfonds.org/gesetze, letzter Zugriff: 31. August 2020.
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später die damalige Dritte Nationalratspräsidentin Eva Glawischnig (Die Grünen) bezeichnete, sorgten dafür, dass bis heute keine umfassende Strategie zur dauerhaften Instandsetzung insbesondere dieses jüdischen Friedhofs vereinbart werden konnte.329 Es folgte somit in den Jahren nach dem Washingtoner Abkommen, wie 2010 Gabriele Russ vom Kulturamt der Steiermark treffend bemerkte, „eine in losen Abständen statt gehabte wechselseitige Zuweisung angeblicher Zuständigkeiten zwischen dem Bund und den Ländern [Anmerkung: und den Gemeinden]. Nichts Grundsätzliches“.330 Unmittelbar nach Verkündigung des Washingtoner Abkommens wurde Tina Walzer von der Kultusgemeinde Wien als größtem jüdischen Dachverband in Österreich beauftragt, ein Weißbuch zur Pflege der in Österreich überdauernden jüdischen Friedhöfe zu erstellen. Dieses 2002 fertig gestellte sechsbändige Aktenstück umfasst Basisdaten zum damaligen Stand der nach Bundesländern gegliederten Friedhöfe, inklusive „bestehender Vereinbarungen“ mit den Lokalgemeinden, Beschreibungen des Erhaltungszustands sowie photographische Dokumentationen, auf deren Basis schließlich eine Kostenschätzung für die Instandsetzung und dauerhafte Pflege jedes einzelnen Friedhofs erstellt wurde. Bestimmte Friedhöfe, so etwa jene in den niederösterreichischen Gemeinden Korneuburg, Mödling, Mistelbach und Gänserndorf, hob Walzer also „Vorbilder“ hervor, deren guter Erhaltungszustand sich nicht zuletzt dadurch erklärte, dass „die Ortsgemeinden die Verantwortung für den Pflegezustand“ übernahmen. Andere blieben hingegen weitgehend „verwildert“. Walzer verwies hier auf einige einmalige Zuwendungen seitens der Länder zur Erhaltung lokaler Friedhöfe, so etwa die 1 Million Schilling (knapp über 70.000 Euro), die das Land Niederösterreich 1994 an den Verein Schalom stiftete. Solche einmaligen Zahlungen verschafften jedoch nur vorübergehende Lösungen, wie Walzer weiter feststellte: „Seither hat sich erneut Sanierungsbedarf ergeben.“ Es brauche eine permanente Pflegelösung, wenn diese Bestattungsareale dauerhaft erhalten werden sollten. So unterstützte damals das Burgenland zum Vergleich den Verein Schalom mit 400.000 Schilling (etwa 29.000 Euro) pro Jahr. Auch die Graswurzelinitiativen, allen voran der Verein Schalom, die Walzer zufolge „mit bewundernswertem Einsatz“ arbeiteten, reichten aber schließlich nicht für eine dauerhafte Lösung: Nur „ein systematisches Vorgehen“ konnte als „Grundvoraussetzung für jeden langfristigen Erfolg“ gelten. Selbst die permanenten Vereinbarungen, die in einigen Gemeinden bereits existierten, schlossen 329 Stenographisches Protokoll, 11. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich, XXIV. Gesetzgebungsperiode, 22. Jänner 2009, https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXIV/ NRSITZ/NRSITZ_00011/fname_151050.pdf, S. 200, letzter Zugriff: 31. August 2020. 330 Russ, Gabriele: Noch ist nicht Chanukka!, in: Lamprecht, Gerald (Hg.): Jüdische Friedhöfe in Österreich. Aspekte der Erhaltung. Dokumentation einer Expertenkonferenz, Graz 2010, S. 7.
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meist nur das „Mähen des Areals“ ein, was zu einem dauernd wiederkehrenden „Sanierungsbedarf “ führte.331 Über ihren Wert als Überblicksdarstellung der bestehenden jüdischen Friedhöfe in Österreich und als Schnappschuss ihres damaligen Zustands hinaus bietet Walzers Weißbuch auch einen qualitativen Einblick in die den Instandsetzungsbestrebungen unterliegende Politik, wobei eine markante Spannung zwischen den Forderungen der orthodox-religiösen Kultusgemeinde als jüdische Repräsentativkörperschaft und den Befunden der laizistischen Wissenschaft zur jüdischen Sepulkralgeschichte deutlich wird. Dies kommt gleich in der „Grundsatzerklärung“ zum Ausdruck, die Walzer den Bänden voranstellte: „Die Halacha, das religiöse Gesetz des jüdischen Glaubens, verpflichtet die jüdischen Gemeinden zur immerwährenden Erhaltung ihrer Friedhöfe und aller Grabstätten.“ Somit übernahm Walzer von Anbeginn die orthodox-religiösen Vorstellungen der Kultusgemeinde – als deren Beauftragte sie fungierte – als zwingende Grundlage für den Umgang mit den historischen jüdischen Bestattungsräumen des Landes und jedes ihrer einzelnen Denkmäler, egal, in welcher Epoche, unter welchen Umständen und durch welche UrheberInnen sie entstanden. Die Zentralisierung und Orthodoxisierung der jüdischen Sepulkralkultur in den Händen der Kultusgemeindeorganisation, die hier in Kapitel 9 eingehend geschildert wurde, zeigte sich ferner in Walzers Forderung, es solle bei zukünftigen Instandsetzungsarbeiten den hier infolge ausgeführten Vorstellungen der „Halacha“ entsprechend eine „Bündelung der Kompetenzen in den Händen der Kultusgemeinden“ erfolgen sowie eine „Überführung der Eigentumsrechte an allen jüdischen Friedhöfen in die Hände der Kultusgemeinden“. Dem Weißbuch wurde alsdann eine Reihe von „Richtlinien der IKG Wien für Sanierung und Pflege jüdischer Friedhöfe“ beigefügt, die allerdings von Walzer selbst erstellt wurde und sich bizarrerweise „neben mündlichen Vorgaben“ scheinbar bloß auf die Richtlinien des deutschen Bundeslandes Hessen zur Pflege jüdischer Friedhöfe bezog. Diese stützte sich wiederum – übrigens genauso wie Walzer in ihren eigenen Publikationen – auf die orthodoxen Auslegungen der jüdischen Sepulkralkultur des 1991 verstorbenen hessischen Landesrabbiners Ernst Roth.332 Im Anhang zum Weißbuch wurde darüber hinaus zum Vergleich eine Übersicht von „Pflege und Erhaltung jüdischer Friedhöfe in Deutschland“ angeführt, inklusive einer vollständigen Reproduktion der parlamentarischen Sitzung von 1956, in der die dauerhafte bundesweite Pflege von jüdischen Friedhöfen verbindlich beschlossen wurde, sowie einer Reproduktion der Richtlinien des Landes Hessen. Eine abschließende Photodokumentation von drei jüdischen Friedhöfen in Schnaittach bei Nürnberg in Franken diente 331 Walzer: Weißbuch, Bd. 1, o. S. 332 Roth,: Zur Halachah des jüdischen Friedhofs und Zur Halachah des jüdischen Friedhofs II.
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dazu, um Walzers kategorische Forderungen zu unterstreichen, so etwa in der wiederholten Überschrift „Jeder jüdische Friedhof muß…“. Auch hier fungierte also die Bundesrepublik Deutschland als Vorbild für den österreichischen Umgang mit jüdischen Friedhöfen. In ihren Richtlinien behauptete Walzer konkret, dass die „Grundsätze der jüdischen Religion […] den Umgang mit einem jüdischen Friedhof verpflichtend“ vorschreiben: „Jede Art der Tätigkeit auf einem jüdischen Friedhof muß halachischen Prinzipien entsprechen.“ Um dies zu gewähren, sind alle „auf jüdischen Friedhöfen durchzuführenden Arbeiten […] durch die zuständige Kultusgemeinde vor Beginn ihrer Durchführung auf ihre Bedenklichkeit zu prüfen und schließlich in ihrem gesamten weiteren Verlauf zu überwachen“. Somit wurde nicht nur jede jüdische Grabstätte ausnahmslos sakralisiert, es wurde zudem der orthodoxen Kultusgemeinde die absolute Kontrolle über die Instandsetzungsarbeiten und somit insgesamt über die (Um-)Gestaltung der jüdischen Friedhöfe in Österreich, zugesichert. Es folgte ein Abschnitt, in dem „[g]rundsätzliche Vorgangsweisen“ für diese Umgestaltungen angeführt wurden, inklusive „[a]llgemeine Hinweise zum Betreten des Areals“. So wurde beispielhaft vorgeschrieben: „Am Eingang jedes jüdischen Friedhofes ist ein Schild mit folgenden allgemeinen Hinweisen gut sichtbar anzubringen: Die Friedhöfe [sic, plural] dürfen von Männern nur mit Kopfbedeckung betreten werden.“ In Wien ist bis heute der Friedhof beim IV. Tor, der Hauptbestattungsraum der Kultusgemeinde, der einzige jüdische Friedhof, wo diese Praxis explizit vorgeschrieben wird, und das auch nur seit den 1950er-Jahren: ein deutliches Beispiel der modernen „Erfindung der Tradition“. Waren einige der hier angeführten Maßnahmen, etwa zur Pflege von Wegen und Bewuchs, pragmatischen Charakters und somit durchaus nachvollziehbar, kann wiederum die Aufforderung, alle jüdischen Friedhöfe einfrieden zu lassen, als Ausdruck des Partikularismus und der Abschottung von innen heraus durch die heutige Kultusgemeinde gedeutet werden, wie es orthodoxe Kreise bereits in der Zwischenkriegszeit anstrebten. Wie und wieso überhaupt dies am Friedhof beim I. Tor bewirkt werden sollte, der seit seiner Entstehung in die allgemeine Anlage des Zentralfriedhofs eingebunden ist, wurde hier nicht erläutert. Auffallend ist hier zudem die Behauptung, dass „Beton-Steinfundamente […] nicht nur aus konservatorischen, sondern auch aus ästhetischen Gründen abzulehnen“ sind, denn genau solche werden heute bei den Instandsetzungsarbeiten im Friedhof in der Seegasse eingesetzt, was tatsächlich einen ästhetisch misslungenen Eindruck macht. Überhaupt zeugen die ausgiebigen hier vorgeführten Verordnungen zur Bergung und Wiedererrichtung von Grabsteinen oder bei unidentifizierbaren Steinen deren Aufbewahrung neben Fragen der Pietät bezüglich des Andenkens der Verstorbenen von einer tiefgreifenden modernen Sakralisierung dieser ursprünglich recht profanen Denkmäler. Das Gleiche gilt
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für die auf „Oberrabbiner Grünfeld“ (gemeint ist wohl Leib Grünfeld von der ultraorthodoxen Vereinigung Agudat Israel, Sohn des oben erwähnten Chaim Grünfeld) zurückgeführte Aufforderung, bei Begräbnisstätten, auf denen keine Denkmäler überdauert haben, symbolische Grabsteine zu errichten, um deren „Friedhofscharakter augenscheinlich“ zu machen.333 In ihren Ausführungen zu den einzelnen Friedhöfen traten in Walzers Weißbuch auch die zum Teil bedenklichen Diskurse der Nachkriegskultusgemeinde zum Vorschein. Über den kontrafaktisch als „Jüdische[n] Friedhof Döbling“ vorgeführten überkonfessionellen städtischen Bestattungsraum im 19. Bezirk mit seinen vielen nicht eindeutig nach religiösen geschweige denn „ethnischen“ Kriterien zuordenbaren Grabdenkmälern, behauptete Walzer beispielsweise: „Genaue Anzahl der jüdischen Gräber derzeit nicht feststellbar, da dafür umfangreiche Recherchen zu den biographischen Daten der einzelnen Personen in Matriken und anderen Quellen nötig ist.“ In anderen Worten sollte die „Jüdischkeit“ der dort Bestatteten in völliger Missachtung allfälliger persönlicher Identifikation stattdessen aufgrund von familiärer Abstammung festgestellt werden, wonach auch diese Grabstätten, die sich nicht in einem jüdischen Friedhof befinden, vermutlich nach orthodox-religiösen Vorstellungen der „jüdischen“ Sepulkralkultur behandelt werden sollten. Dies stellt eine zutiefst problematische Parallele zur Vorgehensweise des NS-Regimes dar, die Menschen – inklusive der Leichen der Verstorbenen in nichtjüdischen Friedhöfen, wie hier in Kapitel 8 gezeigt – ebenfalls in völliger Missachtung ihrer Individualität anhand von Matriken und „Abstammung“ sozusagen „genetisch“ identifizierte und demzufolge voneinander segregierte.334 Um es provokativ auf den Punkt zu bringen: Betätigte die Kulturpolitik der Zweiten Republik, wie oben am Beispiel von Arthur Schnitzler demonstriert wurde, eine Art „Arisierung“ von verstorbenen Menschen, die nicht mehr fähig waren, für sich selbst zu sprechen, so strebten diese Maßnahmen für den Umgang mit jüdischen Grabstätten in Österreich seitens der Kultusgemeinde umgekehrt eine „Judaisierung“ von verstorbenen Menschen an, die in vielen Fällen nachweislich eine Zugehörigkeit zur jüdischen Religionsgemeinschaft oder eine wie auch sonst geartete „Jüdischkeit“ von sich gewiesen hätten. Hierin zeigt sich exemplarisch die problematische, hier in Kapitel 1 und 2 besprochene Tradierung in jüngster Zeit von tendenziösen religiösen bzw. ethnisierenden Diskursen in der laizistischen Wissenschaft, die in vielen Fällen nachweislich den historischen Tatsachen widersprechen. Dabei stellt sich die schwierige Frage, was in der Instandsetzung dieser während eines Genozids geschändeten Erinnerungsorte größeres Gewicht trägt: die historische Wahrhaftigkeit oder 333 Walzer: Weißbuch, Bd. 1, o. S. 334 Walzer: Weißbuch, Bd. 6, o. S.
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die Forderungen einer Repräsentativkörperschaft, die als Gemeinschaftsnachfolgerin auftritt, jedoch gerade in Wien weitgehend nicht familiär mit ihrer Vorgängergemeinschaft verwandt ist. Ebenfalls beachtenswert an Walzers Weißbuch ist ihre Wertung der historischen und kulturellen Bedeutung der jüdischen Friedhöfe. So erklärte sie zusammenfassend, dass diese Orte „Zeugnisse einer in der NS-Zeit untergegangenen Kultur“ seien – als ob die „jüdische Kultur“ ein abgegrenztes, monolithisches und unveränderliches Phänomen darstellte, das mit der Shoah endgültig verschwand und heute in Wien oder Österreich nicht mehr existierte. Walzer zufolge „spiegeln“ jüdische Friedhöfe bloß „die Geschichte der jeweiligen Gemeinde“, als hätten sie nicht ihre eigenen Geschichten oder als fungierten sie nicht als unmittelbare Schauplätze für die Entfaltung diverser jüdischer Kulturen oder für die Austragung innergemeinschaftlicher Konflikte. In dieser Behauptung offenbart sich auch ein subtiler Widerspruch, denn die Friedhöfe spiegeln Walzer zufolge auch die unterschiedlichen „religiösen und sozialen Vorstellungen“ einer jeweiligen Gemeinde – was aber nicht mit der Vorstellung einer einheitlichen, zeitlosen und verpflichtenden „Halacha“ vereinbar ist bzw. die Frage aufwirft, wieso diese offensichtlich heterogen angelegten Räume heute einer homogenen, partikularistischen und anachronistischen Vorstellung der „jüdischen Kultur“ unterstellt werden sollten.335 Historizität führte Walzer in ihrer Detailübersicht zum Währinger Friedhof betont als Erhaltungsargument vor, indem sie diesen Friedhof als „Spiegelbild“ und als „einzig erhaltene[s] Zeugnis“ bezeichnete, das den „zerstörten und vielfach unbekannten jüdischen Anteil an Wiens, Österreichs und Mitteleuropas Vergangenheit heute noch umfassend sichtbar zu machen vermag“. Einerseits vermittelt dies wieder einmal den Eindruck, dass Friedhöfe keinen Erkenntniswert an sich besitzen, sondern nur als „Spiegelbilder“ fungieren, sozusagen als steinerne Biographien von Prominenten, die wiederum selbst nur aufgrund ihres gesellschaftlichen „Beitrags“ von kultur- oder sozialhistorischem Interesse sind. Andererseits stellt sich die Frage, wie denn ein Friedhof samt seinen Grabsteinen – die nur wenig und sowieso nur „Gutes über die Toten“ zu sagen pflegen (im Sinne de mortuis nihil nisi bonum) – die umfassende Geschichte einer Gemeinschaft in all seinen religiösen, sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und anderen Aspekten ohne Weiteres „sichtbar“ machen kann. Ohne ein entsprechend umfassendes Vorwissen ist diese These schlicht nicht plausibel. Schließlich ist am Weißbuch auffällig, dass Walzer überhaupt dem Währinger Friedhof besonders viel Aufmerksamkeit schenkte, wie in ihrer Bezeichnung dieses Bestattungsraums als „bedeutendsten noch bestehenden jüdischen Fried-
335 Walzer: Weißbuch, Bd. 1, o. S.
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hof des frühen 19. Jahrhundert in ganz Europa“.336 Diese Einschätzung mag zwar hinterfragt werden, vergleicht man beispielsweise jüngst eine Publikation zu ähnlichen großstädtischen jüdischen Bestattungsräumen der Neuzeit in verschiedenen europäischen Ländern.337 Doch bringt uns diese Behauptung zurück zur wesentlichen Feststellung, dass seit dem Washingtoner Abkommen der Währinger Friedhof zum Kristallisationspunkt für die Auseinandersetzung Österreichs mit seinen jüdischen Friedhöfen wurde. Dies kam bereits Anfang 2002 in einer Aussage von Kurt Scholz, Bereichsleiter für Restitutionsangelegenheiten der Stadt Wien, zum Anschein, der in Betracht auf dessen desaströsen Zustand feststellte – wohlgemerkt in einem Interview mit dem Presseorgan der Kultusgemeinde – dass sich die Instandsetzungspolitik infolge des Washingtoner Abkommens im Wesentlichen um den Währinger Friedhof drehe. Scholz selbst sprach sich mit folgender Begründung dezidiert für eine umfassende Instandsetzung aus: „Dieser Friedhof ist ein kulturhistorisches Juwel und es ist eine Schande für eine Kulturnation, in welchem Zustand sich einer der kulturhistorisch wertvollsten Friedhöfe Österreichs befindet.“ Erkannte er somit grundsätzlich den kulturhistorischen Wert des Friedhofs an, so setzte er ebenso deutlich ein Schamargument statt das Argument der historischen Schuld ein und untermauerte ersteren zudem mit einem expliziten Zweckargument: Ich sehe nicht ein, dass die Prager jüdischen Friedhöfe eine internationale Touristenattraktion sind und Wien diese Chancen nicht nützt. Eine Renovierung und parkähnliche Öffnung des Währinger Friedhofes, [sic, Beistrich] wäre eine Touristenattraktion. Unzählige USA Touristen würden so einen restaurierten Friedhof besuchen. Es geht weniger darum, der Israelitischen Kultusgemeinde etwas Gutes zu tun, es wäre eine Chance, Wien attraktiver zu machen.
Wieso nur ausgerechnet „USA Touristen“ den restaurierten Friedhof besuchen würden, sei dahingestellt. Richtig bemerkte Scholz jedenfalls, dass ein „weiteres Zuwarten […] das Projekt einer späteren Renovierung nur teurer“ machen würde.338 Dazu muss aber auch festgestellt werden, dass eine weiter andauernde Strategie des „in die Länge Ziehens“ schließlich nur dazu führen kann, dass von den historischen Grabdenkmälern nichts zum Instandsetzen übrig bleiben wird. Erinnert der Vergleich mit Prag allgemein an die Friedhofsliteratur des frühen 20. Jahrhunderts, so wird Tourismus heute auch in der Forschungsliteratur
336 Walzer: Weißbuch, Bd. 6, o. S. 337 Klein: Metropolitan Jewish Cemeteries. 338 In der Redaktion zu Gast: Dr. Kurt Scholz, in: Die Gemeinde, Jänner 2002, S. 10–12.
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als Argument für die Instandsetzung dieses Friedhofs vorgeführt. Die Historikerin Martha Keil verglich beispielsweise in einem relativ frühen Beitrag zu seiner Schändungsgeschichte diesen Bestattungsraum explizit mit seinem Zeitgenossen in St. Marx und verwies darauf, dass der Währinger Friedhof mit dem öffentlichen Verkehr gut angebunden ist und somit eine ebenso wertvolle Touristenattraktion für die Stadt darstellen könnte wie der berühmte Prager Friedhof. Sie verwies aber auch auf die vielen Nachkommen der dort Bestatteten, die auf der Suche nach ihrer familiären Vergangenheit nach Wien pilgerten, für die ein gut erhaltener Friedhof ein besonderer Anziehungspunkt darstellen würde.339 Das Tourismusargument schlug sich auch im medialen Diskurs nieder. Ein Artikel der Austria Presse Agentur, der im November 2008 in Die Gemeinde abgedruckt wurde, der den Friedhof in der Seegasse als den „wohl unbekannteste[n]“ jüdischen Friedhof Österreichs bezeichnete, kontrastierte ihn beispielhaft mit den von TouristInnen überlaufenen alten jüdischen Friedhof in Prag. Allerdings wurde im gleichen Bericht eine Rezeptionistin im städtischen Altersheim in der Seegasse zitiert, durch den BesucherInnen gehen müssen, um an den Friedhof zu gelangen, die widersprach: „Doch, es kommen schon regelmäßig Leute, manchmal sogar ein ganzer Bus.“340 Eine Publikation zu internationalen jüdischen Friedhöfen betonte jüngst im gesamteuropäischen Kontext den Wert von gut erhaltenen jüdischen Friedhöfen für den Tourismus sowie für Bildungszwecke.341 Wie aufgezeigt, versuchte die Stadt Wien wiederholt vor, während und nach der NS-Zeit, den Währinger jüdischen Friedhof unter ihre Kontrolle zu bringen, um ihn aufzulassen und als Parkanlage, Verkehrsfläche oder Bauland umzunützen. Es war die Stadt Wien, die 1941 den südöstlichen Teil beschlagnahmte und ausgrub, und es war die Stadt Wien, die 1942 das restliche Friedhofsareal „arisierte“ und dem Wiener Naturhistorischen Museum erlaubte, dort Leichen und Grabdenkmäler zu schänden. Es war die Stadt Wien, die sich zehn Jahre lang weigerte, den von ihr geraubten und geschändeten Friedhof zu restituieren, und es war die Stadt Wien, die während des Baus des zynisch benannten Arthur-Schnitzler-Hofs auf dem durch Zwang behaltenen südöstlichen Areal weitere unzählige Grabstätten schändete. Schließlich war es die Stadt Wien, die über Jahrzehnte hinweg durch ihre Verweigerung jeder Entschädigung oder Instandsetzungsmaßnahme zuließ, dass dieser vor der Shoah vorbildlich gepflegte Friedhof nach und nach verfiel und wiederholt von nichtjüdischen WienerInnen vandalisiert wurde. Die Frage nach der historischen Schuld und somit der gegenwärtigen Verantwortung dürfte somit obsolet sein. 339 Keil: „… enterdigt aus dem jüdischen Friedhof “, S. 19. 340 Die einsamen Toten aus der Seegasse, in: Die Gemeinde, November 2008, S. 29. 341 Klein: Metropolitan Jewish Cemeteries, S. 413–416.
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In einer Gemeinderatssitzung im Frühsommer 2006 lehnte jedoch der damalige Wiener Bürgermeister Michael Häupl (SPÖ) prinzipiell die Verantwortlichkeit der Stadt für die Instandsetzung des Währinger Friedhofs ab mit Verweis auf die Formulierung des Washingtoner Abkommens, wonach „Österreich“, also nach seiner Interpretation die Republik bzw. die Bundesverwaltung die alleinige Verantwortung trug. Häupl verwies ferner auf die 300.000 Euro, die die Stadt alleine in diesem Jahr für grundlegende Instandsetzungsarbeiten im Friedhof beigesteuert hatte – ungeachtet den Expertenschätzungen, die die Kosten für eine umfassende Instandsetzung alleine dieses Friedhofs im Bereich von etwa 14 Millionen Euro kalkulierten. Dies muss als ein in diesem Kontext typisches Ablenkungsargument aufgefasst werden, das am wesentlichen Punkt – der endgültigen Instandsetzung der Friedhöfe – vorbeisteuert. In ihrer Berichterstattung bemerkte die Wiener Zeitung zudem, dass es nicht einmal klar war, welche Instanz mit „Österreich“, selbst in Verweis auf den „Bund“ gemeint war: Die Redaktion hatte beim Kultusamt im Bundeskanzleramt, beim Nationalfonds und beim Innenministerium nachgefragt, die sich alle unwissend ausgaben.342 Im Jahre darauf stattete die Erste Nationalratspräsidentin Barbara Prammer (SPÖ) dem Friedhof einen Besuch ab – eine bedeutungsvolle Anerkennung der Instandsetzungsdebatte seitens einer ranghohen Persönlichkeit der Republik. Daraufhin wurde eine Initiative gegründet, um die umfassende Restauration des Friedhofs zu verwirklichen.343 Der Aufruf der seinerzeit nicht erfolgreichen und inzwischen aufgelösten Initiative enthielt das Leitargument der Instandsetzungsdebatte, das in den folgenden Jahren in der Politik, den Medien sowie der Wissenschaft aufgegriffen werden sollten: Der jüdische Friedhof ist ein bedeutendes österreichisches Kulturdenkmal, der, wenn er sorgfältig instand gesetzt und öffentlich zugänglich wäre, sowohl auf jüdische wie nichtjüdische, österreichische wie nichtösterreichische BesucherInnen eine Anziehungskraft ausüben würde. Dieses Argument fungierte in diesen Jahren insbesondere als politische Strategie, um für die Instandsetzung des Friedhofs zu werben. Hierin wurde auch die transnationale Dimension der Debatte sichtbar, die bereits mit dem Washingtoner Abkommen gegeben war, da sich sowohl die AkteurInnen wie das Zielpublikum über die österreichische Judenheit und die gesamtösterreichische Gesellschaft hinaus auf ausländische Interessensgruppen erstreckten. Die komplexe Verflechtung dieser Jahre von politischen, medialen, wissenschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem verwahrlosten Friedhof manifestierte sich in diversen Projekten, die in den Fol342 Bund soll Friedhof sanieren, in: Wiener Zeitung, 30. Juni 2006, S. 13. 343 Walzer: Der Jüdische Friedhof Währing, S. 6, 18.
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gejahren rund um den Friedhof organisiert wurden, so beispielsweise Schulund Universitätsprojekte, in denen Wiener Jugendliche und StudentInnen die Geschichte des Friedhofs erforschten und an Rodungsarbeiten teilnahmen. Gefördert wurden solche Projekte von verschiedenen Seiten, so etwa von staatlichen und städtischen Kulturräten, der Kultusgemeinde sowie der Grünen Partei. Spätestens ab 2006 lässt sich der Währinger Friedhof somit als Knotenpunkt eines breiten lokalen wie internationalen Diskurses auf verschiedensten gesellschaftlichen Ebenen konstatieren, durch den die Wiener jüdische Vergangenheit aufgearbeitet und einer breiten Öffentlichkeit vertraut gemacht wurde. Beispielhaft kommt dies in einem Beitrag von Tina Walzer zum Ausdruck: „Jüdische Friedhöfe zählen zu den letzten übrig gebliebenen Orten jüdischen Lebens in Österreich und legen Zeugnis ab von einer untergegangenen Welt, von der Vergangenheit dieses Landes, und von einem wesentlichen Aspekt der Geschichte der Geschichte Österreichs.“344 Auffallend ist am Diskurs zu dieser Zeit die weitgehend positive Betonung des kulturhistorischen Werts des Friedhofs anstelle einer Auseinandersetzung mit der österreichischen NS-Vergangenheit und den Nachkriegsinstanzen, die für den verwerflichen Zustand dieses Erinnerungsorts verantwortlich waren. Das Engagement der Grünen zeigte sich 2006 in Form eines kleinen Führers durch den Währinger Friedhof, den der Grüne Klub im Rathaus herausgab, „um zur Rettung dieses kulturhistorischen Orts aus der Biedermeierzeit beizutragen“. Darin betonte Walzer dessen historische Einzigartigkeit und somit seine Attraktivität für ein „interessierte[s] in- und ausländische[s] Publikum“.345 In einer Parallelausgabe zum Friedhof in der Seegasse zitierte der damalige Gemeinderatsabgeordnete Marco Schreuder nicht nur das Washingtoner Abkommen, sondern auch den ursprünglichen Erhaltungsvertrag von 1670 als Jahrhunderte währende rechtliche Grundlage für die Verantwortung der Stadt Wien, auch diesen Friedhof umfassend instand zu setzen und dauerhaft zu pflegen.346 Nach einem heftigen Orkan über Wien Anfang 2007, der dem Währinger Friedhof außergewöhnlichen Schaden zufügte, rückten dort im Sommer Freiwillige der US-Botschaft ein, um die nötigsten Rodungsarbeiten in Angriff zu nehmen, wie sie inzwischen jedes Jahr von Freiwilligen in Ermangelung einer dauerhaften Instandsetzung unternommen werden. Die Kronen Zeitung beklagte das „peinliche Aufsehen“, das diese Aktion seitens der US-Botschaft 344 Walzer, Tina: Die jüdischen Friedhöfe in Österreich. Zustand, Entwicklung, Perspektiven, in: Hoffmann, Christa/Schäning, Anke (Hg.): Zeit & Ewigkeit. Erhaltung religiöser Kulturgüter, Wien 2009, S. 117. 345 Grüner Klub im Rathaus (Hg.): Der Währinger jüdischer Friedhof. Rundgang durch ein verfallenes Kulturdenkmal, Wien 2006, S. 3, 5. 346 Grüner Klub im Rathaus (Hg.): Jüdischer Friedhof Seegasse, S. 2.
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erregte, da sich ausländische AkteurInnen um einen Wiener jüdischen Erinnerungsort kümmerten, den die lokale Politik hartnäckig ignorieren zu wollen schien. Es wurde der Wiener Kulturstadtrat Andreas Mailath-Pokorny (SPÖ) mit der inzwischen üblichen Auffassung zitiert, dass sich laut Washingtoner Abkommen der Bund für die Instandsetzung verantwortlich gezeichnet hatte sowie, dass die Stadt Wien überhaupt jährlich einen „freiwilligen“ Beitrag zur Instandhaltung der jüdischen Friedhöfe leistete – was aber nach wie vor die Frage der historischen Verantwortung der Stadt Wien sowie die grundsätzliche Frage einer umfassenden und dauerhaften Instandsetzung vermied. Der Bericht schloss: „Fest steht, dass Touristen mit jüdischem Hindergund [sic] regelmäßig entsetzt sind, wenn sie auf den Spuren ihrer Wurzeln eine derartige Gräber-Gstättn vorfinden.“347 Diese Bemerkung reflektiert einerseits die stetige Transnationalisierung des Diskurses, andererseits aber die andauernde „Schamkultur“ in Österreich, da der Ruf des Landes über die Wertschätzung seiner Kulturdenkmäler oder überhaupt die Auseinandersetzung mit seiner NS-Vergangenheit hervorgehoben wird. Zudem reflektiert diese Bemerkung die stillschweigende Annahme, dass es nur Menschen „mit jüdischem Hintergrund“ seien, denen diese Thematik wichtig ist, was aber angesichts der hier aufgezeigten breiten Anteilnahme seitens der nichtjüdischen Öffentlichkeit in den letzten dreißig Jahren augenscheinlich nicht stimmt. Aufgrund des Ausmaßes der Schäden, die der Orkan 2007 verursachte, bewilligte die Stadt Wien abermals eine einmalige Hilfeleistung in Höhe von 120.000 Euro. Wie Tina Walzer aber berichtete, reichte diese Summe lediglich zur Verrichtung der oberflächlichsten Arbeiten aus, die im Laufe des folgenden Winters größtenteils wieder rückgängig gemacht wurden.348 Wieder einmal zeigte sich, dass nur eine umfassende Instandsetzung diese Thematik dauerhaft lösen könnte. Solche symbolischen jedoch uneffektiven Gesten seitens der Stadt Wien dienten ihr aber immer wieder als bequeme Ablenkungsmanöver, um ihre vermeintliche Hilfsbereitschaft zu bekunden und gleichzeitig über ihren tatsächlichen Widerwillen bei der Instandsetzung des Friedhofs hinwegzutäuschen. Im Herbst 2007 präsentierte Barbara Prammer im Nationalrat einen von Tina Walzer entworfenen Kalender für das Jahr 2008, der den Währinger Friedhof unter anderem durch Aufnahmen des kürzlich zuvor verstorbenen Photographen Harry Weber thematisierte. Der damalige Generalsekretär der Kultusgemeinde, Raimund Fastenbauer, begrüßte die Initiative und das große Interesse, das seitens bestimmter Fraktionen des Nationalrats dem alten jüdischen Friedhof 347 Jüdischer Friedhof als kulturelles Erbe für Wien nicht interessant?, in: Kronen Zeitung, 10. Juli 2007, S. 19. 348 Walzer: Der Jüdische Friedhof Währing, S. 19–21.
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geschenkt wurde, „warnte aber davor“, wie es die Parlamentskorrespondenz festhielt, „es bei der Sanierung dieses einen Friedhofs zu belassen, und forderte eine Gesamtlösung für alle jüdische Friedhöfe in Form einer Rahmenvereinbarung ein“. Beachtenswert in der Berichterstattung ist, dass der Währinger Friedhof hier ausnahmsweise explizit als „jüdisches Pendant zum bekannten christlichen Friedhof St. Marx“ genannt wurde.349 War die Kultusgemeinde in den Jahren zuvor auffällig abwesend in den sich ausbreitenden Instandsetzungsdiskursen, so versuchte sie nun die Aufmerksamkeit, die das Schicksal des Währinger Friedhofs in der nichtjüdischen Öffentlichkeit erzeugt hatte, auf das Instandsetzungsproblem bei allen jüdischen Friedhöfen Österreichs zu lenken. So griff wenige Wochen später der damalige Kultusgemeindepräsident Ariel Muzicant die Thematik in einer Stellungnahme in Die Presse frontal an, wobei er die österreichische Öffentlichkeit daran erinnerte, dass die Republik seit 1945 mit öffentlichen Geldern die Grabstätten von SoldatInnen aus dem Zweiten Weltkrieg erhielt. Wie er ausführte: „Im absurden Fall heißt das, das Grab eines SS-Mannes wird gepflegt, die 350.000 Juden, deren Angehörige man umgebracht hat, müssen selber pflegen“ – gemeint waren 350.000 jüdische Grabstätten, die von der Kultusgemeinde alleine gepflegt werden mussten. Er fuhr fort, dass es in dieser Debatte nicht nur um die Instandsetzung des Währinger Friedhofs ging, „sondern eine vertragliche Regelung, die die Zukunft aller 62 [sic, je nach Definition gibt es abweichende Zahlen] Friedhöfe regelt“. Abschließend verwies er in einem abermals auffallenden Vergleich darauf, dass in Deutschland „die Länder das komplett übernommen“ hatten. Er schloss: „Wir brauchen einen runden Tisch mit Ländern, Gemeinden, Bund und Kultusgemeinde.“350 Neun Tage später berichtete Die Presse, dass die Bundesregierung erneut ihre Intention zur Lösung dieser Frage angekündigt hatte, bezeichnete ihr Programm allerdings als „sehr vage“. Muzicant erwiderte hierauf in Verwies auf das Washingtoner Abkommen, dass dies ein „glatte[r] Vertragsbruch“ sei. In deutlichem Kontrast zur eher konstruktiven Strategie der Wissenschaft und der Graswurzelinitiativen der vergangenen Jahre, die den kulturhistorischen Wert des Währinger Friedhofs als positives Argument für seine Instandsetzung hervorhoben, griff Muzicant geradewegs die historische Verantwortung Österreichs für die Verbrechen des Nationalsozialismus auf: „Jetzt sollen die 7000 Juden, die es in Österreich noch gibt, die 350.000 Gräber
349 Prammer präsentiert Kalender 2008 über jüdischen Friedhof in Währing, 15. Oktober 2007, https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20071015_OTS0273/prammer-praesentiertkalender-2008-ueber-juedischen-friedhof-in-waehring-nr-praesidentin-will-rascheloesung-fuer-einzigartiges-kulturdenkmal, letzter Zugriff: 31. August 2020. 350 Jüdische Gemeinde verdoppeln, in: Die Presse, 6. November 2007, S. 15.
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ihrer Vorväter auch noch pflegen? Nachdem man die, die sie bis 1938 gepflegt haben, beraubt, getötet und vertrieben hat?“351 Durch diesen Verweis auf die Zerschlagung der Kultusgemeinde und ihrer Mittellosigkeit nach dem Krieg, parallel zur weitreichenden Verstrickung der nichtjüdischen Gesellschaft Österreichs im mörderischen NS-Regime und die Schuld lokaler Instanzen an der Schändung der Wiener jüdischen Friedhöfe, rührte Muzicant an genau den wesentlichen Punkt der historischen Verantwortung, der jahrelang ausgeblendet wurde, ja eigentlich bezeichnend für die österreichische Erinnerungspolitik schlechthin war. Entgegen jeden „Schamarguments“ betonte Muzicant die „Schuld“, die die österreichische Politik sowohl auf staatlicher wie städtischer Ebene verpflichtete, für die umfassende Instandsetzung geschändeter jüdischer Erinnerungsorte aufzukommen, wobei wieder einmal die Bundesrepublik Deutschland mit ihrem Modell aus dem Jahre 1957 als positiver Vergleich herangezogen wurde, ein weiterer Aspekt der Transnationalität des Diskurses. Der Vergleich mit Deutschland kam auch in subtileren Variationen in den wissenschaftlichen Diskursen zum Tragen, so etwa in einer Broschüre, die die zeitgenössischen und kulturhistorisch durchaus vergleichbaren jüdischen Friedhöfe in Währing und Hamburg-Altona einander entgegenstellte, wobei letzterer sorgfältig gepflegt wird, während ersterer laufend verfällt.352 In dieser Zeit begann die Kultusgemeinde auch, aggressiver gegen die in Österreich stillschweigend geduldete NS-Erinnerungskultur aufzutreten. So beschwerte sie sich zusammen mit verschiedenen politischen Parteien 2006 über das Ehrengrab des steirischen SA-Obersturmbannführers Hans Tita Probst im Grazer Zentralfriedhof, der 1934 im fehlgeschlagenen Juliputsch der österreichischen NationalsozialistInnen umkam. Das Grabdenkmal enthielt die Laudatio „Er fiel im Kampfe für Grossdeutschland“ und war mit einem Hakenkreuz verziert. Wie Die Gemeinde bemerkte, verstieß dieses Denkmal nicht zuletzt gegen das Verbotsgesetz, doch die katholische Kirche widersetzte auf Wunsch der Angehörigen die Forderungen nach der Entfernung dieser Inschriftenteile.353 Das Grab wird bis heute als Ehrengrab durch öffentliche Mittel instand gehalten. Dies ist nur ein Fallbeispiel von einer viel breiteren Problematik in der Zweiten Republik, wie Eva Glawischnig im Folgejahr beteuerte: „SS-Gräber werden gepflegt, jüdische lässt die Regierung verfallen“.354 Weni351 Erhaltung jüdischer Friedhöfe. Vage Regierungszusage, in: Die Presse, 15. November 2007, S. 14. 352 Walzer/Studemund-Halévy/Weinland: Orte der Erinnerung. 353 Überschreibung des Ehrengrabes für einen SA-Obersturmbannführer auf dem Grazer Friedhof, in: Die Gemeinde, Oktober 2006, S. 19. 354 SS-Gräber werden gepflegt, jüdische lässt die Regierung verfallen, in: Die Gemeinde, Dezember 2007, S. 9.
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ge Wochen später fasste sie noch einmal zusammen, dass beim Erlassen des Kriegsgräberfürsorgegesetzes „[t]ypischerweise für den Umgang mit Opfern in Österreich […] die jüdischen Gräber nicht hineingeschrieben“ wurden – wenngleich dies nicht ganz stimmt, wie oben in Bezug auf die Massengräber aus den Todesmärschen gezeigt. Darüber hinaus betonte Muzicant jedenfalls das wichtigste aber bis heute nicht geklärte Problem, dass es „keinen Sinn“ hat, „die Friedhöfe zu sanieren, wenn nicht vorher sichergestellt wird, dass sie danach auch gepflegt werden“.355 Somit forderte er, dass das Kriegsgräberfürsorgegesetz auch allgemein auf jüdische Grabstätten ausgeweitet werde. Er bezeichnete eine Lösung dieser Frage als besonders auf symbolischer Ebene wünschenswert, „solange noch einige wenige Überlebende dies noch erleben können“.356 Einen wesentlichen Impuls erfuhr die Diskussion auf internationaler Ebene mit der Verkündigung am 30. Juni 2009 der „Theresienstädter Erklärung“, mit der sich 46 vorwiegend europäische Staaten, darunter die Republik Österreich, unter anderem dazu verpflichteten, die Instandsetzung und Erhaltung jüdischer Grabstätten in ihren Ländern zu gewährleisten in Anerkennung der Sachlage, dass an vielen Orten Europas keine jüdische Gemeinde überlebte, die diese Arbeit eigenständig übernehmen konnte. Im Folgejahr kam die Umsetzung dieses Versprechens seitens der Republik Österreich endlich im Nationalrat zur Diskussion, nachdem die Grüne Partei einen Antrag einreichte für Verabschiedung eines entsprechenden Bundesgesetzes. Dabei traten die Spannungen zwischen der österreichischen „Scham-“ und „Schuldkultur“ deutlich in den Vordergrund. So unterschied Eva Glawischnig in ihrer Antragsrede explizit zwischen dem „moralischen Argument“ und dem „politischen Argument“ für die Instandsetzung der Friedhöfe: Im ersteren Fall argumentiere sie aufgrund der historischen „Verantwortung“, die der Republik Österreich angesichts der Vertreibung und Ermordung ihrer jüdischen Bevölkerung zufiel, also ein klassisches „Schuldargument“. Ihr „politisches“ Argument drehte sich hingegen erstens darum, dass es sich hier um „Kulturdenkmäler“ ging, „die sehr wertvoll sind“, darüber hinaus aber auch um ein klassisches „Schamargument“: Wir machen uns, wie ich meine, international auch lächerlich, wenn wir nach Stürmen wie Cyrill [dem Orkan Anfang 2007] zum Beispiel zuschauen müssen, wie amerikanische Marines dort aufmarschieren und zumindest so viel Aufräumarbeit leisten, dass die Gräber nicht durch eine größere Sturmböe unmittelbar zerstört werden.357 355 Verfallende Erinnerung, in: Kurier, 18. Jänner 2008, S. 3. 356 Jüdische Friedhöfe. Wann folgen den Lippenbekenntnissen Taten?, in: Die Gemeinde, Juni 2008, S. 6. 357 Stenographisches Protokoll, 11. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich, XXIV. Gesetzgebungsperiode, 22. Jänner 2009, https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXIV/ NRSITZ/NRSITZ_00011/fname_151050.pdf, S. 200, letzter Zugriff: 31. August 2020.
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Somit verband sie historische Verantwortung (Österreichs Schuld an der Shoah), kulturelle Bedenken (instand gesetzte jüdische Friedhöfe als wichtige Sehenswürdigkeiten in Österreich) und politische Zweckmäßigkeit (Österreichs Ruf im Ausland) als Grundlage für ihre Forderung nach einer umfassenden Instandsetzung, damals über sechs Jahrzehnte nach Kriegsende. Alle im Nationalrat vertretenen Parteien stimmten dem Antrag zu, außer der FPÖ, was freilich nicht überrascht angesichts ihrer politischen Zusammenstellung aus rechten bis rechtsextremen Milieus und des mehr oder weniger ausgeprägten Antisemitismus unter Teilen ihrer Mitgliedschaft. Ihr ehemaliger Vorsitzender Jörg Haider hatte sich bereits 2001, als seine Partei auf Bundesebene mit der ÖVP koalierte, vehement gegen das Washingtoner Abkommen ausgesprochen, das er als von der „Ostküste“ der USA oktroyiert verunglimpfte: eine antisemitische Anspielung auf die vermeintliche Macht, die die jüdische Bevölkerung in den politischen und wirtschaftlichen Machtzentren der USA ausübte.358 Tatsächlich trug der internationale Skandal rundum die Koalition der ÖVP mit der FPÖ 1999/2000 wesentlich zur Begierde der ersteren Partei bei, ihren Ruf auf internationaler Ebene zu reparieren, indem sie den umfassenden im Washingtoner Abkommen vorgesehenen Restitutionsbedingungen zusagten.359 Interessanterweise unterstützte im Gegensatz zur FPÖ das Bündnis Zukunft Österreich (BZÖ), eine 2005 von Haider gegründete Splitterpartei, den parlamentarischen Antrag der Grünen – Haider war vor dieser Abstimmung bereits verstorben.360 Angesichts des Umstands, dass das BZÖ auf politischer wie personeller Ebene aus den gleichen Milieus hervorging wie die FPÖ, kann diese Kehrtwende als politisches Kalkül aufgefasst werden, um sich von der nach wie vor widerspenstigen FPÖ und deren Ruf als mehr oder weniger offen rassistischen Partei abzugrenzen. Darüber hinaus deutet dieser Gesinnungswandel aber auch auf einen Wandel des gängigen Feindbilds im rechten bis rechtsextremen Lager in Österreich seit der Jahrtausendwende, der sich zunehmend auf den Islam und die Migration aus mehrheitlich muslimischen Ländern fokussiert als auf Jüdinnen und Juden, zumal diese seit ihrer weitgehenden Vertreibung und Vernichtung in der Shoah nur einen schwindend kleinen Bruchteil der österreichischen Bevölkerung ausmachen.361 Vielleicht hat zudem die BZÖ
358 Silberman: Austria, S. 440–441. 359 Vgl. Eizenstat, Stuart: Unvollkommene Gerechtigkeit. Der Streit um die Entschädigung der Opfer von Zwangsarbeit und Enteignung, München 2003, S. 358–359. 360 Parlamentskorrespondenz Nr. 118, 25. Februar 2009, http://www.parlament.gv.at/PAKT/PR/ JAHR_2009/PK0118/, letzter Zugriff: 31. August 2020. 361 Vgl. Cillia, Rudolf de: „Ich bin verliebt in mein Österreich“. Die diskursive Konstruktion österreichischer Identität in zwei Gruppendiskussionen, in: Cillia, Rudolf de/Wodak, Ruth (Hg.):
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– wie die Adenauerregierung in der Bundesrepublik Deutschland bereits in den 1950er-Jahren – endlich erkannt, dass infolge eines Genozids geschändete Erinnerungsorte durch ihr bloßes Dasein in der gegenwärtigen Landschaft stets aufs Neue Skandale entfachen, während ihre umfassende „Sanierung“, im direkten wie im übertragenen Sinne, auch den Skandal der Vergangenheit gewissermaßen „bereinigt“. Anfang 2010 wurde schließlich auf Bundesebene die Einrichtung eines Fonds zur Instandsetzung der jüdischen Friedhöfe Österreichs beschlossen, dem jährlich eine Million Euro für eine Dauer von zwanzig Jahren zur Verfügung gestellt werden sollte. Dies wurde jubelnd von Die Gemeinde als „Chanukkahgeschenk für jüdische Friedhöfe“ aufgefasst: „Fast neun Jahre nach Unterschrift des Washingtoner Abkommens wird damit das letzte völkerrechtlich noch offene Thema abgearbeitet“, resümierte sie, und nannte dies einen „auch in Europa beispielhafte[n] Schritt“.362 Bei der Abstimmung im November 2010 stimmte wieder nur die FPÖ gegen das Bundesgesetz, die Partei erlaubte sich aber zugleich darauf hinzuweisen, dass es zehn Jahre gedauert habe, bis Österreich seiner Verpflichtung aus dem Washingtoner Abkommen nachgekommen ist, „trotz aller Beteuerungen, wie wichtig das ist und wie wesentlich das für Österreich und für den Ruf Österreichs in der Welt ist. Aber offenbar ist es, wenn es ums Geld geht, doch nicht so einfach, zu einer Lösung zu kommen“. Damit wurde einmal wieder die Spannung zwischen Scham- und Schuldargumenten veranschaulicht, wobei festgestellt werden muss, dass der Wille zur Umsetzung der schönen Worte in der österreichischen Politik tatsächlich oft fehlt. Interessant war in dieser Diskussion aber vor allem die Stellungnahme der BZÖ, die zwar für das Gesetz stimmte, jedoch die historische Schuld Österreichs sogleich relativierte, indem sie darauf verwies, dass „die Verbrechen des 20. Jahrhunderts“ nicht nur von Österreich ausgingen, womit explizit die Vertreibung von „Volksdeutschen“ aus verschiedenen Nachbarländern Österreichs nach Kriegsende gemeint war, für die die BZÖ ebenfalls „Restitution“ verlangte.363 Die Gegenüberstellung der NS-Verbrechen mit tatsächlichen oder vermeintlichen Verbrechen der Alliierten bzw. – in diesem Fall – ehemals vom „Dritten Reich“ besetzten Ländern gehört schon lange zum argumentativen Arsenal der revisionistischen Rechten in Österreich, wenn es um die Frage seiner historischen
Gedenken im „Gedankenjahr“. Zur diskursiven Konstruktion österreichischer Identitäten in Jubiläumsjahr 2005, Innsbruck 2009, S. 163–164. 362 Chanukkahgeschenk für jüdische Friedhöfe, in: Die Gemeinde, Jänner 2010, S. 26 363 Stenographisches Protokoll, 83. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich, XXIV. Gesetzgebungsperiode, 17. November 2010, http://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXIV/ NRSITZ/NRSITZ_00083/fname_201894.pdf, S. 81 und 90, letzter Zugriff: 31. August 2020.
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Schuld geht.364 Auch dies unterstreicht die wohl eher kalkulierte Motivation der BZÖ zur Zustimmung für die Instandsetzungsmaßnahmen des Bundes. Diese kurz skizzierten Parlamentsdiskussionen streichen den Befund heraus, dass die positive Auseinandersetzung mit dem jüdischen kulturellen Erbe des Landes augenscheinlich lange Hand in Hand gingen mit einer progressiven gesellschaftspolitischen Einstellung in Bezug auf breitere Themenkreise wie Migration, Pluralismus und Gleichberechtigung. Allerdings muss hier auch auf eine Verwischung dieser Binarität in jüngster Zeit verwiesen werden: So problematisierte Dirk Rupnow im Gedenkjahr 2018, als die österreichische Bundesregierung erneut von einer Koalition zwischen ÖVP und FPÖ besetzt war, die „Vereinnahmung und Instrumentalisierung der Holocaust-Erinnerung für rassistische, islamophobe und anti-migrantische Positionen“.365 Diese fraglichen Verbindungen wurden im vorherigen Kapitel auch in Bezug auf die Innenpolitik der Kultusgemeinde angesprochen. Es bleibt abzuwarten, wie sich das spezifische Verhältnis zwischen Shoah-Gedenken und Gesellschaftspolitik in Österreich in den kommenden Jahren weiter entwickelt. Ende 2010 wurde das „Bundesgesetz über die Einrichtung des Fonds zur Instandsetzung der jüdischen Friedhöfe in Österreich“ verabschiedet – ein wesentlicher Schritt zur Umsetzung der im Washingtoner Abkommen diesbezüglich nur vage formulierten Verpflichtung.366 Der Fonds fungiert als Ausschuss des Nationalfonds und erhält, wie vorhergesehen, seit 2011 eine jährliche Zuwendung in Höhe von einer Million Euro vom Bund, die für eine Dauer von zwanzig Jahren ausbezahlt werden soll. Auf der Webseite des Fonds können mittels einer interaktiven Karte alle bekannten jüdischen Friedhöfe Österreichs recherchiert werden, woraus ersichtlich wird, dass bis 2020 der Fonds zu Instandsetzungsarbeiten in insgesamt zwölf Friedhöfen beigetragen hat, darunter in beiden jüdischen Abteilungen des Zentralfriedhofs sowie im Währinger Friedhof. Auf der Webseite wird irreführend der Döblinger Friedhof ohne Weiteres unter den „jüdischen Friedhöfen Österreichs“ aufgezählt, trotz des Hinweises, dass dieser überkonfessionelle Bestattungsraum das Eigentum der Friedhöfe Wien GmbH darstellt. Die Website des Fonds enthält Basisdaten zu allen Friedhöfen, die Tina Walzers Weißbuch entnommen wurden bzw. darauf aufbauen, sowie laufend aktualisierte Informationen zu den Instand-
364 Vgl. Bailer-Galanda, Brigitte/Neugebauer, Wolfgang: Incorrigibly Right. Right-Wing Extremists, „Revisionists“ and Anti-Semites in Austrian Politics Today, Wien 1996, S. 25. 365 Rupnow, Dirk: Das Gedenk- und Erinnerungsjahr 2018. Eine Rückschau, in: Zeitgeschichte 46/4 (2019), insb. S. 468–469, Zitat S. 474. 366 Bundesgesetz über die Einrichtung des Fonds zur Instandsetzung der jüdischen Friedhöfe in Österreich, https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen &Gesetzesnummer=20007013, letzter Zugriff: 31. August 2020.
Der Währinger Friedhof als Kristallisationspunkt der österreichischen Vergangenheitsbewältigung
setzungsarbeiten.367 Wie diese allerdings zeigen – und wie bereits aus dem Weißbuch zu entnehmen war – reichen die bereitgestellten Summen bzw. die in Angriff genommenen Kleinarbeiten, bei denen es sich hauptsächlich um Rodungen und begrenzte Denkmalrestaurationen handelt, bei Weitem nicht für eine umfassende Instandsetzung aller jüdischen Friedhöfe aus, vor allem nicht jene großen, historisch wertvollen, aber stark verwahrlosten in Wien, allen voran der Währinger Friedhof. Kurzgefasst ist damit die Schicksalsfrage der Wiener jüdischen Friedhöfe nicht gelöst. Mit der Einrichtung des Fonds wurde nichtsdestotrotz seitens der Republik ein wichtiges – obwohl um Jahrzehnte verspätetes – Zeichen gesetzt, wie der damalige Außenminister Michael Spindelegger (ÖVP) es bezeichnete, als „Ausdruck späten Bekenntnisses einer moralischen Verantwortung“.368 Hiermit zeigt sich wenigstens in Teilen der österreichischen Politik ein allgemeiner Wandel von einer „Scham-“ hin zu einer „Schuld-“ Haltung. In Wien ging nach Einrichtung des Fonds jedoch der Streit weiter. Im März 2012 beschwerte sich die Grüne Partei im Nationalrat, dass verschiedene Gemeinden immer noch die benötigte Zusammenarbeit im Sinne des Bundesgesetzes verweigerten, mit besonderer Betonung auf „die Gemeinde Wien, die die ‚Pflegevereinbarungen‘ in der jetzigen Form nicht mittragen will“.369 Ende 2012 ließ vergleichsweise die Kärntner Stadt Klagenfurt mit einer Leistung von 20.000 Euro den dortigen jüdischen Friedhof komplett instand setzen.370 Vorbildlich ging man im letzten Jahrzehnt auch im Burgenland vor, wo sich inzwischen sämtliche jüdische Friedhöfe in gutem Zustand befinden und laufend gepflegt werden.371 Freilich bilden die dafür aufgebrachten Summen einen winzigen Bruchteil dessen, was die Stadt Wien für die von ihrer Vorgängerinstitution in der NS-Zeit geschändeten jüdischen Friedhöfe aufbringen müsste, doch wird mit jeder gelungenen Instandsetzungsaktion in den Bundesländern außerhalb Wiens das bis in das 21. Jahrhundert reichende Versagen der Wiener Entschädigungspolitik nur augenscheinlicher. Wenn die Ära der Vergangenheitsbewältigung auf eine Ära des Nationalsozialismus folgte, die in Österreich
367 Fonds zur Instandsetzung der jüdischen Friedhöfe in Österreich, https://www.friedhofsfonds. org/, letzter Zugriff: 31. August 2020. 368 Ausdruck späten Bekenntnisses einer moralischen Verantwortung, in: Die Gemeinde, Januar 2011, S. 4. 369 Anfrage, 1. März 2012, http://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXIV/J/J_10907/fnameorig_245421.html, letzter Zugriff: 31. August 2020. 370 O. V.: Israelitischer Friedhof in Klagenfurt restauriert und feierlich übergeben, in: David. Jüdische Kulturzeitschrift 95 (Dezember 2012), S. 34. 371 Vgl. Erinnerungszeichen gesetzt – und es sollen weitere folgen, in: Die Gemeinde, Oktober 2010, S. 32–33.
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weitgehend von Ambivalenz bis hin zu kalkulierter Obstruktion gekennzeichnet war, so befinden wir uns jetzt wohl in einer Ära, in der die Geschichte der Vergangenheitsbewältigung selbst bewältigt werden muss. Diese Ära zeichnet sich in Bezug auf die Wiener jüdischen Friedhöfe bisher keinesfalls nur positiv ab. Vorausblickend werden die Folgen des Nationalsozialismus und die Bewältigung dieser Folgen noch lange das Geschichtsbild und die gegenwärtige (Selbst-)Wahrnehmung der Bundeshauptstadt Wien prägen. 10.8
Ausblick anstelle eines Schlussworts – Die Zukunft der jüdischen Friedhöfe in Wien
Sic transit gloria mundi: So vergeht der Ruhm der Welt. Die neuzeitliche Auffassung, dass jüdische Grabstätten – selbst jene in alten, aufgelassenen Bestattungsräumen, wo sich längst keine identifizierbare Grabstellen, geschweige denn Grabsteine befinden, und in denen möglicherweise nicht einmal mehr Knochenreste im Erdreich vorzufinden wären – auf „Ewigkeit“ erhalten werden müssen, muss freilich in ihrem kulturhistorischen und religionspolitischen Entstehungszusammenhang gesehen werden. Es fällt beispielsweise auf, dass es bisher keine Bestrebungen gab, den ältesten bekannten jüdischen Bestattungsraum Wiens – den 1421 zerstörten mittelalterlichen Friedhof vor dem Kärntnertor, der ungefähr dort lag, wo heute das Goethedenkmal am Opernring steht – auch nur mit einer Gedenktafel zu markieren, geschweige denn, ihn abzuzäunen und irgendwie als „aufgelassenen Friedhof “ auf „Ewigkeit“ zu „bewahren“, wie es die oben angeführten Richtlinien der Kultusgemeinde für heutige Instandsetzungsarbeiten vorschreiben. Dies zeigt nicht zuletzt den dynamischen Charakter der Erinnerung auf: Orte, an denen keine aktive Erinnerungsarbeit geleistet wird, etablieren sich demnach nicht im topographischen Gedächtnis einer Gesellschaft und werden früher oder später vergessen. Vom Friedhof vor dem Kärntnertor abgesehen, zählten jedoch die restlichen jüdischen Friedhöfe Wiens und Österreichs – selbst jene, von denen nur „überwucherte Flächen“ die Shoah überdauerten – nach 1945 zu den wichtigsten Schauplätzen für die Aufarbeitung sowohl der jüdischen wie der nationalsozialistischen Vergangenheit dieses Landes. Abseits von den religiösen Prinzipien der heutigen Kultusgemeinde begründet sich gerade in ihrem Wert als österreichische Erinnerungsorte die symbolische Wichtigkeit ihrer ordentlichen Instandsetzung in der Gegenwart und ihrer Erhaltung in der Zukunft. Abschließend soll hier anstelle eines formellen Schlussworts – denn diese Wiener G’schicht ist noch lange nicht abgeschlossen – der gegenwärtige Zustand der jüdischen Friedhöfe in Wien und ein Ausblick in ihre nächste Zukunft skizziert werden.
Ausblick anstelle eines Schlussworts
Heute stehen alle jüdischen Friedhöfe Wiens, wie alle anderen noch erhaltenen Friedhöfe der Stadt, unter Denkmalschutz.372 Doch setzt diese Kategorisierung, wenngleich sie die grundsätzliche Anerkennung und Erhaltung der Friedhofsareale garantiert, keineswegs konkreten Schutz, geschweige denn Instandsetzungsmaßnahmen voraus. So unterscheiden sich die heutigen Erscheinungsbilder der vier in diesem Werk nachgezeichneten Friedhöfe stark. Die Instandsetzung des Friedhofsareals hinter dem städtischen Altersheim in der Seegasse schreitet heute noch voran, wobei zum Teil historische Grabsteine und Steinfragmente restauriert und zum Teil verschollene Grabdenkmäler rekonstruiert werden. Derweilen ist das Areal für BesucherInnen geschlossen und kann nur vom Laufsteg entlang des Heims besichtigt werden – für diese Forschungsarbeit war es ein Glück, dass ich noch in den frühen 2010er-Jahren das Areal zum Zwecke der Dokumentation frei betreten konnte. Ob die Kultusgemeinde angesichts ihrer strengen orthodox-religiösen Anschauungen über das Betreten von Grabstätten – unbeschadet der Tatsache, dass die tatsächlichen Standorte der einzelnen Grabstätten heute gar nicht mehr zu eruieren sind – das Betreten des Geländes nach Fertigstellung der Arbeiten zulassen wird, bleibt abzuwarten. Schließt diese von der Stadt Wien geförderte Instandsetzung symbolisch eine der vielen Wunden der Shoah im topographischen Stadtbild, so muss aber festgestellt werden, dass hier von einem authentischen Erscheinungsbild nicht die Rede sein kann: Ein frühneuzeitlicher Friedhof, der so komplett verwüstet und entleert wurde, wie es in der Seegasse geschah, bleibt für immer verloren. Nach den weitreichenden Instandsetzungsarbeiten des Vereins Schalom sowie jenen beim Soldatenfriedhof in der Gruppe 76B durch das Österreichische Schwarze Kreuz bietet der Friedhof beim I. Tor bei Weitem nicht mehr das dschungelartige Erscheinungsbild, das Photographien aus den frühen 1990erJahren noch festhielten. Um 2011 unternahm die Stadt Wien die Instandsetzung von insgesamt 39 Grabdenkmälern beim I. Tor, allesamt Prominentengräber, die den „Beitrag“, wie es oft in der Historiographie genannt wird, der jüdischen Bevölkerung zur Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur Wiens und Österreichs um die Fin de Siècle verkörperten. Dazu zählen die hier in Kapitel 5 besprochenen klassizistischen Stelen der Politiker Adolf Fischhof und Ignaz Kuranda und des Oberkantors Salomon Sulzer sowie das Denkmal des 1908 verstorbenen Kaufmanns Alfred Gerngross (51-1-40), dessen 1938 „arisiertes“ Warenhaus in der Mariahilfer Straße im 6. Bezirk heute noch zu einem der prominentesten der Stadt gehört.373 So willkommen die Instandsetzung dieser wahrhaft 372 Vgl. Liste der unbeweglichen und archäologischen Denkmale unter Denkmalschutz in Wien, https://bda.gv.at/denkmalverzeichnis/, letzter Zugriff: 31. August 2020. 373 Zentralfriedhof Tor I, https://www.ikg-wien.at/friedhoefe-massengraeber/?id=50, letzter Zugriff: 31. August 2020.
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beeindruckenden Denkmäler ist, so bilden sie dennoch nur einen Bruchteil der überdauernden Grabsteine auf diesem Friedhof, genau gesagt, weniger als 0,1 Prozent. An dieser Zahl wird das Ausmaß des Instandsetzungsproblems ersichtlich. Ein kreativer, weil vermutlich kostengünstiger Ersatz für ein komplett zerstörtes Grabdenkmal wurde von der Kulturabteilung der Stadt Wien für das von Bomben zunichte gemachte Mausoleum des 1920 verstorbenen Publizisten und Chefredakteurs der Neue Freie Presse, Moriz Benedikt, gefunden (20-1-1). Statt das klassizistische Mausoleum originalgetreu zu rekonstruieren, wurde bloß eine Nachahmung des Sockels errichtet, bedeckt mit einer Rasenfläche und einer Grabplatte mit Benedikts Namen und Eckdaten. Eine Erklärungstafel zeigt ein Schattenbild des ursprünglichen Bauwerks und liefert weitere biographische Informationen. Solche ad hoc Instandsetzungen ereignen sich immer wieder beim I. Tor. So wurden 2014 beispielsweise in der Zeitschrift David Photos von den direkt gegenüber von Benedikts Grabstätte liegenden Trümmern der Grabstätte der Familie Fröhlich-Feldau veröffentlicht mit einem Aufruf nach historischen Abbildungen des ursprünglichen Grabmals, anhand welcher sie rekonstruiert werden soll.374 Bis heute ist dies allerdings nicht geschehen. Zeigen die genannten Beispiele das Privileg, dass die Reichen und Mächtigen – zumeist Männer – bis heute noch in der menschlichen Erinnerungskultur in Anspruch nehmen, so zeigt wiederum letzteres Beispiel, dass selbst bei monumentalen, teuren und vermutlich von prominenten KünstlerInnen entworfenen Grabdenkmälern sich oft keinerlei Spuren über ihre Urheberschaft erhalten haben, was die Erforschung individueller Grabstätten erheblich erschwert. Auch für die Reichen und Mächtigen gilt somit das Diktum: sic gloria transit mundi. In einigen Fällen finden sich beim I. Tor schließlich Grabstätten, die scheinbar auf private Initiative hin instand gesetzt wurden, bei denen kleine Fußpfade angelegt wurden, um von den gepflegten Hauptwegen durch die zumeist ungepflegten Gräberfelder zur instand gesetzten Grabstelle zu führen, so beispielsweise bei der Grabstätte der 1907 verstorbenen Johanna Baldauf (49A-151-87). Bis heute erstreckt sich ein langer Trümmerhaufen entlang der westlichen Friedhofsmauer, bestehend aus Grabsteinfragmenten, die nicht mehr identifizierbar oder zuordenbar waren und somit wohl als kollektives Mahnmal für die Folgen des Kriegs bleiben werden, unter denen auch die ohnehin verfolgte jüdische Bevölkerung leiden musste. Beim I. Tor finden sich auch hier und dort Grabsteine, die zwar an ihren ursprünglichen Standorten erhalten blieben oder dort wiedererrichtet wurden, jedoch augenscheinlich in Luftangriffen 374 Walzer, Tina: Gesucht: Historische Darstellungen des Grabmonumentes Fröhlich-Feldau auf dem Wiener Zentralfriedhof Tor 1, in: David. Jüdische Kulturzeitschrift 100 (April 2014), S. 91.
Ausblick anstelle eines Schlussworts
bzw. Gefechten in den letzten Kriegstagen beschädigt wurden. Beispielhaft ist heute nur mehr etwa die Hälfte der von Splittern zerfetzten Granitstele des 1891 verstorbenen Josef Zerner erhalten geblieben, wobei der deutschsprachige Teil der Inschrift noch gut lesbar ist (8-61-41). Besonders entlang des Hauptwegs zwischen den Gruppen 19 und 50 sind die Schäden von Luftangriffen bzw. Gefechten am Friedhofsgelände augenscheinlich. Seit 1994 werden auch wieder Angestellte des Friedhofsamts der Kultusgemeinde im Friedhof beim I. Tor eingesetzt, die hauptsächlich die Grabstätten im Sommer von Bewuchs und im Winter von Schnee freihalten und gefallene Grabsteine aufrichten. Diese Angestellten haben wenig mit dem üblichen Bestattungsbetrieb zu tun, da es heutzutage nur so wenige Begräbnisse in diesem Bestattungsraum gibt, wie ein Bericht in Die Gemeinde aus dem Jahre 2009 festhielt: „Sie erzählen vielmehr von den Menschen, die sich hier einfinden, aber auch von den Tieren“ – gerade die weitgehend mit Bäumen zugedeckte alte israelitische Abteilung bietet nämlich am Zentralfriedhof die Möglichkeit, Rehe, Fasanen, Kaninchen und andere Tierarten zu erspähen. Diese Abteilung wird aufgrund ihres waldähnlichen Charakters gerne von der Lokalbevölkerung Simmerings für Spaziergänge und zum Laufen verwendet, und man sieht immer wieder Menschen, die den Friedhof aufgrund seines geschichtlichen Interesses aufsuchen, inklusive Nachkommen, die dort die „Grabstätten ihrer Väter“ aufsuchen. Wie der Bericht in Die Gemeinde festhielt, wird der Friedhof aber auch von Unbekannten zur Entsorgung von Sperrmüll missbraucht, und es kommen manchmal immer noch Grabschändungen vor bzw. Diebstahl von „gut erhaltenen Säulen etwa oder anderen schönen Zierelementen“.375 Doch zusammenfassend erscheint der inzwischen über 140 Jahre alte Friedhof beim I. Tor heute weitgehend als wertvoller, interessanter und sehenswürdiger Erinnerungsort der Stadt Wien, zumal einer der ältesten erhaltenen und ästhetisch ansprechenden Teile des gut besuchten Zentralfriedhofs. Der Friedhof beim IV. Tor wurde hier im vorherigen Kapitel eingehend diskutiert. Somit kann hier lediglich nochmals zusammengefasst werden, dass dieser als Hauptbestattungsraum der heutigen jüdischen Gemeinde weitgehend gepflegt und gut besucht wird, und es finden bei seinen etlichen Shoah-bezogenen Grabstätten und Denkmälern alle Jahre wieder neue Instandsetzungs- und Gedenkinitiativen statt. Somit bleibt schließlich nur noch der Währinger Friedhof. In den detaillierten Kostenaufstellungen für die Instandsetzung und Pflege jedes jüdischen Friedhofs in Österreich, die Tina Walzers Weißbuch aus dem Jahre 2002 begleiteten, wurde insgesamt ein Bedarf von etwa 47,8 Millionen Euro berechnet. Davon wurden alleine 42,5 Millionen, also fast neunzig Prozent, für die Friedhöfe in 375 Der Trupp von Tor I, in: Die Gemeinde, Dezember 2009, S. 8–9.
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Wien benötigt, was natürlich die Größe aber auch den teilweise verwerflichen Zustand der Wiener Friedhöfe veranschaulicht.376 Der schwer geschändete und bis heute verwahrloste Friedhof in Währing stellte diesen Schätzungen zufolge alleine 14 Millionen Euro in Anspruch, eine Summe, die die bisher erfolgten Zuwendungen der Stadt Wien geradezu erbärmlich erscheinen lässt.377 Indes erfolgten neben den oben geschilderten Notmaßnahmen wie jährliche Rodungsarbeiten bisher lediglich kleinere Instandsetzungsprojekte am Friedhof. Eine Ausnahme bildet die umfassende Instandsetzung im Jahre 2012 mit finanzieller Unterstützung der Stadt Wien des von Joseph Kornhäusel entworfenen Taharahäuschens, das am 7. Oktober „von Honoratioren des jüdischen Lebens in Wien und hohen Vertretern der Stadt feierlich wieder eröffnet“ wurde. Laut Bericht des Bundesdenkmalamts war es der Wunsch des Bauherren, der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, neben einer Wohnung im Obergeschoss auch eine Informationsstelle im Erdgeschoss einzurichten, um Besucherinnen und Besucher des jüdischen Friedhofes Währing die Geschichte des Friedhofes und der jüdischen Traditionen nahezubringen.
Dies ist bis heute nicht geschehen. Es wurde jedoch im Erdgeschoss ein Betraum eingerichtet, „der hinkünftig eine wichtige Rolle im jüdischen Gemeindeleben Wiens einnehmen soll – als Zeichen einer lebendigen jüdischen Gemeinde“ – somit allerdings auch als Zeichen der Bevorzugung religiöser Praxis über die historische Wertschätzung. Der Bericht schloss: „Mit der Eröffnung des Friedhofswärterhauses konnte nun ein Stück des jüdischen historischen und kulturellen Erbes dem Vergessen entrissen werden.“378 2013 wurde probeweise ein Grabstein komplett restauriert, nämlich eine Granitstele mit zweisprachiger Inschrift, die des 1875 verstorbenen Moritz Kraus gedenkt sowie in einem Nachtrag am Sockel seines 1877 im Alter von acht Jahren verstorbenen Sohns Wilhelm (8-11B). Als recht idealtypische Grabsteinform für diesen Friedhof, zudem mit beiden gängigen Sepulkralsprachen beschriftet, eignete sich dieser Stein als beispielhafter Testfall für etwaige umfassende Instandsetzungsarbeiten. Allerdings traten bei der Restauration in der hebräischsprachigen Inschrift ein paar Fehler auf, die offensichtlich auf mangelnde Sprachkenntnisse seitens der RestauratorInnen zurückzuführen sind: So wurde in der zweiten Nennung des Ehrentitels hachawer das „chet“ mit 376 Walzer: Weißbuch, Bd. 1, o. S. 377 Walzer: Weißbuch, Bd. 6, o. S. 378 Das Tahara-Haus des Währinger jüdischen Friedhofs in Wien. Eine Neubelebung, 13. November 2012, https://bda.gv.at/de/denkmal-aktuell/artikel/2012/11/das-tahara-haus-deswaehringer-juedischen-friedhofs-in-wien-eine-neubelebung/, letzter Zugriff: 31. August 2020.
Ausblick anstelle eines Schlussworts
einem „hei“ verwechselt, während im Ausdruck beperach shanotio (sprichwörtlich: in der Blüte seiner Jahre; im jungen Alter) ebenfalls das „chet“ mit einem „hei“ und das „nun“ mit einem „bet“ verwechselt wurden. Um schließlich auf die Trümmerhaufen sprechen zu kommen, die bis heute das Erscheinungsbild des östlichen Teils des Friedhofs prägen und bei denen viele Grabsteine hoffnungslos verwittert oder gänzlich zerstört sind, stellte Tina Walzer realistisch in Aussicht, dass diese „in diesem Erscheinungsbild erhalten bleiben, als Mahnmal für die Zerstörungen dieses Friedhofes in der Zeit des Nationalsozialismus“.379 Noch im November 2019 – wenige Monate, bevor ich diese Zeilen schreibe – verschickte das Verteidigungsministerium 32 SoldatInnen auf den Währinger jüdischen Friedhof, um eine Woche lang Arbeiten zu verrichten, wie „Bäume schneiden, Wege begehbar machen, Wildwuchs entfernen, aber auch umgefallene Grabsteine aufrichten“.380 Stellt dies eine lobenswerte Geste dar, die deutlich den gewandelten Umgang der Republik Österreich mit dem jüdischen kulturellen Erbe des Landes veranschaulicht, so bleibt dies dennoch eine pure Geste, die längerfristig nichts zur Instandsetzung, geschweige denn zum dauerhaften Erhalt dieses Friedhofs beiträgt. In einer Bestandsaufnahme verwies bereits 2011 der Restaurator Martin Pliessnig auf die Tatsache, dass der Großteil der überdauernden Grabdenkmäler aus Kalkstein besteht und somit in „akuter Gefahr“ der endgültigen Verwitterung war: „Ohne Eingriff wird in den nächsten Jahren ein beträchtlicher Anteil derselben der Verwitterung nicht länger standhalten und für immer verloren gehen.“ Bezeichnenderweise hob Pliessnig den St. Marxer Friedhof als Vorbild hervor, wie man eine solche umfassende Instandsetzung in Währing in Angriff nehmen könnte.381 Doch fehlt anscheinend heute wie 1945 einfach der politische Wille dazu. Die Instandsetzungsdebatte wird sich nicht auf Ewigkeit „in die Länge ziehen“: Die Grabdenkmäler, die ja im Wesentlichen den materiellen kulturhistorischen Wert des Währinger Friedhofs ausmachen, werden eher früher als später dem Zerfall erliegen. Selbst wenn es in absehbarer Zukunft eine umfassende Instandsetzung gäbe, gingen bereits viele Grabdenkmäler unwiederbringlich zugrunde. Entgegen aller Betonungen seines kulturhistorischen Werts seitens der Politik und der Wissenschaft, wird dieser Friedhof nie mehr bloß als Denkmal für die Geschichte der jüdischen Gemeinschaft Wiens vor der Shoah gelten 379 Walzer: Weißbuch, Bd. 6, o. S. 380 Bundesheer pflegt jüdischen Friedhof in Währing, 8. November 2019, in: Der Standard, https://www.derstandard.at/story/2000110839225/bundesheer-pflegt-juedischenfriedhof-in-waehring, letzter Zugriff: 31. August 2020. 381 Pliessnig, Martin: Wettlauf gegen die Zeit. Konservatorische und restauratorische Bestandsaufnahme sowie Zustandsanalyse am jüdischen Friedhof Währing, in: Theune, Claudia/Walzer, Tina (Hg.): Jüdische Friedhöfe. Kultstätte, Erinnerungsort, Denkmal, Wien 2011, S. 288, 291, 293–294. Vgl. auch S. 297.
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können, sondern stets auch als Mahnmal für das kulturelle Genozid der NS-Zeit sowie darüber hinaus für die verwerfliche Restitutions- und Erinnerungspolitik der Zweiten Republik, die es zuließ, dass dieser Ort der Vernichtung preisgegeben wurde. In diesem Zusammenhang möchte ich noch kurz eine Anekdote in Bezug auf die Instandsetzungsdebatte und der gegenwärtigen Erinnerungspolitik in Österreich anmerken, bei der ich aus erster Hand erfuhr, wie die österreichische Öffentlichkeitsarbeit betrieben wird und wie die österreichische Politik heute noch zwischen Scham- und Schulddiskursen pendelt. Als ich 2015 meine Doktorarbeit zur Geschichte der Wiener jüdischen Friedhöfe fertigstellte, wurde ich von der Austria Presse Agentur (APA) eingeladen, in einem Interview kurz über meine Forschungsarbeit zu berichten. Das Interview wurde per Email auf Englisch geführt und von einer Mitarbeiterin der APA auf Deutsch übersetzt, als Fließtext zusammengeschrieben und dann an verschiedene Medien verteilt, die den Text veröffentlichten, darunter im Nachrichtendienst Jewish News from Austria (Jüdische Nachrichten aus Österreich), der in Washington, D.C. vom Österreichischen Presse- und Informationsdienst der Österreichischen Botschaft herausgegeben wird. Dabei wurde etwas verwirrend der Text auf Englisch zurückübersetzt – mit teilweise entsprechenden Verzerrungen – und erhielt zudem einen Zusatz der Botschaft mit der Erklärung: „Um diesen Artikel zu ergänzen, möchte die Botschaft die folgenden zusätzlichen Hintergrundfakten anbieten.“ Es folgte stichpunktartig eine Reihe von Hinweisen auf die Instandsetzungsregelungen der vergangenen Jahre, so etwa auf das Washingtoner Abkommen 2001 und die Einrichtung des Instandsetzungsfonds 2010/11, sowie auf konkrete Instandsetzungsarbeiten, die bereits abgeschlossen oder avisiert waren, mit spezifischem Verweis auf jene der Stadt Wien, die ich – wie in der vorliegenden Arbeit – besonders kritisiert hatte für ihre mangelnde Hilfsbereitschaft bei der Instandsetzung der jüdischen Friedhöfe. Ziel dieser „Ergänzung“ war es offensichtlich, dieser öffentlichen Kritik medial entgegenzuwirken oder sie gänzlich zu unterminieren. Doch verfehlte diese Replik den wesentlichen Punkt des Interviews, was frei im Originaltext nachvollzogen werden kann: So verweist der Originaltext auf die Tatsache, die weiterhin im Jahre 2020 stimmt, dass „Restaurationskonzepte […] teils heute noch ausständig“ sind; dass die „nationalsozialistische Stadtverwaltung“ die Schändung insbesondere des Währinger Friedhofs „erlaubte“; dass es nach 1945 „teils Jahrzehnte [dauerte,] bis mit der Restaurierung begonnen wurde“; dass es aber „inzwischen […] für die meisten jüdischen Friedhöfe Konzepte“ gibt; doch dass es gerade in Währing „aufgrund der groben Schäden bis heute an einem Sanierungskonzept“ fehlt. Abschließend wurde meine Meinung zitiert, dass dieser Friedhof „ein Mahnmal bleiben [wird] – für die Leistungen der jüdischen Gemeinschaft in Wien, die Gräuel des
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Nationalsozialismus aber auch die kalkulierte Zurückhaltung der österreichischen Nachkriegsregierung, sich mit der Rolle Österreichs in den Verbrechen der Nazis auseinanderzusetzen.“ Die „Ergänzung“ der Botschaft verwies derweilen selbst explizit darauf, dass der von der Republik eingerichtete Fonds nur über 20 Millionen Euro für eine befristete Laufzeit von nur 20 Jahren verfügt. Die hier angeführten, wahrlich hohen Geldsummen, die bisher seitens der Stadt und des Bundes in den Erhalt von jüdischen Friedhöfen investiert wurden und weiterhin werden, ändern nichts an der Kernaussage, die heute noch stimmt: Es kann in Österreich weder von einer umfassenden noch von einer endgültigen Lösung der Instandsetzungsproblematik gesprochen werden.382 Wie in diesem Kapitel sowie insgesamt in diesem Werk aufgezeigt wurde, stellen die Wiener jüdischen Friedhöfe die wirkungsmächtigsten, aber auch umstrittensten Schauplätze für die Nachvollziehung verschiedenster Konstruktionen der jüdischen Kultur, der Verhandlung von Zugehörigkeiten zur jüdischen Glaubens- und Schicksalsgemeinschaft und der Auseinandersetzung mit der jüdischen Erinnerung in der gegenwärtigen Republik Österreich dar – dessen Wirkungsmächtigkeit sich zudem weit über die Grenzen eines „innerjüdischen“ Gemeinschaftsdiskurses hinweg erstreckt. Diese Erinnerungsräume samt ihren hunderttausend erhaltenen Denkmälern bekunden von einer Jahrhunderte langen, zutiefst heterogenen Entwicklungsgeschichte sukzessiver jüdischer Gemeinschaften und Kulturen in Wien, die bis in das 21. Jahrhundert herein in einem komplexen Diskursgeflecht sowohl in innerjüdischen wie in breiteren Kontexten, auf lokaler, nationaler und inter- bzw. transnationaler Ebene stets aufs Neue ausgehandelt werden. Die jüdischen Friedhöfe Wiens und Österreichs wurden somit längst auf breiten Diskursebenen – so etwa in der Wissenschaft, der Politik, aber auch in der breiteren Öffentlichkeit – nicht nur als bedeutende jüdische, sondern auch österreichische Erinnerungsorte verankert. In diesem Werk war es mein Anliegen, die Wiener jüdischen Friedhöfe als Schauplätze der individuellen wie kollektiven Verhandlung von kulturellen und gemeinschaftlichen Zugehörigkeiten und Wertvorstellungen aufzuzeigen; als einzigartige Zeugnisse der Wiener jüdischen Kultur und Geschichte von ihren Anfängen im Hoch- bzw. Spätmittelalter bis zum heutigen Tag. Dabei war es mir wichtig, die andauernde Verbindung, wenngleich in wandelnder und stets pluralistischer Form, der verschiedenen Judenheiten über die Jahrhunderte 382 Historian: Vienna’s Jewish Cemeteries Survived Shoa „By Chance“, in: Jewish News from Austria, 28. August 2015, http://www.jewishnews.at/in-the-media/2015/8/28/historianviennas-jewish-cemeteries-survived-shoa-by-chance, letzter Zugriff: 31. August 2020. Vgl. den originalen deutschsprachigen Wortlaut in: Historiker: Wiens jüdische Friedhöfe überlebten Shoah nur „zufällig“, in: Der Standard, 21. August 2015, https://www.derstandard.at/story/2000021068059/historiker-wiens-juedische-friedhoefe-ueberlebten-shoahnur-zufaellig, letzter Zugriff: 31. August 2020.
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hinweg zu ihrer Heimatstadt und zu ebenso wandelnden Inkarnationen von „Österreich“ zu betonen, selbst in Zeiten, wo ein Großteil der nichtjüdischen Bevölkerung der Stadt Wien diese Judenheiten ausgrenzte oder sogar verfolgte. Das Leben, die Errungenschaften sowie das Leiden und die Vernichtung dieser Judenheiten gehören ebenso zur Geschichte dieser Stadt, wie sie die sukzessiven Judenheiten, die hier ihr Leben lebten, entscheidend prägte. Reflektieren die jüdischen Friedhöfe Wiens wie kaum andere Orte die jüdische Geschichte Wiens, so muss zugleich betont werden, dass diese jüdische Geschichte zugleich immer schon eine Wiener G’schicht war. In diesem Werk bot ich eine komprimierte Darstellung einer komplexen jahrhundertelangen Geschichte, die viel eher von Unbeständigkeit und Wandel zeugt als von irgendeiner Kontinuität – allen modernen Versuchen, eben eine solche Kontinuität aus dieser Geschichte herauslesen zu wollen, zum Trotz. Es war mir stets ein Anliegen, die in diesen Erinnerungsorten so eindringlich eingeschriebene, über die Jahrhunderte wandelnde Diversität von jüdischen Kulturen und Zugehörigkeiten aufzuzeigen, die allzu oft als starre „Identitäten“ reduziert, homogenisiert und in Absonderung begriffen werden, insbesondere in einer vermeintlichen Unterscheidung und Segregation des „Jüdischen“ vom „Nichtjüdischen“ in der europäischen Geschichte. Freilich mag mein Unterfangen manchmal forciert erscheinen, während meine Kritiken bestimmter „jüdischer“ Narrative – die vielleicht kontroverser ausfallen dürften, als es gängige Kritiken von hegemonischen österreichischen oder „nichtjüdischen“ Diskursen sind – in gleich mehreren Sinnen „unorthodox“ sind. Jedoch hoffe ich, gezeigt haben zu können, dass Vorstellungen sowohl der „Jüdischkeit“ wie der „österreichischen Kultur“ in Wien über Jahrhunderte hinweg zutiefst heterogen waren und sind und sich stets in einer intimen Beziehung zueinander fortentwickelten, genauso wie heute die ständige Pluralisierung und Diversifizierung der Stadt wie anno dazumal die „Wiener“ und „österreichische“ Kultur fortdauernd prägt, verändert und bereichert, während neue ZuwanderInnen wiederum durch Wien geprägt, verändert und – hoffentlich – bereichert werden. Der 1923 in Wien geborene, 1938 vertriebene und 2010 in den USA verstorbene Wissenschaftler John Emanuel Ullmann fasste den Ausblick auf das jüdische Leben in Österreich nach der Shoah treffend in einem Vortrag zusammen, den er am 23. November 1992 an der Hofstra Universität in New York hielt, wo er Professor war: Die letzte Bim in Wien hieß damals „die Blaue“, weil sie immer ein blaues Licht hintendran hatte. Es war eine jämmerliche Erfahrung, diese Bim in die Nacht wegtrudeln zu sehen, wenn man gerade an die Haltestelle ankam. Auch ich muss jetzt in die Nacht wegtrudeln und, da ich zu den letzten gehöre, die noch bedeutende direkte Erinnerungen
Ausblick anstelle eines Schlussworts
[an das Geschehene] besitzen, bin ich dazu versucht, mich als so etwas wie eine „Blaue“ zu betrachten, mit dem Unterschied, dass es nun aus ist und der Betrieb morgen und danach nicht wieder beginnt. Wenn man eine Laudatio schreibt, muss man sich allerdings vor solcher Endgültigkeit in Acht nehmen – und eine Art Laudatio ist das, was ich heute Abend vorgetragen habe. Es fällt nicht schwer, trotz dem schrecklichen Ende des Lebens, das ich beschrieben habe, stattdessen im Sinne von Kontinuität zu denken. Was wir, die Jüdinnen und Juden Wiens, geholfen haben aufzubauen, war so zentral zur westlichen Kultur, dass es ein immerwährendes Thema der Erforschung bildet, sowie zweifellos eine Quelle der Inspiration und der weiteren kulturellen Evolution.383
Nun, 75 Jahre nach Ende des letzten Weltkriegs und der NS-Herrschaft in Europa, schreiben wir – die nachkommende Welt – keine Laudatio für die jüdische Geschichte Wiens, wenngleich wir stets der Ermordeten gedenken. Wie die andauernden politischen, gesellschaftlichen sowie wissenschaftlichen Diskurse zu den jüdischen Friedhöfen nämlich zeigen, ist das jüdische kulturelle Erbe in der österreichischen Hauptstadt heute sehr lebendig, wenngleich immer noch umstritten. Es obliegt nicht der Geschichtsschreibung, Prognosen über die Zukunft zu erstellen. Doch eines scheint klar: Diese Wiener G’schicht hat noch kein Ende genommen. Österreich ringt immer noch mit seiner Geschichte von Faschismus, Krieg und Genozid sowie mit dem Stellenwert und der Bedeutung seiner jüdischen Vergangenheit, während die kleine jüdische Gemeinde heute wiederum mit ihrer Position und ihrem Zugehörigkeitsgefühl zu der Zweiten Republik ringt. Zudem ringen Österreich und Europa mit den Realitäten des 21. Jahrhunderts, insbesondere der Zuwanderung und Diversifizierung, wodurch sich ein beträchtlicher Teil der Gesellschaft verunsichert, sogar bedroht fühlt, so nicht zuletzt auch die Wiener jüdische Gemeinde. Zuwanderung, Diversifizierung und Wandel wie auch Ausgrenzung, Abschottung und Verfolgung sind alles Themen, die sich reichlich in den Erinnerungskanon der jüdischen Friedhöfe eingemeißelt haben. Wie kein anderer Ort bekunden sie heute noch diese Erinnerung, aus der wir noch reichlich schöpfen können, hier: an den Grabstätten der Väter.
383 Ullmann: The Jews of Vienna, S. 42.
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Nachwort Ich werde oft gefragt, wie ich auf das „Nischenthema“ der Geschichte der Wiener jüdischen Friedhöfe gekommen bin. Konkret bin ich im Frühjahr 2011 darauf gestoßen, als ich dabei war, an der Universität Lancaster im Vereinigten Königreich meine Masterarbeit zur topographischen „Erinnerungsmatrix“ der Stadt Wien in Bezug auf Faschismus, Krieg und Genozid zu schreiben. Eines Abends fand ich im Internet einen Kurzfilm mit der Lokalhistorikerin Tina Walzer, der am Währinger Friedhof gedreht wurde und für eine breitere Wahrnehmung dieses geschändeten Erinnerungsorts warb. Bei meinem nächsten Forschungsaufenthalt in Wien begleitete mich Walzer freundlicherweise durch diesen alten, verfallenen Bestattungsraum, der sonst für die Öffentlichkeit gesperrt ist. Greifbar und ergreifend führte mir dieser Ort die vielen Ambivalenzen, Widersprüche, ja Paradoxien der Erinnerungskultur Wiens und Österreichs im frühen 21. Jahrhundert vor Augen: Wie nirgendwo sonst in der gegenwärtigen Stadtlandschaft sind hier Kulturgeschichte und kultureller Genozid in einem Raum sichtlich vereint, berührbar verkörpert. Die Geschichte nicht nur dieses, sondern aller erhaltenen jüdischen Friedhöfe Wiens erwies sich als so reichhaltig und komplex, dass sie bald zum ausschließlichen Forschungsschwerpunkt meines gesamten Promotionsvorhabens wurde. Nun, mit dem vorliegenden Werk, schließe ich eine zehnjährige Forschungsgeschichte ab, die mich jenseits von Wien auch nach Israel und Amerika verschlug, den Spuren der zerschlagenen und verstreuten jüdischen Geschichte der Stadt folgend. Das ist der unmittelbare Hintergrund meiner Beschäftigung mit den Wiener jüdischen Friedhöfen, der somit ganz im Zeichen des transnationalen, schichtenübergreifenden Diskurses steht, den ich zum Schluss des letzten Kapitels aufzeigte. Wohlgemerkt ist die vorliegende Arbeit weder eine Übersetzung noch eine Überarbeitung der Dissertation, die ich 2015 fertig schrieb und verteidigte: Es ist eine von Grund auf neu verfasste Arbeit, die durch einem erheblichen Mehrwert an Material bereichert und ergänzt wurde, das ich nach Abschluss der Doktorarbeit sammelte. Dass ich erst im Nachhinein diesen erheblichen Zusatz an Material finden konnte, hat auch einen spezifischen Hintergrund: Relativ zu Beginn meines Doktorstudiums besuchte ich erstmals das Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, dessen MitarbeiterInnen mir sehr entgegenkommend Material bereitstellten, von dem sie fortan stets behaupteten, es wäre das gesamte erhaltene Konvolut zur Geschichte der Wiener jüdischen Friedhöfe. Im Jahre 2016 lernte ich in den USA bei einer Konferenz Elizabeth Anthony vom United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) kennen, die mir mitteilte, dass das gesamte Archivgut der Wiener Kultusgemeinde dort,
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in Washington, D.C. auf Mikrofilm frei und gratis zugänglich ist. Wie sich herausstellte, wurde mir in Wien über Jahre hinweg bloß ein Bruchteil des dort erhaltenen Bestands als komplettes Konvolut präsentiert. Die Gründe hierfür dürften in der konfliktreichen Archivpolitik der Kultusgemeinde zu verorten sein, die sich unter anderem in einem seit Jahren andauernden Rechtsstreit mit den Central Archives for the History of the Jewish People in Jerusalem niederschlägt, mit denen ich sonst auch – wie viele KollegInnen – durchwegs negative Erfahrungen hatte, die meine Forschungstätigkeit sehr erschwerten. Dies sei hier nur festgehalten, weil es im Geiste der freien Forschung sowie der Aufarbeitung dieser so wichtigen und wirkmächtigen Geschichte wünschenswert wäre, einen offenen und ordentlichen Zugang zu den relevanten Archiven zu haben, zumal der Wiener Bestand ohnehin in Washington frei eingesehen werden kann. Es bleibt mir an dieser Stelle nur, Betsy Anthony für diesen wichtigen Hinweis zu danken – sowie für ihre Freundschaft über die letzten Jahre, die sich nicht zuletzt auf die großzügige Benützung ihrer Wohnung in Washington erstreckte, als ich zur Archivarbeit dort anwesend war. Der unschätzbare Wert von Betsys Vermittlungsarbeit zeigt sich in der enormen Quantität an Quellen, die ich erst in Washington einsehen konnte: Diese machen einen wesentlichen Teil des vorliegenden Werks aus. Ich kann allen ForscherInnen, die sich mit der modernen jüdischen Geschichte Wiens befassen, nur ausdrücklich empfehlen, sich gleich zu Beginn der Recherchen an das USHMM zu wenden. Obwohl dies ein wesentlich erweitertes Werk darstellt, baut es doch im Kern auf die vorangegangene Dissertation auf, inklusive der epistemologischen Zugänge, die darin entwickelt wurden. Insofern muss ich mich auch hier wieder an erster Stelle bei meinem „Doktorvater“ (wenngleich er dieses Wort nicht leiden kann – er hat genug Kinder, meinte er immer) Thomas Rohkrämer und meiner „Doktormutter“ Corinna Peniston-Bird bedanken. Sie waren hervorragende und geduldige BetreuerInnen, und ihre vielen historischen, theoretischen und professionellen Einsichten, die sie während meines Studiums mit mir teilten, haben mein Denken nachhaltig geprägt. Es gibt viele Facetten dieses Buchs, die ich direkt auf unsere unzähligen Gespräche in Lancaster zurückführen kann. Ohne Thomas und Corinna wäre diese Arbeit – wie meine gesamte wissenschaftliche Karriere – nie zustande gekommen, und dafür danke ich ihnen von ganzem Herzen. Einen nicht minderen Einfluss übt seit meinem Fellowship am Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien (VWI) 2014/15 Béla Rásky auf meine Forschung und mein Denken aus. Nach Thomas und Corinna hat sich niemand so intensiv mit dieser Arbeit auseinandergesetzt, nicht nur durch sein einfühlsames, kritisches Gegenlesen von Textrohfassungen, sondern auch in unzähligen Diskussionen zur Geschichte und zur Geschichtswissenschaft über die Jahre,
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die oft bis in die frühen Morgenstunden dauern. Béla hat mir gefühlt schon die Hälfte seiner beträchtlichen Hausbibliothek zum Lesen mitgegeben und somit meinen Zugang zur Wiener und österreichischen Geschichte erheblich vertieft. Ich danke ihm für viele der kritischen Einsichten über die Wiener, österreichische und zentraleuropäische Geschichte, in die ich hier die Wiener jüdische Geschichte einzubetten versuchte, sowie für seine hingebungsvolle Freundschaft und Unterstützung. Für sein tatkräftiges Engagement unterschiedlichster Art – von inhaltlichen Diskussionen und die Eintreibung von Fördergeldern bis hin zur emotionalen Unterstützung, wenn die Arbeit zuweilen schwierig wurde und wird – bin ich Philipp Rohrbach zutiefst dankbar. Seine harmonische Vereinigung von wissenschaftlicher Sachlichkeit, persönlicher Empathie und sozialem Gerechtigkeitssinn, die er im beruflichen wie im privaten Leben ausübt, ist eine Inspiration, von der ich hoffentlich etwas dazu gelernt habe. Susanne Korbel verdanke ich viele ausgiebige Gespräche zur Wiener jüdischen Geschichte während der Verfassung dieses Werks, durch die ich von ihrem innovativen Zugang zur jüdischen Geschichtsschreibung viel abgewinnen konnte. Ich hatte das gute Glück, an der gleichen Universität zu studieren, wo Ruth Wodak Professorin war, und bin ihr für ihre jahrelange wissenschaftliche Unterstützung sehr dankbar. Sowohl ihre bahnbrechenden Forschungen als auch ihr unermüdlicher Einsatz für gesellschaftliche Inklusion und Gerechtigkeit sind eine Inspiration, die mich und meinen Zugang zur Wiener Geschichte (und Gegenwart) zutiefst beeinflusst haben. Ebenfalls bin ich Dirk Rupnow sehr dankbar, der seit Jahren meine Forschung betreut und unterstützt und der einen bemerkbaren Einfluss in der Entwicklung meines analytischen Zugangs hatte. Ich danke herzlich Michael Simonson am Leo Baeck Institute in New York, der sich seit Jahren für ForscherInnen wie mich selbstlos aufopfert und in vielfältiger Weise zur Verwirklichung dieses Werks beigetragen hat. Nicht zuletzt danke ich Michael dafür, dass er New York für mich zum „home away from home“ gemacht hat. Zu guter Letzt danke ich Ursula Huber vom Böhlau Verlag, die von Anbeginn dieses Vorhaben wohlwollend und geduldig betreut hat, selbst als der Umfang sowie, damit einhergehend, der Zeitrahmen der Fertigstellung – nicht zuletzt aufgrund meiner Unerfahrenheit – gewaltig wuchs. Dieses Werk deckt einen ungewöhnlich breiten Zeitraum sowie unzählige, zum Teil sehr unterschiedliche Themenkreise ab. Verschiedene KollegInnen und FreundInnen setzten sich tatkräftig ein – zum Schluss unter erheblichem Zeitdruck –, um Rohfassungen dieses Werks aufgrund ihrer Fachspezialismen akribisch durchzulesen und kritisch zu kommentieren. Der Gewinn kann nicht in Worten ausgedrückt werden: Von inhaltlichen und analytischen bis hin zu
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strukturellen und feinsten sprachlichen Eingriffen konnte dieses Werk durch ihren Beitrag erheblich gestrafft, präzisiert und ausgebessert werden. Hierfür, wie für ihre freundschaftliche Unterstützung über die Jahre, danke ich: Elisabeth Gallas, Ines Koeltzsch, Susanne Korbel, Peter Pirker, Michaela Raggam-Blesch, Béla Rásky, Philipp Rohrbach, Dirk Rupnow, Martin Stechauner und Marianne Windsperger. Das gesamte Manuskript wurde – zum Schluss ebenfalls unter erheblichem Zeitdruck – von meiner Mutter, Gabriele Meckes-Corbett, sprachlich korrigiert und verschönert, da mein schriftliches Deutsch doch nicht immer tadellos ist. Ihr verdanke ich auch das kritische Mitdenken über die Implikationen und Konnotationen bestimmter Begrifflichkeiten sowie den einen oder anderen (oft recht witzig formulierten) Hinweis zu Unstimmigkeiten im Text: Es ist beispielsweise sonst niemandem aufgefallen, dass ich in einer frühen Textversion einen „Vater“ genannt hatte, der sieben Jahre vor der Geburt seines angeblichen „Sohns“ verstarb. Zu guter Letzt danke ich Andreas Eschen, der zum Schluss seitens des Verlags das Manuskript mit Argusaugen lektorierte. Die hebräische Sepulkralsprache, die einen wesentlichen Teil des Quellenmaterials im vorliegenden Werk ausmacht, ist wohlgemerkt nicht modernes Hebräisch und nicht mal durchgehend für viele israelische Hebräischmuttersprachige verständlich. Vielmehr bilden die hebräischsprachigen Inschriften insbesondere der Frühen Neuzeit ein verschachtelter Kodex von archaischen, kontextspezifischen Sprachgebräuchen, der mit subtilen, oftmals abgewandelten Zitaten aus dem jüdischen Schrifttum sowie von versteckten Textteilen in Form von Chronogrammen und Akrosticha durchzogen ist. Dies erleichtert keineswegs die Übersetzung und Interpretation. Über die Jahre konnte ich wiederholt auf verschiedene KollegInnen und FreundInnen zurückgreifen, die persönlich oder vermittelt maßgebliche Unterstützung leisten konnten, für die ich ihnen sehr danke: Shai Cotler, Yael Friedman, Deborah Greniman und Goor Somer. Alle faktischen, inhaltlichen, sprachlichen und interpretativen Fehler, die in diesem Werk zu finden sind, verantworte ich alleine. Verschiedene Institutionen haben die Realisierung des Forschungsvorhabens und dieser Publikation ermöglicht. An vorderster Stelle bedanke ich mich für die Förderungen beim Zukunftsfonds der Republik Österreich, beim Leo Baeck Institute in New York und beim Wiener Wiesenthal Institut für HolocaustStudien (VWI). Darüber hinaus wurde meine Forschung über die Jahre durch Fellowships und Stipendien insbesondere an der Universität Lancaster, am VWI und am Center for Jewish History in New York möglich gemacht. Zu guter Letzt bedanke ich mich an dieser Stelle besonders beim Museum of Jewish Heritage in New York, als dessen erster Prins Foundation Fellow ich im Jahre 2018 einen erheblichen Teil des Manuskripts ungestört – mit Blick von meinem Schreibtisch aus auf die Freiheitsstatue – aufbereiten konnte. Für ihre wiederholte Unter-
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stützung über mehrere Jahre bei der Erfassung von Quellenmaterial danke ich insbesondere dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, dem Jüdischen Museum Wien (Archiv wie Bibliothek), der Österreichischen Nationalbibliothek, dem Wiener Stadt- und Landesarchiv und – trotz meiner oben geäußerten Kritik – dem Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Wien. An dieser Stelle sei wieder ein besonderer Dank dem USHMM in Washington, D.C. und insbesondere Betsy Anthony gewidmet – ihr leistet vorbildliche Archivarbeit. Für die kostenlose Bereitstellung von Archivgut zur Reproduktion in diesem Werk bedanke ich mich sehr herzlich bei der Freytag-Berndt und Artaria KG, beim Leo Baeck Institute in New York, beim Österreichischen Schwarzen Kreuz sowie beim Yad Vashem Archiv in Jerusalem. Alle Abbildungen – sowohl die archivarischen wie meine eigenen – wurden im Vorfeld der Publikation von Megan Martin bearbeitet und qualitativ verbessert. Megan hat vorzügliche und professionelle Arbeit geleistet und dafür – sowie für ihre felsenfeste Freundschaft über die Jahre, in denen ich zwischen Wien und New York hin und her gependelt bin und fast durchgehend bei ihr gewohnt habe, zuerst in Brooklyn und dann in Manhattan – danke ich ihr von ganzem Herzen. Eine ganze Reihe von Personen hat mich durch inhaltliche Diskussionen, professionelle Förderung und kollegiale Zusammenarbeit über die Jahre unterstützt. Allen, die ich hier noch nicht namentlich genannt habe, einen großen Dank dafür: Natalia Aleksiun, René Bienert, Günter Bischof, Amy Braun, Michael Burri, Herwig Czech, Arndt Engelhardt, Gustl Faschang & die Speakers’ Corner im Käuzchen, Gabriel Finder, Petra Gamke, Nicole Goll, Benjamin Grilj, Miriam Haier, Oonagh Hayes, Klaus Hödl, Trudy Jeremias & der Stammtisch in Manhattan, Christian Karner, Martha Keil, Caroline Kita, Katharina Kniefacz, Mathias Lichtenwagner, Frank Mecklenburg, Joseph Moser, Neil Christian Pages, Oliver Rathkolb, Lisa Silverman, Jacqueline Vansant, dem Verein Steine der Erinnerung, Adrienne Wallman, Yfaat Weiss und Sharon Wiener. An meine Freundinnen und Freunde, mit denen ich vielleicht nicht oft über wissenschaftliche Inhalte rede (und von denen viele mit einem deutschsprachigen Buch nichts anfangen könnten), ich danke euch für euer Dasein in guten und schlechten Zeiten, für viele besondere Erinnerungen überall auf dieser Erdkugel und für die immer wieder vielbenötigte Ablenkung von der Arbeit: Ali, Alina, Anna, Conrad, Davina, Griff, Hala, Katja, Mel, Minna, Nick, Renate, Rune, Serhat und Tine. In Erinnerung an Alistair Pratley, Martina Salakova und Ruth Ryvarden, die alle 2020 viel zu jung gestorben sind. An meinen Onkel Franz, der als Landeskonservator von Baden-Württemberg (nun in Rente) übrigens einige jüdische Friedhöfe instand setzte und reichlich interessante Anekdoten dazu hat: danke für die Inspiration und dein fortwährendes Interesse. An meine Cousinen Hannah und Christina und meine
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Schwiegerschwager Marco und Cord – sowie meine Neffen Carl, Vincenz und Henry – danke für eure liebevolle Unterstützung. Schließlich an meine Mutter Gabriele und meinen Vater Thomas: “We live for books. A sweet mission in this world dominated by disorder and decay.” Thank you for everything. Tim Corbett, Wien im April 2020
Abbildungsverzeichnis Abb. 1 „Nehémie regarde secrètement les ruines des murs de Jérusalem“, Gustav Doré, 1866. Abb. 2 Teilansicht der Ehrenreihe beim I. Tor. © Autor Abb. 3 „Funeral Procession for David Feuchtwang“, 7. Juli 1936, Leo Baeck Institute – New York, Siegfried Fehl Collection, AR 3665. Abb. 4 Transkription und Übersetzung der Inschrift auf dem Grabstein der 1585 verstorbenen Sara Ester bat Simeon im Friedhof in der Seegasse. © Autor Abb. 5 O. T., o. D., Jüdisches Museum Wien, 3210. Abb. 6 Detailansicht aus Josef Daniel Huber, „Vogelschauplan“, 1769–1778, Wiener Stadt- und Landesarchiv, Pläne und Karten: Sammelbestand, P1 – Pläne und Karten: 11. Abb. 7 Größtenteils erhaltener Grabstein der 1746 verstorbenen Sara Pereyra. © Autor Abb. 8 Transkription und Übersetzung der Inschrift auf einem nicht identifizierbaren Grabstein aus dem Jahre 1303. © Autor Abb. 9 Detailansicht aus Georg Adam Zürner, „Plan der kais. königl. Hauptund Residenzstadt Wien mit allen Vorstädten“, 1811, Österreichische Nationalbibliothek, AB 7 A 7 Kar. Abb. 10 Grabstein der 1795 verstorbenen Francisca Edle von Hönigsberg. © Autor Abb. 11 Transkription und Übersetzung der Inschrift auf dem Grabstein des 1787 verstorbenen Shmuel Goldshmid. © Autor Abb. 12 „Wiener Zentralfriedhof “, 1953, Österreichische Nationalbibliothek, K.I. 104092. Mit freundlicher Genehmigung von Freytag-Berndt und Artaria KG. Abb. 13 Die vom Standpunkt der ehemaligen Zeremonienhalle aus gesehen unendliche Zeremonienallee. © Autor Abb. 14 Titelseite eines Gedenkbuchs für Gustav Kohn, 1917. Selbstverlag von Max Schwager. Abb. 15 Grabstele des 1915 verstorbenen Heinz Koch. © Autor Abb. 16 Die monumentale Zeremonienhalle beim IV. Tor. © Autor Abb. 17 Innenansicht des ohel des 1933 verstorbenen „Wunderrabbiners“ Israel von Czortków. © Autor Abb. 18 Grabstein des 1935 verstorbenen Historikers Bernhard Wachstein. © Autor Abb. 19 In einer Mauernische im Friedhof in der Seegasse befestigte frühneuzeitliche Grabsteine. © Autor
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Abb. 20 O. T., o. D., Jüdisches Museum Wien, 2627. Abb. 21 Die mit Bittschriften übersäte Inschriftentafel im Grabhäuschen des 1911 verstorbenen Samuel Frommer. © Autor Abb. 22 „Wien, Austria, Summer 1940, A group of youths piling hay.“ Yad Vashem, Jerusalem, FA70/24. Abb. 23 O. T., o. D., Jüdisches Museum Wien, 23612-267. Abb. 24 O. T., 13. November 1955, Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, 9773(7). Abb. 25 O. T., o. D., Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, 445(A)20. Abb. 26 Von der Chewra Kadisha errichtete Grabsteine in der Gruppe 21. © Autor Abb. 27 Transkription und Übersetzung der Inschrift auf dem Grabstein des 1944 verstorbenen Moritz Gelber. © Autor Abb. 28 „Kriegsschäden am Wiener Zentralfriedhof “, 1945, Österreichische Nationalbibliothek, VGA E3_1113. Abb. 29 O. T., 1992. Mit freundlicher Genehmigung des Österreichischen Schwarzen Kreuzes. Abb. 30 Trümmerhaufen von Grabsteinen im wiederholt geschändeten südöstlichen Teil des Währinger Friedhofs. © Autor
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Quellenverzeichnis
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Quellenverzeichnis
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Personenregister Anmerkung: Bei Namen, die mit * versehen sind, handelt es sich um Personen, deren Grabstätten sich in Wien befinden und deren Grabstätten, -steine oder -inschriften im vorliegenden Werk besprochen werden. Bei Namen, die mit ** versehen sind, handelt es sich um Wiener Opfer der Shoah, die nicht in Wien zur Bestattung gelangten, bzw. Opfer der Shoah, derer in der Wiener Sepulkralepigraphik „In Memoriam“ gedacht wird. Patronyme und Toponyme werden hier nach Vornamen eingeordnet. Biblische Figuren erscheinen hier bloß unter ihrem Vornamen.
Abel 721 Abraham 74–75, 85, 149, 172, 706 Abraham ben Chaim Halewi Sinzheim* 185 Abraham ben Ephraim* 231 Absalom 106, 108 Adler, Alfred 366 Adler, Emil* 442, 792 Adler, Friedrich Salomon* 318 Adler, Gertrud ** 792 Adler, Moshe Shlomo 442 Adler, Riwka Baila 442 Adutt, Bertha* 342 Adutt, Israel* 571 Adutt, Victor* 341–342 Aftalion-Calmi, Esther* 436 Aguilar, Diego d’ 153–154, 170, 183 Aharon 332 Aharon ben Saul* 171 Aichinger, Ilse 657–659 Albers, Paul* 527 Albers, Sigmund* 527 Albrecht V., Herzog von Österreich 144 Alexander, Gabriel 816 Alighieri, Dante 390 Almasˇ-Popper, Meir* 736, 792 Amalek 703, 706–708, 711, 720, 723– 724, 730–731, 789 Améry, Jean* 940 Anschel, Rudolfine* 577 Anshel ben Abraham* 182 Apostomus 729
Arnold, Ascher* 344 Arnold, Hermann* 444 Arnstein, Asher Anshil* 224 Arnstein, Franziska/Fanny Freifrau von* 209, 502 Arnstein, Nathan Adam Freiherr von* 209, 224, 230, 233, 498, 566, 571 Artaxerxes I., Großkönig von Persien 675 Ascher, Malvine* 529 Ascher, Moriz* 529 Ashbel, Dan 920 Auspitz, Rudolf 238 Auspitz, Therese* 238 Avisar, Eitan siehe Friedmann, Sigmund Awraham Jakob von Sadigora 421, 427– 428 Azari, Sara* 806 Baal Schem Tow 415, 419, 422, 424 Bäck, Josef** 616, 641–643 Bäck, Hermine** 641 Baeck, Leo 759–761, 768 Bahr, Hermann 417–418 Balaban, Markus** 706 Baldauf, Johanna* 970 Ballner, Gustav** 601–602 Balner, Karl 610 Bangiev, Zipora/Gulja* 800 Barth, Cäzilie* 130 Barth, David* 130 Barth, Mina 130
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Barth, Paul* 130 Bartók, Béla 784 Baruch, Ruben* 568 Bato, Ludwig 90, 102, 141, 150, 152–154, 177, 203, 206, 209, 213, 283, 834 Bauer, Moritz* 346 Bauer, Otto 368 Baum, Max** 791 Bauminger, Viktor 693–694 Beckermann, Ruth 673, 698, 842 Bedus, Emil* 810 Bedus, Katharina* 810 Beer, Salomon** 601–602 Beer-Hofmann, Richard 15 Beethoven, Ludwig van* 263, 507–508 Beilner, Laurenz* 251, 253 Beilner, Sabine* 253 Ben David-Hindler, Elisabeth* 799 Bender, Jehuda 666 Benedict, Marcus 211 Benedik, Karl** 652 Benedikt, Moriz* 569, 970 Benk, Johann 500 Berend, Alice* 629 Berend, Max* 629 Berger, Max* 629 Berger, Olga* 629 Berlin, Moshe* 243 Bettauer, Hugo* 151, 405, 453–454 Bettelheim, Helene* 349 Biedermann, Joseph 211 Biedermann, Michael Lazar* 205, 230, 233–234, 498, 561, 571, 735 Bindel, Jakob 912 Binder, Otto 901 Binjamin Wolf ben Jehuda* 122 Blahm, Ladilaus 866–868 Blahm, Otto 867 Blaschke, Hanns 555, 851, 936 Blitz, Ernst** 605 Bloch, Eduard 892 Bloch, Heinrich* 347 Bloch, Joseph Samuel* 115, 272, 275, 368, 434–435, 486 Bloch-Bauer, Adele* 346, 405, 459 Bluemb, Wolff* 188
Personenregister
Blum, Nelly Grete* 712 Blumenthal, Hermann** 780 Blumenthal, Lydia** 780 Blumka bat Jakob* 168 Bluvstein, Debora** 805 Bluvstein, Leib** 805 Bluvstein, Leonid* 804–805 Bohm, Clara 784 Bohm, Joseph 784 Boltenstern, Erich 716 Bombach, Eliyahu 802 Bombach, Ester Klara** 801 Bombach, Mischa** 801 Bombach, Willi** 801 Bondy, Max 605 Boral, Leon* 341 Brahms, Johannes 346 Bramer, Moritz* 597 Brand, Adele* 131 Brandeis, Therese 247–248 Braun, Ida 639 Braun, Michael* 806 Braun, Rudolf* 438 Braunsteiner, Hermine 675 Breitenfeld, Friedrich* 323 Brezner, Salomon* 598 Brill, David 689, 906 Broch, Erich 784 Broch, Laura 784 Broch, Philipp* 784 Bronner, Gerhard* 17, 809 Brüll, Antonia 631 Brüll, Ignaz* 346 Brüll, Ingeborg 631 Brüll, Josef* 631 Brüll, Marie* 346 Brunner, Alois 478, 531, 534, 578–579 Bürckel, Josef 462 Buschin, Rosalia 458 Busek, Erhard 828 Byron, Lord 301, 481 Celan, Paul 823 Chajes, Zwi Perez* 98, 372–373, 378, 490, 695, 747 Chana bat Jehuda Bender* 666–667
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Chana bat Menachem* 792 Christian, Viktor 543, 546, 573, 575, 734 Christus 112, 189, 336–337, 340, 347, 586 Coeckelbergh-Dützele, Gerhard Robert Walter von 159–160, 481 Cohn, Gustav 60, 76, 78–79, 95, 107, 121, 160, 467, 492–493, 496–497, 839 Cohn, Leopold 486 Cohn, Meschullam Salman 247–248 Cysarz, Herbert 898 Czermak, Emmerich 19 Czollak, Johanna** 780 Czollak, Lotte** 780 Czollak, Ludwig** 780 Czollak, Richard** 780 David 186, 415 David Moshe von Czortków 421 Davoud, Tevfik* 343 Detmold, Samuel* 568 Deutsch, Ignaz 212 Deutsch, Jehuda* 413 Deutsch, Oskar 698 Deutsch, Samuel* 436 Deutsch, Victor 762–763 Diner, Anna 725–726, 743 Dinstl, Leopold 743 Dollfuß, Engelbert* 382–383, 448, 526, 587 Donatin, Leopold 485, 543 Dow Beer Maggid von Mesritsch 415 Dreher, Anton 388 Dubnow, Simon 414 Duldig, Adele** 412 Duldig, Fanny** 412 Duldig, Ignaz** 412 Duldig, Karl 412 Duldig, Markus* 412 Duschak, Franz* 783 Duschak, Maria* 783 Ebner-Eschenbach, Marie von Efrati, Shimon 862 Egghard, Julius* 250 Ehrlich, Jakob** 383 Ehrmann, Anna* 440
567
Ehrmann, Michael 873 Ehrmann, Salomon* 440 Eichmann, Adolf 474, 587, 593, 612, 618, 634, 675, 781, 834, 877, 899, 901 Eidlitz, Moses 793 Eisenberg, Akiba* 691–695, 701, 710, 721–722, 763–764, 794–795, 808, 903, 912 Eisenberg, Chaim 794 Eisenberg, Eva* 795–796 Eisenberg, Miriam 795 Eisenberg, Paul Chaim 691, 694–695, 700–701, 726, 728–729, 921, 924, 945 Eisler, Max 397 Elias, Adolf* 353 Elias, Aron Haim* 231 Elias, Jacques Menachem* 314 Elias, Leo* 353 Elias, Wilhelm* 353 Elisa 418 Elisabeth, Kaiserin von Österreich 344 Engel, Josef* 424–425, 428 Engel, Marcus* 315 Engel, Maximilian* 567 Engel-Jánosi, Friedrich* 352 Engel von Jánosi, Adolph* 352 Engel von Jánosi, Anna* 352 Engel von Jánosi, Marie* 352 Engel von Jánosi, Rudolf* 352 Ephrussi, Emilie* 315–316 Ephrussi, Ignaz* 315 Ephrussi, Joachim/Chaim* 243, 315 Ephrussi, Viktor 315 Epstein, Caroline* 244 Epstein, Friedrich Josef* 244 Epstein, Gustav* 238 Epstein, Josef* 244 Epstein, Leopold* 238, 244 Eschwege, Helmut 804 Eskeles, Bernhard 209 Est[h]er 168–169, 286 Ester bat Akiba* 158, 169, 184 Ester bat Josef* 120 Eugen von Savoyen 153 Fadenhecht, Hugo*
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Fantl, August* 354 Fastenbauer, Raimund 960 Felder, Cajetan 262 Feldsberg, Emil** 797 Feldsberg, Ernst* 98, 131, 474, 525–528, 537, 553, 556–557, 561, 563–565, 568, 573, 577, 591, 593, 597–601, 603–608, 620, 626–630, 632–634, 637–639, 642, 645–647, 650, 652, 670, 689–690, 706, 708–710, 714–716, 718–720, 722–725, 731, 735, 737, 739, 742–744, 747, 753– 760, 762–768, 771–777, 792, 796–797, 811, 824, 847, 849–851, 854, 857, 863– 865, 867–868, 873–874, 886–892, 894– 897, 899–903, 909, 911, 928–929, 948 Feldsberg, Hansi** 797 Feldsberg, Max** 797 Feldsberg, Regine** 797 Feldsberg, Stella* 797 Feldstein, Fritz** 780 Feldstein, Julius* 780 Feldstein, Walter** 780 Felzmann, Josef 601 Fenakkel, Franz** 779 Fenakkel, Jenö** 779 Fenakkel, Jesther** 779 Fenakkel, Josef** 779 Fenakkel, Serina** 779 Ferdinand I., Heiliger Römischer Kaiser 173, 188 Ferdinand I., Kaiser von Österreich 234, 330 Ferdinand II., Heiliger Römischer Kaiser 147, 149, 153 Feuchtwang, David* 97 Feuerstein, Leo** 602 Feuerzeug, Lotti* 818 Feuerzeug, Walter* 622–623, 818 Fey, Emil* 586–587 Fey, Herbert* 587 Fey, Malvine* 587 Fireside, Harvey 622–623, 817–819 Firestone, Irwin* 806 Fischer, Ernst 673, 689 Fischer, Heinrich 16 Fischer, Katharina** 652
Personenregister
Fischer, Samuel 16 Fischhof, Adolf* 116, 206–207, 286, 305–306, 319, 331–332, 500, 969 Fischhof, Josef 331 Fleischer, Ernst* 765 Fleischer, Franziska/Friederike* 765– 766 Fleischer, Max* 309–310, 312–313, 315, 329, 331, 336, 347, 350, 489, 499–500, 513, 519, 569, 927, 930 Fleischer, Siegfried* 765 Flesch, Josef* 813 Flesch, Josefine* 813 Flesch, Katharina* 813 Flesch, Mathilde* 358 Flesch, Philipp 621–622, 813–814 Flesch, Wilhelm* 358 Flinker, Julius* 354 Forchheimer, Henriette* 237, 247 Frank, Hans 834 Frankel, Herman* 785 Frankfurter, Arnold* 449, 737 Frankfurter, Salomon* 383, 435, 486 Frankl, Elsa** 810 Frankl, Gabriel** 810 Fränkl, Jakob Koppel* 160–161, 482 Frankl, Ludwig August* 104–105, 141, 159–160, 225, 280, 287–288, 292, 301– 302, 306, 348, 480–482, 484, 487, 500, 510, 513 Frankl, Regine* 810 Frankl, Tilly** 810 Frankl, Viktor* 810 Frankl, Walter** 810 Frankl, Wilhelm 298 Franz I., Kaiser von Österreich 33, 202, 216, 834–835 Franz I. Stephan, Heiliger Römischer Kaiser* 195 Franz Ferdinand, Erzherzog von Österreich 469 Franz Joseph I., Kaiser von Österreich 204, 207, 261, 271, 284, 322, 340, 505 Frei, Elise* 344, 437 Freiberger, Lotte 652 Freistadt, Wilhelm 385
Personenregister 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41
Freud, Sigmund 323, 366, 879, 935 Freund, Salomon Wolf* 333 Frick, Wilhelm 625 Fried, Erich 541, 659 Fried, Hugo* 659 Fried, Laszlo Ladislaus* 666 Friedell, Egon* 506, 586 Friedländer, Otto* 265 Friedmann, Alexander 804 Friedmann, Chaim Aharon* 426 Friedmann, Desider** 383, 409, 434, 449–450 Friedmann, Dow* 422 Friedmann, Israel siehe Israel von Ruzhin Friedmann, Israel (Enkel) siehe Israel von Czortków Friedmann, Jakob David 426 Friedmann, Moritz Edler von* 451 Friedmann, Perl 426 Friedmann, Sigmund 448, 451–452 Friedrich II., Heiliger Römischer Kaiser 142 Frisch, Alfred 662 Fromm, Joseph* 251 Frommer, Samuel* 613–617 Fruchter, Lewi 355 Fruchter, Theodor* 355 Fuchs, Alexander* 762 Fuchs, Anna* 762–763 Fuchs, Don 96 Fuchs, Ernst* 49 Fuchs, Johann 873 Fuchsgelb, Guido* 402, 408 Fülor, Ilona* 666 Funke, Leo** 706 Füredi, Laura* 666 Fürster, Anton 207 Gächter, Afsaneh 882–883 Ganghofer, Ludwig 645 Gardos, Josef* 666–667 Gardos, Vilma/Wilma* 666–667 Garfunkel, Osias* 437 Gärtner, Friedrich von 311 Gartner, Jakob* 303, 388–389, 394, 930 Gaubitsch, Fradche* 238
1029 Geiger, Ludwig 150 Geiger, Salo* 437 Gela bat Simeon Wolf Auerbach* 182, 246 Gelbart Megas, Anny* 806 Gelber, Moritz* 787–788 Gerngross, Alfred* 969 Gerson/Israel Jechiel Hakohen Rapa 123–124 Gerstmann, Josef 918 Geyer, Rudolf 489–490 Gittel Towa von Berditschew 339 Gittel von Kopitschinitz* 423–424, 429 Glaser, Julius 550 Glawischnig, Eva 951, 962–963 Gleiss, Hermann** 652 Globocnik, Odilo 675 Goebbels, Joseph 457–459 Goethe, Johann Wolfgang 436, 483, 801–803, 968 Goldemund, Heinrich 388 Goldmann, Arthur 486 Goldmann, Don** 706 Goldmann, Friedrich** 602 Goldmann, Ignaz** 605, 608 Goldmann, Nahum 853 Goldmann, Philipp 603, 605 Goldsand, Nina* 249 Goldschmidt, Moritz Ritter von* 352 Goldschmiedt, Carl* 750 Goldschmiedt, Rosalia* 750 Goldshmid, Shmuel* 226–228 Goldstein, Debora** 785 Goldstein, Elisabeth* 785–786 Goldstein, Gittl** 785 Goldstein, Jakob Koppel** 785 Goldstein, Shlomo Salman** 785 Goldwasser, Hanka* 789 Goldwasser, Lola** 789 Goldwasser, Malka** 789 Goldwasser, Manes** 789 Goldwasser, Siegmund* 789 Gomperz, Julius von 284 Gomperz, Theodor* 349 Gomperz-Bettelheim, Caroline von* 349
1030 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41
Goodman-Thau, Eveline 701 Göring, Hermann 504 Göth, Amon 477, 675, 823 Graetz, Heinrich 414 Graf, Cäcilie* 364 Graf, Heinrich* 363 Graf, Hermann* 363–364, 444 Graf, Rosa** 364 Granichstätten, Simon* 571 Grässel, Hans 388, 495–496 Gratz, Leopold 808 Grefe, Conrad 157, 159, 483–484 Gropper, Gustav* 334 Gross, Moritz* 863 Gross, Samuel 605 Grosz, Paul 681, 728 Grotte, Alfred 492–493 Grün, Rudolf 867 Grünbaum, Ilma** 561 Grünblatt, Anna* 666 Grünfeld, Chaim 912, 954 Grünfeld, Jehoshua Arieh 321 Grünfeld, Josef* 321 Grünfeld, Leib 954 Grünfeld, Rachel 321 Grünfeld, Richard Leo* 321 Grünwald, Albert* 598 Grunwald, Max 102–104, 114–115, 138, 143, 148, 153, 176–177, 198, 200, 202, 206, 222–223, 265, 280–281, 288, 326, 332, 486–487, 501–502 Güdemann, Bona* 439 Güdemann, Fanny 440 Güdemann, Franziska* 439 Güdemann, Ida 440 Güdemann, Moritz* 235, 248, 281–282, 285, 301, 320, 330, 332, 345, 372, 389– 391, 439–440, 486, 720 Guth, Alexander* 408 Guth, Emil* 408 Guth, Marie 407 Guth, Theodor* 408 Gutmann, David Ritter von 303 Gutmann, Meir Leib 313 Gutmann, Wilhelm Ritter von* 313
Personenregister
Haala, Johanna 251 Hacker, Ivan 679, 917 Hahn, Anshil 242 Haider, Jörg 817, 880, 964 Haider, Josef 863 Hainisch, Michael 373 Haman 286, 685, 711 Hammerschlag, Samuel* 323 Hand, Margarete/Grete** 789 Hanslick, Eduard 550 Harendorf, Moritz** 706 Hartmann, Moritz* 567 Haschemian, Ahmad 882 Hassan, Salomon* 436–437 Hassinger, Hugo 488–489, 543 Häupl, Michael 937, 958 Haydn, Joseph* 509 Hegele, Max 396 Heilpern, Josef 918 Heine, Heinrich 180 Heinrich der Löwe 457 Helfert, Joseph Alexander von 469 Herrman, Abraham 482 Herrschmann, Bernhard* 206 Hertzka, Josef* 237, 239 Herz, Elise* 499, 569, 572 Herz, Peter 888–891 Herz, Salomon Edler von* 234 Herzl, Jacob* 351 Herzl, Theodor* 20, 273, 349, 351, 372, 417–418, 501, 531, 617, 634, 692, 696, 769, 820, 882, 930 Herzlinger, Edith* 784 Heshel, Awraham Jehoshua 422 Heshel, Jacob 420 Heshel, Jitzchak Meir* 422 Heshel, Moshe* 422 Hift, Ludwig 640–641 Hilberg, Raul 705 Himlreich, Iacoben* 188 Himmler, Heinrich 543, 552, 618 Hiob 72 Hirschfeld, Ludwig** 503 Hirschhaut, Norbert* 356 Hirschl, Leona 867–868 Hirschl, Markus 153
1031
Personenregister 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41
Hirschl, Mayer 153 Hirschler, Helene* 806 Hitler, Adolf 364, 458, 460, 462, 503– 504, 554, 570, 581, 612, 675, 707, 712, 815, 833–834, 865, 887, 892, 941 Hitler, Klara 892 Hobsbaum, Nelly* 820 Hobsbaum, Percy* 820 Hobsbawm, Eric 68–69, 819–820 Höck, Georg* 253 Hock, Paul Freiherr von 96 Hodik, Avshalom 732, 913 Hodjaeva, Towa* 799 Hofbauer, Carl 159, 482–483, 510, 543 Hoffman, Ernest 873–874 Hoffmann, Eva/Eliasne* 665, 789 Hofmann, Isak Löw* 210, 234, 498, 567 Hofmann, Martha* 21–22 Hofmannsthal, Hugo von 210–211 Hollitscher, Johanna* 221 Holzer, Arthur* 712 Holzmeister, Clemens 396, 444, 447 Holzwarth, Anna* 253 Hönig, Aharon Moshe* 225–226 Hönig, Carl Edler von Hönigsberg* 227–228, 230, 237, 249 Hönig, Israel Edler von Hönigsberg* 154, 225, 227–230, 237, 499, 561, 566 Hönig, Jehuda Leib 225 Hönig, Max Edler von Hönigsberg 230 Hönigsberg, Francisca Edle von* 222, 237 Hönigsberg, Wolf Elieser Edler von 237 Hornstein, Josef/Gurarij* 429 Hornstein, Naftali Hakohen 429 Horowitz, David* 184, 186 Horowitz, Edel* 184 Horowitz, Israel 184 Horowitz, Josef/Jozsi* 646 Horowitz, Lazar* 212, 233, 282, 499, 570 Horowitz, Lewi Jitzchak 429 Horowitz, Sabbatai* 148, 518, 914–915, 935 Hrabak, Alfred 610 Hrabak, Kurt 610 Huber, Josef Daniel 162
Husserl, Sigmund
480
Igelberg, Ruth 651 Isaak ben Moses 91 Isack, Abraham* 342 Isai 186 Isak 172 Isak ben Elia Chalfan* 510 Isak ben Jomtow Uri* 175 Isaschar Beer ben Moses Pinchas* 913 Israel Isserl ben Moshe Shmuel Auerbach* 182 Israel, Rafael* 437 Israel, Sida* 437 Israel von Czortków* 416, 420–421, 426 Israel von Ruzhin 338–340, 414–417, 419, 421, 423, 426, 428 Jacques, Heinrich* 285 Jakob 75, 106, 237 Jakob ben Elieser* 173 Jakob Jehuda Lema ben Mordechai Pressburg* 181 Jakovlevic, Ivan* 747 Jászi, Oscar 201, 272, 352, 362, 442 Jehoshua 431 Jehuda 186, 321, 358 Jehuda ben Zwi Hirsch* 223 Jehuda Löb ben Bender Lippstadt* 186 Jeiteles, Fanny* 499, 569, 571 Jeiteles, Israel 38, 479 Jeitl bat Moshe Margulies* 178 Jellinek, Adolf* 89, 115, 119–120, 206, 213, 247–248, 271, 273, 282–283, 300– 301, 305–306, 319, 706–707 Jellinek, Emil 283 Jellinek, Hermann 282 Jellinek, Mercédès* 283 Jentl bat Simeon Wolf Auerbach 182, 246 Jerusalem, Erwin** 351, 783 Jerusalem, Irene** 783 Jerusalem, Wilhelm* 351 Jesus siehe Christus Jitzchak von Bohush 426 Jitzchak von Bojan* 338, 426–428
1032 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41
Joab 76 Jona 335–336 Jonatan 730 Joos, Anton 804 Josef 75, 237, 417 Josef Israel ben Gerson* 182 Joseph I., Heiliger Römischer Kaiser 178 Joseph II., Heiliger Römischer Kaiser* 153, 181, 193–195, 198–202, 226–228, 295, 504, 513 Josia 107 Jössel, Alfons* 604 Josua 76 Juda siehe Jehuda Judtmann, Fritz 715–716 Juer, Osias Isak* 824 Jung, Philipp Wilhelm 542 Jungreis, Jehoshua Zwi Halewi 914 Jury, Hugo 537 Kadmon, Richard* 806 Kadmon, Stella* 344, 806–807 Kadmon, Thilde* 806 Kahlich-Könner, Dora 544 Kalew Abraham ben Noach Moshe Yechiel* 170 Kaltenbrunner, Ernst 551, 675 Kanfer, Robert* 717 Kapralik, Charles 593 Kardo, Franz 867 Karl I., Kaiser von Österreich 352, 372 Karl VI., Heiliger Römischer Kaiser 154 Karo, Joseph 69 Katauschek, Leopold 873 Katz, Malvine* 792 Katz, Willy* 792 Kauder, Ignaz* 452 Kauders, Elsa 442 Kauders, Emmerich 442 Kauders, Gustav 442 Kauders, Regine 442 Kauders, Robert 442 Kauders, Siegmund* 387, 441–442 Kaufmann, Isidor* 328, 809 Kaufmann, Juliette* 328
Personenregister
Kaufmann, Philipp* 809 Kaufmann[owa], Josefine* 341 Kempler, Jakob** 779 Kempler, Rachael** 779 Kempler, Regine* 779 Khobler, Ernuest Sewastian* 189 Kieslinger, Alois 543 Kimmelmann, Oswald* 572 Kirschbaum, Menachem Mendel 624 Kirschner, Dora** 779 Kirschner, Hugo** 779 Kisch, Wilhelm 484, 510, 543 Klein, Arthur* 712 Klein, David 607 Klein, Emil 130–131 Klein, Emilie** 781 Klein, Hermann* 781 Klein, Ignatz* 355 Klein, Laci* 781 Klein, Martin* 130–131 Klein, Ruben Chaim* 736 Klein, Siegfried* 354–355 Klemperer, Victor 117, 623–625, 655– 656, 668 Klestil, Thomas 691 Klimt, Gustav 346, 459 Klüger, Ruth 586, 588, 650–651, 691, 705–706, 812 Klüger-Langer, Erna* 712 Klüger-Langer, Grete* 712 Knoll, Marion** 797 Knoll, Max** 797 Knoll, Valerie** 797 Kobler, Josef* 180 Koch, Heinz* 357–358, 922 Koch, Isak 802 Koch, Lea* 801–803 Koch, Rita 946–947 Kohn, Adolf 803–804 Kohn, Alfred [geb. 1880]** 803–804 Kohn, Alfred [geb. 1908]* 779 Kohn, Arpad* 355 Kohn, Charlotte* 240 Kohn, David 326 Kohn, Edith 644–645, 647 Kohn, Georg** 803
Personenregister 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41
Kohn, Gisela** 779 Kohn, Gittel** 803–804 Kohn, Gustav* 95–97, 303, 323–327 Kohn, Hilda** 803 Kohn, Jakob* 437 Kohn, Julie* 351 Kohn, Karl* 355 Kohn, Leonore* 95 Kohn, Lilly** 803 Kohn, Salomon** 803–804 Kokoschka, Oskar 346 Kolb, Ettie* 437 Kolinsky, Adolf* 567 Kollmann, Otto 641 Kommer, Alfred Raimund** 757–758 Kommer, Heinrich* 757–758 Kommer, Magdalena* 757 Kommer, Siegfried* 757–758 Kompert, Leopold* 292, 296, 305, 318– 319, 343–344 Kompert, Marie* 139, 319, 343–345 Koncicky-Schreiber, Leopold 131, 697 König, Franz 726, 945 König, Samuel* 316 Königsberg, Leibe* 249 Königswart, Barbara/Blümle* 248–249 Königswart, Breindl* 222–224 Königswart, Mendel 223 Königswart, Sanwil 223 Königswarter, Jonas Freiherr von* 235, 243, 280, 498 Königswarter, Moritz von 211, 284 Koppel Saks ben Elchanan* 182 Körber, Robert 541, 547–551, 557–558 Korn, Margit 784 Körner, Ignaz Hermann 500–501, 518, 522, 543, 551 Körner, Theodor 671 Korngold, Erich Wolfgang 366 Kornhäusel, Joseph 217, 852, 931, 972 Koromla, Friedrich Freiherr Schey von* 320 Kösten, Jakob* 804 Kotschy, Josef* 251 Kraemer, Jonas* 335 Kreisler, Georg 940
1033 Kral, Julius 596 Krall, A. J. 498 Kraus, Karl* 22, 461, 506 Kraus, Menachem* 424 Kraus, Mordechai Arieh Halewi 424 Kraus, Moritz* 246–247, 972 Kraus, Robert 936, 940 Kraus, Samuel* 666 Kraus, Wilhelm* 246–247, 972 Krauss, Samuel 71, 368–369, 486 Krausz, Gyozö* 666 Kreisky, Bruno* 22, 694, 733, 808 Krell, Cary** 797 Krell, Diana** 797 Krell, Hermine* 797 Krell, Wilhelm* 716, 747, 796–797, 860, 863, 872, 888–889, 901 Krenek, Ernst 460 Kreuter, Hugo 557 Kristianpoller, Alexander** 606–607 Kristianpoller, Ida** 607 Krosigk, Johann Ludwig von 524 Krüger, Berta* 344–345 Kubek, Greta 948 Kuffner, Baron Alois von/de* 322 Kuffner, Ignaz Edler von 320, 322 Kuffner, Moriz/Moritz Edler von 303, 930 Kuffner, Rosalie Edle von* 320 Kuffner, Wilhelm* 930 Kummermann, Anna* 745 Kuranda, Ignaz* 273, 280–282, 292, 305, 319, 969 Kurz, Sebastian 698 Kuschnir, Isaak* 800 Kuttenplan, Elieser siehe Hönig, Carl Edler von Hönigsberg Lackner, Franziska/Ninni 929–930 Ladenburg, Julie* 248 Laendler, Josef* 744 Lämel, Leopold Ritter von* 566–567 Lamm, Maurice 74–75, 92, 99, 101, 108, 112 Landau, Ezechiel 211 Landauer, Vincenz* 237, 247
1034 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41
Landesmann, Hirsch siehe Zwi aus Kuttow Landesmann, Toltze* 243 Langers, Leopold 918 Langfelder, Fritz* 597 Lanner, Joseph* 263 Lanser, Andreas* 251 Lapide, Pinchas 690 Laufer, Jakob* 597 Lazius, Wolfgang 141, 487, 512 Leerer, Marie* 654 Leerer, Max* 654 Lehár, Franz 459 Lehr, Ella Gisela Maria* 631 Leidesdorf, Löw* 735 Lemberger, Josef* 251 Lemkin, Raphael 475 Lemo, Abraham** 781 Lemo, Martha** 781 Lenk, Sophie* 803 Leopold I., Heiliger Römischer Kaiser 114, 149, 151 Leopold II., Heiliger Römischer Kaiser 566 Leopold V., Herzog von Österreich 142 Leopoldi, Hermann* 811 Letteris, Max* 568 Lewi Jitzchak* 338–339, 426, 489 Lewin, Edith 585–586 Lewinger, Edmund* 232 Lewinger, Jehudit 238 Lewinsky, Arnold* 620 Lichtmann, Wilhelm 653 Liebermann, Alois* 441 Liebermann, Otto 441 Limbeck, Johann* 319 Lindtner, Wolffganng* 188–189 Lindtnerin, Juliana* 189 Linz, Israel siehe Josef Israel ben Gerson Lion, Erwin* 810 Lipa, Julius* 436 Lipman ben Josef* 175 List, Emanuel* 800 List, Johanna* 800 Löbe, Paul 19 Löbl, Arthur* 355 Loeffler, Lothar 544, 546
Personenregister
Loewit, Franziska* 351 Löffler, Ernestine 621 Löffler, Hermann 621 Lonner, Elsa* 596 Lonner, Emil* 596 Lonner, Hans** 596 Loos, Adolf 285 Löwe, Fritz 644 Löwenherz, Josef 16, 474, 532–535, 538– 539, 553, 563, 574, 576–580, 601, 609, 621, 629, 652, 674 Löwner, Ernst** 782 Löwner, Josef* 441, 782 Löwner, Rosa** 782 Löwy, Isidor** 608–609, 706 Löwy, Jakob 211 Löwy, Julius* 345 Löwy, Rosa* 345 Lubczer, Jakob* 737 Lueger, Karl 37, 283, 332, 369, 384, 486, 489–490, 504–505, 512, 517, 523, 528, 931 Luther, Martin 126 Magyar, Alexander* 323 Magyar, Katharina* 323 Magyar, Ludwig* 323 Mahler, Gustav* 49, 531 Mahler, Raphael 414 Mahler, Robert* 585–586 Mahler-Werfel, Alma 15 Mailath-Pokorny, Andreas 960 Maimonides 87–88 Majo, Jakob de* 246 Majo, Josef de* 227, 242, 246 Majo, Simajo de* 238, 242 Malcolm X 784 Mandel, Aron Leiser* 809 Mandelbaum, Bernhard* 59–61 Mandelbaum, Fritz siehe Morton, Frederic Mandelbaum, Henriette** 59–61 Mandelbaum, Markus** 706 Mandelbaum, Theresia* 61 Mandelstam, Ossip Emiljewitsch 800 Mannheimer, Isak Noa[h]* 119, 205– 207, 212, 218, 232–233, 282, 329, 499, 514, 562, 570–571
Personenregister 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41
Manoach Hendl ben Shemaria* 180 Marboe, Peter 937 Marcovici, Anette* 801 Marcus, Alfred** 783 Marcus, Clara** 783 Marcus, Sophie** 783 Marek, Bruno 719, 724 Margolin, Marie* 712 Maria Theresia, Heilige Römische Kaiserin* 153–154, 195, 199, 201 Markl, Hans 507, 929–930 Marmorek, Oskar* 303, 346, 486 Masaryk, Thomas 935 Mátyás, Mathias** 606–607, 706 Maurer, Emil 695, 697–699, 713, 721, 724, 733, 837 Mauthner, Else* 561 Mayer, Carl* 348 Mayer, Elisabeth* 238, 251 Mayer, Jacques* 436 Mayer, Siegmund 639 Mayer, Sigmund 232, 337 Mayersohn, Meir* 429–430 Mayreder, Karl 311 Meir ben Baruch Halevi 176 Meir ben Sussmann* 183 Meitner, Lise 366 Melzer, Sarah* 348 Menachem Nachum Dow von Sadigora* 338–340, 426–427, 489 Menachem Nachum von Czernowitz* 338, 426, 428 Mendelsohn, Daniel 820 Mendelssohn, Moses 114, 150, 483 Mendl, Fritz 347 Mendl, Heinrich* 347 Mendl, Josefine* 347 Merksamer, Helene** 602 Meysels, Lucien 732 Meyszner-Strauss, Alice 458 Mezei, Ilse* 636–637, 639–640, 644–645, 647–650, 653, 667–668, 713 Mezei, Kurt* 616–617, 636–637, 640– 650, 653–654, 668, 709–710, 712–713 Mezei, Margarete 637, 640, 653, 710 Mezei, Moritz** 640, 712
1035 Michelstädter, Arthur 451 Michelstädter, Helene* 451 Michelstädter, Samuel Eduard* 451 Michla bat Isak* 169–170 Mieses, Jacob Osias* 431 Mittelmann, Moritz* 437 Moll, Leopold* 435 Mordechai 169, 685 Mordechai ben Israel Shmuel* 169 Mordechai Shraga von Husjatyn 423 Morgenstern, Josef 96 Morton, Frederic 59–61, 63, 508 Mosenthal, Salomon Ritter von* 569 Moser, Jonny* 797 Moses 103, 242, 332, 431, 729, 746 Moses, Leopold** 522, 543, 568 Moshe ben Shimshon* 170, 173, 176 Moshe ben Shmuel Makshan Hakohen* 185 Moshe Jakob ben Menachem Manesh Shik* 169–170, 177 Moshe Maor Katan* 181 Moshe Shalom ben Jehoshua Chaim Grüßgott* 423–424 Möslein, Helly* 811 Mosseri, Abraham* 341 Mozart, Wolfgang Amadeus* 194, 250, 263, 829 Müller, David Heinrich 514 Müller, Netti** 803–804 Müllner, Achatzy* 187–189 Munk, Heinrich* 351 Münz, Josef* 333 Münz, Zwi 333 Murmelstein, Benjamin 601, 641 Musil, Robert 319 Muzicant, Ariel 961–963 Nachman von Brazlaw 419 Naftali Hirtz ben David Wohl* 178–179 Nagler, Frieda 603–604 Napoleon I., Kaiser der Franzosen 934 Naschitz, Cäcilie** 452 Naschitz, Fritz* 452 Naschitz, Hugo 452 Naschitz, Markus** 452
1036 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41
Neeman, Meir 370 Nehemia 12, 74, 675 Nestroy, Johann* 263, 265, 935 Netanjahu, Benjamin 697 Neufeld, Hans 641 Neufeld, Hildegard 641 Neufeld, Inge 641 Neumann, Moritz* 863 Neumark, Heinz [geb. 1876]** 780 Neumark, Heinz [geb. 1918]** 780 Neumark, Lina** 780 Neumark, Oskar* 780 Neurath, Adolf* 351, 782 Neurath, Elisabeth* 351, 782 Neurath, Stephanie** 782 Neuschiller, Georg* 640–641 Neuschiller, Rosa** 641 Neuwirth, Lisellote** 639 Neuwirth, Mirjam 639 Nikola, Josef* 260 Nikolaus I., Kaiser von Russland 415 Nimhin, Adolf* 436, 802–803 Nirenstein, Jacob* 346 Noach 173, 227 Noomi 248 Oberländer, Adolf 389 Obst, Ernst** 605 Oehler, Isidor 706 Ofner, Julius* 440, 550 Opler, Harry 763 Oppenheimer, Lea* 186–187 Oppenheimer, Samuel* 153, 161, 509, 517, 915 Ornstein, Anna* 354 Ornstein, Emil* 353–354 Ornstein, Filip* 354 Osterhammer, Balthasar 160 Pagler, Walter 923, 925 Papo, Elfriede** 342 Papo, Laura** 342 Papo, Manfred* 342, 809–810 Papo, Michael* 342, 809 Papo, Rachel** 342 Pappa Georg, Peter* 252
Personenregister
Pemmer, Hans 261, 488–489, 929–930 Pereyra, Sara* 164, 170–171, 183–184 Peschek, Hugo 632 Petrin, Leodegar 521 Pfeiffer, Emil* 709–710, 712 Pfoch, Hubert 909, 912–913 Pick, Alois* 16–17, 807–808 Pick, Anton 879 Pick, Josef** 501–502 Pick, Regine* 808 Pick, Robert 570, 807, 814–816 Piron, Mordechai 794 Pixner, Minna* 803 Placzek, Adolf 316 Placzek, Oswald* 316 Placzek, Pauline 316 Placzek, Susanne 316 Poglar, Alfred* 257 Pollack, Wilhelm 602 Pollak, Avraham 100–101 Pollak, Bertha** 347 Pollak, Emil 652–653 Pollak, Friedrich* 347 Pollak, Ida** 347 Pollak, Jakob Eduard* 882 Pollak, Margarethe** 602 Pollak, Regine 601–602 Pollak, Samuel* 236 Pollak von Rudin, Richard* 561 Ponzen, Leopold 444, 450 Pories, Hans/Hansl 643 Potasman, Iso/Iszo 868–869 Potemkin, Grigori Alexandrowitsch 285 Prammer, Barbara 958, 960 Pressburger, Aharon** 793 Pressburger, Gittel** 793 Pressburger, Josef 793 Pressburger, Lea* 793 Pressburger, Malvine 246 Pressburger, Shmuel* 793 Pressburger, Valerie* 246 Prˇibram, Alfred Francis 486–487 Probst, Hans Tita 962 Pröll, Erwin 945–946 Prugl, Barbara* 189–190
1037
Personenregister 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41
Prugl, Georg* 188–189 Prugl, Walburch* 189 Quastler, Moses
745
Raab, Julius 853 Rabinowicz, Harry 86, 116, 144 Rabinowitsch, Baruch Pinchas* 424 Rabinowitsch, Elieser Chaim 424 Rabinowitsch, Jitzchak 424 Rabinowitsch, Zwi Hirsch* 424 Rachel 106 Rachel Lewia bat Salman* 185 Radish bat Aharon* 184 Raimund, Ferdinand 509 Ratner, Chana* 790–791 Ratner, Shlomo* 790–791 Realis siehe Coeckelbergh-Dützele, Gerhard Robert Walter von Redlich, Josef* 349 Reich, Alois 604 Reichmann, Arthur 598, 601, 634, 642– 643 Reichmann, Georg 603 Reichmann, Hans 601 Reichmann, Max* 620 Reichner, Abraham* 609 Reichner, Amalie** 608 Reinhardt, Heinrich 388 Reinhardt, Max 506 Reiser, Ignaz 395, 397 Reisl bat Moses Wertheim* 169 Reisner, Rose* 577 Reiss, Blima** 782 Reiss, Edmund* 782 Reiss, Schulem** 782 Reiszner, Franz 920 Reitlinger, Carl Ludwig Theodor* 805– 806 Reitlinger, Lily 806 Rendi, Michael 769 Rendi, Peter* 769, 810 Rendi-Wagner, Pamela 769 Richter, Elise** 286 Riss, Egon 715 Riwka bat Shlomo* 184
Roosevelt, Franklin D. 504, 905 Rosen, Elias** 801–802 Rosen, Feiga** 801 Rosen, Schewa** 801 Rosenbaum, Wilhelm* 805 Rosenberg, Alfred 428, 457–458, 530 Rosenfeld, Benjamin* 773 Rosenfeld, Jael* 773 Rosenmann, Moses 205, 211, 231–232, 273 Rosenthal, Theresia* 237 Rosner, Salomon* 333 Roszenfarb, Clara 784 Roth, Ernst 66, 77, 85, 107, 119, 128, 139, 761, 768, 952 Roth, Joseph 63–64, 353, 363, 366, 375– 376, 379, 461, 581, 803 Roth, Paula** 639 Rothschild, Albert Freiherr von* 310 Rothschild, Anselm Freiherr von 284 Rothschild, Bettina Freifrau von* 345 Rothschild, Charlotte Freifrau von 111 Rothschild, Louis Nathaniel Freiherr von* 809 Rothschild, Nathaniel Freiherr von* 310 Rothschild, Salomon Freiherr von 284, 358 Rothstock, Otto 453–454 Rotter, Hans 114–115, 489 Roubitschek, Kurt* 789 Rubinstein, Hermann** 599, 602 Rubinstein, Jacques* 323 Rubenstein, Jetti** 784 Ruchma Shewa bat Awraham Jakob* 421–422 Rudel, Beresch* 779 Rudics, Almási Dániel* 252 Russo, Helene* 341 Russo, Menachem Abram* 236, 243 Russo, Mirjam* 239 Ryvarden, Fritz 630–631 Ryvarden, Yuana Hilde* 629–631, 726 Saadi 882 Sailer, Leopold
489–490
1038 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41
Salomon 724 Salten, Felix 15 Samuel 76 Samuel Hanagid 177 Sandila bat Manoach* 184 Sara 75, 169 Sara Ester bat Simeon* 123–124, 184 Sara Hendl bat Awigdor* 169, 184 Saul 84, 730–731 Saxl, Heinrich** 652 Saydun, Chaim 805 Saydun, Yuda Arslan* 805 Schablin, Lucie* 345–346 Schablin, Simon* 345–346 Schaier, Genia* 712 Schaller, Katharina* 238 Schaller, Maria* 238 Schapira, David 688–689 Schapira, Isidor* 335 Scheiber, Ernst 945–946 Scheier, Martin 654 Scheiner, Benjamin* 320, 334 Scheiner, Josef* 334 Scheiner, Lea* 334 Scherbing, Elisa 620 Scheuch, Richard 541 Schiele, Egon 346 Schiller, Friedrich 346, 803 Schimek, Josef 743, 885 Schimmer, Karl August 484 Schimmer, Karl Eduard 484, 543 Schindler, Ernest/Ernstl 611 Schindler, Josefine/Miriam* 786–787 Schirach, Baldur von 459, 462–463, 554, 663 Schmid, Fridrich* 188–189 Schmidt, Heinrich 749 Schmidt, Michael 252 Schmieger, Adolf 114–115, 489 Schmitz, Richard 409 Schneider, Ida* 605 Schneider, Viktor 541, 547–548, 551– 552, 554–557, 734, 847, 906 Schnitzer, Adolf* 346 Schnitzer, Sophie* 346
Personenregister
Schnitzler, Arthur* 15–21, 23, 45, 89, 97, 233, 366, 439–440, 571, 800–801, 808, 811, 815–816, 897–899, 902, 904, 933, 938, 940, 948, 954, 957 Schnitzler, Heinrich* 15, 17–18, 897 Schnitzler, Julius* 17–19 Schober, Johann 373, 444–445 Scholl, Hans 713 Scholl, Sophie 713 Scholz, Kurt 956 Schönberg, Arnold* 22, 353, 366, 506, 856, 932 Schönmann, Anna* 221, 253 Schönmann, Maria* 253 Schönmann, Mathias* 253 Schreiber, Arthur** 781 Schreiber, Emma 893 Schreiber, Jiri 751 Schreiber, Josefine** 781 Schreiber, Leopold* 781 Schreiber, Lili** 781 Schreiber, Margit** 781 Schreiber, Miriam* 781 Schreiber, Pavel 751 Schreiber, Sari** 781 Schreiber, Theodor 521, 527, 529, 572, 598, 601, 893 Schreiber, Tivadar 781 Schreiber, Zoli** 781 Schrems, Karl 918 Schreuder, Marco 959 Schröder, Franz* 252 Schubert, Franz* 20, 263, 330, 507–508, 933 Schuschnigg, Kurt 363–364, 383–384, 449 Schwab, Adolf* 322 Schwager, Max 325–326 Schwarz, Adolf* 437 Schwarz, Antonie** 130 Schwarz, Eduard/Edmund* 236, 569 Schwarz, Hermine** 797 Schwarz, Ignaz 141, 487, 490 Schwarz, Isidor** 797 Schwarz, Karl 492 Schwarz, Osias* 790
Personenregister 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41
Schwarz, Taube** 790 Schwarzbart, Arthur* 444 Schwed, Siegfried* 624 Schweiger, Albert** 606–607 Schweiger, Emma** 607 Segal, Jehuda Ze’ew 423–424 Seifert, Esriel 92 Seitz, Karl 19, 411 Semper, Gottfried 311 Seyss-Inquart, Arthur 941 Shakespeare, William 483 Shalom ben Nissim* 169–170, 186 Shalom Josef von Sadigora 338–339, 426 Shek, Zeev 719, 722 Shlom 142 Shlomo Salman Vite ben Chaim* 183 Shmuel ben Mendel Oppenheim* 174 Shmuel Phöbus ben Abraham Ötting* 182 Shmuel Phöbus ben Moshe Aharon Lemml* 186 Shonlin* 168–170 Sichrovsky, Josef* 89 Sichrovsky, Heinrich Ritter von* 567 Signer, Felix* 335 Silberwasser, Adolf** 784 Simcha ben Chaim* 182 Simeon ben Gamaliel 108–109 Simeon ben Michael Pressburg* 179– 180 Simeon Wolf Auerbach 182 Singer, Louise* 247 Sinzheim, Beila* 242–243 Sinzheim, Simeon 242–243 Smirnova, Elena Leah* 800 Smolka, Timothy 684, 695 Sofer, Moses 84, 685 Sommer, Emil* 447–448, 451–452 Sonnenfels, Joseph von 550 Sonnenthal, Olga* 247 Sonnenthal, Richard* 247 Spennadel, Else 782 Spennadel, Friedrich** 782 Spennadel, Jakob 782 Spennadel, Jeanette 574–575
1039 Spennadel, Otto* 574, 781–782 Spennadel, Rosa* 782 Sperber, Manès 841 Spiel, Hilde 678–679 Spindelegger, Michael 967 Spitz, Anna* 246 Spitz, David 246 Spitz, Philipp* 246 Spitzberger, Emma 322 Spitzberger, Josef* 321–322 Spitzer, Daniel 261–262, 294 Spitzer, Karl Heinrich* 206 Springer, Adalbert von 630 Springer, Gustav 765 Springer, Max Freiherr von* 320 Stadler, Emilie* 797 Stadler, Josef* 797 Stangl, Franz 675 Stauda, August 517 Steinberger, Ignaz* 347 Steiner, Eduard** 505 Steiner, Gabor 505 Steinhof, Bernhard* 347 Stern, Alfred* 96, 276–278, 303, 376, 387–388, 409, 509, 519, 754 Stern, Margaretha Josefine Emilie* Stern, Maximilian Emanuel* 482, 568– 569 Stern, Rudolfine* 779 Stern, Samuel** 779 Stern, Wilhelm/Willy* 641, 810 Sternschein, Ernestine* 436 Stiassny, Wilhelm* 197, 299, 303, 310, 395, 484–486, 500, 510, 513–514, 517, 569, 576, 724, 809 Stiegnitz, Peter 686 Stourzh, Gerald 727 Stowasser, Otto Hellmuth 490 Strauss, Adele* 460 Strauss, Johann Michael 457–458 Strauss, Johann (Sohn)* 457–461, 503, 506, 935 Strauss, Johann (Vater)* 263, 506 Strauss, Josef* 250 Strauss, Karl* 437 Stricker, Robert** 362
1040 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41
Sucher, Paula 639 Sulzer, Josef* 96, 440 Sulzer, Josef Jakob 329 Sulzer, Salomon* 96, 207, 305–306, 313, 319, 329–331, 440, 875, 922, 969 Sümegh, Ignaz* 436 Sussmann, Heinrich* 715, 721 Szanto, Josef* 569 Szinetar, Eva siehe Hoffmann, Eva/Eliasne Taglicht, Israel 449 Teixeira de Mattos, Anna* 237, 244–245 Teixeira de Mattos, Joseph Henry* 244– 245 Tessler, Sara 920–921 Thomasberger, Kurt 19 Tietze, Hans 268, 469, 490 Tintner, Rudolf* 623 Toch, Josef 909–914 Todesco, Eduard von* 351 Todesco, Hermann* 459, 566 Todesco, Johanna* 237, 245, 349 Toeplitz, Erich 493–495 Torberg, Friedrich* 17, 808, 933, 938 Tröster, Andreas 542, 546–551, 557–558 Tschiassny, Moritz 377 Tuchmann, Emil 689 Tuppa, Karl 544, 546 Tur-Sinai, Naftali Herz 381 Tuter, Rachel* 669, 726 Uherek, Ludmilla* 253 Ullmann, John Emanuel 359, 373–374, 898, 976–977 Unger, Josef 550 Urach, Chana* 784, 792 Uri, Fritzi* 796 Uri, Max* 749, 784, 796 Uriah 76 Vallaster, Josef 923 Veith, Johann Emanuel 567 Veith, Josef* 567 Vergesslich, Abraham** 798 Vergesslich, Chaja Klara** 798 Vergesslich, Frederik** 798
Personenregister
Vergesslich, Hermann** 798 Vergesslich, Leon** 798 Vergesslich, Maximilian* 797–798, 805 Vergesslich, Moshe** 797–798 Vergesslich, Taube** 798 Vertlib, Vladimir 769–770 Vogel, Blanka** 644 Vogel, Josef* 781 Vogel, Lotti** 781 Vogel, Marie** 781 Vogel, Martin 574, 610–612 Vogel, Natalie** 781 Vogel, Norbert** 781 Vranitzky, Franz 880 Waal, Edmund de 243, 285–286, 315 Wachsler, Jakob* 354 Wachsler, Julie* 354 Wachsler, Siegfried 354 Wachstein, Bernhard* 120, 138, 145, 151–152, 155–156, 158, 161, 163–165, 167, 173–177, 180, 182, 186, 433–434, 485–487, 490, 500, 511, 543, 545, 880, 913, 945 Wachstein, Moshe 434 Wachter, Josef 596 Wagner, Otto 397 Waldinger, Ernst 363–364, 662, 816 Waldinger, Salomon* 816 Wallner, Heinz siehe Fireside, Harvey Walzer, Tina 950–956, 959–960, 973 Wandruszka, Adam 930–931 Wassermann, Jakob 16 Wassermann, Martha 16 Wastl, Josef 575 Weber, Emanuel* 327–328, 348, 784 Weber, Harry* 774, 809, 960 Weber, Lotte 784 Wechsler, Norbert* 347 Weidl ben Shmuel Lemml* 177–178 Weigel, Hans* 933 Weil, Jonas* 745 Weil, Rosa* 745 Weinberg, Jechiel Jaakov 759–761, 768 Weininger, Otto 935
Personenregister 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41
Weintraub, Alfred Siegfried siehe Werner, Alfred Weisbach, August 751 Weiss, Leopold** 706 Weiss, Lothar 780 Weiss, Susanne 780 Weissenberg, Heinrich* 743–744 Weissner, Rosa* 666 Weisz, Ignatz* 863 Weisz, Malvine* 863 Wellisch, Israel* 322 Welt Trahan, Elisabeth 649–650, 652– 653 Werfel, Franz* 15, 353, 366, 506, 659– 661, 663, 720 Werner, Alfred 661, 793 Wertheim, David* 568 Wertheim, Emanuel* 229 Wertheim, Franziska* 229 Wertheim, Marie* 574 Wertheimber, Emilie* 316 Wertheimber, Siegfried Philipp* 231 Wertheimer, Josef Ritter von 280 Wertheimer, Margarethe Elvira** 783 Wertheimer, Marianna* 238 Wertheimer, Samuel* 224 Wertheimer, Samson* 123, 166, 173, 177, 224, 509, 517, 568, 914 Wertheimstein, Josefine von* 350 Wertheimstein, Leopold von* 280, 349– 351 Wertheimstein, Rosalia von* 349 Wertheimstein, Sigmund Edler von 211 Wertheimstein, Wilhelm von* 350 Weyr, Thomas 668 Whiteread, Rachel 818 Widukind 457 Wiedenfeld, Hugo von 311 Wiener, Adele* 743–744 Wiener von Welten, Alfred* 337, 340
1041 Wiener von Welten, Eduard* 336–337, 340 Wiener von Welten, Henriette* 340 Wiener von Welten, Rudolf* 337 Wiesenthal, Cyla* 799 Wiesenthal, Simon 675, 680, 689, 718, 748, 799, 830, 834–835, 861, 899–903, 928, 937 Wilson, Woodrow 371 Winkler, Marie* 598 Winter, Bernhard* 436 Winter, Gertrude** 442 Winter, Gisela* 436 Wistrika, Pisko 883 Wittgenstein, Ludwig 366, 939 Wodak, Erna* 809 Wodak, Walter* 809 Wolf ben Mordechai Margulies Jafeh* 170 Wolf, Gerson 71–72, 93–95, 104, 119, 147–149, 151, 157, 177, 196, 200, 203, 215, 218, 231, 273, 294–296, 300, 483, 487, 510, 543 Wolf, Ignatz* 239 Wolff, Lion 125–126 Zacherl, Johann 311 Zdekauer, Anna Luise Auguste* 252 Zdekauer, Joseph* 252 Zelman, Leon* 798, 817 Zelman, Schajek** 798 Zerner, Josef* 316, 971 Zhvitiashvili, Misha* 805 Zilk, Helmut 881, 913 Zirkiev, Shmuel* 799 Zürner, Georg Adam 215 Zweig, Alfred 783 Zweig, Charlotte 783 Zweig, Stefan 353, 366, 506, 783 Zweig, Stefanie 783 Zwi aus Kuttow* 109, 568