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German Pages [272] Year 2001
FRIEDRICH
EDELMAYER/
ERICH LANDSTEINER/RENATE DIE GESCHICHTE DES WELTHANDELS UND DER
PIEPER
(Hg.)
EUROPÄISCHEN WIRTSCHAFTLICHE
GLOBALISIERUNGSPROZESS
QUERSCHNITTE BAND 5 EINFÜHRUNGSTEXTE ZUR SOZIAL-, WIRTSCHAFTS- UND KULTURGESCHICHTE Herausgegeben von Ingrid BAUER, Salzburg Birgit BOLOGNESE-LEUCHTENMÜLLER, Wien Markus CERMAN, Wien Friedrich EDELMAYER, Wien Franz X. EDER, Wien Peter EIGNER, Wien Peter FELDBAUER, Wien (geschäftsführend) Johanna GEHMACHER, Wien Margarete GRANDNER, Wien Sylvia HAHN, Salzburg Gernot HEISS, Wien Renate PIEPER, Graz Reinhold REITH, Salzburg Andrea SCHNÖLLER, Wien (Lektorat) Eduard STAUDINGER, Graz Heidemarie UHL, Graz Marija WAKOUNIG, Wien für den Verein für Geschichte und Sozialkunde (VGS) c/o Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien, Dr. Karl Lueger-Ring 1, A-1010 Wien
FRIEDRICH EDELMAYER ERICH LANDSTEINER RENATE PIEPER (Hg.)
Die Geschichte des europäischen Welthandels und der wirtschaftliche Globalisierungsprozeß
2001 VERLAG FÜR GESCHICHTE UND POLITIK WIEN R. OLDENBOURG VERLAG MÜNCHEN
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Die Geschichte des europäischen Welthandels und der wirtschaftliche Globalisierungsprozeß / Friedrich Edelmayer .... - Wien: Verl. für Geschichte und Politik; München: Oldenbourg, 2001 (Querschnitte; Bd. 5) ISBN 3-486-56536-2 R. Oldenbourg Verlag München ISBN 3-7028-0375-0 Verlag für Geschichte und Politik Wien Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur sowie der Kulturabteilung der Botschaft von Spanien in Wien DIRECCIÓN GENERAL DE RELACIONES CULTURALES Y CIENTIFICAS MINISTERIO DE ASUNTOS E X T E R I O R E S DE E S P A Ñ A
© 2001. Verlag für Geschichte und Politik Wien Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Layout/Satz: Marianne Oppel Umschlaggestaltung: Jarmila Böhm Karten: Roman Dangl Druck: Druckerei Berger, 3580 Horn, Wiener Straße 80 Titelbild: Erdglobus von 1745 in einer Armillarsphäre; Ausschnitt aus einem Foto in: Peter E. Allmayer-Beck (Hg.), Modelle der Welt. Erdund Himmelsgloben. Kulturerbe aus österreichischen Sammlungen. Wien, Christian Brandstätter, 1997: Umschlag und S. 155. Wir danken Peter E. Allmayer-Beck für die freundliche Genehmigung zur Verwendung der Abbildung. ISBN 3-7028-0375-0 Verlag für Geschichte und Politik Wien ISBN 3-486-56536-2 R. Oldenbourg Verlag München
INHALT
FRIEDRICH
EDELMAYER/ERICH RENATE
PIEPER
Einleitung HERBERT
LANDSTEINER/
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KNITTLER
Europas Wirtschafts- und Handelsräume am Vorabend der atlantischen Expansion 12 RENATE
PIEPER
Die Anfänge der europäischen Partizipation am weltweiten Handel: Die Aktivitäten der Portugiesen und Spanier im 15. und 16. Jahrhundert 33 HELFRIED
VALENTINITSCH
Ost- und westindische Kompanien Ein Wettlauf der europäischen Mächte 54 ULRICH
MÜCKE
Der atlantische Sklavenhandel. Globalisierung durch Zwang ERICH
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LANDSTEINER
Nichts als Karies, Lungenkrebs und Pellagra? Zu den Auswirkungen des Globalisierungsprozesses auf Europa (1500-1800) 104 WALTHER
L.
BERNECKER
Liberale Wirtschaftspolitik und Integration in den Welthandel. Mexiko im 19. Jahrhundert 140
SILKE
HENSEL
Die Entstehung einer Dritten Welt. Die Ursachen von Unterentwicklung am Beispiel Lateinamerikas 182 NIKOLAUS
REISINGER
Das Zeitalter des Hochimperialismus Europas Aufbruch zur Weltwirtschaft 207 EDUARD
STAUDINGER
Politische, kulturelle und ökonomische Aspekte der internationalen Beziehungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts 219 Autorinnen und Autoren
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EINLEITUNG
FRIEDRICH
EDELMAYER
ERICH LANDSTEINER
- RENATE
PIEPER
Die Konzepte der Entwicklung, Unterentwicklung und Modernisierung bestimmten bis zum Beginn des letzten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts die Diskussion über das Verhältnis zwischen den verschiedenen Wirtschaftsregionen der Erde. Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Blick der Forschung noch wesentlich darauf gerichtet, den Einfluß Europas in anderen Regionen der Welt, wie er sich in der Zeit des Hochimperialismus überdeutlich manifestiert hatte, als ein Zeichen der Modernisierung zu sehen. Man prüfte, ob durch die Kolonisierung europäische Lebens- und Verhaltensnormen sowie Technologien erfolgreich in andere Weltregionen übertragen worden seien, und ging davon aus, daß westliche Wirtschafts- und Lebensformen sowie eine Industrialisierung stufenweise auch in anderen Teilen der Erde erfolgen würden. Dagegen betonte die Forschung in den siebziger Jahren, in Abkehr von dem zunächst die Diskussion bestimmenden Rostowschen-Stufenmodell (Rostow 1960) - welches für die Entwicklungsländer eine zeitverschobene Neuauflage des Phasenmodells der westeuropäischen Wirtschaftsgeschichte vorausgesagt hatte -, daß die Kolonisation der Erde durch die Europäer und die anschließende Dekolonisierung das Problem der unterschiedlichen und ungleichen Entwicklungen nicht beseitigt habe. Vielmehr, so die These, verblieben andere Weltregionen auch ohne formale koloniale Zugehörigkeit weiterhin in Abhängigkeit von Europa und dem sogenannten Westen. Dieser Ansatz, der unter dem Begriff der Dependenztheorie (Bernecker/ Fischer 1995) Eingang in die historische Forschung und den politischen Diskurs fand, ist in den späten achtziger und in den neunziger Jahren, nach dem Auseinanderbrechen der beiden großen politischen
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Friedrich
Edelmayer
-
Erich Landsteiner
- Renate
Pieper
Blöcke, durch den Begriff der Globalisierung abgelöst worden. Nun wird nicht mehr gefragt, wie unterschiedliche Entwicklungen in verschiedenen Teilen der Erde zu erklären sind, sondern es wird untersucht, ob die neuesten Kommunikationstechnologien Unterschiede nivellieren können und die Welt zu einem „globalen Dorf" werden lassen. Durch die zunehmende Vernetzung, so die implizite Hoffnung, würden sich die ökonomischen und sozialen Unterschiede in den verschiedenen Weltregionen von selbst ausgleichen. Was politische Programme und Entwicklungshilfemaßnahmen nicht geschafft haben, sollen nun Informationstechnologien vollbringen. Damit stellt sich das Konzept der Globalisierung in einen bewußten Gegensatz zur Dependenztheorie, die behauptete, daß gerade die Verbindung zwischen den verschiedenen Weltregionen, wie sie sich seit dem ausgehenden Mittelalter manifestierte, zu den deutlichen Entwicklungsunterschieden und zur Misere in der sogenannten Dritten Welt geführt habe. Die Grenzen des Globalisierungsprozesses sind denn auch bereits diskutiert worden (Altvater/Mahnkopf 1996). Der vorliegende Sammelband er basiert auf den Texten einer Ringvorlesung an den Universitäten von Wien und Graz im Wintersemester 2000/01 - soll daher die Diskussion zwischen den Verfechtern der Dependenztheorie und des Globalisierungskonzeptes in einen historischen Kontext stellen und fragen, wie sich die Beziehungen zwischen verschiedenen Weltregionen im Verlauf von 500 Jahren entwickelten, und welche Stellung in diesem Zusammenhang die Europäer einnahmen. Allen Ansätzen, denen der Globalisierung, der Dependenz und der Modernisierung, ist gemeinsam, daß sie implizit von einer bereits lang andauernden, permanenten europäischen Überlegenheit über Asien, Afrika und Amerika ausgehen. Dabei kommt dem überregionalen Handel als wichtigem Medium für die Verbindung zwischen verschiedenen Erdteilen eine zentrale Rolle zu. Insbesondere die der Dependenztheorie verpflichtete historische Forschung hat wiederholt darauf hingewiesen, daß durch den Überseehandel koloniale und postkoloniale Abhängigkeitsmuster entstanden seien (Wallerstein 1974). Gegner dieser Auffassung weisen darauf hin, daß der Außenhandel selbst im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert nur einen geringfügigen Teil der Wirtschaftsaktivitäten der jeweiligen Regionen ausmachte und noch ausmacht (O'Brien/Prados de la Escosura 1998). So ist es nicht nur eine Frage der Historiker und der politischen Entscheidungsträger, sondern auch der Ökonomen, welche Rolle dem überregionalen Handel für die regionalen Wirtschaftsentwicklungen und die sozialen Strukturen zukommt.
Einleitung
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In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß sich der überregionale Handel vornehmlich auf solche Produkte konzentriert, die ein günstiges Verhältnis zwischen Wert und Volumen aufweisen oder die von strategischer Bedeutung sind, so daß selbst hohe Transportkosten in Kauf genommen werden. Dies war im Mittelalter bei Seide und Salz der Fall, heute gilt dies beispielsweise für Erdöl. Aber nicht nur Transportkosten und Transportmöglichkeiten standen Handelsbeziehungen im Wege, sondern auch unterschiedliche Bedürfnisstrukturen. Wenn auch kulturelle Faktoren in den ökonomischen und politischen Diskussionen über Globalisierung und Dependenz erwähnt werden, so stehen sie dennoch nicht im Zentrum der Diskussion. Damit geht man stillschweigend davon aus, daß Bedürfnisstrukturen überregional miteinander vergleichbar sind. Die Geschichte des Außenhandels und die Geschichte der Globalisierung könnte uns aber lehren, daß Bedürfnisse Moden unterliegen und sich wandeln, und daß unterschiedliche Lebensformen Nivellierungsprozesse unterbinden, zumindest aber behindern können. Daß kulturelle Unterschiede unabhängig von ökonomischen Überlegungen Handel fördern oder verhindern können, mögen zwei Beispiele verdeutlichen. Der Export von europäischem Getreide, Olivenöl und Wein nach Mittel- und Südamerika erwies sich jahrhundertelang als ein vergleichsweise lukratives Geschäft, selbst wenn in Amerika mit Mais und Kartoffeln wesentlich hochwertigere Nahrungsmittel zur Verfügung standen. Umgekehrt setzte sich der Mais nicht in der gesamten europäischen Küche als allgemein beliebtes Nahrungsmittel durch. Europäisches Mobiliar blieb in Asien einer kleinen Elite vorbehalten, für die es ein Statussymbol darstellte. Allenfalls erzeugte man in China auf Anforderung europäisches Mobilar für den Export, blieb aber den traditionellen Lebensformen weiterhin verhaftet. Der vorliegende Sammelband soll am Beispiel des Handels exemplarisch dessen Rolle als Motor für die Globalisierung, die Unterentwicklung und die Modernisierung zu verschiedenen Zeiten darstellen. Gingen noch die Studien der siebziger Jahre von einem sehr statischen Bild aus, so zeigen neuere Untersuchungen, daß man für verschiedene Zeiträume unterschiedliche Handelszentren in Betracht ziehen muß. Auch bei der Vorstellung von einem „globalen Dorf" müßte man sich fragen, wo sich das Dorfzentrum befindet. Zumindest sind aber erhebliche Zweifel angebracht, ob Europa und die sogenannte westliche Welt immer das Zentrum dieses „globalen Dorfes" bilden werden. Im einzelnen behandeln die in chronologischer Abfolge angeordneten Beiträge folgende Aspekte: Zunächst werden von Herbert Knittler
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Friedrich Edelmayer - Erich Landsteiner - Renate
Pieper
die mittelalterlichen Ursprünge der europäischen Expansion dargestellt. Hierbei wird insbesondere auf die Unterschiede zwischen verschiedenen, von Europa ausgehenden überregionalen Handelsströmen hingewiesen, dem Nord- und Ostseehandel sowie dem Handel über Mitteleuropa und das östliche Mittelmeer. Renate Pieper behandelt das 15. und 16. Jahrhundert, das Zeitalter der Portugiesen und Spanier, und fragt nach den Integrationsprozessen, die Europa durchlief, als man mit der Hochseeschiffahrt begann. Zwei weitere Autoren befassen sich mit den Handelsimperien der europäischen Staaten: Helfried Valentinitsch widmet sich den Handelskompanien der Niederländer, Engländer und Franzosen, die die Voraussetzungen für den Imperialismus des 19. Jahrhunderts schufen. Ulrich Mücke beschreibt den Sklavenhandel zwischen Afrika und Amerika und dessen Konsequenzen für die Wirtschaften der betroffenen Gebiete. Erich Landsteiner untersucht die Rückwirkungen auf Europa in dieser ersten Phase europäischer Kolonien in Übersee. Die Beiträge von Walther L. Bernecker und Silke Hensel stellen die Situation in den unabhängigen Gesellschaften Lateinamerikas im 19. Jahrhundert dar, einer Zeit, in der dem offiziell von Europa aus propagierten Freihandel liberaler Prägung durchaus protektionistische und imperialistische Tendenzen gegenüberstanden. Dem Zeitalter des Hochimperialismus widmet sich der Aufsatz von Nikolaus Reisinger, der zeigt, wie mit Hilfe von militärischer Gewalt über den Handel hinausgehende Durchdringungsmechanismen die Europäisierung der Erde auf die Spitze trieben. Abschließend geht Eduard Staudinger auf die Periode vom Ersten bis zum Zweiten Weltkrieg ein, die das Ende des formalen europäischen Imperialismus einleitete. Die Frage, ob Globalisierungsprozesse Entwicklungsunterschiede auszugleichen vermögen, oder ob Globalisierung wirtschaftliche und kulturelle Unterschiede zwischen Regionen nicht vielmehr verstärkt, können die hier vorgelegten Beiträge nicht klären. Doch war das auch nicht das Anliegen des Bandes. Vielmehr ging es uns darum, aufzuzeigen, daß die Globalisierung die Konsequenz eines langen historischen, über Jahrhunderte hinweg sich entwickelnden Prozesses darstellt, der auch heute noch nicht abgeschlossen ist.
Einleitung
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Zum Abschluß wollen wir all jenen Personen herzlich danken, ohne deren Hilfe der vorliegende Band nicht hätte erscheinen können. Zu nennen ist hier an erster Stelle unsere Kollegin Margarete Grandner von der Universität Wien, die uns unermüdlich mit wertvollen Hinweisen unterstützt hat. Die Drucklegung wurde möglich aufgrund der Finanzierungsbeiträge des österreichischen Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur, der Kulturabteilung der Botschaft von Spanien in Wien, an der wir besonders Herrn Dr. Xavier Sellés Ferrando Dank schulden, unseres Kollegen Othmar Pickl von der Universität Graz sowie der Bank Austria. Für die freundliche Genehmigung zur Verwendung der Abbildung auf dem Umschlag bedanken wir uns bei Herrn Peter E. Allmayer-Beck, für die graphische Gestaltung der Karten bei Herrn Roman Dangl, beide Wien.
Wien und Graz, im November
2000
LITERATUR Altvater, Elmar/Mahnkopf, Birgit (1996): Grenzen der Globalisierung. Ökonomie, Ökologie und Politik in der Weltgesellschaft. Münster: Westfälisches Dampfboot Bernecker, Walther/Fisher, Thomas (1995): Entwicklung und Scheitern der Dependenztheorien in Lateinamerika. In: Periplus 5: 98-118 O'Brien, Patrick/Prados de la Escosura, Leandro, Hg. (1998): The Costs and Benefits of European Imperialism from the Conquest of Ceuta, 1415, to the Treaty of Lusaka, 1974, Revista de Historia Econömica 16. Madrid: Marcial Pons Rostow, Walt W. (1960): Stadien wirtschaftlichen Wachstums. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Wallerstein, Immanuel (1974): The Modern World-System: Capitalist Agriculture and the Origins of the European World E c o n o m y in the Sixteenth Century. N e w York/San Francisco/London: Academic Press
EUROPAS
WIRTSCHAFTS-
HANDELSRÄUME
UND
AM V O R A B E N D
ATLANTISCHEN
HERBERT
DER
EXPANSION
KNITTLER
EINLEITUNG - DAS EUROPÄISCHE UNGLEICHGEWICHT Das Europa des ausgehenden 15. Jahrhunderts war ein Kontinent ökonomischer Ungleichgewichte, eine Tatsache, die annähernd und mittelbar aus den demographischen Daten abgelesen werden kann. Vereinfacht zählten West-, Süd- und Mitteleuropa zusammen etwa 51,9 Millionen Einwohner, Nord- und Nordwesteuropa 7,9 und der riesige Raum Ost- und Südosteuropas etwa 21,1 Millionen (Kriedte 1980:12). Die Karte (nach Malanima 1997:311) vermittelt einen Einblick in das Nebeneinander ökonomisch entwickelter und unterentwickelter Zonen, wenngleich sich diese nicht völlig mit Kernzonen, „Semiperipherie" und Randzonen im demographischen Sinne decken mußten. Übereinstimmungen lassen sich jedenfalls für die südlichen Niederlande und Nordfrankreich, Oberdeutschland und Oberitalien feststellen. Deutlicher als aus den Globaldaten werden die demographischen und ökonomischen Ungleichheiten aus der Verteilung europäischer „Großstädte", das heißt, solcher mit mehr als 10.000 Einwohnern, ablesbar. So lassen sich nach de Vries (1984:29) in den räumlich klein dimensionierten „Niederlanden" (heute Belgien und die Niederlande) um 1500 23 Städte der genannten Kategorie zuordnen, im großflächigen französischen Königreich 32 und im strukturell zwei- beziehungsweise dreigeteilten italienischen Staatengefüge 44, davon 21 allein im Norden. Der Raum der Königreiche der Iberischen Halbinsel verfügte über 21 Großstädte, und der dem heutigen Deutschland entsprechende,
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Herbert Knit tier
politisch stark zersplitterte Komplex von Territorien über 23. Dieser bildete auch den Übergang zu den erheblich dünner besiedelten Regionen des Nordens, Ostens und Südostens, für die nur ausnahmsweise verläßliches Datenmaterial vorliegt. Jedenfalls verfügten die Britischen Inseln insgesamt nur über sechs Städte mit über 10.000 Einwohnern, die skandinavischen Staaten über eine und die österreichisch-böhmisch-polnischen Territorien über drei (vgl. auch Hohenberg/Lees 1985:106ff). Allerdings sollte nicht übersehen werden, daß die Erholung der Bevölkerungszahl nach den spätmittelalterlichen Seuchenzügen bis ins 16. Jahrhundert hinein mit unterschiedlichem Tempo vor sich ging. Hohen Wachstumsraten in Nord- und Nordwesteuropa standen deutlich niedrigere in Südeuropa gegenüber, so daß die Annahme berechtigt erscheint, daß der mediterrane Großraum bereits im ausgehenden Mittelalter gegenüber dem atlantischen an Gewicht eingebüßt hat (Kriedte 1980:29). Diese Feststellung bedeutet im weiteren, daß im Rahmen einer querschnitthaften Bestandsaufnahme der Blick nicht gegenüber jenen Prozessen verstellt werden darf, die gleichsam permanent mit Veränderungen verbunden waren. Hier ist vorrangig darauf zu verweisen, daß sich im 15. Jahrhundert die geographischen Grenzen, die mehrere hundert Jahre hindurch die europäische Wirtschaft bestimmt hatten, verschoben und weitgehend auflösten. Der Wandel bestand nicht nur in einer neuen Einsicht in die größere Dimension der Erde, sondern auch in einer Form neuer Dauerhaftigkeit, dem Aufbau regelmäßiger Kontakte und der Entwicklung neuer Technologien für umfassendere geographische und ökonomische Erkundigungen (Miskimin 1977:123). Die ersten Schritte in diese Richtung waren hier von Portugal mit der Eroberung von Ceuta 1415, der Umseglung von Kap Bojador 1434, der Errichtung einer Faktorei in Arguim 1448 und der folgenden Umformung der afrikanischen Westküste in eine von Europa beherrschte Wirtschaftszone gesetzt worden. Die atlantische Expansion stellt in diesem Sinne nur eine konsequente Fortsetzung dar. Es ist in wirtschaftsgeschichtlichen Handbüchern üblich geworden, bei der Analyse der europäischen Wirtschaftsräume am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit den Haupthandelsrouten zu folgen (Heers 1966; Glamann 1979; Kellenbenz 1986a; Lopez 1987; Postan 1987; u.a.). Damit erscheint eine Gliederung in vier Großräume vorgezeichnet, nach der im folgenden das Mittelmeergebiet, der atlantische Saum, der Ostsee-Nordsee-Bereich sowie der transkontinentale Handel mit dem Sonderbereich der mitteleuropäischen Fortschrittszone behandelt werden sollen.
Europas
Wirtschafts-
DAS
und
15
Handelsräume
MEDITERRANE
ÜBERGEWICHT
Wenn Glamann 1979 feststellte, der Mittelmeerraum sei um 1500 „Europas klassischer Handelsraum (gewesen), eine Welt für sich, mit lebhaftem Verkehr zwischen seinen einzelnen Teilregionen" (Glamann 1979:276), so scheint dies aufs erste wenig zu jener Charakteristik zu passen, die Lopez in seiner Darstellung des Handels Südeuropas im ausgehenden Mittelalter entwickelt hat. „The Waning of the Middle Ages" und „The Size of the Crisis" sind Überschriften (Lopez 1987:379), die klar auf den Bedeutungsverlust verweisen, den das mediterrane Becken und seine Kaufleute im späteren 14. und im 15. Jahrhundert hinnehmen mußten. Freilich dürfen dabei nicht die Maßstäbe verwechselt werden. Gemessen an der Blütezeit vor 1350 wird die Kontraktion augenfällig. Dies gilt nicht nur für einen Vergleich der mächtigsten florentinischen Bankhäuser des 14. und 15. Jahrhunderts, der Bardi und Peruzzi mit jenen der Medici oder Rucellai, sondern auch für die Dimensionen des Seegeschäfts: So hat der Wert des Seehandels der Republik Genua im späteren 15. Jahrhundert nur ein Drittel bis die Hälfte des Werts vor 1344 ausgemacht, und für die proven?alische Hafenstadt Marseille wurden ähnliche Zahlen errechnet. Hier hatten sich die militärischen Auseinandersetzungen zwischen den Anjou und Aragon um das Königreich Neapel retardierend ausgewirkt; einer krisenhaften Periode folgte erst nach 1470 aufgrund ursprünglicher Initiativen Jacques Coeurs (tl456) und folgend solcher Ludwigs XI. wieder ein rascherer Aufstieg (Dubois 1986:631). Auf der anderen Seite vermittelte der Raum des Mittelmeers weiterhin mit hoher Intensität den Handel zwischen Europa sowie Asien und Afrika, zwischen Christenheit und Islam, und bildete den Ausgangspunkt für die zu Wasser und zu Lande nach Mittel- und Westeuropa führenden Magistralen. Auch die Großen Vier der kommerziellen Revolution, Florenz, Genua, Mailand und Venedig, konnten noch mehr als ein Jahrhundert lang einen wichtigen Platz im Kreise der führenden Handelsmächte behaupten. Mailand profitierte in hohem Maße von der entwickelten agrarischen Struktur seines Umlandes und seinem Exporthandwerk. Florenz verfügte in Ergänzung zu seiner Position innerhalb eines weit gespannten kommerziellen und finanziellen Netzwerks über ein hohes Niveau an gewerblicher, insbesondere textiler Produktion. Venedig hatte sich im Verlaufe des 15. Jahrhunderts nicht nur zur führenden maritimen Kraft im mediterranen Bekken entwickelt, sondern produzierte darüber hinaus innerhalb verschiedener Sektoren exportfähige Güter (Luzzatto 1961b:180ff; Smith
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Herbert
Knittler
1991:54). Und Genua schickte sich an, mit der Umlenkung seiner Interessen auf die Iberische Halbinsel zeitweilig zur Schaltstelle des internationalen Kapitalmarkts zu werden (Braudel 1985-1986/3:167ff; Epstein 1996). Nützlich ist neben der Bewußtmachung des Nebeneinanders von Elementen der Stabilität und der Veränderung auch eine solche regionaler Differenzierung, die über eine einfache Gegenüberstellung von östlichem und westlichem Mittelmeerraum hinausgeht. Hauptsammelbecken des Handels waren die Adria mit ihrem Vorort Venedig, das Tyrrhenisch-ligurische Meer mit Genua sowie der Golf de Lion an der Rhonemündung mit Marseille in Verbindung mit Avignon, Montpellier und Narbonne. Im Osten konzentrierte sich die Handelstätigkeit in der Ägäis und in den Haupthäfen der levantinischen und ägyptischen Küsten. Im westlichen Mittelmeer folgte auf die von Marseille beherrschte Handelszone die Region Katalonien mit dem Haupthafen Barcelona und schließlich Andalusien mit Sevilla, „von dem aus im 16. Jahrhundert ein Handel anhob, der die alte selbstgenügsame Ordnung gänzlich zerstörte" (Glamann 1979:276). Das Mittelmeer gilt in erster Linie als jene Großregion, durch die der Handel mit Spezereien seinen Weg nahm, wobei dieser Begriff allerdings so gut wie alle exotischen Waren meint, die aus dem Fernen Osten (Indien, Ceylon, Java, den Mulukken [= Gewürzinseln] und China) kamen und neben Gewürzen vor allem Seiden, Baumwolle, Duft- und Farbstoffe sowie Perlen und Edelsteine umfaßten. Als Zwischenhändler für den Verkehr zwischen Mittel- und Ostasien einerseits, der Levante andererseits fungierten vor allem arabische Kaufleute (bis zum Beginn des 15. Jahrhunderts die Gruppe der Karimi), welche die Waren zumeist nach Alexandria oder Beirut brachten, wo sie auf christliche Galeeren umgeladen wurden. Als europäische Partner rangierten die Venezianer deutlich vor allen anderen Handelsnationen, etwa den Genuesen, Katalanen, Franzosen oder Ragusanern (Ashtor 1974:11 ff; Scammell 1981:103ff). Der Vorteil der Markusstadt gegenüber Genua auf dem ägyptischen und syrischen Platz bestand wohl zum einen im Gewürzgeschäft, zum anderen aber auch in einer stärkeren Verknüpfung mit dem Hinterland, dessen Erzeugnisse, vor allem Metalle, sie als Vermittlerin für den Nahen Osten bezog (Ashtor 1974:12f). Rückläufige Trends innerhalb der levantinischen Gewerbeproduktion, die im 15. Jahrhundert in mehreren Bereichen zu Mangelsituationen führten, sowie der Niedergang der großen Kaufleutedynastien haben die Erfolge der Venezianer erst richtig ermöglicht (Ashtor 1974:29). Hingegen konnte Genua, dessen Interessen über-
Europas
Wirtschafts-
und
Handelsräume
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wiegend auf die Länder um das Schwarze Meer konzentriert waren, aus dieser Schwäche nicht profitieren. Gegenüber einem Paket aus Hochpreiswaren von geringem Gewicht und Volumen, die als Luxusgüter vor allem dem Konsum gehobener Schichten dienten und vereinfachend für die Charakterisierung des Mittelmeerhandels herangezogen wurden, darf der Umschlag schwergewichtiger und voluminöser Produkte jedoch keineswegs vernachlässigt werden. Aus der Tatsache, daß die zahlreichen Großstädte Italiens, aber auch jene der islamischen Welt (Kairo, Konstantinopel mit 100.000- 200.000 Einwohnern) außerstande waren, sich aus ihrem Umland mit den notwendigen Nahrungsmitteln zu versorgen, resultierte ein intensiver Getreidehandel, mitunter über weite Distanzen. So wurde Getreide aus Sizilien, aus Apulien, von der dalmatinischen Küste, aus Teilen Nordafrikas und auch den Küstenregionen des Schwarzen Meeres zum Standardartikel des mediterranen Kommerzes. Hinzu traten weitere Lebensmittel wie Salz (aus Istrien und Zypern), Thunfisch (Sizilien), Öl und Wein. Die Nachfrage nach Bauholz, vor allem für die Schiffszimmerei, stieg im Laufe des 15. Jahrhunderts im Zusammenhang mit dem Aufbau einer osmanischen Flotte, die auch hinsichtlich des Rohstoffes Holz zur Rivalin der bisher führenden maritimen Stadt-Staaten der Apenninenhalbinsel wurde (Glamann 1979:276ff; Miskimin 1969:123ff). Im weiteren sei noch auf jene industriellen Rohprodukte und auch Fertigwaren verwiesen, die ein weiteres Element des mediterranen Handels bildeten. So verarbeiteten italienische Tuchmacher Wolle, die teils aus England, in größeren Mengen aber aus Spanien und Nordafrika (Merino) kam, und italienische Lederer Häute aus Algerien. Der als Beizmittel bei der Stoffveredelung verwendete Alaun stammte zunächst aus der genuesischen Kolonie Phokäa an der Westküste Kleinasiens, bis gegen 1462 die Auffindung des Minerals bei Tolfa im Kirchenstaat und auch bei Ischia im Königreich Neapel die inzwischen eingetretene Abhängigkeit von den Osmanen beseitigte. Neben den bereits genannten Textilrohstoffen Baumwolle und Seide, die nach der Verarbeitung in den italienischen Gewerbestädten wiederum zu Exportgütern mutieren konnten, fanden vor allem hochwertige Produkte italienischer und - mit deutlichem Abstand - spanischer Handwerkskunst ihren Absatz innerhalb und außerhalb des Mittelmeerraums. Hierzu zählten etwa Mailänder Rüstungen, venezianisches Glas und Seife aus Venedig, Genueser Papier oder spanische Lederwaren. Von den über italienische Städte in den Handel gebrachten Erzen war das mitteleuropäische Kupfer das wichtigste, zumal es im Verein mit
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Herbert
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Lebensmitteln, Textilien, Holz und Eisen dazu verhalf (vgl. Bernard 1978:181), das gegenüber der Levante permanente Handelsbilanzdefizit etwas zu verringern. Bereits am Ende des ersten Drittels des 15. Jahrhunderts hatte das dichte Netz kommerzieller Beziehungen, welches das Mittelmeer überspannte, deutliche Risse erhalten. Seit der Übernahme des Monopols für den bisher bei privaten ägyptischen Kaufleuten liegenden Pfefferhandel durch den Sultan 1428 sahen sich die Italiener mit einem Diktat überhöhter Preise konfrontiert. Die Weigerung, einen gegenüber dem Marktpreis um 120% erhöhten Einkaufspreis für Pfeffer zu bezahlen, mußten einige Venezianer 1480 sogar mit der zeitweiligen Festsetzung im Fondaco, ihrer Handelszentrale, büßen (Lopez 1987:388). Während des Kriegs mit den Osmanen häuften sich die Repressalien, und auch nach dem Friedensschluß von 1479, der gegen einen jährlichen Tribut von 10.000 Dukaten Venedig erneut den freien Handel im Osmanischen Reich garantieren sollte, blieben die Behinderungen und Schwierigkeiten aufrecht (Luzzatto 1961b: 185), wenngleich die Zahl der Alexandria und Beirut anlaufenden Galeeren im Jahrfünft 1486-90 mit 41 einen Höhepunkt im gesamten Jahrhundert erreichte (Ashtor 1974:21); die Verbindung nach Konstantinopel hingegen kam nahezu zum Erliegen. Die Feststellung von Lopez, daß im Laufe des späteren 15. Jahrhunderts die östliche Grenze des südeuropäischen Handels von der Chinesischen See an den Ostrand des Mittelmeeres verschoben worden ist (Lopez 1987:383f), dürfte wohl nur wenig übertrieben sein, und selbst dort gingen die Stützpunkte nach und nach verloren. Einige Daten mögen dies verdeutlichen. 1453 wurden die Osmanen mit der Eroberung Konstantinopels auch Herren der Dardanellen. 1455 mußten die Genuesen Phokäa aufgeben, 1464 verloren sie Famagusta auf Zypern, 1475 Kaffa samt der Krim; nur Chios konnten sie mittels eines Tributs bis 1566 halten (Lopez 1938; Heers 1961; Heers 1971; Luzzatto 1961a; Sapori 1970; Epstein 1996; Feldbauer/Morrisey 1999:54ff). Auch der Johanniterorden mußte territoriale Verluste hinnehmen, verlor er doch 1522 die Insel Rhodos an die Osmanen. Der Verlust der italienischen kommerziellen Kolonien konnte teilweise durch die Ansiedlung von Produktionseinrichtungen für Güter, die nun im Osten nicht mehr beschafft werden konnten, kompensiert werden. So wurden Maulbeerkulturen in Granada, Sizilien und Kalabrien angelegt, Rohrzucker wurde auf Zypern, vor allem aber auf den Inseln des Atlantiks (Madeira, Azoren) angebaut; wilden Pfeffer bezog man vermehrt aus Westafrika. Allerdings waren die Ersatzgüter häufig teurer und von schlechterer Qualität.
Europas
Wirtschafts-
und
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Handelsräume
Fanden sich die Italiener im späteren 15. Jahrhundert hinsichtlich ihrer Handelsstützpunkte im östlichen Mittelmeer überwiegend in der Defensive, so begannen sie, allen voran die Genuesen, im Westen zunehmend eine aktive Politik zu betreiben. Vor allem waren es das hohe Niveau in der Entwicklung kommerzieller Techniken und die Konzentration von Kapital in der Hand italienischer Bankhäuser, darüber hinaus das traditionelle Zusammenwirken von Bankwesen, Seehandel, gewerblicher Industrie und entwickelter Landwirtschaft, die den Einfluß des italienischen Big Business in großen Teilen Europas begründeten beziehungsweise festigten. Lediglich das Monopol im Fernhandel war zufolge der Fortschritte anderer Nationen verloren gegangen (Lopez 1987:398ff). Beispielhaft sei auf die Medici-Bank verwiesen, die zwischen 1430 und 1480 das weitaus größte Finanzunternehmen des Kontinents darstellte. Ihre Aktivitäten reichten nahezu in jede wichtigere Region Europas, der Levante und Nordafrikas. Sie inkludierten nicht nur Geldgeschäfte, sondern erfaßten auch den Handel mit Luxuswaren und Stapelprodukten sowie den gewerblichen (Seiden- und Tuchgeschäft) und den Montansektor (Alaungruben) (De Roover 1963; Graphik bei Malanima 1997:278). Aber auch andere Bankhäuser nord- und mittelitalienischer Städte, neben Genua vor allem aus der Lombardei und der Toskana, verfügten über erhebliche Kapitalien und internationale Geschäftsverbindungen, was es ihnen ermöglichte, als Promotoren der Wirtschaft auch in weniger entwickelten Gebieten aufzutreten. Dies gilt in gleicher Weise für den mittel- sowie ostmitteleuropäischen Raum, wo sie im Bankwesen sowie im Import-Export-Geschäft mit lokalen Kaufleuten in Konkurrenz traten.
MITTELMEER
UND
ATLANTISCHER
SAUM
Der hoch entwickelte Apparat von Kreditverbindungen italienischer Häuser stellte auch eine Voraussetzung für die im Laufe des 15. Jahrhunderts rasch zunehmende Verklammerung des Mittelmeers mit den atlantischen Küstenbereichen dar. Augenfällig wurde diese in der Einrichtung ständiger Niederlassungen der Italiener in den wichtigsten Städten des Westens, von Lissabon und Cádiz bis London und Brügge beziehungsweise später Antwerpen. Teilweise reichte die von ihnen organisierte Schiffahrt von der Levante bis Flandern, darüber hinaus schalteten sie sich auch in den Verkehr zwischen den einzelnen Regionen ein, wenn sie etwa Öl aus Andalusien nach den Niederlanden brachten, um von dort Tuche nach Sevilla zu verschif-
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fen. Unter den Haupthandelsgütern nahmen bei der Hinfahrt Spezereien und Seide, Alaun, Wein und getrocknete Früchte, bei der Rückfahrt Wolle und gesalzener Fisch eine zentrale Stellung ein. Mit dem Aufblühen des portugiesischen Zuckergeschäfts wurde allerdings die Vorherrschaft, insbesondere jene der Venezianer, selbst im Mediterranbereich angegriffen, da fünf Zwölftel der Exportquote für dortige Märkte vorgesehen waren und der atlantische Zucker jenem aus der Levante von der Preisseite her überlegen war (Kellenbenz 1986b: 236). Der atlantische Küstensaum nördlich der Iberischen Halbinsel, der politisch - zumindest seit dem Anfall des Herzogtums Bretagne 1491 — nahezu durchgehend der Westgrenze des französischen Staates entsprach, wurde im wesentlichen durch zwei für den Export bestimmte Massengüter dominiert: den Wein von Bordeaux sowie das Salz der Baie von Bourgneuf und der Bucht von Brouage. Daneben muß zwischen den einzelnen Küsten- und Flußhäfen mit einem intensiven Küstenhandel gerechnet werden, der sich allerdings einer quantitativen Beurteilung weitgehend entzieht. In besonderem Maße wirksam wurden kriegerische Auseinandersetzungen, wie etwa für die Entwicklung der Normandie gezeigt worden ist, deren Aufschwung in einer Friedensphase um 1475 einsetzte und gegen 1500 einen ersten Höhepunkt erreichte (Mollat 1952:119-272). Auch die Weinausfuhr von Bordeaux läßt Schwankungen im Rhythmus von Krieg und Frieden (Waffenstillstand von Tours 1444-1449) erkennen, erlebte aber trotz der zahlreichen militärischen Aktionen unter Ludwig XI. einen deutlichen Aufschwung (Dubois 1986: 631). Von einigen wenigen Ausnahmen wie dem bereits genannten Jacques Coeur mit seinem Hauptquartier in Bourges abgesehen (Mollat 1991), blieb die Rolle des französischen Kaufmannes im wesentlichen auf den Raum des Königreichs beschränkt. Eine Sonderstellung nahmen allerdings die grenznahen Genfer Messen ein, die ihren Aufstieg nach 1415 vor allem einheimischen Kaufleuten verdankt und vor der Jahrhundertmitte als Treffpunkt von Franzosen, Italienern und Süddeutschen einen erheblichen Stellenwert für das internationale Finanzgeschäft erlangt hatten. Nach 1462-1465 waren zufolge königlicher Machtpolitik an ihre Stelle die Lyoner Messen getreten, die - vor dem Hintergrund bedeutender Gewerbe wie der Seidenindustrie und der Buchdruckerei - gegen das Jahrhundertende sowohl den Warenverkehr als auch das Finanzgeschäft fokussierten. Mit der Abwanderung italienischer, insbesondere Florentiner Banken (Medici, Pazzi, Capponi) von Genf nach Lyon war hier ein Handels- und Finanzplatz erster Ordnung
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entstanden, der zudem von Deutschen, Schweizern und Spaniern aufgesucht wurde (Bresard 1914). DIE
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Von den Küstenzonen des Nordens kann jenen an der Ostsee wegen deren Qualität als Binnenmeer eine gewisse Ähnlichkeit mit den mediterranen nicht abgesprochen werden. Insgesamt dürften freilich hinsichtlich der räumlichen wie wirtschaftlichen Gesamtstruktur die Gegensätze überwogen haben. So läßt sich der Ostseeraum kaum sinnvoll als selbständige Region verstehen, da er zu einem größeren Raumkomplex gehörte, der nach Westen hin, über den Kleinen und Großen Belt, über Kattegat und Skagerrak in die Nordsee und bis an die Küsten Englands und der Niederlande reichte. Auch war die Ostseeregion keineswegs Selbstversorgerin, sondern in zahlreichen Bereichen, vor allem hinsichtlich der Zufuhr von Gewerbeartikeln, von Importen abhängig (Glamann 1979:280). Häufig werden die Unterschiede in der Struktur des Handels mit der Gegenüberstellung der exotischen (Luxus-)Güter des Südens und der „groben Waren" des Nordens umschrieben. Sicherlich ist diese Typisierung zu undifferenziert, sie geht aber auch nicht allzuweit am Kern der Sache vorbei. Insgesamt waren die Produkte des Nordens schwer, voluminös und von geringem Wert pro Gewichtseinheit. Vielfach handelte es sich um Rohmaterialien oder Halbfertigwaren beziehungsweise um Nahrungsmittel. Das wichtigste dieser schweren und Niedrigpreisprodukte bildete zweifellos Getreide, das in den großen alluvialen Beckenlandschaften des kontinentalen Nordeuropa gedieh. Als Hauptexporteur fungierte Preußisch-Polen, von wo aus Korn vor allem in die stark urbanisierten Regionen Flanderns und der Niederlande gelangte. Zur menschlichen Nahrung trug auch das Meer in einem erheblichen Maße bei. Große Mengen von Fischen, insbesondere Heringen, wurden von den Anrainern in den Gewässern der Ostsee (Schonens) und des Sunds gefischt und in gesalzenem oder getrocknetem Zustand in den Handel gebracht. Daneben gewannen im Verlaufe des 15. Jahrhunderts der holländische Fischfang in der Nordsee und in den östlichen Teilen des Kanals sowie der Dorschfang im Räume der Lofoten (Kellenbenz 1986b:195ff) an Bedeutung. Meerhecht und Meeraal kamen von den Gezeitenstränden Cornwalls, von den Kanalinseln und aus der Bretagne. Der hohe Stellenwert der Fischerei fand auch im Maß des Frachtgewichtes, das in „Last" (Fischen) angegeben wurde, seinen Niederschlag.
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In enger Verbindung zur Bewirtschaftung des Fisches stand wegen der vorherrschenden Konservierungstechnik der Handel mit Salz, das anfangs vorwiegend aus den norddeutschen Quellsalinen, zunehmend aber aus den zu günstigeren Preisen anbietenden Meersalinen der französischen Atlantikküste stammte. Zum regelmäßigen Schiffsverkehr zwischen den Salzproduktions- und Fischereigebieten trat die Verschiffung des Weines aus der Gascogne und von Aunis (La Rochelle), der in die Niederlande, nach England und sogar bis nach Danzig und ins Baltikum gehandelt wurde. Wie im Mediterrangebiet führte der steigende Bedarf an großen Frachtschiffen zur Aufwertung des Bauholzes zu einem strategischen Gut des internationalen Warenhandels. Da seine Verfrachtung über weite Strekken mit hohen Kosten verbunden war, entwickelte sich ein Zusammenhang benachbarter Regionen des Schiffsbaus und der Holzproduktion (skandinavische Wälder einerseits, Werften englischer, niederländischer und hanseatischer Städte andererseits) (Miskimin 1969:124). Mit der Verbreitung verbesserter Militärtechnologien verbunden war die stärkere Nachfrage nach hochwertigem Eisen und Kupfer, was die mittel- beziehungsweise südschwedische Produktionsregion (Falun) begünstigte. Zu den wichtigsten Exportprodukten Nordeuropas zählte englische Schafwolle, die vor allem nach Flandern und in die Tuchstädte Italiens ging, und Wolltuche (broadcloth) (Carus-Wilson 1963). Während die Ausfuhr der Wolle in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts um die Zahl von 8.000 Sack innerhalb einer dreijährigen Periode schwankte, erreichte jene von Tuch 1479/1482 mit etwa 62.600 Stück einen Wert, der um über 60 Prozent über dem Schnitt der Jahrhundertmitte lag (Postan 1987:242). Zusammen mit der Wolle und dem in seinem Produktionsvolumen stark rückläufigen flandrischen Luxustuch trug es jedenfalls zu einem gewissen Ausgleich der Handelsbilanz zwischen Nord und Süd bei. Der Charakteristik als Niedrigpreisgüter entzogen sich neben dem Tuch auch die aus Rußland, Livland, Polen und Skandinavien bezogenen Pelze (Hermelin, Zobel, Feh usw.), aber auch Bernstein, Bienenwachs (für Kerzen) und Honig (als Süßstoff). Hingegen lassen sich Häute und Buntmetalle wiederum der Gruppe der voluminösen und schweren Güter zuordnen. Die Küstenbereiche der Nord- und Ostsee waren lange Zeit durch die Vorrangstellung des Hansekaufmannes gekennzeichnet, das heißt, der Verkehrsgemeinschaft der hanseatischen Städte, zu der während ihrer Blütezeit zwischen 70 und 100 Kommunitäten zählten (Kellenbenz 1986b:239; Dollinger 1989:495ff). Innerhalb derselben hatten sich, mitunter in Weiterführung älterer Traditionen, gewisse Hierarchien
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und Schwerpunkte ausgebildet. So konnte Lübeck, das den Warenumschlag über Trave, Strecknitz und Elbe beherrschte und überdies über das Lüneburger und Oldesloer Salz verfügte, eine grundsätzliche Vorrangstellung aufbauen und dahin wirken, daß im 15. Jahrhundert die Hansische Liga zumindest in Teilbereichen gemeinsame Interessen vertrat (Postan 1987:279). Die Travestadt dominierte auch in Bergen, dem wichtigsten Stützpunkt an der norwegischen Westküste, während im Süden Norwegens, in Tönsberg und Oslo, mit Rostock eine Hansestadt zweiter Ordnung stärker vertreten war. Im preußischen Bereich teilten sich Danzig (Gdarisk), Elbing (Elbl^g) und Königsberg (Kaliningrad) das Geschäft, im Baltikum die Städte Riga, Reval (Tallin), Pernau (Pernü) und Dorpat (Tartu), die sogar nach Schließung des Hansekontors in Novgorod (1494) den Rußlandhandel an sich ziehen konnten. Eine Gruppe mit starken separaten Interessen hatten seit jeher als westlichstes Glied der Hanse die rheinischen Städte mit Köln an der Spitze vertreten, vor allem hinsichtlich ihrer Geschäfte in den Niederlanden und in England (London-Stalhof) (Buszello 1971; Carus-Wilson 1973; Lloyd 1991). In dem Maße, wie im Spätmittelalter die englische Tuchproduktion angestiegen war, expandierte auch der Stellenwert der Tuche im Außenhandel. Ebenso von Bedeutung war, daß der englische Kaufmann den Tuchexport - anders als im Wollhandel - selbst in die Hand nahm, in diesem Zusammenhang tief in hanseatische Interessengebiete eindrang und bereits im ausgehenden 14. Jahrhundert in Danzig und in Bergen auftauchte. Politische Umstände, im besonderen die tatkräftige Unterstützung der Thronansprüche Eduards IV. durch die Hansische Liga und die darauf folgende Erneuerung der alten Privilegien 1474 seitens des Königs, sicherten dem Hansekaufmann noch einmal Positionen, die bereits weitgehend geschwächt gewesen waren (Lloyd 1991:235ff). Im Gegenzug dazu erlitten die direkten Beziehungen der Engländer zu Mittel- und Mittelosteuropa einen deutlichen Rückschlag. Waren noch in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts zeitweilig 30 englische Schiffe in Danzig vor Anker gelegen, so passierte nach Aussage der Sundzollregister, die mit dem Jahr 1497 beginnen, keines mehr die Meeresstraße. Die Unterbrechung des Englandhandels ins Baltikum fiel zusammen mit Positionsverlusten in Norwegen und, mit der französischen Eroberung der Gascogne 1453, auch in Südwestfrankreich. Dies alles bewirkte eine Konzentration der kommerziellen Interessen auf die Niederlande (Postan 1987:295ff). In den Niederlanden war Brügge im ausgehenden 14. und frühen 15. Jahrhundert zum wichtigsten auswärtigen Markt der Hanse auf-
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gestiegen. Die Stadt war sowohl Mittelpunkt des deutschen Tuchhandels als auch Endpunkt der großen hanseatischen Ost-West-Route und bildete mit ihren Verbindungen über den Kanal, nach Frankreich, Italien, auf die Iberische Halbinsel und zu den Mittelmeerhäfen gleichsam das erste Zentrum eines europaweiten Netzwerks. Zudem gab es hanseatische Niederlassungen in kleineren Häfen des Zwin, ebenso in Antwerpen, dessen Aufstieg gegen Ende des 15. Jahrhunderts einsetzte. Mit der im Gegenzug zum Abstieg der flandrischen Industrie einsetzenden Tuchgroßproduktion in den Provinzen Brabant und Holland wurden noch weitere sekundäre Plätze der Region aufgesucht (Dollinger 1989:323ff). Nun blieb das Verhältnis der Hanse zum niederländischen Raum keineswegs friktionsfrei (ausführlich Spading 1973). Zum einen war bereits gegen Ende des zweiten Jahrzehnts des 15. Jahrhunderts dadurch massives Konfliktpotential entstanden, daß Lübeck im Verein mit anderen wendischen Städten durch die Einführung eines hanseatischen Zolls die Expansion der aufstrebenden holländischen Kauffahrtei in der Ostsee zu verhindern suchte - ein Versuch, der mangels Unterstützung durch die preußischen Städte allerdings scheiterte. Schärfere Reglementierungen konnten das Vordringen der Holländer ebensowenig verhindern wie der offene Krieg (1438-1441). Dazu kam, daß einige Hansestädte im Westen wie Campen, Zwolle oder Deventer, zur Aufrechterhaltung ihrer Handelschancen Sonderverträge mit den Holländern abschlössen, und auch die livländischen Städte sowie der Deutsche Orden die Holländer nicht zurückwiesen. Politische Ereignisse und Krisen waren in diesem Zusammenhang geschickt genutzt worden, wie die bereits angesprochene Blockade Flanderns 1451-1454 oder der Krieg zwischen Polen und dem Deutschen Orden 1454-1466 (vgl. auch Postan 1987:303; Dollinger 1989:256). Die Schwierigkeiten der Hanse wurden durch unkluge Maßnahmen noch weiter verschärft. So hatte das Embargo der Hansestädte gegen Flandern nur den Effekt, daß ein guter Teil des hanseatischen Handels nach Süddeutschland und eben über Holland umgelenkt wurde, und auch in den sechziger und siebziger Jahren unterstützten die Hanseaten die Holländer indirekt durch ihre kurzsichtige und aggressive Verteidigung des Brügger Stapels. Die Stapelpolitik ging vor allem in die Richtung, daß wertvolle oder für die Stellung der Hanse wichtige Güter wie Wachs, Pelze, Metalle, Heringe usw. zuerst nach Brügge gebracht werden mußten, ehe sie nach Flandern und in die Niederlande verkauft werden durften. Gegenüber der angestrebten Expansion des Handelsvolumens war diese versuchte Bindung an einen Platz kontraproduktiv.
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Die anfangs dominante Position Brügges, zu einem guten Teil in dem im 14. Jahrhundert angefallenen Erbe der Messen der Champagne begründet, war aber bereits früher, zunehmend seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, einer Aushöhlung ausgesetzt. Diese hatte zweifellos mehrere Ursachen. Einerseits dürfte die Versandung des Zwinarms, die etwa gleichzeitig mit der Öffnung der westlichen Scheide für die Schiffahrt erfolgte, die Verbindung zum Meer verschlechtert haben. Zudem bewegte sich die flämische Industrie in eine für Brügge ungünstige Richtung: teils als Ergebnis der brabantischen Politik, teils als Resultat des Niedergangs von Südwestflandern verschob sich das Schwergewicht nach dem Nordosten. Dazu gesellte sich in Brabant der Aufstieg jüngerer Zentren wie von Bergen op Zoom und vor allem von Antwerpen, das gegenüber Brügge von Maximilian I. begünstigt wurde, im Tuch- und Wollhandel und als Messestandorte (Van Uytven 1994:2f). Mehr noch war es aber der Sieg einer frühen Form von „Liberalismus" über die alten korporativ-reglementierenden Beschränkungen des Mittelalters, der auch im Leitspruch der Antwerpener Börse (14851531) „In usum negotiatorum cuiuscumque nationis ac lingue" zum Ausdruck kam. Antwerpen zog nicht nur die „Merchant Adventurers" an, die das englische Tuch ungefärbt und ohne Appretur zur Veredelung auf den Kontinent lieferten, sondern auch andere Fremdkolonien, besonders die Italiener und die bedeutendsten oberdeutschen Kaufleute. Deren Kupfer- und Silberlieferungen erregten wiederum das Interesse der Portugiesen, die hier ab 1494 einen eigenen Faktor sitzen hatten. Die Oberdeutschen brachten auch das anfangs von Italienern und Niederländern beherrschte Gewürzgeschäft zeitweilig an sich. 1491 wurde der Hafen Alaunstapel, 1501 landete hier das erste portugiesische Gewürzschiff, und 1508 begründeten die Fugger, die bedeutendsten oberdeutschen Kapitalisten, eine Faktorei (Van Houtte 1961; Van derWee 1963). Gleichzeitig mit dem Niedergang Brügges und dem Aufstieg Antwerpens, das sich auch zum Endpunkt neuer und rivalisierender Handelsrouten nach Süd- und Osteuropa entwickelte, waren mit den Holländern und den Oberdeutschen neue Wettbewerber in die erste Linie der führenden Handelsnationen eingerückt. Einerseits gewannen die Holländer dadurch an Boden, daß Städte wie Amsterdam, Middelburg, Haarlem, Delft oder Vere von einem Teil der Hanseaten aufgesucht wurden, andererseits setzte sich die Infiltration der Ostsee in Schüben fort. Und anders als den Engländern gelang es den Holländern, sich im Baltikum auf Dauer festzusetzen. Beim Einsetzen der Sund-
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zollregister 1497 machten dort holländische Schiffe bereits die Mehrheit aus (Postan 1987:305).
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Neben den Holländern hatten sich die Oberdeutschen im Laufe des 15. Jahrhunderts zu gefährlichen Konkurrenten des Hansekaufmannes entwickelt. Damit verbindet sich auch der Eintritt des mitteleuropäischen Raumes in die führenden europäischen Wirtschaftsräume im Zeitalter vor der atlantischen Expansion. Generell gilt der Raum Süddeutschland-Schweiz sogar als jene Zone, die im späteren 15. Jahrhundert den deutlichsten Aufschwung genommen hat. Es ist zu Recht festgestellt worden, daß noch zur Zeit Kaiser Karls IV. das Gewicht der mitteldeutschen Wirtschaft nicht groß genug war, um den internationalen Handel so weit in den Kontinent hineinzuziehen, daß Prag eine Drehscheibe auf der Route von Italien zur Elbe geworden wäre (Kellenbenz 1986b:258f). Die entscheidenden Anstöße für den Einstieg der Süddeutschen ins internationale Geschäft boten sich erst seit der Mitte des 15. Jahrhunderts von zwei Seiten her. Einerseits waren es die englischen Tuche, die von oberdeutschen Kaufleuten (in Nachfolge der Kölner) auf den Brabanter Messen gekauft, an Ort und Stelle veredelt und dann über einen weiten Radius gehandelt wurden. Andererseits - und dies mit besonderer Bedeutung für die nachfolgende kontinuierliche Entwicklung - profitierten die Süddeutschen vom Aufschwung der mitteldeutschen, böhmischen und alpinen Silber-, Kupfer- und auch Zinnproduktion seit dem letzten Drittel des 15. Jahrhunderts, daneben auch von der Expansion des Leinengewerbes in Sachsen und Thüringen. Hier erlebten Handelsstädte wie Leipzig, Erfurt, Magdeburg, Halle oder Braunschweig einen sichtbaren Aufstieg. Die Einbeziehung des mitteleuropäischen Raumes in die großen Ströme des transkontinentalen Handelsverkehrs „führte die europäische Konjunktur seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts auf Dauer aus der Sackgasse der vorangegangenen Jahre" (Van der Wee 1986: 584). An die Stelle der älteren Schiffsroute Brügge-Lübeck-Reval war ein west-östlicher Handelsweg zu Lande mit den wichtigsten Etappen Frankfurt am Main-Nürnberg-Leipzig-Posen getreten, den man für die süddeutschen und italienischen Produkte in der einen, für russische und polnische Waren in der entgegengesetzten Richtung benutzte. Als Breslau 1474 mitteilte, sich aus der Hanse zurückziehen zu wollen, wurde dies mit der Änderung der Handelswege und dem Weg-
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fall der Orientierung nach Norden argumentiert (Dollinger 1989:259). Der Positionsgewinn der kontinentalen Städte im internationalen Handelsgeschäft und deren Anbindung an den Wachstumsprozeß der fortschrittlichen Küstenzonen erfolgte weitgehend synchron mit dem Ausbau und der Erneuerung der Infrastruktur im Landhandel. Dazu kam im weiteren auch die Festlegung von Handelsmonopolen, wie sie in Fortführung traditioneller Muster in Form von Markt- (Messe-) und Stapelrechten erfolgte. Mit den großen kaiserlichen Privilegien trat Leipzig (1497, 1507) in eine Reihe mit Frankfurt und Nürnberg, ebenso wie mit Naumburg also mit Städten, mit denen es auch im Wechselgeschäft verbunden war (Kellenbenz 1986b:258ff). Für den eigentlich süddeutschen Raum stellte Nürnberg, selbst Mittelpunkt einer vornehmlich auf Metallwaren spezialisierten Produktionsregion (Stromer 1986:80ff), in der Nachfolge von Regensburg und als Vorgängerin von Augsburg die eigentliche Drehscheibe des Handels dar (Lütge 1970). Nach Überwindung der durch die Hussitenkriege mitbedingten Unterbrechungen wurden die Außenbeziehungen, nach Sachsen und Schlesien, Böhmen und Mähren, Polen und Rußland sowie zu den österreichischen Territorien, rasch intensiviert. Über die Linzer Messen und Wien ergaben sich weiters Verbindungen nach Oberungarn und Siebenbürgen. In Preßburg, der Hauptmautstelle für Ungarn, rangierten die billigen westeuropäischen Tuche als Haupteinfuhrartikel deutlich vor Eisen- und sonstigen Kramwaren. Ungarn brachte wiederum vor allem Lebendvieh (Ochsen) und Kupfer, das über die Weichsel und über Schlesien den mittel- und westeuropäischen Markt erreichte beziehungsweise nach Venedig ging, in die internationale Zirkulationssphäre. Die sowohl in den böhmischen Ländern als auch in Ungarn bestehenden Handelsbilanzdefizite mit dem Westen wurden durch den Export von Gold (in Form von Münzen) und Silber zu einem guten Teil ausgeglichen (vgl. auch Malowist 1974; Malowist 1987). Das ungarische Schlachtvieh, das zusammen mit anderen „Rohstoffen" vor allem gegen Textilien und sonstige Gewerbeprodukte getauscht wurde, signalisiert eine Form von Arbeitsteilung zwischen Zentrum und Peripherie, wie sie sich im spätmittelalterlichen Europa mehrfach nachweisen läßt. Voraussetzung war ein steigender Bedarf der in einem dynamischen Wachstumsprozeß befindlichen Städte. Wegen des Selbsttransports des Viehs konnte der Handel auch über lange Distanzen betrieben werden. Grundsätzlich läßt der europäische Ochsenhandel im Verlaufe des 15. Jahrhunderts mehrere Struktur- und Richtungsänderungen erkennen, regionale Muster wechselten mit international-kontinentalen ab.
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So bestand in den Niederlanden, in Flandern und Brabant, aber auch in Holland und Seeland zunächst ein System lokaler und regionaler Bedarfsdeckung, Grenzen wurden anfangs kaum überschritten. Das internationale Geschäft war im wesentlichen auf die drei Eckpunkte Ofen/Pest im Südosten, Venedig im Süden sowie die Städte Frankfurt am Main-Köln-Aachen im Norden beschränkt. Nach der um die Jahrhundertmitte kulminierenden Kräftigung des ungarischen Goldguldens, die mit einer Schwächung und Desintegration des Ochsenhandels einhergegangen war, veränderten sich die Verhältnisse neuerdings. So trat seit den sechziger Jahren im Norden mit Dänemark ein neuer Anbieter auf den Plan, der bereits 1484/1485 über 13.000 Ochsen exportierte. Spielte sich der nordwesteuropäische Viehmarkt zunächst innerhalb eines regionalen Kontexts ab, so kollabierten um 1500 die lokalen Märkte in dem Maße, wie sich ein neuer Fernhandel, bis Westfalen, Sachsen oder Thüringen, etablierte. Die Struktur des ungarischen Ochsenhandels änderte sich in der Form, daß sich das internationale Netzwerk in seinem nördlichen Abschnitt entweder in regionale Einheiten auflöste beziehungsweise eine Neuorientierung des internationalen Handels auf neue Märkte, vor allem in Polen, stattfand, wogegen sich die ungarische Hegemonie im Süden des Mains nach 1470 deutlich festigen konnte. Ein ungebrochener Aufschwung des süddeutschen und Wiener Markts verband sich hier bis weit ins 16. Jahrhundert hinein mit einem starken Anwachsen der Transporte nach Venedig (Blanchard 1986:bes. 428ff). Man hat das goldene Zeitalter des oberdeutschen Handels, dessen Manifestation am Beispiel der sogenannten Großen Ravensburger Handelsgesellschaft mit ihren Kontoren (um 1500) in Bern und Genf, Lyon, Avignon und Marseille, in Mailand und Genua, in Barcelona und Valencia, in Antwerpen, Köln, Nürnberg, Wien und Ofen abzulesen ist (Schulte 1923), von verbesserten Handelstechniken her zu erklären versucht. Tatsache ist aber, daß die Handelsmethoden der Deutschen im 15. Jahrhundert primitiver waren als jene der Italiener und Katalanen und selbst in der Zeit der Fugger nur unwesentliche Fortschritte gemacht wurden (Lopez 1987:398). Vielmehr muß die allgemeine internationale Situation als Hauptfaktor für die Entwicklung des süddeutschen Kapitalismus angesehen werden (vgl. auch Stromer 1970; Hildebrandt 1991). Zahlreiche militärische Auseinandersetzungen und die fortgesetzte ungünstige Handelsbilanz Europas mit der Levante steigerten den Bedarf an edlen und unedlen Metallen, für welche die alpinen Bergwerke und der süddeutsche Handel als Produzenten beziehungsweise Vermittler fungierten. Mit der Ausdehnung der kom-
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merziellen Revolution in große Gebiete Ostmitteleuropas, von Polen über die böhmischen Länder bis Ungarn, konnten deutsche Städte wichtige Fäden für die Expansion in die Hand bekommen. Zudem begünstigten politische und ökonomische Schwierigkeiten in Frankreich, Italien und Flandern, die den Handel über die Westalpen behinderten, die immer häufigere Wahl von Trassen über die Ostalpen.
ZUSAMMENFASSUNG
Verglichen mit den Strukturen um die Mitte des 15. Jahrhunderts, hatte das europäische Fernhandelssystem gegen 1500 - mit den Marksteinen der Eröffnung der Seewege nach Westindien 1492 und Ostindien 1498 - wesentlich neue Züge erhalten. Um mit Wallerstein zu sprechen, hatte sich eine neue europäische Arbeitsteilung entwickelt (Wallerstein 1986). Das mediterrane Becken als bis dahin uneingeschränkt führende Handelszone hatte einen Gutteil seiner Dynamik verloren. Dies bedeutet zwar keineswegs einen Rückzug der Italiener aus dem internationalen Geschäft, doch ist eindeutig erkennbar, daß sich führende Kräfte, allen voran die Genuesen, nach der Ausweitung der osmanischen Herrschaftssphäre in der Levante von dort zurückzogen, um sich mit dem Handel mit Kastilien und Westafrika der atlantischen Sphäre zuzuwenden. „Der Aufschwung Sevillas und Lissabons beruhte darauf, daß von hier aus die Genuesen den Katalanen den Handel mit Gold aus dem Sudan und von der Guineaküste abjagen" (Pitz 1989:382). Italienische Kaufleute aus anderen alten Metropolen Oberitaliens überschwemmten den Kontinent von Lyon über Antwerpen bis zu den ostmitteleuropäischen Bergbaurevieren, um hier - gestützt auf ihr kapitalistisches Know-how - durch Infiltration der regionalen ökonomischen Netzwerke den Bedeutungsverlust in Grenzen zu halten. Verschoben hatten sich auch die Gewichte im europäischen Nordwesten und Norden. An die Stelle Brügges, wo sich Jahrzehnte hindurch der Austausch der Mittelmeerwaren, der gewerblichen Produkte Nordwesteuropas und der Rohstoffe des Ostseeraums vollzogen hatte, war das brabantische Antwerpen getreten, das nicht nur durch eine Abkehr von der mittelalterlichen Norm der Handelslenkung durch Reglementierungen gekennzeichnet ist, sondern auch durch die Einbindung in neue ökonomische Zusammenhänge: den von Portugal beherrschten Gewürzhandel, den von den Oberdeutschen dominierten Handel mit Bunt- und Edelmetallen, vor allem mit Silber und Kupfer, und das von England verstärkt betriebene Tuchgeschäft. Noch sind die
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Niederlande nicht Opfer der späteren politischen oder konfessionellen Spaltung, doch wird die Expansion in den bisher von der deutschen Hanse dominierten Raum der Ostsee und des Baltikums in erster Linie von den Holländern getragen. Innerhalb der östlichen Flanke des hanseatischen Raumes tritt eine Differenzierung in der Form ein, daß einzelne Städte des Bundes ihre Positionen wohl absichern können, zahlreiche Mitglieder aber dadurch verlieren, daß der Handel mit Rußland zunehmend zum Landhandel über außerhanseatisches Gebiet wird. Die Nachfrage nach Fleisch führt ferner dazu, daß Teile Osteuropas wie Ungarn, die Moldau und die Walachei sowie Ostpolen, die niemals zum Einflußbereich der Hanse gehört hatten, in das europäische Handelsnetz integriert werden. Dies bedeutet eine Aufweitung der kommerziellen Stellung Oberdeutschlands, das mit seinen Stützen Textilien (Barchent, Leinen) sowie Edel- und Buntmetalle zur immer gewichtigeren Klammer zwischen dem europäischen Nordwesten - Antwerpen - und dem immer noch starken Süden - vor allem Venedig - wird.
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DIE
ANFÄNGE
DER EUROPÄISCHEN
PARTIZIPATION
AM W E L T W E I T E N Die A k t i v i t ä t e n
HANDEL:
der Portugiesen
im 15. u n d
16.
RENATE
und
Spanier
Jahrhundert
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Die Geschichte der sogenannten europäischen Expansion ist als Entwicklung der europäischen, imperialen Dominanz über die außereuropäische Welt beschrieben worden. Für das 15. und 16. Jahrhundert haben Fernand Braudel (Braudel 1979) und Immanuel Wallerstein (Wallerstein 1974) die historiographischen Konzepte erarbeitet. Wallerstein zeichnete die Entstehung eines modernen Weltsystems auf, in dessen Zentrum Europa lag. Ebenso wie Braudel ging er dabei von einer politischen Perspektive aus, für die ihm wirtschaftliche Daten als Unterstützung dienten. Den Interpretationen, die im politischen Klima der 1970er Jahre entstanden, treten neuere Studien entgegen. Insbesondere Arbeiten zur Geschichte Indiens und des Osmanischen Reiches an der Wende zur Neuzeit betonen gegenüber der stark eurozentrischen Perspektive die eigenständigen Entwicklungen der arabischmuslimischen Welt und des asiatischen Raumes, die allenfalls am Rande mit den europäischen Entwicklungen in Zusammenhang standen (Subrahmanyam/Thomaz 1991; Subrahmanyam 1998). Selbst Analysen zur Entwicklung des amerikanischen Kontinents im 16. Jahrhundert lassen erkennen, daß die Abhängigkeit der neuen Kolonialgebiete von den europäischen Mutterländern bei weitem nicht so groß war, wie man es in Europa wünschte oder dachte (Romano 1993). Somit zeigen Studien zur außereuropäischen Geschichte die Grenzen des Begriffs der „europäischen Expansion" mit aller Deutlichkeit auf und legen es nahe, die Terminologie für die Frühe Neuzeit zu überdenken.
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Das Ausgreifen der Europäer über die eigene Region hinaus und die Überwindung der eigenen regionalen Begrenztheit wird in allen einschlägigen Werken als Handelsexpansion beschrieben. Dennoch steht der Aspekt des Handels und des Warenaustausches, sieht man von genuin wirtschaftshistorischen Arbeiten ab, vielfach nur am Rande der allgemeinen historiographischen Interpretationen (Brady 1991). Eine genauere Analyse der Handelsströme würde es aber nahelegen, die Ausdehnung der europäischen Handelsbeziehungen seit dem 15. Jahrhundert als eine Integration Europas in überregionale Handelsnetze zu beschreiben, die zu einer langsamen und kontinuierlichen Einbindung der europäischen Wirtschaften in globale Zusammenhänge führte. Bei einer derartigen Analyse sind neben den wirtschaftlichen und politischen Aspekten vor allem die kulturellen Rahmenbedingungen zu berücksichtigen. Der Beginn der europäischen Integration in eine weltweite Wirtschaft und in einen weltweiten Handel wird im allgemeinen mit der 1415 erfolgten Eroberung von Ceuta an der nordafrikanischen Küste durch die Portugiesen angesetzt (O'Brien/Prados de la Escosura 1998). Dieser Gründung eines ersten kolonialen Stützpunktes in Nordwestafrika folgte bis 1460 die Eroberung und Kolonisation der Atlantikinseln Madeira, Porto Santo, Azoren, Kap Verde und die Errichtung von Handels- und Schiffahrtsstützpunkten entlang der westafrikanischen Küste. In den siebziger Jahren des 15. Jahrhunderts nahm man die Erkundungsreisen wieder auf und erreichte 1471 ¡12 den Äquator, zehn Jahre später die Kongomündung, und schließlich umrundete Bartolomeu Dias 1487/88 das Kap der Guten Hoffnung. Eine Kolonisation des Inneren des afrikanischen Kontinents war zunächst nicht beabsichtigt und gelang auch im 16. Jahrhundert nicht, da die verschiedenen Versuche der Portugiesen, die Goldlager im Sudan zu erreichen, am Widerstand der Afrikaner scheiterten (Magalhäes-Godhino 19811984). Im Zeitraum von 1413 bis 1488 konnten auch die Osmanen ihr Reich in Europa wesentlich ausdehnen. Sie waren bis nach Bosnien und Serbien vorgedrungen und hatten Konstantinopel, Trapezunt, Karaman und große Teile der Ägäis erobert. Dabei brachten sie auch in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts die osteuropäischen Edelmetallvorkommen unter ihre Kontrolle: Novobrdo 1440, Srebrenica 1445 und Kratovo 1490 (Sahillioglu 1983:269-304). Die Portugiesen folgten bei ihrem Vorgehen dem Vorbild der Venezianer und Genuesen, die im Hochmittelalter Kolonien in Kleinasien gegründet und eigene Handelsverbindungen bis nach China aufgebaut hatten. Im Verlauf des 14. und in der ersten Hälfte des 15. Jahr-
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hunderts verloren die italienischen Stadtstaaten ihre außereuropäischen Besitzungen nach und nach an das Osmanische Reich. Mit der Einnahme von Konstantinopel im Jahre 1453 war das Schicksal der venezianischen und genuesischen Kolonien im Vorderen Orient endgültig besiegelt. Betrachtet man das Ausgreifen der Portugiesen in den westlichen Atlantik, das unter intensiver Beteiligung von genuesischen Seeleuten, Kartographen, Schiffen, Kapital und Know-how erfolgte, vor dem Hintergrund der Ereignisse in der Levante, so kann man die Fahrten in den Atlantik und nach Westafrika als Fortsetzung der gescheiterten italienischen Kolonisationsbemühungen im östlichen Mittelmeer beschreiben (Subrahmanyam/Thomaz 1991:300ff). Daher ist der Beginn der Integration Europas in überregionale Wirtschaftsräume nicht erst mit dem 15. Jahrhundert anzusetzen, auch wenn im folgenden die Wende zur Neuzeit im Zentrum der Analyse steht. Eine Zäsur der fortschreitenden Einbindung Europas in globale Wirtschaftsstrukturen stellten die schon erwähnte Umsegelung des Kaps der Guten Hoffnung durch Bartolomeu Dias und die ein Jahrzehnt später erfolgte Fahrt Vasco da Gamas nach Indien (1497/98) dar. Diese Unternehmungen bildeten die Voraussetzung für die Entstehung des Estado da India, eines lockeren Netzes portugiesischer Handelsstützpunkte an der ostafrikanischen Küste, in West- und Südindien sowie in Indonesien und auf den Molukken. Die teilweise recht prekäre Präsenz der Portugiesen in Asien hing von ihrer Duldung durch die einheimischen Gesellschaften ab, die sich bemühten, christliche und muslimische Händler gegeneinander auszuspielen (Subrahmanyam/Thomaz 1991). Zeitgleich mit der direkten Kontaktaufnahme südeuropäischer Händler mit der asiatischen Welt stießen die Kastilier, unter genuesischer und florentinischer Beteiligung und Unterstützung, in den westlichen Atlantik vor. Im 1492 erreichte die erste Kolumbusexpedition die Karibik. Im Gegensatz zum Vorgehen der Portugiesen in Afrika und Asien entschloß sich die kastilische Krone 1502 dazu, in der Karibik zur Siedlungskolonisation überzugehen. Nach der Eroberung des Azteken(1521) und des Inkareiches (1534) wurde dieses Konzept auf das amerikanische Festland übertragen. Mit der Errichtung der Vizekönigreiche Mexiko und Peru war die erste Phase der kastilischen Eroberung in Amerika abgeschlossen. Die Europäer kontrollierten nun große Teile des amerikanischen Territoriums. Die Portugiesen hielten bei der ab 1500 erfolgenden Kolonisation Brasiliens zunächst am Konzept der Handelskolonisation fest, angesichts der Angriffe und des Vordringens von Franzosen und Kastiliern in das von Portugal beanspruchte Terri-
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torium sah sich die portugiesische Krone 1532 aber gezwungen, an der brasilianischen Küste ebenfalls zur Siedlungskolonisation überzugehen. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts hatten die iberischen Staaten ihren kolonialen Besitz in Amerika weitgehend konsolidiert, allerdings um den Preis des Massensterbens der indianischen Bevölkerung an den von Europäern und Schwarzafrikanern eingeschleppten Krankheiten (Handbuch der Geschichte Lateinamerikas 1994). Das Ende der hier dargestellten ersten Phase der europäischen Partizipation am weltweiten Handel wird durch die Niederlage der Spanier und Portugiesen auf den europäischen Schlachtfeldern des 17. Jahrhunderts markiert. Dies führte zu innereuropäischen Machtverschiebungen, vor allem zum Verlust der Vormachtstellung der Länder des westlichen Mittelmeers und zum Aufstieg Nordwesteuropas. Die zwischen 1600 und 1621 erfolgten Gründungen der Ost- und Westindischen Kompanien in England und den Niederlanden schufen für diese Staaten die Voraussetzung, sich zu Beginn des 17. Jahrhunderts in den transkontinentalen Handel einzuschalten. Studien zum überregionalen Handel Europas in der Frühen Neuzeit haben die Bedeutung der Atlantikschiffahrt immer wieder hervorgehoben. Angesichts der zähen Auseinandersetzungen der christlichen Fürsten mit dem Osmanischen Reich während des 15. und 16. Jahrhunderts und der bis zum Ende des 15. Jahrhunderts währenden Monopolstellung des Levantehandels für die Versorgung Europas mit asiatischen Luxuserzeugnissen sollte man die Rolle des Atlantikhandels in der hier interessierenden Periode nicht überschätzen. Neuere Untersuchungen zum Warenaustausch im Indischen Ozean und im Pazifik zeigen, daß noch im 17. Jahrhundert das Volumen des Handels zwischen Ostindien und dem Vorderen Orient deutlich größer war als der Warentransfer über die Atlantikroute (Subrahmanyam 1998:188-203). Daher soll im folgenden auch die Bedeutung des traditionellen Mittelmeerhandels im Vergleich zum Warenaustausch, der über den südlichen Atlantik abgewickelt wurde, Berücksichtigung finden. Bei der Analyse der zunehmenden Integration des europäischen Handels in weltweite Handelsverbindungen sind unter Berücksichtigung der jeweiligen kulturellen Rahmenbedingungen die in Europa verfolgte Handelspolitik und -Organisation, die Beschaffenheit und das Volumen der Güter und Waren, die ausgetauscht wurden, sowie die regionale Ausrichtung der Handelsströme und ihre Verschiebungen zu untersuchen. Da die erste Phase der europäischen Partizipation am Welthandel von Südeuropa ausging, steht das Vorgehen der Portugiesen, Spanier und
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Italiener im Vordergrund der Darstellung. Der Betrachtungszeitraum von 1415 bis 1621 läßt sich in drei Perioden gliedern: Der erste Zeitabschnitt umfaßt die Epoche von der Einnahme von Ceuta bis zur ersten Kolumbusexpedition und dem Eintreffen Vasco da Gamas in Indien (1415-1492-1498). Die folgende Periode der Gründung ausgedehnter europäischer Handels- und Siedlungskolonien endet mit der Konsolidierung der europäischen Kolonialherrschaft auf dem amerikanischen Kontinent um die Mitte des 16. Jahrhunderts. Die daran anschließende Blüte der portugiesischen und spanischen kolonialen Handelssysteme in Asien, Afrika und Amerika ging mit den erfolgreichen militärischen Angriffen der Niederländer und Engländer auf die Niederlassungen der iberischen Staaten in Übersee Anfang des 17. Jahrhunderts zu Ende (Emmer 1998). DIE ANFÄNGE DES PORTUGIESISCHEN AFRIKAHANDELS Der Beginn der Erkundung des Atlantiks und die Erschließung neuer Handelsrouten erfolgte unter Federführung und Aufsicht der neuen portugiesischen Dynastie der Avis, die dem städtischen Handelsbürgertum verpflichtet war. Nach der geglückten Eroberung der marokkanischen Stadt Ceuta übertrug der portugiesische König seinem dritten Sohn, dem Infanten Heinrich (später genannt der Seefahrer) die Organisation der weiteren Expeditionen. Heinrich verfügte als Großmeister des Christusordens über die Einkünfte desselben, außerdem ließ er sich die Einnahmen aus den zukünftigen Handelskolonien zusichern. Er verstand es, die portugiesischen Interessen zu bündeln und die bereits seit längerem in Portugal als Kaufleute, Seefahrer und Kartographen tätigen Genuesen für seine Unternehmungen zu interessieren. Auch nach dem Tode Heinrichs des Seefahrers (1460) behielt sich die Krone die Organisation der Fahrten und das Handelsmonopol vor. In ihrem Auftrag fuhren private Schiffseigner, vorwiegend auf portugiesischen Schiffen, die afrikanische Küste entlang und legten nach ihrer Rückkehr die erworbenen Güter in Lissabon im königlichen Handelshaus, der Casa da Guinea e Mina, vor. Hier wurden die Güter zentral versteigert und ein Teil über die königliche Faktorei in den Niederlanden vermarktet. Dieses königliche Handelsmonopol die Forschung hat vom capitalismo monárquico, das heißt, vom königlichen Kapitalismus, gesprochen (Dias 1963; Bernecker/Pietschmann/Zoller 2000:9-20) - führte dazu, daß afrikanische Erzeugnisse nun zunehmend durch den Handel mit westafrikanischen Kaufleuten ins christliche Europa gelangten. Die arabischen Händler in Nord-
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afrika, die unter den Einfluß der osmanischen Herrschaft gerieten, konnten ihre Waren nun nicht mehr direkt an die Italiener verkaufen. Sie wurden durch unter portugiesischer Flagge operierende Händler umgangen, und die Gewinne aus dem Afrikahandel verblieben nicht mehr ausschließlich in den Händen von Osmanen und Venezianern, sondern an ihnen partizipierten auch Portugiesen ebenso wie Genuesen und Florentiner, die ihre Aktivitäten rechtzeitig diversifiziert hatten. Welches waren die Güter, die man über diese großen Distanzen hinweg austauschte, deren Wert so hoch war, daß sie sich trotz hoher Transportkosten noch mit Gewinn vermarkten ließen und die in unterschiedlichen kulturellen Umfeldern geschätzt wurden? Aus Westafrika kamen vor allem Gold, Elfenbein und Sklaven nach Europa (Pedreira 1998:96). Schwarzafrikanische Sklaven wurden seit alters her im Mittelmeerraum als Haussklaven eingesetzt. Die Schwarzafrikaner, die die Portugiesen nun kostengünstiger von der westafrikanischen Küste und nicht mehr aus der arabischen Welt bezogen, mußten nicht nur in Südeuropa als Haussklaven arbeiten, sondern auch auf den neuen portugiesischen Zuckerrohrplantagen in Madeira. Das neue Genußmittel der Europäer, der Zucker, war also von Anfang an mit Sklavenhandel und Sklaverei verbunden. Im Gegensatz zum Zucker kannten und schätzten die Europäer Elfenbein bereits im Mittelalter, so daß die portugiesischen Händler hier an bestehende Bedarfsstrukturen anknüpfen konnten. Allerdings gelangte das teure und seltene Elfenbein nur in geringen Mengen über die Südatlantikroute nach Europa. Das wichtigste afrikanische Exportgut war das Gold aus dem Sudan. Afrikanisches Gold erhöhte in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts die durch das Vordringen der Osmanen in die Bergbaugebiete des Balkans knapp gewordenen Edelmetallvorräte im christlichen Europa (Pieper 1985:21). Durch die teilweise Verlagerung der Handelsbeziehungen von den arabisch-osmanischen Zwischenhändlern zu denen Westafrikas ergab sich für die Europäer eine wesentliche Verbesserung ihrer internationalen Handelsposition. Afrikanische und asiatische Erzeugnisse, die über den Levantehandel nach Europa importiert wurden, konnten zu Beginn des 15. Jahrhunderts nur zu einem geringen Teil mit europäischen Manufakturwaren bezahlt werden. Vielmehr hing das Volumen des Levantehandels enlscheidend von der europäischen Edelmetallproduktion ab. In Westafrika hingegen ließen sich Produkte absetzen, die man in Nordafrika und der Levante nicht hatte kommerzialisieren können. Außerdem verschafften sich die Europäer auf der Route über den südlichen Atlantik die für den Orienthandel notwendigen Devisen in Form von afrikanischem Gold.
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Bei den Erzeugnissen, die die Europäer zwar den Westafrikanern, nicht aber den arabischen Kaufleuten anbieten konnten, handelte es sich um in Europa zwar ebenfalls hochgeschätzte, im Orient aber in größerer Perfektion hergestellte Güter. Hierzu zählten Glaswaren und Keramik, Kupfer- und Eisenerzeugnisse, insbesondere Waffen, und Textilien wie Leinen- und dünne Wollgewebe. Dem Austausch von christlichen und orientalischen gewerblichen Waren hatten tiefgreifende kulturelle und religiöse Unterschiede entgegengestanden. Weder fand sich im Orient ein großer Absatzmarkt für mitteleuropäische Ritterrüstungen, Tische, Stühle oder mit figürlichen Darstellungen geschmückte Tapisserien, noch hatte man im Okzident in größerem Umfang Verwendung für orientalisches Mobiliar, Kleidung oder ausgefeilte Waffen. So konzentrierte sich der transkulturelle und transkontinentale Handel mit der Levante auf Rohstoffe wie orientalische und asiatische Gewürze und Färbemittel sowie europäische Edelmetalle, Bernstein, Felle und Salz. Aus Asien kamen außerdem Seiden- und Baumwollgarne sowie Stoffe aus diesen teuren Materialien. Als besondere Kuriosität handelte man in Europa orientalische Teppiche und Porzellan. Sie erhielten auf den Gemälden des 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts einen besonderen Platz. Auch Damaszener Klingen waren im Norden beliebt. Umgekehrt hören wir aber nichts von europäischen Eisenerzeugnissen, die auf den levantinischen Märkten angeboten worden wären (Braudel 1986). Die Westafrikaner wurden zunächst von den arabischen Händlern über Nordafrika mit Metallerzeugnissen, Glaswaren, Pferden und hochwertigen Textilien versorgt. Mit dem Erscheinen der Europäer vor ihren Küsten akzeptierten sie nun einige der von diesen mitgebrachten Güter. Je weiter die Handelsbeziehungen zwischen Europa und Westafrika ausgebaut wurden, um so stärker spezifizierten beide Seiten ihre jeweiligen Wünsche und Vorstellungen. So lassen Handelslisten aus dem 17. Jahrhundert den Grad der Diversifizierung europäischer Erzeugnisse erkennen, die in Westafrika abgesetzt werden konnten (Emmer 1988). Umgekehrt stellten sich auch die Afrikaner auf die europäischen Bedürfnisse und den europäischen Geschmack ein, um beispielsweise ihre Elfenbeinschnitzereien gewinnbringend verkaufen zu können. Ein ungleicher Tausch zwischen Westafrika und Europa, der unter dem Motto „Gold gegen Glasperlen" Eingang in die allgemeine Vorstellung gefunden hat, läßt sich bei genauerer Betrachtung des Handels zwischen diesen beiden Regionen zumindest für das 15. und 16. Jahrhundert nicht feststellen. Durch den Verkauf von Metallwaren aus Eisen und Kupfer, leichten Textilien, Glaserzeugnissen und Pferden an der afrikanischen Westkü-
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ste verschaffte sich Europa die dringend benötigte Liquidität in Form von afrikanischem Gold, um sein weiterhin bestehendes Defizit im Levantehandel ausgleichen zu können. Denn auch während des Vordringens der Portugiesen entlang der afrikanischen Küste blühte der Handel mit der Levante weiter. Namentlich die Venezianer hatten sich bald mit den neuen osmanischen Herrschern arrangiert und transportierten nach wie vor Gewürze und Seide, die aus Ostasien und Hinterindien nach Arabien gebracht wurden, von hier aus ins christliche Europa (Crouzet-Pavan 1999). Somit betrafen die wichtigsten Veränderungen, die durch das Vordringen der Portugiesen in den Atlantik ausgelöst wurden, die Europäer selbst. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß nicht nur portugiesische Händler in den Westen des Atlantiks vordrangen, sondern in zunehmendem Maße kastilische und baskische Kaufleute ihre Position in Flandern und England als Rohund Farbstofflieferanten für die flandrische und beginnende englische Tuchindustrie ausbauen konnten. Gleichzeitig verbreiteten die Nordkastilier portugiesischen Zucker (Caunedo del Potro 1983). Für die Afrikaner bedeutete das Auftauchen der Portugiesen und anderer christlicher Europäer im Westen eine Verlagerung der innerafrikanischen Handelswege vom Mittelmeer zum südlichen Atlantik. Über den Umfang und die Folgen dieser Verschiebung jahrhundertealter Handelsströme innerhalb Afrikas ist uns bislang nur wenig bekannt. Weder für die indische und ostasiatische noch für die arabische Wirtschaft werden die ersten europäischen Bemühungen, an den großen transkontinentalen Warenströmen stärker zu partizipieren, deutlich spürbar gewesen sein, denn Gewürze, Farbstoffe und Seide fanden ihre Abnehmer wie zuvor, allenfalls könnte es zu einer erhöhten Nachfrage gekommen sein. So brachte denn die portugiesische Expansion in den Atlantik vor allem den Europäern eine Veränderung ihrer Handelsströme, indem der südliche Atlantik gegenüber dem östlichen Mittelmeer zunehmend an Bedeutung für sie gewann.
DER
WEG
NACH
ASIEN
UND
DIE
KOLONISATION
AMERIKAS
Als 1488 mit Bartolomeu Dias zum ersten Mal ein Europäer das afrikanische Kap umfahren hatte und der ununterbrochene Schiffsweg zum Indischen Ozean in greifbare Nähe gerückt war, rüstete 1492 auch die Kastilische Krone, die Rivalin Portugals, eine Expedition in den westlichen Atlantik aus. Es bestand die Hoffnung, schneller als die Portugiesen und unter Einhaltung des mit Portugal geschlossenen Ver-
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träges von Alcágovas (1479), der den Kastiliern Fahrten in den südlichen Atlantik untersagte hatte, die so begehrten asiatischen Erzeugnisse zu erlangen und die damit verbundenen Handelsgewinne zu erzielen. Die Ergebnisse dieser und der folgenden Expeditionen, die Entdeckung der für die Europäer unbekannten karibischen Inselwelt und des amerikanischen Festlandes sowie die dann erfolgende Eroberung und Kolonisation veränderten nicht nur die Situation in Amerika dramatisch, sondern führten auch zur grundlegenden Wandlung der europäischen Handelsbeziehungen. Aus diesem Grunde einigten sich die beiden iberischen Mächte bereits 1494 im Vertrag von Tordesillas über eine neue Demarkationslinie im Atlantik, die den Portugiesen ihre afrikanischen Stützpunkte garantierte und ihnen implizit die damals noch unbekannte Ostküste Südamerikas (Brasilien) zusprach, wohingegen sich die Kastilier ihren Einfluß im damals ebenfalls unerforschten Westatlantik sicherten und später den größten Teil des amerikanischen Kontinents beanspruchen konnten. 1529 regelte der Vertrag von Zaragoza die Abgrenzung der portugiesischen und spanischen Interessensphären in Ostasien. In diesem Zusammenhang kauften die Portugiesen den Spaniern das Zentrum der ostasiatischen Gewürzproduktion, die Molukken, ab, wodurch der spanische Handel auf die Verbindungen zwischen Europa und Amerika beschränkt blieb, wohingegen die Portugiesen ihre wertvollen Handelskontakte auf drei Kontinenten außerhalb Europas ausbauen konnten. 1502 entschloß sich die kastilische Krone, dem portugiesischen Vorbild der Handelskolonisation nicht mehr länger zu folgen, sondern auf den Antillen zur Siedlungskolonisation überzugehen. Daher errichtete sie 1503 in Sevilla ein königliches Handelshaus als Aufsichtsbehörde, die Casa de la Contratación. Im Unterschied zu den Portugiesen beteiligte sich die kastilische Krone nicht direkt am Handel, sondern beschränkte sich darauf, Steuern auf diesen und die Schifffahrt zu erheben. Der Handel mit Amerika wurde ebenso wie die Eroberung und Kolonisation der Neuen Welt privaten Unternehmern und privaten Personengesellschaften übertragen. Mit der Einziehung der Abgaben wurde die neu geschaffene Sevillaner Behörde beauftragt. Außerdem war die Casa de la Contratación für die Überwachung des Handels und der Schiffahrt mit Amerika zuständig. Hier wurden die Schiffe auf ihre Sicherheit hin überprüft, Lotsen und Kapitäne ausgebildet, Karten und Navigationsinstrumente erstellt und verkauft. Um die Monopolstellung der Kastilier in den von ihnen beanspruchten Gebieten zu gewährleisten, sollten die Beamten der Casa darauf
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achten, daß nur christliche und unbescholtene Kastilier in die neuen Kolonien auswanderten, daß nur kastilische Schiffe die Handelsrouten befuhren und daß vor allem kastilische Waren in die Neue Welt exportiert wurden. Ein staatliches Handelsmonopol, wie dies die Portugiesen errichtet hatten, beabsichtigten die Kastilier nicht. Allerdings ließen sich die andalusischen Kaufleute und Grundbesitzer einen Teil des Frachtraumes für ihre landwirtschaftlichen Erzeugnisse, insbesondere Wein und Öl, von der Krone zusichern. Die unter dem staatlichen Schutz der Casa de la Contratación operierenden Kaufleute schlössen sich zumeist zu befristeten Handelsgesellschaften zusammen, bei denen vielfach familiäre Verbindungen den Ausschlag gaben. Zur Finanzierung des Überseehandels bedienten sie sich extensiv der in Italien im Fernhandel gebräuchlichen Kredit- und Versicherungsgeschäfte und entwickelten diese weiter. Um den Handel mit Amerika zu kontrollieren und die Kolonisationsbemühungen zu kanalisieren, schränkte die Krone die Zahl der Häfen ein, die von den kastilischen Schiffen hüben wie drüben des Atlantiks angelaufen werden durften. Alle aus Amerika kommenden und alle nach Amerika ausfahrenden Schiffe mußten den Hafen von Sevilla anlaufen. Als auf dem amerikanischen Festland Kolonien entstanden waren, legte die spanische Krone auch dort Zielhäfen fest. So sollte Südamerika über den Hafen Nombre de Dios an der Atlantikküste Panamas versorgt werden. Nach verschiedenen Angriffen europäischer Korsaren löste das leichter zu verteidigende, etwas nördlicher gelegene Puertobelo den Hafen von Nombre de Dios ab. Die Verbindung zu Mexiko wurde über den Atlantikhafen Veracruz gewährleistet. Auf der Rückreise nach Spanien hatten sich die Schiffe zunächst in Havanna zu versammeln, bevor sie ihre Fahrt über den Atlantik antraten. Handelskontakte mit den Regionen am Pazifik, insbesondere mit Peru und Hochperu, dem heutigen Bolivien, sollten angesichts der noch bis ins 18. Jahrhundert recht gefahrvollen Segelroute um Kap Horn über den Isthmus von Panama abgewickelt werden. Die bis weit ins 17. Jahrhundert von Europäern nur wenig besiedelten Gebiete an der venezolanischen Küste und im La Plata-Gebiet wurden von den offiziellen Routen, so wie man sie in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts konzipierte, nicht berücksichtigt. Eine Besonderheit im Rahmen des von Spanien reklamierten Handelsmonopols war der Sklavenhandel. Da die Kastilier vertraglich auf Handelsstützpunkte an der westafrikanischen Küste verzichtet hatten und sich darum bemühten, fremde Kaufleute von den eigenen Besitzungen fern zu halten, sah sich die Krone gezwungen, an Portugie-
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sen und andere mit Portugal in Verbindung stehende Händler Lizenzen (asientos) zu vergeben, in denen diesen das Recht zum Import bestimmter Kontingente schwarzafrikanischer Arbeitskräfte nach Spanisch-Amerika gewährt wurde (Bernal 1993; Chaunu 1969; Fisher 1992; Fisher/Pietschmann 1994). Die zahlreichen Reglementierungen, die die direkte Partizipation der kastilischen Krone am Überseehandel ersetzen sollten, standen zunächst durchaus mit den Interessen der Sevillaner Kaufmannschaft im Einklang, denn auf diese Weise wurde eine für die Weite des Raumes bestmögliche Infrastruktur zur Verfügung gestellt. Die während der Regierungszeit Karls V. erfolgte Zulassung weiterer spanischer und amerikanischer Häfen zum Amerikahandel hielt man nicht lange aufrecht. Als sich die Angriffe französischer und englischer Korsaren auf die zwischen Amerika und Spanien verkehrenden Schiffe infolge der innereuropäischen Auseinandersetzungen um die Mitte des 16. Jahrhunderts häuften, führte man das aus dem Mittelmeerhandel bekannte und bewährte Konvoysystem auch im spanisch-amerikanischen Atlantikhandel ein. Trotz aller Reglementierungsversuche wurde das spanische - ebenso wie das portugiesische - Handelsmonopol von Anfang an durch Veruntreuungen und Schmuggel unterlaufen. Als sich Engländer und Holländer im 17. Jahrhundert am organisierten Überseehandel beteiligten, mußten auch sie ähnliche Erfahrungen machen. Während sich die Kastilier bereits ab 1503 von den im 15. Jahrhundert entwickelten portugiesischen Handelskonzepten abwendeten, verfolgten die Portugiesen auch nach dem Eintreffen von Vasco da Gama in Indien (1498) weiterhin ihre bisherige Politik des königlichen Kapitalismus. Die in Indien eingesetzten Vizekönige, denen die Kontrolle der über riesige Entfernungen verstreuten Handelsstützpunkte oblag, traten als königliche Handelsvertreter oder Faktoren der Lissaboner Zentrale auf. Angesichts der großen Entfernungen genossen die mit königlichen Handelsprivilegien versehenen privaten Kaufleute große Handlungsfreiheit und schalteten sich verstärkt in den innerasiatischen Handel ein. Der portugiesische Sklavenhandel wurde direkt zwischen der afrikanischen Westküste und Brasilien abgewickelt. Die spanisch-portugiesischen Verträge sicherten den Portugiesen die brasilianische Küste. Hier wurden Brasilholz gewonnen, Zuckerrohrplantagen angelegt und außerdem an der Küste Stützpunkte, wie die Stadt Bahia, für die aus Indien zurückkehrenden Flotten errichtet. Die Einbindung Westafrikas und Brasiliens in den Asienhandel und die Entstehung der Zuckerplantagen in Brasilien, die mit Hilfe schwarzafrikanischer Sklaven bewirtschaftet wurden, schufen enge Handels-
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Verbindungen zwischen den portugiesischen Niederlassungen an der brasilianischen und der afrikanischen Küste (Pedreira 1998:117; Bernecker/Pietschmann/Zoller 2000:29ff). Wie veränderten sich die europäischen Handelsbeziehungen mit Asien durch die Errichtung der dortigen portugiesischen Handelsstützpunkte? Südeuropäische Händler erhielten nun direkten Zugang zu den begehrten ostasiatischen Waren wie Pfeffer, Nelken, Zimt, aber auch Seide und Porzellan. In den ersten Jahren des 16. Jahrhunderts gelang es den Portugiesen für kurze Zeit, die Pfefferversorgung des europäischen Kontinents zu monopolisieren. Die Venezianer arrangierten sich daraufhin mit den Osmanen, unterboten die portugiesischen Pfefferpreise und konnten sich damit ihre Stellung als Pfefferlieferanten in Mitteleuropa sichern (Lane 1940). Mitte der fünfziger Jahre des 16. Jahrhunderts mußten die Portugiesen den Preiskampf aufgeben und schlössen in der Folge ihre Faktorei in Antwerpen. Auch ein nochmaliger Versuch, den Pfefferhandel zu monopolisieren, den oberdeutsche Kaufleute in den 1580er Jahren unternahmen, scheiterte. Der Kampf um den Pfeffer zeigt beispielhaft, daß durch die neuen handelspolitischen Konstellationen das östliche Mittelmeer und die Levante zwar an relativer Bedeutung einbüßten, ihre absolute Vormachtstellung im Handel Europas mit Asien aber aufrecht erhalten konnten (Subrahmanyam 1998:198ff). Pfeffer wurde ebenso wie die übrigen Gewürze, kostbaren Game und Stoffe zunehmend mit afrikanischem Gold bezahlt. Hinzu kam Silber aus den in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts neu aufblühenden Bergwerken Mitteleuropas. Seit dem Beginn der Goldproduktion auf Hispaniola (seit ca. 1505) tauschten die Europäer auch amerikanisches Edelmetall gegen asiatische Güter. Schließlich wurde die Edelmetallknappheit Europas, die den Erwerb der fernöstlichen Luxuserzeugnisse beeinträchtigte, dadurch gemildert, daß sich die Portugiesen in den Handel im Indischen Ozean und in jenen Ostasiens einschalteten. Das Vordringen der europäischen Händler in ihnen bis dahin unzugängliche Regionen bedeutete für Europa also vor allem eine Verschiebung der Handelswege und eine deutliche Aufwertung des westlichen gegenüber dem südöstlichen Europa. Im asiatischen Raum kam es zwar zu einer erhöhten Produktion der von Europa verstärkt gewünschten Erzeugnisse, strukturelle Verschiebungen ergaben sich in dieser Phase allerdings noch nicht, da sowohl die portugiesische Präsenz als auch die zusätzliche Nachfrage verhältnismäßig unbedeutend waren. Im Unterschied zu Asien änderte sich die Situation in Amerika seit dem 16. Jahrhundert einschneidend, denn im Zuge der Besiedlung
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der Neuen Welt durch die Europäer und der Ausbildung kolonialer Herrschaften kam es in den altamerikanischen Territorien zu von den Spaniern veranlaßten, grundlegenden Umgestaltungen der indianischen Wirtschaften und Gesellschaften. Die ohnehin traumatische Eroberungssituation wurde für die indigene Bevölkerung dadurch verschärft, daß europäische und afrikanische Epidemien etwa hundert Jahre lang ungehindert wüteten. Seit Beginn der Kolonisation wurde ein Teil der amerikanischen Produktion auf den Export nach Europa ausgerichtet. Dies betraf zunächst die Goldproduktion auf den Antillen und die Perlenfischerei in der südlichen Karibik. Als man in den 1540er Jahren reiche Silbervorkommen in Mexiko und in Peru entdeckte, wurde auch das kontinentale Amerika von der Ausrichtung auf die Handelsbeziehungen mit Europa erfaßt. Zusätzlich zu den Edelmetallen lieferte Amerika in größerem Umfang Farbstoffe nach Europa. Um die von den Kolonialherren geforderten Abgaben in Form von Farbstoffen leisten zu können, mußten die Indianer die Cochenille- und Indigoproduktion ausdehnen und intensivieren. Die neuere Historiographie hat allerdings darauf hingewiesen, daß die Edelmetall- und Farbstoffproduktion in den kontinentalen amerikanischen Reichen nur einen kleinen Teil der gesamten wirtschaftlichen Tätigkeit in diesen kolonialen Gebieten ausmachte, da der größte Teil ihrer Wirtschaft sich stets auf die Sicherung der eigenen Subsistenz und die inneramerikanischen Erfordernisse konzentrierte (Romano 1993). Die Handelsbeziehungen zwischen Amerika und Europa betrafen aber nicht nur die Entstehung einer auf den Export ausgerichteten Produktion, sondern auch die materielle Kultur in der Neuen Welt. Insbesondere die importierten Eisenerzeugnisse, die sich im Laufe der Zeit selbst in den entlegensten Gebieten des Amazonas verbreiteten, stellten eine revolutionäre Neuerung dar. Europäische Textilien hingegen blieben lange der kleinen Gruppe europäischer Einwanderer und den mit diesen in Verbindung tretenden indianischen Eliten vorbehalten, der größte Teil der Bevölkerung, vor allem auf dem Lande, kleidete sich weiterhin entsprechend den jeweiligen indianischen Gebräuchen. Zusätzlich zu den permanenten Lieferungen europäischer Metallerzeugnisse, Textilien sowie einer Vielzahl von Gebrauchsgegenständen europäischer Provenienz veränderten der nur kurze Zeit erfolgende Import europäischer Tiere und Pflanzen, die sich dann in der Neuen Welt vermehrten, die Lebensbedingungen in Amerika nachhaltig. Schweine, Rinder, Pferde und Schafe, selbst Weizen und Wein wurden je nach den klimatischen Bedingungen im Laufe der Zeit auch
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von der einheimischen Bevölkerung akzeptiert (Fisher/Pietschmann 1994). Der Umfang der Veränderungen der materiellen Kultur in Europa war mit der Situation in Amerika nahezu vergleichbar. Allerdings dauerte der Assimilationsprozeß in der Alten Welt sehr viel länger, da hier im Gegensatz zu Amerika der durch die Kolonialherren ausgeübte Anpassungsdruck fehlte. Zunächst eröffneten afrikanische und später amerikanische Edelmetalle den Europäern die Möglichkeit, asiatische Güter in wachsendem Umfang zu importieren und zu konsumieren. Außerdem veränderten amerikanische Farbstoffe und Medizinalpflanzen, Zucker und Häute die Produktions- und Konsumstrukturen in Europa. Der Import amerikanischer Farbstoffe führte beispielsweise dazu, daß die europäische Farbstoffproduktion zum Erliegen kam, da europäische Erzeugnisse der amerikanischen Konkurrenz hinsichtlich ihrer Leuchtkraft und Ausbeute nicht gewachsen waren. Darüber hinaus wurde, analog zur Situation in Amerika, im Verlauf der Zeit eine Vielzahl amerikanischer Tiere und Pflanzen in Europa heimisch. Truthahn, Kartoffel und Tabak finden wir bereits in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Südeuropa. Hier führten die neu entstehenden Absatzmärkte in Amerika außerdem dazu, daß man landwirtschaftliche Erzeugnisse wie Wein und Oliven in wachsendem Maße für den Export anbaute. Dem europäischen Eisen- und Textilgewerbe werden durch die Eröffnung neuer Märkte in Westafrika und vor allem in Amerika ebenfalls wesentliche Impulse vermittelt worden sein. Mit der Einrichtung von Zuckerrohrplantagen in der Karibik und später in Brasilien, die nach dem Vorbild Madeiras mit schwarzafrikanischen Sklaven bewirtschaftet wurden, kam es zu einer Verbindung zwischen neuen europäischen Konsumgewohnheiten, neuen amerikanischen Produkten und Produktionsformen und neuen innerafrikanischen Formen und Wegen des Sklavenhandels. So betrafen die von der Kolonisation des amerikanischen Kontinents ausgehenden Impulse bereits in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts nicht nur die europäische Binnenwirtschaft, sondern auch die Beziehungen Europas zu Asien und Afrika sowie den Aufbau von Handelsbeziehungen zwischen Afrika und Amerika (Pieper 1998; Mason 2000; Vázquez de Prada 2000; Yun Casalilla 1998). DIE BLÜTEZEIT PORTUGIESISCHEN
DER S P A N I S C H E N
HANDELSIMPERIEN
UND ( 1 550-1 620)
Nachdem sich in Amerika die erste Euphorie über die Erbeutung der reichen Schätze der Azteken und der Inka gelegt hatte, kam es zu Be-
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ginn der 1540er Jahre zu ernsthaften Auseinandersetzungen zwischen den Kolonisten und den Behörden des Mutterlandes. Eine längerfristige Krise des Amerikahandels konnte dadurch vermieden werden, daß kurze Zeit später in Mexiko und Peru reiche Silbervorkommen entdeckt wurden. Zur Intensivierung der amerikanischen Edelmetallproduktion wird sicher die Erschöpfung der mitteleuropäischen Silberminen beigetragen haben, die den Höhepunkt ihrer Erzeugung in den 1540er Jahren überschritten. Während der Waren- und Silberaustausch zwischen Amerika und Europa allenfalls kurze Zeit stagnierte, kam es im Asienhandel um die Jahrhundertmitte zu einer deutlicheren Krise, die sowohl den Levantehandel als auch den portugiesischen Direkthandel rund um Afrika betraf. Hierzu trug zum einen eine Reihe innerasiatischer Mißernten bei, zum anderen könnte der kurzfristige Rückgang des Handelsvolumens auch auf Anpassungsschwierigkeiten hindeuten, die sich dadurch ergaben, daß sich die europäischen Handelswege infolge der rückläufigen Edelmetallproduktion in Zentraleuropa von Mitteleuropa zum Atlantik verlagerten (Aziza 1998). Die zeitliche Parallelität zwischen asiatischer, europäischer und amerikanischer Kurzkrise um die Mitte des 16. Jahrhunderts könnte ein Hinweis darauf sein, daß die Wirtschaftsräume der neuen und der alten Welten bereits miteinander verwoben waren. Diese Beziehung zwischen dem Amerika- und dem Levantehandel sowie dem Warenaustausch im Indischen Ozean ist bislang erst ansatzweise anhand von Preis- und Münzvergleichen untersucht worden. Die Handelskrise der Jahrhundertmitte wurde Ende der fünfziger Jahre langsam überwunden. Hierzu trug in Amerika die Verbesserung der Silberverhüttung bei, die es ermöglichte, auch minderwertiges Erz mit Hilfe von Quecksilber gewinnbringend zu verarbeiten. Diese Technologie wurde 1570 nach Peru in die dortigen Minen von Potosí übertragen und sicherte in den kommenden Jahrzehnten einen dauerhaften Devisenfluß in Form von amerikanischem Silber von Peru über Puertobelo nach Sevilla und Europa. Diese Einnahmen aus dem amerikanischen Kolonialbesitz übertrafen alle bisher bekannten Gewinne, die Europäer aus dem Fernhandel je zu erzielen vermocht hatten. So ist es zu erklären, daß die alljährlich in Sevilla eintreffenden Silberflotten jeden Sommer sehnlichst erwartet wurden und die diesbezüglichen Nachrichten die Korrespondenz genuesischer, florentinischer, venezianischer, spanischer, portugiesischer, oberdeutscher, aber auch niederländischer, französischer und englischer Kaufleute füllten. Mit den wachsenden Gewinnen aus dem Amerikahandel, der sich auch zum Motor des Warenaustausches zwischen Europa und Asien ent-
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wickelte, versuchten neben den bisher daran beteiligten Portugiesen, Spaniern und Italienern auch die Franzosen, Engländer und Holländer einen Anteil zu erlangen. Letzteren blieb allerdings der direkte Zugang zu den amerikanischen Silberproduktionsstätten ebenso verwehrt, wie die Portugiesen bei ihren mehrfachen Versuchen scheiterten, in das afrikanische Binnenland und zu den dortigen Zentren der Goldproduktion im Sudan vorzudringen. Daher beschränkten die Nordwesteuropäer ihre Teilhabe am Atlantikhandel zunächst auf Piraterie und Korsarentätigkeit. Als Reaktion auf die Angriffe auf ihre Kolonien versuchte die spanische Krone die Kontrolle über den Amerikahandel zu intensivieren und verfestigte dessen Organisation, indem sie die Fahrten einzelner Schiffe nach Übersee weitgehend untersagte und die Konvoyschiffahrt einführte. Diese bot den beteiligten Schiffen einen besseren Schutz bei Unwettern und Angriffen, gleichzeitig ermöglichte sie der Krone eine größere Kontrolle, ohne daß dies aber eine immer weitergehende Aushöhlung des Handelsmonopols mit Amerika verhindert hätte. Portugal sah sich angesichts der riesigen Distanzen, die zwischen den Stützpunkten seines Handelsimperiums lagen, gezwungen, nach und nach seine Handelsrestriktionen zu lockern. Somit partizipierten Ende des 16. Jahrhunderts, ungeachtet aller Bemühungen der kastilischen und der portugiesischen Krone, zunehmend Kaufleute fremder Herkunft am iberischen Überseehandel. Sevilla und Lissabon entwickelten sich auf diese Weise zu einem Entrepöt für Kolonialwaren aus Amerika, Exotika aus Asien und Afrika sowie hochwertige europäische gewerbliche und landwirtschaftliche Erzeugnisse. Durch die amerikanischen Edelmetalle wurde nun auch ein Teil des Orienthandels über Sevilla und Lissabon abgewickelt. Selbst die Venezianer, die bereits um die Jahrhundertmitte, ungeachtet aller militärischer Auseinandersetzungen, ihre Position als Vermittler zwischen Orient und Okzident zurückgewonnen hatten, beteiligten sich am Warenaustausch, der über Sevilla und Lissabon ging. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurde ein weiterer, bislang unbekannter Handelsweg erschlossen. Als Folge der Kolonisation der amerikanischen Westküste erkundeten iberische Seefahrer den Pazifik, 1564 entdeckten sie die Philippinen und gründeten 1571 Manila. Diese Stadt entwickelte sich in den folgenden Jahren zu einem wichtigen Umschlaghafen im Pazifikhandel zwischen Amerika und Ostasien. Amerikanisches Edelmetall gelangte auf diesem Wege direkt nach China, im Gegenzug erhielt die koloniale Elite Amerikas chinesische Waren wie Seide und Porzellan. Um die Stellung Europas
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und insbesondere Sevillas nicht zu gefährden, begrenzte die spanische Krone das Volumen des Manilahandels und untersagte die direkte Schiffsverbindung zwischen Peru und den Philippinen. Allerdings konnten die Krone und die Sevillaner Kaufmannschaft ihre restriktiven Vorstellungen nicht völlig durchsetzen. Einen wirksameren Schutz des spanischen Amerikahandels als penibel ausgearbeitete Reglementierungen boten die großen Distanzen zwischen der Neuen Welt und Amerika sowie der begrenzte Bedarf an chinesischen Erzeugnissen der europäisch geprägten kolonialen Elite. Das Volumen des amerikanischen Asienhandels blieb dadurch während der gesamten Kolonialzeit deutlich hinter dem Handelsvolumen zwischen Amerika und Europa zurück.
ZUSAMMENFASSUNG
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ERGEBNISSE
Die erste Phase der Integration der Europäer in einen sich konstituierenden Welthandel, der nun auch Amerika umfaßte, endete mit dem Vordringen von Niederländern und Engländern in den Pazifik und den Atlantik und der ebenfalls erfolgten Gründung der Ost- und Westindischen Kompanien zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Diese staatlich privilegierten Handelsgesellschaften, denen Hoheitsrechte und Funktionen übertragen wurden, arbeiteten mit privaten Kapitaleignern. Sie stellten somit einen weiteren Versuch dar, staatspolitische Interessen mit privatem Kapital und Know-how zu verfolgen. Venezianer und Genuesen hatten im Mittelalter an handelsstrategisch wichtigen Punkten Kolonien gegründet, von denen aus ihre Kaufleute Handel trieben. Dieses Modell hatten die Portugiesen modifiziert, indem die Krone selbst als Monopolist im Kolonialhandel auftrat. Die Kastilier wiederum wählten eine andere Version des italienischen Konzeptes. Sie ließen ganze Territorien von privat finanzierten Söldnertruppen erobern. Der Handel mit den okkupierten Gebieten lag ebenfalls in der Hand privater Kaufleute und Handelsgesellschaften. Die Krone beschränkte sich auf die Kontrolle und erhob Steuern. Niederländer und Engländer kamen auf das Vorbild der Portugiesen zurück. Allerdings übten nicht staatliche Behörden das Handelsmonopol aus, sondern eine private Kompanie, die mit staatlichen Rechten ausgestattet wurde. Allen Versuchen, den Kolonialhandel unter staatliche Kontrolle zu stellen und für eine territoriale Expansion zu nutzen, war gemeinsam, daß Schiffe, Besatzung und Kaufleute der eigenen Nation einen privilegierten Zugang zu den jeweiligen kolonialen Stützpunkten erhielten. Abweichungen hiervon wurden als
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Schmuggel gebrandmarkt, ohne daß man sie hätte verhindern können. Obwohl die Verbindung von staatlicher Gewalt mit privaten Handelsgeschäften im 18. Jahrhundert scharf kritisiert wurde, bedeutete sie für die Europäer des 15., 16. und 17. Jahrhunderts wohl die einzige Möglichkeit, als zahlenmäßig kleine und wirtschaftlich wenig potente Gruppe in geographisch weit vom Mutterland entfernten Regionen Fuß zu fassen. Europas Integration in den sich konstituierenden Welthandel beruhte darauf, daß die ökonomische Unterlegenheit der Europäer im direkten Handel mit Asien und der Levante dadurch kompensiert werden konnte, daß Europäer als Zwischenhändler zwischen Westafrika und Amerika einerseits sowie der Levante und dem asiatischen Raum andererseits auftraten. Der Schwerpunkt dieser Handelsbeziehungen Europas lag im südlichen Atlantik und umfaßte das Mittelmeergebiet. Die Rolle des Osmanischen Reiches bei diesem Integrationsprozeß Europas in den asiatischen Raum ist noch weitgehend ungeklärt. Allerdings legen chronologische Übereinstimmungen den Schluß nahe, daß der Levante auch im expandierenden Welthandel eine Schlüsselrolle zukam. Dies scheinen bereits die Venezianer erkannt zu haben, die muslimische Händler vor den Portugiesen warnten, die unter Vasco da Gama Indien zu erreichen suchten. Mit muslimischen Händlern konkurrierten die Europäer auch um den Zugang zu den Gewürzinseln Ostasiens. Ohne die amerikanischen Edelmetalle wäre ihnen aber kein nachhaltiger Erfolg im Asienhandel beschieden gewesen. Die Bevölkerung des amerikanischen Kontinents war von den Partizipationsbemühungen der Europäer am nachhaltigsten betroffen. Ihr Schicksal besiegelten die aus der alten Welt eingeschleppten Krankheiten, deren tödliche Wirkung erst im Verlauf des 17. Jahrhunderts nachließ. Eroberung und Kolonisation Amerikas veränderten aber nicht nur die Neue Welt, sondern schufen auch in Europa grundlegend neue Lebens- und Arbeitsformen, indem die Europäer nun verstärkt asiatische und amerikanische Elemente in ihre materielle Kultur aufnahmen.
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OST- UND W E S T I N D I S C H E EIN
WETTLAUF
DER EUROPÄISCHEN
HELFRIED
KOMPANIEN MÄCHTE
V A L E N TI N I T S C H
GRUNDBEGRIFFE
Das 17. und 18. Jahrhundert waren die große Zeit der privilegierten Handelskompanien. In den letzten 250 Jahren hat diese Unternehmensform eine sehr unterschiedliche Bewertung erfahren. Schon am Ende des 18. Jahrhunderts wurden die Handelskompanien als unwirtschaftliche und parasitäre Monopolisten angesehen. Es ist dies eine Auffassung, die bis ins 20. Jahrhundert nachwirkte. Einzelne Handelskompanien wurden wieder von einem nationalistischen Standpunkt aus verherrlicht. Heute versucht man dem Wirken der Handelskompanien insofern gerecht zu werden, als man sie als historisches Phänomen innerhalb eines globalen Expansionsprozesses betrachtet (Steensgard 1981:246). Ein beachtlicher Teil des Fernhandels ging auf die Initiative von europäischen Handelskompanien zurück oder wurde von diesen getragen. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, den Wettstreit der europäischen Handelskompanien und ihren Einfluß auf den internationalen Handel aufzuzeigen. Unter der Bezeichnung Handelskompanie kann man verschiedene Organisationsformen verstehen, denen gelegentlich nur der Name gemeinsam ist (Blusse/Gaastra 1981:3f). Im allgemeinen sieht man die Wurzeln der Handelskompanien in den kaufmännischen Genossenschaften und ähnlichen Selbstschutzorganisationen des Mittelalters. Eine Vorreiterrolle bei der Entstehung der privilegierten Handelskompanien nahmen zweifellos die nordwesteuropäischen Staaten England und die Niederlande ein. Am Beginn der Frühen Neuzeit entstanden zunächst
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Kompanien
regulierte Handelsgesellschaften, bei denen es sich um reine Personalgesellschaften handelte. Die zu einer Korporation zusammengeschlossenen Kaufleute unternahmen zwar eine Geschäftsreise gemeinsam und orientierten sich auch an gemeinsamen Richtlinien, die einzelnen Beteiligten betrieben aber ihre Geschäfte auf eigene Rechnung (z.B. die „Merchant Adventures", 1576 „Muscovy Company"). Die nächste Entwicklungsstufe war dann die „Joint-Stock-Company" (Reinhard 1996:38f). Hier wurde aus den Anteilen der Mitglieder ein Gesellschaftskapital für eine gemeinsame Geschäftsführung bereitgestellt. Dieses Kapital stand aber nur für ein festgelegtes, einzelnes Unternehmen und nur für einen begrenzten Zeitraum zur Verfügung. Nach dem Ende dieser Frist wurde abgerechnet und die Gesellschaft aufgelöst oder wieder neu gegründet. Bei dieser Gesellschaftsform ist in erster Linie die 1600 in England gegründete „East India Company" (EIC) zu nennen. Sie machte bei ihrer Gründung noch nicht den letzten Schritt zur ständigen Kapitalisierung. Dieser Schritt wurde erst von jenen Handelskompanien vollzogen, die bereits in Form einer heutigen Aktiengesellschaft organisiert waren. Die prominenteste Vertreterin unter diesen Handelsgesellschaften war die 1602 in Holland gegründete „Verenigde Oost-Indische Compagnie" (VOC). Zur Organisationsform der Handelsgesellschaft kam noch ein von einer Regierung ausgestelltes Privileg oder eine Charta. Nach Niels Steensgard werden bei einer privilegierten Handelsgesellschaft private Eigentumsrechte und Hoheitsrechte an die Kompanie delegiert und miteinander verbunden (Steensgard 1981:246ff). Die Teilhaber räumten der Leitung der Kompanie die Verfügungsgewalt über ihr eingebrachtes Kapital ein. Die Regierung überließ der Kompanie bestimmte Hoheitsrechte, wie zum Beispiel das Handelsmonopol in einem Gebiet, dann Steuerfreiheit, das Recht, mit auswärtigen Partnern Verträge abzuschließen, Krieg zu führen oder eine eigene militärische Streitmacht zu unterhalten. Die Organisationsform der Aktiengesellschaft wird schließlich noch durch das Element der Dauer ergänzt, da sich die Delegierung von privaten Eigentumsrechten hier über einen längeren Zeitraum erstreckt.
DIE ZEITLICHE DER
ENTWICKLUNG
HANDELSKOMPANIEN
Bereits in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts versuchten mehrere europäische Staaten, das von Spanien und Portugal im Überseehandel errichtete Monopol zu durchbrechen. Um 1600 traten diese Be-
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strebungen durch die Gründung von privaten Handelsgesellschaften in eine neue Phase ein. Die Initiative dazu ging von den Niederlanden und England aus. Bei beiden Staaten handelte es sich um erfahrene Seenationen, beiden gemeinsam war auch eine günstige geographische Ausgangsposition. Schließlich waren sie zeitweilig gemeinsam gegen das verhaßte katholische Spanien angetreten. Zunächst rissen die Niederlande die führende Rolle an sich. Bei ihrem Expansionsdrang nach Übersee trafen in den nördlichen Niederlanden mehrere Faktoren zusammen: Durch den Aufstand gegen Spanien verlagerte sich in den Niederlanden das politische und wirtschaftliche Schwergewicht rasch von Süden nach Norden und damit von Antwerpen nach Amsterdam. Gleichzeitig drängten die niederländischen Unternehmer noch stärker als früher in den Seehandel und den Seetransport. Um 1600 verfügten die Generalstaaten über die größte Handelsflotte Europas. Die hervorragende wirtschaftliche Konjunktur trug dazu bei, daß das überschüssige niederländische Kapital neue Anlegemöglichkeiten suchte. Bis ins letzte Drittel des 16. Jahrhunderts waren die niederländischen Kaufleute trotz des Krieges mit Spanien indirekt am Amerika-Handel sowie am Gewürzgeschäft beteiligt und sahen deshalb keinen Anlaß, in Übersee ein Risiko einzugehen (Reinhard 1996:35ff). Erst als Philipp II. von Spanien damit begann, diesen Zugang einzuschränken, bildeten sich in den Niederlanden private Handelsgesellschaften, um direkte Kontakte zu den Gewürzinseln herzustellen. Bei der Vorbereitung ihrer Expeditionen gingen die Niederländer systematisch vor, indem sie sich von den Portugiesen Informationen über die Seewege nach Indonesien verschafften. Im Jahr 1595 wurde die erste Expedition nach Asien entsandt. Ihr großer Erfolg veranlaßte andere Kaufleute zur Nachahmung, weshalb zwischen 1595 und 1601 acht niederländische Gesellschaften insgesamt 65 Schiffe zu den Gewürzinseln schickten. Ihre Rückkehr löste auf dem Sektor des Gewürzhandels eine Art „Goldrausch" aus. Eine Folge davon war, daß der auf dem asiatischen Landweg abgewickelte Gewürzhandel weniger Profit abwarf. Die im Nahen Osten tätige englische „Levante Company" bekam dies sofort zu spüren. Einige ihrer Mitglieder gründeten deshalb im Jahr 1600 die bereits erwähnte englische EIC, um der holländischen Konkurrenz begegnen zu können (Schmitt 1988:224f). Inzwischen hatte man in den Niederlanden erkannt, daß mehrere miteinander konkurrierende Handelsgesellschaften nicht im politischen und wirtschaftlichen Interesse der Generalstaaten lagen. Unter dem Druck der Regierung schlössen sich deshalb im Jahr 1602 die als sogenannte
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„Vor-Kompanien" bezeichneten Gesellschaften zur schon genannten VOC zusammen. Mit der Errichtung der EIC und der VOC beginnt die Epoche der europäischen Handelskompanien, die einen Zeitraum von rund 200 Jahren umfaßt. Bei den Gründungen von Handelskompanien kann man drei Wellen unterscheiden, die allerdings nur zum Teil in Beziehung zu wirtschaftlichen Trends gesetzt werden können (Steensgard 1981: 260ff). Die erste Gründungswelle begann um 1600 und reichte bis etwa 1630. Sie wurde zweifellos durch die Erfolge der VOC ausgelöst und beruhte überwiegend auf privater Initiative. Bei einigen Gesellschaften, wie der „Virginia Company" und bei der Niederländischen Westindienkompanie (WIC) kam auch der Wunsch dazu, Siedlungskolonien anzulegen. Die zweite Gründungswelle umfaßt etwa die Zeit von 1660 bis 1673. Den Anstoß gab die Konsolidierung der Monarchien in England und Frankreich, weshalb diese Periode auch durch eine verstärkte Einflußnahme der Regierungen gekennzeichnet ist. Bei einzelnen Gründungen kann man deutlich den Einfluß von merkantilistischen Ideen feststellen. Ein Beispiel ist hier die 1664 von Colbert ins Leben gerufene Französische Ostindienkompanie. In dieser Zeit wurden auch ältere Kompanien, wie die Niederländische Westindienkompanie oder die EIC, den neuen Bedingungen angepaßt. Die dritte Gründungswelle begann um 1718 und reichte bis etwa 1740. Nach den langen Kriegen mit Ludwig XIV. von Frankreich setzte in Europa ein wirtschaftlicher Aufschwung ein, der sich auch auf die Gründung von Handelskompanien auswirkte. Politische Überlegungen, wie das Großmachtstreben von einzelnen europäischen Mächten, spielten dabei eine wichtige Rolle. Eine allgemeine Bewertung der Handelskompanien muß davon ausgehen, daß jede Gründung an eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Raum gebunden war. Viele Gesellschaften konnten nur anfangs Erfolge aufweisen, die meisten stellten ihre Tätigkeit schon nach wenigen Jahren wieder ein. Am erfolgreichsten und langlebigsten waren ausgerechnet die frühesten Gründungen, nämlich die EIC und die niederländische VOC. Ein besonderes Kennzeichen der englischen und holländischen Ostindienkompanien war, daß sie im Unterschied zum „monarchischen Kapitalismus" der Spanier und Portugiesen ausschließlich am Profit interessiert waren. Obwohl sich die meisten Kompanie-Gründungen am Vorbild der VOC orientierten, existierten zwischen den einzelnen Gesellschaften beträchtliche Unterschiede. Die deutlichsten Divergenzen traten bei der Einflußnahme der Regierung,
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dann bei den Zielvorgaben, bei der Kapitalausstattung, der Organisation und schließlich beim Know-how auf. Es war auch kein Zufall, daß gerade die kleineren Kompanien immer wieder Kapitäne, Navigatoren und andere Fachleute einstellten, die früher im Dienst der VOC gestanden waren. Hinsichtlich der Rentabilität der Handelskompanien sind einige Fragen offen. So waren zum Beispiel die Gewinne vieler Kompanien im Vergleich zu den Einkünften aus den Plantagenkolonien der Karibik sehr bescheiden. Angesichts der offensichtlichen häufigen Fehlgründungen stellt sich auch die Frage, warum man daraus keine Konsequenzen zog und trotzdem Handelsgesellschaften mit Monopolcharakter gründete. Eine Antwort darauf ist, daß die Handelskompanien zumindest im Handel mit Asien die wirksamste Organisationsform ihrer Zeit darstellten. DIE
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IM
ASIATISCHEN
RAUM
Bei der Tätigkeit der einzelnen Handelskompanien bestanden zwischen dem atlantischen und dem asiatischen Raum von vornherein grundlegende Unterschiede. Allein schon die politische, wirtschaftliche und demographische Ausgangsposition war in Asien völlig anders als im atlantischen Raum. Im 15. und 16. Jahrhundert hatten sich in Vorderasien und Indien mehrere, auf Feuerwaffen gestützte Großreiche etabliert. In China hatte um 1600 die Ming-Dynastie den Höhepunkt ihrer Macht bereits überschritten und machte ab 1644 der MandschuDynastie Platz, unter der dann im 18. Jahrhundert China seine größte Ausdehnung erreichte. Japan war im 16. Jahrhundert politisch instabil, bis 1603 die Tokugawa das Shogunat an sich brachten. Lediglich im Malayischen Archipel sowie in Südindien stießen die Europäer auf kleinere staatliche Gebilde, die langfristig keinen Widerstand leisten konnten. Die Errichtung von Siedlungskolonien in Asien war aufgrund der politischen, klimatischen und demographischen Verhältnisse sowie wegen der großen Entfernungen von vornherein nicht möglich. Die Europäer begnügten sich daher in der Regel mit der Errichtung von Handelsstützpunkten. Lediglich in Südafrika entstand seit der Mitte des 17. Jahrhunderts eher nebenbei eine holländische Siedlungskolonie. Die VOC wurde sofort nach ihrer Gründung in Südostasien aktiv und besetzte mit Gewalt nach und nach die portugiesischen Schlüsselstellungen, bis nur mehr Goa und zwei andere Stützpunkte in der Hand der Portugiesen blieben (Jacobs 1991:73ff). Besonders wichtig war
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1641 die Eroberung von Malakka, von wo aus die Holländer den Seeweg von Indien nach China kontrollieren konnten. Die Engländer, die sich in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts ebenfalls auf den Gewürzinseln festsetzen wollten, wurden schließlich von den Holländern gewaltsam vertrieben (Dunn 1984:157f). So gelang es der VOC innerhalb von wenigen Jahrzehnten, in Asien ein weitgespanntes Handelsimperium zu errichten. Die holländischen Kaufleute waren nur am Profit interessiert und vermieden deshalb im allgemeinen territoriale Erwerbungen. Durch die Einbeziehung in innerasiatische Konflikte wurde die VOC aber in der Insulinde und in Ceylon allmählich auch zu einer Territorialmacht und ging damit über das portugiesische Modell der Seeherrschaft hinaus. In der Regel begnügten sich die Holländer aus Kostengründen damit, mit den einheimischen Fürsten Schutzverträge abzuschließen, und beließen der unterworfenen Bevölkerung die Selbstverwaltung. Im Gegensatz zu den Spaniern und Portugiesen verzichteten die Holländer in Asien bewußt auf Missionierung und vermieden, wenn es für sie günstiger war, Waffengewalt. Ein Beispiel dafür ist ihr Verhalten in Japan. Die Vertreter der VOC nahmen hier überaus demütigende Auflagen der japanischen Regierung hin, nur um im Geschäft bleiben zu können. Der jahrzehntelange große Vorsprung der VOC beruhte auf einem massiven Kapitaleinsatz, der Konzentration auf ein bestimmtes Zielgebiet, dem Aufbau eines innerasiatischen Handelsnetzes, entschlossener und notfalls auch gewaltsamer Verdrängung von Konkurrenten und auf einer effizienten Organisation und langen Erfahrungen. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts erreichte die VOC den Höhepunkt ihrer Macht. Um 1700 unterhielten die Holländer in Asien ein Netz von über 30 Stützpunkten (Jacobs 1991:77f). Das Herzstück ihres Kolonialreiches lag auf Java, wo sie 1619 die Stadt Batavia gegründet hatten. Dazu kamen die Insel Ceylon, Malakka, mehrere Faktoreien in Indien und das Kapland. Die Holländer kontrollierten mehrere Gewürzmonopole und hatten bis ins 19. Jahrhundert als einzige Europäer Zugang zu Japan. Nach 1650 nahm der europäische Asienhandel nach Indien und nach 1700 auch nach China stark zu. Gleichzeitig verlagerte sich in Europa die Nachfrage von Gewürzen auf indische Textilien und chinesischen Tee (Jacobs 1991:95). Die VOC reagierte zu spät auf diese Entwicklung. Sie unterließ notwendige Anpassungen und beschäftigte sich mehr mit der Verwaltung als mit dem Handel. Korruption, Schmuggel und bloßes Versorgungsdenken trugen ebenso zum Niedergang bei wie der Zusammenbruch des innerasiatischen Handels und die
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hohen Kosten von Verwaltung und Militär. Symptomatisch für den Abstieg war, daß die holländischen Teilhaber ihre aus der VOC gezogenen Gewinne in England anlegten, wo sie eine höhere Rendite erwarteten. Im 4. englisch-holländischen Seekrieg erlitt die VOC schwere Verluste. Nach der Invasion der Franzosen in den Niederlanden wurde die VOC verstaatlicht und schließlich 1803 aufgelöst (Jacobs 1991:95). Die ersten Expeditionen der Engländer nach Asien hatten ebenfalls die Gewürzinseln zum Ziel. 1602 gründeten sie in Bantan eine Faktorei, weitere Niederlassungen folgten in Indien, Malaya, Siam, Japan und Persien. Im Kampf um den indonesischen Archipel waren aber die Engländer den Holländern unterlegen. Die EIC besaß nämlich von vornherein ein geringeres Kapital und war zunächst nicht als ständige Gesellschaft organisiert. Die Folge davon war, daß sich die EIC unter dem Druck der VOC allmählich aus Südostasien und Japan zurückziehen mußte und ihren Schwerpunkt nach Indien verlegte. Langfristig gesehen erwies sich dieser ungewollte Rückzug jedoch als Vorteil. Im 17. Jahrhundert war die EIC im politischen System Englands nur schwach verankert und wurde wiederholt in die Innenpolitik hineingezogen (Reinhard 1983:135ff). Als die englische Regierung zeitweilig den Indienhandel frei gab, schien die Gesellschaft sogar dem Untergang geweiht. 1657 gab ihr aber Cromwell ein neues Handelsmonopol. Sie wurde nun mit einem festen Grundkapital ausgestattet und als ständige Gesellschaft organisiert. Außerdem erhielt sie die gleichen Hoheitsrechte, wie sie bereits die VOC besaß. Um 1700 geriet die EIC erneut in die englische Innenpolitik und mußte ihr Handelsmonopol an eine neu gegründete Konkurrenzgesellschaft abtreten. Erst nachdem man 1709 die beiden Kompanien zusammengelegt hatte, setzte ein kontinuierlicher Aufschwung ein, der die EIC schließlich an die Spitze des europäischen Handels in Übersee brachte. Wie die VOC war auch die EIC in Indien bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht an Landbesitz interessiert, doch erwarb sie mit Madras, Bombay und Kalkutta wichtige Ausgangspunkte für ihre spätere Expansion. Nach 1700 verlagerte sich der Schwerpunkt ihrer Interessen zunehmend auf Bengalen, der am stärksten bevölkerten Region des indischen Subkontinents. Durch den raschen Niedergang des Reichs der Großmoguln entstand in Nordindien ein Machtvakuum, das die EIC nützen konnte. Der Übergang vom Handel zur Herrschaft wurde nach dem Sieg der Engländer über den Nawab von Bengalen im Jahr 1757 vollzogen. Die Kompanie erhielt nun aus ihrem Territorialbesitz enorme Steuereinnahmen, wodurch der Edelmetallstrom
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von Europa nach Asien erstmals eine Umkehr erfuhr. In den folgenden Jahrzehnten wurde die EIC zunehmend unter die Aufsicht der englischen Regierung gestellt. 1833 verlor sie ihr Handelsmonopol, und 1858 wurde sie aufgelöst (Osterhammel 1987:9ff). Seit dem letzten Viertel des 17. Jahrhunderts verlagerte sich auch die Tätigkeit der anderen europäischen Handelsgesellschaften stärker auf den indischen Subkontinent. Neben Portugal, den Niederlanden und England traten nun auch Frankreich, Dänemark und andere Gesellschaften hier in Erscheinung. Die Folge davon war, daß sich an den indischen Küsten gleich wie an der Guineaküste in Afrika eine Kette von europäischen Niederlassungen herausbildete. Die Franzosen hatten schon 1604 versucht, sich in den Handel mit Indien einzuschalten, scheiterten aber rasch an der übermächtigen Konkurrenz der VOC (Reinhard 1983:146). Ein neuer Versuch erfolgte 1664, als Colbert wieder eine Ostindische Gesellschaft ins Leben rief (Boulle 1981:97f). Sie sollte ganz im Sinn der von Colbert vertretenen merkantilistischen Ideen Frankreich mit Waren aus Übersee versorgen und damit die Einschaltung von ausländischen Kaufleuten verhindern. Die Gesellschaft stellte niederländische Fachleute ein und erwarb in Indien mehrere Stützpunkte, unter denen Pondichery und Chandernagore die wichtigsten waren. Ein Hauptproblem der Kompanie war, daß ihr die Unterstützung der französischen Kaufleute weitgehend fehlte und letztere weniger risikoreiche Geschäfte vorzogen (Fieldhouse 1965: 108). Außerdem belasteten die Kriege Ludwigs XIV. und die von Anfang an zu geringe Kapitalausstattung die Geschäfte der Gesellschaft in einem Ausmaß, daß sie schließlich um 1714 ihre Tätigkeit einstellte. Im Jahr 1719 unternahm der Finanzexperte John Law einen neuerlichen Versuch, indem er alle französischen Überseehandelsgesellschaften mit der Indienkompanie zusammenschloß. Nachdem das Unternehmen 1723 zusammengebrochen war, wurde die Indienkompanie reformiert (Haudrere 1993:8 lf). Sie nahm in den folgenden Jahren eine günstige Entwicklung, bis sie durch den englisch-französischen Konflikt ruiniert wurde. Dänemark war in Indien ebenfalls rund 200 Jahre lang engagiert (Gobel 1993:99f). Im Jahr 1616 gründete König Christian IV. mit Hilfe von niederländischen Unternehmern eine Dänische Ostindienkompanie, die fünf Schiffe nach Indien sandte und an der Koromandelküste die Stadt Tranqebar erwarb (Feldback 1981:135ff). Wegen zu geringer Kapitalausstattung stellte aber die Gesellschaft ihre Tätigkeit 1650 ein. Zwanzig Jahre später erfolgte eine Neugründung, die sich an der französischen Ostindiengesellschaft orientierte. Die Kompanie wurde von
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der dänischen Krone kontrolliert, die auch den größten Teil des Kapitals zur Verfügung stellte. Nach der Auflösung dieser Kompanie wurde 1732 von privaten Anlegern in Dänemark die Asiatische Kompanie gegründet, die sich auf den Handel mit China verlegte. Sie errichtete Faktoreien in Indien sowie auf den Nikobaren und stützte sich auf breiter gestreutes Aktienkapital. Neben großen Kaufleuten aus Kopenhagen war unter den Aktionären auch der dänische Mittelstand stark vertreten. 1772 gab die Kompanie den privaten dänischen Handel nach Indien frei, behielt aber das Chinamonopol. Die Gesellschaft erzielte im Teehandel gute Erträge und verstand es, sich mit Duldung der Engländer bis 1807 zu halten, der Stützpunkt Tranqebar wurde überhaupt erst 1840 endgültig aufgegeben. Das Königreich Schweden versuchte sich ebenfalls zeitweilig im Indienhandel (Köninck 1993:121ff). Im Jahr 1626 gründete König Gustav Adolf von Schweden mit holländischer Unterstützung eine Schwedische Ostindiengesellschaft, die aber schon nach wenigen Jahren eingestellt wurde. Erst 1731 gründete man in Göteborg wieder eine Ostindische Kompanie, an der neben Schweden auch Engländer, Holländer und Franzosen beteiligt waren. Die Gesellschaft konzentrierte sich erfolgreich auf den Chinahandel und war bis 1813 tätig. Im 18. Jahrhundert bemühten sich auch die österreichischen Habsburger, im Asienhandel Fuß zu fassen. 1723 wurde in den damals Österreichischen Niederlanden mit dem Sitz in Oostende eine privilegierte Kompanie gegründet, an der auch englisches Kapital beteiligt war (Schmitt 1988:156). Der Kompanie gelang es schon nach kurzer Zeit, in Bengalen eine Faktorei zu errichten und einen beachtlichen Gewinn zu erzielen. 1732 mußte aber Kaiser Karl VI. die Gesellschaft unter dem Druck der Seemächte als Gegenleistung für die Anerkennung der Pragmatischen Sanktion auflösen. 1755 erhielt ein österreichischer Unternehmer ein Privileg für den Überseehandel von Triest nach Asien. 1781 etablierte sich ein ähnliches Unternehmen unter persönlicher Beteiligung Kaiser Josephs II. in Triest, mußte aber bereits vier Jahre später den Bankrott erklären. DIE H A N D E L S K O M P A N I E N
IM A T L A N T I S C H E N
RAUM
Im atlantischen Raum fanden die Europäer bei ihrer Expansion völlig andere Voraussetzungen als in Asien vor. In den neu entdeckten Gebieten Amerikas gab es keine Großreiche, die auf einer ähnlichen Entwicklungsstufe wie die Europäer gestanden wären. Große Gebiete waren nur sehr dünn besiedelt und eigneten sich auch klimatisch für
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die Einrichtung von Siedlungskolonien. In Amerika und Afrika existierte keine hoch entwickelte Wirtschaft wie in vielen asiatischen Regionen, und das Warenangebot war auf relativ wenige Produkte beschränkt. Die Europäer konnten deshalb vor allem in Amerika kaum an Handelsnetze anknüpfen und mußten solche meist erst schaffen. Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem atlantischen und asiatischen Raum ergab sich auch aus der kürzeren Entfernung und dem damit verbundenen Zeitfaktor. Eine Fahrt von Europa nach Asien nahm mindestens ein halbes Jahr in Anspruch, hingegen konnte man von Europa aus die afrikanischen oder die amerikanischen Atlantikküsten bereits in vier bis acht Wochen erreichen. Eine Folge davon war eine vermehrte Konkurrenz zwischen den europäischen Staaten. Außerdem wirkten sich Konflikte in Europa im atlantischen Raum sofort und auch wesentlich stärker als in Asien aus. Bei den Bemühungen der west- und nordeuropäischen Staaten, in den von Spanien und Portugal beanspruchten Einflußbereich einzudringen, traten im atlantischen und im asiatischen Raum deutliche Unterschiede auf. In Asien standen die Portugiesen lange nur den Holländern und Engländern gegenüber, während im atlantischen Raum neben Spanien und Portugal mehrere europäische Staaten involviert waren. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts konkurrierten hier England, die Niederlande, Frankreich, Dänemark und Schweden auf mehreren Schauplätzen miteinander. Später kam zeitweilig auch die an der Guineaküste tätige Brandenburgische Kompanie dazu (Schmitt 1988:3f). Den Neuankömmlingen boten sich drei Möglichkeiten, um sich in Übersee festzusetzen, und zwar durch die Errichtung von Handelsstützpunkten, die Anlage von Siedlungskolonien und schließlich die von Plantagenkolonien. In Nordamerika existierten nebeneinander Handelsstützpunkte und Siedlungskolonien. In der Karibik und in Brasilien dominierte die Plantagenwirtschaft. An der afrikanischen Küste wieder errichteten die einzelnen europäischen Handelsgesellschaften eine Kette von befestigten Stützpunkten für den Handel mit Gold und Sklaven. Beim Handel der west- und nordeuropäischen Staaten im atlantischen Raum gab es nebeneinander verschiedene Organisationsformen (Schmitt 1988:13f). Die einfachste war die Kaufmannspartnerschaft, bei der ein europäischer Unternehmer zu einem in Übersee ansässigen Partner Geschäftsbeziehungen unterhielt. Eine andere Form war die einer Monopolhandelsgesellschaft, wobei Mischformen zwischen einer reinen Handelsgesellschaft und einer Siedlungsgesellschaft auftreten konnten. Dies gilt besonders für die zunächst von den Engländern,
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dann auch von anderen Europäern gegründeten Kolonien an der nordamerikanischen Ostküste. Ganz allgemein kann man feststellen, daß die großen Monopolgesellschaften im atlantischen Raum nur relativ wenige Möglichkeiten fanden, um sich voll entfalten zu können. Die beiden Hauptursachen waren, daß die Gesellschaften ihre Monopolansprüche gegenüber den zahlreichen privaten Monopolbrechern (interlopers) nicht behaupten konnten und außerdem zwischen den einzelnen Kompanien eine äußerst scharfe Konkurrenz bestand. Die Verbindung mit einer Siedlungskolonie führte schließlich zu solchen finanziellen Belastungen, daß die Gesellschaften die Erwartungen ihrer Anleger nicht erfüllen konnten. Viele Handelsgesellschaften duldeten deshalb, daß sich gegen eine Gebühr auch private Kaufleute in ihrem Bereich betätigten. Besonders in Holland kam es immer wieder vor, daß Privatunternehmer ihr Kapital in ausländische Kompanien investierten, um auf diese Weise ihren Geschäften einen legalen Anstrich zu geben. Am besten hielten sich im atlantischen Raum noch jene Gesellschaften, die sich auf eine bestimmte Ware konzentrierten, wie zum Beispiel die auf Pelze spezialisierte „Hudson Bay Company" in Kanada (Schmitt 1988:377). Zu erwähnen ist auch die 1649 von der portugiesischen Krone als Gegengewicht zur Westindischen Kompanie gegründete Brasiliengesellschaft. Sie erhielt das Monopol auf die Versorgung Brasiliens mit wichtigen Lebensmitteln und das Recht zur Besteuerung bestimmter Exportwaren. Als Gegenleistung mußte die Kompanie die portugiesischen Handelsschiffe mit einer eigenen Kriegsflotte schützen (Schmitt 1988:97). Unter den zahlreichen atlantischen Handelskompanien war die Niederländische Westindische Kompanie (WIC) am erfolgreichsten (Emmer 1981:71ff). Sie war das westliche Pendant zur VOC. Nach den ersten Erfolgen in Asien tauchte in den Niederlanden der Plan auf, im atlantischen Raum ebenfalls eine privilegierte Handelskompanie zu gründen und auch Siedlungskolonien zu errichten. Die Holländer waren an der Nordostküste Südamerikas besonders interessiert. Um 1600 transportierten niederländische Schiffe bereits mindestens die Hälfte des brasilianischen Zuckers nach Europa. An der Küste von Venezuela holten sie Salz für die niederländische Heringsindustrie und betrieben mit den spanischen Kolonisten Schmuggel. Zur Gründung der Westindischen Kompanie kam es jedoch erst 1621, als der Waffenstillstand mit Spanien auslief. Die Generalstaaten verliehen der WIC das Monopol für den Handel und die Schiffahrt im Atlantik sowie im Pazifik von der südamerikanischen Küste bis nach
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Neu-Guinea. Die WIC sollte Krieg gegen Spanien und Portugal führen, in den Amerika-Handel eindringen und schließlich Siedlungskolonien gründen. Die neue Gesellschaft konzentrierte sich von Anfang an auf das' portugiesische Brasilien. Innerhalb von 25 Jahren gelang es den Holländern auf Kosten der Portugiesen, zu beiden Seiten des Atlantiks ein weitgespanntes Kolonialreich zu errichten. Das Zentrum lag in Bahia in Brasilien, wo der Statthalter Prinz Heinrich von Nassau wie ein europäischer Fürst residierte. An der Guineaküste und in Angola setzten sich die Niederländer ebenfalls fest, um die Versorgung der brasilianischen Zuckerplantagen mit afrikanischen Sklaven sicherzustellen. In der Karibik hatten sie ebenfalls einige Stützpunkte, wie zum Beispiel Curaçao. Dazu kam noch die Siedlungskolonie Neu-Niederland an der nordamerikanischen Ostküste. Die Holländer erweiterten hier ihren Einfluß durch die Besetzung der schwedischen Kolonie Neu-Schweden. Die WIC konnte allerdings ihre Monopolansprüche im atlantischen Raum gegenüber den privaten Kaufleuten auf Dauer nicht durchsetzen. 1638 gab sie sogar den Zuckerhandel frei, um die brasilianischen Pflanzer günstig zu stimmen. Alle diese Maßnahmen blieben vergeblich, weil sich in Brasilien zu wenige holländische Siedler niederließen und der ständige Kleinkrieg mit den Portugiesen enorme Mittel verschlang. Nachdem Portugal 1640 seine Unabhängigkeit von Spanien wiedererlangt hatte, verstärkte sich der Widerstand der Portugiesen. Entscheidend war schließlich, daß die Generalstaaten ihre Unterstützung einstellten. Die Kaufleute in Amsterdam sahen nämlich im Handel mit fremden Kolonien größere Gewinnmöglichkeiten als in der Aufrechterhaltung von eigenen Kolonien, die mit hohen Kosten verbunden waren. Den Portugiesen gelang es deshalb 1654, die Holländer völlig aus Brasilien hinauszudrängen und den Traum von einer Plantagenkolonie Neu-Holland zu beenden. Schließlich ging Angola ebenso verloren wie die nordamerikanische Kolonie, die von den Engländern übernommen wurde. Den Niederländern blieben nur einige Stützpunkte in der Karibik und an der Guineaküste sowie ein Landstrich in Guayana. 1674 führte die hohe Verschuldung zum Bankrott der WIC. Es wurde nun eine neue Westindische Kompanie gegründet (Schmitt 1988:88f). deren Monopol sich aber auf den holländischen Handel nach Afrika und den Sklavenhandel mit Amerika beschränkte. In den folgenden Jahrzehnten war die neugegründete WIC nahezu ausschließlich im Sklavenhandel tätig, der besonders in der Karibik große Gewinne brachte. Um 1730 verlor sie jedoch das Sklavenhandelsmonopol und
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wurde auf die Verwaltung der verbliebenen niederländischen Stützpunkte beschränkt. Die Folge war ein wirtschaftlicher Niedergang, bis die WIC 1791 bankrott war und aufgelöst wurde. DIE ORGANISATION DER HANDELSKOMPANIEN Durch die Handelskompanien erfolgte eine „Bürokratisierung" der europäischen Expansion. Die Verwaltungsapparate der VOC und der EIC waren auf dem Höhepunkt ihrer Gesellschaften sehr effizient. Die Organisation der VOC wurde vom föderalistischen Aufbau der Niederlande bestimmt und war eng mit der politischen und wirtschaftlichen Führungsschicht verbunden. Die Zentrale der Gesellschaft befand sich in Amsterdam. Die VOC setzte sich aus sechs Kammern zusammen, wobei Amsterdam das Übergewicht besaß (Jacobs 1991:16ff). Die Direktoren der Kammern kamen aus der städtischen Oligarchie und wählten das oberste Leitungsgremium, die sogenannten „Heren Zeventien". Der Hauptsitz in Asien war Batavia auf Java, wo ein Generalgouverneur residierte. Ihm standen ein aus hohen Beamten gebildeter Rat und ein Gerichtshof zur Seite. Die EIC war ursprünglich eine private, nicht selbständige Joint-StockCompany. Ihr Stammkapital war im Vergleich zur später gegründeten VOC nur sehr gering. Im Jahr 1600 zählte die Gesellschaft nur 250 Zeichner (Reinhard 1983:134). Erst 1657 wurde die EIC in eine permanente Gesellschaft umgewandelt. Sie wurde von 24 Direktoren geleitet, die von den großen Kaufleuten der Londoner City bestellt wurden (Reinhard 1983:146). Die Wahl der Direktoren erfolgte jährlich bei einer Aktionärsversammlung. Die laufenden Geschäfte wurden von sogenannten „Komitees" besorgt. Im Vergleich zur VOC war bei der EIC die Verbindung der Aktionäre zur politischen Führungsschicht weniger deutlich ausgeprägt. Auch die Einflußnahme der Regierungen waren in England und Holland unterschiedlich stark. Die von Colbert gegründete Indienkompanie versuchte zwar, das holländische Vorbild zu kopieren, war aber wegen des übermächtigen Einflusses der Krone praktisch ein Staatsunternehmen. In Organisationsfragen war die VOC den anderen Gesellschaften lange Zeit überlegen. Der personelle, materielle und finanzielle Aufwand der VOC war im Vergleich zu anderen Kompanien von Anfang an enorm. Als einzige Gesellschaft unterhielt die VOC bei ihren Fahrten zwischen Asien und Europa drei Flotten. Je eine Flotte segelte um Weihnachten bzw. um Ostern nach Batavia. Zurück kam nur eine Flotte, die meistens im Herbst in Batavia auslief (Jacobs 1991:63). Obwohl das Risiko
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jeder Asienreise groß war, endeten nur 4 Prozent aller Reisen der VOC mit einem Schiffbruch (Reinhard 1983:42ff). Für diese äußerst geringe Verlustquote waren die große Erfahrenheit der Offiziere, die umsichtige Vorbereitung der Fahrten, dann die gut eingespielten Schiffsbesatzungen und schließlich auch das verwendete Schiffsmaterial verantwortlich (Jacobs 1991:31 ff). Am Anfang kaufte die VOC Schiffe von Privatpersonen, ging aber dann bald dazu über, nur von ihr selbst gebaute Schiffe zu verwenden. Auch die EIC war schon sehr früh bestrebt, ihr Risiko möglichst zu verringern. Sie verzichtete deshalb auf den Bau von eigenen Schiffen und zog es vor, die als „Indiamen" bezeichneten Ostindienfahrer zu mieten, wobei die Reeder das Risiko zu tragen hatten (Reinhard 1983:146). Das Baumaterial, wie zum Beispiel Holz und Eisen, führten die Holländer zum größten Teil aus dem Baltikum ein. Mit den Kapazitäten der Niederländer im Schiffbau konnte bis ins 18. Jahrhundert keine andere europäische Nation mithalten. Innerhalb von 200 Jahren baute die VOC ca. 1.500 Schiffe. Der Bau eines Schiffes dauerte bis zur Fertigstellung ungefähr neun Monate. Obwohl der Schiffbau weitgehend standardisiert war, waren die Baukosten sehr hoch. Ende des 17. Jahrhunderts kam ein Schiff auf 100.000 Gulden, im 18. Jahrhundert sogar auf 250.000 Gulden. Die VOC verwendete verschiedene Schiffstypen, der gebräuchlichste Typ war die sogenannte Fleyte. Dieser um 1595 entwickelte neue Schiffstyp erwies sich bald für den asiatischen Handel als besonders geeignet. Im Vergleich zu anderen Kompanien unterhielt die VOC von Anfang an sehr viel Personal. So beschäftigte die Kompanie in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts ungefähr 3.500 Seeleute und 3.000 Soldaten, also rund 7.500 Menschen. Um 1750 waren es 12.000 Seeleute und 17.000 Soldaten (Jacobs 1991:77). Die Folge davon war, daß die Personalkosten der VOC enorm anstiegen. Ein besonderes Problem der beiden großen Kompanien waren ihre Angestellten. Sie wurden ganz bewußt sehr schlecht bezahlt, weil man davon ausging, daß sie sich ohnehin auf andere Weise schadlos halten würden. Die Folge dieser Haltung waren natürlich vermehrte Betrügereien und Korruption (Schmitt 1988:255). DER WARENHANDEL DER HANDELSKOMPANIEN Im 17. und 18. Jahrhundert bildete sich vor allem durch den Fernhandel der europäischen Handelskompanien ein Weltwirtschaftssystem heraus, dessen Antriebsmittel das amerikanische Silber war. In Asien, und hier wieder besonders in China, existierte eine geradezu
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unersättliche Nachfrage nach Edelmetallen. So gelangte in der Frühen Neuzeit etwa die Hälfte des in Amerika gewonnenen Silbers durch den Handel nach Asien. Die wichtigste Ursache für den gewaltigen Silberabfluß von Europa nach Osten war, daß für die europäischen Produkte in Asien nur ein sehr geringer oder gar kein Bedarf bestand (Schmitt 1988:600ff). Die europäischen Händler mußten deshalb die asiatischen Waren mit Silber bezahlen. Das von Europa abweichende Preisniveau trug außerdem dazu bei, daß Edelmetalle in Asien wertvoller als in Europa waren. Um 1650 entfiel vom Wert einer nach Asien bestimmten Schiffsladung der VOC etwa die Hälfte auf Silber. 1680 waren es sogar zwei Drittel des Gesamtwerts. Neben Silber gab es nur wenige andere europäische Exportgüter. Dazu zählten englische Wollstoffe, niederländische Tuchwaren, schlesische Leinwand sowie Uhren und Korallen. Die schweren englischen Wollstoffe waren aber für die tropischen Gebiete Asiens ungeeignet und fanden erst im 18. Jahrhundert stärkeren Absatz in Indien, als einige Fürsten dazu übergingen, ihre Truppen damit einzukleiden (Schmitt 1988: 291). Eine winzige Marktnische existierte für Keramik aus Delft in Japan. Diese als „Uranda" bezeichnete Keramik war dort besonders bei der Teezeremonie sehr beliebt. Neben Silber bestand der größte Teil der Schiffsladung aus Waren, die für den Bedarf der VOC in Asien bestimmt waren. Hier sind verschiedene Eisenwaren sowie Material für den Schiffbau, aber auch Knöpfe für Uniformen zu nennen. Im Vergleich zu den europäischen Importen war das Angebot an asiatischen Exportgütern von Anfang an äußerst reichhaltig. Es umfaßte Gewürze, die verschiedensten Textilien, Tee, Farbstoffe, Kupfer, Salpeter und Kunstgegenstände wie Porzellan und Lackarbeiten. Bei den Massengütern lösten sich einzelne Waren ab, die aus verschiedenen Produktionsgebieten stammten. Im 17. Jahrhundert waren es zunächst Gewürze, dann ab etwa 1680 aus Baumwolle hergestellte indische Textilien und ab 1700 Tee und Kaffee. Die Holländer bezogen den Kaffee zunächst aus der südarabischen Stadt Mocca und begannen gegen Ende des 17. Jahrhunderts, auf Java eigene Kaffeeplantagen anzulegen. Vom Tee-Boom profitierten hauptsächlich die Engländer (Schmitt 1988:162). In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde Bengalen zum wichtigsten Textillieferanten der EIC. Es entwickelte sich hier ein kompliziertes System, in dem Europäer und einheimische Agenten eng zusammenarbeiteten (Schmitt 1988:161f). Unter den Gewürzen sind Pfeffer, Muskatnuß, Muskatblüte, Gewürznelken und Zimt zu nennen. Im 17. Jahrhundert war Pfeffer dem Wert und dem Umfang nach eindeutig die wichtigste asiatische Ware, die
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in Europa eingeführt wurde (Schmitt 1988:267ff). Pfeffer kam in verschiedenen asiatischen Regionen vor, weshalb die Errichtung eines Monopols nicht möglich war (Jacobs 1991:74). Die Holländer und Engländer waren die beiden Hauptanbieter von Pfeffer. Sie konnten in ihren Heimatmärkten nur einen Teil ihrer Importe absetzen und mußten deshalb einen beträchtlichen Teil auf dem europäischen Kontinentalmarkt, aber auch in Asien verkaufen. Die Konkurrenz zwischen den beiden Kompanien führte nach 1650 zu einem deutlichen Preisverfall. Pfeffer war nun auch für ärmere Bevölkerungsschichten erschwinglich, wodurch der Pfefferverbrauch rasch anstieg. Die Auswirkungen dieses Preisverfalls machten sich in Europa auch in kleinen Landstädten bemerkbar, wie sich zum Beispiel in den Inventaren von steirischen Bürgern feststellen läßt (Valentinitsch 1991: 55ff). Der Pfefferhandel blieb zwar bis ins 18. Jahrhundert attraktiv, der Rückgang der Gewinne veranlaßte aber seit dem Ende des 17. Jahrhunderts besonders die EIC, sich verstärkt auf den Textilhandel zu verlegen. Der Anbau der meisten übrigen Gewürze war auf einige Inseln im Malayischen Archipel konzentriert. Die Holländer waren von Anfang an bestrebt, hier die gesamte Gewürzproduktion und den damit verbundenen Handel an sich zu ziehen. Um 1620 gelang es ihnen, ein Monopol des Muskatanbaus zu errichten. Ein Nelkenmonopol konnte erst um 1670 durchgesetzt werden. Zwischen 1630 und 1660 brachte die VOC auch den Zimtanbau in Ceylon unter ihre Kontrolle, konnte aber den Schleichhandel mit Indien nicht ganz unterbinden. Die VOC schaltete sich schon sehr früh in den innerasiatischen Handel ein, um mit den hier erzielten Gewinnen den Kauf von asiatischen Exportgütern zu finanzieren (Schmitt 1988:613ff). Außerdem konnten die Holländer bis 1680 einen großen Teil ihres Silberhandels in Japan decken. Nach 1680 führten aber der Rückgang des holländischen Kompensationshandels und die Konkurrenz der EIC zu einem vermehrten Geldabfluß. Im innerasiatischen Handel transportierten die Holländer praktisch alle Waren, die Gewinn abwarfen. Sie brachten aus Japan Silber und Kupfer nach Bengalen und von dort wieder Textilien zu den Molukken, wo sie Gewürze eintauschten. Sandelholz aus Timor und Zinn aus Siam gelangten durch die Holländer nach China. Die VOC besaß in Asien auch lange das Monopol für den Opiumhandel von Indien nach China, bis sie im 18. Jahrhundert von der EIC abgelöst wurde. Den Angestellten der VOC war streng verboten, sich in den innerasiatischen Handel selbständig einzuschalten, weshalb sich viele Beamte auf den Schmuggel verlegten.
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Im Gegensatz zur VOC besaß die EIC keine eigene Flotte für den innerasiatischen Handel. Die EIC bestand zwar weiterhin auf ihrem Monopol für den Handel zwischen Asien und Europa, erlaubte aber ihren Angestellten allmählich, sich im als „Country-trade" bezeichneten freien Handel zu betätigen (Schmitt 1988:165). Nach 1700 nahm dieser Privathandel derart zu, daß die Engländer in Asien die führende Position erringen konnten. So waren um 1740 in Kalkutta 30 englische „Country"-Schiffe stationiert, um 1770 waren es aber rund 570! Die Holländer versäumten diese Entwicklung, weshalb 1750 nur mehr 43 Schiffe der VOC im innerasiatischen Handel tätig waren. Im atlantischen Raum läßt sich der Anteil der einzelnen Kompanien am Handel mit bestimmten Waren nur teilweise rekonstruieren, weil hier der Freihandel eine dominierende Rolle spielte. Bei den in Europa besonders gefragten Waren aus Amerika handelte es sich, wenn man vom Silber und vom brasilianischen Gold absieht, in der Regel um Massengüter aus den seit dem 17. Jahrhundert angelegten Plantagenkolonien (Schmitt 1988:9ff). Zu diesen speziell für den europäischen Markt produzierten Waren zählten Zucker, Tabak und Farbhölzer, später auch Baumwolle, Kaffee und Kakao. Aus dem nördlichen Nordamerika wurden hauptsächlich Pelze ausgeführt. Der Pelzhandel geriet allerdings im 18. Jahrhundert durch ein Überangebot in eine Krise. Aus Europa gelangten wieder verschiedene Bedarfsgüter und Wein nach Amerika. Die wertvollste Fracht stellten hier aber nicht Handelsgüter dar, sondern Menschen, die als Siedler nach Amerika kamen. Nach Afrika gelangten aus Europa Feuerwaffen, Schießpulver, Alkohol, billige Textilien und verschiedene Gegenstände des täglichen Bedarfs. An den afrikanischen Küsten wurden diese Waren gegen Sklaven, Gold und Elfenbein eingetauscht. Im 17. Jahrhundert stand bei der afrikanischen Ausfuhr Gold dem Wert nach an erster Stelle, nach 1700 waren es Sklaven. Auf den Sklavenhandel gehe ich hier nicht weiter ein, weil sich ein eigener Beitrag damit befaßt. Ich weise nur darauf hin, daß alle europäischen Afrika-Kompanien im Sklavenhandel tätig waren. Bei der Belieferung der spanischen Kolonien beanspruchten zunächst die Holländer das als „Asiento" bezeichnete Monopol, das 1702 an die Franzosen und 1714 an die Engländer kam (Schmitt 1988:22f). Zwischen 1714 und 1750 machte die „South Sea Company" die größten Gewinne. Im Bereich der holländischen und dänischen Kompanien, und zwar auf Curaçao und St. Thomas, befanden sich große Umschlagplätze für den Sklavenhandel.
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DIE AUSWIRKUNGEN
DER
EUROPÄISCHEN
HANDELSKOMPANIEN
In den vergangenen Jahrzehnten wurde die Tätigkeit der europäischen Handelskompanien, vor allem vor dem Hintergrund der Entkolonialisierung, oft sehr kritisch betrachtet. Außerdem hat man versucht, die mit den Handelskompanien verbundene Entstehung eines Weltwirtschaftssystems in einen theoretischen Überbau einzugliedern. Hier ist in erster Linie die von Immanuel Wallerstein entwickelte ZentrumPeripherie-These hervorzuheben (Wallerstein 1974). Gerade die Beschäftigung mit den Handelskompanien zeigt aber, daß bei einem solchen Modell außerordentlich viele und dazu sehr unterschiedliche Faktoren berücksichtigt werden müssen. Die Erstellung eines allgemein gültigen Musters ist daher nicht möglich. Dies ändert aber nichts daran, daß die oft provozierenden Thesen Wallersteins die historische Forschung überaus belebt haben (Reinhard 1985:112ff). Bei der Einflußnahme der Handelskompanien spielen die demographischen Verhältnisse und die großen Entfernungen eine wichtige Rolle. Für einzelne große und bevölkerungsreiche asiatische Staaten, wie China, war die Existenz der europäischen Handelskompanien bis etwa 1800/1820 nur ein Randphänomen. Ähnliches gilt auch bis in die ersten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts für das Mogulreich in Indien. Am stärksten war der Einfluß der Engländer und Holländer in Asien zweifellos dort, wo sie sich kleinen und dazu oft miteinander zerstrittenen einheimischen Staaten gegenübersahen und wo sie zur Territorialherrschaft übergingen. Wie stark sich die europäische Nachfrage nach Massengütern, wie Gewürzen, Tee und Baumwolle, auf einzelne asiatische Regionen auswirkte, ist ebenfalls oft umstritten, es kam aber zweifellos zu einer Steigerung der Anbauflächen und zum Ausbau eines exportorientierten Gewerbes. Für die einheimische Bevölkerung bedeutete dies meist eine verstärkte Abhängigkeit. Für Europa brachte der Handel der Kompanien zahlreiche neue, exotische Produkte. Bestimmte Waren, wie zum Beispiel Gewürze, wurden nun auch für breitere Bevölkerungsschichten erschwinglich. Einige unter ihnen, wie Kaffee und Tee, haben bis heute sichtbare Auswirkungen auf die Kultur und den Alltag der Europäer (Schultz 1997: Höf). Holland (und ganz besonders England) profitierten vom Reexport von Waren aus Übersee (Schmitt 1988:170). Für Afrika, Amerika und die Karibik bewirkte der Sklavenhandel, an dem auch die Handelsgesellschaften massiv beteiligt waren, tiefgreifende demographische Veränderungen, die bis heute nachwirken. Die zentrale Frage,
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inwieweit unter anderem auch die Gewinne der Handelsgesellschaften „zum wirtschaftlichen Aufschwung Europas beigetragen und vielleicht sogar die Industrialisierung ermöglicht haben", wird von Wolfgang Reinhard negativ beantwortet, da ihnen nur eine begrenzte Bedeutung zukam (Reinhard 1996:340). ZUSAMMENFASSUNG
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Die europäischen Handelskompanien der Frühen Neuzeit hatten wesentlichen Anteil an der Entstehung eines Welthandelssystems, das die einzelnen Kontinente miteinander verband. Es bildete sich ein geschlossener Kreislauf, dessen Antriebsmittel das amerikanische Silber darstellte. Im 17. Jahrhundert stieg Amsterdam zum Stapelplatz des Welthandels und ersten Finanzplatz auf und wurde nach 1750 von London abgelöst. Die frühneuzeitlichen Kompanien brachten den Übergang von der Personalgesellschaft des Mittelalters zur Aktiengesellschaft und ermöglichten eine größere Aufbringung von Kapital. Die europäischen Staaten statteten die Handelskompanien für ihr Wirkungsgebiet mit Monopolen und weitgehenden Hoheitsrechten aus. Typisch für die Handelskompanien ist die Verbindung von Gewalt, Geschäft und Diplomatie. Die Gründung der Handelskompanien ging von Nordwesteuropa (Niederlande, England) aus und zielte von vornherein darauf ab, den Anspruch der Spanier und Portugiesen auf das Handelsmonopol mit der Übersee zu durchbrechen. Zwischen den einzelnen europäischen Staaten und deren Kompanien kam es zu einem Wettlauf, um sich einen möglichst großen Anteil am internationalen Handel zu sichern. Die holländischen und englischen Kompanien waren ausschließlich am Gewinn interessiert. Die Wirksamkeit einer Handelskompanie war untrennbar mit einer Seemacht verbunden. Die europäischen Kompanien aber begnügten sich in der Regel mit einem Stützpunktsystem. Ansätze zu einer Territorialherrschaft finden sich nur bei den Holländern (Brasilien, Indonesien) und bei den Engländern (Indien, Karibik). Die geographischen, politischen, wirtschaftlichen und demographischen Rahmenbedingungen waren im atlantischen und im asiatischen Raum sehr unterschiedlich. Im atlantischen Raum gab es eine starke Konkurrenz zwischen den europäischen Kompanien. Sie mußten sich auch gegen private Unternehmer und Schmugg-
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ler behaupten. Außerdem wirkten sich politische Konflikte in Europa sofort negativ auf den Handel aus. Die Gesellschaften konnten deshalb langfristig ihr Monopol gegenüber dem Freihandel nicht halten. Im Handel mit Asien konnten offenbar nur dann Gewinne erzielt werden, wenn man große Investitionen tätigte. Handelsgesellschaften waren daher hier allein schon aus finanziellen Gründen die einzig mögliche Organisationsform eines Unternehmens. Die VOC und EIC waren auch im heutigen Sinn multinationale Kapitalgesellschaften (Schultz 1997:154), die über den halben Erdball hinweg ihre geschäftlichen Interessen verfolgten. Im 17. Jahrhundert nahm die VOC im Asienhandel eine beherrschende Stellung ein. Nach 1700 übernahm die EIC die Führungsrolle. Beide Kompanien entwickelten eine riesige Bürokratie und beschäftigten Tausende Mitarbeiter. In Holland waren das städtische Kaufmanns- und Rentenkapital die Träger der Handelskompanien, in England engagierte sich auch die Gentry im Überseehandel. Gegenüber der VOC und EIC konnten sich andere Handelskompanien nur in Nischen behaupten. Das überschüssige niederländische Kapital wurde auch in ausländischen Gesellschaften angelegt. Eine gefährliche Konkurrenz bildete nur zeitweise die Französische Indienkompanie. Die Handelskompanien öffneten für die europäischen Konsumenten eine „größere Welt". Die gewaltige Ausdehnung des Handelsvolumens war ebenfalls eine Folge ihrer Tätigkeit. Die Handelsbilanz zwischen Europa und Asien blieb stets passiv, weil in Indien und China für europäische Waren nur ein geringer Bedarf bestand. Die Holländer versuchten deshalb, durch Einschaltung in den innerasiatischen Handel den Kauf der asiatischen Exportgüter zu kompensieren. Schließlich folgte seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts der Erweiterung des europäischen Handels schrittweise die europäische Herrschaft und die Vorbereitung zum Kolonialismus und Imperialismus des 19. Jahrhunderts.
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CHRONOLOGIE
DER GRÜNDUNG
Valentinitsch
VON
HANDELSKOMPANIEN
Erste ab 1595: 1600: 1602: 1604: 1614: 1616: 1616: 1621: 1626: 1626/29: 1642: 1649:
Gründungswelle
Sogenannte Vor-Kompanien in den Niederlanden Englische Ostindien Kompanie Vereinigte Ostindische Kompanie in den Niederlanden Französische Ostindien-Kompanie in Brest Neue-Niederland-Kompanie in den Niederlanden Dänische Ostindische Kompanie Virginia Kompanie Massachusetts Bay Kompanie Westindische Kompanie in den Niederlanden Französische Kompanie Richelieus Schwedische Ostindien-Kompanie Französische Orient-Kompanie zur Erschließung Madagaskars Handelskompanie des Herzogs von Kurland Portugiesische Brasiliengesellschaft Zweite Gründungswelle
1664: 1668-1674: 1670: 1671: 1672: 1672: 1673: 1674: 1682: 1695: 1698: 1709:
Dritte 1717: 1719:
1723: 1731-1813: 1750: 1753: 1781-1785: 1785-1834: 1785-1790:
(ca.
1660-1673)
Französische Ost- und Westindische Kompanie Schwedische Ostindien-Kompanie Dänische Ostindien-Kompanie Dänische Westindien-Kompanie „Royal African Company" „Hudson Bay Company" Französische Senegal-Kompanie Zusammenbruch und Neugründung der Niederländischen Westindienkompanie Brandenburgische afrikanische Kompanie Schottische Überseekompanie „New East India Company" Fusionierung der alten und neuen „East India Company" Gründungswelle
Französische Mississippi-Gesellschaft Vereinigung aller französischen Überseehandelskompanien zur „Compagnie des Indes" Südsee Kompanie Caracas Kompanie Ostende-Kompanie Schwedische Ostindien-Kompanie Asiatische Kompanie in Emden Bengalische Kompanie in Emden Kaiserliche Gesellschaft für Indienhandel in Triest Spanische Philippinen-Gesellschaft „Compagnie des Indes"
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DER ATLANTISCHE Globalisierung
ULRICH
SKLAVENHANDEL durch
Zwang
MÜCKE
In der Weltgeschichte sind Sklaverei und Sklavenhandel weit verbreitete Phänomene. Kaum eine Region, die nicht zu irgendeiner Zeit von Sklavenarbeit profitiert hätte, und kaum eine Epoche, in der nicht in irgendeiner Weltregion Sklaverei bestanden hätte. In Europa blühte die Sklaverei im Altertum, und die berühmteste Verteidigung der Sklaverei stammt von Aristoteles, der die Auffassung vertrat, es gebe Menschen, die von Natur aus Sklaven seien (Aristoteles 1981:8). Die Machtausdehnung Roms hatte einen gewaltigen Aufschwung der Sklaverei zur Folge, da sich eine auf Sklavenarbeit gegründete Agrikultur vor allem wegen der starken Verstädterung, dem Fernhandel und den damit verbundenen großen Märkten lohnte. Der Niedergang Roms führte denn auch zum Rückgang der Sklaverei, die sich im christlichen Europa nur noch als Randphänomen behauptete. Im islamischen Europa und im Nahen Osten dagegen blieb die Sklaverei erhalten, wobei vor allem aus Schwarzafrika Verschleppte und Kriegsgefangene aus dem Mittelmeerraum die Sklaven stellten. Auch auf dem afrikanischen Kontinent existierte die Sklaverei schon Jahrhunderte vor dem Beginn der europäischen Expansion als feste Institution. Während die meisten Sklaven hier nicht allzu weit von ihren Herkunftsorten lebten, wurde ein Teil der Sklaven durch die Sahara nach Nordafrika gebracht, um dort zu bleiben oder nach Europa oder in den Nahen Osten verkauft zu werden. Zwischen 650 und 1500 kamen schätzungsweise über 4 Millionen Sklaven auf den Sahararouten und über 2 Millionen auf weiter östlich gelegenen Wegen nach Nordafrika und in den Nahen Osten. Die Anzahl der jährlich auf diesen Routen verschleppten Menschen wuchs bis etwa 1900, auch wenn diese Handelswege aufgrund des atlantischen Sklavenhandels an relativer Bedeutung verloren (Lovejoy 1998:25, 45, 60).
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Sklaverei war auch im südlichen und östlichen Asien ein weit verbreitetes Phänomen. In China gab es schon vor unserer Zeitrechnung Sklaverei, die bis ins 20. Jahrhundert unter vielfach wechselnden Formen Bestand hatte (Finkelman/Miller 1998:179f). In Japan gab es Sklaven seit etwa dem 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Allerdings spielte hier die Sklaverei schon seit dem 12. Jahrhundert keine zentrale Rolle mehr (Finkelman/Miller 1998:445f). In Indien war Sklaverei seit Menschengedenken bekannt, und die europäische Expansion verbreitete die Institution auf den südostasiatischen Inselgruppen. Sklaverei ist also ein Jahrtausende altes Phänomen, das - je nach Definition, die man verwendet - auch heute noch existiert. Das letzte Land, das die Sklaverei offiziell verbot, war Saudi Arabien im Jahre 1962 (Lovejoy 1998:287). Auch wenn der Sklavenhandel ein globales historisches Phänomen darstellt(e), so ist seine Verbindung mit dem Prozeß, den man heute als Globalisierung beschreibt, sowohl räumlich auch als zeitlich klar begrenzt. Denn Globalisierung bezeichnet die zunehmende Verbindung der Weltregionen, wie sie sich seit dem Beginn der europäischen Expansion entwickelt (Häberlein 2000:103f). Die gleichzeitige Existenz von Sklaverei in verschiedenen Weltregionen kann ebensowenig als Teil der Globalisierung beschrieben werden wie die Verbindung einzelner Weltregionen aufgrund von Sklavenhandel, wenn dieser nicht in den von Europa ausgehenden Globalisierungsprozeß eingebunden war. Die Verbindung des Nahen Ostens mit Nordafrika und dem subsaharischen Afrika durch den Sklavenhandel führte nicht zu jener Dynamik, die nach und nach die ganze Welt einschloß. Die europäische Expansion dagegen entwickelte diese Dynamik und steht damit am Anfang jener Entwicklung, die aus der Erde das Dorf machte, in dem wir heute leben. Zentraler Bestandteil der europäischen Expansion war seit dem 15. Jahrhundert der atlantische Sklavenhandel, der somit einen Schlüssel zum Verständnis des neuzeitlichen Globalisierungsprozesses bildet. Im folgenden konzentriere ich mich daher auf die Darstellung des atlantischen Sklavenhandels und seiner weltweiten Verknüpfungen. Danach werde ich seine Auswirkungen auf die afrikanische, amerikanische und europäische Geschichte erläutern.
DER ATLANTISCHE SKLAVENHANDEL Als die Portugiesen im 15. Jahrhundert begannen, entlang der afrikanischen Küste südwärts zu segeln, erschlossen sie keine völlig neuen
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Märkte, sondern schufen lediglich eine alternative Route zu den südlich der Sahara gelegenen Gebieten. Was zuvor durch den Karawanenhandel nach Europa gelangt war, konnte nun auf Schiffen transportiert werden. Die gehandelten Waren änderten sich zunächst nicht. Die Portugiesen waren vor allem an Gold interessiert und erst an zweiter Stelle an Sklaven, Elfenbein und Pfeffer. Die verschleppten Afrikaner wurden in Europa in erster Linie als Haussklaven eingesetzt. Ihre Zahl war nicht sehr groß, und auch wenn sie im Laufe des 15. Jahrhunderts langsam anstieg, so war der jährliche Fluß von versklavten Afrikanern auch zur Jahrhundertwende demographisch noch ohne größere Bedeutung (Klein 1999:10). Parallel zu dieser Entwicklung nahmen Portugiesen und Spanier die Afrika vorgelagerten Atlantikinseln in Besitz und begannen vor allem auf Madeira, den Kanarischen Inseln und Säo Tomé Zuckerrohr anzubauen. War gegen Ende des 15. Jahrhunderts Madeira Europas größter Zuckerproduzent, wurde es schon bald darauf von den Kanarischen Inseln überflügelt. Die Arbeitskraft auf den Zuckerrohrfeldem und in den Mühlen war zum Teil frei und zum Teil versklavt. Die erste Insel, auf der Zuckerrohr in großem Stil von Sklaven angebaut wurde, war Säo Tomé im Golf von Guinea. Mitte des 16. Jahrhunderts arbeiteten hier ca. 5.000-6.000 Sklaven auf den Zuckerrohrplantagen (Klein 1999: 14). Mit Säo Tomé und den südlich des Golfs von Guinea gelegenen Gebieten hatten die Portugiesen Gegenden erreicht, die außerhalb des alten Saharahandels lagen. Erst jetzt konnte davon gesprochen werden, daß die Seeroute mehr war als eine Alternative zum Karawanenhandel. Die Landnahme in Amerika schuf seit dem Ende des 15. Jahrhunderts völlig neue Voraussetzungen für den Sklavenhandel, da sie einen riesigen Kontinent erschloß, auf den in den folgenden Jahrhunderten Millionen von Afrikanern verschleppt werden sollten. Allerdings wurde Amerika nicht über Nacht zum bedeutendsten Sklavenkäufer. Es dauerte bis in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts, bis mehr Sklaven nach Amerika als auf die Afrika vorgelagerten Atlantikinseln kamen. Die Nachfrage nach Arbeitskräften auf dem amerikanischen Doppelkontinent und in der Karibik hatte aus verschiedenen Gründen den Import afrikanischer Sklaven zur Folge. Die europäische Landnahme führte in Amerika schnell zum demographischen Kollaps, und es gestaltete sich äußerst schwierig, eine ausreichende Zahl von Arbeitskräften zu finden. Auch dort, wo Versklavung von Indianern in größerem Stil betrieben wurde (wie z.B. in Brasilien), führten die europäischen Krankheiten bald zu einem rapiden Rückgang der Arbeitskräfte, so daß die
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Indianersklaverei allein die Nachfrage nicht decken konnte. Und Europäer konnten die fehlenden Arbeitskräfte nicht ersetzen, da es nicht möglich war, sie in ausreichendem Maße zu einer freiwilligen Emigration zu bewegen oder sie unter Zwang auf den neuen Kontinent zu bringen. In Afrika dagegen war dies möglich. Das lag nicht in erster Linie daran, daß dort die Sklaverei allgemein bekannt war. Der wichtigste Grund war vielmehr, daß die Arbeitskraft in Amerika (und auch in Europa) aufgrund ihrer höheren Produktivität teurer war als in Afrika, so daß es für afrikanische Sklavenbesitzer häufig ökonomisch vernünftig war, Sklaven zu verkaufen statt sie in der Landwirtschaft zu verwenden. Sklaven konnten in Afrika aufgrund der politischen und ökonomischen Situation nicht so gewinnbringend eingesetzt werden wie in Amerika (Inikori/Engerman 1994:2). Sklaven aus Afrika waren in Amerika aufgrund ihrer Entwurzelung meist einfacher zu kontrollieren als einheimische Sklaven oder Zwangsarbeiter, denn diese konnten auf die Unterstützung ihrer Familie, ihres Clans oder Stammes bzw. ihrer Ethnie rechnen. Dieser Umstand erhöhte die Produktivität der afrikanischen Sklaven zusätzlich (Wolf 1982:203). 1502 begann Spanien als erstes europäisches Land, afrikanische Sklaven nach Amerika zu bringen. Diese Sklaven waren zunächst auf den alten See- oder Karawanenrouten nach Europa gekommen und dann von hier aus nach Amerika verschleppt worden. In den 1520er Jahren ging man dann dazu über, Sklaven direkt von Afrika nach Amerika zu verschiffen. Die spanische Krone vergab Einfuhrlizenzen, da es spanischen Untertanen aufgrund der Einteilung der Welt zwischen Portugal und Spanien nicht möglich war, Sklaven in Afrika zu kaufen. Die Lizenzen (asientos genannt) wurden bis Ende des 16. Jahrhunderts vor allem an portugiesische Händler und Gesellschaften vergeben, bis sie im 17. und 18. Jahrhundert Eingang in zwischenstaatliche Verträge fanden. Portugal begann Mitte des 16. Jahrhunderts ebenfalls, Sklaven in seine eigenen amerikanischen Besitzungen zu verschleppen, und Ende des 16. Jahrhunderts engagierten sich zunehmend auch andere europäische Nationen im atlantischen Sklavenhandel (Pietschmann 1987:123f). Als erste stellten die Holländer das portugiesische Handelsmonopol in Frage und wurden schon in den 1630er Jahren zur wichtigsten Sklavenhändlernation. Den Holländern folgten bald Briten und Franzosen und in viel geringerem Umfang Dänen, Schweden und Brandenburger (Klein 1999:76-78). Die Anzahl der nach Amerika verschleppten afrikanischen Sklaven wird seit 30 Jahren intensiv erforscht. Grundlage aller Arbeiten ist bis heute die bahnbrechende Studie The Atlantic Slave Trade. A Census von Philip D. Curtin aus dem Jahre 1969. Curtin gelangte zu dem Er-
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gebnis, daß insgesamt etwa 11 Millionen Afrikaner nach Amerika verschleppt wurden, von denen gut 9,5 Millionen die Neue Welt lebend erreichten (Curtin 1969:268, 275-286). Diese Zahlen haben allen Überprüfungen mehr oder weniger standgehalten. Man schätzt heute, daß etwa 11,5 bis 13 Millionen afrikanische Sklaven ihren Kontinent Richtung Amerika verließen und daß von ihnen ca. 10 bis 11 Millionen die Neue Welt lebend erreichten (Lovejoy 1998:19; Klein 1999:2lOf; Thomas 1997:804f). Die quantitative Entwicklung des atlantischen Sklavenhandels läßt sich in drei Phasen einteilen. Von seinem Beginn im 15. Jahrhundert bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts kam eine knappe halbe Million Afrikaner nach Amerika. Erst die „Expansion des Handelskapitalismus im 17. und 18. Jahrhundert" ließ die Zahl der nach Amerika gebrachten Sklaven in so ungeheure Höhen schnellen (Manning 1996a:XX). In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurden doppelt so viele Sklaven verschifft wie in der letzten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Diese Zahl verdoppelt sich dann noch einmal in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Eine neuerliche Verdoppelung erfolgt in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Seinen größten Umfang erreichte der Sklavenhandel in den 1780er Jahren, als rund 75.000 Afrikaner jährlich nach Amerika gebracht wurden. In den folgenden Jahren ging er wegen der europäischen Kriege, dem natürlichen Anwachsen der Sklavenbevölkerung in Amerika und den Abolitionskampagnen langsam zurück; in den 1860er Jahren kam er zum Erliegen. Der Aufschwung des atlantischen Sklavenhandels war eng mit der Erfolgsgeschichte des Zuckers verbunden. Zuckerrohranbau bedeutete Sklavenarbeit. Über die Hälfte der Sklaven wurde nach Amerika zur Zuckergewinnung gebracht. Andere für den Sklavenhandel bedeutende Wirtschaftszweige waren der Kaffee und der Bergbau. Die Baumwolle spielte dagegen für den transatlantischen Sklavenhandel nur eine sehr untergeordnete Rolle, da sich die Sklavenbevölkerung im nordamerikanischen Baumwollgürtel schon im 18. Jahrhundert auf natürliche Weise selbst reproduzierte und daher bald keine Einfuhren mehr notwendig waren. Zuckerrohr war zwar schon von Kolumbus in die Karibik gebracht worden, doch es wurde erst in Brasilien ab der Mitte des 16. Jahrhunderts zu einem größeren Exportzweig. Nachdem in den ersten Jahrzehnten auf den Zuckerrohrplantagen noch viele indianische neben afrikanischen Sklaven gearbeitet hatten, wurde die Arbeitskraft schon im frühen 17. Jahrhundert fast ausschließlich von Afrikanern gestellt. Zur eigentlichen „Zuckerrevolution" (Wirz 1984:95) kam es aber erst Mitte des 17. Jahrhunderts. Mit holländischem Know-
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how begannen Franzosen und Engländer auf den von ihnen eroberten Karibikinseln Zuckerrohr anbauen zu lassen und setzen dafür in immer größerem Umfang afrikanische Sklaven ein. Jamaika zählte bei der Abschaffung des britischen Sklavenhandels im Jahre 1808 17.000 Weiße und 354.000 Schwarze, von denen fast die Hälfte aus Afrika stammte (Wirz 1984:97). Die Ziele der atlantischen Sklavenfahrten waren denn auch in erster Linie die Zuckeranbauregionen. In die Karibik und nach Brasilien wurden gut bzw. knapp 40 Prozent der Sklaven verschleppt. Weniger als 10 Prozent der Sklaven kamen in den hispanoamerikanischen Teil des Doppelkontinents. Insgesamt gut 5 Prozent gelangten nach Surinam und Guayana und knapp 5 Prozent nach Nordamerika (Curtin 1969:88f). Es waren vor allem Männer, die als Sklaven nach Amerika gebracht wurden. Im 17. Jahrhundert stellte das männliche Geschlecht 60 Prozent der gehandelten Personen. Kinder (Jungen und Mädchen unter 15 Jahren) stellten 12 Prozent. Der Anteil beider Gruppen nahm im Laufe der Jahrhunderte zu, bis männliche Personen schließlich 72 Prozent und Kinder 46 Prozent erreichten (Klein 1999:16lf). Die geringe Anzahl von Frauen erklärt sich nicht mit der Nachfrage in Amerika, da Frauen auf den Plantagen die gleiche Feldarbeit wie Männer verrichteten. Vielmehr war das Angebot an Frauen in Afrika geringer und der Preis von weiblichen Sklaven höher, da diese sowohl in Afrika als auch im Nahen Osten stärker nachgefragt wurden als Männer. Die Überfahrt über den Atlantik (die sogenannte middle passage) war der Kern und einer der dunkelsten Aspekte des atlantischen Sklavenhandels. Auf den im Schnitt ein- bis zweimonatigen Fahrten kamen Hunderttausende, wenn nicht Millionen von Afrikanern ums Leben. Im 17. Jahrhundert starb rund ein Fünftel der Sklaven auf der middle passage. Dieser Prozentsatz sank dann im Laufe des 18. Jahrhunderts kontinuierlich, bis er zu Beginn des 19. Jahrhunderts unter 10 Prozent lag, nur um in der Mitte dieses Jahrhunderts wieder anzusteigen (Klein 1999:139; Klein 1978:229-240). Die Todesraten der Afrikaner bis 1800 entsprachen etwa jenen bei den europäischen Auswanderern nach Amerika. Während aber im 19. Jahrhundert nur noch rund 1 Prozent der europäischen Auswanderer starben, blieb der Prozentsatz der Todesfälle auf den atlantischen Sklavenschiffen relativ hoch, obwohl hier wesentlich weniger alte oder gebrechliche Menschen an Bord gingen. Die wichtigsten Todesursachen auf der middle passage waren Magen-Darm-Krankeiten, Malaria und Gelbfieber. Skorbut wurde im 18. Jahrhundert durch Limonensaft, Pocken durch Impfungen bekämpft. Wichtigstes Kriterium der durchschnittlichen Todesrate war weder
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die Länge der Überfahrt (die nur in Extremfällen eine Rolle spielte) noch die Anzahl der Sklaven pro Quadratmeter Ladefläche, sondern die epidemiologische Situation und die politische und ökologische Stabilität im Herkunftsgebiet der Sklaven und in jenen Regionen, in denen die Sklaven an Bord gingen. Die von den Sklaven auf die Schiffe gebrachten Krankheiten und deren leichte Verbreitung durch die unmenschlichen Bedingungen an Bord erklären vermutlich auch, warum die monatliche Mortalität weißer Seeleute auf der middle passage viel höher war als bei den Fahrten nach Afrika oder zwischen Amerika und Europa (Klein 1999:134-159). Ältere historische Darstellungen, denen zufolge „nicht mehr als die Hälfte der in Afrika an Bord gebrachten Sklaven jemals taugliche Arbeitskräfte in der Neuen Welt" wurden, übertreiben die Todesrate auf der middle passage (Franklin/Moss 1999:68). Aber die Atlantiküberfahrt war auch nur ein Teil des langen Weges der afrikanischen Sklaven von ihrem Herkunftsgebiet zu ihrem Bestimmungsort. In der Regel hatten die afrikanischen Sklaven schon in Afrika größere Entfernungen zurückgelegt und an der Küste längere Zeit auf ihre Einschiffung gewartet. Darüber hinaus war für viele Sklaven die Reise mit dem Verlassen des Schiffes in Amerika nicht beendet. Hier konnten noch lange Märsche oder eine Weiterverschiffung an einen anderen Ort folgen. Auch wenn man annimmt, daß in Amerika aufgrund ähnlicher epidemiologischer Umstände wie in Afrika die Mortalität der Sklaven nicht überdurchschnittlich hoch war, so fehlen doch genauere Kenntnisse über die Todesraten der Sklaven auf ihren Wegen und während des Wartens in Afrika, so daß es nicht möglich ist, auch nur ungefähre Ziffern für die auf dem Weg in die amerikanische Sklaverei gestorbenen Afrikaner anzugeben (Manning 1996b:67-69). Die Einschiffung der Sklaven erfolgte nicht an der gesamten afrikanischen Küste, sondern in wenigen ausgewählten Regionen, deren Bedeutung über die Jahrhunderte wechselte. Zunächst hatte Senegambien (am Kap Verde) eine vorherrschende Stellung, die es aber bald verlor. Dagegen gewannen die Goldküste und die Buchten von Benin und Biafra an Bedeutung. Auch Zentralwestafrika (von Cabinda bis Angola) spielte über vier Jahrhunderte eine zentrale Rolle bei der Verschiffung von Sklaven (Wirz 1984:77). Die Sklaven kamen in den ersten Jahrhunderten aus den Küstengebieten selbst oder aus nahegelegenen Zonen. Die Zunahme des Sklavenhandels im 18. und 19. Jahrhundert zwang aber dazu, Sklaven aus immer weiter entlegenen Gebieten zur Küste zu bringen. Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts wurden schließlich auch Sklaven von der Ostküste Afrikas
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(Mocambique) nach Amerika gebracht. Dieser Handel brach aber schon nach wenigen Jahrzehnten wieder zusammen. Die Versklavung in Afrika lag ebenso wie der innerafrikanische Handel in den Händen von Afrikanern, während sich die Europäer in der Regel darauf beschränkten, Sklaven an der Küste zu kaufen. Die europäischen Handelsmächte unterstützten den atlantischen Sklavenhandel massiv. Im 17. Jahrhundert wurden Handelskompanien gegründet, die unter staatlichem Schutz und ausgestattet mit Monopolrechten Sklavenhandel betrieben. Im Zeitalter des Merkantilismus galt dies als gute Politik, da man meinte, so den Reichtum des eigenen Landes zu mehren. Der Brite M. Postlethwayt schrieb 1745: „The Negro-Trade and the natural consequences resulting from it, may be justly esteemed an inexhaustible Fund of Wealth and Naval Power to this Nation" (Postlethwayt 1745, nach Pietschmann 1987:124). Zu diesem Zeitpunkt hatten die Handelskompanien aber schon ihre vormals herausragende Bedeutung verloren. Die hohen Fixkosten für Handelsstützpunkte und Forts entlang der afrikanischen Küste führten dazu, daß private Sklavenhändler wesentlich erfolgreicher agieren konnten und den Einfluß der Handelskompanien nach und nach zurückdrängten (Klein 1999:76-82). Lediglich Portugal ging einen anderen Weg und gründete in der Mitte des 18. Jahrhunderts noch zwei Handelskompanien, die Monopole für die Einfuhr von Sklaven nach Nordbrasilien erhielten (Carreira 1969). Dies änderte aber nichts daran, daß die überwiegende Mehrzahl der Sklaven nun von unabhängigen Händlern nach Amerika gebracht wurde. Diese Händler stammten vor allem aus England, Frankreich und Portugal bzw. Brasilien. Der holländische Handel dagegen hatte an Bedeutung verloren. Daß Juden in besonderem Maße am Sklavenhandel beteiligt gewesen seien oder diesen gar dominierten, ist hingegen eine Mär, die nur in pseudowissenschaftlichen Abhandlungen propagiert wird (Nation of Islam 1992), da ihr jegliche Grundlage in der historischen Realität fehlt (Friedman 1998). Der Kauf der afrikanischen Sklaven erwies sich in der Regel als kompliziert und langwierig. Im 18. und 19. Jahrhundert transportierten Sklavenschiffe durchschnittlich 350 bis 450 Sklaven. Diese mußten nach und nach an der Küste zusammengekauft werden, denn meistens boten die afrikanischen Händler den Käufern nicht mehr als fünf, zehn oder fünfzehn Sklaven an. Aufgrund von Verpflegungskosten und Krankheiten war es nicht sinnvoll, größere Gruppen von Sklaven über einen längeren Zeitraum an der Küste zu sammeln. Handelskompanien hatten dieses Verfahren zwar bis ins 18. Jahrhun-
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dert angewandt, aber es erwies sich als ökonomisch nicht rentabel (Klein 1999:1230- Erst als die Briten im 19. Jahrhundert begannen, den Sklavenhandel aktiv zu verfolgen, gingen auch die freien Händler zu einem Verfahren über, das vor allem darauf abgestellt war, möglichst viele Sklaven in möglichst kurzer Zeit auf ein Schiff zu bringen. Bis dahin aber dauerte es in der Regel bis zu sechs Monaten, bis ein Kapitän die von ihm gewünschte Menge an Sklaven gekauft hatte. Sklaven waren auch in Afrika eine teure Ware, und der Gewinn einer Sklavenfahrt lag daher mit rund 10 Prozent nicht höher als jener anderer erfolgreicher Wirtschaftsunternehmungen. Von märchenhaften Gewinnspannen konnte im Sklavenhandel keine Rede sein. Die europäischen Händler zahlten nicht nur für die Sklaven, sie entrichteten häufig hohe Abgaben an die afrikanischen Könige und Staaten, um überhaupt Handel betreiben zu dürfen. Die Abhängigkeit der Europäer in Afrika war somit eine doppelte: sie waren auf das Sklavenangebot der afrikanischen Händler und auf die Gunst der Herrschenden angewiesen. In Dahomey z.B. ließen die Könige in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zwei Direktoren von europäischen Handelsstützpunkten umbringen und wiesen zwischen 1742 und 1797 neun europäische Handelsdirektoren aus, indem sie sie gefangennahmen und auf dem nächstbesten Schiff nach Europa schickten (Peukert 1978:92f). In der Regel machten die Güter, die auf einem Sklavenschiff von Europa nach Afrika gebracht wurden, um gegen Sklaven getauscht zu werden, weit über die Hälfte der Gesamtkosten der Sklavenfahrt aus (inkl. des Wertes des Schiffs, der Bezahlung und Verpflegung der Mannschaft) (Klein 1990:145-147). Die Sklavenhändler nahmen deutlich wertvollere Ladung mit nach Afrika, als normale Handelsschiffe beispielsweise in die Karibik brachten. Das Hauptprodukt, für das Sklaven eingetauscht wurden, waren Baumwolltextilien, die zu einem nicht geringen Teil zunächst aus Indien nach Europa gebracht werden mußten, da die afrikanischen Sklavenhändler indische Baumwollstoffe besonders schätzten. Neben Textilien spielten die Kaurimuscheln eine wichtige Rolle. Sie stammten von den Malediven und wurden in der Regel dort von Händlern aus Indien oder Sri Lanka gegen Reis oder andere Nahrungsmittel getauscht, die auf den Malediven nicht kultiviert werden konnten. Diese Händler verkauften die Muscheln dann an Europäer für Gold oder Silber - Edelmetalle, deren Menge sich aufgrund der Förderung in den amerikanischen Minen in Europa deutlich erhöht hatte. Nach der Säuberung wurden die Muscheln vor allem in Amsterdam und London in größeren Mengen vermarktet: dort wurden sie von den Sklavenhändlern erworben. Für
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den Afrikahandel wurden sie entweder in Tüten gepackt oder mit Löchern versehen, und auf Schnüre gezogen, wobei die kleinste Handelseinheit aus 40 aufgereihten Muscheln bestand. Die Preise von Sklaven in Kaurimuscheln schwankten erheblich, stiegen aber vom Ende des 17. bis Ende des 18. Jahrhunderts von etwa 20.000 auf ca. 160.000 Muscheln für eine Person. Da das Gewicht einer Kaurimuschel durchschnittlich etwas mehr als ein Gramm betrug, schätzte man, daß eine Person ca. 20.000 Kaurimuscheln über längere Strecken auf dem Kopf tragen konnte. Im 18. Jahrhundert führte Europa ca. 10 Milliarden Kaurimuscheln nach Afrika aus (Klein 1999:111-114). Weitere Produkte, die gegen Sklaven getauscht wurden, waren Eisenbarren, die in Afrika zu Werkzeugen verarbeitet wurden, fertige Eisenwerkzeuge (wie Äxte, Messer usw.), Alkohol, Schußwaffen, Schießpulver und Tabak (der meist aus Brasilien stammte). Kein europäisches Land war in der Lage, alle diese Dinge in der von den afrikanischen Händlern gewünschten Eigenart und Qualität zu produzieren. Noch bevor ein Sklavenschiff seinen europäischen Heimathafen verließ, hatte daher die antizipierte afrikanische Nachfrage eine Länder und Kontinente übergreifende Handelsbewegung in Gang gesetzt. Waren die Sklaven in Amerika verkauft, fuhren die Schiffe wenig oder gar nicht beladen nach Europa oder nach Afrika zurück. Sklavenschiffe waren aufgrund ihrer geringen Größe und ihrer speziellen Vorrichtungen als Frachtschiffe nicht gut geeignet, so daß sich in Amerika längeres Warten auf Ladung nicht lohnte. Selbst für jene Schiffe, welche die Route Europa-Afrika-Amerika-Europa gefahren waren, konnte also vielfach nicht von einem Dreieckshandel gesprochen werden, da der Warentransport mit dem Landen der Sklaven in Amerika im wesentlichen beendet war. Vor allem zwischen Brasilien und Afrika entwickelte sich zudem im 18. und 19. Jahrhundert immer stärker der Direkthandel. Schon 1770 schrieb der portugiesische Minister Martinho de Melo Castro: „Man kann nicht ohne große Trauer betrachten, wie unsere brasilianischen Kolonien den Handel und die Schiffahrt an der afrikanischen Küste übernommen haben und Portugal völlig ausgeschlossen ist." (zit. nach Thomas 1997:279) Die engen Verbindungen zwischen Brasilien und Afrika waren sicherlich ein Grund dafür, daß im 19. Jahrhundert eine Reihe von Ex-Sklaven aus Brasilien zurück nach Afrika gingen. Diese sogenannten „weißen Schwarzen" nahmen in Afrika in der Regel den Katholizismus an und sahen sich selbst als Brasilianer (Carneiro da Cunha 1985:9). Die meisten der rund 8.000 zwischen 1820 und 1880 aus Brasilien zurückgekehrten Ex-Sklaven reisten über Salvador de Bahia aus und siedelten
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sich in Lagos an. Hier bot der englische Konsul ab 1851 Schutz gegen erneute Versklavung, die in anderen Gegenden immer wieder vorkam. Die „Brasilianer" in Lagos (denen auch einige aus Kuba zurückgekehrte Ex-Sklaven und akkulturierte Portugiesen zugerechnet wurden) bildeten eine ökonomische und kulturelle Elite. Sie kontrollierten den Atlantikhandel von Lagos und einen Teil des Inlandhandels. Zu diesen Geschäften gehörte eine Zeit lang auch der Sklavenhandel. Nach dessen Ende waren es vor allem die Nachfrage der „Brasilianer" in Lagos und die der Afrikaner und ihrer Nachfahren in Brasilien, welche den Handel aufrechterhielten. Während die „Brasilianer" in Lagos unterschiedliche Produkte aus Brasilien nachfragten, mit denen sie unter anderem ihre Stellung als „Brasilianer" manifestierten, waren in Brasilien Produkte aus Afrika vor allem für religiöse Zeremonien von Bedeutung, da man annahm, daß ähnliche Produkte aus anderen Regionen die Originale aus Afrika nicht ersetzen konnten (Carneiro da Cunha 1985:108-133).
AUSWIRKUNGEN
IN
AFRIKA
Der atlantische Sklavenhandel stellte nur einen Teil des Handels mit afrikanischen Sklaven dar. Afrikaner wurden auch in Afrika selbst, im Mittelmeerraum, im Nahen Osten und im Indischen Ozean verkauft. Vor dem Beginn der islamischen Expansion war die Versklavung von Afrikanern ein marginales Phänomen (Lovejoy 1998:20). Die These von Walter Rodney, Sklaverei habe vor Ankunft der Europäer in Afrika nicht existiert, ist aber sicherlich nicht zu halten (Manning 1990:14). Für den Umfang des Sklavenhandels zwischen dem subsaharischen Afrika auf der einen und Nordafrika und Vorderasien auf der anderen Seite gibt es sehr unterschiedliche Angaben, da die Quellenlage hier bei weitem nicht so gut ist wie beim atlantischen Sklavenhandel. Es wird geschätzt, daß vom 7. bis zum 19. Jahrhundert zwischen 11 und 17 Millionen Afrikaner verschleppt wurden (Lovejoy 1998:25, 45, 137; Bieber 1997: XVI; Wirz 1984:43f). Bis Ende des 16. Jahrhunderts wurden mehr Sklaven aus dem subsaharischen Afrika nach Nordafrika und Vörderasien gebracht als auf die Atlantikinseln oder nach Amerika. In den folgenden Jahrhunderten aber war der Atlantikhandel unvergleichlich größer als der Sklavenhandel mit Nordafrika und Vorderasien. Afrikanische Sklaven waren ein zentrales Element in Wirtschaft und Gesellschaft der islamischen Welt (Bieber 1997:XVI-XVIII). In den Wüsten arbeiteten sie in den Salzminen und versorgten die Dattelpalmen, auf den Gewürzplantagen bildeten sie die Arbeiterschaft, im
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Saharahandel stellten sie Träger und Versorgungskräfte und für die Reichen bedeutete ihr Besitz eine Demonstration der eigenen Stellung. Sklaverei im Islam wurde - ähnlich wie im Christentum - religiös gerechtfertigt und als Weg zur Akkulturation angesehen. Dennoch lagen die Gründe für die millionenfache Versklavung wohl weniger im religiösen Eifer als in den sozialen und ökonomischen Vorteilen, welche sich mit der Sklaverei verbanden. Abgesehen von manuellen Tätigkeiten, die Sklaven auf Plantagen oder in Minen verrichten mußten, spielten sie in der islamischen Welt eine bedeutende Rolle für die soziale Stellung. Sklavinnen konnten nicht mehr verkauft werden, wenn sie als Konkubinen Kinder von ihren Besitzern bekamen. Die Kinder dieser Konkubinen waren frei. Sie konnten sogar die Stellung ihres Vaters erben, da der Sklavenstatus nicht über die weibliche, sondern die männliche Linie weitergegeben wurde. Daher war die Integration der Sklavinnen und deren Kinder in die Sklavenhaltergesellschaft häufig schon nach einer Generation abgeschlossen. Die Stellung männlicher Sklaven war eine andere. Viele von ihnen arbeiteten als Hausdiener, aber sie wurden auch mit militärischen Aufgaben bis in höchste Ränge oder sogar mit Regierungsfunktionen betraut. Sie konnten sich allerdings aus dem Sklavenstatus nicht befreien. Häufig wurden sie kastriert, um keine eigenen Nachkommen zeugen oder gar Familiennetzwerke entwickeln zu können. Die Sklaverei diente also - neben der Verrichtung schwerer körperlicher Arbeit in Minen und auf Plantagen - der Vergrößerung des eigenen persönlichen Beziehungsnetzes. Frauen konnten in die Familie integriert werden und vollwertige Familienmitglieder gebären. Sie waren daher stärker nachgefragt als Männer und ihr Preis war daher ein höherer. Die Integration von männlichen Sklaven in das eigene Gefolge war dagegen so lange in Frage gestellt, als sie nicht kastriert waren. Als Eunuchen waren sie ein fester und loyaler Bestandteil der Entourage des Herren und hatten innerhalb dieses Gefolges auch beträchtliche Aufstiegschancen. Die Sklaverei im subsaharischen Afrika entsprach den skizzierten Grundlinien der islamischen Sklaverei auch dort, wo sich der Islam nicht hatte durchsetzen können. Sklaven wurden in erster Linie zur Erweiterung der eigenen Familie und des Clans gebraucht. Auch im subsaharischen Afrika wurden Sklavinnen stärker nachgefragt als Männer. Der Umfang der Sklaverei war hier vor Beginn des atlantischen Sklavenhandels nicht von großer Bedeutung. Dies änderte sich aber vor allem seit dem 18. Jahrhundert, so daß im 19. Jahrhundert nach dem Ende des atlantischen Sklavenhandels - die Sklaverei in
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Afrika bedeutender war als je zuvor. So konnten die europäischen Mächte die Errichtung von Kolonien in Afrika unter anderem mit ihrem Kampf gegen die Sklaverei begründen. Vor allem in den ersten Jahrhunderten des atlantischen Sklavenhandels war die Zahl der verschleppten Afrikaner noch so gering, daß ein größerer Einfluß auf die demographische Entwicklung Afrikas durch den atlantischen Sklavenhandel nicht angenommen werden kann. Die Sklaven wurden in erster Linie innerhalb der bereits bestehenden Märkte gekauft und kamen meist aus nahe an der Küste gelegenen Gebieten. Wie auch später handelte es sich hauptsächlich um Kriegsgefangene und in geringerer Zahl um Personen, die aufgrund von Schulden oder lokaler Rechtsprechung in die Sklaverei verkauft worden waren. Spezielle Sklavenjagden oder gar Kriege spielten bis ins 17. Jahrhundert keine größere Rolle. Der enorme Anstieg des atlantischen Sklavenhandels seit dem Ende des 17. Jahrhunderts veränderte den Charakter der Versklavung in Afrika. Die atlantische Nachfrage konnte nun nicht mehr allein durch die lokalen Sklavenmärkte gedeckt werden. Es entstanden Handelsnetze, die weit ins Hinterland hineinreichten. Die räumliche Ausdehnung der Sklavenbeschaffung ging einher mit einer Intensivierung der Versklavung sowohl in den küstennahen Gegenden als auch im Hinterland. Zum einen nahmen die Sklavenjagden immer größere Ausmaße an, und zum anderen begann man, Kriege mit dem ausschließlichen Ziel der Sklavenbeschaffung zu führen, während zuvor der Sklavenfang nicht Grund für Kriege, sondern lediglich ein Nebenprodukt kriegerischer Auseinandersetzungen gewesen war (Klein 1999:71-73). Die Zunahme des Sklavenhandels hatte bedeutende soziale, wirtschaftliche und politische Konsequenzen. Zunächst einmal führte er zu einem konstanten Bevölkerungsabfluß. So ist geschätzt worden, daß die afrikanische Bevölkerung 1850 doppelt so groß gewesen wäre, hätte es den atlantischen, nordafrikanischen und asiatischen Sklavenhandel nicht gegeben. Der Sklavenhandel sei der wichtigste Faktor, um zu verstehen, warum der Anteil Afrikas an der Gesamtbevölkerung der atlantischen Kontinente Afrika, Amerika und Europa von 1600 bis 1900 rapide gefallen sei (Manning 1990:171). Der relative demographische Rückgang ging einher mit bedeutenden Veränderungen in Afrika selbst. Die Sklavenjagden und -kriege führten zu einem Niedergang der Landwirtschaft, da viele Bauern sich aus angestammten Gebieten zurückzogen, um der Versklavung zu entgehen. Der Sklavenhandel verdrängte zudem andere Handelszweige, die sich im Vergleich zum Menschenhandel als wenig attraktiv erwiesen. Dies wiederum hatte Auswirkun-
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gen auf die handwerkliche Produktion, die sich aufgrund fehlender Absatzmärkte nicht entwickeln konnte (Inikori/Engerman 1994:2). Der Sklavenhandel begünstigte die Herrschaft jener warlords, die einerseits die Versklavung betrieben und dadurch reich wurden, andererseits aber den wirtschaftlichen Aktivitäten außerhalb des Sklavenhandels keine Impulse gaben. Der Sklavenhandel veränderte somit die staatlichen Strukturen in eine Richtung, die die wirtschaftliche Entwicklung behinderte (Wolf 1982:230). Die von außen angeregte massive Ausdehnung der Versklavung führte schließlich auch zu einer enormen Ausbreitung der Sklaverei in Afrika. Die Sklaverei verwandelte sich von einem marginalen Phänomen in ein zentrales Element der gesellschaftlichen Struktur (Lovejoy 1998:21). Aus all diesen Gründen ist der atlantische Sklavenhandel unmittelbar für die verzögerte kapitalistische Entwicklung im sub-saharischen Afrika verantwortlich gemacht worden (Inikori/Engerman 1994:7). Gegen die These vom negativen Einfluß des atlantischen Sklavenhandels auf Afrika wurden verschiedene Einsprüche erhoben. So ist am Beispiel Dahomeys (an der Bucht von Benin) gezeigt worden, daß der Sklavenhandel für die wirtschafdiche Entwicklung dieses Königreichs gar keine Rolle spielte. Der Anteil des atlantischen Sklavenhandels an der Gesamtwirtschaft Dahomeys habe lediglich 2,5 Prozent betragen (Peukert 1978:197). Das einheimische Handwerk sei durch den Sklavenhandel nicht in Mitleidenschaft gezogen worden, und die Kriege Dahomeys seien keine Sklavenkriege gewesen. Im Gegenteil, häufig seien Kriegsgefangene nicht versklavt, sondern umgebracht worden (Peukert 1978:202f). Für das Igbo-Gebiet im Hinterland der Bucht von Biafra ist sogar die These aufgestellt worden, der Sklavenhandel habe sich positiv auf die Entwicklung der Region ausgewirkt. Er habe die Handelsaktivitäten belebt, die Verkehrswege verbessert und allgemein zu einer Kommerzialisierung geführt. Dabei habe er auch nachfragefördernd gewirkt, wie sich zum Beispiel an den im Sklaventransport eingesetzten Kanus oder an den von den Sklaven benötigten Lebensmitteln zeigen lasse (Northrup 1978). Allgemein ist festgehalten worden, daß im Kontext des Sklavenhandels neue Produkte nach Afrika gelangten, wie z.B. der Mais, süße Kartoffel, Maniok, Kaffee und Kakao (Klein 1999:105). Die unterschiedlichen Positionen bezüglich der Auswirkung des Sklavenhandels auf Afrika zeigen, daß regional sehr stark zu differenzieren ist. Für die am stärksten vom Sklavenhandel betroffenen Regionen dürfte es schwerfallen, positive Auswirkungen desselben festzustellen. Jene Gebiete im sub-saharischen westlichen Afrika, deren Wirtschaften durch den Sklavenhandel kaum oder sogar positiv beeinflußt
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wurden, sind sicherlich nicht charakteristisch für das Gesamtbild, sondern stellen Ausnahmen dar, welche die Regel eher bestätigen als widerlegen. Afrikanische Sklaven wurden nicht nur nach Europa, Nordafrika, den Vorderen Orient und Amerika verschleppt. Vor allem seit dem 18. Jahrhundert brachte man immer mehr Sklaven aus Ostafrika auf Inseln im Indischen Ozean und nach Südasien. Da aus Ostafrika auch Sklaven in den Nahen Osten und seit Ende des 18. Jahrhunderts nach Amerika verschleppt wurden, entstand hier zwischen der Mitte des 18. und des 19. Jahrhunderts eine konkurrierende Weltnachfrage nach Sklaven. Dabei orientierten sich die Händler im Norden stärker an der Nachfrage im Nahen Osten, während in Mocambique Afrikaner vor allem für die Märkte in Amerika und im Indischen Ozean verkauft wurden. Die Annahme, es habe ein „Weltmarkt für Sklavenarbeit" bestanden (Manning 1990:22), trifft daher vor allem auf Ostafrika zu. In den meisten anderen Regionen Afrikas dagegen ergaben sich aus dem Ort der Versklavung auch die möglichen Destinationen des Versklavten. Wer beispielsweise in Angola versklavt wurde, kam nicht in den Nahen Osten oder in den Indischen Ozean, sondern blieb in Afrika oder wurde nach Amerika verschleppt. Atlantischer Sklavenhandel auf der einen und nordafrikanischer und vorderasiatischer Sklavenhandel auf der anderen Seite haben sich zwar gegenseitig indirekt beeinflußt, sie bildeten aber in der Regel getrennte Märkte, die sich allenfalls in ihren Randzonen begegneten, in denen die lokalen Handelsnetze sich sowohl in die eine als auch in die andere Richtung weiterknüpfen ließen.
S K L A V E R E I IN
AMERIKA
Die Bedeutung der afrikanischen Einwanderung für die Geschichte Amerikas ist kaum zu überschätzen. Sklaven begleiteten schon die ersten spanischen Eroberer auf dem amerikanischen Festland und wurden schnell bei den verschiedensten Tätigkeiten unverzichtbar (Konetzke 1965:75-85; Burkholder/Johnson 1998:125-133). Im 16. Jahrhundert stellten Sklaven aus Afrika ein Viertel der Einwanderer in Amerika, im 17. Jahrhundert waren es über 60 Prozent und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts 75 Prozent (Eltis 2000:11). Die Bevölkerungsentwicklung Amerikas ist vom Sklavenhandel deutlich geprägt worden. Die mit Abstand meisten Sklaven wurden in die Karibik und nach Brasilien verschleppt und arbeiteten hier vor allem auf den Zuckerrohrplantagen. Der enorme Aufschwung des Sklavenhandels seit dem späten 17. Jahrhundert erklärt sich aber nicht allein mit der
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Verbreitung des Zuckerrohranbaus. Von großer Bedeutung war auch, daß sich die Sklavenbevölkerung in der Karibik und in Brasilien nicht selbständig vermehrte, so daß nur durch einen ständigen Zufluß an neuen Sklaven deren Anzahl konstant gehalten oder gar vergrößert werden konnte. Die durch den Zuckerboom ausgelöste zunehmende Vergrößerung der Sklavenbevölkerung erschwerte es aber zusätzlich, diese - gewachsene - Zahl an Sklaven auf natürliche Weise zu erhalten. Denn die Sklaven, die aus Afrika kamen, waren in ihrer Mehrzahl Männer, und ein großer Teil der Frauen befand sich in einem Alter, das ihnen nicht mehr erlaubte, viele Kinder zu bekommen. Ganz anders verhielt es sich in den englischen Kolonien Nordamerikas, die schließlich die USA bilden sollten. Hier waren die Sklaveneinfuhren im Vergleich zur Karibik und zu Brasilien gering, und die Sklavenbevölkerung vermehrte sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts selbständig. Der Grund hierfür lag nicht (wie man früher annahm) in einer materiellen Besserstellung der nordamerikanischen Sklaven. Entscheidend waren vielmehr zum einen die allgemeinen Lebensbedingungen, die vor allem aufgrund klimatischer und epidemiologischer Faktoren in Nordamerika unvergleichlich besser waren als in der Karibik und in Brasilien. Zum anderen wurde in Brasilien eine viel größere Zahl von Sklaven freigelassen. So gab es dort 1872 fast drei Mal mehr freie Schwarze als Sklaven (Mörner 1993:63). Man schätzt, daß zwei Drittel der Freigelassenen Frauen waren, was eine selbständige Erhaltung der Sklavenbevölkerung zusätzlich erschwerte (Mörner 1993:69). In den USA waren dagegen kurz vor dem Bürgerkrieg nur gut 10 Prozent der schwarzen Bevölkerung frei (Finkelman/Miller 1998:1, 250). Die Einbindung der lateinamerikanischen Wirtschaft in die entstehende Weltwirtschaft beruhte in erster Linie auf Sklavenarbeit. Die europäischen Eroberer fanden in Amerika keine Gesellschaften vor, mit denen sie erfolgreich (d.h. gewinnbringend) hätten Handel treiben können. Aber auch die Ausbeutung der einheimischen Arbeitskräfte zur Produktion von Gütern für den europäischen Markt erwies sich als recht schwierig. Die Bevölkerung Amerikas reduzierte sich vor allem wegen der eingeschleppten Krankheiten radikal, und es gab nur wenige Produkte, die in Europa einen Markt fanden. Die große Ausnahme bildeten das hispanoamerikanische Gold und Silber, das vor allem von indianischen Arbeitskräften gefördert wurde. Alle anderen wichtigen Exportzweige erhielten aber erst durch die Verwendung schwarzafrikanischer Sklavenarbeit größere Bedeutung (Solow 1991:lf). In der Karibik und in Nordamerika wurden in der Exportagrikultur zunächst europäische Kontraktarbeiter eingesetzt, die vor allem beim
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Tabakanbau eine große Rolle spielten. Der eigentliche Aufschwung der Exportagrikultur stellte sich aber erst ein, als ab dem 17. Jahrhundert Sklavenarbeit in großem Stil zum Einsatz kam. In der Karibik war der Zucker das alles beherrschende Produkt, während in den USA zunächst der Tabak und dann die Baumwolle die wichtigsten Exportgüter der Landwirtschaft waren. Auch in Brasilien spielte der Zucker die wichtigste Rolle, bis er vom Kaffeeanbau - ebenfalls durch Sklavenarbeit - im 19. Jahrhundert an Bedeutung übertroffen wurde. Im Gegensatz zu den spanischen Teilen des Kontinents stellten Sklaven in Brasilien auch in der bedeutenden Gold- und Diamantenförderung des 17. und 18. Jahrhunderts die überwiegende Zahl der Arbeitskräfte. Die mit Hilfe der Sklaverei vollzogene Einbindung in die entstehende Weltwirtschaft war nur möglich, da die Plantagensklaverei eine betriebswirtschaftlich effiziente Wirtschaftsform darstellte. In den USA konnte ein Sklavenbesitzer in den Jahrzehnten vor dem Bürgerkrieg mit einer jährlichen Rendite von etwa 10 Prozent rechnen (Kolchin 1990:170). Meist waren die Plantagen (nicht nur in den USA) technisch auf dem neuesten Stand, da sie mit ihren Gewinnen sowohl die Zahl der Arbeitskräfte halten oder vergrößern konnten und außerdem - wenn nötig - neue Maschinen erwerben konnten. Sklavenarbeit erwies sich sogar gegenüber freien Kleinbauern als effizienter, da ein größerer Prozentsatz der Sklavenbevölkerung ökonomisch aktiv war (80 Prozent gegenüber 50 Prozent bis 60 Prozent bei Kleinbauernfamilien) und da der Zwang und die Kontrolle bei der Arbeit - trotz des alltäglichen Widerstands - die mit Freiheit und eigenem Besitz verbundene Motivation ausglich. Angesichts der geringen Kapital- und Arbeitsressourcen Amerikas war Sklavenarbeit also ein Weg, diese Ressourcen (für den Sklavenhalter) gewinnbringend einzusetzen (Klein 1990:157f). Welche Auswirkungen die Plantagensklaverei allerdings für die langfristige wirtschaftliche Entwicklung der Region gehabt hat, ist eine umstrittene Frage. Auf der einen Seite waren die großen Sklavengebiete nicht ärmer als vergleichbare landwirtschaftliche Regionen ohne Sklaven. So wiesen beispielsweise die Südstaaten der USA ein höheres Einkommen und mehr Eisenbahnkilometer pro Kopf auf als die meisten Regionen Europas (Drescher 1990:194). Gleichzeitig war es aber offenkundig, daß die US-amerikanischen Südstaaten gegenüber den Nordstaaten immer weiter zurückfielen. Zwar produzierten Sklavenplantagen eine Nachfrage nach Industriegütern. Diese wurden in der Regel aber nicht in den Sklavengebieten selbst hergestellt, sondern aus Europa oder dem sich industrialisierenden US-amerikanischen
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Norden importiert. Die Plantagengebiete entsprachen auch aufgrund ihrer sozialen Struktur (geringe Verstädterung, schwaches Bildungswesen usw.) und wegen der dort vorherrschenden Mentalität (beispielsweise Geringschätzung körperlicher Arbeit und industrieller Tätigkeit) den Anforderungen der Industrialisierung nicht (Kolchin 1990:172f). Die Plantagenwirtschaft war daher für ihre Besitzer im Vergleich zur übrigen Landwirtschaft eine Erfolgsgeschichte, im Vergleich mit den sich industrialisierenden Nordatlantikanrainern aber stellte sie eine Sackgasse dar (Wirz 1984:198). Bei Vergleichen zwischen der Sklaverei in den USA und in Lateinamerika kam man Mitte des 20. Jahrhunderts zu dem Schluß, daß die Sklaverei in den USA härter als in Iberoamerika gewesen war. Während sich in den spanischen und portugiesischen Teilen des Doppelkontinents Kirche und Krone schützend vor die Sklaven gestellt und so zumindest eine Erleichterung der Lebensbedingungen erwirkt hätten, habe in den USA niemand die Sklaven vor ihren Herren geschützt. Diese hätten daher der kapitalistischen Logik folgend ihre Sklaven extrem ausgebeutet (Tannenbaum 1947; Elkins 1959). Die Sklaverei sei eine solch brutale Institution gewesen, daß sie die Afrikaner in gehorsame und infantile „Sambos" verwandelt hätte, die ohne eigene Identität sich völlig den Wünschen ihrer Herren unterworfen hätten (Elkins 1959). Diese Thesen sind - insbesondere was das Leben der Sklaven in den USA betrifft - mittlerweile weitgehend widerlegt. Trotz brutaler Ausbeutung gelang es den Sklaven, ihr Leben mitzugestalten und eine eigene kulturelle Identität zu entwickeln. Dabei spielte die Religion eine besondere Rolle, da das Christentum der Sklaven zwar in einer Beziehung mit der Religion ihrer Herren stand, aber in vielerlei Hinsicht eine eigenständige Ausprägung entwickelte. Auch Familienbande waren unter den Sklaven stärker entwickelt als lange Zeit angenommen. Um Kirche und Familie als Zentrum entstand so eine eigenständige Kultur, die der weißen Kultur entgegengestellt wurde (Kolchin 1990:164-166; Potthast 1997). In der Karibik und Brasilien beinhaltete diese Kultur viele verschiedene afrikanische Elemente, die in der Neuen Welt verschmolzen und mit Versatzstücken aus den europäischen und amerikanischen Kulturen versehen wurden. So entstanden ganz neue kulturelle Formen, die weder rein afrikanisch noch indianisch oder europäisch waren. Auch wenn die Lebensbedingungen der Sklaven in den USA nicht wesentlich härter waren als die der iberoamerikanischen Sklaven, so war doch die Ausgrenzung der Schwarzen in den USA schärfer als in Iberoamerika, da sich in den USA die Stellung der Sklaven stärker
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mit der Hautfarbe verband. „Schwarz sein" und „Sklave sein" waren in den USA fast Synonyme, in Iberoamerika nicht. Denn hier waren die meisten Schwarzen schon vor der Abschaffung der Sklaverei keine Sklaven mehr. Daher wurden und werden die Rassengrenzen in den USA viel schärfer gezogen als in Iberoamerika (Kolchin 1990:179). In Nordamerika tendiert man dazu, der Hautfarbe eine zentrale Bedeutung zu verleihen, und häufig wird jemand, der auch nur einen schwarzen Großvater oder eine schwarze Urgroßmutter hat, als Schwarzer betrachtet, also als ein Nachfahre von Sklaven. In Iberoamerika dagegen gab und gibt es die vielfältigsten Kategorien, die sich sowohl an der physischen Erscheinung der Personen als auch an ihrem durch Kleidung und andere Äußerlichkeiten ausgedrückten sozialen Status orientieren. In Iberoamerika konnten Schwarze weiß werden, in den USA nicht (Skidmore 1993). Sklaven entwickelten in Amerika nicht nur eine eigene, von ihren Herren unterschiedliche, soziale und kulturelle Identität, sie leisteten auch vielfach Widerstand. Der alltägliche Widerstand gegen die Sklaverei drückte sich in mannigfaltigen Formen aus. Sklaven arbeiteten langsam und unachtsam, sie beschädigten Geräte und mißhandelten Arbeitstiere, und sie versuchten, sich durch Betrug und Diebstahl Besitz ihrer Herren anzueignen. Diese Formen des alltäglichen Widerstandes waren weitverbreitet, wie man an den generellen Klagen der Sklavenhalter sieht und an der Vorstellung, Sklaven seien faul und unachtsam. Den Herren zu bestehlen, galt unter vielen Sklaven als legitim, wie ein brasilianisches Sprichwort belegt: Der Weiße sagt, der Schwarze stehle, der Schwarze stiehlt mit gutem Grund, denn auch der Weiße stiehlt, wenn er jemanden versklavt (Wirz 1984:160). Eine weitere wichtige Widerstandsform war die Flucht. Insbesondere dort, wo das Hinterland dünn oder nicht besiedelt war (wie beispielsweise auf vielen Karibikinseln und in Brasilien), bot sich den Sklaven die Möglichkeit, in die Wildnis zu fliehen. Hier lebten sie häufig in einem harten Kampf mit der Natur. Vielfach schlössen sie sich auch zu Banden zusammen, die wegen ihrer Überfälle gefürchtet waren. In den USA wurde die Flucht jahrzehntelang durch Sklavengegner gefördert, denen es gelang, auf geheimen Wegen (der sogenannten „Untergrund-Eisenbahn") bis 1855 rund 60.000 Sklaven in den sicheren Norden zu holen. In der Karibik und in Südamerika entstanden fernab der weißen Siedlungszonen immer wieder kleinere oder größere Ansiedlungen von entlaufenen Sklaven. Die meisten von ihnen überdauerten nur wenige Jahre, aber es gab auch Ausnahmen, wie zum Beispiel die Siedlung Palmares im Hinterland von Pernambuco (Bra-
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silien), die fast das gesamte 17. Jahrhundert bestand und in der zeitweise 15.000 bis 20.000 Ex-Sklaven lebten. Offene Aufstände gegen die Sklaverei waren kein ständiges Begleitphänomen der Plantagenwirtschaft, kamen aber immer wieder vor. Große Aufstände gab es sowohl in den USA (zum Beispiel 1831 unter Nat Turner) als auch in Brasilien 1807 und 1835 und in der Karibik (Jamaika 1831) (Finzsch/Horton/Horton 1999:224; Wirz 1984: 176-184). Der einzige insgesamt erfolgreiche Aufstand fand auf Saint Domingue, dem späteren Haiti statt, das im Laufe des 18. Jahrhunderts zum erfolgreichsten Zuckerrohranbaugebiet der Karibik geworden war. Während der französischen Revolution konnten sich die Weißen nicht einigen, wer Saint Domingue in Paris angemessen repräsentieren sollte. Die Mobilisierung von Schwarzen und Mischlingsbevölkerung in diesem Konflikt führte bald zu einem allgemeinen Kampf gegen die Sklaverei, der 1804 in die Unabhängigkeit unter der Führung von Schwarzen mündete.
SKLAVENHANDEL UND I N D U S T R I A L I S I E R U N G Die Diskussion über den Zusammenhang zwischen Sklaverei und Sklavenhandel auf der einen und der Industrialisierung auf der anderen Seite hatte ihren Ausgangspunkt in Thesen, die Eric Williams 1944 aufstellte (Williams 1944). Williams vertrat unter anderem die Auffassung, daß der atlantische Sklavenhandel und die Sklavenwirtschaft auf den britischen Karibikinseln die Industrielle Revolution in Großbritannien verursacht oder zumindest stark gefördert hätten. Als Grund hierfür sah er die enormen Gewinne, die sich sowohl im Sklavenhandel selbst als auch in der karibischen Exportagrikultur erzielen ließen. Der Sklavenhandel war ohne Zweifel ein lohnendes Geschäft, was sich schon allein daran ablesen läßt, daß er viele Jahrhunderte lang betrieben wurde und auch nach seiner Ächtung weiter existierte. Der Reichtum der Sklavenhändler drückte sich in Hafenstädten wie Liverpool oder Nantes in Prachtbauten aus. Dennoch waren die Gewinne aus dem Sklavenhandel nur von marginaler Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung Europas, stellte dieser doch nur einen Bruchteil des Atlantikhandels dar. Da die Gewinne im Sklavenhandel mit rund 10 Prozent nicht außergewöhnlich hoch waren, spielten sie volkswirtschaftlich betrachtet auch in Großbritannien keine bedeutende Rolle. Die höchste Zahl an Sklavenschiffen, die England jemals innerhalb eines Jahres verließen, belief sich auf 204. Im selben Jahr (1792) waren in Großbritannien über 14.000 Schiffe registriert (Eltis 2000:265).
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Neben den Gewinnen aus dem Sklavenhandel standen die Gewinne aus der karibischen Plantagenwirtschaft. Der Reichtum der Zuckerbarone Westindiens war sprichwörtlich, und es besteht kein Zweifel, daß sie einen großen Teil ihrer Gewinne nach Europa transferierten. Die Vorstellung, daß „die Exporte wie Zucker, Tabak und Baumwolle das notwendige Kapital bereit stellten, um die Industrielle Revolution zu finanzieren", liegt daher nahe (Bieber 1997:XXXII). Dennoch gilt auch für diese Sektoren, daß ihre Bedeutung innerhalb der britischen Volkswirtschaft nicht ausreichend war, um die Industrielle Revolution in Gang zu bringen. Daß die Gewinne aus dem Handel mit Sklaven und Plantagenprodukten die Industrielle Revolution nicht verursacht haben können, läßt sich auch an den Beispielen der iberischen Länder erkennen. Obwohl Portugal zu den größten Sklavenhändlernationen zählte, erlebte es ebensowenig einen industriellen Aufschwung wie Spanien, das im 19. Jahrhundert mit Kuba die wichtigste Zuckerinsel der Karibik besaß. Der Sklavenhandel und die amerikanische Exportagrikultur begünstigten aber die industrielle Entwicklung Großbritanniens. Auch wenn der Handel mit Sklaven nur einen winzigen Teil des Atlantikhandels ausmachte, so war die Bedeutung des Handels mit von Sklaven hergestellten Landwirtschaftsprodukten doch unvergleichlich größer. Ein kleiner Teil der Handelsgewinne ist unmittelbar in moderne Industrieunternehmen geflossen, wobei das berühmteste Beispiel James Watt ist, der Erfinder der Dampfmaschine, welcher zur Umsetzung seiner Erfindungen auf von Sklavenhändlern gestelltes Risikokapital setzte. Auch zur Gründung von Banken trugen Handelsgewinne bei, welche auf die eine oder andere Weise mit der Sklaverei verbunden waren. In Liverpool zum Beispiel stammte zumindest ein Teil des Kapitals der meisten großen Banken aus Sklavengeschäften (Wirz 1984:209). Die mit der Sklaverei verbundenen Handelsströme spielten also durchaus eine Rolle für das britische Finanzwesen und die Finanzierung industrieller Unternehmen. Wichtiger als die Finanzströme waren aber die mit Sklavenhandel und Plantagenwirtschaft verbundenen Warenbewegungen. Zum einen schuf der Sklavenhandel eine bedeutende Nachfrage nach Waren, mit denen der Kauf von Sklaven bezahlt wurde. Die Vielfalt dieser Waren wurde bereits erwähnt. Die afrikanische Nachfrage nach europäischen Baumwollstoffen, Metallwerkzeugen und Waffen hatte ohne Zweifel Auswirkungen auf die Produktion dieser Waren. So wird beispielsweise die Ansicht vertreten, daß die französische Waffenindustrie in Friedenszeiten völlig von den afrikanischen Käufern abhing (Klein
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1999:100). Europäische Waren wurden auch von den Plantagenwirtschaften in Amerika in großem Umfang gekauft. Auch hier handelte es sich zu einem großen Teil um Baumwolltextilien und Metallgerätschaften. Daher ist argumentiert worden, daß der spezielle Charakter der Nachfrage auf den karibischen Zuckerinseln die britische Wirtschaft zu einer stärkeren Ausdehnung ihrer industriellen Fertigungveranlaßt habe. Denn die Nachfrage auf den Zuckerrohrplantagen beinhaltete - wie auch in Afrika - Waren, die sich besonders zur Massenproduktion eigneten, wie zum Beispiel einfache Baumwolltextilien und Metallwerkzeuge (Inikori 1994). Auch die Entstehung der Textilindustrie in Neu-England ist in einen engen Zusammenhang mit der Sklaverei gestellt worden. Hier sei das Kapital ursprünglich von Händlern gestellt worden, die ihr Vermögen im Atlantikhandel mit Plantagengütern verdient hätten. Später habe die Textilindustrie in NeuEngland dann von der Nachfrage auf den Baumwollplantagen im Süden der USA profitiert. Die Baumwollplantagen waren aber nicht nur ein Markt für die entstehende Industrie, sie lieferten gleichzeitig den Rohstoff für die Textilindustrie, welche eine Schlüsselrolle in der ersten Industriellen Revolution spielte. Der atlantische Sklavenhandel und die Sklaverei in Amerika brachten die Industrielle Revolution nicht hervor. Deren wichtigste Ursachen sind in internen Faktoren zu suchen. Hierzu gehören die Kommerzialisierung der Landwirtschaft, die Steigerung der Binnennachfrage innerhalb eines nationalen Marktes, die Entstehung der freien Lohnarbeit, die Existenz ländlicher Protoindustrie und nicht zuletzt die Entwicklung einer industriellen Mentalität. Sklavenhandel und Sklaverei begünstigten aber die Industrialisierung in Europa und Nordamerika. Zum einen wurden Gewinne aus dem Sklavenhandel und der Plantagenwirtschaft nach Europa transferiert. Zum anderen stellten Afrika und Amerika einen wichtigen Markt gerade für die ersten Industrieprodukte. Dieser Markt bestand allein aufgrund der Sklaverei. Denn Afrika tauschte Sklaven gegen europäische Waren und Amerika tauschte von Sklaven produzierte Agrargüter (mit der Ausnahme des spanischen Silbers und Goldes). Diese Agrargüter waren zum Teil ein wichtiger Rohstoff für die ersten britischen Industrien. Die Bedeutung von Sklavenhandel und Sklaverei für die erste Industrialisierung ist also nicht an einem einzelnen Phänomen festzumachen, sondern in den größeren Kontext des Atlantik- und des Welthandels einzuordnen. Die These von Williams (Williams 1944), daß die Gewinne aus der Sklaverei und aus dem Sklavenhandel die Industrielle Revolution initiiert hätten, ist sicherlich falsch. Die Industrielle Revolution
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war aber auf vielfältige Weise mit dem atlantischen Sklavenhandel und der Sklaverei verbunden und profitierte von ihm. Das Ende des atlantischen Sklavenhandels (Abolition) und der Sklaverei in Amerika (Emanzipation) waren, wie ihr Beginn, eingebettet in die Entwicklungen einer sich globalisierenden Welt. 1808 verboten Großbritannien und die USA ihren Bürgern den atlantischen Sklavenhandel. Angetrieben von vielfältigen Kampagnen gegen den Sklavenhandel versuchten britische Regierungen in den folgenden Jahrzehnten, den atlantischen Sklavenhandel zu unterbinden. Dazu unterzeichneten sie eine Vielzahl von bilateralen Verträgen, unter anderem mit Spanien, Portugal und Brasilien. Außerdem richteten sie 1819 ein Afrikageschwader ein, das die Einhaltung der Verträge garantieren sollte. Auf diese Weise gelang es, den atlantischen Sklavenhandel nach und nach zu unterbinden. Nach Brasilien kamen die letzten Sklaven 1850, und Kuba unterband als letztes amerikanisches Gebiet den atlantischen Sklavenhandel 1867. Die Abschaffung der Sklaverei in Amerika war allerdings erst mit dem „goldenen Gesetz" von 1888 in Brasilien vollzogen. Lange Zeit herrschte die Vorstellung, das Ende der Sklaverei sei eine Folge der ökonomischen und gesellschaftlichen Modernisierung gewesen, die - gewissermaßen zwangsläufig - auf eine Humanisierung der sozialen Beziehungen hinausgelaufen sei. „Die Historiker waren rückblickende Abolitionisten" und feierten die Erfolge der Gegner der Sklaverei als Leistungen ihrer eigenen Kultur und Geschichte (Drescher 1990:186). Diesen Vorstellungen wurde 1944 von dem bereits erwähnten Eric Williams scharf widersprochen (Williams 1944). Die Sklaverei sei abgeschafft worden - so seine These -, weil sie sich in einer Krise befunden und den modernen kapitalistischen Produktionsmethoden nicht entsprochen habe. Nicht humanitäre Gründe, sondern ökonomisches Kalkül hätten zum Untergang der Sklaverei in Amerika geführt. Beide Vorstellungen sind heute kaum noch zu halten. Die Plantagensklaverei war - wie oben dargestellt - eine durchaus effiziente und betriebswirtschaftlich erfolgreiche Arbeitsform. Häufig erlebten die Sklavenwirtschaften noch kurz vor ihrer Abschaffung Boomphasen, wie zum Beispiel der Baumwollanbau im Süden der USA vor dem Bürgerkrieg. Die Abschaffung der Sklaverei führte in allen Plantagengesellschaften zu schweren Wirtschaftskrisen, insofern es ihnen nicht gelang, die Sklavenarbeit durch andere - häufig ebenfalls mit Zwang verbundene - Arbeitsformen zu ersetzen. Daher ist die Abschaffung der Sklaverei in den Plantagenwirtschaften als „econocide" bezeichnet worden (Drescher 1977).
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Als Grund für die Kampagnen gegen Sklavenhandel und Sklaverei sieht man heute vor allem die falschen wirtschaftspolitischen Vorstellungen der Zeit, welche die Sklaverei als ein ökonomisch rückständiges, dem freien Kapitalismus unterlegenes System betrachteten (Drescher 1990:208f). Vor allem die von Aufklärern verbreitete Vorstellung von Freiheit und die auch bei Adam Smith zu findende Überzeugung von der Überlegenheit der freien Arbeit mobilisierte die englische Öffentlichkeit gegen Sklavenhandel und Sklaverei. Nicht wirtschaftliche Gründe, sondern Vorstellungen über die Wirtschaft - die sich später als falsch erwiesen - spielten die entscheidende Rolle. Der Widerstand der Sklaven gegen die Sklaverei hatte dagegen nur eine untergeordnete Bedeutung. Zwar sehen manche Autoren in den Aktionen der Sklaven einen wichtigen Grund und interpretieren insbesondere die Revolution auf Saint Domingue als einen Ausgangspunkt für die Abschaffung der Sklaverei in ganz Amerika, dies steht aber im Widerspruch zur unglaublichen Stabilität der Sklaverei auf Kuba, in den Südstaaten der USA und in Brasilien, wo sie zum Teil noch fast ein Jahrhundert lang bestand (Genovese 1979; Schwartz 1992:15f). Entscheidend für die Abschaffung der Sklaverei war vielmehr die von Großbritannien ausgehende Bekämpfung des atlantischen Sklavenhandels. Da sich die Sklavenbevölkerung - außer in den Südstaaten der USA - nicht selbständig vermehrte, bedeutete das Ende des atlantischen Sklavenhandels über kurz oder lang auch das Ende der Sklaverei in Lateinamerika und in der Karibik.
SCHLUSSBETRACHTUNG
Der atlantische Sklavenhandel und die Sklaverei in Amerika waren zentrale Bestandteile der europäischen Expansion und der mit ihr beginnenden Globalisierung. Sie haben die Geschichte Europas, Amerikas und Afrikas in vielfältiger Weise beeinflußt, ja zum Teil sogar geprägt. Sie waren entscheidend daran beteiligt, daß diese Geschichten sich miteinander verbanden und zu einer einzigen Geschichte wurden. Schon in der Frühphase der Expansion stellten die Gewinne aus dem Sklavenhandel ein wichtiges Element dar, um den wirtschaftlichen Erfolg der atlantischen Seefahrten zu sichern. Ohne die Gewinne aus dem Sklavenhandel hätte der europäischen Expansion ein wichtiges Motiv gefehlt. Der Handel mit Sklaven gewann im Laufe der Jahrhunderte immer größere Bedeutung. Er schuf ein hochkompliziertes Handelssystem, in dem Waren aus Amerika, Asien und Europa im Tausch gegen Sklaven nach Afrika gebracht wurden. Gerade die asia-
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tischen Waren wurden in der Regel erst nach Europa exportiert, hier von Sklavenhändlern gekauft und dann nach Afrika transportiert. Andere Waren kamen direkt aus Amerika nach Afrika. Der Sklavenhandel schuf nicht nur weltweite Wirtschaftsverbindungen, er spielte auch eine zentrale Rolle bei der Erschließung und Nutzbarmachung der von den Europäern entdeckten Gebiete. Die Afrika vorgelagerten Atlantikinseln wären ohne Sklaverei für die Europäer wirtschaftlich ohne große Bedeutung geblieben. Die Neubesiedlung des amerikanischen Doppelkontinents nach der demographischen Katastrophe unter den Indianern erfolgte in der Frühen Neuzeit vor allem durch Afrikaner. Deren Arbeitskraft war unerläßlich für die Herstellung jener Landwirtschaftsprodukte, mit denen sich Amerika (neben Gold und Silber) in den entstehenden Weltmarkt integrierte. Die Herstellung von exportierbaren Agrarprodukten schuf eine Nachfrage nach europäischen Produkten, welche Europa und Amerika weiter aneinander band. Es ist daher kein Zufall, daß die Abschaffung des Sklavenhandels und der Sklaverei in den längst unabhängigen Staaten vor allem auf europäischen, insbesondere britischen Druck hin erfolgte. Die Staaten waren zwar unabhängig, die Wirtschaften, Gesellschaften und Kulturen aber eng verbunden. Hegel meinte, die Sklaverei in Amerika habe „mehr Menschlichkeit bei den Negern" geweckt. „Die Lehre, die wir aus diesem Zustand der Sklaverei bei den Negern [in Afrika, U.M.] ziehen ..., ist die, welche wir aus der Idee kennen, daß der Naturzustand selbst der Zustand absoluten und durchgängigen Unrechts ist. Jede Zwischenstufe zwischen ihm und der Wirklichkeit des vernünftigen Staates hat ebenso noch Momente und Seiten der Ungerechtigkeit... So aber als im Staate vorhanden, ist sie selbst ein Moment des Fortschreitens ..., ein Moment der Erziehung, eine Weise des Teilhaftigwerdens höherer Sittlichkeit und mit ihr zusammenhängender Bildung." (Hegel zit. nach Wirz 1984:51) Auf diese naive Hoffnung läßt sich mit einem - vermutlich erfundenen - Zitat Ghandis antworten, der auf die Frage „What do you think of Western Civilization?" erwiderte: „It would be a good idea."
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NICHTS
ALS
KARIES,
LUNGENKREBS UND PELLAGRA? Zu den A u s w i r k u n g e n des G l o b a l i s i e r u n g s p r o z e s s e s auf E u r o p a ( 1 5 0 0 - 1 8 0 0 )
ERICH
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"It thus seems obvious to me that the main shifts of global history have risen from encounters with strangers bearing new ideas, information, and skills. (...) Connections across cultural and other boundaries should therefore serve as an organizing principle for world history" (McNeill 1998:220f).
Man kann die von einigen neugierigen, macht- und goldhungrigen Europäern betriebene Expansion ab der Mitte des zweiten Jahrtausends unserer Zeitrechnung als Teil eines die gesamte Menschheitsgeschichte und sukzessive den ganzen Globus umfassenden Kommunikationsprozesses verstehen. Dessen Analyse könnte, so William H. McNeill, eines der möglichen paradigmatischen Prinzipien für die gegenwärtig heftig diskutierte, neue, das heißt, vor allem nicht eurozentrisch sein wollende Globalgeschichte abgeben (siehe etwa Frank-Landes Debate 1998). Die mit diesen Debatten wachsende Aufmerksamkeit für das ganze Ausmaß „weltwirtschaftlicher" Integrationsprozesse zumindest im Rahmen der sogenannten „Alten Welt" - lange bevor die Expansion der Europäer begann, läßt die von unterschiedlichsten Seiten vorgetragene Vorstellung, daß diese Integration hauptsächlich eine Leistung der Europäer sei, inzwischen fragwürdig erscheinen. „Globalisierung" beginnt nicht erst mit dem Vordringen europäischer Konquistadoren und Handelskompanien nach Amerika und noch weniger nach Afrika und Asien, und daher sollte man sich ihre Geschichte auch nicht einfach als linearen Prozeß vorstellen, der von einstmals
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lokalen, gänzlich von einander isolierten Einheiten zu zunehmender Vereinheitlichung und Integration auf Weltebene unter europäischer bzw. „westlicher" Vorherrschaft geführt habe (Perlin 1988:88-106). Bis zum 15. Jahrhundert war Europa Teil, aber keineswegs Zentrum, eines eurasischen Kommunikationsnetzwerkes (Bentley 1998), danach begann die maritime Expansion der Portugiesen und Spanier, der Niederländer, Engländer und Franzosen dieses Netzwerk und damit das Antlitz der Welt grundlegend zu verändern. Es versteht sich fast von selbst, daß diese Prozesse keinen der in sie involvierten Kommunikationspartner unverändert ließen. Im Hinblick auf die Geschichtsschreibung der von den Europäern in Gang gesetzten Veränderungen in den Hierarchien und Gefällen des globalen Kommunikationsnetzwerkes fällt allerdings auf, daß lange Zeit die Auswirkungen auf die eroberten, kolonisierten bzw. in des Netzwerk eingegliederten Völker und Weltregionen mehr Interesse fanden als die Konsequenzen für die daran beteiligten europäischen Gesellschaften (Elliott 1970:3f). Erst im Verlauf des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts begann sich im Zuge des weltweiten Entkolonialisierungsprozesses ein Wechsel der Perspektive abzuzeichnen. Die Proponenten von Weltsystemtheorien unterschiedlicher Schattierungen fingen an, die Zusammenhänge zwischen Entwicklungs- und Unterentwicklungsprozessen zu diskutieren (Shannon 1989), und die Anhänger des neuen Paradigmas einer global history bemühen sich, wie gesagt, gerade darum, das Erbe einer eurozentristischen Geschichtswissenschaft durch eine neue Sicht auf die Weltgeschichte zu ersetzten. Im engeren Rahmen der Wirtschaftsgeschichte sind die A-Themen der großen internationalen Kongresse seit Mitte der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts vermehrt der Erforschung weltwirtschaftlicher Zusammenhänge und deren Auswirkungen auf die europäischen Wirtschaften und Gesellschaften gewidmet (Fischer/Mclnnis/Schneider 1986; Pohl 1990; O'Brian/Prados de la Escosura 1998). Wenn auf den folgenden Seiten nach möglichen Konsequenzen der europäischen Expansion für die Menschen, Regionen und Staaten Europas gefragt wird, so geschieht dies angesichts der Größe und des Gewichts des Themas in Form einer Beschränkung auf drei Aspekte, die jeder für sich zu grundlegenden Problemen der neuzeitlichen europäischen Geschichte führen. Zuerst wird die Rede davon sein, welche Auswirkungen der Kontakt zwischen den Lebensformen zweier über einen sehr langen Zeitraum getrennt von einander existierender Biosphären - also derjenige Kommunikationsprozeß, der nach einem Buchtitel von Alfred W. Crosby mittlerweilen allgemein als columbian
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exchange bezeichnet wird (Crosby 1972) - auf Europa zeitigte. Während es in diesem Zusammenhang um die nicht beabsichtigten Konsequenzen dieses Kontaktes geht, werde ich im nächsten Schritt der Frage nachgehen, auf welche Weise und mit welchen Resultaten die durch die europäische Expansion und die mit ihr verbundenen Machtkämpfe in Gang gesetzten Menschen- und Warenströme die wirtschaftlichen Hierarchien und Gefälle zwischen den einzelnen europäischen Regionen und Staaten in den ersten drei Jahrhunderten der europäischen Neuzeit verändert haben. Dabei versuche ich an den Beitrag von Herbert Knittler in diesem Band anzuschließen. Diese Perspektive führt schließlich unweigerlich zur Gretchenfrage aller mit diesem Fragenkomplex verbundenen Diskussionen, nämlich, inwiefern die Aneignung von und die Herrschaft über weite Teile des Globus den Ort, Zeitpunkt und Verlauf des grundlegenden wirtschaftlichen Transformationsprozesses Europas beeinflußt haben, der gemeinhin als Industrielle Revolution bezeichnet wird.
DIE
EUROPÄISCHE
SEITE
DES
COLUMBIAN
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Das neue Schlagwort weist unmißverständlich darauf hin, daß hier die Folgewirkungen der Interaktion zwischen den Biosphären und Gesellschaften des europäischen und amerikanischen (Sub)Kontinents zur Diskussion stehen. Was die Beziehungen Europas zu Asien betrifft, so kann einerseits die „hemisphärische Integration" (Bentley 1998) der Gesellschaften und Zivilisation der eurasischen Landmasse auf eine wesentlich längere Geschichte zurückblicken. Andererseits stellten die kaum mehr als 10.000 Europäer, die sich bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts in Asien aufhielten, angesichts der Dimensionen allenfalls ein paar „Fliegen an der Wand" (Steensgaard 1998:86) dar, die dort weder große Epidemien auslösten noch das Ökosystem grundlegend verändern oder zu erfolgreichen Plünderungs- und Eroberungszügen ansetzen konnten. Anders in Amerika: Hier initiierte der von den Konquistadoren mitgeführte „biologische Musterkoffer" eine ökologische Revolution und verwandelte den Doppelkontinent mittels der in diesem Koffer enthaltenen Viren und Bakterien in ein großes Schlachthaus (Crosby 1991). Pocken, Masern, Diphterie, Keuchhusten, Scharlach und Grippe, gegen die die Europäer, seitdem sie seßhaft geworden waren und Ackerbau betrieben, Resistenzen entwickelt hatten, lösten unter der Bewohnern der eroberten Gebiete virgin soil-Epidemien aus, die im Lauf eines Jahrhunderts bis zu drei Viertel der mit den Eindringlingen in Kontakt gekommenen amerikanischen Bevöl-
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kerung dahinrafften. Hätten sich diese bakteriologischen Waffen nicht als dermaßen effizient erwiesen, wäre die europäische Präsenz in Amerika möglicherweise lange Zeit, ebenso wie an den Küsten Afrikas und Asiens, auf einige kleine Kolonien und Handelsstützpunkte beschränkt geblieben. So aber ermöglichten die mitgebrachten Pflanzen und Tiere den europäischen Kolonisten in den gemäßigten Klimazonen des amerikanischen Doppelkontinents die Schaffung „neo-europäischer Siedlungszonen", in denen sie ebenso wie zu Hause, wenn nicht besser, leben und wirtschaften konnten (Crosby 1991:215ff). Es steht außer Zweifel, daß dieser columbian exchange, was die Krankheitserreger betrifft, ein höchst ungleicher Tausch war, der den europäischen Invasoren und Kolonisten einen gewaltigen Vorteil gegenüber den Bevölkerungen der eroberten Gebiete verschaffte. Die einzige bedeutende Exportkrankheit der Neuen Welt ist die Syphilis, die kaum tiefgreifende Auswirkungen auf die Bevölkerungsentwicklung der Alten Welt zeitigte. Ebenso ungleich war der Austausch im Hinblick auf die Fauna. Den Pferden, Rindern, Schafen, Kaninchen und Schweinen, die sich in der Neuen Welt mangels natürlicher Feinde vielerorts in atemberaubendem Tempo vermehrten, stehen nur der Truthahn und das Meerschweinchen als dauerhafte Ergänzungen des Haustierbestandes der Alten Welt gegenüber. Diesen wird man schwerlich einen großen Einfluß auf die weitere Entwicklung Europas zubilligen können. Wie steht es aber mit der großen Zahl von Pflanzen, die im Rahmen dieses Interaktionsprozesses von einem Kontinent auf den anderen gebracht wurden? Hier scheint die Bilanz ausgeglichener zu sein (einen allgemeinen Überblick über die nach Europa importierten Pflanzen der Neuen Welt gibt Ewald 1995). Zumindest zwei Nutzpflanzen, die in Mittel- und Südamerika die Ernährungsbasis für Hochkulturen dargestellt haben, wird ein bisweilen tiefgreifender Einfluß auf die demographische und sozioökonomische Entwicklung der Alten Welt im Verlauf der Neuzeit zugeschrieben - dem Mais und der Kartoffel. So wurde die Ansicht vertreten, daß durch den sich ausweitenden Anbau dieser beiden Kalorienlieferanten die europäische Bevölkerungsexplosion des 18. und 19. Jahrhunderts ausgelöst (Langer 1975) oder zumindest ermöglicht (Vandenbroeke 1971) worden wäre und die durch sie induzierten Produktivitätssteigerungen der europäischen Landwirtschaft eine wesentliche Voraussetzung des Industrialisierungsprozesses (Salaman 1985) dargestellt hätten. Für Alfred W. Crosby eröffneten sie den europäischen Gesellschaften einen Ausweg aus der Bevölkerungskrise des 17. Jahrhunderts und verhinderten, daß die-
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se - ähnlich wie im Spätmittelalter - in eine lange Krisenphase mündete (Crosby 1994:159-163). Gegen diese optimistische Sichtweise lassen sich mehrere Einwände vorbringen. Zum einen läßt sich Crosbys Argumentation nur sehr begrenzt mit der Geographie und Chronologie der Verbreitung und des Anbaus von Mais und Kartoffeln in Einklang bringen. Während der Maisanbau in einigen Regionen einer relativ eng begrenzten Zone, die von Nordportugal und Nordspanien über Südwestfrankreich nach Norditalien und den Balkan reichte, tatsächlich bereits im Verlauf des 17. Jahrhunderts eine gewisse Bedeutung erlangt hatte, trifft dies für die Kartoffel allenfalls in Irland zu. Zum anderen stößt der etwas naive Malthusianismus, auf dem das Argument des von diesen Pflanzen ausgelösten bzw. ermöglichten Bevölkerungswachstums basiert, seit längerem auf Widerspruch im Rahmen des historisch-demographischen Diskurses. Demnach führt eine Erweiterung des Nahrungsspielraums nicht automatisch zu einer geringen Mortalität und damit zu demographischem Wachstum. Neben der neuerdings wieder stärker betonten Autonomie demographischer und insbesondere epidemologischer Prozesse gelten heute Heiratsalter und Heiratshäufigkeit als erheblich wichtigere Regulatoren der neuzeitlichen europäischen Bevölkerungsentwicklung (Livi-Bacci 1991; De Vries 1994a). Angesichts des zähen Widerstands, den die europäischen Bauern über lange Zeit hinweg der Verbreitung der neuen Nutzpflanzen entgegensetzten, stellt sich weiters die Frage, was hier als Ursache und was als Wirkung zu sehen ist: Hat der erweiterte Nahrungsmittelspielraum zu einem Wachstum der Bevölkerung in den dafür in Frage kommenden Regionen geführt, oder hat ein bereits bestehender Bevölkerungsdruck auf die agrarische Ressourcenbasis im Zusammenhang mit Mißernten und Kriegen die Bevölkerung dieser Regionen dazu veranlaßt, ihren Widerstand aufzugeben? Löste die Verbreitung der beiden neuen Kalorienlieferanten tatsächlich ein bestehendes Ernährungsproblem angesichts steigender Bevölkerungszahlen, oder war sie eher Ausdruck einer zunehmenden Pauperisierung im Rahmen der auf Getreide zentrierten europäischen Agrarsysteme (Morineau 1970; Montanari 1993:155-181)? Zur Beantwortung dieser Fragen ist ein genauerer Blick auf die Voraussetzungen und den Verlauf der Integration der neuen Nutzpflanzen in die ländlichen Gesellschaften und die Agrarsysteme der betreffenden Regionen notwendig. Zunächst fällt auf, daß die über die Hausgärten hinausgehende Verbreitung des Maisanbaues in den Pionierregionen Nordspaniens (Galizien, Asturien, Baskenland), Portugals
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und Norditaliens (Veneto, Lombardei) chronologisch mit den letztendlich klimatisch bedingten Hungerkrisen der neunziger Jahre des 16. Jahrhunderts und insbesondere mit den durch weitere Mißernten und einer schweren Pestepidemie um 1630 ausgelösten Zerrüttungen der ländlichen Gesellschaften in diesen Regionen zusammenfiel (Levi 1991:162; Eiras Roel 1998:106-110). Im Hinblick auf den Kartoffelanbau wird betont, daß Kriege und Hungersnöte wesentlich zu seiner Verbreitung beigetragen haben, etwa der Dreißigjährige Krieg im Elsaß, der Spanische Erbfolgekrieg in Flandern, der Siebenjährige Krieg und der Bayerische Erbfolgekrieg, der bereits von den Zeitgenossen als „Kartoffelkrieg" bezeichnet wurde, in den deutschsprachigen Ländern sowie die schweren Mißernteperioden in Mitteleuropa in den Jahren 1770-73 und 1816-17 (Schmidt 1995:78f). Da es sich bei Kartoffel und Mais um Hackkulturen handelt, die einen hohen Arbeitsaufwand, aber nur sehr geringen Kapitaleinsatz erfordern, zählten insbesondere die Kleinbauern in Realteilungsgebieten, die Teilpächter und die noch in der agrarischen Welt verankerten gewerblichen Heimwerker zu ihren frühesten und eifrigsten Erzeugern und Konsumenten (Sandgruber 1982). Während diese Gruppen die neuen Feldfrüchte zu Subsistenzzwecken, aber kaum zum Verkauf kultivierten, zeigten große, auf Getreide und Viehzucht spezialisierte Marktproduzenten lange Zeit wenig Interesse an ihnen. Neben dieser agrarsoziologischen Erklärung der unterschiedlichen Aufnahmebereitschaft einzelner Schichten der europäischen Agrargesellschaften scheinen auch noch die Einpassungsmöglichkeiten der neuen Pflanzen in die bestehenden Agrarsysteme eine Rolle gespielt zu haben. In Nordspanien und Südwestfrankreich ging der Mais eine Symbiose mit dem Weizenanbau ein und erleichterte bzw. beschleunigte den Übergang von der Zweifelder- zur Dreifelderrotation. Häufig kam es dabei zu einer Verdrängung der Hirse, die bereits vor der Einführung des Maises eine ähnliche Rolle gespielt hatte und deren Bezeichnung oft auch auf die neue Feldfrucht übertragen wurde (gros mil, milho grande, sorgo turco) (Eiras Roel 1998:106; Hohenberg 1977:67ff). In Norditalien begann der Mais den im Rahmen der weitverbreiteten coltura promiscua ohnehin nicht sehr produktiven Weizen auf den polikulturell genutzten Flurteilen zu ersetzen (Levi 1991), in Irland scheint der Kartoffelanbau eine ähnliche Funktion im Rahmen des Anbausystems erfüllt zu haben (Levi 1991; Cullen 1998:263f). Mais und Kartoffeln führten in mehrerer Hinsicht zu einer Erweiterung des Nahrungsspielraumes in den Anbaugebieten, so aufgrund der höheren Flächenerträge bei einem gleichzeitig wesentlich geringeren
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Saataufwand. Im Fall des Maisanbaues waren es unter den Produktionsbedingungen des 17. und 18. Jahrhunderts vor allem die wesentlich gesteigerte Saat-Ernte-Relation, weniger die höheren Bruttoerträge, die in Verbindung mit dem durch ihn ausgelösten bzw. beschleunigten Übergang von der Zwei- zur Dreifelderwirtschaft den Ausschlag gaben und den Nettoertrag bei einem annähernd gleichen Kaloriengehalt um 50 Prozent und mehr erhöhten (Hohenberg 1977:79f; Eiras Roel 1998: 11 Off). Im Fall der Kartoffel waren die Flächenerträge sogar um das Zehnfache höher als beim Getreidebau, der erheblich geringere Nährwert der Knollenfrucht im Vergleich zum Getreide bedingte allerdings, daß der Kalorienertrag den des Getreides nur um etwa das Doppelte übertraf (Vandenbroeke 1971:37). Außerdem ermöglichten beide Kulturen als Futterlieferanten eine Erweiterung der Viehzucht - in Irland vor allem der Schweinezucht, in Nordspanien und Südwestfrankreich der Rinderhaltung im Rahmen kleinbäuerlicher Betriebe. Weiters scheint sich die händische Bodenbearbeitung mit Haugeräten und Spaten günstig auf die Getreideerträge ausgewirkt zu haben. Diesen positiven Aspekten der Verbreitung von Mais und Kartoffelanbau lassen sich mehrere negative gegenüberstellen. Da es sich um arbeitsintensive Hackfrüchte handelt, wurde die erhöhte Flächenproduktivität mit einer verringerten Arbeitsproduktivität erkauft. Im Unterschied zur Intensivierung der Agrarproduktion durch einen vermehrten Kapitaleinsatz pro Flächeneinheit erfolgt die Ertragssteigerung hier durch einen vermehrten Arbeitsaufwand auf einer gegebenen Bodenfläche. Dazu kommt noch, daß es aufgrund der Stellung der Produzenten im Rahmen der jeweiligen agrarischen Produktionsverhältnisse im Zuge der Verbreitung von Mais und Kartoffeln zu einer signifikanten Teilung der Produktion in cash crop (in der Regel Getreide und die Erträge der Viehzucht) und food crop (Mais oder Kartoffeln) kam. Für alle Regionen, in denen relativ früh eine Verbreitung von Mais- und Kartoffelanbau einsetzte, läßt sich feststellen, daß sich die Produzenten über kurz oder lang in der Regel hauptsächlich von Mais und Kartoffel ernährten, während die Getreideerträge zur Bezahlung von Abgaben und Steuern im vermehrten Maß verkauft wurden oder in Form von Naturairenten den Grundherrn und Landeigentümern zufielen (Eiras Roel 1998:1 llff; Cullen 1998:264). Besonders ausgeprägt war diese Trennung in ein Subsistenz- und ein Markt- bzw. Rentenprodukt in Norditalien, wo im Zuge der Verbreitung des Maisanbaues die Pachtkontrakte dahingehend verändert wurden, daß die Erträge des Getreidebaus, der Viehzucht und der Baumkulturen der Halbbaugüter (mezzadria) zum überwiegenden Teil
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als Rente an die Urbanen Landeigentümer gingen, während sich immer mehr Produzenten ausschließlich von Mais ernährten (Levi 1991:155). Insofern ist es auch kein Zufall, daß unter diesen Bedingungen im 19. Jahrhundert mit Pellagra eine Krankheit endemisch wurde, die durch eine einseitige Ernährung mit Mais verursacht wird. Nach offiziellen Zählungen waren 1881 im Veneto zwei Prozent, in der Lombardei ein Prozent der Bevölkerung davon betroffen. Pellagra wird durch einen Mangel an Niacin, einem lebenswichtigen Bestandteil des Vitamin-B-Komplexes, verursacht. Der Zusammenhang mit einseitiger Maisernährung besteht darin, daß Mais einen sehr niedrigen Gehalt an Triptophanin besitzt, einer Aminosäure, die der Aufschließung des Niacin bei der Verdauung dient. In den amerikanischen Maiskulturgebieten wurde bzw. wird dieses Problem nach wie vor dadurch bewältigt, daß die Maiskörner vor ihrer Verarbeitung in einer Kalklösung eingeweicht und dann in dieser gekocht werden. Das als nixtamalizaciön bezeichnete Verfahren schließt das Niacin auf und macht es für den menschlichen Organismus verfügbar. Da die Spanier die Zubereitung des Maises mit der des europäischen Brotgetreides assoziierten, schenkten sie diesem Verfahren wenig Aufmerksamkeit, so daß zwar die Pflanze früh im mediterranen Europa Verbreitung fand, nicht jedoch das entsprechende Kochrezept (Kaller-Dietrich 1999:336). Es muß in diesem Zusammenhang allerdings betont werden, daß Pellagra nur bei einer sehr einseitigen Maisernährung endemisch werden kann und die agrarischen Systeme Südeuropas in der Regel fähig waren, diesen Mangel durch die Ergänzung von Hülsenfrüchten und anderen Nahrungspflanzen auszugleichen. So wurde der Mais in weiten Teilen Nordspaniens, Norditaliens und des Balkans im Rahmen eines polikulturellen Systems mit Bohnen und Kürbissen gepflanzt. Es besteht Grund zur Annahme, daß nicht nur der Mais, sondern das gesamte symbiotische Pflanzsystem von den amerikanischen Kulturen übernommen wurde (Eiras Roel 1998:112; Stoianovich 1966:1030). Nur im Rahmen der spezifischen Sozialstruktur und der Produktions- und Marktverhältnisse derjenigen Gebiete Oberitaliens, in denen sich der Maisanbau so sehr verbreitete, daß sein Anteil an der Gesamternte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts denjenigen des Getreides zu übertreffen begann, wurde die Pellagra im 19. Jahrhundert zu einem Problem, mit dem sich vor allem das Agrarproletariat konfrontiert sah (Eiras Roel 1998:114; Levi 1991:157). Was nun die demographischen Auswirkungen der Verbreitung des Maisanbaus in Europa betrifft, so kann man tatsächlich feststellen, daß die Bevölkerung in den nordspanischen und norditalienischen
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Anbaugebieten, ausgehend von einer relativ hohen Bevölkerungsdichte, in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts stärker wuchs als in den übrigen Regionen dieser beiden Länder. Aber bereits im 18. Jahrhundert waren die demographischen Wachstumsraten in Süditalien und dem übrigen Spanien zum Teil erheblich höher als in den Maisanbaugebieten (Eiras Roel 1998:144). Im Hinblick auf die demographischen Konsequenzen der Pellagra läßt sich das Argument auch umkehren, stieg doch die Fertilität im Veneto am Beginn des 20. Jahrhunderts - zu einem Zeitpunkt, als sie im übrigen Italien bereits rückläufig war - im Zusammenhang mit einer Verbesserung der Ernährungsverhältnisse der Landbevölkerung deutlich an. Aufgrund der späteren Verbreitung des Anbaus und Konsums der Kartoffel gibt es eine chronologische Koinzidenz zwischen der Beschleunigung des Bevölkerungswachstums in West- und Mitteleuropa im Verlauf des 18. Jahrhunderts und dem einsetzenden Industrialisierungsprozeß. In Flandern war die Bevölkerungszunahme in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von einem Rückgang des Pro-Kopf-Konsums an Brotgetreide und einer Zunahme des Kartoffelverbrauchs begleitet (Vandenbroeke 1971:28f). Für Frankreich wurde der daraus abgeleitete Schluß, daß die Verbreitung des Kartoffelanbaus den Anstieg der Bevölkerung ermöglicht hätte, dadurch in Frage gestellt, daß keine Korrelation zwischen der Verbreitung der Kartoffelkultur und dem Bevölkerungswachstum in den einzelnen Regionen des Landes existiert und der vermehrte Kartoffelkonsum in Flandern auch ein Anzeichen der zunehmenden Pauperisierung weiter Bevölkerungskreise sein könnte (Morineau 1970). Im Hinblick auf Irland, wo der Zusammenhang zwischen der bereits im Verlauf des 17. Jahrhunderts weit verbreiteten Kartoffelkultur und einem starken Bevölkerungswachstum offensichtlich zu sein scheint, wurde ebenfalls argumentiert, daß erstere eher eine Folge als die Ursache des demographischen Wachstums war. Weitere Beispiele ließen sich finden, darunter gewiß auch solche, für die ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Einführung der Kartoffel und einer Bevölkerungszunahme wahrscheinlich ist (Netting 1981:159169). Die wichtige Rolle, die der Kartoffelkonsum in Kontinentaleuropa vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts für breite Bevölkerungskreise spielte, verweist aber eher darauf, daß die Pauperisierungsthese von größerer Relevanz ist als die These, die besagt, daß die aus der Neuen in die Alte Welt verpflanzten Nahrungslieferanten eine zentrale Vorraussetzung für agrarische Produktivitätssteigerung, demographisches Wachstum und sogar Industrialisierung gewesen wären. Mais und Kartoffel haben die traditionellen, auf Getreide ausgerich-
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teten europäischen Agrarsysteme stabilisiert, aber kaum revolutioniert (Montanari 1993:159). Wäre es nicht angesichts der Tatsache, daß sie vielen Bewohnern der Alten Welt den täglichen Hunger erträglicher machten, zynisch, könnte man auch sagen, daß sie in einigen Regionen ein Wachstum ohne Entwicklung in Gang gesetzt haben. Nicht zufällig zählten manche dieser Regionen, in denen sich die neuen Nahrungspflanzen relativ früh verbreiteten, zu denjenigen Gebieten, die ihre überschüssige Bevölkerung im 19. Jahrhundert in die Neue Welt exportierten. MENSCHENIHRE
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WARENSTRÖME
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IMPLIKATIONEN
Wenden wir uns zunächst den Menschenströmen zu, die durch die erste Phase der europäischen Expansion in Bewegung gesetzt wurden. Auch hier kann aufgrund der bis ins 19. Jahrhundert quantitativ geringen Präsenz der Europäer in Asien wiederum nur der amerikanische Kontinent eine Rolle spielen. David Eltis schätzt, daß bis 1820 8,4 Millionen Afrikaner als Sklaven dorthin verschleppt wurden und sich die Nettoimmigration von Europäern bis zu diesem Zeitpunkt auf 2,4 Millionen Menschen (ohne Peru) belief. Auf einen nach Amerika wandernden Europäer kamen in diesem Zeitraum somit drei bis vier von europäischen Sklavenhändlern dorthin verfrachtete Afrikaner. Rein demographisch betrachtet war Amerika bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts somit eher eine Erweiterung Afrikas, denn ein neues europäisches Siedlungsgebiet. Wenn um 1820 etwa ebenso viele Menschen europäischer Abstammung wie farbige Menschen in Amerika lebten, so ist dies vor allem darauf zurückzuführen, daß die afrikanischen Sklaven hauptsächlich in die tropischen Zonen der Neuen Welt gebracht wurden. Sie hatten dort zwar eine etwas höhere Lebenserwartung als die Europäer, jedoch bedingten die fremde epidemische Umwelt und die Lebensbedingungen auf den Plantagen auch eine hohe Mortalität und eine sehr geringe Reproduktionsrate, während das überwiegende Ziel der europäischen Auswanderer Nordamerika war - eine Umwelt, die ein sehr hohes natürliches Bevölkerungswachstum erlaubte (Eltis 1983). Erst im 19. Jahrhundert veränderte sich durch die massenhafte Auswanderung von Europäern und das Verbot des Sklavenhandels dieses Verhältnis grundlegend zugunsten der Weißen. Bis 1760 wanderten nach den Schätzungen von Eltis (abzüglich der nach Europa Zurückkehrenden) rund 869.000 Engländer, 678.000 Spanier, 523.000 Portugiesen, 100.000 Franzosen, aber nur 20.000 Nie-
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derländer in die Neue Welt aus (Eltis 1999:151 f). Diese Nettoemigration könnte die demographischen Verhältnisse in den Herkunftsländern allenfalls in Portugal beeinflußt haben, zumal sich das portugiesische Kolonialreich ja auch auf Nord- und Westafrika, Asien und die atlantischen Inseln erstreckte. Aber auch in diesem Fall geht man davon aus, daß die Bevölkerungsentwicklung im Mutterland davon kaum beeinträchtigt wurde (Pedreira 1998:106-110). Auffällig ist die niedrige Zahl der in die Neue Welt auswandernden Niederländer. Sie verweist auf eines ihrer Hauptprobleme in der atlantischen Sphäre. Das geringe demographische Potential des Landes blockierte in Verbindung mit den ab der Mitte des 17. Jahrhunderts in der atlantischen Sphäre herrschenden Machtverhältnissen den Ausbau des niederländischen Plantagenkomplexes in der Neuen Welt, der daher nur bescheidene Dimensionen erreichte. Dazu kam noch der große Bedarf der Ostindischen Kompanie (VOC) an Schiffsbesatzungen und Arbeitskräften in ihren asiatischen Stützpunkten. Dieser soll sich im 18. Jahrhundert auf 4.000-5.000 junge Männer pro Jahr belaufen haben, von denen zwei Drittel nicht wieder heimkehrten. Das bedeutet, daß 20 Prozent jeder männlichen Geburtskohorte im Dienst der Kompanie in Übersee ihr Leben ließen (Emmer 1998:173). Wenden wir uns in einem nächsten Schritt den Waren zu, die aufgrund der Handels- und Kolonialaktivitäten der Europäer nach Europa strömten, und fragen wir nach den Dimensionen dieser Warenströme sowie nach ihren möglichen Konsequenzen für Produktionszweige des innereuropäischen Wirtschaftsraumes. Eine der unmittelbarsten und spätestens seit der Mitte des 16. Jahrhunderts deutlich spürbare wirtschaftliche Konsequenz der europäischen, in diesem Fall iberischen Expansion war ein seit der Mitte des 16. Jahrhunderts stark anschwellender, im 17. Jahrhundert in seinem Wachstum gebremster und im 18. Jahrhundert durch die Goldimporte aus Brasilien neuerlich stark zunehmender Strom von Edelmetall nach Europa. In Silberäquivalenten berechnet, wurden um 1750 500-600 Tonnen davon vom amerikanischen Kontinent nach Westeuropa gebracht. Das entsprach zu diesem Zeitpunkt etwa 70 Prozent der amerikanischen Produktion. Davon wurden ca. 40 Prozent - nach anderen Schätzungen bis zu 70 Prozent - in Form von Münzen und Barren - wiederum in die Levante, den baltischen Raum und nach Asien exportiert. Zur Mitte des 18. Jahrhunderts belief sich der jährliche Silberexport nach Asien durch die holländischen und englischen Ostiendienkompanien auf ca. 85 Tonnen, derjenige ins Baltikum auf ca. 60 Tonnen. Schwieriger einzuschätzen ist der Abfluß in die Levante, aber auch in diese
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Richtung könnten bis zu 50 Tonnen Silber pro Jahr geströmt sein (Barrett 1990:242, 251). Da Edelmetall nicht wie andere Waren konsumiert, sondern neben seiner Hortung und Verwendung zu dekorativen Zwecken vor allem in Form von Münzgeld akkumuliert wird, macht eine Rechnung Sinn, die die jährlichen Import- und Exportmengen über die Zeit hinweg addiert. Eine solche Rechnung ergibt, daß zwischen 1500 und 1800 ca. 90.000 Tonnen Silber bzw. Silberäquivalente vom amerikanischen Kontinent nach Europa importiert wurden, wovon etwa 50.000-60.000 Tonnen in Europa verblieben und 30.00040.000 Tonnen - nach einer anderen Schätzung bis zu 70.000 Tonnen wiederum exportiert wurden (Barrett 1990:242; Attman 1986:74-78). Eine der unmittelbaren Konsequenzen des Imports von großen Silbermengen aus Amerika war der Niedergang des mitteleuropäischen Silberbergbaues, der bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts neben den Goldimporten aus Afrika die wichtigste Quelle für Münzmetall in Europa war. Silber aus Amerika war aufgrund seiner relativ niedrigen Produktionskosten billiges Silber, wurde es doch im Unterschied zum mitteleuropäischen Silber nicht durch entlohnte Bergleute, sondern durch zwangsverpflichtete und - wenn überhaupt - schlecht bezahlte indianische und afrikanische Arbeitskräfte abgebaut. Der mitteleuropäische Bergbauboom zwischen 1450 und 1550 war durch den hohen Preis des Silbers (im Verhältnis zum Gold) in Europa ermöglicht worden. Der Zustrom amerikanischen Silbers kehrte des Verhältnis um und machte den mitteleuropäischen Silberbergbau unrentabel (Spooner 1972:3-22; Blanchard 1995:13-25). Daraus wurde unter anderem die heute so nicht mehr haltbare - These eines Niedergangs der süddeutschen Wirtschafts- und Finanzzentren bzw. das Ende eines postulierten „Zeitalters der Fugger" abgeleitet (Spooner 1972:25, 59). Weiters wurde und wird nach wie vor der als „Preisrevolution" bezeichnete Anstieg des Preisniveaus in Europa mit der durch die Silberimporte vermehrten Geldmenge zu erklären versucht. Diese quantitätstheoretische Erklärung der Preisentwicklung des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts stößt jedoch auf mehrere Einwände. Zum einen ist nicht klar, wieviel der Import amerikanischen Silbers zum bereits vorhandenen Edelmetallbestand beitrug, da über letzteren nur spekuliert werden kann. Zum anderen setzt sich die Fishersche Quantitätsgleichung (P [Preisniveau] x T [Anzahl der Transaktionen] = M [Geldmenge] x V [Umlaufgeschwindigkeit]) bekanntlich nicht bloß aus zwei, sondern aus vier Variablen zusammen, so daß die im europäischen 16. Jahrhundert stark zunehmende Arbeitsteilung und Urbanisierung eine bessere Erklärungsbasis für den Preisauftrieb abgeben könnte
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als eine ausschließlich auf die Erweiterung des Edelmetallbestandes abstellende Interpretation. So wurde für das Beispiel England im 16. Jahrhundert berechnet, daß sich die Münzgeldmenge um das 12bis 18-fache vergrößert haben müßte, um den Ansteig des Preisniveaus ausschließlich damit erklären zu können - was ganz und gar unwahrscheinlich ist. Zudem floß ein erheblicher Teil des Silbers rasch wiederum aus Europa ab. Jedenfalls ließ der Silberhunger in ganz Europa in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts nicht nach, sondern wurde eher noch größer, wie die zunehmende Prägung von Münzen mit ständig geringerem Edelmetallgehalt und die beträchtliche Ausweitung der Verwendung anderer Zahlungsmittel (Wechsel) belegen (Goldstone 1984). Aber nicht nur die „Preisrevolution", sondern auch den „Aufstieg des Kapitalismus" und den wirtschaftlichen Niedergang Spaniens hat man über die Silberimporte aus Amerika zu erklären versucht. Demnach hätte das Zurückbleiben der Löhne hinter den Preisen in weiten Teilen Europas, jedoch nicht in Spanien, zu einer Profitinflation geführt, die einerseits einer kapitalistischen Industrieproduktion Auftrieb verliehen, andererseits durch das relativ hohe Lohnniveau das spanische Gewerbe hilflos der Konkurrenz durch Importwaren ausgeliefert haben soll (Hamilton 1929). Diese Thesen sind weder mit den gewerblichen Produktionsverhältnissen des 16. Jahrhunderts in Einklang zu bringen, noch halten sie einer faktischen Überprüfung des für die wirtschaftlichen Probleme Spaniens verantwortlich gemachten Lohnniveaus stand (Vilar 1956; Yun Casalilla 1998:131f). Was bleibt also dann noch übrig von den vielbeschworenen Auswirkungen dieses die wirtschaftshistorische Forschung seit langer Zeit blendenden Phänomens? Neben der Tatsache, daß es zum Niedergang des mitteleuropäischen Edelmetallbergbaues wesentlich beitrug, sollte man vor allem zwei Konsequenzen der Vermehrung des verfügbaren Edelmetalls nicht gering schätzen: Zum einen leistete es einen wichtigen finanziellen Beitrag zur spanischen Großmachtpolitik; zum anderen verschafften die Silberimporte und ihre Diffusion einigen europäischen Handelsnationen, allen voran den Niederländern und Engländern, eine Ware, die durch ihren hohen Tauschwert im Handelsverkehr, vor allem mit Asien, wo andere europäische Produkte kaum absetzbar waren, aber auch mit dem Baltikum und der Levante, von strategischer Bedeutung war und gemeinsam mit dem Verkauf asiatischer Waren in Europa, Afrika und Amerika die Realisierung großer Handelsgewinne ermöglichte. Der seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert in Europa mit Sorge betrachtete Abfluß des Silbers nach Asien erklärt
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sich im übrigen nicht aus der Hortung und Prunksucht asiatischer Potentaten, wie immer wieder behauptet wurde (Indien und China als „Silberfriedhöfe"), sondern aus einer mit der zunehmenden Monetarisierung der asiatischen Wirtschaften einhergehenden Steigerung der Nachfrage sowie der, mit Ausnahme Japans, geringen Silberproduktion in Süd- und Ostasien selbst (Perlin 1994:189-214; Steensgaard 1998:83; Morineau 1999:244-250). Das unter Ausübung von Zwang in Mittel- und Südamerika gewonnene Silber ist diejenige Ware, die seit der Mitte des 16. Jahrhunderts einen ersten weltumspannenden Handelsaustausch in Gang setzte. Es wurde, nachdem es Spanien im Tausch gegen gewerbliche Güter Nordwesteuropas verlassen hatte, von Niederländern und Engländern in Indien gegen Baumwollstoffe getauscht, die zu einem beträchtlichen Teil an der westafrikanischen Küste zum Ankauf von Sklaven verwendet wurden, die man wiederum auf den Plantagen der Neuen Welt zur Produktion von Zucker, Tabak, Kakao, Kaffee und Baumwolle einsetzte. Es wurde nicht bloß auf der Kaproute, sondern seit 1571 auch direkt von Mittelamerika aus über Manila nach China und Südostasien exportiert und dort zum Ankauf von Seide, Porzellan und Gewürzen verwendet - Güter, die von London und Amsterdam aus mit großem Gewinn über ganz Europa verteilt werden konnten. Und es diente weiterhin zum Ausgleich defizitärer Handelsbilanzen der nordwesteuropäischen Staaten mit dem Baltikum und der Levante. Die Tatsache, daß dieser auf dem amerikanischen Silber basierende Welthandel vor allem durch die hohe asiatische Nachfrage danach in Gang gehalten wurde - ohne diese Nachfrage wäre die Produktion in den amerikanischen Minen aufgrund der Inflation in Europa zwischen ca. 1550 und 1650 möglicherweise bereits im Verlauf der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts unrentabel geworden - verweist aber auch darauf, daß diese embryonale Weltwirtschaft nicht ausschließlich auf Europa zentriert war, sondern mehrere Zentren besaß, und die Überlegenheit Nordwesteuropas gegenüber den asiatischen Zentren im 17. und 18. Jahrhundert noch kein faitaccompli war (Pomeranz 2000:270273; Flynn/Giräldez 1995). Neben dem Silber nehmen sich die anderen aus Amerika nach Europa exportierten Produkte bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts relativ bescheiden aus. Zu nennen sind hier Rohstoffe zur Farbgewinnung Cochenille (ca. 94 Tonnen pro Jahr 1581/85), Indigo und Farbhölzer-, Rinderhäute (ca. 134.000 Stück im ausgehenden 16. Jahrhundert) und Genußmittel, insbesondere Kakao, Zucker (ca. 4.500 Tonnen pro Jahr 1581/85 vor allem aus Brasilien, mit stark steigender Tendenz) und
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Tabak (ca. 91,5 Tonnen pro Jahr 1609/13) (Rahn Phillips 1990; Pieper 1998). Die Farbstoffe traten auf dem europäischen Markt als qualitativ höherwertige Konkurrenten der traditionellen Färbepflanzen Waid und Krapp auf, ohne diese vollständig zu verdrängen. Die Zahl der importierten Rinderhäute war hingegen nicht groß genug, um deren Export aus Ost- nach Mittel- und Westeuropa zur Herstellung von Lederartikeln ernsthaft beeinträchtigen zu können. Immense Bedeutung sowohl für den europäischen Markt als auch für die weitere Entwicklung der amerikanischen Kolonien hatten in der Folge hingegen die genannten Genußmitteln. Ab der Mitte des 17. Jahrhunderts stiegen die europäischen Zucker- und Tabakimporte, ein halbes Jahrhundert später auch die Kaffeeimporte aus Amerika, rasch an und erreichten um die Mitte des 18. Jahrhunderts Dimension, von denen hundert Jahre zuvor niemand zu träumen gewagt hätte. Zu diesem Zeitpunkt wurden 150.000-160.000 Tonnen Zucker hauptsächlich aus den englischen und französischen Kolonien in der Karibik, und 30.000^40.000 Tonnen Tabak aus Virginia und Kuba nach Europa importiert. Die Kaffeeimporte, hauptsächlich aus Saint Domingue (Haiti) nach Frankreich, überstiegen 1788 ebenfalls bereits die 50.000 Tonnen-Schwelle. Die Zuckerproduktion in den englischen, französischen und niederländischen Kolonien des karibischen Raumes hat sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts von ca. 30.000 Tonnen 1680 auf 315.000 Tonnen um 1800 mehr als verzehnfacht (Rahn Phillips 1990:158ff; Steensgaard 1990:136f, 140; Schneider 1998:570). Grundlagen dieser spektakulären Entwicklung waren die rasante Expansion des Plantagensystems auf den karibischen Inseln und Teilen des amerikanischen Festlandes (siehe den Beitrag von Ulrich Mücke in diesem Band) sowie ein sich mit der Ausweitung des Angebots, den sich daraus ergebenden Preisrückgängen und der Preiselastizität der Nachfrage nach Kolonialwaren rasch vergrößernder Markt in Europa (Kriedte 1994). Im Verein mit dem Export von Industriegütern in die Plantagengebiete ergab sich daraus eine Konstellation, in der die Konsumenten von Genußmitteln, die zumindest in Nordwesteuropa schnell zu Massenkonsumgütern wurden, und die versklavten Produzenten dieser Güter nicht Teil ein- und derselben Gesellschaft, sondern durch den Austausch ihrer Arbeitsprodukte im Rahmen eines kolonialen Ausbeutungssystems über große Distanzen hinweg miteinander verknüpft waren (Mintz 1992). Alle auf den Plantagen mit Sklavenarbeit produzierten Konsumgüter erzeugen bei ihren Konsumenten ein gewisses Maß an physischer Abhängigkeit. Aufgrund ihrer Wirkung auf den menschlichen Organismus
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und ihrer einfachen Zubereitung eignen sie sich außerordentlich gut dafür, kurze Energieschübe auszulösen, und machten damit einen langen und mühsamen Arbeitstag in den frühen Fabriken erträglicher. Sie kamen durch diese Eigenschaften der im Rahmen des Manufaktur- und Fabrikssystems vollzogenen Trennung von Wohn- und Arbeitsplatz entgegen, aber sie konnten, mit Ausnahme des Tabaks, nicht in Europa selbst erzeugt, sondern mußten gekauft werden. Dadurch trugen sie zur Marktintegration breiter Konsumentenschichten und zur Ausweitung von Konsumgütermärkten maßgeblich bei und verschafften über die Erhebung von Konsumsteuern den europäischen Staaten beträchtliche zusätzliche Einnahmen. Die Verbreitung der neuen Konsumgüter hatte aber auch Auswirkungen auf einige innereuropäische Produktionsund Handelszweige. Zucker, der bis ins 17. Jahrhundert hinein als Arznei und Spezerei lediglich einem kleinen Konsumentenkreis vorbehalten war, begann die traditionellen europäischen Süßstoffe Honig und Trockenfrüchte, die über Jahrhunderte hinweg entweder lokal produziert oder innerhalb des Subkontinents, hauptsächlich von Osten nach Westen, gehandelt wurden, zu verdrängen. Kaffee, Kakao, Rum und Tee wiederum machten einer wirtschaftlich keineswegs unbedeutenden Alkoholindustrie, die bislang die wichtigsten Alltagsdrogen der Europäer produziert hatte, Konkurrenz. Davon waren vor allem der Weinbau, die Bierbrauerei, die Branntwein- und Schnapsproduktion und die Obstmostherstellung betroffen. In Anbetracht all dessen erscheint es doch etwas zu kurz gegriffen, wenn man in einem Aufsatz über die Profite des Sklavenhandels aus dem Jahr 1974 liest, daß dieser lediglich dazu geführt habe, daß die europäischen Konsumenten etwas billiger zu Karies und Lungenkrebs kamen, als es ohne den Sklavenhandel der Fall gewesen wäre (Thomas/Bean 1974:914). Unter den Warenimporten aus Asien stechen neben den Gewürzen, vor allem Pfeffer (3.500 Tonnen pro Jahr 1740/45), Tee aus Kanton (5.326 Tonnen pro Jahr 1749/55), Kaffee aus Java, Rohseide und Seidenstoffe aus China, die riesigen Mengen indischer Baumwollstoffe ins Auge, die von den beiden großen Handelskompanien seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts nach Europa gebracht wurden. Von einigen Tausend stieg deren Stückzahl bis in die achtziger Jahre des 17. Jahrhunderts auf ein Maximum von rund zwei Millionen an und hielt sich, stark schwankend, bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts bei durchschnittlich einer Million pro Jahr (Morineau 1999:275; Steensgaard 1990:120, 126, 132). Nach dem amerikanischen Silber, das seit der Mitte des 16. Jahrhunderts dem mitteleuropäischen Edelmetallbergbau den Garaus machte, und den kolonialen Aufgußgetränken, die den Erzeugnissen der euro-
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päischen Alkoholproduktion Konkurrenz machten, handelt es sich hierbei um den dritten Importzweig, der einen wichtigen Sektor der europäischen Wirtschaft in Bedrängnis brachte. Alle Zweige der europäischen Textilindustrie von den Mischgeweben (Barchent) über die Wollweberei bis hin zur Leinenproduktion und Seidenverarbeitung sahen sich durch die außerordentliche Qualität dieser Stoffe im Hinblick auf Farbe, Design und Feinheit sowie ihren niedrigen Preis, zumindest was die einfacheren Typen betrifft, bedroht. Seit den achtziger Jahren des 17. Jahrhunderts begannen England und Frankreich Barrieren in Form von Zöllen und Import- bzw. Verkaufsverboten im Inland zu errichten. In den Niederlanden, wo man im Interesse der mächtigen VOC weiterhin auf Freihandel setzte, zumal ein Großteil der Kalikos (feine, dichte Baumwollgewebe) ohnehin nicht im Inland verkauft wurde, bekam man einerseits diese Restriktionen zu spüren, andererseits geriet die inländische Leinen- und Tuchproduktion in Schwierigkeiten (Morineau 1990:259ff). In England wurden ab 1700, im Unterschied zu Frankreich, nur die bedruckten Stoffe vom Inlandsmarkt verbannt und auf den Reexport verwiesen, während man die ungefärbten Stücke ins Land ließ, um den Aufbau eigener Kattundruckereien nicht zu behindern, wobei die Erzeugnisse auch in diesem Fall wiederum exportiert werden mußten. Unter dem Schutz dieser protektionistischen Politik begann sich in Lancashire eine eigene Baumwollindustrie zu etablieren - zunächst nur sehr zaghaft, wie die Importmengen von Rohbaumwolle zeigen, die sich im ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts auf nur 500 Tonnen pro Jahr beliefen, sich bis zur Jahrhundertmitte gerade einmal verdoppelten und auch im siebten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts bloß 2.400 Tonnen erreichten. Danach setzte ein rasches Wachstum ein, das die Baumwollindustrie in Verbindung mit der Mechanisierung der Baumwollspinnerei zu einem der Leitsektoren des Industrialisierungsprozesses werden ließ (Deane/Cole 1962:51, 54). Im Hinblick auf den Verlauf dieser erfolgreichen Importsubstitution ist es aufschlußreich, daß diese neue Industrie bereits seit der Mitte des 18. Jahrhunderts stark auf den Export nach Westafrika und in die Plantagenkolonien ausgerichtet war, wobei sich ihre Produkte auf dem westafrikanischen Markt zunächst vor allem gegen die indischen Konkurrenzprodukte bewähren mußten. In diesem Zusammenhang ist argumentiert worden, daß es insbesondere dieser Konkurrenzkampf war, der zu Produktivitätsfortschritten zwang und damit zur Mechanisierung des Produktionsprozesses in England wesentlich beitrug (Inikori 1992).
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An dieser Stelle ist es zunächst notwendig, die Rede von einer frühneuzeitlichen „europäischen Expansion" in Frage zu stellen. Nicht Europa als Ganzes expandierte, sondern einige europäische Staaten schufen sich Stützpunkte und Kolonien in Amerika, Afrika und Asien. Die politische Struktur Europas am Beginn der Neuzeit zeichnete sich durch ihre Zersplitterung in eine Vielzahl sich in einem Prozeß der Formierung befindlicher Staatswesen aus. Die Existenz dieses Systems miteinander um Territorien und Märkte konkurrierender Staaten hat den Verlauf der Expansion wesentlich geprägt, vielleicht diese überhaupt erst ermöglicht. In diesem Zusammenhang wird häufig auf China verwiesen, wo die zentralisierte Herrschaftsstruktur des Reiches die weit ausgreifenden maritimen Expeditionen des ersten Drittels des 15. Jahrhunderts unterband. Man kann sich daher im Anschluß an Immanuel Wallerstein, der der Existenz dieses Systems miteinander konkurrierender Territorialstaaten im Rahmen seiner Theorie eines sich von Europa über den Globus ausdehnenden modernen Weltsystems große Bedeutung zumißt, die Frage stellen, ob eine zu diesem Zeitpunkt in Europa existierende, einheitliche Reichsstruktur angesichts der Bedrohung durch das Osmanische Reich im Südosten des Subkontinents nicht die ersten Schritte der maritimen Expansion im Südwesten unterbunden hätte (Wallerstein 1974:60). Da es in der dezentralen politischen Struktur Europas keine mächtige Instanz gab, die die Portugiesen angesichts der Bedrohung daran hätte hindern können, ihre maritimen Erkundungsfahrten fortzusetzen, resultierte diese Situation in einer Blockade und einem über drei Jahrhunderte andauernden Kriegszustand im Osten, der die Ressourcen der darin involvierten Staaten verschlang, während die atlantischen Anrainerstaaten die Möglichkeiten, die sich in der westlichen Hemisphäre auftaten, zu nutzen verstanden (Mann 1986:508f). Diese Situation trug langfristig zu einer grundlegenden Verschiebung der wirtschaftlichen Hierarchien im Rahmen des Subkontinents bei. Die Verlagerung des wirtschaftlichen Zentrums Europas aus dem Mittelmeerraum nach Nordwesteuropa im Verlauf der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts ist spätestens seit dem Erscheinen der ersten Auflage von Fernand Braudels großem Werk über die mediterrane Welt in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts im Jahr 1949 zu einem Gemeinplatz des historischen Diskurses über die grundlegenden wirtschaftlichen Entwicklungslinien Europas in der Frühen Neuzeit geworden (Braudel 1990:11,282-423). Es kann hier nicht darum gehen,
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diesen Prozeß im Detail nachzuzeichnen, sondern es sollen lediglich einige Überlegungen darüber angestellt werden, wie diese Verlagerung von der Expansion der atlantischen Anrainerstaaten nach Amerika und Asien beeinflußt worden sein könnte. Die wirtschaftliche Grundstruktur des kontinentaleuropäischen Raumes war seit dem 13. Jahrhundert unter anderem durch die Existenz zweier relativ stark urbanisierter und wirtschaftlich entwickelter Zentralräume - Oberitalien im Süden und der Region Flandern-Brabant im Nordwesten - gekennzeichnet, die von Städten bzw. Stadtstaaten dominiert wurden, welche wiederum tendenziell die wirtschaftlichen Austauschprozesse einerseits im Mittelmeerraum, andererseits im Ostseeraum und dem Baltikum, beherrschten. Diese beiden Zentren kommunizierten über eine Kontinentalachse miteinander, deren wichtigstes Verbindungsglied im 13. Jahrhundert die Messen der Champagne darstellten. Nachdem sich die wirtschaftliche Kommunikation zwischen ihnen im Verlauf der wirtschaftlichen Kontraktion des 14. Jahrhunderts auf den Seeweg durch die Straße von Gibraltar und entlang der Atlantikküste verlagert hatte, verschob sich seit der Mitte des 15. Jahrhunderts im Zuge eines neuerlich einsetzenden wirtschaftlichen Aufschwungs diese Kontinentalachse sukzessive nach Osten und verlief nun entlang des Rheins sowie durch den oberdeutschen Raum und über die Alpenpässe nach Süden (Brulez 1959; ders. 1962; Van der Wee 1990). Auf halbem Weg zwischen den beiden Endpunkten dieser Achse - Venedig und Antwerpen - lagen die in dieser Phase wirtschaftlich höchst dynamischen oberdeutschen Reichsstädte Nürnberg, Augsburg und Frankfurt, die von ihrer Mittlerstellung zwischen den Zentralräumen profitierten. Während Frankfurt vor allem als Messeplatz fungierte, der bis zur Einwanderung aus Antwerpen geflüchteter Kaufleute ab den sechziger Jahren des 16. Jahrhunderts keine kapitalkräftige einheimische Kaufmannschaft beheimatete, begannen die Augsburger und Nürnberger Kaufleute die wirtschaftlichen Chancen, die der ostmitteleuropäische Raum ihnen bot, zusehends zu ihren Gunsten zu nutzen. Die Expansion der Portugiesen entlang der westafrikanischen Küste und die Eröffnung eines Seeweges in den Indischen Ozean hat den wirtschaftlichen Austausch entlang dieser Kontinentalachse insofern beeinflußt, als sich im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts der wichtigste Stapelplatz für Gewürze von Venedig nach Antwerpen verlagerte, wo die portugiesische Krone 1501 eine Faktorei für deren Vertrieb eröffnete. Die Nürnberger und Augsburger Kaufleute belieferten in der Folge den Antwerpener Markt mit Bunt- und Edelmetallen aus dem Alpen-,
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Sudeten- und Karpatenraum, deren Abbau und Verarbeitung sie weitgehend beherrschten. Neben Silber fanden insbesondere Kupfer und Kupferwaren in Antwerpen einen aufnahmefähigen Markt, zumal die Portugiesen diese Güter für ihren Handel an der westafrikanischen Küste benötigten (Strieder 1938:155-167; Van der Wee 1963:11). Aus dieser zeitweiligen Verlagerung des Zentrums des Gewürzhandels nach Antwerpen darf nicht vorschnell ein Niedergang des Mittelmeerhandels abgeleitet werden. Auch wenn Venedig seine Monopolstellung in diesem Handelszweig, die die Stadt im 15. Jahrhundert innegehabt hatte, im 16. Jahrhundert nicht wieder erreichte, so lief dies nicht automatisch auf einen wirtschaftlichen Bedeutungsverlust des oberitalienischen Zentralraumes hinaus. Venedig, die Städte der Terra ferma und der Lombardei, besaßen eine das ganze 16. Jahrhundert hindurch expandierende Tuch- und Seidenindustrie, die auf den Export der Erzeugnisse in die Levante im Tausch gegen Gewürze, Baumwolle und Orientwaren, oder in die Regionen nördlich und östlich der Alpen ausgerichtet war (Sella 1968; Aymard 1991:50-85). Ebensowenig läßt sich aus dem Zustrom amerikanischen Silbers und dem damit verbundenen Zusammenbruch des mitteleuropäischen Edelmetallbergbaus ein wirtschaftlicher Niedergang der süddeutschen Reichsstädte ableiten. Auch wenn insbesondere die großen Augsburger Firmen einen ihrer ökonomischen Trümpfe verloren, stellte dies keineswegs eine umfassende wirtschaftliche Katastrophe dar. Die umfangreiche, auf den Import von levantinischer Baumwolle über Venedig basierende Augsburger Barchentproduktion entwickelte sich bis zum Beginn des Dreißigjährigen Krieges in nahezu perfekter Synchronie mit der Tuchproduktion in Venedig und erreichte an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert ihren Höhepunkt (Hildebrandt 1993). Nürnberg beherrschte auch weiterhin den mitteleuropäischen Handel mit Buntmetallen und Metallwaren, verstand es, nach dem Beginn des Aufstandes der Niederlande gegen die spanische Herrschaft, der dadurch ausgelösten Diaspora der Antwerpener Kaufmannschaft und der Verlagerung des englischen Tuchstapels nach Stade, Emden und schließlich Hamburg, eine Endfertigung für englische Tuchwaren aufzubauen, die die Stellung der Stadt als Verteilungszentrum dieser wichtigen Handelsprodukte für den ostmitteleuropäischen Markt erheblich stärkte (Baumann 1990). Weiters nahmen einige Nürnberger Firmen seit der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert eine beherrschende Stellung in der Leinwandproduktion Schlesiens, Nordböhmens und der Lausitz ein. Der Vertrieb dieser Leinwand erfolgte bis in die zwanziger Jahre des 17. Jahrhunderts über Venedig, von wo sie in den
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östlichen Mittelmeerraum gelangte, und über Genua, von wo sie zu einem nicht unerheblichen Teil nach Spanien und weiter in die spanischen Kolonien verkauft wurde, sowie über Antwerpen, später Hamburg, nach England (Aubin/Kunze 1940; Beutin 1931). Der Niedergang Antwerpens im Zuge des Aufstandes der Niederlande hatte zwar zu einer Verschiebung und zeitweiligen Dezentralisierung des nordwestlichen Endpunktes der Kontinentalachse geführt, aber zumindest in Hamburg, das neben Amsterdam am stärksten von dieser Verschiebung profitierte, gelang es den Nürnberger Kaufleuten noch, Fuß zu fassen (Kellenbenz 1954; Peters 1994:49ff). Schwer beeinträchtigt wurde das oberdeutsche Handelsnetz erst durch den Beginn des Dreißigjährigen Krieges, der in den dreißiger Jahren des 17. Jahrhunderts auch einen spektakulären demographischen und wirtschaftlichen Zusammenbruch der beiden Handelsmetropolen Augsburg und Nürnberg nach sich zog (Roeck 1989:11, 769ff; Bauernfeind 1993:276ff). Noch bevor der lange Krieg in Mitteleuropa den oberdeutschen Handels* und Produktionszentren einen schweren Schlag versetzte, begann sich im südlichen Zentralraum der Kontinentalachse eine Entwicklung abzuzeichnen, die kürzlich treffend als „Ende der (italienischen) Vormachtstellung (in Europa)" beschrieben wurde (Malanima 1998), und die im Verlauf der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts zu einem erheblichen Bedeutungsverlust dieses alten Zentrums des europäischen Wirtschaftsraumes führte. Zwischen 1570 und 1630 erlebte die in den Städten des ober- und mittelitalienischen Raumes beheimatete und auf den Export ausgerichtete Wolltuchindustrie, zum Teil auch die Seidenverarbeitung, einen spektakulären Niedergang. Während um 1570 400.000500.000 Menschen bzw. 40 bis 50 Prozent der Bevölkerung der Städte mit mehr als 10.000 Einwohnern ihr Einkommen aus diesen beiden Produktionszweigen bezogen, waren es zur Mitte des 17. Jahrhunderts nur mehr 20.000 bis 30.000 Menschen (Malanima 1999:49, 64). Parallel zu diesem Desaster des Gewerbesektors ging die Vormachtstellung der ober- und mittelitalienischen Kaufleute im mediterranen und kontinentaleuropäischen Handel und Finanzwesen an ihre nordwesteuropäischen Konkurrenten verloren. Seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert verlagerte sich einer der Schwerpunkte der Aktivität des oberitalienischen Kaufmannskapitals zunehmend in den südostmitteleuropäischen Raum, der im 17. Jahrhundert geradezu ein italienisches Zeitalter erlebte, das nicht zuletzt im Bereich der bildenden Künste (Barock) bleibende Spuren hinterlassen hat (Braudel 1999:195ff). Die Ursachen dieses relativen Bedeutungsverlustes der ober- und mittelitalienischen Städte, ihrer Kaufleute und Unternehmer, sind kom-
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plex und kaum in Kürze zu beschreiben. Offfenbar hatte diese wirtschaftlich hoch entwickelte Region am Ende des 16. Jahrhunderts ihren Ressourcenspielraum voll ausgeschöpft, und es begann sich im Agrarsektor eine Wachstumsgrenze abzuzeichnen, die im Rahmen der vorhandenen Technologien und Produktionsverhältnisse nicht überwindbar war. Die schwere Versorgungskrise im Zuge der Mißemtenperiode von 1587 bis 1593 und die Seuchenzüge der Jahre 1630/31, die vor allem in den größeren Städten zu großen Bevölkerungsverlusten führten, weisen darauf hin. Im letzten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts war das Mittelmeer von einer Vielzahl holländischer, englischer und hanseatischer Schiffe befahren, die polnisches Getreide nach Livorno, Venedig und Genua brachten. Allerdings beschränkten sich die Nordländer sehr schnell nicht nur auf die Getreidefrachten, die großteils noch von italienischen Kaufleuten organisiert und finanziert wurden, sondern begannen in die vitalen Handelssektoren der Italiener im Mittelmeerraum einzudringen. Gestützt auf schiffahrtstechnische Überlegenheit, bessere Bewaffnung, niedrigere Frachtkosten und amerikanisches Silber, das nach dem Friedensschluß zwischen Spanien und England (1604) und dem Waffenstillstand mit den Vereinigten Provinzen der nördlichen Niederlande (1609) wieder reichlicher in ihre Kassen floß, überrollten sie an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert die Positionen der Venezianer in der Levante und verdrängten die venezianische und genuesische Handelsflotte aus ihrem angestammten Aktionsraum. Englische und französische Textilien, oft billigere Imitate italienischer Tuche, machten letzteren den Markt im Osmanischen Reich streitig. Im Gegenzug wurden Baumwolle, Seide, Zucker und Rosinen nicht mehr über die italienischen Häfen entlang der alten Kontinentalachse nach Mittel- und Nordeuropa verhandelt, sondern kamen über London und Amsterdam dorthin, während die Erfolge der englischen und niederländischen Ostindienkompanien das Ende des mediterranen Gewürzhandels herbeiführten. Auch die Venezianer mußten nun ihre Gewürze in Amsterdam oder Frankfurt kaufen (Braudel 2/1990:11, 282-423; Kellenbenz 1991; Rapp 1975; Sella 1994). Im 16. Jahrhundert gelang es noch einzelnen oberdeutschen und einer größeren Zahl oberitalienischer Kaufleute, allen voran Genuesen und Augsburger, durch entsprechende Investitionen an den portugiesischen Indienfahrten und an Unternehmungen im kolonialen Herrschaftsbereich Spaniens teilzunehmen (Verlinden 1972; Walter 1992; Otte 1986). Ob dies im Verein mit der Rolle, die sie, vermittelt über das Geschäft mit asientos und juros, in den spanischen Staatsfinanzen spiel-
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ten, es rechtfertigt, von einem „Zeitalter der Fugger" oder „der Genuesen" zu sprechen, sei dahingestellt (Ehrenberg 1896; Braudel 3/1985-86:147185; Kellenbenz 1979). Die eben skizzierten Verschiebungen in der Hierarchie der europäischen Wirtschaftszonen wurden von der iberischen Expansion nach Amerika und Asien jedenfalls unmittelbar nur durch die wechselhafte Geschichte des Gewürzhandels im 16. Jahrhundert und die Konsequenzen der Silberimporte aus Amerika für den mitteleuropäischen Edelmetallbergbau sowie allenfalls noch durch die Erweiterung des Marktes für einzelne Exportgüter beeinflußt, während der Handel zwischen Süd- und Nord-, West- und Osteuropa denjenigen der Portugiesen und Spanier mit ihren amerikanischen Territorien noch weit in den Schatten stellte (Pach 1990). Der Aufstieg der Vereinigten Provinzen der nördlichen Niederlande zur Hegemonie im innereuropäischen Handel am Beginn des 17. Jahrhunderts hing hingegen eng mit den Erfolgen der niederländischen Kaufleute und Handelskompanien in Asien, der Karibik, Brasilien und Westafrika zusammen. Spätestens nach dem Waffenstillstand zwischen Spanien und der Föderation der aufständischen niederländischen Provinzen 1609 war es offenkundig geworden, daß das wirtschaftliche Zentrum Europas im Hinblick auf die Kontrolle der wesentlichen Handels- und Finanzbeziehungen nicht mehr in Oberitalien, sondern in den gerade erst von der spanischen Oberherrschaft befreiten Niederlanden lag, und das große Emporium des innereuropäischen und des über Europa hinausreichenden Handels der Europäer nun Amsterdam hieß. Während bislang die europäische wirtschaftliche Hierarchie eine polizentrische, von mehreren Städten und Stadtstaaten dominierte Struktur aufgewiesen hatte, begann nun ein hinsichtlich seiner Konstitution neuartiger Staat, eine Föderation von Provinzen, die von den Kaufmannsoligarchien der großen Städte beherrscht wurde, den Handel mit Massengütern und Luxuswaren an sich zu ziehen (Israel 1989:12120). So gesehen stellen die Niederlande im 17. Jahrhundert das strukturelle und chronologische Verbindungsglied zwischen dem für das europäische Spätmittelalter charakteristischen, von Städten und städtischen Netzwerken getragenen wirtschaftlichen Austauschsystem und den imperialen, auf eine merkantilistische Handelspolitik ausgerichteten Territorialstaaten des 18. Jahrhunderts dar. Es gelang den Niederlanden zwar, die militärischen und finanziellen Nachteile der Städte gegenüber den aggressiven, auf territoriale und wirtschaftliche Expansion ausgerichteten Monarchien, die im Verlauf des 15. und 16. Jahrhunderts immer deutlicher zu Tage trat, durch eine föderative Verfas-
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sung und innovative, das Kapital einer großen Zahl von Kaufleuten bündelnde Institutionen zu überwinden. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurden jedoch ihre militärischen und ökonomischen Nachteile im Verhältnis zu den großen Territorialstaaten Westeuropas zunehmend deutlicher (Omrod 1998; Taylor 1995). Aufgrund ihrer geringen territorialen Ausdehnung und der daraus resultierenden Beschränktheit ihres Inlandsmarktes - trotz des im Europa des 17. Jahrhunderts einzigartig hohen Lebensstandards breiter Bevölkerungsschichten - hing der wirtschaftliche Lebensnerv der Vereinigten Provinzen davon ab, daß ihre Kaufleute, Reeder und Handelskompanien nicht durch gewaltsame Maßnahmen von ihren Import- und Exportmärkten ausgesperrt wurden bzw. es ihnen gelang, solche Barrieren zu überwinden. Man darf dabei auch nicht übersehen, daß die Niederlande im 17. Jahrhundert nicht nur eine Handelsmacht, sondern auch ein industrielles Zentrum ersten Ranges waren. Ihre Textil-, Papier- und Keramikindustrie, der Schiffbau, das Brauereiwesen, die Zuckerraffinerie und die Tabakverarbeitung waren angesichts von lediglich zwei Millionen Einwohnern ganz wesentlich auf den Export ihrer Produkte angewiesen. Die niederländische Freihandelsideologie und -politik war daher eine logische Konsequenz ihrer Position im Rahmen der europäischen und der Weltwirtschaft. Die britischen navigation acts von 1651, die gegen die niederländische Überlegenheit im Seefrachtverkehr gerichtet waren, die merkantilistische Zollpolitik Englands und Frankreichs in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und die wirtschaftliche Autarkiepolitik der anderen kontinentaleuropäischen Staaten seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts zeigten jedoch die Grenzen der niederländischen Hegemonialstellung im europäischen Rahmen auf. Der Verlust der nordamerikanischen Stützpunkte an England und die Niederlage gegen Portugal in Brasilien Mitte des 17. Jahrhunderts sowie Schwierigkeiten, einen eigenen substantiellen Plantagenkomplex im karibischen Raum aufzubauen, untergruben ihre Position im Konkurrenzkampf der europäischen Mächte im atlantischen Wirtschaftsraum. Weder die innereuropäischen noch die atlantischen Märkte waren in der Frühen Neuzeit Konkurrenzmärkte, in denen es vor allem auf das freie Spiel der wirtschaftlichen Kräfte und auf Kostenvorteile angekommen wäre, noch zeichneten sie sich durch einen hohen Grad von wirtschaftlicher Komplementarität aus. Viel entscheidender für die Stellung der einzelnen Staaten war das militärische Kräfteverhältnis zwischen ihnen und ihre Fähigkeit, durch Protektionismus und offene Gewalt die Absatz- und Versorgungsmärkte innerhalb und außerhalb
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des eigenen Territoriums zu erobern und zu monopolisieren. Im Asienhandel, wo es bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts weniger auf die Militärmacht als auf die Fähigkeit ankam, sich in die Handelsbeziehungen im Indischen Ozean und in der südostasiatischen Inselwelt einzuschalten, konnte die mächtige VOC ihre Vormachtstellung hingegen bis ins erste Drittel des 18. Jahrhunderts hinein bewahren (Emmer 1998; Israel 1989:292-399; Verley 1997:403-426; Wallerstein 1998:37-146). Im Verlauf der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts mußten die Vereinigten Provinzen schließlich der militärischen, fiskalischen und wirtschaftlichen Übermacht Englands sowohl im innereuropäischen Rahmen als auch in den von europäischen Mächten beherrschten Sektoren der Weltwirtschaft weichen. Parallel zum Aufstieg Englands zur wirtschaftlichen und politischen Weltmacht im Verlauf des 18. Jahrhunderts kam es zu weitreichenden Veränderungen der wirtschaftlichen Verhältnisse zunächst in England selbst, bald aber auch in weiten Teilen des übrigen West- und Mitteleuropa, die gemeinhin unter dem Begriff der Industriellen Revolution zusammengefaßt werden. Es stellt sich daher unweigerlich die Frage, ob und in welcher Weise diese beiden Phänomene miteinander verknüpft waren.
ENDOGENE
UND
EXOGENE
BEDINGUNGEN
INDUSTRIELLEN
DER
ERSTEN
REVOLUTION
Vorausgesetzt, man ist von ihrer Existenz im Sinne eines chronologisch und strukturell klar identifizierbaren Prozesses überzeugt, was heute nicht mehr so selbstverständlich ist wie noch vor zehn Jahren (De Vries 1994b), lassen sich ganz unterschiedliche Geschichten über die Industrielle Revolution erzählen. Eine Möglichkeit, diese vielen Geschichten zu kategorisieren, besteht darin, sie im Hinblick auf das Gewicht, das sie den endogenen, aus der Struktur und Dynamik der jeweiligen Volkswirtschaft resultierenden Faktoren, oder den exogenen, mit ihrer Stellung im Rahmen der Weltwirtschaft verknüpften Voraussetzungen beimessen, zu unterscheiden. Hören wir zunächst David Landes, den Autor einer der jüngsten Meistererzählungen über das „Wunder Europa" bzw. den „Aufstieg des Westens" zur weltweiten wirtschaftlichen Hegemonie (Landes 1998:186-230). Für Landes basiert die neue Produktionsweise auf einer Reihe grundlegender wirtschaftlicher Substitutionsprozesse, in deren Verlauf menschliche Arbeit durch Maschinen und lebende durch unbelebte Energiequellen ersetzt wurden, sowie einem stark expandierenden Angebot mineralischer oder synthetisch hergestellter Rohstoffe, die in wesentlich grö-
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ßerem Umfang vorhanden bzw. produziert werden konnten, als pflanzliche oder von Tieren stammende Materialien. Diese Substitutionsprozesse hatten wiederum technische Innovationen zur Voraussetzung und wurden von institutionellen Veränderungen begleitet, deren Kernstück das Fabrikswesen war. Die Frage, warum diese revolutionäre Veränderung des Produktionsprozesses sich zuerst in England ereignete, beantwortet Landes mit dem Verweis auf das Vorhandensein von spezifischen, „nichtmateriellen Werten (Kultur) und Institutionen", durch die sich die englische Gesellschaft seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ausgezeichnet habe, deren Wurzeln aber weit in die Geschichte zurückreichen und sie zur „idealen Wachstums- und Entwicklungsgesellschaft" machten. Dazu zählen für ihn im Hinblick auf kulturelle Werte unter anderem der Wille und die Fähigkeit zu technischen Innovationen und zur Weitergabe von Wissen sowie ein Entlohnungssystem, das Leistung honoriert. Im Rahmen der gesellschaftlichen Institutionen hebt er das Privateigentum, die persönliche Freiheit, die Vertragssicherheit und eine „ehrliche, bescheidene und aufmerksame Regierung" hervor. Landes behauptet im Rahmen dieser Argumentation nicht nur, daß allen außereuropäischen Gesellschaften oder Kulturen dieses Ensemble von Werten und Institutionen aufgrund ihrer je eigenen Geschichte gefehlt hätte, sondern geht auch davon aus, daß die Beziehungen der first industriell nation zu diesen für die Industrielle Revolution kaum eine Rolle gespielt haben. Lediglich in einem Nebensatz erwähnt er, daß die Waren, die in den englischen Fabriken in immer größeren Mengen produziert wurden, auch auf den Plantagen und in den Kolonien außerhalb Europas abgesetzt wurden, mißt diesen aber im Vergleich zum britischen Binnenmarkt wenig Bedeutung bei (ebd.:222). Ganz anders argumentiert der aus Nigeria stammende Historiker Joseph E. Inikori im Hinblick auf die Voraussetzungen wirtschaftlichen Wachstums durch Industrialisierung (Inikori 1987). Er geht vom Modell einer Agrargesellschaft aus, deren Wirtschaft hauptsächlich auf Subsistenzproduktion beruht. Innerhalb einer solchen Ökonomie resultiert wirtschaftliches Wachstum in der Regel aus einer Zunahme der Bevölkerung, vermehrter Arbeitsteilung, begleitet von sozialer Differenzierung und einer Ausweitung des Marktsektors. Besteht keine Möglichkeit, einen Teil des Produktionszuwachses über die territorialen Grenzen einer solchen Gesellschaft hinweg zu exportieren, erreicht das Bevölkerungswachstum früher oder später ein Niveau, auf dem die gesellschaftlichen Institutionen zur Aufrechterhaltung des prekären Gleichgewichts zwischen Bevölkerungszahl und wirtschaftlichen
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Ressourcen ein weiteres Wachstum zu blockieren drohen. Der Außenhandel ermöglicht dagegen eine über diesen Gleichgewichtszustand hinausgehende Arbeitsteilung, damit auch die Ausweitung des gewerblich-industriellen Sektors, und führt zu steigenden Einkommen der darin partizipierenden sozialen Gruppen. Das Tempo des dadurch in Gang gesetzten wirtschaftlichen Transformationsprozesses hängt im wesentlichen von der Größe und der Aufnahmefähigkeit des Exportmarktes ab, die wiederum von der Fähigkeit des staatlich-militärischen Komplexes, Zutrittsbarrieren abzubauen und neue Märkte zu erschließen, mitbedingt wird. England mit seiner seit dem Spätmittelalter stark auf den Exportmarkt ausgerichteten Wolltuchproduktion und mit Regierungen, die den Exportsektor förderten, erfüllt für Inikori diese Bedingungen. Im Verlauf der kolonialen Expansion seit dem beginnenden 17. Jahrhundert wurde die externe Arena nicht nur über Europa hinaus erweitert, sondern der Außenhandel verschaffte der englischen Wirtschaft auch Rohstoffe und Konsumgüter, die im Inland weiterverarbeitet oder mit Gewinn reexportiert werden konnten. Da der innereuropäische Markt aufgrund der im 17. und 18. Jahrhundert sich verstärkenden Tendenzen zu wirtschaftlicher Autarkiepolitik und die geringe Komplementarität der einzelnen Volkswirtschaften eine solche Expansion der auf den Export ausgerichteten Wirtschaftszweige nicht ermöglicht habe, hätte die englische Wirtschaft über kurz oder lang ein ähnliches Schicksal ereilt wie die mediterranen Ökonomien am Beginn des 17. Jahrhunderts. Dagegen bot der expandierende atlantische Wirtschaftsraum nicht zuletzt aufgrund der vollkommenen Abhängigkeit des Plantagenkomplexes vom Import von Produktionsmitteln, Nahrungsmitteln und Gebrauchsgütern und dem Export der in seinem Rahmen produzierten Genußmittel und Rohstoffe Absatzmöglichkeiten für Industriegüter, eine Rohstoffbasis für den Aufbau neuer bzw. das Wachstum bestehender Produktionszweige sowie Konsumgüter für den Inlandsmarkt und den Reexport in diejenigen europäischen Staaten, die keine Kolonien besaßen. Einer der wesentlichen Unterschiede zwischen der Version der Geschichte, die David Landes erzählt, und der Argumentation Inikoris besteht darin, daß Inikori annimmt, daß es in einer vorindustriellen bzw. vorkapitalistischen Wirtschaft ungenutzte Ressourcen und Produktionsfaktoren gibt, die nur durch Absatzmöglichkeiten auf auswärtigen Märkten mobilisiert werden können, während Landes - implizit - davon ausgeht, daß alternative Nutzungsmöglichkeiten für die im Exportsektor eingesetzten Ressourcen und Produktionsfaktoren existieren. Wenn es diese Alternativen gibt, also alle Mittel, die für die Exportproduktion
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aufgewendet werden, auch für den Inlandsmarkt genutzt werden könnten, dann sind die Wachstumschancen, die der Außenhandel eröffnet, wesentlich geringer einzuschätzen, da dadurch zwangsläufig anderen Produktionszweigen Ressourcen, Arbeit und Kapital entzogen werden (Engerman 1990:212-216). Letztere Annahme liegt den „Was wäre gewesen, wenn ..."-Argumentationen oder, anders gesagt, den kontrafaktischen Versionen über mögliche alternative Entwicklungsverläufe zugrunde. Hätte es einen Unterschied gemacht, wenn ein spezifisches Angebot von oder eine Nachfrage nach bestimmten Gütern nicht existiert hätte, und wie bedeutsam wäre dieser Unterschied gewesen? Zur Beantwortung dieser Frage versucht man die mögliche Differenz in der Regel zu messen, etwa derart, daß der Anteil des Exports am Output einzelner Produktionszweige, das Verhältnis des Wertes der Exporte zum gesamten Wirtschaftsprodukt, die Einkommenszuwächse oder die Kapitalakkumulation, die aus der Produktion von Exportgütern und dem Handel mit ihnen resultieren, geschätzt wird. England bzw. Großbritannien ist der einzige europäische Staat, für den Außenhandelsstatistiken seit der Mitte des 17. Jahrhunderts erstellt werden können. Diese Daten belegen einerseits einen zwar nicht linear wachsenden, aber im Verlauf des 18. Jahrhunderts sich fast verdoppelnden Anteil der Exporte am Bruttoinlandsprodukt, andererseits eine beträchtliche relative Zunahme der Exporte in die amerikanischen Kolonien, während der Anteil des innereuropäischen Marktes sich gleichzeitig halbierte. Im Hinblick auf die englischen Importe ist das Bild ganz ähnlich. Lediglich beim englischen Reexport von Kolonialwaren blieb der kontinentaleuropäische Markt das ganze 18. Jahrhundert hindurch dominant, wobei der Anteil der Reexporte am Außenhandel seit der Mitte des 17. Jahrhunderts, parallel zur Eroberung oder dem Erwerb von Territorien im karibischen Raum, ständig anstieg. Es kam also zu einer regelrechten Amerikanisierung des englischen Außenhandels, was im übrigen auch auf Frankreich zutrifft. Die Loslösung der nordamerikanischen Kolonien vom Mutterland hat an diesem Bild nichts wesentliches verändert, wenn auch der Sezessionskrieg die englische Wirtschaft kurzfristig heftig erschütterte (Deane 1979:53-71; O'Brian/Engerman 1991:187f; Verley 1997: 426469). Betrachtet man die sektorale Gliederung des Außenhandels, so fällt auf, daß England im 18. Jahrhundert vor allem Lebensmittel und Rohstoffe importierte und der Anteil der Gewerbeprodukte an den Importgütern das ganze 18. Jahrhundert hindurch abnahm, während die Exporte sich zu vier Fünftel aus Gewerbeprodukten zusammensetzten und die Reexporte hauptsächlich auf den klassischen Koloni-
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alwaren Tabak, Zucker, Kaffee und zunehmend auch auf aus China importiertem Tee basierten. Obwohl das aus diesen Daten resultierende Bild eindeutig die im Verlauf des 18. Jahrhunderts zunehmend ins Gewicht fallende Rolle des Außenhandels und in dessen Rahmen wiederum des atlantischen Wirtschaftsraumes für die englische Wirtschaft zu belegen scheinen, gibt es eine ganze Reihe von Autoren, die dessen Bedeutung für das Wachstum der englischen Wirtschaft und die beginnende Industrialisierung bezweifeln. Ganz offensichtlich ist die Rolle, die man dem Außenhandel und den Kolonien für die englische Wirtschaftsentwicklung zumißt, abhängig vom angewendeten Maßstab. Zieht man das ohnehin nur schätzbare Gesamtprodukt der englischen Wirtschaft als Meßlatte heran, dann war die Bedeutung der Exporte wie auch diejenige fast aller Wirtschaftssektoren einschließlich der „heiligen Kuh" der Geschichte der ersten Industriellen Revolution, der Baumwollverarbeitung, bis weit ins 19. Jahrhundert hinein gering bis vernachlässigbar. So belief sich der Anteil der Exporte am Bruttoinlandsprodukt im 18. Jahrhundert auf 6-12 Prozent, nach inzwischen nach unten revidierten Schätzungen des Wachstums der englischen Wirtschaft auf 816 Prozent (Bairoch 1973; O'Brian/Engerman 1991:187). Da diese Relationen eine relativ geringe Ausrichtung der englischen Wirtschaft auf den Außenhandel zu belegen scheinen, kann man zum Schluß kommen, daß „der Anteil der Peripherie am Wachstum des Zentrums peripher war" (O'Brian 1982:18). Allerdings drängt sich dabei die Frage auf, ob das Bruttoinlandsprodukt ein guter Maßstab ist. Einerseits wird bei solchen Schätzung das Produkt ganz heterogener wirtschaftlicher Aktivitäten aggregiert, andererseits war auch England im 18. Jahrhundert in beträchtlichem Ausmaß noch ein Agrarland, in dem der Subsistenzsektor, dessen Produktion gar nicht zur Disposition stand, noch ein nicht unwesentliches Gewicht hatte (Verley 1997:401f). Darüber hinaus besteht die Problematik solcher Schätzungen darin, daß, wenn man nur ein wenig an der einen oder anderen Variablen dreht, die Rechnung zu oft erheblich abweichenden Ergebnissen führt, wie einerseits die jüngsten Revisionen der Wachstumsindikatoren während der Industriellen Revolution in England belegen und wie dies auch im Hinblick auf die Profite des Sklavenhandels bereits demonstriert wurde (Crafts 1987; Darity 1985). Mißt man den Anteil der Exporte an der Industrieproduktion, verschieben sich die Relationen ganz erheblich. Demnach wurden am Beginn des 18. Jahrhunderts ca. 25 Prozent des Gesamtwertes der englischen Industrieproduktion exportiert, am Ende des 18. Jahrhunderts bereits 35 Prozent (O'Brian/En-
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german 1991:187). In einzelnen Industriesektoren scheint die Abhängigkeit von Exportmärkten noch wesentlich größer gewesen zu sein. Für die Zeit um 1760 wird der Anteil des Exports an der Wolltuchproduktion auf 40 bis 45 Prozent, der der - gerade erst in Schwung kommenden - Baumwollstofferzeugung auf 33 Prozent geschätzt, bis an den Beginn des 19. Jahrhunderts stieg letzterer bei rasch wachsenden Produktionsziffern auf 66 Prozent an (Crouzet 1980:86). Wie wäre die Entwicklung verlaufen, wenn die englische Wirtschaft im 18. Jahrhundert ausschließlich auf den Inlandsmarkt angewiesen gewesen wäre? Ist es vorstellbar, daß die auswärtige Nachfrage nach Industrieprodukten bzw. das Angebot an Rohstoffen und Konsumgütern für den Inlandskonsum und den profitablen Reexporthandel durch Inlandsnachfrage bzw. -angebot ersetzbar gewesen wäre? Wären Zukker, Tabak, Kaffee, Baumwolle von den amerikanischen Plantagen sowie Holz, Teer, Hanf aus dem Baltikum, Roheisen und Kupfer aus Schweden tatsächlich durch eine Umschichtung von Produktionsfaktoren substituierbar gewesen? Hätten tatsächlich die 40 bis 50 Prozent der nicht mehr in der Landwirtschaft tätigen Bevölkerung, die ihr Einkommen aus den Exporterlösen bezog, ohne erhebliche Produktivitätsverluste in anderen Sektoren Beschäftigung finden können? Hätte die Inlandsnachfrage diejenige der mit militärischer Macht behüteten Exportmärkte ersetzen können? Daran kann man zurecht zweifeln (O'Brian/Engerman 1991:200-203, contra Thomas/McClosky 1981). Der amerikanische Historiker Kenneth Pomeranz kam jüngst in einer großangelegten vergleichenden Untersuchung der sozioökonomischen Verhältnisse Chinas, Japans und Westeuropas in der Frühen Neuzeit zum Schluß, daß weder im Hinblick auf die technologische Entwicklung noch die Konstitution und Bedeutung von Marktstrukturen, institutionellen Regelungen und Werthaltungen - Merkmale, die laut David Landes in Westeuropa und besonders in England, und nur hier, aufgrund einer lang andauernden historischen Entwicklung existiert haben sollen - noch die Ausbildung protoindustrieller Produktionsverhältnisse und auch nicht hinsichtlich bestimmter demographischer Reproduktionsformen (European marriage pattern) grundlegende Unterschiede bestanden hätten, die für sich allein erklären könnten, warum gerade in Westeuropa der Durchbruch zu industriellem Wachstum möglich war. Alle drei Zentralräume sahen sich seiner Ansicht nach im 18. Jahrhundert mit ganz ähnlichen, fundamentalen ökologischen Engpässen bezüglich der Nahrungsmittel- und Rohstoffversorgung konfrontiert. Einen signifikanten Unterschied sieht er lediglich im Hinblick auf die Chance einiger westeuro-
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päischer Staaten, durch Eroberung, Kolonialismus, staatlich privilegierte Handelsunternehmungen und Sklaverei transatlantische Beziehungen aufzubauen, die den Zustrom notwendiger Ressourcen nach Westeuropa in einer Art und einem Ausmaß ermöglichten, wie dies durch konsensuale Handelsbeziehungen in den Regionen der Alten Welt nicht möglich war (Pomeranz 2000:24f). Pomeranz geht davon aus, daß es 500.000-700.000 Hektar zusätzlichen Landes bedurft hätte, um die gleiche Kalorienmenge im Rahmen des englischen Agrarsystems zu erzeugen, die durch den Zuckerimport von den karibischen Sklavenplantagen um 1800 nach Großbritannien gelangten. Hätte man die 1815 importierten 45.000 Tonnen Baumwolle durch Flachs oder Wolle ersetzen müssen, hätte dies 81.000 Hektar zusätzliches Ackerland oder 3,6 Millionen Hektar Weideland erfordert (ebd.:274-278). Während in den asiatischen Zentralräumen der Weg der Intensivierung der Landnutzung durch erhöhten Arbeitseinsatz bei sinkender Arbeitsproduktivität zur Hintanhaltung der ökologischen Engpässe beschritten werden mußte, schufen sich einige europäische Staaten eine transatlantische Peripherie, um ganz ähnliche Probleme zu lösen - mit weitreichenden Folgen.
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LIBERALE
WIRTSCHAFTSPOLITIK
INTEGRATION
IN DEN
UND
WELTHANDEL
M e x i k o im 19. J a h r h u n d e r t
WALTHER
L.
BERNECKER
Das 19. Jahrhundert läßt sich für Lateinamerika - im Hinblick auf die Beziehung des Subkontinents zu den „entwickelteren" Nordatlantikstaaten - als eine Periode zwischen „altem" und „neuem" Imperialismus bezeichnen. Denn: Zu Beginn des Jahrhunderts konnte Lateinamerika zwar die spanisch-portugiesische Kolonialherrschaft abschütteln und politisch unabhängig werden; gegen Ende des Jahrhunderts aber war der Subkontinent in eine neue, diesmal primär wirtschaftliche Abhängigkeit geraten. In diesem „europäischen Jahrhundert" erlebten die lateinamerikanischen Staaten das zunehmende Vordringen der neueren imperialistischen Mächte Europas, vor allem Großbritanniens, etwas später und in modifizierter Form auch Frankreichs und Deutschlands, in das durch den erzwungenen Rückzug Spaniens hervorgerufene Vakuum; gegen Ende des Jahrhunderts wurden die europäischen Mächte immer deutlicher von den USA als dem dominanten Partner in den lateinamerikanischen Außen- und Außenwirtschaftsbeziehungen abgelöst. Die Auflösung der politischen Bindung an die spanische Metropole änderte vor allem die Art der Eingliederung der ökonomischen Strukturen Lateinamerikas in das internationale Wirtschaftssystem, in dem der Subkontinent als „Peripherie" der am weitesten entwickelten Länder Europas fungierte. Die Unabhängigkeit bedeutete primär die Ausschaltung Spaniens als offizielles Vermittlungsglied der Handelsströme. Die neue Eingliederung der wirtschaftlichen Strukturen erfolgte sodann im Rahmen des sich über die gesamte Erde ausbreitenden internationalen Handelskapitalismus.
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ZUR
Wirtschaftspolitik
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KONTROVERSE
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„UNTERENTWICKLUNG"
Die entwicklungstheoretische und -politische Diskussion der letzten Jahrzehnte ist, unter Einbeziehung der historischen Perspektive, immer wieder auf die für die Wirtschaftsentwicklung „rückständiger" oder „unterentwickelter" Länder zentrale Frage nach den Beziehungen zwischen „Entwicklungsland" und Weltwirtschaft zurückgekehrt. Dabei lautet eine gängige Annahme in der Historiographie, daß europäisches Kapital und europäische Wirtschaftsinteressen vor allem nach den liberalen Reformen in vielen Ländern des lateinamerikanischen Subkontinents eine für deren Ökonomien entscheidende Rolle spielten (Spalding 1983:Bd. 1, 209f). Vernachlässigt wurde zumeist, daß die ibero-amerikanischen Staaten unmittelbar, nachdem sie die politische Tutelage Spaniens abgeworfen hatten, in finanzielle Schwierigkeiten und in deren Gefolge in wirtschaftliche Abhängigkeiten von den europäischen Großmächten gerieten, daß sie somit zwar politisch unabhängig wurden, über ihr ökonomisches Schicksal aber von Anfang an nur sehr partiell Kontrolle ausüben konnten. Zwar in veränderter Form, doch deutlich wahrnehmbar, blieben in Lateinamerika im Gegensatz zu den USA - die wirtschaftlichen Grundmuster der Europa-Abhängigkeit über die Unabhängigkeit hinaus bestehen. Die Entwicklungsdiskussion der letzten Jahrzehnte rekurrierte immer wieder auf auswärtige Referenzgruppen-Standards. Sowohl das Metropole-Satelliten-Schema der neueren Theorien des „peripheren Kapitalismus", wie es bei Dieter Senghaas anzutreffen ist, als auch die von Raúl Prebisch vorgetragenen Theorien der „säkularen Verschlechterung der Austauschbeziehungen" und die von ihm präsentierten Strategien handelspolitischer Positionsverbesserungen verweisen übereinstimmend auf die Dominanz externer Impulse und entwerfen einen Bezugsrahmen, an dem rückständige oder unterentwickelte Länder nicht oder nur reaktiv beteiligt waren. Ein Grund für die fortbestehende Außenorientierung der lateinamerikanischen Wirtschaften wird darin gesehen, daß Lateinamerika während der Kolonialzeit stärker von den iberischen Mutterländern abhängig war als die dreizehn Neu-Englandstaaten von Großbritannien; diese tiefer verwurzelte Tradition konnte bei der Erlangung der politischen Unabhängigkeit nicht abgeschüttelt werden. Sodann ist zu berücksichtigen, daß der größte Teil der lateinamerikanischen Bevölkerung ökonomisch kaum eine Rolle spielte und wegen seiner nahezu nicht vorhandenen Kaufkraft keinen Stimulus zum Aufbau eigener Industrien darstellte. Schließlich war auch der weitgehende Mangel an Kapital ein zusätzlicher Faktor, der die Entwicklung
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industrieller Unternehmungen erschwerte. Blieben somit die lateinamerikanischen Staaten auch nach der politischen Unabhängigkeit wirtschaftlich abhängige und außenorientierte Länder, so erhebt sich einerseits die Frage nach der Bedeutung der externen Faktoren für die Nationalwirtschaften, nach der Form, in der sie auf die jeweiligen Ökonomien einwirkten; andererseits und vorerst muß es um die Frage gehen, weshalb die neuen Staaten keine konsequent hochprotektionistische Handelspolitik betrieben oder strikte Einfuhrverbote erließen. Auf einer weitgehend allgemeinen Argumentationsebene lassen sich aus der Literatur zumindest vier Argumente extrapolieren, die immer wieder zur Erklärung der andauernden Außenorientierung (und damit der Abhängigkeit) herangezogen werden: a) Die erste, historiographische Version betont, daß ausländische Mächte - zumeist über ihre diplomatischen Handelsvertreter, mitunter auch in Gestalt ausländischer Kaufleute und Händler - entscheidenden Einfluß auf die Außenwirtschaft der lateinamerikanischen Länder nahmen. Bevorzugtes Ziel derartiger historiographischer Attacken ist der britische „Freihandelsimperialismus", wobei die Handelsoffensiven der anderen europäischen Länder nur selten berücksichtigt werden. Diesen Interpretationen zufolge waren Ausländer problemlos in der Lage, die Handelspolitik der lateinamerikanischen Länder zu beeinflussen, wenn nicht gar zu bestimmen. Mehrere Faktoren trugen zur ausländischen Überlegenheit bei: Zum einen der wirtschaftliche Vorsprung der industrialisierten europäischen Länder, zum anderen der innere Zustand der lateinamerikanischen Staaten, mit ständigen Putschen und Bürgerkriegen, politischer Instabilität und wirtschaftlicher Stagnation, Korruption und Haushaltsproblemen. Unterstützt von ihren lateinamerikanischen „Agenten", gelang es den ausländischen Konsuln und Geschäftsträgern, mit Hilfe abgestufter Mittel der Einflußnahme die Handelspolitik jener „Gastländer" zu beeinflussen; was durch Überredung, Bestechung oder Drohung nicht gelang, bewirkte (neben dem legalen) der illegale Import ausländischer Waren. Diese Interpretationsrichtung setzt einen großen Anteil am Außenhandel mit „Kontrolle" über die nationale Wirtschaft gleich, ohne im einzelnen auf die endogenen Bedingungsfaktoren der jeweiligen (Außen- und Außenhandels-) Politik einzugehen. In dieser Sicht standen die lateinamerikanischen Wirtschaften zur britischen Hegemonie per definitionem in einem Dependenz-DominanzVerhältnis. Allerdings bleibt zumeist unklar, was unter „Kontrolle" zu verstehen ist und wie sie ausgeübt wurde.
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b) Ein zweites Interpretationsmodell geht von der Existenz lokaler lateinamerikanischer „Agenten" aus, die als „kollaborierende" oder zwischengeschaltete Eliten mit ausländischen Interessen verbündet waren. Diese Sicht betont vor allem das Funktionieren freihändlerischer Regime, analysiert aber kaum einmal das Zustandekommen der innenpolitischen Konfigurationen, die Voraussetzung zum Verständnis der Diskussion zwischen Protektionisten und Freihändlern sind; die Existenz einer mit ausländischen Händlern kooperierenden Schicht einheimischer Kräfte wird als ein kontinuierliches Faktum zugrunde gelegt, ohne zu bemerken, daß eine der Hauptschwierigkeiten in der Durchsetzung ausländischer Interessen gerade in der Abwesenheit einer sozialen Gruppe bestand, die durchgängig als Agent eben dieser ausländischen Kräfte hätte wirken können. c) Das dritte Deutungsschema verbindet Elemente der ersten beiden: Ein schwacher lateinamerikanischer Staat, so lautet dieses Argument, war nicht in der Lage, sich gegen die Stärke der nordatlantischen Staaten durchzusetzen, die unter der Führung Großbritanniens Verfechter freihändlerischer Prinzipien waren. Der Mangel an innerer Stabilität hinderte den lateinamerikanischen Staat am wirksamen Widerstand gegen den Freihandelsangriff der entwickelteren Länder. Die zwischenstaatliche Interaktion resultierte allemal zum Nachteil des Schwächeren. d) Schließlich ist noch auf die starke liberale Strömung innerhalb eines Großteils der lateinamerikanischen „Intelligentsia" zu verweisen, für die verstärkter Handel eine Möglichkeit zur Herbeiführung wirtschaftlichen Wachstums darstellte, und die für ihre Länder schon früh im Rahmen der internationalen Arbeitsteilung die Juniorpartner-Rolle eines Rohstofflieferanten und Manufakturwarenempfängers akzeptierte. Zwar vertraten, vor allem seit den 1830er/l 840er Jahren, die Hochprotektionisten und Prohibitionisten lautstark und nachdrücklich ihre wirtschaftspolitische Position; allein ihre Unfähigkeit zur Versorgung der Binnenmärkte mit „nationalen" Gütern ließ in ihrer Option keine praktikable Alternative zum (trotz vielfältiger Restriktionen) andauernden Import ausländischer Güter erblicken. In der Auseinandersetzung, die über die Frage nach den Ursachen für die lateinamerikanische „Unterentwicklung" und deren Folgen geführt wird, stehen den Vertretern der verschiedenen Dependenztheorien jene Interpreten gegenüber, die (mit vielen Vorbehalten) als Verfechter einer „Autonomietheorie" bezeichnet werden könnten. Die Diskussion wird
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notwendigerweise auf einer relativ allgemein-abstrakten Ebene geführt und kann hier nur in ihren Grundzügen wiedergegeben werden: In der klassischen Definition, die Theotonio Dos Santos von Dependenz gegeben hat, wird diese als Situation bezeichnet, in der die Wirtschaft bestimmter (abhängiger) Länder durch die Entwicklung und Expansion einer anderen (dominanten) Wirtschaft bedingt wird, der erstere unterworfen ist. Das Interdependenzverhältnis zwischen zwei oder mehr ökonomischen Systemen sowie zwischen diesen und dem Welthandel nimmt die Form von Dependenz an, wenn die dominanten Länder autonom zu expandieren in der Lage sind, während die abhängigen sich nur als Reflex auf die Entwicklung und Expansion der dominanten Staaten entfalten können (Dos Santos 1972:243), somit über keinerlei Entwicklungsautonomie verfügen. Philip O'Brien hat hervorgehoben, daß es den Dependenztheorien darum geht, zu zeigen, daß die interne Dynamik lateinamerikanischer Gesellschaften und deren Unterentwicklung primär durch die Position Lateinamerikas in der internationalen Wirtschaft und die daraus resultierenden Bindungen zwischen den internen und den externen Strukturen bedingt wurden und werden (O'Brien 1977:41). Am Beispiel Chiles hat Andre Gunder Frank betont, daß das Land vom Zeitpunkt seiner Eroberung an in die Expansion und Entwicklung des Welthandels- und später des industriekapitalistischen Systems inkorporiert war. Stanley und Barbara Stein wiederum identifizieren in ihren einflußreichen Studien die lateinamerikanischen Ökonomien der Unabhängigkeitsepoche als eine „koloniale Erbschaft" außenorientierter Wirtschaften, die eng an entscheidende, außerhalb der neuen Nationalwirtschaften angesiedelte Nachfrage- und Angebotsquellen gebunden waren (Cockroft/ Frank/Johnson 1972:7; Stein/Stein 1970:135). Bei aller Differenzierung im einzelnen, die von kleinbürgerlichem lateinamerikanischen Nationalismus bis zur Beschwörung der sozialistischen Revolution reicht, ist den dependentistischen Positionen eine Sicht lateinamerikanischer Wirtschaften gemein, die von der Kolonial- zur Unabhängigkeitsepoche eine gewisse (wenn auch nicht bruchlose) Kontinuität der Abhängigkeit von Europa aufweisen; die von Spanien aufgegebene Rolle des dominanten Partners wurde von Großbritannien eingenommen. Wenn auch manche Autoren einräumen, daß der Übergang von der einen zur anderen Hegemonialmacht nicht allzu mechanistisch gesehen werden kann, so bleibt doch die Außenorientierung, die externe Konditionierung der lateinamerikanischen Wirtschaften nach der Unabhängigkeit bestehen. Das postkoloniale Lateinamerika und die „Außenwelt" unterhielten, in dieser Deutung, eine enge Wirt-
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schaftsbeziehung, wobei (das koloniale ebenso wie das nationale) Lateinamerika als Lieferant von Lebensmitteln, Rohstoffen und Edelmetallen sowie als Importeur von Kapital und Manufakturwaren auftrat. Exogene Faktoren, nämlich die Entscheidungen in den „metropolitanen" Ländern, bestimmten demnach weitgehend Wachstum und Struktur der sozioökonomischen Formation Lateinamerikas. Durch Konzentration auf den Export von Primärprodukten war der Kontinent nicht in der Lage, die Fähigkeit zu Wachstum und Wandel autonom zu entwikkeln. Durch den Industriekapitalismus schließlich mußte sich Lateinamerika zusehends dem Freihandel öffnen; die wirtschaftliche, politische und soziale Struktur des Kontinents wurde dergestalt transformiert, daß sie den neuen metropolitanen Bedürfnissen (und denen lokaler lateinamerikanischer Bourgeoisien, die als „Assoziierte" oder „Agenten" der Metropolen auftraten) entsprach. Die Dependenztheorien sehen sich seit Jahren verstärkter Kritik ausgesetzt; vorgehalten wird ihnen vor allem eine unhistorisch-anachronistische Form der Argumentation, Übertragung bestimmter, zeitlich genau einzuordnender historischer Erscheinungen auf andere geschichtliche Epochen (etwa die reale Außenabhängigkeit vieler lateinamerikanischer Staaten gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf die ersten Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit), und, in diesem Zusammenhang, eine „ökonomistische" Verkürzung und gröbliche Simplifizierung komplexer Tatbestände. Einer der Hauptkontrahenten aller Varianten der Theorie vom britischen Wirtschafts- und Handelsimperialismus sowie der lateinamerikanischen Dependenz gegenüber europäischen Ökonomien ist D.C.M. Platt, der in seinen zahlreichen Publikationen (vgl. Platt 1968:269-306; 1980a: 113-130; 1980b:147-149; 1985:29-39) dem Konzept der Außenabhängigkeit das der Wirtschaftsautonomie Lateinamerikas nach der Unabhängigkeit der spanischen Kolonien gegenübergestellt hat. Sowohl die kolonialen Wirtschaften als auch die der unabhängigen Staaten waren, Platt zufolge, binnenorientiert (inward-looking economies); nach ihrer Lostrennung von Spanien verharrten die neuen Republiken für mindestens ein halbes Jahrhundert weitgehend außerhalb der Weltmärkte. Platt untermauert seine Behauptung mit folgenden Zahlen: Die britischen Exporte nach Spanisch-Amerika (Brasilien stellt wegen seiner besonderen Verbindung zu England eine Ausnahme dar und bleibt in dieser Berechnung unberücksichtigt) beliefen sich im Jahrzehnt 1831-1840 auf 2,49 Millionen Pfund Sterling im Jahresdurchschnitt, im darauffolgenden Jahrzehnt auf 3,31 Millionen Pfund Sterling und im Jahrzehnt der 1850er Jahre auf 5,45 Millionen Pfund Sterling. Für die gleichen Zeit-
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räume beliefen sich sämtliche britischen Ausfuhren jedoch auf Jahresdurchschnitte von 43,53 Millionen, 41,74 Millionen bzw. 99,27 Millionen Pfund Sterling. Aus dem Vergleich dieser Zahlen wird deutlich, wie relativ unwichtig die Exporte nach Spanisch-Amerika für Großbritannien waren. Selbst für die lateinamerikanische Bevölkerung können diese Einfuhren nicht von großer Bedeutung gewesen sein. In einer Periode wirtschaftlicher Depression war der Außenhandel unwichtig und stagnierend; damit verblieb Lateinamerika aber, gegen seinen eigenen Willen, von den Hauptströmungen des Welthandels isoliert, selbstgenügsam und folglich auch „unabhängig". Diese für das Handelsaufkommen relevante Aussage ist ebenso gültig im Hinblick auf die angebliche Finanzabhängigkeit des Kontinents. Insgesamt muß hier eher von einer Tradition der durch Isolierung von den Weltmärkten hervorgerufenen Selbstgenügsamkeit als von einer abhängigen Einbindung in das kapitalistische Welthandelssystem gesprochen werden. Hauptsächlich produzierten die Lateinamerikaner für den Binnenmarkt, und an dessen Bedarf orientierten sich auch die Produktionsstrukturen. Von Plantagenwirtschaften und Bergwerksenklaven abgesehen, wurde das Muster ökonomischer Entwicklung primär von eigenen Bedürfnissen und Prioritäten bestimmt. Die beiden soeben skizzierten Positionen markieren Eckpunkte in einer andauernden Diskussion, in die noch viele andere Elemente eingeflossen sind. Ein Großteil der Auseinandersetzung konzentriert sich auf die Verläßlichkeit des statistischen Quellenmaterials und die Wirkung des Außenhandels auf die verschiedenen Schichten der Bevölkerung. Festzuhalten bleibt, daß die „Autonomie-Interpreten" im britisch-hispanoamerikanischen Verhältnis während des größten Teils des 19. Jahrhunderts weder eine politische noch eine ökonomische Dependenz erkennen können. Insbesondere lehnen sie den von den Steins in die Diskussion eingebrachten Begriff des „Neo-Kolonialismus" eine Bezeichnung, die suggeriert, daß die politische Unterscheidung zwischen dem Status der Unabhängigkeit und dem kolonialen trivial ist - sowie die analytische Kategorie des „informellen Imperialismus" ab (vgl. Louis 1976; Gallagher/Robinson 1970:183-200).
LATEINAMERIKANISCHE
ENTWICKLUNGSKONZEPTE
Die lateinamerikanische Diskussion über Freihandel, Protektionismus oder Importverbote hatte schon lange vor der Unabhängigkeit eingesetzt. Es war zugleich eine Debatte über alternative Entwicklungs-
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Strategien. In Übereinstimmung mit dem optimistischen Hochgefühl der soeben errungenen nationalen Unabhängigkeit - und das bedeutete auch: der Überwindung lange bekämpfter Hemmnisse auf dem wirtschaftspolitischen Sektor - sprach sich die Mehrheit der lateinamerikanischen „Wirtschaftstheoretiker" in den 1820er Jahren gegen ein prohibitives, zumeist sogar gegen ein wie auch immer geartetes protektionistisches Handelssystem aus. Freier Güterverkehr wurde als ein wichtiger Bestandteil der eben errungenen politischen Freiheit interpretiert. Die Ideologie des Unabhängigkeitskampfes erforderte Handelsfreiheit und Freihandel. Allerdings: Sehr schnell wurde den lateinamerikanischen Politikern klar, daß Zolltarife nicht nur die einheimischen Manufakturen und Handwerker schützten, sondern darüber hinaus und vor allem die leeren Staatskassen füllten, somit also kaum auf sie verzichtet werden konnte. Außenhandelszölle entwickelten sich in vielen Fällen zur wichtigsten Einnahmequelle für den Fiskus der einzelnen Länder; Industrieprotektionismus und staatliche Fiskalerfordernisse bewirkten daher sehr schnell, daß die Vorstellung eines von Zollschranken völlig unbehinderten Güterverkehrs aufgegeben wurde. Trotzdem setzten sich die Liberalen für eine möglichst weitgehende Liberalisierung des Außenhandels ein. Der entscheidende Aspekt des wirtschaftspolitischen Programms der liberalen Freihändler bestand darin, daß sie als Quelle privaten und gesellschaftlichen Reichtums nicht die Entwicklung der Produktivkräfte, sondern - in Übereinstimmung mit Ricardo und Adam Smith - die Fähigkeit zum Tausch von Werten ansahen. Implizite Prämisse dieses Programms war die Vorstellung, daß der Freihandel (unabhängig vom ökonomischen Entwicklungsstand eines Landes) bereits als Garantie für wirtschaftlichen Fortschritt anzusehen war. In den großen Politikdebatten der ersten Unabhängigkeitsjahre erstrebten die Liberalen für ihre Länder demokratische Bundesrepubliken mit repräsentativen Institutionen; die säkularisierte Gesellschaft sollte von klerikalem Einfluß frei sein; die Nation sollte aus Kleineigentümern, Einzelbauern und Handwerkern bestehen; das freie Spiel der Marktkräfte, der Wirtschaftskonkurrenz und der Individualinteressen sollte nicht durch restriktive Gesetze und künstliche Privilegien behindert werden. Die Liberalen zeigten sich von der klassischen Wirtschaftsdoktrin der „unsichtbaren Hand" überzeugt, die die Interessen des Individuums mit denen der Gesellschaft in Übereinstimmung brachte. Sobald die Hindernisse beseitigt seien, die der Entwicklung des freien Unternehmertums im Wege stünden, beschränke sich die Funktion des Staates auf Außenverteidigung, Bildungsförderung und
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Garantie der inneren Sicherheit. Politische Freiheit, so dachten sie, würde in ihrem Gefolge Fortschritt und Wohlergehen bringen (nach Brading 1973: 158f). Der in der ersten Stunde obwaltende Liberalismus bedeutete innenpolitisch die Abkehr vom Kolonialsystem und signalisierte außenpolitisch den Großmächten gegenüber Konzessionsbereitschaft auf dem Handelssektor, die sich mit der Erwartung dringend benötigter politischer und wirtschaftlicher Unterstützung (auch im Kampf gegen Spanien) verknüpfte. Legitimationsbedürfnisse verbanden sich mit aktuellen Notwendigkeiten und legten liberale Regelungen nahe - handelspolitisch ebenso wie verfassungsrechtlich. Die Gegenposition zu den Freihändlern wurde von Personen eingenommen, die zumeist Unternehmer oder zumindest mit der Produktion einheimischer Güter eng verbunden waren (etwa Handwerker). Sie wurden zu Vorkämpfern des Wirtschaftsnationalismus und beschworen den Ruin der „nationalen Industrie" herauf, sollten ausländische Produkte (vor allem Textilien) importiert werden. Die Prohibitionisten vertraten ihre Position durchaus überzeugend: Prohibitionen, so argumentierten sie, kämen der eigenen Industrie zugute, und ohne Förderung dieser eigenen Industrie werde die Nation zugrunde gehen; wenn auf die politische keine wirtschaftliche Befreiung folge, werde Lateinamerika noch Generationen später vom Ausland abhängig sein. Hohe Einfuhrzölle allein reichten nicht aus, die einheimische Industrie vor der überlegenen Konkurrenz des Auslandes zu schützen. Ausländische Händler seien bereit, ihre Produkte zu Dumpingpreisen auf den lateinamerikanischen Markt zu werfen, wobei sie vorübergehende Verluste in Kauf nähmen, nur um den Markt zu erobern und sodann um so beliebiger über ihn verfügen zu können. Die einzige, den Interessen der lateinamerikanischen Industrie entsprechende Lösung seien Einfuhrverbote. Daß diese ihren Zweck erfüllen könnten, sei während der Unabhängigkeitskriege bewiesen worden, als infolge der Importrestriktionen Ersatzproduktionen entstanden seien. Man dürfe Liberalismus nicht mit Freihandel verwechseln; auch andere, liberale Länder schützten ihre entstehenden Industrien vor ausländischer Konkurrenz. Übereinstimmend hoben Protektionisten und Prohibitionisten hervor, daß die von ihnen geforderte Schutzzollpolitik bzw. die Einfuhrverbote keine dauerhafte Abschottung vom internationalen Markt sein, sondern als temporäre Maßnahmen betrachtet werden sollten, die in dem Augenblick hinfällig würden, in dem die Wirtschaft des „nachstrebenden Landes" (Friedrich List) sich hinreichend entwickelt hätte, um symmetrische Austauschbeziehungen mit einstmals überlege-
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nen Handelspartnern zu gewährleisten. Dem Argument, Prohibitionen schadeten dem Konsumenten, da sie den einheimischen Handwerkern ein Produktions- und Preismonopol garantierten, hielten die Prohibitionisten entgegen, daß sich als Folge der Gewerbefreiheit eine natürliche Konkurrenzsituation im Landesinneren herausbilden und diese preisdrückend wirken würde. Das Zusammenspiel von Außenprohibitionen und innerer Konkurrenzsituation wirke auf die Handwerker stimulierend und auf den Markt regulierend. In den meisten Ländern verlor der „doktrinäre" Liberalismus in der politischen Öffentlichkeit in den ersten Jahrzehnten der Unabhängigkeit die Meinungsführerschaft; er sollte sie erst nach der Jahrhundertmitte wieder erringen. Die wirtschaftspolitischen Entscheidungen wurden in der Regel von konservativen Pragmatikern beeinflußt, und die Gesetzgebungsmaßnahmen schwankten - je nach tagespolitischem Bedarf - zwischen Protektion und Importverbot (vgl. Bernecker 1987; Bernecker 1988). Eine grundlegende Änderung erfolgte erst nach der Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Versuche zum Aufbau einer eigenständigen Industrie zumeist aufgegeben wurden und die liberalen Politiker sich für ein Entwicklungsmodell entschieden, das auf einer vorwiegend agrarisch orientierten Exportwirtschaft mit starker Einbindung in den Weltmarkt beruhte und die bis zur Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre andauernde Phase der „Entwicklung nach außen" einläutete. Hintergrund dieser zu einer Intensivierung des Agrarexports auf der Grundlage der Freihandelspolitik führenden Kursänderung waren die äußerst beschränkten Ergebnisse der vorhergehenden Versuche, eine eigenständige Industrie aufzubauen, um vom Import ausländischer Fertigwaren unabhängiger zu werden. Weder in Kolumbien noch in Mexiko oder einem anderen lateinamerikanischen Land hatten derartige Versuche durchgreifende Erfolge zu verzeichnen gehabt. Hinzu kamen die weltwirtschaftlichen Veränderungen: der Siegeszug des Freihandelskonzepts, die gestiegene Nachfrage auf den europäischen Märkten nach tropischen Produkten, die Einrichtung des überseeischen Dampfschiffverkehrs. Die lateinamerikanischen Staaten akzeptierten damit die Einordnung ihrer Wirtschaften in das bestehende System der internationalen Arbeitsteilung.
DIE
MEXIKANISCHE „LYRIKERN"
UND
DEBATTE
ZWISCHEN
„PRAKTIKERN"
Fragt man danach, wie die überall in Lateinamerika nach der Unabhängigkeit anzutreffende Diskussion über Entwicklungsvorstellungen
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in Mexiko stattfand, so wird man feststellen, daß die Auseinandersetzung zwischen Freihändlern, Protektionisten und Prohibitionisten auch dort schon lange vor Erringung der Unabhängigkeit eingesetzt hatte (vgl. López Cancelada 1811; Quirós 1821). Etwas schematisierend kann man sagen, daß das Consulado von México prohibitionistisch eingestellt war und für die Aufrechterhaltung des metropolitanen Handelsmonopols eintrat, während das von Veracruz eine protektionistische Mittelposition einnahm und die Bevölkerung der Handelsstädte sowie viele andere Kräfte des Vizekönigreichs Handelsfreiheit mit Ausländern forderten (vgl. Ortiz de la Tabla Ducasse 1978:335-365). Das Hauptargument der Prohibitionisten war und blieb der Schutz der einheimischen Manufakturen; die Verfechter des Freihandels waren demgegenüber keineswegs doktrinäre Anhänger des Wirtschaftsliberalismus, sondern hatten sich zu dieser Position als dem „geringeren Übel" entschlossen. Die verschiedenen handelspolitischen Positionen waren deutlicher Reflex unterschiedlicher Interessenkonstellationen. So sprachen sich etwa im Oktober 1811 die spanischen Händler von Cádiz entschieden gegen die Freigabe des Handels mit den amerikanischen Kolonien aus. Ihre Hinweise auf die zu erwartenden Folgen einer liberalen (und für sie ruinösen) Handelspolitik konzentrierten sich auf „gesamtgesellschaftlich" negative Konsequenzen, die es abzuwehren gelte (La Libertad del comercio 1943:48). Die Überlegungen der spanischen Händler wurden von José María Quirós durch den Hinweis ergänzt, daß „Landwirtschaft, Industrie und Freiberufe (in Spanisch-Amerika) durch die Einfuhr aller Arten ausländischer Manufakturwaren, insbesondere von Baumwollprodukten, aus dieser Gegend verschwinden würden" (ebda.:58). Trotz dieser (und vieler anderer) Plädoyers für die Beibehaltung bzw. Wiedereinführung eines Prohibitivsystems oder zumindest wirkungsvoller protektionistischer Maßnahmen erfreuten sich in den letzten Jahren der Kolonialepoche liberale Wirtschaftsideen immer größerer Beliebtheit (Smith 1957:104-125), bekamen die Restriktionen des vom Mutterland praktizierten merkantilistischen Systems doch alle sozialen Schichten im Land zu spüren, während die den Händlern und Manufakturwarenherstellern eingeräumten Privilegien lediglich einer schmalen Schicht von Nicht-Mexikanern zugute kamen. Handelsfreiheit wurde daher immer häufiger mit dem Sieg aufklärerischer Ideen und politischer Freiheit gleichgesetzt. Die bourbonischen Reformgesetze auf dem Wirtschaftssektor eröffneten den Mexikanern eine neue Vision ungeahnter Möglichkeiten und trugen weiter dazu bei, in der Handelsfreiheit das erstrebenswerte Wirtschaftsziel schlechthin zu erblicken.
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Das erste Zollgesetz des unabhängigen Mexiko, das die Junta Soberana Provisionai Gubernativa bereits am 15. Dezember 1821 erließ, sah als entscheidende Neuerungen gegenüber der hispanokolonialen Zeit die Aufhebung aller monopolistischen Handelsrestriktionen und die Öffnung der mexikanischen Häfen für Schiffe aller Nationen vor. Zugleich wies der Tarif von 1821 jedoch einen Importzoll auf ausländische Waren von 25 Prozent ad valorem aus. Versucht man, die Funktion dieses ersten Zolltarifs, der den zuvor proklamierten wirtschaftsliberalen Prinzipien zu widersprechen schien, zu erfassen, so wird man schnell auf zwei verschiedene Aspekte stoßen: Offiziell sollten dieser und alle späteren Zolltarife - zuerst implizit, danach immer häufiger explizit - die mexikanische „Handwerksindustrie" schützen. Da jedoch trotz des Einfuhrzolls und weiterer acht Prozent alcabala (Verkaufszoll) die aus Europa importierten Güter (allen voran die Textilien) immer noch billiger (und besser) als die in Mexiko selbst hergestellten waren, konnte der Tarif seine Schutzfunktion nicht erfüllen. Diese Überlegung dürfte auch den mexikanischen Politikern nicht verborgen geblieben sein. Die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß von Anfang an beim Erlaß von Außenhandelszöllen der zweite zu berücksichtigende Aspekt eine entscheidende Rolle spielte: die Möglichkeit nämlich, mit Hilfe der Zölle die leeren Staatskassen zu füllen. Außenhandelszölle entwickelten sich zur wichtigsten Einnahmequelle für den mexikanischen Fiskus. Industrieprotektionismus und staatliche Fiskalerfordernisse ließen von Beginn der mexikanischen Unabhängigkeit an die Vorstellung eines von Zollschranken völlig unbehinderten Güterverkehrs zum geistigen Spielzeug einiger „doktrinärer Liberaler" verkümmern. Letzterer Hinweis bedeutet jedoch nicht, daß wirtschaftsliberale Vorstellungen in den ersten Jahrzehnten der mexikanischen Unabhängigkeit keine Bedeutung gehabt hätten. Im Gegenteil: Nahezu alle großen Namen des mexikanischen Liberalismus können als Verfechter von freihändlerischen Prinzipien aufgeführt werden. Die Liste reicht von José Maria Luis Mora bis zu Lorenzo de Zavala, von Mariano Otero bis Melchor Ocampo, von Tadeo Ortiz de Ayala bis Miguel Lerdo de Tejada, von Manuel Ortiz de la Torre bis hin zu jener Vielzahl von Journalisten und Pamphletisten, deren Stellungnahmen sich in einer Unmenge an Flugblättern, Broschüren und Zeitungsartikeln niederschlugen (vgl. Cordova 1971). Die in den ersten Jahrzehnten mexikanischer Unabhängigkeit vorgebrachten Argumente zugunsten des „Freihandels" oder eines beschränkten Protektionismus blieben bis zur Jahrhundertmitte im wesentlichen unverändert, ab der zweiten Hälfte der 1830er Jahre lediglich angereichert durch Überlegungen,
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die aus der Existenz einer inzwischen bestehenden, wenn auch noch sehr rudimentären Industrie resultierten. Bei der mexikanischen Auseinandersetzung um Freihandel oder Protektionismus handelte es sich nicht so sehr um doktrinäre Meinungsverschiedenheiten (wie die jahrzehntelangen Kämpfe wiederholt gedeutet worden sind), als vielmehr um die Artikulation konkreter Interessen. Auf der einen Seite standen die Fabrikanten, die Handwerker und Arbeiter in den Fabriken, zumeist auch die Baumwollanbauer, auf der anderen die Zwischenhändler und Kaufleute, die sowohl an den Grenzen wie im Landesinneren mit der Einfuhr von Gütern spekulierten. Während erstere Gruppe relativ klar umrissen war und ihre Positionen auch ständig öffentlich vertrat, somit einigermaßen erfaßt und historisch identifiziert werden kann, läßt sich letztere sehr viel schwieriger greifen. Die soziale Basis der freihändlerischen Position ist schlechter zu erfassen als die der Protektionisten; publizistische und politische Sprachrohre der Freihändler waren die Vertreter der „Intelligentsia", was der Diskussion einen scheinbar von materiellen Interessen losgelösten doktrinären Charakter verliehen hat. Charakteristisch für diese angebliche Interesselosigkeit der Freihandelsverfechter ist die Bezeichnung, die ihnen schon Zeitgenossen gaben: Sie wurden „Lyriker" oder „Visionäre" genannt - im Gegensatz zu den hochprotektionistischen „Praktikern" (Sierra 1900-1902:Bd. 2, 134). Die Gegenposition zur „Lyrik" der Freihändler wurde von Personen eingenommen, die zumeist Unternehmer oder zumindest mit der Produktion einheimischer Güter verbunden waren. Ihre wirtschaftlichen Eigeninteressen waren somit Erfahrungshorizont und bedingende Voraussetzung der Theorien und politischen Doktrinen, für die sie sich einsetzten. Die Verfechter hochprotektionistischer oder prohibitiver Zollmaßnahmen konnten, ebenso wie die Freihändler, eine Reihe klangvoller Namen in ihren Reihen anführen: Zu ihnen zählten José Maria Covarrubias und Francisco Garcia, Lucas Alamán und Esteban de Antuñano, Ramón Esteban Martínez de los Ríos und all jene Unternehmer, die die Industrialisierung der 1830er und 1840er Jahre mittrugen; außerdem müssen zu dieser Gruppe die politisch einflußreichen Klein- und Mittelunternehmer der Textilbranche und die Handwerker gerechnet werden, die ihr ganzes Gewicht zugunsten eines Prohibitivsystems in die Waagschale der politischen Diskussion warfen (vgl. Antuñano 1834). Die ersten und entschiedensten Gegner freihändlerischer Prinzipien waren die Weber von Puebla, die - ebenso wie später die Industriellen ihrer Stadt - Vorkämpfer eines uneingeschränkten Wirtschaftsnatio-
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nalismus waren; sofort nach Verkündigung der politischen Unabhängigkeit beschworen sie die Gefahr des Ruins der „nationalen Industrie" herauf, wenn ausländische Textilien importiert werden dürften. Auf ihren Antrag hin beschlossen die Gesetzgebungskommission und die kaiserliche Junta Mexikos 1823, einfache Woll- und Baumwolltextilien sowie einige weitere Güter des täglichen Bedarfs (Schuhe, Fleisch) vom Import auszuschließen (Diario de la Junta Nacional Instituyeme 1823:Bd. 1, 256-275; Reyes Heroles 1957:Bd. 1, 165-184). Diese Maßnahmen wurden ausführlich begründet; die vorgetragenen Überlegungen lassen verschiedene Absichten der Gesetzgeber erkennen: Zum einen wollten sie (allgemein) die einheimischen Manufakturbetriebe fördern, so daß Mexiko nicht fremder Waren bedurfte; dadurch sollte zugleich die Unabhängigkeit des Landes gefestigt werden. Zum anderen sollten die Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten der mexikanischen Handwerker nicht geschmälert werden. Dürften fremde Textilien importiert werden, argumentierte die Junta, so bedeute dies Armut und Not für die meisten Handwerker, die in Arbeitslosigkeit und Verzweiflung getrieben würden. Im Mai 1824 wurde die Liste der bereits bestehenden Einfuhrverbote erweitert, zugleich allerdings auch der Protektionismus als das eigentliche Instrument zum Schutz der „nationalen Industrie" ausgeweitet. Schutzzölle sollten die einheimische Produktion stimulieren und zugleich ein unkontrollierbares Preismonopol mexikanischer Hersteller verhindern. Mitte der 1820er Jahre war bereits deutlich zu erkennen, daß die Verfechter eines zollfreien Warenverkehrs hoffnungslos in der Minderheit waren und keinerlei Durchsetzungschance gegen die Phalanx der Prohibitionisten und Protektionisten hatten. Die Stärke letzterer, die zu einem überwiegend protektionistischen und nur partiell prohibitiven Zollsystem führte, resultierte aus dem Zusammenwirken dreier Aspekte: Die erste und wichtigste Überlegung beim Erlaß von Schutzzöllen dürfte wohl kaum der „Schutz der nationalen Industrie" gewesen sein. Der Tarif von 1821 etwa schirmte den mexikanischen Markt keineswegs vor der ausländischen Konkurrenz ab, denn trotz der Importzölle blieben die britischen, besseren Baumwollstoffe billiger als die mexikanischen. Vielmehr dürften Fiskalinteressen des Staates bereits bei diesem ersten Tarif des unabhängigen Mexiko (sowie bei vielen späteren) Pate gestanden haben. Der Hinweis auf die staatlichen Fiskalinteressen soll jedoch nicht bedeuten, daß die ersten Regierungen bis zu einem gewissen Grad nicht auch den Schutz der „nationalen Industrie" im Auge gehabt hätten. Die außerhalb der Hauptstadt México angesiedelten Textilproduzenten
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(Handwerker, Inhaber kleiner Manufakturbetriebe) verstanden es durchaus, ihre Interessen in den Gesetzgebungsorganen zu Gehör zu bringen (wenn auch nicht in dem von ihnen erwünschten Ausmaß). Die Handwerker fanden ihre politischen Interessenvertreter vor allem in der Gruppe jener Provinzialabgeordneten, die ihr Selbstbewußtsein aus der von Mexiko 1824 angenommenen Bundesverfassung schöpften. Föderalismus bzw. Dezentralisierung auf dem politischen Sektor und die Verteidigung lokaler Industrien im wirtschaftlichen Bereich gingen Hand in Hand. In den folgenden Jahren waren es immer wieder die Provinzdeputationen von Puebla, Querétaro, San Luis Potosí und anderer Städte, die den Kongreß mit Prohibitivanträgen eindeckten. Schließlich sprach auch noch ein dritter Faktor für die extensive Anwendung einer schutzzöllnerischen Politik: die mexikanischen Auslandsschulden. Die Kongreßdebatten über den Außenhandel waren von Anfang an eng mit der Frage der Auslandsdarlehen verbunden. Im Juni 1822 ermächtigte der Kongreß die Regierung, von ausländischen Mächten ein Darlehen von 25-30 Millionen pesos zu beantragen und als Sicherheit die Außenhandelszölle zu verpfänden. Angesichts des chronischen Kapitalmangels der mexikanischen Regierung und der großen Schwierigkeiten, im Landesinneren genug Geld aufzunehmen, sahen sich die Regierungen gezwungen, bei ausländischen Bankiers Kredite zu beantragen; die Unregelmäßigkeiten und Schwierigkeiten bei der Rückzahlung dieser Kredite sollten während des größten Teils des Jahrhunderts nahezu allen mexikanischen Regierungen erhebliche Probleme bereiten. Um aber erst einmal in den Genuß des Geldes zu gelangen, verpfändeten die Regierungen ihre einzige sichere Einnahmequelle: die Außenhandelszölle. Kreditgewährung durch das Ausland und Beibehaltung von Schutzzöllen waren somit eng miteinander verknüpft. Eine grundsätzliche Wende in der Wirtschaftspolitik erfolgte erst Ende der 1820er Jahre, als Vicente Guerrero Präsident wurde. Waren die bisherigen Regierungen - nicht unbeeinflußt von Alexander von Humboldt und physiokratischen Vorstellungen - davon ausgegangen, daß die eigentliche Quelle des mexikanischen Reichtums der Bergbau, den es vor allem zu fördern galt, und die Landwirtschaft seien, so schlug Guerrero 1828/1829 eine bewußte Staatspolitik zur Förderung der industriellen Entwicklung Mexikos ein. Guerreros Regierungszeit war zwar nur kurz - im Dezember 1829 mußte er infolge eines pronunciamiento seines bisherigen Vizepräsidenten Anastasio Bustamante bereits wieder aus dem Amt scheiden - sie markiert jedoch wirtschaftspolitisch den Beginn einer neuen Ära in der Geschichte des unabhängigen Mexiko. Zwei Aspekte charakterisieren diese neue Politik:
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Zum ersten sollte mit der Eindämmung des Importhandels ernst gemacht werden; in der Praxis bedeutete dies eine drastische Ausweitung der Einfuhrverbote, für die sich Präsident Guerrero bereits bei seiner Amtsübernahme aussprach (Manifiesto 1829:16f). Nicht mehr Steuerinteressen sollten im Vordergrund der Außenhandelspolitik stehen, sondern der (auch zuvor schon beschworene, faktisch jedoch hintangestellte) Schutz der einheimischen Industrie. Die Abgeordnetenkammer verabschiedete bereits im Februar 1829 ein Gesetz, das die Einfuhr aller ausländischen Textilien verbot. Bald folgten weitere Importrestriktionen, und binnen kurzem umfaßte die Liste der Einfuhrverbote über 50 neue Artikel, unter anderem auch dringend für landwirtschaftliche Arbeiten benötigte Eisenwerkzeuge. Zum zweiten sollte die einheimische Industrie nicht nur indirekt, durch Importverbote, unterstützt werden, sondern der Staat bekannte sich zu seiner direkten Verantwortung als Promotor der industriellen Entwicklung des Landes. Während der kurzen Administration Guerreros konnte zwar noch keine aktive Industrialisierungspolitik entwickelt werden; der Gedanke jedoch, daß neben den Industriellen auch der Staat eine gewisse Verantwortung im ökonomischen Bereich hatte, blieb fortan wirtschaftliche Maxime der mexikanischen Regierungen und sollte kurz danach bereits in ersten Maßnahmen seinen gesetzgeberischen Niederschlag finden. So richtig es ist, die Prohibitivgesetze von 1829 als eine Zäsur in der mexikanischen Außenhandelsgesetzgebung zu betrachten, so irreführend wäre die Annahme, daß fortan keine europäischen Textilien mehr importiert werden durften. Noch bevor das Gesetz in Kraft treten konnte, setzte es Finanzminister Lorenzo de Zavala unter Hinweis auf vorgeschriebene Fristen für sechs Monate aus; danach verhinderte Guerrero selbst sein Inkrafttreten, da er mittlerweile dringend auf die Zolleinnahmen angewiesen war, um Finanzmittel gegen den Aufstand seines Vizepräsidenten Bustamante zu haben; und bereits 1830 wurde das Gesetz wiederum außer Kraft gesetzt, da die soeben von Lucas Alamän gegründete Industrieförderungsbank (Banco de Avto) ihr Grundkapital zum Teil aus den Einfuhrzöllen beziehen sollte. Die finanziellen Zwänge der Regierungen verhinderten immer wieder die konsequente Durchführung von Importverboten. HANDELSROUTEN UND SCHIFFSVERKEHR Die lateinamerikanischen Staaten erlangten ihre Unabhängigkeit zu einem Zeitpunkt, zu dem in den wirtschaftlich fortgeschrittenen eu-
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ropäischen Ländern die Industrielle Revolution neue Rohstoff- und Absatzmärkte dringend erforderlich machte. Während Lateinamerika die historische Phase seiner politischen Unabhängigkeit ohne, im Vergleich zur vorangegangenen Epoche, wesentliche ökonomische Veränderungen begann, erlebten große Teile Westeuropas zum gleichen Zeitpunkt grundlegende Umstrukturierungen ihrer Wirtschaftsverhältnisse. Auch in den wichtigen Bereichen des Außenhandels brachte die Emanzipation vom spanischen Mutterland den lateinamerikanischen Republiken vorerst keine wesentlichen Neuerungen. Sie blieben, was sie schon vorher waren: Lieferanten von Rohstoffen und Abnehmer europäischer Manufakturwaren. Diese Grundstruktur des lateinamerikanischen Handels sollte sich erst im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts ändern, als die Vereinigten Staaten immer dominierender die bis dahin von europäischen Mächten eingenommene Rolle des Haupthandelspartners übernahmen und auch die Struktur der Importe/Exporte sich wandelte. Auch die in der Spätphase der Kolonialzeit bestehende Wirtschafts- und Außenhandelsstruktur Mexikos blieb in den ersten Jahrzehnten der staatlichen Unabhängigkeit erhalten, was sich aus der Zusammensetzung der Import- und Exportprodukte belegen läßt. In dem Vierteljahrhundert vor Erreichung seiner Unabhängigkeit betrugen die über den Monopolhafen Veracruz ausgeführten Edelmetalle (fast ausschließlich Silber) durchschnittlich 73,4 Prozent sämtlicher Exporte Mexikos. Diese Dominanz der Edelmetalle blieb auch nach 1821 unverändert (vgl. Schneider 1981:Bd. 1, 84). Neben das Hauptausfuhrprodukt (gemünztes) Silber traten Cochenille, Farbhölzer und (bei sehr geringer Bedeutung) einige landwirtschaftliche Produkte wie Indigo und Vanille. Gegen Mitte des Jahrhunderts stieg der Anteil der Edelmetalle als Exportartikel auf über 90 Prozent der Gesamtausfuhr, während die natürlichen Farbstoffe als Folge der Erfindung synthetischer Produkte durch europäische Chemiker kontinuierlich an Bedeutung einbüßten. Im letzten Drittel des Jahrhunderts nahmen land- und viehwirtschaftliche Produkte die zweitwichtigste Position als Exportgüter ein; demgegenüber sank - im Gegensatz zu Gold - die relative Bedeutung des gemünzten Silbers als Exportartikel auf 50 Prozent aller Ausfuhren, das Edelmetall blieb jedoch während des gesamten Zeitraums weiterhin das deutlich dominierende Exportprodukt. Noch um die Jahrhundertmitte konnte ein deutscher Händler in Mexiko feststellen: „Mit seinem Silber bezahlt der Mexikaner die ausländischen Waaren und den Luxus in den Städten. Die andern Ausfuhrartikel, wie Vanille, Cochenille, Indigo, Cacao, Sarsaparille, Häute sind unbedeutend." (Uhde 1861:24f)
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Mexikos Hauptimportgüter in den ersten fünfzig Jahren staatlicher Unabhängigkeit waren Konsumgüter. Über 90 Prozent des gesamten Imports bestanden aus Fertig- und Halbfertigwaren: Stoffen, Kleidern, Textilkurzwaren, Nahrungsmitteln und Weinen, Tonwaren und Papier, Eisenwaren, Handwerkszeug und Maschinen. Der Rest entfiel auf Textilfasern, Metalle und Mineralien. Der mit großem Abstand wichtigste Importposten waren Textilien; weit über die Hälfte aller eingeführten Textilien wiederum bestand aus Baumwollstoffen. Erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts verloren die Textilien als Einfuhrgüter an relativer Bedeutung, bildeten aber nach wie vor über die Hälfte aller Importartikel (vgl. Herrera Canales 1977:25-58; Romero 1898:Bd. I, 155). Die politische Unabhängigkeit des Landes hatte der Einfuhr ausländischer Textilien endgültig die Schleusen geöffnet. Die ersten Unabhängigkeitsjahre stellten - nach einer vorübergehenden Rezession 1821/23 - gegenüber den letzten Kolonialjahren geradezu eine Importexplosion dar (vgl. Ward 1828: Bd. 1,431-438; 1828/29: Bd. 1, 186195). Waren 1806 bis 1819 etwas über 23 Millionen Ellen Stoff eingeführt worden, so registrierte allein das Spitzenjahr 1825 eine fast genau so große Importmenge. In den 1840er Jahren nahm Mexiko mehr als zwei Drittel aller nach Lateinamerika exportierten Textilien (über acht Prozent aller britischen Textilausfuhren) auf. In den 1820er Jahren beliefen sich die eingeführten Stoffe auf durchschnittlich zehn Millionen Ellen, bis Mitte des Jahrhunderts stieg diese Menge auf über 42 Millionen Ellen an. Zugleich bewirkten die erhöhte Produktivität der europäischen Industrie, die Schaffung neuer Transportmittel (Eisenbahn und Dampfschiff) und die Senkung der Frachtkosten eine Verbilligung der Textilimporte. Daher sank der prozentuale Anteil des importierten Textilwertes - trotz steigenden Volumens - von 49 Prozent in den 1820er auf 36 Prozent in den 1870er Jahren. Im letzten Drittel des Jahrhunderts stieg sodann der Textiipreis erneut an. Der weitaus größte Teil der importierten Konsumgüter sollte der Befriedigung der Grundbedürfnisse dienen; „Luxusgüter" wie Seidenartikel, Weine, Parfüms oder Möbel waren zwar vielfältiger, beliefen sich aber höchstens auf 20 Prozent des gesamten Imports. Einen nur geringen Prozentsatz der Einfuhren stellten in den ersten Jahrzehnten der Unabhängigkeit Produktions- und Investitionsgüter dar. Das herausragende Charakteristikum des mexikanischen Importhandels im 19. Jahrhundert war die Dominanz von (vor allem Baumwoll-) Textilien. Diese Dominanz spiegelt das Ausgreifen der europäischen, insbesondere der britischen Wirtschaft auf die lateinamerikanischen Märkte wider.
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Nach 1821 beherrschten die Briten allerdings nur kurze Zeit nahezu unangefochten den mexikanischen Markt. Fast zeitgleich mit ihnen traten die Nordamerikaner auf den Plan, die bereits zwei Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung einen Konsul ernannt hatten und - in den Worten eines englischen Händlers von Veracruz - damals schon im Begriffe standen, den Handel Mexikos von Großbritannien „fortzulenken". In den ersten Jahren sahen die Engländer in den Nordamerikanern ihre einzigen ernsthaften Konkurrenten. Trotz der frühen britischen Warnungen vor dieser US-Konkurrenz waren die Nordamerikaner vorerst jedoch keine ernstzunehmenden Rivalen bei der Lieferung von Gütern eigener Produktion; ihre Stärke lag im Bereich des Schiffsverkehrs, in dem sie die Europäer deutlich übertrafen. Die Briten beobachteten die Überlegenheit der US-Schiffe im Mexikogeschäft mit größter Eifersucht. Als 1833 ein mexikanisches Gesetz erlassen wurde, demzufolge Güter, die auf mexikanischen Schiffen eingeführt wurden, ein Fünftel weniger Zölle zahlen mußten, als die auf ausländischen Schiffen importierten, sah O'Gorman hierin sofort eine Chance für den britischen Handel. Dessen Problem hatte in den Jahren davor darin bestanden, daß sein Haupteinfuhrartikel (einfaches Baumwolltuch) in England zwar um 10-15 Prozent billiger als in den USA hergestellt wurde, auf dem mexikanischen Markt aber gegen die US-Konkurrenz trotzdem nicht bestehen konnte, da die Nordamerikaner einen Großteil ihrer Ware in das Land schmuggelten. Der offizielle Wert der Baumwollimporte lag im Jahresdurchschnitt bei 2,5 Millionen pesos; O'Gormans Schätzung zufolge schmuggelten die Amerikaner Waren im Wert einer weiteren Million ein. Zum damaligen Zeitpunkt fuhr nur ein relativ kleiner Teil der britischen Handelsflotte direkt nach Mexiko; der weitaus größere Teil segelte nach New Orleans, lud dort die Waren auf kleinere mexikanische oder US-Schiffe um und transportierte Baumwolle zurück nach Großbritannien. Die Neuregelung würde dazu führen, so die Annahme, daß Briten ihre Waren in noch größerem Ausmaß auf mexikanische Schiffe umluden und durch den Differentialzoll weit besser als früher gegen die US-Schmuggelkonkurrenz bestehen könnten (O'Gorman an Bidwell, México 4. 5. 1833, PRO, FO 50/80 B, Bl. 71-75; Pakenham an Palmerston, México 11.11. 1833, PRO, FO 50/80 A, Bl. 128-133). Diese Rechnung ist allerdings nicht aufgegangen, da die europäischen Konkurrenten Großbritanniens dieselbe Methode anwandten. 1831 war bereits ein erstes mexikanisches Gesetz erlassen worden, das „zum Schutz der nationalen Schiffahrt" dieser eine Zollreduktion von einem Sechstel einräumte; bereits seit damals luden deutsche Schiffe ihre Ladungen in
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New Orleans auf die mexikanischen Kutter um, was sich trotz der höheren „Fracht- und Assekuranzkosten" finanziell lohnte. Betrachtet man somit die zur Durchführung des Handels erforderlichen Schiffsbewegungen, so ergibt sich eine deutliche Gewichtsverschiebung: Die europäische Dominanz weicht der US-amerikanischen (Herrera Canales 1980:95-109). Die in den Anfängen der mexikanischen Unabhängigkeit wichtigste Handelsroute führte von Mexiko in die USA, vor allem nach New York und New Orleans. Bereits seit 1825 dominierte die nordamerikanische Handelsmarine das Transportgeschäft mit Mexiko. Über 60 Prozent aller Schiffe und Tonnagen im mexikanischen Import- und über 50 Prozent im Exportgeschäft waren nordamerikanischer Herkunft. Zu diesem Zeitpunkt übertraf das USTransportaufkommen das britische in La Habana und Veracruz, in den Karibikhäfen La Guaira und Maracaibo, am Río de la Plata und (hinsichtlich der Tonnage) selbst in Valparaiso und Callao (Humphreys 1970:294f; vgl. auch Mackenzie an Canning, Xalapa 24. 7. 1824, PRO, BT 6/53 o. P.). Französischen Quellen zufolge waren von den 900 Schiffen, die im Jahr 1862 mexikanische Häfen anliefen, immer noch 485 amerikanischer Herkunft; weit abgeschlagen folgten Großbritannien mit 118, noch weiter Frankreich mit 80, Spanien mit 61, Deutschland mit 32 Schiffen („Le commerce du Mexique", Le Moniteur vom 3. 6. 1862, ANP, F'2 2695). Erst in den 1870er Jahren gelang es den Europäern, 65 Prozent aller am mexikanischen Außenhandel beteiligten Schiffe zu stellen und damit die USA von ihrem ersten Platz zu verdrängen. Mexiko selbst hat nie eine Hochsee-Handelsmarine aufbauen können; das Land beschränkte sich auf den Erwerb von Küstenfrachtern und kleineren Schiffen, die bis zu den Südhäfen der USA fahren konnten. Es ist zwar richtig, daß in den ersten Jahren der mexikanischen Unabhängigkeit die US-amerikanische Handelsroute, die die mexikanischen Golfhäfen mit den nordamerikanischen Atlantikhäfen verband, die wichtigste Route für den mexikanischen Außenhandel war; ab 1827 bereits rückte jedoch für den mexikanischen Importhandel die „europäische Route" von London, Liverpool, Gibraltar, Bordeaux, Marseille, Le Havre und später Hamburg an die erste Stelle, während für den Exporthandel die US-amerikanische Route bis Mitte des Jahrhunderts ihre Vorrangstellung beibehielt. Die Erklärung für diesen Unterschied liegt darin, daß europäische Schiffe auf der Rückkehr kaum mexikanische Waren nach Europa mitnehmen konnten - Silber und Cochenille beanspruchten nur wenig Laderaum - und somit fast leer hätten zurückfahren müssen. Daher wählten viele europäische Schiffe den Weg über einen US-Hafen, in dem sie Rückfracht laden konnten.
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Bis Mitte des Jahrhunderts behielten jedoch US-Schiffe eine wichtige Mittlerfunktion auch im mexikanischen Importhandel aus Europa, da nach wie vor ein großer, im Laufe der Jahre allerdings abnehmender Teil der europäischen Manufakturwaren auf nordamerikanischen Schiffen nach Mexiko transportiert wurde. Dabei scheinen die von den USA nach Lateinamerika gesandten europäischen (vor allem britischen) Re-Exportwaren besseren Absatz gefunden zu haben als die direkt aus Europa in die ehemaligen spanischen Kolonien verschifften Güter; offensichtlich hing dieser nordamerikanische Handelsvorteil sowohl mit dem Versteigerungssystem britischer Manufakturwaren in den USA als auch vor allem mit den geographischen Transportvorteilen der Yankees zusammen. Für die Vereinigten Staaten war dieser Re-Exporthandel europäischer (Transit-)Artikel ein geeignetes Mittel, zu einem Zeitpunkt am Mexikogeschäft zu partizipieren, zu dem sie noch nicht in der Lage waren, eigene Güter in größerem Umfang an ihre südlichen Nachbarn zu exportieren. Das hohe US-amerikanische Schiffsaufkommen im Mexikohandel ist somit nicht Ausdruck eines großen nordamerikanisch-mexikanischen Handelsverkehrs, sondern primär auf die anfangs noch rudimentäre Austauschstruktur mit europäischen Staaten zurückzuführen. Folgende Zahlen können (für das erste Jahrzehnt der mexikanischen Unabhängigkeit) einen Eindruck von der Bedeutung der US-Handelsmarine für europäische Waren vermitteln: Die 59 Schiffe, die 1823/24 im Hafen von Tampico löschten, waren alle nordamerikanischer Herkunft; die von ihnen transportierten Güter hatten einen Gesamtwert von 2,6 Millionen pesos, von denen 1,1 Millionen auf britische, 560.000 auf deutsche, 380.000 auf spanische und kubanische, je 190.000 auf französische und nordamerikanische und der Rest auf andere Waren entfielen (Charles O'Gorman, Information regarding the Trade of Tampico, obtained through a private Channel in September 1824, México 1. 3.1825, PRO, FO 203/3, Bl. 122). Der US-Konsul Taylor beschrieb den Mechanismus in einer Depesche an Außenminister Adams: Die Händler aus den Vereinigten Staaten schickten Schiffe nach Europa, wo sie Waren luden und direkt nach Mexiko segelten, was schneller und günstiger zu bewerkstelligen war als bei einem Zwischenaufenthalt in den USA. Die Profite waren größer, das Geschäft erforderte allerdings auch umfangreiche Investitionen (Taylor an Adams, Alvarado 5.1. 1825, NAW, RG, 59, CD, Veracruz, Roll 1). In der gesamten ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren die europäischen Handelspartner für Mexiko ungleich wichtiger als die USA. Noch 1856 stellten Geschäfte mit europäischen Partnern 81 Prozent, mit US-Firmen nur 14 Prozent
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des gesamten Handelswertes dar (1872/73 hatten demgegenüber die wirtschaftlichen Transaktionen mit Nordamerika bereits 39 Prozent des gesamten mexikanischen Handels erreicht). Konnte in den ersten beiden Jahren der mexikanischen Unabhängigkeit (bis 1823) Spanien noch die Hauptrolle im mexikanischen Außenhandel spielen, so übernahm ab 1824 Großbritannen diesen Part. Trotz der entscheidenden Bedeutung des britisch-mexikanischen Handels liegen jedoch für die Jahre nach 1821 keine verläßlichen Statistiken vor. Es ist vielmehr außerordentlich schwierig, Umfang und Wert der britischen Exporte nach Mexiko auch nur annäherungsweise festzustellen. Weder der britische Konsulardienst noch offizielle mexikanische Stellen verfügten über genaue Daten. Ersterer konnte sich nicht auf die Angaben englischer Händler verlassen, „becausé the greatest jealousy prevails among them" (O'Gorman an Planta, México 1. 3.1825, PRO, FO 203/4), letztere wollten schon deshalb keine genaueren Zahlen liefern, weil diese die Bestechlichkeit der Hafen- und Zollbeamten offengelegt hätten. Die in den Parliamentary Papers publizierten Zahlen wiederum enthalten keine Angaben zu den Re-Exporten britischer Güter und Manufakturwaren von den USA nach Mexiko; sie enthalten auch nicht die Exportwerte der Westindischen Inseln, außer es handelte sich um Re-Exporte aus Großbritannien (Cody 1954:270). Private Schätzungen britischer Kaufleute kamen daher auf Exportzahlen, die dreimal so hoch lagen wie die offiziellen. (Die Unzuverlässigkeit statistischer Angaben gilt nicht nur für die Frühphase des mexikanischen Außenhandels, sondern muß für das ganze Jahrhundert in Betracht gezogen werden.) Andererseits ist vor allzu spekulativen Größenangaben zu warnen, da der britische Export nach Lateinamerika in der Boomphase 1824/25 zwar enorm nach oben schnellte, sich danach aber wieder auf etwas unter zehn Prozent des gesamtenglischen Exports einpendelte - ein prozentualer Anteil, den die britische Lateinamerika-Ausfuhr seit Ende der Napoleonischen Kriege aufwies und während des größeren Teils des 19. Jahrhunderts beibehalten sollte. Tabelle 1: Wert der mexikanischen Importe (in laufenden pesos) aus Jahr 1822 1823 1824 1825 1826 1827
Frankreich
3.679.800 2.860.400 2.985.000
USA
Großbritannien
6.281.000 4.173.000
453.460 1.848.880 2.762.020 7.046.780 3.342.075 6.140.200
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Tabelle 1 läßt den Wert der mexikanischen Importe in den Jahren 182227 erkennen (nach Delgado 1953: Bd. III, 271-285; Official Value of Exports from Great Britain to Mexico, Staatsarchiv Bremen 2-C. 13.b. 1; vgl. auch „Return relating to Trade with Mexico from 1820 to 1841", PRO, P. P. 1842, XXXIX, 531; Lerdo de Tejada 1853:Tab. 37-41). Möglicherweise wird in der Tabelle die Differenz zwischen dem französischen und dem britischen Exportvolumen nach Mexiko zu gering veranschlagt; die Fehlangaben gehen wahrscheinlich auf eine der häufigsten Fehlerquellen der statistischen Handels- und Schiffahrtsangaben im 19. Jahrhundert zurück: Die europäischen Zollbehörden gaben als Zielhafen bestimmter Waren zumeist den ersten, von Schiffen ihres Landes angelaufenen Hafen an. Das bedeutet, daß eine Warensendung beispielsweise als nach New Orleans expediert galt, wenn das (von Großbritannien oder Frankreich) kommende Schiff diesen Hafen zuerst anlief, ohne zu berücksichtigen, daß ein mehr oder minder großer Teil der Ladung etwa für Veracruz bestimmt sein konnte. Die US-Handelsstatistiken lassen deutlich werden, daß 50-80 Prozent der von den Vereinigten Staaten nach Mexiko exportierten Waren Re-Exporte waren, das heißt, sie kamen aus einem europäischen Land und lagerten als Transitgüter nur vorübergehend in einem US-Hafen. Erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts waren die Handels- und Wirtschaftsbeziehungen entwickelt genug, um auf diese Form des Zwischen- oder Transithandels verzichten und direkte Austauschbeziehungen für sämtliche Güter herstellen zu können. Mitte der 1820er Jahre jedoch schätzte der englische Generalkonsul in Mexiko, Charles O'Gorman (O'Gorman an Planta, México 16. 12. 1825, PRO, FO 203/4): „About 40% of the goods imported from the United States through Tampico were of British origin." Die über Matamoros eingeführten „amerikanischen" Güter sollen gar zu 50 Prozent englischer Herkunft gewesen sein (O'Gorman, Statement, PRO FO 50/110). Bereits 1824 hatte der britische Konsul in Veracruz berichtet, daß die 23 US-Schiffe, die im Jahr zuvor in Tampico eingelaufen waren, „fast ausschließlich" britische Manufakturwaren geladen hatten (Mackenzie an Canning, Xalapa 24. 7. 1824, PRO, FO 50/7 und BT 6/53). Da dieser Re-Exporthandel auch französische und deutsche Waren betraf, bleiben alle Angaben notgedrungen ungenau. Der französische Generalkonsul Martin schätzte, daß in der zweiten Hälfte der 1820er Jahre der „größte und wertvollste" Teil der auf US-Schiffen nach Mexiko importierten Waren französischen Ursprungs war (Rapport sur le Mexique. Premier rapport sur 1 etat du Mexique, 1827 ANP, F12 2695). In der zweiten Hälfte der 1830er Jahre stieg der US-Anteil am Schiffsverkehr abermals, da die kleineren mexikanischen Schiffe, die bis da-
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hin Waren aus New Orleans gebracht hatten, im Golf nicht mehr verkehren konnten, ohne Gefahr zu laufen, von texanischen Schiffen aufgebracht zu werden (Crawford an O'Gorman, Tampico 5. 1. 1837, PRO, FO 50/110, Bl. 138f; vgl. auch Charles Uhde an Cumberlege, 11. 1. 1851, PRO, FO 50/247). Zeitgenössischen Quellen zufolge bedeuteten in den 1820er Jahren weder der französische noch der Handel einer anderen europäischen Macht eine ernsthafte Herausforderung der britischen Vorherrschaft. Nach Lerdo de Tejada kontrollierte England noch 1840 67 Prozent der mexikanischen Importe; an zweiter Stelle folgte Frankreich mit 13 Prozent, dann schlössen sich die USA mit zwölf Prozent, schließlich Hamburg und Bremen mit acht Prozent an (Lerdo de Tejada 1853: Tab. 37-41; Herrera Canales 1980:81). Inzwischen ist von Robert A. Potash nachgewiesen worden, daß Lerdo de Tejada ein gravierender Rechenfehler unterlaufen ist. Die Neuberechnung des mexikanischen Importwertes ergibt folgende Zahlen (Potash 1953:474-479): Tabelle 2: Mexikanische Importe 1840-1846 (in pesos, Neuberechnung) Herkunftsland
Gesamtwert
Großbritannien Frankreich davon: Spezialhandel Transithandel USA Deutschland Sonstige Insgesamt
16 17 13 3 12 11 3 60
090 384 698 685 044 804 592 914
235 018 315 703 134 009 287 683
Jahresdurchschnitt
in %
2 298 605 2 483 431 1 956 902 526 529 1 720 591 1 686 287 513 184 8 702 098
26,4 28,5 22,4 6,1 19,8 19,4 5,9 100,0
Alle bisherigen Zahlen beziehen sich auf den Seehandel. Für die ersten drei Jahrzehnte der mexikanischen Unabhängigkeit muß allerdings noch eine besondere Form des Handels berücksichtigt werden, die seit dem 19. Jahrhundert bis heute die Phantasie der Schriftsteller und das Interesse der Historiker weit mehr erregt hat als der Überseehandel; gemeint ist der sagenumwobene Überlandhandel im Norden Mexikos, der Santa Fé-Handel. Mit der mexikanischen Unabhängigkeit setzte eine rege Handelstätigkeit auf dem sogenannten Santa Fé Trail und auf dessen Süd-Verlängerung, dem alten Camino Real bis Chihuahua, ein. Die Statistik von Josiah Gregg läßt deutlich werden, daß anfangs der weitaus größte Teil der aus Missouri kommenden Waren in Santa Fé blieb, um von dort in die anderen Ortschaften Nuevo Méxicos weiterverkauft zu werden. 1824 war dieser Markt - Santa Fé zählte 5.000, Nuevo México
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43.000 Einwohner - aber bereits so überfüllt, daß nicht einmal mehr Geld in Umlauf war, mit dem die Ware hätte bezahlt werden können. Sehr schnell orientierten sich die Händler daher nach dem viel reicheren, in einem Minendistrikt gelegenen Chihuahua, das bald zum Drehpunkt des Überlandhandels wurde. Nuevo México aber war innerhalb weniger Jahre ganz auf den US-Handel umgestiegen, die alte Abhängigkeit von den Händlern Chihuahuas war gebrochen, amerikanische Güter waren besser und billiger. Greggs Tabelle (Tabelle 3) läßt das Anwachsen des Santa Fé-Handels deutlich werden. In den 1830er Jahren schien der Handel allerdings nicht weiter expandieren zu können, was im wesentlichen mit der Konkurrenz europäischer und asiatischer Güter der gehobeneren Qualität zusammenhing, die von europäischen Händlern in Mexiko günstiger als von den US-Händlern angeboten werden konnten. Während nämlich die Europäer ihre Waren direkt aus Europa importierten und nur den mexikanischen Importzoll zu entrichten hatten, mußten die Santa Fé-Handler, die ebenfalls mit ausländischen Gütern handelten, die zuerst in die Osthäfen der USA gelangten und von dort auf dem Landweg bis Chihuahua transportiert wurden, zuerst den US-Zoll und sodann zusätzlich den mexikanischen Zoll bezahlen. Zusammen mit den übrigen Beschwerlichkeiten des Überlandhandels führte dieses System der doppelten Besteuerung dazu, daß der Santa Fé-Handel nicht konkurrenzfähig war und stagnierte. Als Ergebnis mehrerer Eingaben beschloß der US-Kongreß 1845 schließlich den Drawback-Act, dem zufolge bei Re-Exporten nach Santa Fé oder Chihuahua der amerikanische Importzoll zurückerstattet wurde.
Tabelle 3: Der Santa Fé-Handel (nach Josiah Gregg) Jahr
Warenwert (pesos)
1822 1823 1824 1825 1826 1827 1828 1829 1830 1831 1832 1833 1834
15.000 12.000 35.000 65.000 90.000 85.000 150.000 60.000 120.000 250.000 140.000 180.000 150.000
Warenwert nach Chihuahua (pesos) 9.000 3.000 3.000 5.000 7.000 8.000 20.000 5.000 20.000 80.000 50.000 80.000 70.000
Jahr
Warenwert (pesos)
1835 1836 1837 1838 1839 1840 1841 1842 1843 1844 1845 1846
140.000 130.000 150.000 90.000 250.000 50.000 150.000 160.000 450.000 200.000 342.000 1.000.000
Warenwert nach Chihuahua (pesos) 70.000 50.000 60.000 80.000 100.000 10.000 80.000 90.000 300.000 ? ? fast 1.000.000
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Die Folgen ließen nicht auf sich warten: War der Wert der Santa FéWaren 1844 auf 200.000 Dollar geschätzt worden, so stieg er 1845 bereits auf 342.000 Dollar und abermals ein Jahr später auf rund eine Million Dollar. Die Güter waren zum größten Teil in Chihuahua und anderen Städten des Inneren verkauft worden (Gregg 1844:332; Moorhead 1958:55-75; Pattie 1905:255-300; Webb 1931). Spätestens seit Beginn der 1840er Jahre wurde der größte Teil nicht in Santa Fé, sondern in weiter südlich gelegenen Städten wie El Paso del Norte, Chihuahua, Durango, Zacatecas, Aguas Calientes verkauft. Folgt man den Schätzungen Greggs, so brachte eine Santa Fé-Karawane im Durchschnitt der 1820er Jahre ein Fünftel ihrer Ladung nach Chihuahua oder weiter ins Landesinnere; in den 1830er Jahren war der Anteil auf über 50 Prozent angestiegen. Zu diesem Zeitpunkt wurde der größte Teil der Santa Fé-Handelsgüter nicht mehr in Missouri, sondern an der Ostküste, in New York und Philadelphia, oder direkt in Europa gekauft (Moorhead 1958:76f; Magoffin 1926:passim). Der Überlandhandel zwischen Mexiko und den USA hatte für beide Länder in den 1820er Jahren vielfältige politische, soziale und wirtschaftliche Folgen (vgl. Stephens 1914:177-197). Er bewirkte, daß der Lebensstandard in Nuevo México anstieg und dieser Landesteil weitgehend von den USA abhängig wurde. Damit erleichterte er die spätere US-Invasion. Von größter Bedeutung für die USA war der stete Silberfluß aus Mexiko, war Silber doch fast das einzige Produkt, das US-Händler als Gegenleistung für ihre Waren erhielten. Das mexikanische Silber übte insbesondere auf das Finanzsystem Missouris eine stabilisierende Wirkung aus. 1824 bereits waren so viele mexikanische Silberpesos in Missouri in Umlauf, daß dieses Zahlungsmittel gleichwertig mit dem US-Dollar akzeptiert wurde; vier Jahre später gab es in West-Missouri schon mehr pesos als Dollar, 1831 war der Peso das wichtigste Zahlungsmittel im Staat. Der stete Zufluß mexikanischen Silbers gewährte Missouri eine einzigartige Stellung unter den landwirtschaftlichen Staaten der USA. Der Santa Fé-Trail blieb die wichtigste Handelsroute zwischen dem Mississippi-Tal und Nuevo (seit 1848: New) Mexico, bis 1880 die Atchinson, Topeca and Santa Fe Railroad von Chicago bis an den Rio Grande fertiggestellt wurde.
MEXIKANISCHER
STAAT U N D
AUSSENSEKTOR
Waren die bisherigen Ausführungen darauf konzentriert, den mexikanischen Außenhandel in seiner Zusammensetzung sowie im Hinblick auf Handelsrouten und Schiffsverkehr zu untersuchen, so soll
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nun anhand von vier Aspekten der Zusammenhang von Außensektor und Staat diskutiert werden. Es geht (erstens) um die Bedeutung des mexikanischen, in staatlichen Münzanstalten geprägten Silbergeldes, für das Volumen des Außenhandels, (zweitens) um den Anteil des Außenhandels am Bruttoinlandprodukt, (drittens) um das Verhältnis von Außenhandel und Steuereintreibungskapazität des Staates, (viertens) um die Korrelation zwischen Außenhandel und politischer Instabilität. Da für einen Großteil des Untersuchungszeitraums keine verläßlichen Gesamtangaben zum mexikanischen Außenhandel vorliegen, muß bei dem Versuch, diesen zu quantifizieren, auf eine Hilfskonstruktion rekurriert werden. Ausgangspunkt einer derartigen Berechnung kann ein preußischer Handelsbericht aus dem Jahr 1851 sein, in dem der Berichterstatter zuerst auf die „ziemlich stabilen Verhältnisse" des Zollvereinshandels mit Mexiko hinwies und diese Stabilität folgendermaßen begründete (Der Handelsverkehr 1851:627f): „Der Grund davon mag [...] darin liegen, daß die Werthe der Importe überhaupt genau dem Ertrage der Silber- und Goldbergwerke correspondiren, und diese sich in den letzten Jahren ziemlich stabil erhalten hatten. In dem Umstände aber, daß Mexiko keine andern Tauschwerthe, als die Erträge seiner Bergwerke dem auswärtigen Handel zu bieten hat, und daß es daher an Retouren für den Handel von dort vollkommen mangelt, liegt zugleich der Grund, weshalb ein erheblicher Aufschwung des Handels dahin im Ganzen nicht zu gewärtigen sein dürfte."
Die Korrelation der Importwerte mit dem Ertrag der Silber- und Goldbergwerke ermöglicht es, die Tendenz des mexikanischen Außenhandels festzustellen. 1824 stellte der britische Konsul Charles Mackenzie bereits fest, daß es für den mexikanischen Export praktisch keine Alternative zu den Edelmetallen gab (Mackenzie an Canning, Xalapa 24. 7. 1824, PRO, FO 50/7; PRO, BT 6/53): „It has been clearly shown that at all periods, even when every branch of industry was at its height, the precious metals have formed the chief portion of the exports. There are many reasons for thinking that this will, at least for a very long time, continue to be the case." Mackenzie sollte Recht behalten: Bis zum Porfiriat blieben Edelmetalle der mit Abstand wichtigste Exportartikel. Die Edelmetallproduktion kann im wesentlichen nur über die Ausmünzungen festgestellt werden, alle anderen Angaben sind noch unzuverlässiger als dieser Indikator (vgl. Mühlenpfordt 1969:438-472). Eduard Mühlenpfordt zufolge wurden zwischen 1811 und 1830 im Jahresdurchschnitt mindestens 12,5 Millionen pesos produziert, was erheblich unter dem Durchschnitt der Vorkriegszeit lag. Nach dem
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Tiefstand von 1823 erholte sich die Edelmetallproduktion allmählich; es dauerte allerdings Jahrzehnte, bis sie ihren Vorkriegsstand wieder erreicht hatte. Die in Tabelle 5 gemachten Angaben zu den Edelmetallausmünzungen entstammen der Studie von Adolf Soetbeer. Da, von wenigen Ausnahmen (etwa 1845 und 1860) abgesehen, nur der Export von ausgemünzten Edelmetallen erlaubt war, und diese einen Anteil von rund 70 bis 90 Prozent aller mexikanischen Exporte darstellten, vermögen die Angaben zu den Edelmetallausmünzungen zumindest tendenziell Ausmaß und Schwankungen des Außenhandels anzudeuten. Die Angaben zu den Edelmetallexporten entstammen den zeitgenössischen Übersichten von Miguel Lerdo de Tejada; obwohl sie sich natürlich nur auf die legalen Exporte beziehen und den Schmuggel - der vor allem an der Westküste enorme Ausmaße annahm - außer acht lassen, bestätigen sie im wesentlichen die große Bedeutung der Edelmetalle für die mexikanischen Gesamtexporte, wodurch erneut deutlich gemacht wird, daß die mexikanische Edelmetallproduktion fast ausschließlich der Bezahlung eingeführter Konsumgüter, nicht aber der Kapitalbildung oder der Investition in nationale Wirtschaftsunternehmen, diente. Die Zahlen von Tabelle 5 lassen noch ein weiteres Spezifikum des mexikanischen Außenhandels deutlich werden: Im gesamten Untersuchungszeitraum war das Wachstum des Handelsvolumens (im Vergleich zu den Jahren nach 1875) sehr bescheiden; der Außenhandel konnte im ersten halben Jahrhundert nach der Unabhängigkeit kaum verdoppelt werden. Wie unzuverlässig insgesamt das Zahlenmaterial ist, läßt die Schätzung Brantz Mayers (Tabelle 4) erkennen, des Sekretärs der US-Gesandtschaft, der allgemein als solider Rechercheur und relativ verläßliche Quelle gilt (Mayer 1844:306; Schneider 1981:Bd. 1: 91-93; López Cámara 1962:72-83). Wahrscheinlich sind Mayers Angaben überhöht; Mühlenpfordt schätzte die Edelmetallausfuhren bedeutend geringer ein; für Anfang der 1840er Jahre kam er auf einen zwischen 14 und 15 Millionen pesos schwankenden Betrag und näherte sich damit den Zahlen Lerdo de Tejadas an. Die Hälfte des Exports ging nach England, ca. ein Drittel in die USA, der Rest in andere europäische Länder. Fast alle für Europa bestimmten Edelmetalle wurden aus Sicherheitsgründen auf englischen Kriegs- und Paketschiffen exportiert. Der größte Teil der Edelmetalle wurde zum damaligen Zeitpunkt über Tampico ausgeführt, weil die Verbindungen zwischen den Bergwerkdistrikten (San Luis Potosí, Guanajuato, Zacatecas) und dieser Hafenstadt einfacher als die nach Veracruz waren.
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Tabelle 4: Mexikanische Exporte 1841 (Schätzungen von Brantz Mayer) Metallgeld über den Hafen von Veracruz Metallgeld über Mazatlän und San Blas Silber und Gold über andere Häfen Silber über Tampico Cochenille, Jalappe, Vanille, Sassaparille, Felle Andere Produkte
4.000.000 2.500.000 5.000.000 7.000.000
pesos pesos pesos pesos
18.500.000 pesos 1.000.000 pesos 500.000 pesos 20.000.000 pesos
Der mexikanische Staat erließ von Anfang an liberale und wenig detaillierte Exportvorschriften. Die Ausfuhr von Gold und Silber war nie untersagt; auf dem Export von Edelmetallen lag lediglich ein Ausfuhrzoll, der in der ersten Jahrhunderthälfte zwischen einem und sieben Prozent schwankte. Die Edelmetalle durften allerdings (bei einigen Ausnahmen) nur in gemünztem Zustand das Land verlassen, während ihr Export in Form von Barren, Mineral oder Staub der Prohibition unterlag. Mit dieser Bestimmung sollte erreicht werden, daß die Veredelung der Metalle im Land erfolgte, weil dadurch den Pächtern der Münzanstalten die Präge- und sonstigen mit der Veredelung zusammenhängenden Kosten garantiert wurden. Die Pächter der zwölf Münzanstalten wiederum gewährten im Gegenzug der Regierung Darlehen, auf die diese (neben den Auslandsdarlehen) zu ihrem Fortbestehen angewiesen war. Die Prägekosten beliefen sich auf zwölf Prozent - sie lagen viel höher als in Europa -, die „Ausmünzungssteuer" {derechos de amonedación) betrug 4,4 Prozent, die Edelmetallsteuer über sechs Prozent. Insgesamt schwankten die von den Bergwerksbesitzern zu leistenden Abgaben zwischen 20 und 25 Prozent. Zu diesen Abgaben sind noch die Abbaukosten hinzuzurechnen, die wegen der Rückständigkeit der technischen Vorrichtungen, der hohen Transportkosten und Binnenzölle für die zum Abbau und zur Veredelung erforderlichen Elemente (etwa: Salz, Pulver, Quecksilber) sehr hoch lagen. Während in England und Deutschland die Veredelung einer Karreneinheit 54 centavos kostete, stieg der Preis in Pachuca auf vier pesos, somit auf nahezu das Achtfache (Florescano/Lanzagorta 1976: 97f). Diese Verteuerung der Edelmetalle dürfte dazu geführt haben, daß ein nicht unerheblicher Teil aus dem Land geschmuggelt wurde. Der hohe Anteil an gemünzten Edelmetallen - also an gültiger Währung - am Export hat unter Wirtschaftshistorikern zu der Frage geführt, ob bei der Erstellung der mexikanischen Handelsbilanz die Edelmetalle als Ware oder als Zahlungsmittel zu bewerten sind. Betrachtet man sie als eine Handelsware, so wird man zu einer für Mexiko über-
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Tabelle 5: Mexikos Außenhandel
1821-1861
(in Millionen
Jahr
Exporte insgesamt
Importe aus Großbritannien, Frankreich, USA
Edelmetallausmünzungen
Edelmetallexporte
1821 1822 1823 1824 1825 1826 1827 1828 1829 1830 1831 1832 1833 1834 1835 1836 1837 1838 1839 1840 1841 1842 1843 1844 1845 1846 1847 1848 1849 1850 1851 1852 1853 1854 1855 1856 1857 1858 1859 1860 1861
9,7 9,3 2,3 4,5 5,0 7,6 12,2 14,5
3,9 11,9 19,8 15,5 14,9 9,9
12,1 11,5
23,5 21,7
9,4 9,8 8,3 9,1 9,5 8,9 10,4 11,3 10,0 11,7 9,8 12,2 12,6 12,9 11,8 11,5 11,5 13,1 12,5 13,1 13,5 14,0 12,1 13,7 15,2 15,2 17,1 19,2 19,4 19,4 17,5 18,2 17,0 17,2 17,6 19,2 17,4 15,6 16,0 14,3 17,2
10,0 9,3 3,4 6,5 3,7 5,9 9,7 12,4 13,0 12,0 10,5 7,3 14,2 13,5 8,1 12,7 8,5 4,5 11,6 6,4 11,7 8,5 10,6 11,6 11,3 9,7 0,9
Importe insgesamt
7,2
12,5
13,6 16,4 16,2 7,9 13,4 31,2
21,6 13,9 11,4 15,3 15,2 30,0
10,6 6,4 5,8 14,4 14,9 7,1 10,5 10,0 14,5 9,2 8,4 6,4 7,7 7,6 6,7 5,7 6,9 6,7 6,4 5,1 1,4
pesos)*
11,0 12,2 12,5
* Die Import- und Exportangaben f ü r 1821 und 1823 beziehen sich n u r auf Veracruz, die von 1824 n u r auf Veracruz und Alvarado; die von 1843 umfassen n u r den Export von Edelmetallen und Farbhölzern; die Import- und Exportangaben für 1856-1859 beziehen sich nur auf Veracruz und Tampico; eine detallierte Übersicht des Außenhandels von Veracruz 1823 in: PRO, FO 50/7, Bl. 91-93. Quellen für Tab. 5: Coatsworth (1983: Tab. XIII) - auf der Grundlage von Herrera Canales (1977); Lerdo de Tejada (1853);
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Stevens (1984:Tab. 43); für 1861: Herrera Canales (1980:29). Die Edelmetallausmünzungen nach Soetbeer (1879:55, 58); Orozco y Berra (1857) und Pérez Hernández (1862) kommen zu einigen deutlich abweichenden Ergebnissen. Unterschiedliche Angaben (besonders für 1828 und 1829) auch in PRO, FO 50/67, Bl. 129 (Statement Nr. 8 von O'Gorman). Die Edelmetallexporte nach Lerdo de Tejada (1853:Tab. 52, 53). Die Edelmetallexporte 1821-1829 nach PRO, FO 50/65, Bl. 157 (Statement Nr. 6 von Ch. O'Gorman) sowie PRO, FO 50/67, Bl. 121 (dort auch eine genaue Aufgliederung nach Jahren und Häfen). Von 1829/30 bis 1837/38 und für 1848/49 sowie 1849/50 gelten als Zeiträume jeweils Juli des vorhergehenden bis Juni des folgenden Jahres. Die Edelmetallexporte in Höhe von 12,0 Millionen pesos von 1830 gelten von Juli 1829 bis Juni 1830. Die Angaben für 1838 beziehen sich auf Juni 1837 bis Dezember 1838.
wiegend positiven Handelsbilanz gelangen, da der Wert der Exporte zumeist höher lag als der der Importe; sieht man in ihnen lediglich ein Zahlungsmittel, so ergibt sich ein negativer Saldo für Mexiko. Bei der Analyse bilateraler Handelsvolumina ist daher stets die Frage zu berücksichtigen, ob die Statistiken Edelmetalle als Ware mit aufführen oder nicht (vgl. Sparks 1825:429-443). Des weiteren ist darauf zu achten, ob Edelmetalle überhaupt Eingang in die „nationalen" Exportlisten gefunden haben. Im Falle Frankreichs etwa sind bei den mexikanischen Exportwerten Edelmetalle nicht enthalten, da sie auf britischen Kriegsoder Paketschiffen fast ausschließlich nach England geschickt, dort in andere Währungen umgemünzt und dann erst in die übrigen europäischen Länder gesandt wurden. Festzuhalten bleibt jedenfalls, daß Mexiko im Untersuchungszeitraum Kapital exportierte; dieser Kapitalexport hatte für das Land enorme Konsequenzen wirtschaftlicher und politischer Art. Die Vorteile, die dem Ausland daraus resultierten, daß es für seine Waren keine Austauschprodukte, sondern „den Preis in Geld" erhielt, legte Finanzminister Trigueros in seiner Memoria von 1844 dar (zitiert nach Mañero 1879:27): „Nuestro comercio exterior, hasta aquí, es más útil que a la República, al extranjero, y le es más ventajoso que el de otros países de más consumo y expendio, porque no recibe en cambio efectos cuya enagenación le obligue a ocurrir a otros mercados y haga dudosas las utilidades: no le es más costoso valorizarlos, recibe en numerario el precio, y de este modo, sobre asegurar las ganancias, abrevia ulteriores especulaciones, multiplica las ventas y con brevedad acrece y percibe los productos de dinero. México, por el contrario, al desprenderse del valor, queda convertida en un consumidor casi estéril."
Der Außenhandelssektor der mexikanischen Wirtschaft stellte bis Ende des 19. Jahrhunderts keinen hohen Anteil an Mexikos Volkseinkommen dar; um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert beliefen sich die
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Exporte Neu-Spaniens lediglich auf 2,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts, Ein- und Ausfuhren zusammen betrugen nur 7,2 Prozent. Demgegenüber stellte der Außenhandel 1910, vor Beginn der Revolution, über 30 Prozent des Bruttoinlandproduktes dar. Bis in die República Restaurada hinein lag jedoch der Anteil der Exporte seit Proklamierung der Unabhängigkeit gegenüber den Durchschnittsangaben des Vierteljahrhunderts vor 1821 nahezu unverändert bei 4,3 Prozent; der Außensektor insgesamt hatte keine dramatische Positionsverschiebung erfahren; gegenüber der Kolonialzeit allerdings nahm der Außensektor im 19. Jahrhundert zu, was selbst für 1860 gilt, als die internationalen Wirtschaftsbeziehungen sowohl durch den Reformkrieg wie infolge der RückZahlungsverweigerung der Außenschulden schrumpften (Coatsworth, The State). Tabelle 6: Mexikanischer Außenhandel als Prozentsatz am Bruttoinlandprodukt 1800-1910 Jahr 1800 1796-1820 1845 1860 1877 1895 1910
Exporte 2,5 4,3 4,3 4,6 9,3 13,6 17,5
Importe 4,7 3,8 8,1 5,2 9,3 10,3 13,0
Insgesamt 7,2 8,1 12,3 9,8 18,6 23,9 30,5
Erst zu Beginn des Porfiriato, in den 1870er Jahren, lassen sich strukturelle Veränderungen feststellen, Importe und Exporte stiegen außergewöhnlich an. Für den vorhergehenden Zeitraum verdient jedoch festgehalten zu werden, daß Exportproduktion (vor allem Silberbergwerke) und Außenhandel einen relativ geringen Anteil an den wirtschaftlichen Aktivitäten Mexikos einnahmen. Die eigentliche Bedeutung des Außensektors lag darin, daß er die bei weitem wichtigste Steuerquelle war, somit das wichtigste Staatseinkommen darstellte, und nicht ohne Einfluß auf Erfolg oder Versagen einer Regierung war. Das Zahlenmaterial von Tabelle 6 legt eine erste wichtige Schlußfolgerung nahe: Auffällig ist nicht so sehr die Tatsache, daß der Außensektor in den ersten 50 Jahren mexikanischer Unabhängigkeit eher stagnierend als dynamisch war, als vielmehr die Feststellung, daß trotz der revolutionären Kriegsunruhen (1808-1821) und der chronischen politischmilitärischen Instabilität des unabhängigen Mexiko der Außensektor seine relative Position im Wirtschaftsleben des Landes, im Vergleich
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zu den Jahren vor der Unabhängigkeit, im wesentlichen halten und sogar leicht verbessern konnte. Dieses Phänomen deutet darauf hin, daß die Eliminierung kolonialspanischer Handelsrestriktionen unmittelbar nach der Unabhängigkeit eine schnelle Erholung des Außenhandelssektors von den Folgen des Krieges erlaubte, obwohl die Wirtschaft insgesamt eine lange Phase der Kontraktion und Stagnation durchmachte. John Coatsworth hat darauf hingewiesen, daß Außenhandelswachstum und industrielle Entwicklung im Mexiko des 19. Jahrhunderts (bis zum Porfiriat) umgekehrt proportional waren (Coatsworth, From Backwardness). Die sektoralen Bruttoinlandprodukt-Schätzungen deuten darauf hin, daß die Industrieproduktion in diesem Zeitraum von 41 auf 70 Millionen pesos anstieg. Die Jahre zwischen 1860 und 1877 erlebten erneut eine auf 49 Millionen pesos rückläufige Industrieproduktion; in diesem Zeitraum stieg das Importvolumen, vor allem infolge der Auslandsdarlehen (nicht wegen gestiegener Minenproduktion!), wieder an. Der Zusammenhang zwischen Außenwirtschaft und Entwicklungsprozeß des Landes stellt sich somit äußerst komplex dar: Förderte eine Regierung den Import-Export-Handel, der Phasen verschiedener Entwicklungsprozesse durchlief, dann trug sie zugleich zu einer Verlangsamung des Entwicklungsprozesses der einheimischen Industrie bei - zum einen, weil die ausländischen Importe eine nahezu unschlagbare Konkurrenz für die einheimischen Produkte darstellten und zu dem bereits erwähnten inversen Verhältnis zwischen Handels- und Industriewachstum führten, zum anderen, weil die spezifischen Umstände dieses Verhältnisses Hindernisse für wirtschaftliche Aktivitäten darstellten, neue Initiativen lähmten und die Produktionsrisiken über ein vertretbares Maß hinaus erhöhten. Dieses Argument läßt sich auch anders formulieren: Da mindestens drei Viertel des mexikanischen Exports in Silbermünzen bestanden (der weitaus größte Teil aller Ausmünzungen gelangte ins Ausland), bedeutete eine Phase intensiver Außenhandelstätigkeit zugleich eine hohe Bargeldausfuhr; die Folge hiervon war Geldknappheit im Inneren. Geldknappheit aber erschwerte wiederum die Entstehung und Entwicklung einheimischer Industrien, da sie sich für den einzelnen Mexikaner in Form schwacher Kaufkraft niederschlug; die verstärkten Importe ausländischer Güter bewirkten zwar ein Sinken der Preise; diese aber konnten für mexikanische Produzenten mitunter ruinös sein (Pohl 1980:301-315). Förderte eine Regierung hingegen die Industrieproduktion, dann bestand - wegen ihrer strukturellen Abhängigkeit von den Außenhandelszöllen - die Gefahr, daß sie aufgrund so-
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fort auftauchender finanzieller Probleme gestürzt und der eben eingeleitete Entwicklungsprozeß unterbrochen oder gar verkehrt wurde. Sowohl liberale wie konservative Regierungen haben es nicht vermocht, ihre Abhängigkeit von den Außenhandelszöllen abzubauen und ein stabiles Steuersystem zu entwickeln. Dieses Versagen der konservativen Regierungen der 1830er und 1840er Jahre sollte sich in der Juárez-Ara der 1850er Jahre unter den Liberalen wiederholen (Carmagnani 1983: 279-317). Die Gliedstaaten genossen steuerpolitisch nahezu unbeschränkte Autonomie; erst gegen Ende des Untersuchungszeitraums, in den 1870er Jahren, versorgten sie die Zentrale mit einem (geringen) Kontingent an Steuermitteln. Von 1820 bis 1880 läßt sich eine deutliche Tendenz feststellen, die darauf abzielte, zu verhindern, daß der Zentralstaat (oder der Bund) finanzielle Autonomie erlangte und eine deutliche Souveränität über das Nationalterritorium entwickelte. Marcello Carmagnani hat dieses Phänomen als den erfolgreichen Versuch des „Eigentümerstandes" (der hacendados und Bergwerksbesitzer) gedeutet, unbedingt seine Autonomie zu bewahren und das Regionalgebiet (den Gliedstaat oder das Departement) sowie dessen steuerliche Ressourcen als eigene zu betrachten, die nicht an die übergeordnete Nationalgemeinschaft, deren politischer Ausdruck die Zentralregierung war, abzutreten waren. Diese Haltung erklärt, weshalb der Staat bei seinen ordentlichen Einkommen immer ausschließlicher auf die Zolleinkünfte und bei seinen außerordentlichen stets dringlicher auf Darlehen und Vorschüsse zurückgreifen mußte. Für beide Arten von Einkommen waren die Händler entscheidend: Durch ihre Import-Export-Geschäfte verschafften sie dem Staat Zolleinnahmen, bei dessen Suche nach Gläubigern waren sie wiederum die erste Adresse. Somit waren es die Händler, die in den schwierigsten Jahrzehnten des mexikanischen 19. Jahrhunderts den Staat förmlich „erhielten", die ein von dem „Eigentümerstand" deutlich unterschiedenes Verhältnis zum Staat entwickelten. Offensichtlich betrachteten hacendados und Bergwerkbesitzer dieses Verhältnis als ihren Interessen nicht abträglich, gestattete es ihnen in den Regionen doch, weiterhin an ihrer Fiskalautonomie festzuhalten. „Eigentümer-" und „Regional-"Interessen standen in dieser Auseinandersetzung um die Aneignung der Steuerressourcen zusammen gegen den von den Händlern und „Kapitalisten" getragenen Staat. Dieser stützte sich in der zweiten Jahrhunderthälfte zusehends auf die Zolleinnahmen; die Habenseite des Staatsbudgets war immer mehr auf den Handel angewiesen, Zolleinnahmen stellten schließlich das zentrale Element des Bundesfinanzsystems dar. Da Händler darüber hinaus auch einen Großteil der außer-
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ordentlichen Staatseinnahmen (Darlehen in Form von Vorschüssen) übernahmen, gewannen sie nicht nur zusehends an Macht, sondern stellten außerdem eine Bedrohung des „Eigentümerstandes" dar, da dieser befürchtete, daß der Staat sich schließlich, bei einer derartigen Händlerdominanz, mit deren Interessen identifizieren würde und zentralisierende Tendenzen entwickeln könnte, welche die Macht der übrigen Gruppen eingeschränkt hätten. Aus dieser Befürchtung heraus kam es schließlich zu einer „Rationalisierung" der Staatseinnahmen und zur Eingliederung des Handelsstandes in den „Eigentümerstand". Der mexikanische „Entwicklungsprozeß" hat somit nicht nur eine ökonomische Dimension; er verweist darüber hinaus auf den politischen Entwicklungsprozeß des mexikanischen Staates im Zusammenhang von dessen sozioökonomischer Fundierung, von Regionalinteressen und Machtgruppierungen. Schließlich sei noch der Zusammenhang zwischen Außenhandel und politischer Instabilität angesprochen. Lateinamerikanische Regierungen und Regime des 19. Jahrhunderts werden häufig als „caudillistisch" bezeichnet, worunter im wesentlichen der Wechsel in der Regierungsmannschaft verstanden wird, ohne daß die jeweils neuen Machthaber sich grundsätzlich von ihren Vorgängern unterschieden. CaudillismoTheoretikern zufolge geht es dem caudillo und seinen Gefolgsleuten um den Erwerb von Macht, Einfluß und Reichtum. In Anbetracht amorpher politischer Parteien und in Ermangelung grundlegender politischer Differenzen bestehe das Ziel der caudillos in ihrer eigenen und der Bereicherung ihrer Gefolgsleute, was am besten durch die Plünderung der Staatskasse zu bewerkstelligen sei (Wolf/Hansen 1967:168-179; Beezley 1969:345-352; Waldmann 1978:191-207; Diaz Diaz 1972). Einmal an der Macht, gehe es dem caudillo primär um die materielle Zufriedenstellung seiner Gefolgsleute, da deren Unzufriedenheit sein größtes Risiko darstelle. Je besser er an Finanzen gelange und die Gelder strategisch richtig einsetze, desto stabiler sei sein Regime. Könne er den großen Apparat des Heeres unterhalten und die Staatsbeamten bezahlen, habe er nichts zu befürchten. Justo Sierra hat in seiner Darstellung der „politischen Entwicklung des mexikanischen Volkes" diesen Zusammenhang angesprochen, indem er ein mexikanisches Sprichwort aus dem 19. Jahrhundert zitierte: „When salaries are paid, revolutions fade." (Sierra 1969:191) Auch im Fall der mexikanischen Regierungen des 19. Jahrhunderts ist ein direkter Zusammenhang zwischen Regierungsressourcen und Stabilität hergestellt worden. Donald F. Stevens hat in einer Arbeit über Instabilität in Mexiko zwischen der Unabhängigkeit und dem Reform-
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krieg die gängigen Hypothesen über das angeblich direkte Verhältnis zwischen (hohen) Regierungseinnahmen und (hoher) Regierungsstabilität überprüft (Stevens 1984: Kap. 8). Er ist zu dem Ergebnis gekommen, daß Jahre mit geringen Regierungseinnahmen nicht unbedingt besonders instabil (im Sinne häufiger Minister- und Präsidentenwechsel) waren, daß die Hypothese in ihrer allgemeinen Form somit auf den mexikanischen Fall nicht anwendbar ist. Aufschlußreich sind die von ihm vorgenommenen Differenzierungen: So besteht etwa eine positive Korrelation zwischen Instabilität und Regierungsanleihen. Je größer die Summen waren, die sich die Regierungen liehen, desto instabiler waren diese Regierungen. Auch zwischen Steuereintreibung und Stabilität besteht ein direkter Bezug: In 75 Prozent der von Stevens untersuchten 19 Jahre herrschte in Perioden geringer Steuereintreibung ein hoher Grad an Instabilität, während die Stabilität mit der Höhe der eingetriebenen Steuern zunahm. Von besonderem Interesse ist der Zusammenhang zwischen Außenhandel und Stabilität. Weiter oben ist bereits darauf hingewiesen worden, daß die mexikanischen Regierungen in hohem Grad von Außenzöllen abhängig waren. Unter Wiederaufgriff der caudillismo-Theorie läßt sich die Hypothese aufstellen, daß ein Rückgang des Außenhandels - etwa als Folge ökonomischer Zyklen oder wegen weltwirtschaftlicher Krisen - zu einer empfindlichen Einbuße in den Regierungseinnahmen und in deren Gefolge zu erhöhter Instabilität führen mußte (Dean 1948:70-80). Betrachtet man die in Tabelle 5 ausgewiesenen gewaltigen und schnell aufeinander folgenden Fluktuationen im mexikanischen Außenhandel - mit Variationen von über 100 Prozent zwischen aufeinander folgenden Jahren-, so wird die Vermutung nahegelegt, daß Außenhandelsschwankungen mit der politischen Instabilität im Lande positiv korrelierten. Stevens' Untersuchung ist jedoch zu dem entgegengesetzten Ergebnis gekommen; das vorhandene Datenmaterial bestätigt nicht die Hypothese, daß Instabilität von Außenhandelszyklen abhängig war. Hohe Instabilität und hohes Außenhandelsaufkommen korrelierten in genauso vielen Fällen positiv wie negativ. Handelsfluktuationen wirkten sich demnach im 19. Jahrhundert nicht unmittelbar auf die Stabilität politischer Eliten in Mexiko aus. Ein letztes Ergebnis verdient noch festgehalten zu werden: Die deutlich greifbaren Veränderungen im Außenhandelsvolumen sind weniger auf internationale Wirtschaftskrisen oder allgemeine ökonomische Zyklen als vielmehr auf die mexikanische Tarifgesetzgebung zurückzuführen. Veränderungen in den Zolltarifen beeinflußten unmittelbar das Importvolumen. Vicente Guerrero (1829) und Antonio López de Santa
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Ana (1841-1844) etwa erließen Prohibitionen und erhöhten die Importzölle; in ihren Regierungsjahren nahmen die Importe ab. Während der Präsidentschaft von Guadalupe Victoria (1827) und der Administration von Bustamante/Alamän (1830/1831), die die Einfuhrverbote wieder aufhoben, und um die Mitte der 1830er Jahre waren die Importbedingungen günstiger, was sofort eine Zunahme des Außenhandelsvolumens zur Folge hatte. - Wenn es somit stimmt, daß caudillos ausschließlich an einer Erhöhung der Regierungsressourcen interessiert sind, ohne politisch-weltanschaulichen Fragen größere Bedeutung beizumessen, dann können die mexikanischen Machthaber des 19. Jahrhunderts, für die Zolltarife und Schutzmaßnahmen für die einheimischen Produzenten Fragen von großer (innen-)politischer Bedeutung waren, kaum als caudillos bezeichnet werden. Sollten sie aber weiterhin so charakterisiert werden, müßten caudillismo-Theoretiker eine neue Definition finden, da das mexikanische Beispiel des 19. Jahrhunderts die herkömmliche caudillo-VVorstellung in einer ihrer Grundannahmen falsifiziert.
SCHLUSSBETRACHTUNG
Im Prozeß der Integration Mexikos in die Weltwirtschaft während des 19. Jahrhunderts lassen sich drei handelspolitische Teilphasen unterscheiden: Die erste und wichtigste ökonomische Reaktion auf die Erlangung der politischen Unabhängigkeit bestand in der mexikanischen Hinwendung zum wirtschaftlichen Liberalismus, wurde Handelsfreiheit doch mit dem Sieg aufklärerischer Ideen und politischer Freiheit gleichgesetzt. Als jedoch der mexikanische Markt mit billigen europäischen Waren überschwemmt wurde, deuteten viele Mexikaner die drastische Verschlechterung eigener Produktions- und Absatzmöglichkeiten als einen kalkulierten Versuch, ihr Land von der entwickelteren Industrie der Nordatlantikstaaten abhängig zu machen und auf die Rolle eines Rohstofflieferanten zu reduzieren. Schnell konnten sich die mit „nationalen" Argumenten versehenen Protektionisten durchsetzen und ein Handelsregime errichten, das dem Schutz der eigenen Handwerker und Industriellen dienen und einen binnenorientierten Entwicklungsweg einleiten sollte. Erst nach dem Krieg mit den USA gewannen, nachdem einerseits die Frühformen der Industrie zwischenzeitlich relativ solide etabliert waren, andererseits die veränderten Rahmenbedingungen für den Handel ein protektionistisches und teilweise prohibitives Zollsystem als zunehmend impraktikabler erwiesen, liberale Kräfte wieder die Oberhand, die sodann auf Abbau von Handelshemmnissen und Durchsetzung von Freihandel hinarbeiteten.
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Zweifellos gehörte in den ersten Jahrzehnten der Unabhängigkeit nicht nur die Entwicklung der Handelsbewegungen, sondern zugleich die Handelspolitik zu den wichtigsten Aspekten mexikanischer Politik. Sie nahm einen zentralen Rang in der Skala der ordnungspolitischen Diskussionspunkte ein und trennte Liberale von Konservativen, Freihändler von Protektionisten, Befürworter einer außen- von Verfechtern einer binnenorientierten Entwicklung. Die Spaltung verlief somit zwischen jenen Wirtschaftspolitikern, die Handelsmaßnahmen in protektionistischer Absicht als ein Instrument der „Industriepolitik" anwenden wollten, und jenen anderen, die in Tarifen primär eine fiskalische Quelle öffentlicher Einnahmen sahen. Als partieller Aspekt des umfassenderen liberalen bzw. konservativen „Programms" war die Handelspolitik Teil verschiedenartiger, stark voneinander divergierender Entwicklungsstrategien, in diesem Sinne auch stark ideologisiert und wenig dazu geeignet, Objekt pragmatischer Kompromisse zu werden. Allerdings verhinderten die Zwänge eines primär auf Handelszöllen beruhenden Fiskalsystems die volle Durchsetzung des einen bzw. des anderen Konzepts. Die Wechselfälle der politischen Instabilität Mexikos bewirkten vielmehr, daß die Handelspolitik in der Praxis eine Fülle von Widersprüchen und Inkonsistenzen aufwies. Die Handelspolitik im engeren Sinne scheint auch für die Handelsentwicklung weit weniger Bedeutung gehabt zu haben als das endemische Finanzbedürfnis des mexikanischen Staates oder das Erfordernis der europäischen Industrien, ihren Warenproduktionen neue Absatzmärkte zu erschließen. Trotz der erbitterten Auseinandersetzungen zwischen Liberalen und Konservativen um den richtigen Kurs der Handelspolitik war keines der miteinander konkurrierenden Programme in der Lage, wirtschaftliches Wachstum zu generieren. Beide Lager können insofern als „nationalistisch" bezeichnet werden, als es ihnen übereinstimmend um das (zwar mit unterschiedlichen Methoden erstrebte, gleichwohl gemeinsame) Ziel ging, ein ökonomisches Fundament für den unabhängigen Staat zu legen. Allerdings überschätzten beide Seiten die ihren Konzepten innewohnenden Kapazitäten. Erwartete die dem Wirtschaftsliberalismus zuneigende Fraktion unrealistischerweise einen durch Freihandel bewirkten Aufschwung des mexikanischen Wirtschaftslebens, so lag der Irrtum der Protektionisten darin, bereits in handelsrestriktiven Maßnahmen einen ausreichenden Impuls für die industrielle Entwicklung des Landes zu erblicken. Die Fehleinschätzungen gingen auf eine Unterschätzung von längerfristig-strukturellen Wirtschaftstrends zurück, die die Handelsentwicklung der Unab-
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hängigkeitsära wesentlich mitbedingten: Der wichtigste dieser Trends war die Wirtschaftsdepression der postkolonialen Epoche, die sowohl die Durchsetzung eines handelsliberalen Systems als auch die Industrialisierung des Landes verhinderte, da beide ökonomischen Optionen einen großen und expandierenden Markt, steigende Kaufkraft und zunehmende Käuferschichten voraussetzten - Bedingungen, die in Mexiko nicht gegeben waren. Das zweite Strukturproblem waren die chronischen Bürgerkriege, sozialen Unruhen und politischen Aufstandsbewegungen, die häufig direkt oder indirekt mit dem Außensektor zusammenhingen. Dieser Aspekt verweist auf das Erfordernis, bei der Betrachtung des Außenhandels und seiner Regulierung endogene nicht weniger als exogene Faktoren zu berücksichtigen, bedingte der durch politisch-militärische Erschütterungen bewirkte wirtschaftliche Niedergang doch die Suche der nationalen Eliten nach einem ökonomischen Stabilitätsprogramm ebenso wie die Einengung der fiskalischen Optionen und damit zugleich die Möglichkeiten zur Regulierung des Außenhandels.
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DIE ENTSTEHUNG EINER DRITTEN Die U r s a c h e n von U n t e r e n t w i c k l u n g am B e i s p i e l L a t e i n a m e r i k a s
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WELT
HENSEL
Der im Titel enthaltene Begriff „Dritte Welt" erscheint heute, nachdem die so genannte Zweite Welt nicht mehr existiert, anachronistisch. Betrachtet man jedoch seine Herkunft und seinen Gehalt, so wird deutlich, daß sein Gebrauch auch heute noch sinnvoll sein kann. Erstmals benutzt wurde die Bezeichnung „Dritte Welt" 1952 von dem französischen Demographen Alfred Sauvy. Er zog damit eine Analogie zum Dritten Stand, dem 1789 von Abbé Sieyès geprägten Kampfbegriff der französischen Revolution für den unterprivilegierten Stand von Bürgern, Handwerkern und Bauern. In diesem Kontext erhielt die Dritten Welt die Attribute vernachlässigt, unterdrückt und potentiell revolutionär. Daneben brachte der Begriff die Idee der Blockfreiheit zum Ausdruck und meinte diejenigen Staaten, die sich im Ost-West-Konflikt als neutral bezeichneten (Wolf-Phillips 1987:131 lf). In diesem Sinne der Bündnisfreiheit gewann der Sammelbegriff in den 1950er Jahren bei Vertretern vieler afrikanischer und asiatischer Staaten an Bedeutung. Auf der Bandung-Konferenz 1955, einem Vorläufer der späteren Konferenzen der Blockfreien, wurden diejenigen Länder, die sich im Ost-West-Gegensatz keiner der beiden Supermächte unterordnen wollten, noch als „Dritte Kraft" bezeichnet. Lateinamerika gehörte zunächst nicht dazu, da sich die Staaten der Region als Teil der Westlichen Welt sahen (Nohlen/Nuscheler 1993:17). Mit seinem 1961 veröffentlichten Buch „Die Verdammten dieser Erde" führte der Algerier Frantz Fanon den Begriff der Dritten Welt in den internationalen Sprachgebrauch ein. Er bezeichnete damit die kolonialisierten und unterentwickelten Länder (Fanon 1961; Horowitz 1966:5ff). Seit der ersten UNCTAD-Konferenz 1964 umfaßte der Sam-
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melbegriff Dritte Welt diejenigen Länder, die sich der Gruppe der 77 anschlössen (Nohlen/Nuscheler 1993:18). Mit dieser Initiative versuchten die Mitglieder ihre wirtschaftlichen Interessen gegenüber den Industrieländern gemeinsam zu artikulieren und durchzusetzen. Der Zusammenschluß von Entwicklungsländern aufgrund wirtschaftlicher Interessen zeigte eine Bedeutungsverschiebung des Begriffs „Dritte Welt" an. Ökonomische Kriterien wurden für die Zugehörigkeit wichtiger als die politische Frage der Blockfreiheit. Ursachen hierfür waren einerseits die nachlassenden Spannungen des Kalten Krieges, andererseits gewann der Nord-Süd-Konflikt immer deutlicher an Konturen. Schließlich lehnten die vorher als arme oder unterentwickelte Länder bezeichneten Staaten diese Bewertungen als herabwürdigend ab und bevorzugten stattdessen den Begriff „Dritte Welt". Dieses wirtschaftliche Kriterium zur Einteilung der Welt spielt seit den 1970er Jahren, als der Begriff in die Alltagssprache vieler Länder überging, die wichtigere Rolle (Wolf-Phillips 1987:1318). Demnach gehörten Länder mit einem geringen Industrialisierungsgrad, einer schlecht ausgebauten Infrastruktur sowie einem niedrigen Bruttosozialprodukt zur Dritten Welt. Mit der Schwerpunktverschiebung auf ökonomische Kriterien trat allerdings auch deutlicher hervor, daß die Ausprägung von Unterentwicklung unterschiedliche Qualitäten annehmen konnte. In Lateinamerika gehörte zum Beispiel das arme Haiti ebenso zur Dritten Welt wie das erdölproduzierende Venezuela. Deshalb wurde in den 1970ern eine weitere Unterteilung vorgenommen, indem nun die als absolut arm bezeichneten Länder in einer neuen Kategorie der Vierten Welt zusammengefaßt wurden - eine Unterscheidung, die sich in dieser Form allerdings nicht etablieren konnte. Synonym zum Begriff der Dritten Welt wird die Bezeichnung Entwicklungsländer verwendet. Entwicklung wurde und wird dabei als ein Prozeß verstanden, dessen Ziel die Industriegesellschaften darstellen. Es handelt sich also um eine Kategorie, die ihre Bedeutung erst aus der Gegenüberstellung mit einem anderen Begriff - in diesem Falle dem der Industrieländer - erlangt. Das Konzept von Entwicklung hat allerdings im Laufe der Zeit einige wichtige Erweiterungen gegenüber der ehemals starken Konzentration auf das Ökonomische erfahren. Heute gilt Entwicklung als ein komplexer Prozeß, der nicht nur anhand von wirtschaftlichen, sondern auch an sozialen, politischen und kulturellen Indikatoren gemessen wird. In diesem Sinne verstehen die beiden Politikwissenschaftler Nohlen und Nuscheier Entwicklung als „die eigenständige Entfaltung der Produktivkräfte zur Versorgung der gesamten Gesellschaft mit lebensnotwendigen materiellen sowie le-
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benswerten kulturellen Gütern und Dienstleistungen im Rahmen einer sozialen und politischen Ordnung, die allen Gesellschaftsmitgliedern Chancengleichheit gewährt, sie an politischen Entscheidungen mitwirken und am gemeinsam erarbeiteten Wohlstand teilhaben läßt" (Nohlen/Nuscheler 1993:73). Neben den Grad der Industrialisierung und das Bruttosozialprodukt eines Landes treten hier also soziale Faktoren. Entwicklung bedeutet, daß möglichst alle Mitglieder der Gesellschaft nicht nur ausreichend mit Nahrungsmitteln und anderen Gütern des täglichen Bedarfs versorgt sind, sondern daß sie zusätzlich auch Zugang zu kulturellen Gütern haben. Als wichtigstes Gut in diesem Bereich wäre wohl die Bildung zu nennen. Hinzu kommen politische Rechte, die allen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern eine Beteiligung an politischen Entscheidungen sichern sollen. Neben die statistische Größe des Pro-KopfEinkommens tritt also die Frage nach der tatsächlichen gesellschaftlichen Verteilung von Lebenschancen. Diese Erweiterung ist um so bedeutsamer, als sich Entwicklungsländer dadurch auszeichnen, daß der größte Teil der Bevölkerung in relativer bzw. absoluter Armut lebt, während eine kleine Oberschicht über durchaus erheblichen Reichtum verfügen kann. Die Mittelschicht ist meist sehr klein oder fehlt weitgehend. Mit dem Ende des Kalten Krieges entfiel der politische Teil der Definition der Dritten Welt endgültig. Zum Verständnis der internationalen Situation trat nun das Paradigma der Globalisierung an die Stelle der Blöcke. Dieser Begriff erfährt in den letzten Jahren einen solchen Aufschwung und wird in so verschiedenen Zusammenhängen benutzt, daß seine Definition nicht einfach ist. Die Vorstellung der Globalisierung birgt zwar die Gefahr, Differenzen zu verwischen, indem beispielsweise auf politischer Ebene unabhängig von der Ausgangslage einzelner Länder die gleichen Maßnahmen als Königsweg zu wirtschaftlichem Wohlstand gesehen werden. Der Begriff öffnet aber auch die Chance, die alten Bilder von mehr oder weniger einheitlichen Blökken aufzulösen und stattdessen die vielfältigen Unterschiede wahrzunehmen. Es bleibt zwar richtig, daß die Industrieländer, die geographisch dem Norden zugeordnet werden können, im Vergleich zu den meisten Ländern des ehemals kolonisierten Südens reich sind. In den letzten Jahren wird jedoch deutlich, daß Dritte-Welt-Verhältnisse durchaus auch in Industriegesellschaften herrschen können. Sichtbarstes Beispiel dafür sind vielleicht die Slums der „inner cities" in den USA. Außerdem unterscheiden sich die Entwicklungsländer untereinander in erheblichem Maße. Deshalb ist im Titel des Beitrages
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auch die Rede von der Entstehung einer Dritten Welt. Die Welt, die hier in den Blick genommen werden soll, ist Lateinamerika im allgemeinen und Mexiko im besonderen. Im Vergleich zu Asien und Afrika stellten die Länder Lateinamerikas als erste so etwas wie eine Dritte Welt dar. Die meisten von ihnen konstituierten sich bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts als unabhängige Staaten, die politisch und wirtschaftlich eng in die atlantische Welt eingebunden waren. Sie mußten sich deshalb seit ihrer Unabhängigkeit an Europa und den USA messen lassen. Für die Thematik ist Lateinamerika auch deshalb ein interessantes Beispiel, weil in der Debatte um die Entstehung der Unterentwicklung hier lange Zeit ein aus der Region stammender Erklärungsansatz vorherrschte. Die Dependenztheorie wurde von Theoretikern entwickelt, die in Lateinamerika tätig waren, und später auf die Situation anderer ehemaliger Kolonien angewandt. Ein erster Abschnitt wird sich deshalb mit der wirtschaftshistorischen Literatur zu Lateinamerika beschäftigen. Danach wird zweitens die ökonomische Situation des Kontinents im 19. Jahrhundert beleuchtet. Ein dritter Abschnitt geht genauer auf das Beispiel Mexiko ein. Schließlich sollen in einem vierten Abschnitt die Ursachen der Unterentwicklung diskutiert werden.
DIE
DEBATTE
UM
DIE
UNTERENTWICKLUNG
LATEINAMERIKAS
Die Frage, wann und warum Lateinamerika wirtschaftlich hinter Europa und den Vereinigten Staaten zurückblieb, beschäftigt Wirtschaftswissenschaftler und -historiker schon seit langem. Nach dem Zweiten Weltkrieg dominierten zunächst Erklärungsversuche, die auf modernisierungstheoretischen Ansätzen beruhten. Sie vertraten die Ansicht, daß nach der Beseitigung von internen Entwicklungshemmnissen in der Dritten Welt eine Entwicklung möglich sei, die dem europäisch-nordamerikanischen Vorbild folgen würde (vgl. z.B. Rostow 1960). Modernisierungstheoretiker sahen es als ein wichtiges Problem an, daß die Gesellschaften der Dritten Welt ihrer Meinung nach durch duale Strukturen geprägt waren. Demnach gab es kleine, dynamische, industrialisierte Enklaven in einem Meer von traditionalen, statischen Regionen (Wöhlke 1988:18f). Einen Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Situation in Europa und Nordamerika auf der einen und der Dritten Welt auf der anderen Seite stellten die Modernisierungstheorien nicht her. Sie suchten die Ursachen für die Unterentwicklung vielmehr allein in den Ländern der
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Dritten Welt. Diesem Paradigma entsprach es, die Länder einzeln zu untersuchen. Dagegen wandten sich theoretische Ansätze, die seit den 1950er Jahren in Lateinamerika selbst an Einfluß gewannen. Zunächst ist hier die Theorie des Argentiniers Raúl Prebisch von der säkularen Verschlechterung der terms of trade für Lateinamerika zu nennen. In der am häufigsten benutzten Definition der terms of trade werden die Preise von Exportprodukten mit denen von Importprodukten verglichen. Für die Entwicklungsländer bedeutet dies also im Regelfall, daß das Verhältnis zwischen den Preisen für exportierte Rohstoffe und importierte Fertigprodukte berechnet wird. Geschieht dies für einen längeren Zeitraum, so kann festgestellt werden, in welchem Maß die Menge von Importgütern, die gegen eine bestimmte Menge von Exportgütern ausgetauscht wird, zu- oder abgenommen hat (Nohlen/Nuscheler 1993:48). Prebisch glaubte also, daß die Unterentwicklung Lateinamerikas durch eine langfristige, für die lateinamerikanischen Länder negative Entwicklung der terms of trade verursacht sei. Demzufolge mußten immer mehr Rohstoffe und landwirtschaftliche Produkte für eine gleichbleibende Menge von importierten Fertigprodukten ausgeführt werden. Prebisch leitete die 1948 gegründete UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika, die CEPAL (Comisión Económica Para América Latina), über die seine Thesen an Einfluß gewannen (Bernecker/Fischer 1995:lOOff). Im Umfeld der CEPAL wurden in den folgenden Jahren Diskussionen geführt, die schließlich in den 1960er Jahren in verschiedene Überlegungen zur Abhängigkeit oder Dependenz Lateinamerikas von Europa und den USA mündeten. Um die Urheberschaft der Dependenztheorie gibt es einige Auseinandersetzungen. Packenham (1992:19ff) behauptet, der US-Amerikaner Andre Gunder Frank sei der erste gewesen, der von „dependencia" schrieb. Viele andere Autoren führen jedoch glaubhaft aus, daß die Diskussion um die Abhängigkeit Lateinamerikas tatsächlich sozusagen in der Luft lag und an mehreren Institutionen in Lateinamerika selbst diskutiert wurde. Die schnelle Aufeinanderfolge der ersten Veröffentlichungen, die dem Dependenzansatz zugerechnet werden und die keineswegs alle identische Vorstellungen zum Charakter der Abhängigkeit hatten, weisen zudem in eine solche Richtung. Gemeinsam ist den dependenztheoretischen Ansätzen, daß sie einen unmittelbaren Zusammenhang nicht nur zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Sektoren innerhalb Lateinamerikas, sondern auch zwischen der Entwicklung in Europa und den USA auf der einen Seite und der Unterentwicklung Lateinamerikas auf der anderen Sei-
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te sehen. Andre Gunder Frank formulierte dies in der These von der Entwicklung der Unterentwicklung, die nichts anderes besagt, als daß die wirtschaftliche Entwicklung Europas nicht möglich gewesen wäre ohne die Ausbeutung Lateinamerikas, und daß umgekehrt die Unterentwicklung Lateinamerikas durch die Abhängigkeit von Europa und später auch von den USA bedingt war (Frank 1967). Diese Abhängigkeit begann mit der spanischen und portugiesischen Eroberung und Kolonisierung des Kontinents. Seitdem konnten sich die Gesellschaften Amerikas nicht mehr frei entfalten, sondern waren den Interessen der Kolonialmächte unterworfen. Diese grobe Beschreibung der kolonialen Situation kann schwerlich als falsch abgelehnt werden. Eine Abhängigkeit oder Dependenz als solche bestand während der Kolonialzeit zweifelsohne. Das Konzept wird deshalb von vielen als heuristisches Mittel und nicht als Theorie verstanden (Boeckh 1982:49f; Wöhlke 1988:21). Die konkreten Folgen einer solchen Abhängigkeit auf die wirtschaftlichen Beziehungen im allgemeinen und die Handelsbeziehungen im besonderen sind dagegen umstrittener. Einige Vertreter der Dependenztheorie gingen davon aus, daß die Unterentwicklung Lateinamerikas durch das Machtgefälle zwischen Europa und den USA und Lateinamerika verursacht wurde. Demzufolge konnten die Industrieländer die terms of trade in ihrem Sinne beeinflussen, das heißt, die Preise für Fertigprodukte stiegen gegenüber denen für Rohstoffe schneller an, so daß immer mehr Rohstoffe für die gleiche Menge von Fertigprodukten getauscht werden mußten. Empirisch belegen läßt sich ein solch langanhaltender Trend allerdings nicht (Boeckh 1982:5lff; Haber 1997:12). Gegenüber dieser simplen und relativ einfach widerlegbaren These stellten einige Autoren die strukturelle Abhängigkeit in den Vordergrund (Cardoso/Faletto 1969). Eine solche strukturelle Abhängigkeit entstand durch die Ausrichtung der Wirtschaft Lateinamerikas während der Kolonialzeit auf die Interessen der Metropolen. Nach dem Ende der direkten politischen Herrschaft über die Kolonien setzten Europa und die Vereinigten Staaten ihre Interessen über imperialistische Mechanismen durch. Dieser Strang der Dependenztheorie stellte der Vorstellung von dualen Gesellschaften das Konzept von struktureller Heterogenität entgegen. Demzufolge standen der moderne und der traditionale Sektor in Gesellschaften der Dritten Welt nicht unverbunden nebeneinander, sondern bedingten sich gewissermaßen gegenseitig. Die Industrialisierung der modernen Enklaven basierte zum Teil auf der Ausbeutung der traditionalen Gesellschaft (Boeckh 1982:56f). Auch wenn die Dependenztheorie mittlerweile zu Recht aus unterschiedlichen
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Blickwinkeln kritisiert wird, so kommen ihr doch zumindest zwei Verdienste zu: Sie hat erstens den Blick dafür geöffnet, daß Industrialisierung nicht überall zur gleichen Zeit und in gleichmäßiger Intensität stattfindet. Das war auch in Europa und den USA nicht der Fall. Zweitens wies die Dependenztheorie auf die Verflechtung der verschiedenen nationalen Wirtschaften in Lateinamerika, den Vereinigten Staaten und Europa hin. Dieser letzte Aspekt fand Aufnahme in die Formulierung der Weltsystemtheorie von Immanuel Wallerstein (1974). Demnach entstand im 16. Jahrhundert eine kapitalistische Weltwirtschaft mit Europa als Kernregion. Dem europäischen Weltsystem immanent war die ungleiche wirtschaftliche Entwicklung. Nicht alle Staaten konnten sich gleichzeitig entwickeln. Vielmehr speiste sich die Dynamik des Systems aus dem Kampf verschiedener Regionen um Marktchancen und Ausbeutungspotentiale. Die aus diesem Kampf hervorgegangene Struktur läßt sich unterteilen in Zentrum, Semiperipherie und Peripherie. Diesen Regionen ordnet Wallerstein bestimmte Formen der dominanten Arbeitsorganisation zu. In der Peripherie herrschten Sklaven- bzw. Zwangslohnarbeit vor, in Gebieten der Semiperipherie überwogen gebundene Arbeitsverpflichtungen der Bauern auf naturalwirtschaftlicher Grundlage. Im Zentrum breitete sich dagegen seit dem 16. Jahrhundert die freie Lohnarbeit und das weitgehend freie bäuerliche Wirtschaften zunehmend aus (Mommsen 1987:126). Ein konstitutives Merkmal für die Ausbreitung des kapitalistischen Weltsystems sind nach Wallerstein die kolonialen Abhängigkeitsverhältnisse der Semiperipherie bzw. der Peripherie vom Zentrum gewesen. Eigentlicher Motor der Entwicklung des Weltsystems und der Möglichkeit zur Ausbeutung der Peripherie - zu der Wallerstein auch die spanischen und portugiesischen Kolonien zählt - war der Fernhandel, von dem die Zentren ungleich stärker profitierten als die Peripherie. Wallersteins Theorie ist auf verschiedenen Ebenen kritisiert worden. Dies gilt für seine theoretischen Annahmen ebenso wie für die empirische Überprüfbarkeit seiner Aussagen. So wurde betont, daß die von ihm postulierte Bedeutung des Handels für die Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft keineswegs belegt ist und er nicht bedachte, daß der Handel zahlreichere Quellen hinterließ als andere Wirtschaftstätigkeiten, die deshalb aber nicht unwichtiger gewesen sein müssen (Reinhard 1995:82). Ebenso wird die Bedeutung des Staates, dem Wallerstein im Konkurrenzkampf der Regionen eine große Rolle beimißt, hinterfragt (Mommsen 1987:132f). Schließlich wird auch seine Hauptthese in Zweifel gezogen. Der von Wallerstein postulierte genuine
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Zusammenhang von der Ausbreitung der kapitalistischen Wirtschaft in Europa im 16. Jahrhundert und der Ausbeutung der semiperipheren und peripheren Regionen hält wirtschaftshistorischen Untersuchungen Europas nicht unbedingt stand. Sie kommen zu dem Ergebnis, daß die Edelmetallströme nach Europa zum Teil sogar eher schädlich gewesen seien (Mommsen 1987:131). Lateinamerikahistoriker bezweifeln auch die Behauptung Wallersteins, daß sich die einzelnen Regionen - also Zentrum, Semiperipherie und Peripherie - innerhalb der Weltwirtschaft durch eine jeweils dominante Form der Arbeitsorganisation auszeichneten. Steve Stern (1988) zeigte für den Bergbau in Peru, daß dort im 16. Jahrhundert Zwangsarbeitsverhältnisse nicht so eindeutig vorherrschten, wie Wallerstein es annimmt. Trotz dieser Kritik fanden einige theoretische Überlegungen des Weltsystemansatzes Eingang in die Forschung. Gegenüber den alten Modernisierungstheorien ist positiv hervorzuheben, daß Wallerstein die im 16. Jahrhundert mit der europäischen Expansion aufsteigende Weltwirtschaft als ein integriertes Ganzes sieht, deren Teile unabhängig voneinander nicht sinnvoll analysiert und verstanden werden können. Damit erteilt er zum Beispiel den Vorstellungen dualer Gesellschaften mit dynamischen, kapitalistischen Enklaven und einem bewegungslosen, der Tradition verhafteten Hinterland eine Absage. Außerdem bestreitet er die sinnvolle Analyse von Entwicklung und Unterentwicklung auf der Ebene von Nationalstaaten. Gleichzeitig verlegt Wallerstein den Beginn des Prozesses, der zu Entwicklung auf der einen und zu Unterentwicklung auf der anderen Seite führt, in das 16. Jahrhundert und umschließt damit die ganze Kolonialzeit in Amerika. Kritiker der Dependenztheorie und des Weltsystemansatzes nehmen allerdings eine andere Periodisierung vor. Sie sehen das 19. Jahrhundert als die Phase, in der sich die Schere zu öffnen beginnt zwischen sich industrialisierenden Ländern und denen, die einen solchen Sprung nicht schaffen. Auf der konkreten Ebene ist dieser Ansatz berechtigt, denn die eigentliche Industrialisierung setzte mit dem 19. Jahrhundert ein, und erst für die Jahre seit 1800 lassen sich Unterschiede einigermaßen genau messen. Allerdings betonen mittlerweile schon als klassisch zu bezeichnende Studien zur Industrialisierung in Europa, daß viele Voraussetzungen für diesen Prozeß weiter zurückreichen (vgl. z.B. Kriedte/Medick/Schlumbohm 1977). Dementsprechend läßt sich die Frage stellen, inwieweit nicht auch einige der Ursachen für die Unterentwicklung weiter zurück zu datieren sind. Die meisten wirtschaftshistorischen Studien, die sich in den letzten Jahren mit der Frage nach den Ursachen der Unterentwicklung be-
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schäftigt haben, lehnen die Dependenztheorie als Analyseparadigma ab und wenden sich statt dessen Methoden der New Economic
History
zu, die durch ihre quantitative Vorgehensweise gekennzeichnet ist (Haber 1997:13; Coatsworth/Taylor 1998). Im Mittelpunkt des Interesses stehen die makroökonomischen Entwicklungen einzelner Staaten. Selten werden vergleichende Studien vorgenommen. Folgende Ursachen werden für die Rückständigkeit der lateinamerikanischen Länder genannt: Kapitalmangel, fehlende Transportmittel und fehlende institutionelle Voraussetzungen für die wirtschaftliche Entwicklung, insbesondere ein fehlender Bankensektor sowie ein mangelhaftes Ausbildungssystem. Diese einzelnen Punkte sind für wenige Länder des Kontinents ausgiebig untersucht worden. Deshalb wird nach einem kurzen Überblick über die Entwicklung des spanischsprachigen Lateinamerika Mexiko als Beispiel herangezogen. Ähnlich gut ist lediglich die Literaturlage zu Brasilien und Argentinien (vgl. z.B. Oliveira Birchal 1999; Topik 1987; Brown 1979).
DIE
WIRTSCHAFTLICHE
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IM
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ENTWICKLUNG JAHRHUNDERT
Nachdem die meisten lateinamerikanischen Länder in den 1820er Jahren die Unabhängigkeit erlangt hatten, glaubten viele Politiker an eine strahlende Zukunft auch im wirtschaftlichen Bereich. Diese Hoffnung gründete sich vor allem darauf, daß nun die Monopole der Mutterländer wegfielen und die neuen Staaten keinen Handelsbeschränkungen mehr unterlagen. Spanien und Portugal hatten den Fernhandel ihrer kolonialen Besitzungen in Amerika stark reglementiert und ihn auf die eigenen Häfen ausgerichtet. Der Warenaustausch mit anderen europäischen Ländern oder den Vereinigten Staaten war den Kolonien ebenso untersagt wie der Handel untereinander. Diese Einschränkungen konnten zwar während der Kolonialzeit nicht vollständig durchgesetzt werden, sie hatten aber trotzdem wichtige Auswirkungen. Die meisten neuen Staaten Lateinamerikas orientierten ihre Außenhandelspolitik an der Freihandelsdoktrin und hoben die Handelsbeschränkungen der Kolonialzeit auf. Viele Länder richteten ihre Wirtschaftspolitik fast vollständig am Export aus und vernachlässigten demgegenüber die Binnenwirtschaft. Großbritannien wurde in den folgenden Jahrzehnten zum wichtigsten Handelspartner vieler lateinamerikanischer Staaten. Das Hauptexportgut der Briten bestand in Baumwolltextilien, die sie zum Teil mit Preisabschlägen verkauften, um so die Märkte für ihre Produkte
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zu öffnen (Halperin Donghi 1985:300ff). Besonders im Cono Sur profitierte die Viehzucht von diesem Handel. Die Importeure von Textilien suchten nach Produkten, die sie auf der Rückfahrt der Schiffe nach Europa laden konnten. Häute und Salzfleisch boten sich hier an (ebd.:313ff). Entgegen der Annahme von Raul Prebisch, die später auch von einigen Dependenzautoren aufgegriffen wurde, verschlechterten sich die terms of trade in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts für Lateinamerika keineswegs. Zwar sanken die Preise für die meisten Exportprodukte der Region, allerdings war der Verfall nicht so stark wie derjenige für Textilien (ebd.:306f). In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelten sich die terms of trade hingegen für die lateinamerikanischen Exportgüter negativ. Erst um die Jahrhundertwende kehrte sich dieser Trend allmählich wieder um (Glade 1986:9). Insgesamt führten die lateinamerikanischen Staaten vor allem agrarische und mineralische Rohstoffe aus. Die Produktion für den Export konzentrierte sich dabei jeweils auf wenige Güter. Die wichtigsten für den Weltmarkt bestimmten Produkte waren Zucker aus Brasilien und Kuba, Kaffee aus Brasilien, Silber aus Mexiko und Peru sowie Cochenille und Indigo aus Mexiko und Zentralamerika (Bushnell/Macauly 1988:38). Trotz der neuen Außenhandelspolitik brachte die Unabhängigkeit also zunächst nur wenig Veränderungen für Lateinamerika. Der Export konzentrierte sich auf eine geringe Anzahl von Rohstoffen und importiert wurden vor allem Fertigprodukte. Anstatt der ehemaligen Kolonialmächte stieg nun Großbritannien zum dominierenden Handelspartner auf. Weitgehend unverändert blieb auch die Beschäftigungsstruktur. Die ca. 20 Millionen Einwohner ganz Lateinamerikas waren weiterhin überwiegend in der Landwirtschaft tätig. In einigen Ländern spielte der Bergbau eine vergleichsweise wichtige Rolle. Das Handwerk ebenso wie die Betriebe eines beginnenden Manufakturwesens verkauften ihre Waren vor allem auf lokalen und regionalen Märkten (ebd.). In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stagnierte die Wirtschaft der meisten Länder des Kontinents. Erst in den folgenden Dekaden zeichnete sich ein Aufschwung ab, der vor allem durch eine größere politische Stabilität, Veränderungen der gesetzlichen Regelungen für das Wirtschaftsleben und den Ausbau der Infrastruktur in Gang gesetzt wurde. Eine solche Tendenz läßt sich für Argentinien, Brasilien, Chile und Mexiko feststellen. In Brasilien beispielsweise führten eine Reihe wichtiger Veränderungen zu einer Prosperitätsphase in den 1880er Jahren. Es wurden einige Eisenbahnlinien gebaut, 1888 wur-
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de die Sklaverei abgeschafft und 1889 die Republik ausgerufen. Die neue Regierung modernisierte die gesetzlichen Regelungen des Wirtschaftslebens. So erließ sie um Beispiel ein neues Handelsgesetz. Die Einwanderung, besonders in den Süden des Landes, brachte Arbeitskräfte und Kapital ins Land (Oliveira Birchal 1999:8f). In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts machte sich für die meisten Regionen Lateinamerikas auch eine stärkere Einbindung in den Weltmarkt bemerkbar, als dies nach der Unabhängigkeit der Fall war. Diese Integration beruhte auf der Exportseite in den meisten Ländern auf der Konzentration auf einige wenige Rohstoffe bzw. landwirtschaftliche Produkte. Brasilien stieg zum wichtigsten Kaffeeproduzenten weltweit auf. Daneben exportierte es Tabak, Zucker und Kakao. Chile führte neben Kupfer und Nitrat auch Weizen aus und konnte damit die Zeiten zwischen den Phasen steigender Nachfrage nach Kupfer auf dem Weltmarkt vergleichsweise gut überbrücken. Argentinien produzierte weiterhin vor allem Häute und Wolle für den Weltmarkt. Mit der Einführung von Kühlmöglichkeiten beim Transport mit der Eisenbahn und mit Schiffen gewann Fleisch an Bedeutung. Perus Außenhandel stützte sich bis zum Pazifikkrieg (1879-1883) vor allem auf Guano, danach fand eine Diversifizierung statt. Das Land exportierte jetzt auch verstärkt Silber, Gold, Kaffee, Koka, Kautschuk, Zucker und Baumwolle. Mexikos Exportwirtschaft unterschied sich über einen längeren Zeitraum von den großen lateinamerikanischen Ländern. Das Land führte Silber, Gold, Sisal, Kautschuk, Häute, Kaffee, Blei, Vieh, Vanille und Hölzer aus. Der Exporthandel der restlichen Länder des Kontinents war wesentlich stärker auf wenige Produkte beschränkt. Ecuador führte Kakao aus, Kolumbien und Venezuela vor allem Kaffee (Glade 1986:9ff). Die Integration der lateinamerikanischen Länder in den Weltmarkt kann weder pauschal als positiv noch als negativ beurteilt werden. Je nach den Bedingungen und Produkten, auf die sich die Exportorientierung stützte, hatte diese unterschiedliche Folgen. Bulmer-Thomas (1994:14ff) hat dargelegt, daß die Auswirkungen der Exportorientierung auf die gesamte wirtschaftliche Situation von mehreren Faktoren abhing. Bereits die Charakteristika der exportierten Produkte beeinflußten die gesamtwirtschaftlichen Folgen. So führen zum Beispiel einige Produkte zu so genannten forward linkages, das heißt, sie bedürfen einer Weiterverarbeitung, bevor sie exportiert werden können. Dies trifft beispielsweise auf die Viehzucht zu. Vieh wird nicht lebend ausgeführt. Deshalb entstehen Schlachthöfe und Gerbereien, in denen eine Weiterverarbeitung stattfindet. Andere Güter wiederum
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haben backward linkages, da zu ihrer Herstellung nicht nur Land und Arbeiter, sondern auch technische Einrichtungen notwendig sind. Andere landwirtschaftliche Exportgüter, Bananen sind ein gutes Beispiel, bedürfen keiner Weiterverarbeitung vor dem Export noch führen sie zu backward linkages. Die Konzentration auf den Export einiger weniger Rohstoffe kann außerdem zu einer problematischen Abhängigkeit vom Weltmarkt führen. Die Nachfrage nach vielen Produkten, die Lateinamerika für eine bestimmte Zeit hohe Einkommen bescherten, sank rapide, als für diese Güter Ersatzstoffe entwickelt wurden. Davon betroffen waren seit den 1830er Jahren die aus Cochenille und Indigo gewonnenen Farbstoffe für Textilien, die durch synthetische Färbemittel ersetzt wurden. Ein ähnliches Schicksal ereilte den als Dünger benutzten guano aus Peru. Der im Regenwald gesammelte Kautschuk aus Brasilien verlor hingegen seinen Markt, als es den Briten gelang, Kautschuk auf Plantagen anzubauen, was sie dann in ihren Kolonien in Asien taten. Als Zucker zu einem alltäglichen Genußmittel aufstieg, wurde er in Europa zunehmend durch Rübenzucker ersetzt. Selbst Produkte, für die auf absehbare Zeit kein Ersatzstoff zur Verfügung zu stehen scheint, stellen manchmal für die Erzeugerländer problematische Exporte dar. So erfuhr zum Beispiel Kaffee einen Wandel vom Genußzum Grundnahrungsmittel, wodurch sich die Nachfrageelastizität verringerte, das heißt, auch eine Erhöhung der Kaufkraft der Konsumenten führte nicht unbedingt zu einem verstärkten Konsum. In der Kaffeeproduktion war die Konkurrenz unter den Anbietern dagegen groß. Wenn die Exportorientierung als solche also nicht unbedingt negative Konsequenzen nach sich zieht, so ist die Konzentration auf einige wenige Produkte, die dazu noch vorwiegend aus einem oder zwei Wirtschaftsbereichen kommen, kritisch zu beurteilen. Neben dieser Produktkonzentration läßt sich für den Außenhandel Lateinamerikas auch nach dem Ende der Kolonialzeit eine Konzentration auf wenige Handelspartner beobachten. Großbritannien gelang es in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, den Im- und Export vieler lateinamerikanischer Länder zu dominieren. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wuchs der Einfluß der USA auf den Außenhandel der meisten Länder Lateinamerikas beträchtlich. Vor allem in Mexiko ersetzte der Nachbar aus dem Norden den davor wichtigsten Handelspartner Großbritannien (Bernecker 1997). In Argentinien stieg hingegen der Einfluß Großbritanniens in der Zeit von 1880 bis zum Ersten Weltkrieg noch an (Miller 1993:149). Die Konsequenzen sind allerdings schwieriger zu beurteilen. Den britischen Händlern wird zwar häufig vorgeworfen, sie hätten über ihre Regierung
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versucht, den eigenen Geschäften Vorteile zu verschaffen, dies läßt sich jedoch empirisch nicht bestätigen (Miller 1993:88). Der Außenhandel einiger Länder (Argentinien, Brasilien, Chile) war allerdings während des 19. Jahrhunderts stark auf den britischen Markt ausgerichtet und auf die britische Nachfrage spezialisiert. Eine solche Konzentration auf einen einzigen Handelspartner kann nicht nur in Krisensituationen durchaus Probleme hervorrufen. Dem Export von Rohstoffen stand der Import von industriell gefertigten Konsumgütern gegenüber. Auf kurze Sicht stellten diese Einfuhren zwar die kostengünstigere Variante zur Versorgung dar, langfristig erstickten sie allerdings das Potential der lokalen Produktion und möglicher technologischer Neuerungen. Die Einfuhren behinderten auch eigene Erfahrungen in der Industrieproduktion. So bewirkten zum Beispiel die niedrigen Importpreise für Textilien, der durch den Exporthandel hervorgerufene Zuwachs an Devisen und die geringen Zölle einen Niedergang der traditionellen Textilproduktion in Chile, Bolivien und Peru (Miller 1992:630f). Gerade die Textilindustrie spielte jedoch im Prozeß der europäischen Industrialisierung eine ausgesprochen wichtige Rolle. Dies liegt am Charakter dieser Branche. Eine Nachfrage nach Kleidung besteht praktisch immer. Die Herstellung von Textilien bedarf keiner komplizierten Maschinen, und auch kleine Betriebe können bereits rentabel produzieren. An erster Stelle der Importe aus Großbritannien standen das ganze 19. Jahrhundert über Baumwolltextilien, ihre relative Bedeutung nahm allerdings ab. Am Ende des ersten Jahrhunderts politischer Souveränität standen die Länder Lateinamerikas im Vergleich zu Europa und den Vereinigten Staaten wesentlich schlechter da, als dies zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Fall war. In den Ländern Nordeuropas und den Vereinigten Staaten war der Prozeß der Industrialisierung inzwischen weit vorangeschritten und der größte Teil der Bevölkerung war in die Marktwirtschaft einbezogen. In Lateinamerika produzierten hingegen immer noch viele in der Landwirtschaft Tätige vorwiegend für den eigenen Bedarf und nur in kleinem Umfang für lokale und regionale Märkte. Technologische Neuerungen hatten vergleichsweise geringen Eingang in die Produktion gefunden, dementsprechend lag die Produktivität in Lateinamerika auch wesentlich niedriger als in Europa und in den USA. Selbst die Produktion für den Weltmarkt war beschränkt durch vollkommen unzureichende Transportmittel, ein lediglich rudimentär existierendes Bankensystem und mangelnde institutionelle Voraussetzungen für ein dynamisches Wirtschaftswachstum. Diese einzelnen Aspekte sollen am Beispiel Mexikos näher beleuchtet werden.
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WIRTSCHAFTSENTWICKLÜNG JAHRHUNDERT
Mexiko erlangte 1821 nach einem 11-jährigen Krieg die Unabhängigkeit von Spanien. Im 18. Jahrhundert war es zur wichtigsten und reichsten amerikanischen Besitzung der spanischen Krone aufgestiegen (MacLachlan/Rodríguez O. 1990:251 ff). Seine wirtschaftliche Bedeutung für das Mutterland lag vor allem im Export von Silber und zu einem geringeren Maße von Cochenille. Die Unabhängigkeit brachte in Mexiko ebenso wie in den anderen lateinamerikanischen Ländern kaum strukturelle Veränderungen. Die Kämpfe selbst und die nachfolgende Zeit politischer Instabilität führten allerdings zu einem Niedergang der Wirtschaft. Im Bergbau als wichtigstem Sektor, der für den Export produzierte, sank die Produktion stark, da die Minen während der Unabhängigkeitskämpfe häufig verlassen wurden. Stollen wurden überschwemmt und stürzten zum Teil auch ein, so daß für die Wiederaufnahme der Silberförderung relativ hohe Anfangsinvestitionen nötig waren. Der Niedergang der Edelmetallproduktion zog einen Rückgang des Außenhandelsvolumens nach sich (Cárdenas 1997:69f). Der Rückgang des Außenhandels verstärkte wiederum den Kapitalmangel, der sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts in Mexiko abzeichnete und sich sowohl auf privater als auch auf staatlicher Ebene bemerkbar machte. Bereits während des Unabhängigkeitskrieges verließen viele Groß- und Fernhändler, die der reichsten Schicht in Mexiko angehörten, das Land. Sie hatten während der Kolonialzeit als wichtige Kreditgeber fungiert, und mit ihnen ging dieses Kapital für Mexiko verloren. Neben Groß- und Fernhändlern fungierte unter der spanischen Herrschaft die Kirche als wichtigste Kreditinstutition. Das Gesetz zur Desamortisation von 1804 schwächte diese Rolle jedoch erheblich. Die Krone verlangte, daß alle Schuldner ihre finanziellen Verpflichtungen bei der Kirche innerhalb kurzer Zeit beglichen. Die Kirche wiederum mußte diese Gelder als Zwangsanleihe an die Krone weitergeben (Hamnett 1969; Lavrin 1973). Damit wurden der Wirtschaft wichtige Mittel entzogen. Der kurz darauf beginnende Unabhängigkeitskrieg in Mexiko entzog der Wirtschaft weiteres Kapital, da viele Angehörige der Wirtschaftselite mehr oder weniger zwangsweise Anleihen an die Krone tätigten, mit denen der Kampf gegen die Aufständischen finanziert wurde. Der Krieg führte natürlich auch zum Verlust von Kapital. Neben dem Kapitalmangel in privaten Händen fehlte es auch dem neuen Staat an Mitteln. Die kolonialen Steuern, zum Beispiel der Tribut, den die indigene Bevölkerung zahlen mußte, wurden fast alle abgeschafft
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und mußten durch neue Einnahmequellen ersetzt werden. Eine Möglichkeit, die Defizite kurzfristig zu decken, bestand in der Aufnahme von Krediten auf dem internationalen Finanzmarkt. Mexiko nutzte diese Möglichkeit ebenso wie viele andere lateinamerikanische Staaten und nahm 1824 zwei Kredite auf, von denen einer einen Nominalwert von 32 Millionen Pesos aufwies. Tatsächlich erhielt die mexikanische Regierung davon aber nur 17 Millionen Pesos. Der Rest wurde als Abschlagszahlung und Kommission von den Londoner Bankhäusern, die das Geschäft einfädelten, zurückgehalten. Bereits 1827 mußte Mexiko die Zins- und Tilgungszahlungen einstellen (Cárdenas 1997:73f; Miller 1993:89ff). Diese erste Schuldenkrise Mexikos - und Lateinamerikas insgesamt konnte erst Ende des Jahrhunderts vollkommen beigelegt werden. Mexiko hatte zwar die Kreditrückzahlungen stunden müssen, die Verbindlichkeiten an sich lehnte es aber nie ab. Die mehrfach von der mexikanischen Regierung erklärten Schuldenmoratorien führten zu zwei Interventionen europäischer Mächte. 1838 entsandte Frankreich Truppen, die allerdings im so genannten Kuchenkrieg relativ schnell besiegt wurden. 1861 intervenierte Frankreich erneut, diesmal zusammen mit Spanien und Großbritannien. Die beiden letzteren sollten sich jedoch schnell aus der Unternehmung zurückziehen, während Frankreich den Habsburger Maximilian auf den mexikanischen Thron setzte. Diese Intervention konnten die Mexikaner erst 1867 endgültig beenden. Beide Angriffe auf das Land verbesserten dessen finanzielle Situation nicht gerade. Erst 1888 konnte Mexiko seine von 1824 stammenden Schulden endgültig begleichen (Miller 1993:90). Die Unfähigkeit, diese ersten Kredite gemäß den Vereinbarungen zurück zu zahlen, verringerte natürlich die Möglichkeit, weitere Auslandskredite aufzunehmen. Wenn die Regierung also in den nächsten Jahren Geld leihen wollte, mußte sie sich an einheimische Verleiher wenden. Die so genannten agiotistas - Groß- und Fernhändler, die die größeren Profitmöglichkeiten im Geldgeschäft ausnutzten - forderten enorm hohe Zinsen. Bei Anleihen der Regierung schwankten die Zinsen zwischen 30 und 100 Prozent, für private Geschäftsleute lagen sie nicht ganz so hoch (Marichal 1997:121f). Ein Problem, das den Kapitalmangel gleichzeitig widerspiegelte und zum Teil auch mit verursachte, war das Fehlen von Banken und Kreditinstituten. Die erste Geschäftsbank - Banco de Londres y México - entstand erst 1864. Die wichtigste Einnahmequelle des mexikanischen Staates bildeten im 19. Jahrhundert die Importzölle. Ein Teil dieser Einnahmen ging für den staatlichen Haushalt verloren, da die Regierung als Sicherheit für ihre Kredite Wechsel auf die Zolleinnahmen ausstellte und damit
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ihre zukünftigen Einnahmen beschnitt. Aufgrund der politischen Instabilität floß außerdem ein Großteil des Geldes in militärische Kampagnen. Zu den innenpolitischen Konflikten traten auch noch Bedrohungen von außen. Zunächst befürchteten die Mexikaner, Spanien könne versuchen, das Land zurück zu erobern. Als diese Gefahr nicht mehr bestand, provozierten die USA 1846 einen Krieg, der dazu führte, daß Mexiko die Hälfte seines Territoriums an den Nachbarn im Norden abtreten mußte. Hinzu kamen die bereits erwähnten europäischen Interventionen. Diese Auseinandersetzungen verbrauchten wichtige Ressourcen, die für andere Aufgaben des Staates verloren gingen. Ein wichtiger Bereich, in dem diese Ressourcen fehlten, war die Infrastruktur. Besonders das Transportwesen behinderte eine wirtschaftliche Integration des Landes. Mexikos natürliche Beschaffenheit führte dazu, daß die Verbindung der unterschiedlichen Regionen miteinander sehr schwierig war. Das teilweise sehr schroffe Gelände erschwerte den Landverkehr. Im Gegensatz zu Europa und den USA gab es in Mexiko so gut wie keine schiffbaren Flüsse. In den Vereinigten Staaten bildeten die Wasserwege - neben Flüssen auch einige Kanäle bereits vor den Eisenbahnen eine Grundlage für die Ausweitung des Handels seit Ende des 18. Jahrhunderts (Heideking 1996:115f; zu Europa vgl. Braudel 1985:456ff). Mexiko blieb dagegen fast vollständig auf den langsameren und weniger leistungsfähigen Landtransport angewiesen. Bevor die ersten Eisenbahnlinien gebaut wurden, stellten Maultiere und einfache Karren für Güter sowie Postkutschen für den Personenverkehr die wichtigsten Transportmittel dar. Eine Maultierkarawane benötigte von Veracruz, dem bedeutendsten Hafen des Landes, nach Mexiko-Stadt während der Trockenzeit 15 Tage und während der Regenzeit sogar bis zu 30 Tage. Die Postkutsche brauchte immerhin noch 3-5 Tage für die gleiche Strecke. Mit der Eisenbahn verkürzte sich die Reisedauer auf knapp 13 Stunden. Angesichts des Kapitalmangels begann der Eisenbahnbau in Mexiko aber vergleichsweise spät. Erste Pläne, eine Linie zwischen Veracruz und der Hauptstadt MexikoStadt zu bauen, scheiterten 1837 und konnten erst 1873 mit ausländischem Kapital verwirklicht werden. Größter Investor im mexikanischen Eisenbahnbau waren die USA, dicht gefolgt von Großbritannien. In geringerem Umfang beteiligten sich auch Deutschland und Frankreich an den Investitionen in den Transportsektor (Hensel 1993:55ff). Die mangelhafte Infrastruktur Mexikos wird in der Literatur als der wichtigste Einzelfaktor bezeichnet, der die Wirtschaftsentwicklung behinderte (vgl. Coatsworth 1984; Kuntz Ficker/Riguzzi 1996). Erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, während des Porfiriats (1876-
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1910), verfolgte die mexikanische Regierung eine Modernisierungspolitik, die unter anderem auf den Bau von Eisenbahnen setzte. Bis 1910 erreichte das Streckennetz aller Linien in Mexiko eine Ausdehnung von fast 20.000 km. Die Ausrichtung der wichtigsten Eisenbahnen verlief von Norden nach Süden. Sie stellten eine Verbindung mit den Eisenbahnlinien in den Vereinigten Staaten her, die in den 1870er Jahren den Pazifik erreicht hatten. Das neue Transportmittel führte deshalb zu einer engeren Bindung an die USA, und insgesamt kam es zu einer verstärkten Integration Mexikos in den Weltmarkt. Die Auswirkungen auf den Binnenmarkt sind dagegen angesichts der mangelhaften Literaturlage nicht eindeutig zu bestimmen. Es kann zwar davon ausgegangen werden, daß das neue Transportmittel auch hier positive Effekte zeitigte, genauere Aussagen für einzelne Regionen und Branchen lassen sich bisher allerdings nicht treffen. Neben dem Kapitalmangel und der schlechten Infrastruktur als Ursachen für die Unterentwicklung Mexikos und Lateinamerikas insgesamt führt die wirtschaftshistorische Literatur noch das Fehlen eines entsprechenden gesetzlichen Rahmens für den ungehinderten Aufbau von Industriebetrieben an sowie das mangelhafte Bildungssystem (Cárdenas 1997). Beide Faktoren finden bisher in der Forschungspraxis nur wenig Beachtung. Immerhin wird man davon ausgehen können, daß die hohe Analphabetenrate in vielen Ländern Lateinamerikas und die zum Teil ausgesprochen schlechte Schulbildung der ländlichen Bevölkerung technologischen Neuerungen in der Wirtschaft nicht gerade förderlich waren und sind. Neue Impulse für die Erklärung von Unterentwicklung kommen in den letzten Jahren aus der Sozialgeschichte. So untersuchte John Tutino (1998), warum es in der mexikanischen Landwirtschaft nicht zur langfristigen Ausbildung einer Schicht mittlerer Produzenten kam. Seine Studie beleuchtet die Besitzstrukturen in der wichtigsten und am stärksten kommerzialisierten landwirtschaftlichen Region Mexik o s - dem Bajío - in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In der späten Kolonialzeit beherrschten große Landgüter, die haciendas, die Getreideproduktion in der Region. Die Arbeiter dort waren abhängig Beschäftigte, deren wirtschaftliche Lage in den meisten Fällen prekär war. Die haciendas produzierten Getreide, das in normalen Jahren entweder für die städtischen Märkte in der Region bis hin zur Hauptstadt Mexiko-Stadt oder für den Export bestimmt war. Die hacendados machten einen Teil ihres Profits, indem sie die Produkte nicht direkt nach der Ernte verkauften, sondern möglichst lange warteten, um in Zeiten von Getreideknappheit hohe Preise zu erzielen.
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Mit den Unabhängigkeitskämpfen begann sich diese Struktur zu ändern. Die Landbevölkerung im Bajio verfolgte im Bürgerkrieg durchaus ihre eigenen Ziele. Sie war weniger an der politischen Unabhängigkeit Mexikos interessiert als vielmehr an ihrer wirtschaftlichen Eigenständigkeit. Als die hacendados ihre Autorität aufgrund der kriegerischen Auseinandersetzungen nicht mehr durchsetzen konnten, ergriffen die ansässigen Landarbeiter die Gelegenheit. Sie teilten das Land unter sich auf und begannen, als Pächter vor allem Getreide für den eigenen Bedarf und den regionalen Markt zu produzieren. Es entstand eine neue Agrarstruktur, in der kleinere Produktionseinheiten gegenüber den zum Teil riesigen haciendas überwogen. Innerhalb weniger Jahre zeichneten sich auch zwischen den nun eigenverantwortlich arbeitenden ehemaligen Landarbeitern ökonomische Unterschiede ab. Sie waren jedoch nicht so ausgeprägt wie diejenigen, die zwischen hacendados auf der einen und Landarbeitern auf der anderen Seite bestanden hatten. Diese Entwicklung führte zur Herausbildung einer Schicht von Bauern, die weitgehend in den Markt integriert war. Sie produzierte überwiegend für den Verkauf und fragte selbst Konsumgüter nach. Diese neuen Strukturen auf dem Land bestanden bis in die 1850er Jahre. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begannen sich hingegen die politischen Strukturen in Mexiko erneut zu festigen. Der Oberschicht des Landes gelang es, ihre Macht wieder stärker durchzusetzen. Nachdem die Invasion der Franzosen in den 1860er Jahren ebenfalls abgewehrt worden war, begann eine Phase politischer Stabilität in Mexiko, in der besonders die Exportwirtschaft beständig wuchs. Seit den 1880er Jahren kam diese Tendenz voll zum Tragen. In dieser Zeit wurden die Eisenbahnen gebaut und die Wirtschaft noch stärker in den Weltmarkt integriert. Aufgrund der wirtschaftlichen Daten wird das Porfiriat positiv beurteilt. Tutino wendet gegen diese Interpretation allerdings ein, daß während dieser Zeit die alte Agrarstruktur mit riesigen Landgütern in der Hand weniger Besitzer wieder durchgesetzt wurde. Damit wurde aber eine Chance vertan: „In assuring their own profits, elites ended Mexicos nineteenth-century opportunity for sustainable growth with equity." (Tutino 1998:417)
DIE U R S A C H E N
DER
UNTERENTWICKLUNG
Faßt man die üblicherweise in der wirtschaftshistorischen Forschung als Ursachen der Unterentwicklung genannten Faktoren zusammen, dann spielen der Kapitalmangel und die mangelhafte Infrastruktur die entscheidende Rolle. Der Interpretation der meisten Untersuchungen
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zufolge behinderten diese Faktoren die Exportwirtschaft, weshalb Lateinamerika in seiner wirtschaftlichen Entwicklung im 19. Jahrhundert hinter die sich industrialisierenden Länder Europas und Nordamerikas zurückfiel (vgl. z.B. Cárdenas 1997). Ein Großteil der Wirtschaftsgeschichte unterstützt damit zumindest indirekt die neoliberale Position, die die Globalisierung im Sinne einer Integration in den Weltmarkt grundsätzlich positiv beurteilt, wenn sie nur umfassend genug durchgesetzt wird. Diese Annahme läßt in ihrer Pauschalität allerdings einige Fragen offen. In bezug auf die Außenwirtschaft stellt sich zunächst die Frage, inwieweit Impulse von diesem Wirtschaftssektor auf andere Bereiche ausgingen. Eine solche Transformation wäre am direktesten über zwei Mechanismen möglich gewesen: 1. die Investition von Gewinnen aus dem Im- und Export in nicht-exportorientierte Sektoren; 2. die Steigerung der Kaufkraft durch Lohnzuwächse der Arbeiter, die im Exportsektor tätig waren. Beides fand häufig nicht statt. Für die erste Option waren offenbar in den meisten Ländern die Profitchancen nicht groß genug. Eine weitere Rolle spielte hier häufig die Dominanz von ausländischen Händlern im Im- und Exportgeschäft. Ihr Interesse am Aufbau einer einheimischen Industrie war relativ gering, da sie ja gerade aus einem möglichst umfangreichen Fernhandel Profite zogen. Der zweite Mechanismus - also die Erhöhung der Kaufkraft durch reale Lohnzuwächse - konnte in Ländern wie Brasilien und Kuba nicht greifen, da die Arbeit auf den Zuckerrohrplantagen von Sklaven verrichtet wurde. Ihre Kaufkraft verbesserte sich mit dem Zuckerboom keineswegs. Aber auch in anderen Ländern fiel der reale Lohnzuwachs der im Exportsektor tätigen Arbeiter oft sehr gering aus, vielfach sanken die Reallöhne auch (Bulmer-Thomas 1994:44f). Die Fragen nach Investitionen für die einheimische Produktion und nach der Kaufkraftentwicklung verweisen auf einen grundsätzlichen Mangel der wirtschaftshistorischen Forschung. Sie konzentrierte sich bisher viel zu stark auf den Exportsektor und legte damit ihr Augenmerk auf einen Wirtschaftsbereich, der lediglich ca. 5 Prozent des Bruttosozialprodukts ausmachte (Bulmer-Thomas 1994:39). Die Binnenmarktentwicklung und die Integration der einzelnen Regionen und vor allem der Bevölkerung in den Markt fand bisher nur geringe Beachtung. Mit dem Schwergewicht der Wirtschaftsgeschichte Lateinamerikas auf dem Export scheint hier eine Inkongruenz gegenüber den Ergebnissen der europäischen und US-amerikanischen Literatur vorzuliegen. Während der Handel mit den ehemaligen und zeitgenössischen Kolonien
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als eher nebensächlich für die europäische Industrialisierung gilt, soll gerade dieser Bereich für die Länder Afrikas, Asiens und Lateinamerikas entscheidend gewesen sein. Vergleichende Betrachtungen könnten deshalb vielleicht einige neue Perspektiven eröffnen. So stellt sich zum Beispiel die Frage, inwieweit die strukturellen Bedingungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht bereits Europa und die Vereinigten Staaten begünstigten. In beiden Regionen stellte das hohe Bevölkerungswachstum eine Voraussetzung für die Industrialisierung dar. In den USA wuchs die Bevölkerung von 17 Millionen Einwohnern, die das Land 1840 hatte, in 20 Jahren auf 31,5 Millionen Personen. Gleichzeitig setzte ein Prozeß der Urbanisierung ein, der nicht nur bedeutete, daß immer mehr Menschen in Städten lebten. Damit ist vielmehr auch gemeint, daß ein kultureller Wandel stattfand, der das gesamte Alltagsleben erfaßte und zu vollkommen neuen Konsumgewohnheiten führte. Neben anderen Faktoren stellte das Bevölkerungswachstum in den USA einen wichtigen Faktor in der Integration der Einwohner in die kapitalistische Wirtschaft dar, ein Prozeß, der sich bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zog (vgl. Stokes/Conway 1996). In ganz Lateinamerika lebten hingegen nach der Unabhängigkeit lediglich 20 Millionen Menschen, deren Zahl bis 1850 auf ca. 30 Millionen Einwohner gestiegen war, obwohl bereits Mexiko und Brasilien allein eine größere Ausdehnung als die USA erreichten (Bulmer-Thomas 1994:45). Der weitaus größere Teil dieser Menschen lebte in ländlichen Gebieten, und viele konnten nur partiell am Marktgeschehen teilhaben. Neben dem Bevölkerungswachstum als einer wichtigen strukturellen Voraussetzung der Industrialisierung bedurfte es auch noch einer Steigerung der Kaufkraft breiter Schichten, ohne die ein steigender Massenkonsum und damit das langfristige Wirtschaftswachstum nicht möglich gewesen wären. Eine solche Tendenz zeichnete sich in Europa und den USA während des 19. Jahrhunderts ab, in den meisten Regionen Lateinamerikas blieb sie jedoch langfristig gering ausgeprägt. In keinem der lateinamerikanischen Länder entstand eine Mittelschicht, die ähnlich groß war wie in den Industrieländern. Die Ursachen hierfür sind vielfältig und bisher noch kaum untersucht. Einen ersten Ansatz hierzu liefert Tutino mit seiner Untersuchung zur landwirtschaftlichen Besitzstruktur in Mexiko. Seine Interpretation verweist auf die eingangs dargelegte Definition von Entwicklung. Entgegen der üblichen Beschränkung von wirtschaftshistorischen Studien auf makroökonomische Daten sieht er die Frage der gesellschaftlichen Verteilung von Reichtum als ein wichtiges Kriterium für die Beurteilung der Wirtschaftsstruktur an. Dies sollte in künftige Überle-
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gungen zum Ursprung der Unterentwicklung einbezogen werden. Das statistische Pro-Kopf-Einkommen ist nur begrenzt aussagefähig, wenn es um die konkreten Lebensbedingungen einer Bevölkerung geht. Europa und die USA hatten gegenüber anderen Regionen der Erde den Vorteil, daß hier der Prozeß der Protoindustrialisierung und dann der eigentlichen Industrialisierung zuerst einsetzte. Damit verfügten sie über einen technologischen Vorsprung, den sie in der Folgezeit beibehalten sollten. Die Protoindustrialisierung stellte für die spätere Industrialisierung eine wichtige Voraussetzung dar. Unter dem Begriff versteht man einen Prozeß der schrittweisen Ausweitung und Mechanisierung der handwerklichen Herstellung von Konsumgütern im ländlichen Raum, der vor der eigentlichen Industrialisierung stattfand (Kriedte/ Medick/Schlumbohm 1977). Dieser Prozeß bezog einen Teil der ländlichen Bevölkerung nicht nur in die Produktion, sondern auch in den Markt ein. In Lateinamerika scheint eine solche Protoindustrialisierung höchstens in kleinerem Umfang stattgefunden zu haben. Der Aufbau einiger Industrien hatte zum Teil sogar eine negative Wirkung auf die bereits bestehende handwerkliche Produktion, da diese nicht in den Prozeß einbezogen wurde und dementsprechend keine Modernisierung erfuhr. Sie wurde vielmehr durch die Konkurrenz der neuen Industriebetriebe zerstört (Bulmer-Thomas 1994:4lf). In bezug auf die Protoindustrialisierung stellt sich außerdem die Frage, ob Lateinamerika tatsächlich erst im 19. Jahrhundert hinter Europa zurückfiel, oder ob der Beginn dieser Entwicklung nicht schon in der Kolonialzeit angesetzt werden muß. Immerhin verfolgten sowohl die spanische als auch die portugiesische Krone eine merkantilistische Politik, die darauf ausgerichtet war, das einheimische Manufakturwesen zu stärken, und deshalb die Herstellung vieler Produkte in den Kolonien unterband. Diese Politik konnte zwar nicht vollständig umgesetzt werden, folgenlos blieb sie allerdings nicht. Hier liegt zumindest eine Ursache für den von Coatsworth (1998:26) aufgezeigten Unterschied zwischen dem Pro-Kopf-Einkommen Lateinamerikas auf der einen und Europas und der USA auf der anderen Seite, der sich für die meisten Regionen bereits um 1700 manifestierte und seitdem zunahm. Lediglich Kuba und Argentinien lagen bis 1800 gleichauf beziehungsweise besser als die Vereinigten Staaten. ZUSAMMENFASSUNG Der Begriff der Dritten Welt entstand zunächst als Bezeichnung für diejenigen Staaten, die sich der blockfreien Bewegung zurechneten
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und zu den armen Ländern der Erde gehörten. Das wirtschaftliche Kriterium für die Definition gewann seit den 1960er Jahren zunehmend an Bedeutung. Deshalb werden heute die Entwicklungsländer weiterhin auch als Dritte Welt bezeichnet, obwohl die Blockkonfrontation mit dem Niedergang der Sowjetunion der Vergangenheit angehört. Das Kriterium von Entwicklung, das in der Definition der Dritten Welt erhalten bleibt, wurde hier als ein umfassender Prozeß definiert, in dem nicht nur die ökonomischen Daten in Betracht gezogen werden sollten, sondern auch eine Reihe von sozialen Faktoren wichtig sind. Die Ursachen der Unterentwicklung sind in der wirtschaftshistorischen Forschung umstritten. Bis in die 1960er Jahre dominierten modernisierungstheoretische Vorstellungen, die davon ausgingen, daß sich die Entwicklungsländer lediglich in einem früheren Stadium der Wirtschaftsentwicklung befänden als die Industrieländer. Die Gründe dafür lagen in den Augen der Modernisierungstheoretiker vor allem in Versäumnissen in den Ländern der Dritten Welt selbst. Sie empfahlen eine möglichst vollständige Öffnung für den Weltmarkt und prophezeiten einen ähnlichen Prozeß, wie ihn zuvor die Industrieländer durchgemacht hatten. Dagegen stellten die Vertreter der Dependenztheorie, die in den 1960er Jahren in Lateinamerika entwickelt wurde und in den folgenden Jahrzehnten die Debatten und zum Teil auch die Politik stark beeinflußte, die Abhängigkeit der lateinamerikanischen Staaten von den Industrieländern. Kolonialismus und Imperialismus führten Lateinamerika, Afrika und Asien in die Unterentwicklung. In Ablehnung der Dependenztheorie hat sich ein Großteil der heutigen Wirtschaftshistoriker der quantifizierenden Geschichtsschreibung zugewandt. Die hier entstandenen Studien richten ihr Augenmerk auf das 19. Jahrhundert. Die Ursachen der Unterentwicklung werden in dem Zeitraum gesucht, als in Lateinamerika unabhängige Staaten etabliert wurden und gleichzeitig die Industrialisierung in Nordeuropa und in den USA ihren sichtbaren Anfang nahm. Tatsächlich vergrößerte sich der Abstand zwischen beiden Regionen während des 19. Jahrhunderts enorm. Genauso, wie mittlerweile die Voraussetzungen für die Industrialisierung in weiter zurückliegenden Zeiten gesehen werden, scheint ein Blick in die Kolonialzeit ebenfalls angebracht. Die Kolonialmächte hatten erheblichen Einfluß auf die Wirtschaft der überseeischen Gebiete genommen. Außerdem sollte die politische Instabilität, die mit den Unabhängigkeitskämpfen begann und sich in vielen Ländern im 19. Jahrhundert fortsetzte, in den Blick genommen werden. Sie folgte aus dem Umbruch von einer kolonialen Situation zum Aufbau neuer Staatswesen.
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Konkrete Hindernisse für ein Wirtschaftswachstum stellten der Kapitalmangel und die schlechte Infrastruktur dar. Die Auswirkungen dieser Probleme auf den Exportsektor sind mittlerweile relativ gut untersucht. Die Konzentration der Literatur auf den Außenhandelssektor der Wirtschaft folgt in gewisser Weise den damaligen Vorstellungen über eine adäquate Wirtschaftspolitik, deren Interesse sich ebenfalls fast ausschließlich dem Export zuwandte. Besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigte sich diese Schwerpunktsetzung. Der Exportsektor machte bis in die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts allerdings nur einen geringen Anteil am Bruttoinlandsprodukt aus. Seine Auswirkungen auf den Rest der Wirtschaft sind zudem sehr unterschiedlich zu bewerten. Um eine umfassendere Antwort auf die Frage nach den Ursachen der Unterentwicklung zu ermöglichen, sollte sich die Forschung dem Binnensektor der jeweiligen Wirtschaften zuwenden und hier nicht nur nach ökonomischen Daten suchen. Sie soziale Situation der Bevölkerung muß Eingang in die Überlegungen finden. Eine vergleichende Perspektive, die systematisch die Ergebnisse der Forschung zu Europa und den Vereinigten Staaten einbezieht, könnte dabei zu neuen Erkenntnissen führen.
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Die Entstehung
einer Dritten
Welt
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Silke
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DAS ZEITALTER
DES
HOCHIMPERIALISMUS EUROPAS AUFBRUCH
-
ZUR
WELTWIRTSCHAFT
NIKOLAUS
REISINGER
Obwohl kaum eine Epoche der neueren Geschichte so umfassend erforscht und dokumentiert ist wie jene des Hochimperialismus, verweist die bislang anhaltende wissenschaftliche Diskussion zum Thema auf ein ungebrochenes Interesse an diesem Zeitabschnitt (vgl. die Neuauflagen von Standardwerken bei Conklin/Fletcher 1999 oder Mommsen 1998). In der Periode zwischen 1880 und 1914 verdichtete sich aus der Sicht der europäischen Nationalstaaten und der USA die „Geschichte der Welt" zu einer „Weltgeschichte"; auch die entferntesten Peripherien der Ökumene (Toynbee 1996) wurden in das eigene, europäische Gefüge integriert, so daß ein weltwirtschaftliches Geflecht von noch nie dagewesener Komplexität entstand. Innerhalb der Imperialismusforschung wurde und wird besonders die Bedeutung der Industriellen Revolution und deren Folgen sowohl für die imperialistische Expansion als auch für die Herausbildung weltwirtschaftlicher Strukturen hervorgehoben. Diese Interpretation entspricht jedoch lediglich der europäischen Perspektive, beziehungsweise jener der westlichen Industriestaaten. Aus der Sicht der „Anderen", der Kolonisierten, mangelte es an Mitwirkungsmöglichkeiten, sie sahen sich zunehmend übervorteilt. Die gegenwärtige Situation der meisten ehemaligen Kolonialländer verweist unmißverständlich auf die Tatsache, daß sie selbst nie emanzipierter Partner dieser europäisch-nordatlantischen Weltwirtschaft waren, noch es heute sind.
208
Nikolaus
Reisinger
Diese Problematik führte schon bei den Zeitgenossen in Europa zu einem kontroversen Diskurs über die Interpretation des Imperialismus. Das Gros der älteren Literatur analysierte die imperiale Expansion primär ökonomisch (Hobson 1970; Lenin 1946; Schumpeter 1919). Heinrich Friedjung hingegen wies auf die außenpolitische Konkurrenz der europäischen Nationalstaaten hin (Friedjung 1919/1922). In weiterer Folge, und insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg, wurde der Imperialismus verstärkt unter sozialwissenschaftlichen Aspekten untersucht (Wehler 1970; Hobsbawm 1999). In den neunziger Jahren ergänzte die Forschung diese Erklärungsmodelle um geistesund kulturwissenschaftliche Ansätze (Said 1994 und 1996; Judd 1996; Lembeck/Potts/Rost/Thörner 1996). Vor dem Hintergrund globaler wirtschaftspolitischer Entwicklungen ist die Frage nach der ökonomischen Bedeutung der imperialen Expansion jedoch auch weiterhin von großem aktuellem Interesse (Altvater/Mahnkopf 1996; O'Brien/ Prados de la Escosura 1998). Zwischen 1880 und 1914, der Zeit des Hochimperialismus, wurden zirka 25 Prozent der Erde als Kolonien unter einem knappen Dutzend europäischer Staaten, den USA und Japan aufgeteilt. Allein zwischen 1876 und 1900 erhöhten die Kolonialmächte ihren Besitz in Afrika von 10,8 Prozent auf 90,4 Prozent der Fläche dieses Kontinents, in Asien von 51,5 auf 56,6 Prozent und in Polynesien von 56,8 auf 98,9 Prozent (Hampe 1976:20). Anders ausgedrückt, wurde die Erde zu Beginn des 20. Jahrhunderts von zirka 40 Prozent der Weltbevölkerung kontrolliert, die selbst nur 15 Prozent der Erdoberfläche bewohnten. Berücksichtigt man all jene Territorien, die sich darüber hinaus als Protektorate, Dominions oder durch eine spezifische Form der vertraglichen Bindung, wie Pacht- und Handelsverträge, in einem direkten oder indirekten politischen oder ökonomischen Abhängigkeitsverhältnis zu einem der imperialen Staaten befanden, so hatten Europäer, US-Amerikaner und Japaner 1914 ihren Einfluß auf rund 85 Prozent der Erdoberfläche ausgedehnt (Said 1994:42). Am Vorabend des Ersten Weltkrieges waren bereits zwei große Regionen der Welt nahezu vollkommen „aufgeteilt", nämlich Afrika und der Pazifische Raum: 1914 war Afrika bis auf das äthiopische Kaiserreich, Liberia und einen Teil Marokkos Bestandteil der europäischen Kolonialstaaten geworden. Der Pazifik stand „restlos" unter englischem, französischem, deutschem, niederländischem, US-amerikanischem und - zu einem geringen Teil unter japanischem Einfluß (Hobsbawm 1999:70, 81). Im Zuge ihrer expansionistischen Aktivitäten hatten die Kolonialmächte spezifische Strategien der Machtausübung entwickelt, die seit den
Das Zeitalter des Hochimperialismus
Der Flächenanteil
unabhängiger
- Europas Aufbruch zur Weltwirtschaft
Länder stellt sich für die einzelnen
209
Kontinente
für das Jahr 1913 wie folgt dar (in Prozent): Nordamerika Mittel-/Südamerika Afrika Asien Ozeanien Europa
32,0 92,5 3,4 70,0 (ohne Russisch-Asien) 43,2 (mit Russisch-Asien) 99,9
Quelle: Hobsbawm 1999:431 (berechnet nach Völkerbund, International Statistics Yearbook,1926)
Forschungen von John Gallagher und Ronald Robinson als „formeller" und „informeller" Imperialismus bezeichnet werden (Gallagher/ Robinson 1970). Während der formelle Imperialismus auf die militärische und politische Kontrolle eines Territoriums abzielte (Kolonien, Protektorate, okkupierte Gebiete), beabsichtigte der informelle Imperialismus primär eine nichtmilitärische, ökonomische Durchdringung eines Gebietes. Dies erfolgte zumeist in Form von Handels-, Freundschafts- oder Schutzverträgen. Vielfach unterschieden sich formeller und informeller Imperialismus lediglich graduell, da der Einsatz informeller Methoden nicht automatisch die Anwendung militärischer oder politischer Machtmittel ausschloß (etwa zur Durchsetzung finanzieller Forderungen). Dementsprechend konstatiert die Forschung für das Zeitalter des Imperialismus generell die „kombinierte Anwendung" formeller und informeller Methoden, ganz nach dem Prinzip: „Handel und informelle Herrschaft wenn möglich, Handel und direkte Herrschaft wenn nötig" (Gallagher/Robinson 1970:196). Insbesondere die Ausbildung des informellen Imperialismus steht in unmittelbarem Zusammenhang mit den Folgewirkungen der Industriellen Revolution. Der durch diese bedingte technologische Fortschritt erfolgte in mehreren Innovationsschüben während des gesamten 19. Jahrhunderts und initiierte neben der Entstehung neuer Industrien vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Dynamisierung der Weltwirtschaft. Dabei waren die Neuerungen in den Bereichen der Eisen-, Stahl- und Maschinenindustrie sowie der Verkehrs-, Transport- und Kommunikationstechnik von besonderer Bedeutung (detaillierte Übersichten bei Rübberdt 1972:350-368 und Pierenkemper 1996:194-197). Die Auswirkungen der Industriellen Revolution auf die Weltwirtschaft zeigen sich eindrucksvoll an der Entwicklung der Weltproduktion und des Welthandels im Zeitraum zwischen 1870 und 1913:
Nikolaus
210
Weltproduktion
und Welthandel
Jahr 1870 1880 1890 1900 1913
1870-1913
Produktion 19,5 26,9 41,1 58,7 100,0
Reisinger
(1913 = 100) Handel 23,8 38,0 48,0 67,0 100,0
Quelle: Rostow 1978: Anhang A und B
Europa war um 1880 der bestimmende Markt für die sich permanent erweiternde Weltwirtschaft: Die wesentlichen technischen Innovationen kamen damals aus Europa, die europäische Industrie produzierte zu diesem Zeitpunkt mehr als doppelt so viel wie etwa die nordamerikanische. Auch Japan, das sich seit 1868 in seinen wirtschaftlichen Intentionen am europäischen Vorbild orientierte, hatte den Anschluß an den technologischen Standard Europas noch nicht gefunden. Die europäische Wirtschaft beruhte im wesentlichen auf dem progressiven Zusammenspiel zwischen extrem rationalisierten Produktionsweisen und einer bis zur Massengüterherstellung erhöhten Produktionssteigerung. Diese wiederum bedingte die permanente Absatzmarkterweiterung und -Sicherung. Die wichtigste Folge dieser Entwicklung war ein ständig steigender Rohstoffbedarf, der schließlich eine enorme Ausdehnung des internationalen Rohstoffmarktes nach sich zog. Dieser verdreifachte sich zwischen 1880 und 1913. Da es sich bei den rohstoffexportierenden Ländern fast ausschließlich um Kolonien, Dominions und Protektorate handelte, wurden diese immer stärker an die europäischen und US-amerikanischen Märkte gebunden. Intensiviert wurde diese Anbindung dadurch, daß die Zeitgenossen in den Kolonien hoffnungsträchtige Absatz- und Investitionsmärkte sahen; nicht zuletzt deshalb, weil es auch in den kolonisierten Ländern zu ersten Industrialisierungsansätzen kam. Dabei ist zu berücksichtigen, daß alte, etablierte außereuropäische Handels- und Wirtschaftsverbindungen auch im Zeitalter des Hochimperialismus weiterbestanden und ausgebaut wurden. Das zeigt sich am Beispiel Asiens, wo während der Phase des Hochimperialismus neben dem europäisch-atlantischen Handel ein in sich geschlossener, prosperierender innerasiatischer Handel existierte. Das belegen neuere Forschungen aus Indien und Japan. Diese errechneten am Beispiel des Handels zwischen China, Japan und Indien im Zeitraum zwischen 1884 und 1914 einen Anstieg des Handelsvolumens mit einer durchschnittlichen Jahresrate von 5,4 Prozent. Damit verzeichnete dieses
Das Zeitalter
des Hochimperialismus
- Europas
Aufbruch
zur Weltwirtschaft
211
Handelssystem eine höhere Steigerungsrate als der Welthandel insgesamt, dessen Jahresrate für denselben Zeitraum lediglich mit 3,4 Prozent angegeben wird (Sugihara 1986:709f; Lewis 1981:11). De facto wurden die Kolonien somit nie wirklich in die europäischnordatlantische Wirtschaft integriert. Die nur geringfügige Anbindung der außereuropäischen kolonialen und semikolonialen Ökonomien an die europäisch-nordatlantische Weltwirtschaft läßt sich anhand verschiedener Indikatoren, zum Beispiel an der Entwicklung des Bruttosozialprodukts und des Volkseinkommens, nachweisen: Insgesamt waren die Unterschiede zwischen den vorindustriellen Regionen Europas und der restlichen Welt in den Bereichen der Produktion und des Volkseinkommens - nach heutigen Maßstäben - erstaunlich gering: sie entsprachen im 18. Jahrhundert in etwa einem Verhältnis von 1,8:1 (Hobsbawm 1999:27). Neuere Schätzungen haben sogar ergeben, daß das Bruttosozialprodukt pro Kopf der Bevölkerung in den heute sogenannten „entwickelten Ländern" jenem der sogenannten „Dritten Welt" im Zeitraum zwischen 1750 und 1800 in etwa entsprach. Hierbei ist die enorme Größe des chinesischen Reiches zu berücksichtigen, in dem etwa ein Drittel der damaligen Weltbevölkerung lebte. Man nimmt sogar an, daß der durchschnittliche Lebensstandard in China zu jener Zeit über jenem der Europäer lag. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts vergrößerten sich die Unterschiede zwischen den europäischen und nordatlantischen Ländern und den anderen Regionen der Welt immer deutlicher: Um 1880 war das Pro-Kopf-Einkommen in der „entwickelten Welt" etwa doppelt so hoch wie in der „Dritten Welt"; bis 1913 hatte sich dieses Verhältnis auf 1:3 verändert. Auch hinsichtlich des Bruttosozialproduktes öffnete sich die Schere im 19. Jahrhundert noch weiter: war das Bruttosozialprodukt 1830 in den „industrialisierten Ländern" doppelt so hoch wie in den „Dritte-Welt-Ländern", so war es 1913 ungefähr siebenmal so hoch (Hobsbawm 1999:28). Die extremen Unterschiede entstanden somit zeitgleich mit der Phase des Hochimperialismus. Dies führte schließlich dazu, daß die Welt zunehmend in „entwickelte" und „unterentwickelte" Regionen, in heute sogenannte „Industrienationen" und „Entwicklungsländer", unterteilt wurde. Die unterschiedliche Entwicklung von industrialisierten Mutterländern und Kolonien zeigt sich auch im Ausbau des transkontinentalen Eisenbahnverkehrs sowie der Binnen- und Seeschiffahrt: Die Schiffstonnage der Welt, die zwischen 1840 und 1870 von 10 auf 16 Millionen Tonnen gestiegen war, vergrößerte sich im Zeitraum von 1881 bis 1913 wie folgt:
Nikolaus
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Schiffstonnage
Weltweit Großbritannien USA Norwegen Deutschland Kanada Italien Frankreich Rußland Spanien Niederlande Griechenland Österreich-Ungarn Dänemark Summe
aller Schiffe
über 100t (in 1.000 t)
1881
1913
18.325
46.940
7.010 2.370 1.460 1.150 1.140 1.070 840 740 450 420 330 290 230
18.696 5.429 2.458 5.082 1.735' 1.522 2.201 974 841 1.310 723
1.011 762
17.970
43.791
355
3.179
Restliche Staaten
Reisinger
Quelle: Hobsbawn 1999:433 (modifiziert) 1 Britisches Dominion
Die Verteilung der Schiffstonnagen verweist dabei ganz eindeutig auf die Dominanz der europäischen gegenüber den „restlichen Staaten"; im wesentlichen gegenüber den Ländern Lateinamerikas und Asiens, deren quantitativer Anteil vergleichsweise gering war. Dieselbe Tendenz zeigt sich auch im Bereich des europäischen Eisenbahnwesens: Nachdem zwischen 1825 und 1890 innerhalb Europas ein nahezu „lückenloses" Eisenbahnnetz entstanden war, suchten sich die Kolonialmächte während der Zeit des Hochimperialismus - etwa mit dem Bau der transsibirischen Eisenbahn (1893-1904/14) oder der Bagdadbahn (1903-1940) - außereuropäische Betätigungsfelder. Die Länge des weltweiten Eisenbahnnetzes hatte sich zwischen 1870 und 1914 von 200.000 auf zirka 1 Million km vergrößert. Davon verliefen rund 75 Prozent aller Eisenbahnkilometer in Europa und Nordamerika. Die verbleibenden 25 Prozent entfielen auf die übrigen Weltregionen, wovon 16,7 Prozent in Indien verlegt worden waren. Sieht man von der indischen Situation ab, so verweisen die Daten für den Verkehrs- und Transportsektor auf ein extremes Verkehrsdefizit in den Kolonialgebieten und in Lateinamerika. Dasselbe Bild spiegelt sich auch hinsichtlich der Anteile der Kolonien am globalen Kommunikationsnetz wider. Die drahtlose Telegraphie (seit 1901) sowie das Telephon (seit 1876) haben zweifellos die logisti-
Das Zeitalter des Hochimperialismus
- Europas
Aufbruch
zur Weltwirtschaft
213
sehen Möglichkeiten wirtschaftlicher Transaktionen entscheidend verbessert. 1912 befanden sich von 12,453.000 weltweit registrierten Telefonanschlüssen 8,362.000 (67,1%) in den USA 3,239.000 (26,0%) in Europa und 852.000 ( 6,8%) in den übrigen Weltregionen
Von den 852.000 Anschlüssen der „übrigen Weltregionen" entfielen 367.000 (3,0% insgesamt) auf das restliche Nordamerika 166.000(1,3%) auf Asien 137.000 (1,1%) auf Südamerika und Westindien 41.000 (0,3%) auf Afrika und 141.000 (1,1%) auf Australien und Ozeanien (Weltwirtschaftliches Archiv 1913:143).
Unter Berücksichtigung dieses Ungleichgewichts scheint das oft vorgebrachte Argument nicht haltbar, daß die Konturen eines globalen Wirtschafts- und Verkehrsnetzes in der Zeit unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg anhand der gut entwickelten Kommunikationsstrukturen erkennbar wären (Fischer 1997:23). Vielmehr kann man auch in diesem Bereich zwischen den Kolonien einerseits und Europa und den USA andererseits deutliche Unterschiede erkennen. Die angeführten Beispiele repräsentieren Teilaspekte eines Globalisierungsprozesses, der die kolonialen Gebiete nur begrenzt erfaßte. Rekonstruiert man die wirtschaftlichen Aktivitäten der europäischen Nationalstaaten und der USA in der Zeit des Hochimperialismus am Beispiel des Handels und der Auslandsinvestitionen, so zeigt sich die mangelnde Integration der Kolonialländer in die europäisch-US-amerikanisch dominierte Weltwirtschaft noch deutlicher. Schätzungen haben ergeben, daß sich der Welthandel zwischen 1800 und 1913 um das 25-fache vergrößert hat. Dabei wurde der Hauptanteil des Welt-Außenhandels vom europäischen beziehungsweise USamerikanischen Handel getragen. Insgesamt war der Anteil Europas am Welt-Außenhandel größer als derjenige der USA: Europas Beitrag sank zwar zwischen 1875/79 und 1913 von 67 Prozent auf 62 Prozent, lag jedoch noch deutlich über dem US-amerikanischen Anteil, der in diesem Zeitabschnitt von 9,5 Prozent auf 13,2 Prozent anstieg. Die Summe des europäischen und US-amerikanischen Außenhandels zeigt, daß im angegebenen Zeitraum durchschnittlich 75 Prozent der Welthandelskapazität auf den europäisch-atlantischen Wirtschaftsraum entfielen. Für denselben Zeitraum entwickelten sich die Außenhandelsanteile der anderen Weltregionen wie folgt:
Nikolaus
214
Reisinger
Asien von 13% auf 11% Lateinamerika von 5,4% auf 7,6% Afrika von 1,9% auf 3,7% sowie Ozeanien von 3,4% auf 2,4% (Kenwood/Lougheed 1992:79ff).
Diese Situation bestätigen auch die Export- und Importbewegungen des europäischen Handels, der sich trotz imperialer Expansion und globaler Miteinbeziehung aller Welt-Wirtschaftsräume eindeutig in Europa zentrierte. Die Herkunft der europäischen Exporte und Importe zwischen 1880 und 1910 ergibt dabei folgende Durchschnittswerte: Herkunft
der Importe Exporte
Europas - Geographische
1880-1910
Herkunft der Importe
Europa Nordamerika Südamerika Asien Afrika Ozeanien
1880 64,7 16,2 6,1 8,1 2,7 2,2
1890 64,7 14,5 6,1 9,1 3,0 2,5
Verteilung der
(Dreijahresdurchschnitte
1900 60,7 18,4 6,5 8,6 3,1 2,7
in
europäischen
Prozent)
Geographische Verteilung der Exporte 1910 60,0 14,0 8,2 10,0 4,5 3,4
1880 72,2 8,4 6,0 8,6 2,5 2,3
1890 69,5 8,5 7,2 9,1 3,0 2,8
1900 71,1 6,7 5,3 9,8 4,4 2,7
1910 67,8 7,6 7,5 9,8 4,8 2,4
Quelle: Fischer 1985:170
Obwohl im Handelsaustausch mit den Kolonien sämtliche Ein- und Ausfuhren über die jeweiligen europäischen Mutterländer erfolgten, blieb für diese der Handel mit Asien, Afrika und Ozeanien verhältnismäßig bedeutungslos. Eine Ausnahme bildete England, das zwischen 1860 und 1910 jährlich durchschnittlich 14 Prozent seiner Exporte allein nach Indien transferierte. Vergleichsweise gering war das Interesse bei den anderen europäischen Kolonialstaaten. Das zeigt sich besonders eindringlich am Exportverhalten der europäischen Mächte gegenüber ihren afrikanischen Kolonien: Exportierte Frankreich im Zeitraum zwischen 1880 und 1910 jährlich durchschnittlich 9,7 Prozent seiner Waren nach Afrika, so waren das bei England 6,4 Prozent, bei Italien 3,1 Prozent und bei Deutschland lediglich 1,4 Prozent. Vergleicht man die Zahlen derselben Staaten mit ihren Exporten in europäische Länder, so liegen völlig andere Werte vor, das Schwergewicht der Exporte lag eindeutig in Europa. So transferierte Deutschland im Zeitraum zwischen 1880 und 1910 jährlich durchschnittlich 79 Prozent, Italien 77,2 Prozent und Frankreich 71 Prozent seiner Exporte in andere europäische Staaten. Lediglich England exportierte
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des Hochimperialismus
- Europas
Aufbruch
zur Weltwirtschaft
215
nur 36,7 Prozent ins kontinentale Europa, der größte Teil seiner Ausfuhren war hingegen für Übersee bestimmt (Fischer 1985:172). Ähnlich verhält es sich im Bereich der Auslandsinvestitionen, bildete doch gerade dieser Sektor die wesentliche Voraussetzung für wirtschaftliche Einflußnahme in den Kolonialgebieten. Betrachtet man das Investitionsverhalten der jeweiligen Kolonialstaaten im Detail, so ist auch hier eine eindeutige Schwerpunktsetzung der Investitionstätigkeit im europäisch-nordatlantischen Wirtschaftsraum erkennbar. Demnach investierte England 1914 26,5 Prozent seiner gesamten Auslandsinvestitionen in Europa und Nordamerika, während Frankreich 72 Prozent und das Deutsche Reich 69,7 Prozent ihrer Investitionen in diesen Regionen tätigten. - Die USA investierten damals deutlich weniger in die europäischen Märkte, nämlich lediglich 20 Prozent (Fischer 1985:106). Das Investitionsverhalten in den Kolonien stellte sich wie folgt dar: England hatte 37,6 Prozent seiner Investitionen im Britischen Empire veranlagt. Frankreich investierte vergleichsweise wenig, nämlich 9 Prozent, in seine außereuropäischen Besitzungen. Schließlich läßt das Deutsche Reich diesbezüglich das geringste Engagement erkennen: es investierte lediglich 2,1 Prozent seines Gesamt-Investitions-Volumens in seine Kolonien (Fischer 1997:25f; Mommsen 1977:35f). Somit floß der größte Teil der Auslandsinvestitionen - zumeist in Form direkter Industriefinanzierungen - in die gewinnträchtigen europäischen Märkte und nicht in die Kolonien, Protektorate oder okkupierten Gebiete. Auch England tätigte einen Großteil seiner Auslandsinvestitionen in den sich wirtschaftlich schnell entwickelnden weißen Siedlerkolonien, wie Kanada, Australien, Neuseeland und Südafrika, die bald als selbständige Dominions emanzipierte Mitglieder des Empire sein sollten. Allerdings flössen 1914 auch 18 Prozent der englischen Investitionen nach Lateinamerika (Fischer 1997:26), wodurch die dortige informelle Einflußnahme Englands wesentlich gestützt wurde. Unter Berücksichtigung unterschiedlicher nationaler Ausgangsbedingungen und Entwicklungstendenzen kann somit generell festgehalten werden, daß die wirtschaftliche Bedeutung der Kolonien - ausgenommen für England - im Zeitraum des Hochimperialismus aus der Sicht der europäischen Mutterländer insgesamt gering war. Dieser Sachverhalt hat die Forschung zu der Schlußfolgerung veranlaßt, daß für die imperialistische Expansion des ausgehenden 19. Jahrhunderts ökonomische Zukunftserwartungen zweifellos bedeutsamer waren als die Verfolgung konkreter ökonomischer Interessen (Mommsen 1979:239, 1987:83; Fröhlich 1994:191; Schöllgen 1994:138,148; Hobsbawm 1999:99; O'Brien/Prados de la Escosura 1998:59ff).
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ERGEBNISSE
Am Beispiel der Industriellen Revolution wird zunächst erkennbar, wie sehr technologische Innovationen mittel- und langfristig in der Lage sind, bestehende Strukturen maßgeblich zu verändern. Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts verdichteten sich in Europa mehrere Entwicklungen: Vor dem Hintergrund technischen Fortschritts schuf die Industrialisierung die Voraussetzungen zu einer bis dahin noch nie erfolgten Dynamisierung der europäisch-nordatlantischen Weltwirtschaft. Neue Produktionstechniken, Rationalisierung der Produktion, Produktionssteigerungen bis hin zur Überproduktion, stets steigender Rohstoffbedarf und der systemimmanente Trend zur permanenten Markterweiterung sind die charakteristischen Merkmale der europäischen Wirtschaft am Ende des 19. Jahrhunderts. Parallel zu dieser Entwicklung rückten ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts überseeische Gebiete verstärkt in den Mittelpunkt europäischer Interessen. Als Rohstofflieferanten, hoffnungsvolle Absatzoder gewinnverheißende Investitionsmärkte sollten sie ein Bestandteil der europäisch-nordatlantischen Weltwirtschaft werden. Dazu entwickelten die Kolonialmächte ein subtiles System formeller und informeller Methoden, die es ermöglichten, fremde Territorien auf verschiedene Arten zu vereinnahmen. Durch die Vernetzung der Kolonien mit den nationalen Wirtschaften ihrer jeweiligen Mutterländer erfuhr das weltwirtschaftliche Gefüge - insbesondere die europäische Wirtschaft - eine zusätzliche Verdichtung. Da die kolonisierten Wirtschaftsräume als „Peripherie" ökonomisch zunehmend an ihre Mutterländer gebunden waren, zentrierte sich die Weltwirtschaft in der Phase des Hochimperialismus fast ausschließlich in Europa. Dies zeigt sich besonders eindringlich an den Ex- und Importdaten sowie am Beispiel der Auslandsinvestitionen der europäischen Kolonialmächte. Zu sehr war man an der Forcierung der jeweils eigenen Wirtschaftsentwicklung interessiert; als zu wenig profitabel erwiesen sich die Märkte der Kolonien. Daß sich der Wettlauf zur Erringung außereuropäischer Einflußsphären in der Zeit vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges trotzdem dramatisch steigerte, ist ein Indiz dafür, daß imperialistische Expansion letztlich nur bedingt als ökonomisch motiviertes Phänomen erklärt werden kann. Am Beginn des 20. Jahrhunderts hatten sich innerhalb der europäischen Kolonialmächte - im Kontext (welt-)wirtschaftlicher Prosperität - aus national-ökonomischen „Antagonismen" national-politische Divergenzen entwickelt, die schließlich in den Ersten Weltkrieg führten.
Das Zeitalter des Hochimperialismus
- Europas Aufbruch zur Weltwirtschaft
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POLITISCHE,
KULTURELLE
ÖKONOMISCHE INTERNATIONALEN ERSTEN
ASPEKTE
DER
BEZIEHUNGEN
HÄLFTE DES 20.
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UND IN
DER
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POLITISCHE INTERNATIONALEN
ASPEKTE SYSTEMS
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Am Beginn des 20. Jahrhunderts konnte die internationale Ordnung im wesentlichen als ein Resultat des Zusammenspiels oder der Konkurrenz von europäischen Staaten gesehen werden. Sie bestimmten diese Ordnung nicht nur durch ihre politisch-militärische Macht, sondern auch durch ihre ökonomische Stärke und durch ihre kulturellen Standards. Gemeinsam erzeugten die europäischen Mächte rund zwei Drittel der industriellen Weltproduktion, bestritten nahezu drei Viertel des Welthandels und fast den gesamten Kapitalexport. Unter ihnen war zudem ein Großteil der Kolonien der Welt aufgeteilt, die politisch und ökonomisch damit an Europa gebunden waren. Wissenschaftliche Erfindungen und technologische Innovationen verbreiteten sich von Europa aus weltweit. Im Frieden wie im Krieg lieferten die Mächte Europas die Verhaltensmaßregeln, die die zwischenstaatlichen Beziehungen prägten. Internationales Recht, Vertragssysteme, diplomatische Usancen, Schiedsgerichte oder militärische Strategien waren in erster Linie an europäischen Maßstäben und Werten orientiert. In einer kulturgeschichtlichen Betrachtungsweise werden solche Prozesse fortschreitender Nivellierung von Differenzen allerdings hinterfragt. Sie betont, daß eine Internationalisierung von bestimmten Standards keineswegs ein einheitliches, kohärentes „Weltsystem" mit sich bringen muß. Vielmehr wird eine solche Internationalisierung nur in jenen spezifischen Milieus bedeutsam, in denen ihre Auswirkungen konkret
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erlebt werden. Darüber hinaus wird aber auch festgestellt, daß das „Lokale" nicht Ausdruck reiner Differenz ist, sondern sich im Dialog mit dem „Globalen" formieren kann. Der indische Historiker Arjun Appadurai zum Beispiel zeigt, wie in Indien das Kricket als imperialer Sport der Kolonialherren nach und nach in eine einheimische Form der Unterhaltung umfunktioniert wurde (Feiski 2000:5lf). Diese Ära der europäischen Dominanz endete mit dem Ersten Weltkrieg, der die USA und Japan auf die internationale Bühne brachte und auch die Position der „Länder an der Peripherie" veränderte, wenngleich die Jahre 1914 und 1917/18 für Asien, Afrika und Lateinamerika sicherlich nicht jene Zäsuren bedeuteten wie für Europa, den Nahen Osten und die USA. Hier kam der Weltwirtschaftskrise ab 1929 eine weit größere Rolle zu. Der Preisverfall, die Desintegration des Weltmarktes und die Entstehung autarker Handelsblöcke verursachten zum Beispiel in Lateinamerika schwere ökonomische und soziale Krisen, die auch die politischen Systeme der einzelnen Staaten erfaßten. Die USA waren immer Teil des von europäischen Werten geprägten Systems gewesen, und sie hatten schon vor 1914 im ökonomischen und technologischen Bereich ihre Position im internationalen System gestärkt, doch politisch-militärisch waren sie mit Ausnahme von Zentral- und Südamerika, wo Theodore Roosevelt durch die Bekräftigung der Monroe-Doktrin von 1823 den hegemonialen Anspruch der USA unterstrich, und dem pazifischen Raum global gesehen erst in Ansätzen präsent. Der Erste Weltkrieg veränderte diese Situation, indem die USA nicht nur entscheidend zu seinem Ausgang in Europa beitrugen und die Initiative für die Pariser Friedenskonferenz ergriffen, sondern sich auch als führende Handelsmacht und Gläubigernation etablierten. Europa verfügte aber weiterhin über eine starke Position. Die alliierten Siegermächte behielten nach 1918 nicht nur ihre Kolonialimperien, sondern bauten sie auf Kosten Deutschlands und des zerschlagenen Osmanischen Reiches noch aus. Auf kulturellem Gebiet blieb der Einfluß der „Alten Welt" groß, wenngleich im Bereich der „populär culture" Musik, Filme, Tänze, Revuen, Automobile usw. aus den USA die Märkte zu beherrschen begannen (Costigliola 1984). In Ostasien bestätigte und verstärkte der Erste Weltkrieg die Rolle Japans als einer regionalen Großmacht. Der Verlauf und Ausgang des Krieges versetzte das Kaiserreich in die Lage, seinen Einfluß in Asien und im Pazifik gegen die europäischen Kolonialmächte und die USA zu vergrößern. Japans Verhalten war dabei aber sehr ambivalent. Zum einen betrieb der Inselstaat am asiatischen Festland selbst hegemoniale
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Politik und trat dort als imperialistische Macht auf. Zum anderen aber versuchte Japan, das gesunkene Prestige der europäischen Kolonialmächte auszunützen und den durch den Ersten Weltkrieg bedeutend verstärkten Antikolonialismus im Sinne eines gemeinsamen „asiatischen Bewußtseins" noch weiter zu intensivieren. Dieser Antikolonialismus bezog seine Impulse aber nicht nur aus dem Kriegsverlauf selbst und aus dem Beitrag, den die Bevölkerungen der Kolonien für die Kriegsanstregungen ihrer Herren in Europa zu leisten hatten, sondern auch aus der bolschewistischen Revolution vom Oktober 1917 in Rußland, wo Lenin gleich nach der Revolution in seinem „Dekret über den Frieden" unter anderem das Selbstbestimmungsrecht auch für die Kolonien verlangte (Niedhart 1989:20). Wenn nun in einer Reihe von Kolonien und Halbkolonien, wie zum Beispiel in Vietnam, Indonesien, Indien, Ägypten, China oder Korea, antikoloniale Bewegungen und Aktivitäten auf unterschiedliche Weise und mit verschiedenen Strategien verstärkt zutage traten, so richteten sich diese in China und Korea auch gegen Japan und nicht ausschließlich gegen die imperialistischen Mächte des „Westens". Die beiden Jahrzehnte zwischen 1918 und 1938 werden aus der Sicht der internationalen Systemtheorie häufig als eine Phase interpretiert, in der die USA trotz ihrer neu gewonnenen Macht nicht jene hegemoniale Rolle übernehmen konnten oder wollten, wie sie Großbritannien im 19. Jahrhundert innegehabt hatte. Darüber hinaus gelten sie als eine Ära, die zunächst durch Völkerbund, Washingtoner Konferenz (1921/22), Dawes-Plan (1924), Vertragswerk von Locarno (1925) und eine Intensivierung des internationalen Handels und Kreditwesens, trotz aller Konflikte und Elemente der Spannung, eine fortschreitende Internationalisierung aufwies. Schon in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre zeigten sich jedoch Bruchstellen in dieser internationalen Ordnung, die durch die Weltwirtschaftskrise, die japanische Annexion der Mandschurei (1931), die Forcierung der deutschen Revisionspolitik nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten (1933) und den Krieg Italiens gegen Abessinien (1935/36) zerbrach und durch „regionale Ordnungen" mit jeweiligen politischen, militärischen und ökonomischen Hegemonialmächten, die auch die Ideologien vorgaben, abgelöst wurde: die kolonialen Imperien der Staaten Westeuropas, Italien im Mittelmeerraum und im nördlichen Afrika, Deutschland in Zentral-, Ostmittel- und Südosteuropa, Japan in Ost- und Südostasien, die USA mit ihrer „Good Neighbor Policy" in Lateinamerika und die Sowjetunion. In der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre zeichnete sich eine Konstellation ab, wonach die
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demokratischen Mächte als Bewahrer des Status quo einerseits und die diktatorischen Regime als Revisionisten andererseits sich zunehmend antagonistisch gegenüberstanden. Die britische Politik des Appeasement in bezug auf Deutschland und Italien stellte hierbei einen temporären Versuch dar, die Gegensätze durch Zugeständnisse zu entschärfen, die eigenen Interessen hinsichtlich des Empires zu wahren und Zeit zu gewinnen, um für den möglichen Kriegsfall besser gerüstet zu sein. Im Oktober 1936 legte ein deutsch-italienischer Vertrag den Grundstein für die „Achse Berlin-Rom"; im November 1936 schlössen Deutschland und Japan den Antikominternpakt, dem Italien ein Jahr später beitrat. Ihren Abschluß erlebte diese Entwicklung mit dem Dreimächtepakt vom September 1940. Die USA und die Sowjetunion nahmen in dieser Entwicklung zunächst Sonderstellungen ein. In den Vereinigten Staaten verfolgte die Administration Franklin D. Roosevelts (1933-1945) eine im Prinzip international ausgerichtete Politik, während der Kongreß stärker isolationistisch agierte. Durch drei zwischen 1935 und 1937 beschlossene Neutralitätsgesetze verlieh der Kongreß auch seiner Entschlossenheit Ausdruck, die USA aus internationalen Konflikten heraushalten zu wollen. Auf den interamerikanischen Konferenzen, insbesondere auf jener im Dezember 1936 in Buenos Aires, zeigte sich aber neuerlich das zentrale Interesse der Vereinigten Staaten an ihrer dominierenden Rolle in der westlichen Hemisphäre. Ein Flottenabkommen mit Großbritannien und Frankreich vom März 1936, vor allem jedoch der Handelsvertrag mit Großbritannien vom November 1938, der Deutschland von den Vorteilen der Meistbegünstigung ausschloß, machten deutlich, wohin die USA in dieser Phase des wachsenden internationalen Antagonismus schon 1938 tendierten. In den folgenden Monaten und Jahren intensivierten die USA ihre Kooperation besonders mit Großbritannien immer mehr, auch wenn sie sich am Beginn des Zweiten Weltkrieges im September 1939 für neutral erklärten und 1940 Aufforderungen von seiten Frankreichs, in den Krieg einzutreten, zurückwiesen. Die Sowjetunion wiederum trat 1934 zunächst dem Völkerbund bei und beteiligte sich damit im Prinzip am System der kollektiven Friedenssicherung. Praktisch gleichzeitig begann Stalin im Inneren mit den rücksichtslosen „Säuberungen", die 1937 vor allem auch das Offizierskorps erfaßten. Im August 1939 hingegen stimmte Stalin zu einem Zeitpunkt, als sich auch Großbritannien um ein Bündnis mit der Sowjetunion bemühte, einem Pakt mit Hitler-Deutschland zu, dem Ende September ein deutsch-sowjetischer Grenz- und Freundschaftsvertrag folgte. Mit dem Angriff Deutschlands auf Polen am 1. Septem-
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ber 1939, der die Kriegserklärungen Großbritanniens und Frankreichs nach sich zog, begann der Zweite Weltkrieg in Europa. Die Sowjetunion besetzte am 17. September Ostpolen und begann am 30. November mit ihrem Angriff auf Finnland. Dies hatte den Ausschluß aus dem Völkerbund zur Folge und vertiefte den Gegensatz zu Großbritannien. Sogar ein bewaffneter Konflikt schien möglich. Erst der deutsche Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 reihte diese bis Kriegsende in die Anti-Hitler-Koalition ein. Kennzeichnend für die einzelnen regionalen Interessensphären der späten dreißiger Jahre war zudem, daß sie im Grunde auch Wirtschaftsund Handelsräume darstellten, in denen, bestimmt von der jeweiligen Hegemonialmacht, unterschiedliche wirtschafts-, handels- und finanzpolitische Prinzipien in Geltung stehen konnten. So ging zum Beispiel Deutschland ab 1933 daran, sich in Ostmittel- und Südosteuropa ein „informelles Imperium" aufzubauen. Die deutsche Politik verfolgte damit wirtschaftliche Ziele, sah darüber hinaus in der ökonomischen Durchdringung des Donauraumes aber auch ein Instrument der Außenpolitik insgesamt. Sie drang in Ostmittel- und Südosteuropa in den Kernraum der an Frankreich gebundenen Kleinen Entente vor. Überdies überschnitten sich hier vor allem in Jugoslawien die ökonomischen Interessen mit jenen Italiens, Frankreichs, aber auch Großbritanniens und der USA. In dem Maße, wie der Einfluß dieser Konkurrenten zurückgedrängt wurde, war die von der nationalsozialistischen Führung anvisierte Großraumwirtschaft erfolgreich (Schröder 1975:70f; Grenzebach 1988). Die Belebung der Binnenkonjunktur, die in Deutschland ab 1933 durch zahlreiche staatliche und staatlich geförderte Maßnahmen, durch die Senkung von Steuern zur Steigerung der Investitionsfähigkeit und durch eine intensivierte Aufrüstung eintrat, führte unter anderem dazu, daß der Bedarf an Importen von Rohstoffen und Nahrungsmitteln stieg. Die Handelsbilanz, die bis dahin positiv war, verschlechterte sich und schloß 1934 mit einem Minus ab. Diese Entwicklung von einer aktiven zu einer passiven Handelsbilanz brachte einen Rückgang der Devisenreserven mit sich, dem die deutsche Reichsbank mit einer zunehmenden Verschärfung der Devisenbewirtschaftung entgegentrat. Sie teilte ab Sommer 1934 nur noch so viele Devisen an Importeure zu, wie tatsächlich bei ihr eingegangen waren. Damit blieb aber angesichts der deutschen Überschüsse bei Importen immer ein Teil der Forderungen aus ausländischen Warenlieferungen nach Deutschland unbeglichen. In dieser Situation schlug die deutsche Politik mit dem sogenannte „Neuen Plan" vom Herbst 1934 den Weg ein, die Import-
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länder, die im wesentlichen Rohstoffe und Nahrungsmittel lieferten, zur Abnahme deutscher Industrieprodukte zu drängen. Die im Rahmen des „Neuen Plans" betriebene Außenwirtschaftspolitik war dabei vor allem durch drei Schwerpunkte gekennzeichnet: Bilateralisierung des Außenhandels und des auswärtigen Zahlungsverkehrs durch Verrechnungsabkommen mit einer wachsenden Zahl von Handelspartnern; quantitative Importbeschränkung nach den eigenen wirtschaftlichen Prioritäten und politischen Erwägungen; Ausfuhrförderung durch Kompensationsabkommen, Exportsubventionen, partielle Abwertung der Reichsmark und bevorzugte Zuteilung von Rohstoffen bei Exportaufträgen (Schröder 1975:74). Dieses sich hier manifestierende bilaterale Außenhandelssystem mit eigenen Zahlungsmodalitäten und Zollpräferenzen stellte ein wesentliches Element der Strategie dar, die Staaten Südosteuropas wirtschaftlich und politisch an Deutschland zu binden. Für die Gesellschaften Südosteuropas und ihre Interessengruppen in Politik und Wirtschaft erhob sich die Frage, ob es für sie Alternativen in der ökonomischen Orientierung gab. Deutschland bildete einen aufnahmefähigen Markt für landwirtschaftliche Produkte, den auch Großbritannien, Frankreich und besonders die USA für ihre eigenen Agrarerzeugnisse offen halten wollten. Darüber hinaus räumten sie aus politischen und außenwirtschaftlichen Gründen dem Warenaustausch mit anderen Ländern als jenen Südosteuropas Priorität ein. So war zum Beispiel das Britische Empire unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise im August 1932 durch einen Beschluß der Konferenz von Ottawa von den Prinzipien des Freihandels abgerückt. Selbst von einer kurzfristigen Steigerung der Nachfrage nach Agrarprodukten auf dem Weltmarkt im Jahr 1936 vermochten die Produzenten Südosteuropas nicht dahingehend zu profitieren, daß sie ihre Exporte verstärkt auch auf andere Märkte als den deutschen hätten bringen können. Hier wirkte sich insbesondere das Programm der deutschen Außenhandelspolitik mit seinen Zahlungsmodalitäten aus, das die südosteuropäischen Exporteure praktisch zwang, viel in Deutschland einzukaufen. Die hier am Beispiel Deutschlands gezeigte Tendenz, die jeweiligen Wirtschafts- und Handelsräume gegenüber der Konkurrenz abzuschotten bzw. diese zu verdrängen, nahm auch in anderen Regionen zu und führte insbesondere dort, wo sich die einzelnen Einflußsphären und Interessenszonen überschnitten, zu verschärften Wirtschafts- und Handelsrivalitäten. Sie verwuchsen mit den macht- und sicherheitspolitischen und ideologischen Gegensätzen zu einem gefährlichen Konfliktpotential.
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Eine an der „nordatlantischen Welt" der Demokratien mit den USA als Führungsmacht und der Sowjetunion orientierte Interpretation signalisiert mehrere grundlegende Verschiebungen im internationalen System. Zum einen kam der Sowjetunion neues Gewicht zu, zum anderen veränderte sich die Machtverteilung innerhalb der „nordatlantischen Allianz" zugunsten der USA. Großbritannien und Frankreich hatten im Laufe des 20. Jahrhunderts zweimal die massive Unterstützung durch die USA benötigt, um gegen die deutsche Militärmacht bestehen zu können. Die damit verbundene neue hegemoniale Rolle der USA reichte mit ihren Wurzeln aber in das 19. Jahrhundert zurück, als die wachsende ökonomische, finanzielle und militärische Stärke der Vereinigten Staaten vor allem auch Großbritannien in zunehmendem Maße zu Kompromissen und Vereinbarungen in der westlichen Hemisphäre zwang: 1895 beim Grenzstreit in Venezuela, beim Bau des Panama-Kanals oder in Kanada. Grundsätzlich lassen sich drei Regionen nennen, in denen sich die Verschiebung von Einfluß und Macht innerhalb der „nordatlantischen Allianz" besonders deutlich zeigte: Der Nahe Osten, der Ferne Osten und der Mittelmeerraum. Im Nahen Osten entzündete sich der transatlantische Interessenkonflikt in den zwanziger Jahren am Erdöl. Mit dem Vertrag von San Remo im Jahr 1920 sicherten sich Frankreich und Großbritannien auf dem Territorium des ehemaligen Osmanischen Reiches zunächst das Monopol bei den Konzessionen für Erdöl. Diese Vormachtstellung konnte aber nach der Entdeckung der riesigen Erdölvorkommen im Irak und aufgrund der Entschlossenheit der großen Ölkonzerne der USA, sich einen Anteil sichern zu wollen, nicht beibehalten werden; unter anderem drohte Exxon, die Versorgung des britischen Marktes einzustellen. Ein Abkommen vom Jahr 1928 schränkte die hegemoniale Position Großbritanniens zum Vorteil niederländischer und amerikanischer Gesellschaften ein. In den dreißiger Jahren verloren schließlich die Briten viel von ihrem Einfluß in Saudiarabien an die „Arabian American Oil Company" (Aramco), die hier die Ölkonzessionen erwerben konnte (Mejcher 1980). Der Ferne Osten stellte seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach Lateinamerika jene Region der Welt dar, auf die sich die USA besonders konzentrierten. Während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und vor allem im Verlauf des Zweiten Weltkrieges traten grundlegende Auffassungsunterschiede zwischen den USA und den europäischen Kolonialmächten hinsichtlich der Zukunft dieser Region zutage. Franklin D. Roosevelt machte Vorschläge über den konstitutionellen Status von Indien, sinnierte über eine mögliche Rückgabe Hongkongs
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an China nach dem Krieg und stellte die französische Kolonialherrschaft in Indochina in Frage. Der Krieg im pazifischen Raum gegen Japan wurde von alliierter Seite vorwiegend als Domäne der USA betrachtet. Dies kam auch in der Okkupation Japans 1945 zum Ausdruck, die nominell zwar eine alliierte, de facto aber eine amerikanische Angelegenheit war. Im Mittelmeerraum schließlich, wo sich in den dreißiger Jahren vor allem die britischen, französischen und italienischen Interessen überschnitten, hatte es vor dem Zweiten Weltkrieg kaum eine Präsenz der USA gegeben. Doch der Kriegsverlauf änderte auch hier die Situation. Nach Kriegsende, als Großbritannien nicht mehr in der Lage war, seine historischen Interessen in Griechenland und in der Türkei aufrecht zu halten, übernahmen die USA diese Funktion. Die Stationierung der 6. US-Flotte im Mittelmeer war sichtbares Zeichen der neuen Präsenz der Vereinigten Staaten in diesem Raum (Ponting 1999:262f). Es ist allerdings von Bedeutung, auch Trends außerhalb des beginnenden Ost-West-Gegensatzes festzuhalten, wenngleich sie sich im internationalen System vielfach mit diesem verbanden. Das - von punktuellen Ausnahmen abgesehen - Ende der europäischen und amerikanischen Kolonialherrschaft in Asien bedeutete eine Neuverteilung der Gewichte zwischen der „atlantischen" und der „pazifischen" Welt. Am Beginn des 20. Jahrhunderts hatte die lange Expansion des „westlichen Einflusses" ihren Höhepunkt erreicht. Praktisch keine Region der Welt konnte sich der globalen, von den Kernstaaten Europas und den USA dominierten, politischen wie ökonomischen Beherrschung entziehen. Dennoch war bereits die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts in Ansätzen von einem Aufstieg Asiens und einem Hegemonieverlust des „westlichen Einflusses" gekennzeichnet. Erste Signale waren der „Boxer-Aufstand" in China (1900), der Sieg Japans über Rußland (1904/ 1905) und das Auftauchen nationaler Bewegungen. In den Jahren 1940 bis 1942 zerschlug die japanische Militärmacht die europäischen Imperien im Fernen Osten. 1940 übernahm sie das nördliche Indochina von der französischen Vichy-Regierung, zwischen Dezember 1941 und Mitte 1942 wurden die von den USA beherrschten Philippinen, Niederländisch Ostindien, Hongkong, Malaysia, Singapur und Burma erobert. Japanische Truppen standen an der Grenze zu Indien und deren Flugzeuge griffen den Norden Australiens an. Im Gegensatz zu diesen raschen militärischen Erfolgen blieb die japanische Besatzungspolitik in den eroberten Gebieten improvisiert und wenig effizient. Sie orientierte sich vielfach an den Erfahrungen, die man in den 30er Jahren in der Mandschurei gemacht hatte, oder an dem Herrschaftsmodell, das in Japan selbst in Verwendung stand.
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Diese Vorgangsweise, die sich zudem häufig auf die reine militärische Gewaltausübung stützte, trug der kulturellen Pluralität Südostasiens kaum Rechnung und zerstörte rasch den verbreiteten Nimbus Japans, die Region von der Kolonialherrschaft des „Westens" befreit zu haben. In der Phase des japanischen Rückzugs bis zur Kapitulation des Kaiserreiches am 2. September 1945 etablierten sich vielfach nationale Bewegungen, die Anteil an der Befreiung ihrer Länder hatten und letztlich auch eine Restaurierung bzw. Aufrechterhaltung der Kolonialherrschaft nicht mehr akzeptieren wollten. Bis 1950 wurden die Philippinen, Indonesien, Burma, Indien, das neugeschaffene Pakistan und Ceylon politisch unabhängig. In Malaysia fanden Revolten gegen die britische Herrschaft statt, und in Indochina führte Frankreich einen letztlich erfolglosen Krieg um die Restaurierung seiner Kolonialherrschaft. Das zweite säkulare Schlüsselereignis in Asien während der vierziger Jahre war die Errichtung einer neuen zentralen Regierung in China unter Mao Tse-tung. Man kann dieses Ereignis unter der Perspektive des „Kalten Krieges" interpretieren, wie es vor allem die Errichtung einer eigenen Republik China auf der Insel Taiwan nahelegt. Ebenso ist aber auch seine Einbettung in den Kontext einer längerfristigen historischen Entwicklung möglich. Nach rund einem Jahrhundert der von außen aufgezwungenen politischen und ökonomischen Unfreiheiten, aber auch der inneren Zerrissenheit und Bürgerkriege stellte China jetzt wieder eine Großmacht im internationalen System dar. KULTURELLE ASPEKTE DES INTERNATIONALEN SYSTEMS BIS 1945 Internationalismus als ideeller Wert von wachsender Bedeutung stellt ein bemerkenswertes Element in den internationalen Beziehungen während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dar. Dies mag auf den ersten Blick befremdend erscheinen, zieht man den Holocaust, die Massenmorde, die beiden verheerenden Weltkriege, die Massenvertreibungen und Flüchtlingsströme in Betracht. Aber wahrscheinlich gerade deshalb wurden umgekehrt Anstrengungen unternommen, den Internationalismus als bessere Alternative zu Krieg, Zerstörung und Chaos zu stärken. Per definitionem zielt Internationalismus darauf ab, nationale Interessen als den Bezugsrahmen für die Gestaltung der internationalen Beziehungen zu überwinden, um der friedlichen Entwicklung der Welt in ihrer Gesamtheit oder zumindest größeren Teilen von ihr förderlich zu sein. Aus diesem Grund sind Übereinkom-
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men zwischen Nationen, gemeinsame Ziele zu verfolgen, ebenso wie internationale Organisationen und Agenturen, deren Mitgliedsstaaten dieselben Interessen haben, ein wesentliches Merkmal von Internationalismus. In beiderlei Hinsicht weist schon die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts eine beachtenswerte, wenn auch von der konkreten politischen Entwicklung überdeckte Geschichte auf. Ohne Zweifel stellen internationale Übereinkommen und Organisationen kein Spezifikum des 20. Jahrhunderts dar. Dies belegen zahlreiche Beispiele des 19. und auch früherer Jahrhunderte. Sie lassen sich im Prinzip in vier Kategorien zusammenfassen. Zum ersten gab es den legistischen Internationalismus mit seiner Betonung internationaler Übereinkommen und Verträge, die eine stabilere Ordnung der Welt oder eines Teiles von ihr garantieren sollten. Zum zweiten existierte ein zumeist religiös fundierter Pazifismus, der die Idee von der Einheit der Menschheit förderte und engstirnige, nach unterschiedlichen Kriterien vorgenommene Aufspaltungen des Menschenbildes überwinden wollte. Zum dritten ist ein ökonomischer Internationalismus zu nennen, der gemeinsame Klasseninteressen, ob kapitalistisch oder sozialistisch, über nationale Grenzen hinweg betonte. Zum vierten schließlich kann ein „kultureller Internationalismus" hervorgehoben werden, dessen Akteure in kulturellen Austauschbeziehungen oder in internationaler Kommunikation auf wissenschaftlichen und anderen Gebieten eine Möglichkeit des wechselseitigen Lernens und damit der Verbesserung der Chancen für eine friedlichere Welt sahen. Im 20. Jahrhundert wurde dieses Erbe aufgegriffen und ausgebaut. Vor dem Ersten Weltkrieg war dieser „kulturelle Internationalismus" noch vorwiegend ein europäisches Phänomen. Die meisten der internationalen Übereinkommen, Organisationen und Aktivitäten wurden von europäischen Regierungen oder Persönlichkeiten initiiert, Nichteuropäer waren dabei kaum mehr als eingeladene Gäste oder Zuschauer. Auch die internationalen Kooperationen konzentrierten sich hauptsächlich auf Europa. Die USA gehörten zwar in gewisser Weise zu dieser Entwicklung dazu, doch die Internationalisten der Vereinigten Staaten strebten in erster Linie die Gründung nationaler Organisationen an, die sich der Förderung einer weltweiten Ordnung verschrieben, wie zum Beispiel die 1905 gegründete „American Society of International Law" oder die 1910 ins Leben gerufene „Carnegie Endowment for International Peace". Hingegen hatten nur sehr wenige internationale Assoziationen ihren Hauptsitz in den USA. Teilnehmer aus Asien, dem Nahen Osten, Afrika oder Lateinamerika wurden in dieser Phase kaum zu internationalen Veranstaltungen eingeladen.
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Wohl nahmen Länder aus diesen Regionen an den Weltausstellungen teil, wie zum Beispiel 1904 in St. Louis, doch waren diese Großereignisse insgesamt primär eine europäisch-nordamerikanische Angelegenheit. Ein ebenfalls in St. Louis 1904 abgehaltener Kongreß von Künstlern, Schriftstellern und Gelehrten wies wohl hunderte Teilnehmer auf, darunter jedoch nur einen aus Japan (Iriye 1998:236). Diese Situation der europäischen Dominanz schwächte sich erst mit dem Ersten Weltkrieg ab. Ab 1919 bedeutete Internationalismus mehr als eine im wesentlichen innereuropäische Kooperation. Die USA spielten nunmehr eine zentrale Rolle, und auch andere Staaten wurden in zunehmendem Maße einbezogen. Das markanteste Beispiel dafür bildete der 1919 gegründete Völkerbund mit seinen vorerst 44 Mitgliedstaaten, unter denen sich auch solche aus Lateinamerika, Asien, dem Nahen Osten und Nordafrika befanden. Allerdings verließen gerade Staaten Zentral- und Südamerikas vorzeitig wieder diese neu gegründete internationale Organisation, wie zum Beispiel Costa Rica 1925 und Brasilien 1926. Zudem fehlten die USA, obwohl von ihrem Präsidenten Woodrow Wilson der Impuls zur Gründung ausgegangen war, und zunächst auch Deutschland und Sowjetrußland. Die USA beteiligten sich aber immerhin an beigeordneten autonomen Organisationen, wie dem Internationalen Gerichtshof und der Internationalen Arbeitsorganisation, sowie an der Organisation für geistige Zusammenarbeit, die zu den sogenannten technischen Nebenorganen des Völkerbundes gehörte. Besonders die beiden letztgenannten Organisationen spiegelten die verbreitete Überzeugung wider, daß die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit sowie die Förderung wissenschaftlicher, medizinischer oder künstlerischer Zusammenarbeit nicht auf die einzelnen Nationalstaaten eingeengt werden können, sondern einer internationalen Kooperation auf diesen Gebieten eine zentrale Rolle in der Nachkriegsordnung eingeräumt werden muß. In diesem Kontext wurde der „kulturelle Internationalismus" als unverzichtbares Element eines stabilen internationalen Systems gesehen. So forderte zum Beispiel der französische Schriftsteller Paul Valéry, daß der Völkerbund nicht nur ein Bund von Staaten, sondern auch eine „Liga des Geistes" sein müsse, in der Intellektuelle aus verschiedenen Ländern und Kulturen zusammenarbeiten und das wechselseitige Verständnis als Grundlage für eine friedliche Welt fördern sollten. Henri Bergson, Marie Curie, Albert Einstein, Fritz Haber, Ernst Troeltsch, Henri Pirenne und viele andere stimmten diesem Grundgedanken zu (Iriye 1997:57f). Unter der Schirmherrschaft der Organisation für geistige Zusammenarbeit wurde beim Völkerbund ein Komitee eingerichtet, das in Genf
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seine Jahrestagungen abhielt und die multinationalen Aktivitäten koordinierte. Zahlreiche Länder gründeten ihre eigenen nationalen Komitees, darunter neben den Staaten Westeuropas Polen, Ungarn, die Tschechoslowakei, die USA, Mexiko, Venezuela, Brasilien, Japan, China, Indien und Ägypten. Sie forcierten unter anderem auch die Einsicht in die Bedeutung einer „geistigen Abrüstung" und konnten diesen Punkt 1932 auch auf die Tagesordnung der Abrüstungskonferenz in Genf bringen. Die Idee dahinter war die Überzeugung, daß kein Rüstungskontrollabkommen auf Dauer Bestand haben kann, wenn es nicht gleichzeitig von einer psychologischen und moralischen Bereitschaft für den Frieden unterstützt und von einer „Abrüstung des Geistes und der Sprache" begleitet wird. Zu diesem Zweck wurden auch eigene Schulungsprogramme vorgeschlagen. In den dreißiger Jahren kam weder eine konkrete Rüstungsbegrenzung noch eine „geistige Abrüstung" zustande, aber die Aktivitäten der Organisation für geistige Zusammenarbeit belegen immerhin, in welchem Ausmaß bereits in der Zwischenkriegszeit die Bedeutung einer auch kulturellen Untermauerung einer friedlichen internationalen Ordnung erkannt wurde. Die internationalen Aktivitäten von Organisationen, die dem Völkerbund angehörten oder ihm nahestanden, stellten aber nur ein Beispiel für einen wachsenden „kulturellen Internationalismus" nach 1918 dar. Zu jenen internationalen Gesellschaften, die schon seit dem 19. Jahrhundert existierten, kamen Hunderte neue hinzu. Sie hielten regelmäßig ihre Weltkongresse ab. Darüber hinaus stieg die Zahl studentischer Austauschprogramme, die entweder von den Regierungen oder eigens geschaffenen Organisationen angeboten und unterstützt wurden. Selbst die USA, die in den zwanziger Jahren eine sehr restriktive Einwanderungspolitik betrieben, nahmen mehr ausländische Studierende, vor allem auch aus Ostasien und Lateinamerika, als jemals zuvor auf. Umgekehrt gingen auch amerikanische Studierende in wachsender Zahl an ausländische Universitäten (Iriye 1998:238f). Der Besuch von Universitäten durch Studierende aus „Ländern der Peripherie" trug zur Bildung einer Elite bei, die nach 1945 wesentlich an der Befreiung ihrer Länder von der Kolonialherrschaft beteiligt war. Die hier nur kursorisch genannten Organisationen und Aktivitäten zeugen davon, daß nach 1918 kulturell ausgerichtete internationale Netzwerke an Dichte gewannen und ihre Konzentration vor allem auf Europa sich abschwächte. In diesem Zusammenhang ist aber auch die Sowjetunion zu nennen, die über die von 1919 bis 1943 bestehende Komintern und ihre politisch-revolutionären Zielsetzungen im Ausland auch ein eigenes Netzwerk an kulturellen und wissenschaftlichen
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Bünden und Organisationen aufbaute. Sie erwarb sich international eine große Zahl an Sympathisanten, denn vielen Intellektuellen und Künstlern schien der Sowjetstaat eine attraktive Alternative zur liberalkapitalistischen Gesellschaft und zum Imperialismus der westlichen Industriestaaten darzustellen. Der Sowjetstaat warb in den Industrieländern um Techniker und Facharbeiter für den Aufbau der Infrastruktur des Landes. Zahlreiche Marxisten gingen nach Moskau oder Leningrad, um dort an wissenschaftlichen Projekten mitzuarbeiten. Sie wurden in den dreißiger Jahren dann Zeugen und oft auch Opfer der „Säuberungen" Stalins (Müller 2000:28ff). Die Sowjetunion fand aber durchaus auch Anerkennung und positive Beurteilung bei nichtmarxistischen Wissenschaftlern, wie zum Beispiel beim britischen Historiker Edward H. Carr. Für diese Haltung Carrs waren im wesentlichen zwei Gründe ausschlaggebend: Zum einen seine kritische Einstellung gegenüber der Herrschaftspraxis und der zivilisatorischen Arroganz des britischen Imperialismus, und zum anderen sah Carr im Sowjetstaat mit seinen autokratischen Strukturen das geeignete Modell für eine Modernisierung der russischen Agrargesellschaft (Haslam 1999). Die Schwäche und dann Agonie des Völkerbundes während der Desintegration des internationalen Systems in den dreißiger Jahren wurde nicht durch die Sowjetunion, sondern primär zunächst 1931 durch den Angriff Japans auf die Mandschurei im Nordosten Chinas und dann durch die offene Revisions- und die von einer rassistischen Ideologie bestimmte expansive Außenpolitik Hitler-Deutschlands ausgelöst. Beide Mächte traten im Laufe des Jahres 1933 aus dem Völkerbund aus, Japan im März und Deutschland im Oktober. Ihnen folgten 1937 Italien und 1939 Franco-Spanien. Darüber hinaus erfaßte diese Welle von Austritten aus der „League of Nations" in den dreißiger Jahren vor allem auch mehrere Staaten Zentral- und Südamerikas, wie Chile 1938, El Salvador 1937, Guatemala 1936, Honduras 1936, Nicaragua 1936, Paraguay 1935, Peru 1939 und Venezuela 1938 (Niedhart 1989:206). Dennoch kamen die Aktivitäten des Völkerbundes auch außerhalb des unmittelbar politischen Feldes nicht völlig zum Erliegen. In den totalitären Staaten trugen ohne Zweifel viele Angehörige der intellektuellen Berufsgruppen, wie Schriftsteller, Wissenschaftler, Techniker oder Publizisten, das diktatorische System mit, legitimierten es, paßten sich ein oder nutzten es für die eigenen Interessen (Beyrau 2000). Jene Menschen, die zuvor die Ideale des „kulturellen Internationalismus" propagiert hatten und daran festhalten wollten, wurden jedoch verfolgt, zum Schweigen gebracht oder vertrieben. Viele von ihnen gin-
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gen in den Untergrund oder schlössen sich den wachsenden Flüchtlingsströmen an. Hier versuchten der Völkerbund, wie auch eine Vielzahl verschiedener nationaler und internationaler Organisationen, Hilfestellungen zu bieten. Das 1933 eingerichtete Hochkommissariat für Flüchtlinge aus Deutschland in Lausanne leistete in ca. 5.000 Fällen soziale Hilfe, die Realisierung der entsprechenden Konventionen der Genfer Flüchtlingskonferenzen von 1936 und 1938, international gültige Regelungen der Flüchtlingsproblematik, scheiterte aber an der Immigrationspolitik der Mitgliedsstaaten des Völkerbundes. Die Konferenz im französischen Evian im Jahr 1938, zu der der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt die Vertreter von 32 Ländern und 39 Hilfsorganisationen eingeladen hatte, setzte zwar ein „Intergovernmental Committee on Refugees" ein. Aber auch dieses Komitee vermochte mögliche Asylländer nicht zur weiteren Öffnung ihrer Grenzen für die vom NS-Regime Verfolgten zu bewegen (Krohn 1998:62f). Gemessen am Schrecken der Zeit, an der Dimension der Probleme und der Dominanz der nationalen Interessen kam vielen der übernationalen Aktivitäten in erster Linie symbolische Bedeutung zu. Noch 1937 fand ein Treffen der Organisation für geistige Zusammenarbeit statt, an dem auch japanische Delegierte teilnahmen. Es wurde ein Vertragsentwurf über internationale geistige Zusammenarbeit erstellt, in dem vom gemeinsamen Interesse an der Erhaltung des kulturellen Erbes der Menschheit, von der Förderung der Wissenschaften und Künste sowie des Friedens die Rede war. Zur Verwirklichung dieser Ziele sollte eine universale, unabhängige und permanente Organisation gegründet werden mit der Aufgabe, die kulturellen Beziehungen zwischen den Völkern zu unterstützen und zu intensivieren. Dieser Entwurf gedieh nie zu einem ratifizierten Vertrag. Doch er lieferte Anhaltspunkte, die schon wenige Jahre später aufgegriffen werden konnten. Gerade die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges und der Massenmorde vertieften die Einsicht in die Notwendigkeit, daß keine internationale Ordnung Bestand haben konnte ohne die gemeinsame Anerkennung grundlegender Menschenrechte und die intensive internationale Zusammenarbeit auf kulturellen Gebieten. Noch während des Zweiten Weltkrieges trafen sich in London die Kultur- und Erziehungsminister jener Regierungen, die in der Anti-Hitler-Koalition vereint waren. Unter ihnen befanden sich auch jene der Sowjetunion und Chinas. Gerade bei diesem Treffen bestanden zahlreiche personelle Verbindungen zur Organisation für geistige Zusammenarbeit des formal noch existierenden Völkerbundes, und es wurden auch wesentliche Vorarbeiten für die 1946 im Rahmen der UNO (United
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Nations Organization) geschaffene Teilorganisation UNESCO (United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization) geleistet. Die UNO selbst wurde schon am 26. Juni 1945 mit der Unterzeichnung der Charta der Vereinten Nationen in San Francisco gegründet. 1948 erfolgte die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Die Realisierung der Vision von der „einen Welt", wie sie insbesondere von US-Präsident Franklin D. Roosevelt (1933-1945) für die Zeit nach dem Krieg in Aussicht gestellt und angestrebt worden war, erfolgte dennoch nicht. Der Zweite Weltkrieg hatte in den kriegführenden Nationen nicht nur die politischen, militärischen und ökonomischen, sondern auch die jeweiligen ideologischen und kulturellen Ressourcen in höchstem Maße mobilisiert. Als Führungsmacht der Allianz der siegreichen „Vereinten Nationen" beanspruchten die USA, in Politik, Ökonomie und Kultur die neue Ordnung nach ihren Leitwerten gestalten zu können. Die Gründung der UNO, die noch von dem am 12. April 1945 verstorbenen US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt geplant worden war, am 26. Juni 1945 in San Francisco sollte ein wichtiger Schritt in diese Richtung sein. Diese neuen „Vereinten Nationen" mit dem Sicherheitsrat, dem die USA, Großbritannien, Frankreich, die Sowjetunion und China angehörten, entsprachen in ihren Idealen und Methoden der Konfliktregelung in erster Linie den Standards der westlichen Demokratien. Trotz der eindeutigen Anziehungskraft und Attraktivität dieser Werte erwies sich ihre Universalisierbarkeit angesichts der Pluralität der Kulturen und kulturell bedingten Wertesysteme als fraglich. Darüber hinaus hatte an der Niederringung des Nationalsozialismus und Faschismus auch die Sowjetunion einen wesentlichen Anteil, was sie ebenfalls als Beweis für die Kraft ihrer Ideologie und ihres Gesellschaftssystems ansah. Die Frage, wer die Definitionsgewalt hinsichtlich universal gültiger Wertvorstellungen besaß, war zu diesem Zeitpunkt daher auch machtpolitisch nicht entscheidbar. Als 1948 die Charta der Menschenrechte unterzeichnet wurde, war das internationale System bereits politisch-ideologisch, ökonomisch und zunehmend auch militärisch von der Polarisierung des beginnenden „Kalten Krieges" geprägt. Die in den Einflußbereich der Sowjetunion gekommenen Staaten konnten nicht an den neuen Institutionen wie „Internationaler Währungsfonds" oder „Weltbank" partizipieren. Sie beteiligten sich auch nicht an neuen kulturellen Austauschprogrammen, wie sie von den USA mit dem Fulbright-Programm oder von Großbritannien über den British Council initiiert wurden, sondern entwickelten ihre eigenen Arrangements. Anstelle einer politisch kooperativen, ökonomisch und kulturell verwobenen interna-
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tionalen Ordnung entstand eine geteilte Welt des „Kalten Krieges", die auch den kulturellen Bereich, Erziehungssysteme, Wertvorstellungen und Mentalitäten vielfach prägte (Hixson 1997). Darüber hinaus überlagerte und behinderte sie auch den Prozeß der Emanzipation der „peripheren Länder". Es wäre allerdings falsch, diese geteilte Welt mit ihren jeweiligen Bündnis- und Paktsystemen ohne Binnendifferenzierungen zu sehen. Gerade die Umbrüche von 1989, ihre Vorgeschichten und Folgen machten diese Heterogenitäten deutlich (Levesque 1995). ÖKONOMISCHE INTERNATIONALEN
ASPEKTE SYSTEMS
DES BIS
1945
Um 1900 befanden sich die Industrieländer in Europa, Japan und die USA in einer Phase ihrer ökonomischen Entwicklung, die - um mit Walt W. Rostow zu sprechen - das kapitalistisch-marktwirtschaftliche System im „Stadium der wirtschaftlichen Reife" zeigte. Die Prinzipien der freien Marktwirtschaft und des Goldstandards bildeten die Grundlagen für ein globales System der Arbeitsteilung sowie des Güter-, Kapital- und Dienstleistungsaustausches, das nicht nur die industrialisierten Regionen der Welt erfaßte, sondern durch die imperialistische Machtexpansion formell oder informell auch Asien, Afrika und Lateinamerika umspannte. Während der „zweiten industriellen Revolution", die durch neue Leitsektoren gekennzeichnet war, trat eine Verschiebung in den Rangplätzen der Industriestaaten ein. Hinsichtlich der Industrieproduktion büßte nämlich Großbritannien seine Spitzenposition zugunsten der USA ein und wurde darüber hinaus in Europa auch von Deutschland überholt. Seit Erringung seines Vorsprunges im Welthandel im 18. Jahrhundert, aufgrund seiner Pionierrolle in der „ersten industriellen Revolution" am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts und schließlich seit den vorteilhaften Regelungen des Wiener Kongresses von 1815, wonach die kontinental-europäische Ordnung nach dem Prinzip des Gleichgewichtes gestaltet, außerhalb Europas und auf den Weltmeeren Großbritannien aber ein Übergewicht zugestanden worden war, hatte sich das Britische Empire zur globalen Führungsmacht entwickelt (Niedhart 1989:12). Diese hegemoniale Position war nun eingeschränkt, wenngleich Großbritannien die führende Handels- und Finanzmacht blieb und das Pfund Sterling als Leit- und Reservewährung der Welt galt. Die Spitzenränge in der Produktion von Industriegütern nahmen nunmehr aber die USA und Deutsch-
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land ein. Mit Hilfe staatlicher Unterstützung konnte Deutschland seine Position in den neuen Leitsektoren ausbauen. Es führte die europäische Schwerindustrie an und sicherte sich in der chemischen und elektrotechnischen Industrie den Vorrang auf dem Weltmarkt. Frankreich war demgegenüber in seiner industriellen Wirtschaftsleistung deutlich abgeschlagen. Obwohl es über einen gut ausgebauten Kapitalmarkt verfügte, blieb der Umfang der Investitionen in die eigenen Industrien eher gering. Hingegen bediente man, nicht zuletzt aus politischen Gründen, zahlreiche Auslandsanleihen. Unter diesen veränderten Wettbewerbsbedingungen trachtete Großbritannien danach, statt sich innovativ anzupassen, seine traditionellen Güter wie Textilien, Eisenbahnen, Schiffe und Bergbauanlagen verstärkt im Empire abzusetzen, das ein zwar großes, aber nur zum Teil erschlossenes Marktpotential darstellte (Matis/Stiefel 1991:7). Wenn aber zum Beispiel Indien als Binnenmarkt erst ansatzweise ausgebildet war, dann lag das in erster Linie an der von der britischen Textilindustrie selbst durchgesetzten Interessenspolitik. Die Baumwollindustrie Indiens befand sich zwar zum Großteil in indischen Händen, ihre Förderung durch Schutzzölle stand aber nicht in Aussicht. Vielmehr mußten die Einfuhrzölle, die aus fiskalischen Gründen zur Finanzierung des kolonialen Verwaltungsapparates eingehoben wurden, durch eine entsprechende Besteuerung der indischen Produkte wieder ausgeglichen werden. Dies geschah vor allem auch zur Beruhigung der britischen Textilindustrie, die im Grunde die Konkurrenz durch die indische Textilindustrie gänzlich ausgeschaltet sehen wollte. De facto trat die britisch-indische Regierung selten in offener Weise als Agentin der metropolitanen Wirtschaftsinteressen oder als direkte Förderin britischer Firmen auf, die sich in Indien niedergelassen hatten (Osterhammel 1995:174). Sie konnte auch nicht verhindern, daß der Ausbau der Eisenbahnstrecken indirekt der Verbreitung indischer Industrieprodukte auf dem Binnenmarkt diente. Die wachsende Zahl an Eisenbahnlinien gab neuen Marktstädten Auftrieb, die entweder an deren End- oder Verbindungsstellen entstanden. Ein dafür typisches Beispiel stellt Solapur dar, das 1860 von der Eisenbahn erreicht wurde und lange Endpunkt jener Strecke blieb, die das Hochland, auf dem die Rohbaumwolle angebaut wurde, mit der Hafenstadt Bombay verband. Insgesamt waren aber die Eisenbahnlinien ganz auf die von den Briten beherrschten großen Exporthäfen wie Kalkutta, Bombay und Madras ausgerichtet und wiesen kaum Querverbindungen im Inland auf. Die steigende Zahl an Eisenbahnstrecken bei gleichzeitigem Fehlen eines eigentlichen Eisenbahnnetzes bedeutete für zahl-
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reiche Marktstädte des Binnenlandes den wirtschaftlichen Ruin. Zudem bot die Gestaltung der Frachttarife Möglichkeiten, die Beförderung einheimischer Produkte zu benachteiligen, indem nur die Transporte in großen Mengen und über lange Strecken zu den Exporthäfen vergünstigte Tarife bekamen (Rothermund 1995:183ff). S o förderte die britisch-indische Regierung wohl die Anbindung Indiens an den Weltmarkt, solange Großbritannien einen großen Anteil an diesem Markt hatte. Die Entwicklung eines indischen Binnenmarktes unterstützte sie aber nur insoferne, als er Teil des Weltmarktes war. Jene Tendenzen, die ein Wachstum des Binnenmarktes durch Substitution von Importen ermöglicht hätten, wurden nicht gefördert, sondern auf indirekte Weise behindert. Die britisch-indische Regierung verstand sich bis zum Zweiten Weltkrieg nicht als Entwicklungsinstanz. Ihr vorrangiges Interesse galt der Bewahrung der britischen Herrschaft in Indien, wobei dem ökonomischen Aspekt im Selbstverständnis der aristokratischen britischen Machthaber kein zentraler Platz zukam. So standen in der Wirtschaftspolitik der Kolonialmacht insbesondere administrative Ziele im Vordergrund, Entwicklungsinitiativen waren demgegenüber zweitrangig. Japan hatte nach seiner gewaltsamen „Öffnung" in den 1850er Jahren, wie zuvor China, zunächst ebenfalls ungleiche Verträge abschließen, seine Häfen zugänglich machen und den Freihandel zugestehen müssen. Ein halbes Jahrhundert später stellte Japan jedoch eine industrialisierte Militärmacht dar, die durch militärische Siege gegen China (1895) und Rußland (1904/05) ihre Position als Großmacht in Ostasien untermauerte. Japanische Unternehmer weiteten ihre Exporte von Fertigwaren vornehmlich nach Südostasien aus, wo sie zu direkten Konkurrenten der europäischen Kolonialmächte und der USA wurden. Diese Befreiung Japans von ausländischer Abhängigkeit war aus mehreren Gründen möglich geworden. Schon in der Tokugawa-Zeit ( 1 6 0 3 1868) hatten in der japanischen Gesellschaft Entwicklungen stattgefunden, die in der Konfrontation und im Kontakt mit den imperialistischen Mächten von Vorteil sein sollten. Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts erlebte Japan einen Prozeß der Urbanisierung, durch den das Land nach England und den Niederlanden zu einer der am stärksten urbanisierten Region der Welt wurde. Städte wie Osaka oder Edo/ Tokyo stiegen zugleich zu dynamischen Wirtschaftszentren auf mit einer Kaufmannschaft, die eine stabile und kapitalkräftige soziale Schicht darstellte und gleichzeitig ein Reservoir an „bürgerlichen Proto-Unternehmern" bildete, das für die Industrialisierung Bedeutung erlangte. Ebenso war ein größerer Teil der bäuerlichen Bevölke-
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rung schon im vorindustriellen Hausgewerbe tätig und besaß damit Erfahrungen, die dem Prozeß der Industrialisierung ebenfalls nützlich waren. Schließlich war der Handel in Japan ohne die zahlreichen Zwischenhändler und Makler organisiert, wie dies zum Beispiel in China der Fall war. Daraus resultierte ein hohes Maß an Markttransparenz, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts besonders günstig auf die Produktion und den Export von Seide auswirkte. In dieser Phase verdrängte Japan durch niedrige Preise, regelmäßige Lieferungen und Qualität die bis dahin dominierende chinesische Seidenwirtschaft vom Weltmarkt. Die rasante Entwicklung ab 1868 war im wesentlichen durch zwei Faktoren gekennzeichnet. Zum einen setzten die imperialistischen Mächte in den im Vergleich zu China kleineren japanischen Markt weniger Erwartungen und Ambitionen. Sie vertraten daher ihre Forderungen und Interessen auch mit geringerer Konsequenz. Zum anderen aber handelte die herrschende politische Klasse Japans, wissend um das Schicksal Chinas, wo ab 1842 durch mehrere ungleiche Verträge die Souveränität der Regierung vor allem in den Hafenstädten zugunsten westlicher Handelsinteressen eingeschränkt wurde, von Anfang an vorsichtiger und ab dem Machtwechsel von 1868 auch gezielt reformorientiert. Die Meiji-Regierungen nutzten das vorübergehend abgeschwächte Interesse der imperialistischen Mächte an Ostasien, um sich einerseits mehr als Partner denn als Ausbeutungsobjekt anzubieten und sich andererseits zu modernisieren. Sie initiierten den Ausbau der Infrastruktur, reformierten Verwaltung, Militär, Rechtsund Bildungswesen und betrieben aktive Industriepolitik. Diese reformierende staatliche Interventionspolitik vollzog sich in einem Zusammenwirken von Bürokratie und Wirtschaft und schuf in erster Linie neue institutionelle Rahmenbedingungen, die der privaten Wirtschaft Raum ließen und sie begünstigten. In diesem Prozeß der Innovation achteten Japans Führungsschichten sehr darauf, konkrete Abhängigkeiten vom Ausland gering zu halten. Es wurden zwar ausländische Fachleute als gut bezahlte Berater ins Land geholt, aber sie wurden nicht in Positionen gebracht, von wo aus sie direkte Macht hätten ausüben können. Anders als dies zum Beispiel in Ägypten oder im Osmanischen Reich der Fall war, vermieden es die Modernisierer in Japan auch, in die Abhängigkeit ausländischer Kredite zu geraten. Bis zur Jahrhundertwende wurde die industrielle Entwicklung weitgehend selbst finanziert, und der Einfluß ausländischer Firmen ging sogar zurück. Als die „corporate revolution" um 1900 auch auf Ostasien übergriff, traf sie in Japan auf erheblichen
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Widerstand der Zaibatsu-Unternehmen, die in ihrer Organisationskraft den Konzernen in den USA und den europäischen Industrieländern durchaus gewachsen waren. Sie besaßen dabei staatlichen Rückhalt, denn die Reformer der Meiji-Regierungen waren bestrebt, sich in ihrer Machtposition als Leistungselite zu legitimieren. Eine solche Legitimation benötigten sie nicht zuletzt auch deshalb, weil ihre Machtübernahme im Jahr 1868 im Grunde ohne Mandat erfolgt war und einer Usurpation gleichkam. Darüber hinaus wurde der politische, wirtschaftliche und militärische Aufstieg Japans von staatlicher Seite mit einer nationalistischen Rhetorik untermauert, in der wirtschaftliche Leistungen als patriotische Tat und Pflicht galten (Osterhammel 1995:164ff). Die größte Dynamik in der wirtschaftlichen Entwicklung verzeichneten in dieser Phase die USA, die hinsichtlich der industriellen Produktion und des Exports von landwirtschaftlichen und industriellen Gütern zur führenden Industrienation wurden. Dieser Prozeß beruhte auf reichen Rohstoff- und Energievorkommen, dem Ausbau des inneramerikanischen Verkehrsnetzes, dem rasch expandierenden Binnenmarkt, der schnellen Vermarktung von Innovationen und der Anwendung neuer Methoden des Managements. Er war im Inneren allerdings begleitet von der weitgehenden Vernichtung der indianischen Bevölkerung. Nach außen gewannen die USA ein neues Gewicht im internationalen System. In der Konfrontation mit Großbritannien und Spanien bemächtigten sie sich der Hegemonie in Mittel- und Südamerika und expandierten mit der Annexion Hawaiis und der Eroberung der Philippinen in den pazifischen Raum. Inwieweit bei dieser Entwicklung ökonomische Erwägungen im allgemeinen und Marktinteressen im besonderen eine entscheidende Rolle spielten, wurde schon früh zum Gegenstand historischer Forschung. Zahlreiche Historiker haben dabei in ihren Analysen des amerikanischen Imperialismus den Zusammenhang zwischen industriellem Wachstum in den Vereinigten Staaten selbst und ihrer überseeischen Expansion herausgearbeitet. Sie betonen dabei die zentrale Bedeutung der in den Jahren 1899 und 1900 von Außenminister Hay in bezug auf China formulierten und geforderten Politik der „Offenen Tür", die den USA den gleichen Zugang zum chinesischen Markt wie allen anderen Industrienationen gewährleisten sollte. Ihr lag die Überlegung zugrunde, daß der Handel der USA bei formaler Gleichstellung anderen Handelsnationen erfolgreich Konkurrenz bieten und angesichts der sich zeigenden amerikanischen Produktionskraft langfristig sogar überlegen sein könne (Schröder 1972:298f)-
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Der potentiell riesige Markt Chinas beherrschte die Visionen der Führungsschichten der konkurrierenden expansions- und exportorientierten imperialistischen Mächte. Allerdings standen ihnen bei der Realisierung ihrer Pläne einige Probleme entgegen. So wurden zwar durch die erzwungene Einführung des Freihandels mit sehr niedrigen Zöllen die städtischen Zentren und Vertragshäfen, wie zum Beispiel Shanghai, zu Absatzmärkten für Produkte vor allem aus Europa. Es war für die Händler aus den Industrienationen jedoch schwierig, Märkte im Inneren des Landes zu erreichen. Dort blieb zum einen die Nachfrage nach Importgütern gering. Die bäuerliche Hausindustrie, die auf Selbstausbeutung der Familien beruhte, arbeitete noch immer billiger, als die europäischen Exporteure anbieten konnten. Deren Käufer beschränkten sich im Grunde auf Angehörige der chinesischen Oberschichten. Zum zweiten benötigte der Exporteur für Geschäfte über die Hafenstädte hinaus einheimische Vermittler und Händler, die Zugang zu den Märkten im Binnenland hatten. Diese kauften nun aber meist in den Hafenstädten die Waren auf und handelten damit selbständig weiter. Zum dritten schließlich lassen sich zwar Zufahrten zu Häfen und Abschlüsse von Verträgen mit Gewalt erzwingen, der Verkauf von Produkten ist damit aber noch nicht durchgesetzt. Im Gegenteil, Boykotte und andere Formen der Resistenz gegenüber den ausländischen Händlern waren seitens der chinesischen Bevölkerung keine Seltenheit. So war insgesamt das Resultat statt der „erhofften offenen nur eine angelehnte Tür zum chinesischen Markt" (Osterhammel 1995: 170). Die Bedeutung des Konzepts der „Open-Door"-Politik der USA, insbesondere gegenüber China, lag am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch weniger darin, daß es aktuell ökonomische Vorteile für die USA mit sich gebracht hätte. Vielmehr war es auf eine längerfristige Sicherung von Absatzmärkten, vor allem für die industrielle Produktion, der amerikanischen Wirtschaft angelegt. Um 1900 war der Umfang des amerikanisch-chinesischen Handels noch gering, ebenso jener der Investitionen. Auch die Zahl der Handelsniederlassungen amerikanischer Geschäftsleute blieb klein. Die Führungsspitzen von Politik und Wirtschaft betonten aber ständig, daß der Binnenmarkt der USA auf Dauer nicht ausreichen werde, um die wachsende Produktion des Landes aufnehmen zu können. Sie forderten daher diplomatische Anstrengungen, künftige Märkte zu sichern, wobei China und Lateinamerika besondere Bedeutung zukam. Die Präsidenten Theodore Roosevelt (1901-1909) und William Howard Taft (1909-1913) sahen ein deklariertes Ziel ihrer Präsidentschaft dann
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auch darin, solche Märkte für amerikanische Produkte und amerikanisches Kapital zu gewinnen. Taft wurde dabei von seinem Secretary of State Philander C. Knox uneingeschränkt unterstützt. Beide Politiker interpretierten die Rezession von 1907/08 als Zeichen der Sättigung des Binnenmarktes und verstanden ihre Außenpolitik unter anderem als Instrument zur Durchsetzung ökonomischer Interessen. Die diplomatischen Aktivitäten konzentrierten sich dabei insbesondere auf Lateinamerika und China. Ihnen lag die Annahme zugrunde, dem ständig steigenden Anteil industrieller Produkte an den Gesamtexporten der USA gerade in diesen nicht oder in nur geringem Ausmaß industrialisierten Regionen Absatzmärkte sichern zu müssen und nicht etwa in den Industrienationen, auch wenn der Handel mit diesen weit umfangreicher war und wertmäßig auf höherem Niveau lag. Eine spezifische Komponente der Politik von Taft und Knox bestand dabei darin, finanzielle Mittel bewußt und gezielt zur Realisierung außenwirtschaftlicher Interessen einzusetzen. Im Oktober 1909 hielt die zusammenfassende Analyse eines Memorandums des State Departments hinsichtlich des auf lange Sicht notwendigen ökonomischen Ausgreifens der USA nach Übersee und der damit verbundenen Methoden unter anderem fest: „Foreign trade means more than selling American products in competitive overseas markets or furnishing to other countries those products which meet their current needs. Foreign trade means, in addition, creating new outlets by lending backward nations the money to increase their purchasing power and consequently their demand for goods" (Schröder 1972:302). Die klassischen Expansionsfelder dieser „Dollar-Diplomacy" und des amerikanischen Handelsimperialismus waren die Staaten Lateinamerikas und China. Obgleich im Selbstverständnis und in der politischen Rhetorik von Taft und Knox durch die „Dollar-Diplomacy" diesen Ländern wirtschaftliche Prosperität und Stabilität ermöglicht werden sollten, orientierte sich diese Politik in erster Linie doch an den Interessen und ökonomischen Bedürfnissen der USA. In den Staaten Mittelamerikas und der Karibik wurde gegebenenfalls auch militärisch interveniert; so zum Beispiel zwischen 1900 und 1933 in Honduras siebenmal, in Panama sechsmal, in Kuba viermal, in Nicaragua zweimal und in Guatemala und Mexiko je einmal (Adams 2000:1). In China sahen sich die USA noch stärker als in Lateinamerika mit Konkurrenz, und zwar der Japans und der europäischen Großmächte, konfrontiert. Dies verdeutlichen unter anderem die Anleihen für die projektierten Eisenbahnlinien Chinchow-Aigun sowie in Hubei und Hunan (1909/1911), der Vorschlag Washingtons zur Neutralisierung
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der Mandschurei oder die Debatten um eine Währungs- und Reorganisationsanleihe eines internationalen Bankenkonsortiums (1913) an China (Osterhammel 1989:218ff; Rosenberg 1999:75f). Wenn die Politik der USA dabei auch innenpolitische Reformen in China unterstützte, dann in erster Linie deshalb, um eine Modernisierung des Landes und der Gesellschaft voranzutreiben, die als eine wichtige Voraussetzung für einen wachsenden amerikanisch-chinesischen Warenaustausch galt. Tafts China-Politik erwies sich jedoch als Fehlschlag. Für eine wirkungsvolle Dollar-Diplomatie in Ostasien war die Kapitalakkumulation in den USA letztlich noch zu gering, und die amerikanischen Banken waren in dieser Hinsicht nach wie vor auf die Geldmärkte Großbritanniens und Frankreichs angewiesen. Hier trat erst mit dem Ersten Weltkrieg ein grundlegender Wandel ein, in dessen Verlauf die entscheidende Stärkung der amerikanischen Finanzkraft im internationalen System erfolgte (Schröder 1972:305). Bis dahin war Großbritannien der führende Kreditgeber der Welt und bezog rund 10 Prozent seines Volkseinkommens aus dieser Quelle. Die Intensivierung und Ausdehnung der Industrialisierung sowie die Auffindung und Erschließung neuer Rohstoffquellen trugen zu einer Ausweitung regionaler und überregionaler Handelsbeziehungen bei. Sie verstärkten die internationale Arbeitsteilung bei gleichzeitiger Beibehaltung der asymmetrischen Austauschbeziehungen zu Gunsten der industrialisierten Welt. Zu den auffallendsten Merkmalen in der Weltwirtschaft zählte dabei, daß Austauschbeziehungen in erster Linie zwischen den Kernländern Nord-, West- und Mitteleuropas sowie den neu entstandenen Zentren in Nordamerika, Ostasien (Japan) und Ozeanien (Australien, Neuseeland) stattfanden. Der Handel mit den „Ländern an den Peripherien" und vor allem zwischen denselben, die den größten Teil der Erdoberfläche und rund zwei Drittel der um 1900 auf 1,6 Milliarden Menschen geschätzten Weltbevölkerung umfaßten, fiel demgegenüber deutlich ab. 1913 bestritt Europa knapp zwei Drittel des Welthandels, gemeinsam mit Nordamerika und Ozeanien waren es drei Viertel. Auf Asien entfielen 11,1 Prozent, auf Lateinamerika 7,6 Prozent und auf Afrika 3,7 Prozent des grenzüberschreitenden Handels. Die Exporte Belgiens und Hollands gingen vor 1914 zu über 80 Prozent nach Europa, obwohl beide ein beachtliches Kolonialreich beherrschten. Die entsprechenden Anteile Deutschlands, Frankreichs oder Italiens lagen nur geringfügig darunter. Die Ausnahme bildete Großbritannien, dessen Außenhandel sich auf Europa, das Empire und andere Länder verteilte, wobei Indien einen prominenten Platz einnahm. Der größte Lieferant Großbritanniens waren 1914 bereits die USA. Für die
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Kolonien und die „Länder der Peripherien" wiederum stellte Europa bei den Exporten den wichtigsten Handelspartner dar, ebenso aber auch für die neuen überseeischen Kemländer. Argentinien, Südafrika oder Neuseeland verkauften mehr als 80 Prozent ihrer Exporte in die „Alte Welt", Australien kaum weniger und auch die USA noch mehr als 60 Prozent (Fischer 1979:1 lff). Im Jahr 1913 erreichte der Welthandel einen wertmäßigen Umfang von 40,5 Milliarden Dollar (Matis/Stiefel 1991:72). Obgleich staatliche Interventionen, Schutzzölle und prohibitive Tarife den freien Handel einschränkend beeinflußten, so erreichten die weltweiten Austauschbeziehungen von Gütern, Kapital und Dienstleistungen vor 1914 dennoch einen Status, der als offene Weltwirtschaft bezeichnet werden kann. Der ab den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts sukzessive eingeführte Goldstandard galt dabei als ein Garant für stabile Wechselkurse und Preise auf dem Weltmarkt, wobei den führenden internationalen Kapitalzentren und Börsenplätzen in London, New York, Paris und auch Berlin große Bedeutung zukam. Der Goldstandard
und seine Problematik
bis 1914
Die liberale Idee des Freihandels beruhte unter anderem auf einer global angelegten Arbeitsteilung. Kapital, Güter und Arbeitskraft sollten sich ohne Einschränkungen bewegen können. Zu diesem Zweck wurde ein multinationaler Zahlungsmechanismus ins Auge gefaßt, der durch Gewährleistung eines relativ einheitlichen und stabilen Preisgefüges diese Bewegungen erleichtern sollte. Großbritannien hatte dazu schon nach den Napoleonischen Kriegen und dem Wiener Kongreß im Jahr 1821 seine Währung an einen stabilen Goldpreis gebunden. Nach diesem Vorbild gingen ab den siebziger Jahren zunächst auch die meisten Industrieländer vor und übernahmen dieses System. 1880 hatten die Mehrzahl der westeuropäischen Staaten und die USA den Goldstandard als Grundlage für ihre Währungen akzeptiert. Zur Jahrhundertwende galt dies auch für Rußland, Japan und Argentinien, und in weiterer Folge banden schließlich noch weitere Staaten in Lateinamerika und Asien ihre Währungen an das Gold (McNeil 1998:283). Das ausgehende 19. und beginnende 20. Jahrhundert stand damit währungspolitisch im Zeichen der nahezu globalen Verbreitung einer auf Gold beruhenden Währungsordnung mit festgelegten Paritäten. Eine entscheidende Rolle spielten in diesem System die jeweiligen Zentralbanken, die durch Zusicherung der Einlösung von Gold die Konvertierbarkeit ihrer Währungen garantierten und für die Beseitigung von Ungleichgewichten in
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den Zahlungsbilanzen Sorge zu tragen hatten, ohne dabei allerdings eine Veränderung bei den Wechselkursen herbeizuführen (Matis/Stiefel 1991:75). Eine solche Stabilität förderte die Bereitschaft zu Investitionen, besonders auch im Ausland, und war daher für Länder wie Großbritannien oder Frankreich von Interesse, die ein Viertel bis ein Drittel ihrer „savings" außerhalb der eigenen Landesgrenzen angelegt hatten. Das Modell des Goldstandards war für bestimmte, dem Wirtschaftsliberalismus verhaftete Eliten in den Industrieländern deshalb so attraktiv, weil es als die monetäre Verkörperung des Laissez-faire-Prinzips galt und seine globale Stabilitätswirkung, zumindest der Theorie nach, weitgehend ohne staatliche Eingriffe entfaltete. Dahinter stand eine Auffassung, die die Rechte des Individuums über die Bedürfnisse der Gesellschaft stellte und die Macht der Regierungen zugunsten der bürgerlichen Freiheiten eingeschränkt wissen wollte. Der Goldstandard repräsentierte dabei die ökonomischen und monetären Aspekte jenes klassischen Liberalismus, wie er von John Locke, Adam Smith, David Ricardo oder John Stuart Mill vertreten worden war. Dem Staat und den Regierungen oblag im Grunde nur die Verpflichtung, die Rechte ihrer Bürger zu schützen. Die Theorie des Goldstandards offerierte den Schutz der individuellen Freiheit des homo oeconomicus durch Begrenzung der Regierungsmacht im Bereich der Wirtschaft und darüber hinaus Stabilität im System des internationalen Handels. In der Realität zeigte sich jedoch, daß das Modell des Goldstandards weit komplexer und fragiler war, als es die Theorie nahelegte. Zudem hing dieses System in hohem Maße von der Stärke Großbritanniens als hegemonialer Wirtschaftsmacht und der Position des britischen Pfundes im internationalen Zahlungsverkehr ab. In den Jahrzehnten vor 1914 legte Großbritannien jährlich fast 5 Prozent des Wertes seines Bruttonationalproduktes, meist in Form langfristiger Obligationen, im Ausland an. Aber auch Frankreich und Deutschland traten als bedeutende internationale Geldgeber auf, indem sie zwischen 1,5 Prozent und 3,5 Prozent ihres jeweiligen Bruttonationalprodukts außerhalb des eigenen Landes als Anleihen vergaben. Dies stellte eine außerordentliche Verflechtung mit dem internationalen Wirtschaftssystem in der Phase des Goldstandards dar. Insbesondere die Bank of England erwies sich daher auch als jene Institution, der hinsichtlich der Steuerungsmechanismen in diesem System eine zentrale Bedeutung zukam. Als in Argentinien 1889/1890 unter anderem eine rasch wachsende Staatsverschuldung, durch welche die Zahlungsunfähigkeit der Regierung drohte, und Grundstückspekulationen, in die auch die große Londoner Baring-Bank direkt
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involviert war, das bestehende Gefüge des Goldstandards gefährdeten, griff die Bank of England ein. Sie erzwang trotz wachsender Arbeitslosigkeit und sinkender Einkommen in Argentinien die Beibehaltung der Prinzipien des Goldstandards, d. h. vor allem eine Senkung der Staatsausgaben, und demonstrierte damit ihre hegemoniale Position. Aber schon in dieser Phase der Etablierung des Systems des Goldstandards traten wichtige Veränderungen ein, durch die seine Grundsätze modifiziert wurden. In einer Reihe von Staaten setzte sich die Ansicht durch, daß die Aufbewahrung von Gold als Reserve sowohl teuer als auch unpraktisch war. In Banken gehortetes Gold brachte keine Zinsen und war zudem schwer zu bewegen. Obligationen, Banknoten oder Schulden anderer Banken besaßen diese Nachteile nicht und konnten darüber hinaus in Gold konvertiert werden. So begannen um die Jahrhundertwende einige Zentral- bzw. Nationalbanken neben dem Gold auch Fremdwährungen als Reserven zu halten. Im Jahr 1913 betrug der Anteil von Fremdwährungen an den Weltreserven bereits 16 Prozent. Da Großbritannien von allen Staaten am längsten dem Goldstandard anhing, wurde das Pfund zwar zur bevorzugten Reservewährung, doch betrug sein Anteil an den gesamten Währungsreserven weniger als 50 Prozent. In Europa standen häufig auch der französische Franc und die deutsche Mark als bevorzugte „Schlüsselwährungen" in Verwendung, während in Lateinamerika diese Funktion bereits der US-Dollar einnahm. So entwickelte sich der Goldstandard schon in der klassischen Phase seiner Ausformung de facto zu einem Mischsystem, das sowohl Gold als auch bevorzugte Währungen als Reserven aufwies. Wenngleich die Londoner City im Zentrum dieses Systems stand, gewannen die New Yorker Wall Street, Paris und Berlin als Finanzzentren ebenfalls an internationalem Gewicht. Das Prinzip des Goldstandards wirkte sich auf die Länder im Zentrum anders aus als auf jene an der Peripherie. Erstere vermochten die Lasten der Anpassung bei Ungleichgewichten in der Handels- und Zahlungsbilanz leichter zu bewältigen als letztere, die außerdem weder das Prestige der Zentren genossen noch sich deren Flexibilität leisten konnten. Insbesondere die Staaten Lateinamerikas gerieten durch den Goldstandard in schwankende Zyklen von Aufschwung und Niedergang. Wenn ihre Produkte guten Absatz auf ausländischen Märkten fanden, dann strömten Investitionen ins Land. Umgekehrt zogen sich bei Rezessionen die ausländischen Anleger in die Stabilität der Londoner City zurück und überließen die regionalen Ökonomien der Depression. Wenn aus der Perspektive der Zentren das System des Goldstandards weitge-
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hend klaglos zu funktionieren schien, so konnte es Staaten der Peripherie in Zyklen von inflationären Höhe- und paralysierenden Tiefpunkten treiben. Gerade die Staaten Lateinamerikas mit intensiven Handelsbeziehungen zu Großbritannien waren von diesen fluktuierenden Geldflüssen besonders betroffen (McNeil 1998:288). Aber auch Großmächte, die in das System des Goldstandards integriert waren, konnten die destabilisierenden Auswirkungen des Abzugs von Kapital zu spüren bekommen, wie die Beispiele der USA und Rußlands zeigen. In den USA belastete seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts eine hartnäckige Deflation besonders jene Farmer schwer, die fixen Zahlungsverpflichtungen nachkommen mußten. Dieser Umstand erhöhte den Druck auf die jeweilige Regierung, die Preise für landwirtschaftliche Produkte gesetzlich zu schützen, und nährte auch die Bereitschaft zur Revolte gegen offene Märkte. In den frühen neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts forderten dann sowohl die Farmer als auch die Besitzer der in den westlichen Bundesstaaten gelegenen Silberminen, daß das gesamte in den USA geförderte Silber zu Münzen geprägt werden sollte. Es war dies im Grunde der letzte Versuch der Farmer, sich gegenüber den Industriellen und Großhändlern der Ostküste ökonomisch zu behaupten. Sie erhofften sich von einer Ausprägung des Silbers eine inflationäre Entwicklung, die zum einen die Preise ihrer Produkte anheben und zum anderen die Höhe ihrer Schulden entwerten sollte. Die Banken und der Handel hielten hingegen am Goldstandard fest und wollten die Mitgliedschaft der USA in diesem System bewahren. Im Präsidentschaftswahlkampf von 1896 geriet der Goldstandard jedoch unter heftige Kritik, und dies führte gemeinsam mit innenpolitischen Unruhen dazu, daß eine Reihe von Investoren ihr Kapital aus den USA abzogen. Daß die USA über größere Goldreserven verfügten als Großbritannien, Frankreich und Deutschland zusammen, reichte in dieser innenpolitisch angespannten Situation nicht aus, um das Vertrauen in den Dollar als stabile Währung zu sichern. Erst die Niederlage von William Jennings Bryan, der die „Silber-Plattform" der Farmer und Grubenbesitzer unterstützt hatte, und die Gold Standard Act von 1900, die die Bindung der USA an den Goldstandard neuerlich bekräftigte, änderten wieder die Situation (McNeil 1998:288). Die Entwertung des Silbers als Zahlungsmittel durch den Goldstandard beeinflußte im übrigen die Ökonomien einer Reihe von Ländern an der Peripherie, wie zum Beispiel jene Indiens. Das Beispiel Rußland wiederum nimmt Bezug darauf, daß nach der Niederlage gegen Japan 1905 und aufgrund der folgenden Revolution
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ausländisches Kapital in großen Mengen abgezogen wurde. Erst die relativ rasche Beruhigung der inneren Lage sowie eine Anleihe von zwei Milliarden Franc, die französische, britische und andere europäische Banken bewerkstelligten, verhinderten, daß Rußland aus dem System des Goldstandards ausschied. Wie in jeder anderen Ära, so führten auch in jener des klassischen Goldstandards politische Krisen, Revolution oder Inflation zur Schwächung des Geldwertes und zu Kapitalflucht. Darüber hinaus besaß die in der Theorie festgelegte automatische Stabilisierungskraft des Goldstandards eher geringe Wirkung. Daß es vor 1914 vergleichsweise wenige so tiefgehende Krisen gab, verlieh dem Goldstandard die Aura, Garant bemerkenswerter Stabilität zu sein. Der Erste Weltkrieg zerstörte zunächst die politischen und ökonomischen Grundlagen dieses Systems. Der Mythos vom Goldstandard, stabile Preise, Währungen und Wechselkurse sicherzustellen, lebte nach dem Ende des Weltkrieges aber wieder auf und wurde neuerlich zum Leitmotiv des Handelns jener Eliten der Wirtschafts- und Finanzwelt, die eine Wiederherstellung des internationalen Wirtschaftssystems, wie es vor 1914 existiert hatte, anstrebten (Eichengreen/Temin 2000:184ff). Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das internationale Wirtschaftssystem Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges erschütterte alle Grundlagen des bestehenden internationalen Wirtschafts-, Handels- und Währungssystems. Die wirtschaftliche und vor allem finanzielle Vormachtstellung Europas fand ein abruptes Ende, und das internationale Handelsnetz wurde zerrissen. Sobald der Krieg zu einem Zermürbungsund Abnützungskrieg geworden war, bestand eines der militärischen Ziele darin, den Gegner von seinen wichtigsten Versorgungslinien abzuschneiden und die Zulieferung von Rohstoffen zu erschweren. Um ihre Goldreserven zu schützen, suspendierten die einzelnen Staaten de facto auch die Konvertierbarkeit ihrer Währungen in Gold. So gesehen veränderte der Erste Weltkrieg nicht nur die politische Ordnung zumindest in Europa und im Nahen Osten grundlegend, sondern er transformierte auch das Wirtschafts- und Währungssystem. Die Kriegsführung zwang die Regierungen der einzelnen Staaten dazu, ihre Ökonomien und Währungen in einer Weise zu steuern und zu kontrollieren, wie dies bis dahin nicht der Fall gewesen war. Der Staat übernahm dabei unter dem kriegsbedingten Zwang der Mobilisierung aller Kräfte Funktionen, die er nie mehr vollständig aus der
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Hand geben sollte. Es wurden eigene Ministerien und kriegswirtschaftliche Zentralen geschaffen. Die Aufbringung und Zuteilung von Nahrungsmitteln und Rohstoffen wurden zentral reguliert. Die Devisen wurden erfaßt und nach kriegswirtschaftlichen Grundsätzen bewirtschaftet. Insgesamt erfolgte während des Krieges eine drastische Einschränkung der Freiheiten des liberal-kapitalistischen Systems in allen Bereichen der Produktion, der Arbeitskraft, des Kapitals und des Handels. Die Kriegsfinanzierung bestritten die Regierungen im Grunde durch staatliche Geldschöpfung und Verschuldung in Form von Kriegsanleihen im Inneren und Kreditaufnahmen im Ausland, da rein steuerliche Maßnahmen bei weitem nicht mehr ausreichten, um die explodierenden Staatsausgaben zu decken. Frankreich und Deutschland, die vor dem Krieg Exporteure von Kapital gewesen waren, benötigten nach dem Krieg internationale Kredite. Großbritannien mußte während des Krieges einen erheblichen Teil seiner Investitionen im Ausland verkaufen, um die für die Kriegsführung und die Versorgung der Bevölkerung notwendigen Importe finanzieren zu können. Darüber hinaus verschuldete sich die britische Regierung im Ausland, hauptsächlich in den USA, in einer Höhe, daß der Einfluß Großbritanniens im internationalen Wirtschafts- und Finanzsystem nach dem Krieg deutlich reduziert war. Ende 1916 gab Großbritannien wöchentlich 80 Millionen Dollar für eigene Rüstungseinkäufe und solche seiner Verbündeten in den USA aus. Mit Kriegsende bestanden Kriegsschulden in der Höhe von 1,3 Milliarden Pfund, die nur äußerst langsam zurückgezahlt werden konnten (Ponting 1999:260). Zwar blieb London auch nach 1918 ein außerordentlich bedeutender Finanzmarkt, und viele erwarteten auch, daß die Londoner City nach dem Krieg ihre alte Führungsrolle in diesem Bereich wieder übernehmen würde. Doch das war nicht mehr der Fall. Die New Yorker Wall Street festigte ihre Position als Finanzzentrum der Welt und baute sie noch weiter aus (Kindleberger 1984:329ff). Darüber hinaus stimmte die britische Regierung der Forderung der USA zu, keine größere Flotte als die der USA zu bauen und das Flottenabkommen mit Japan in Ostasien nicht mehr zu verlängern. Die mit dem Ersten Weltkrieg verbundenen gesellschaftlichen Auswirkungen in Großbritannien beschreibt Pat Barker in ihrer Romantrilogie „Regeneration", „The Eye in the Door" und „The Ghost Road" auf eindrucksvolle Weise. Der Krieg brachte aber nicht nur wirtschaftliche und finanzielle Verlierer hervor, sondern auch Gewinner, von denen manche vom Krieg nur kurzfristig, manche aber auf Dauer profitierten. Vor allem die
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USA, aber auch Staaten in Asien und Lateinamerika, die im System des Goldstandards an der Peripherie der Weltwirtschaft gelegen waren, verbesserten ihre Position. Sie exportierten während des Krieges Nahrungsmittel und Fertigwaren und verzeichneten als Folge ein deutliches Wirtschaftswachstum. Japan etablierte sich endgültig als Wirtschaftsmacht, Indien wurde zu einem führenden Exporteur von Baumwollprodukten, und die Staaten Lateinamerikas führten mehr Nahrungsmittel und Fertigwaren aus als jemals zuvor. In China förderte der Rückzug der ausländischen Mächte vom Markt einheimische Industrien und Geldinstitute. Als Europas Landwirte und Produzenten von Industrieprodukten nach 1918 um die Wiedergewinnung ihrer Märkte kämpften, erlebte das Wirtschaftssystem wiederholt Krisen der Überproduktion und des harten Verdrängungswettbewerbs. Zu den wesentlichen Veränderungen im Gefolge des Ersten Weltkrieges zählte vor allem auch, daß sich das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft neu gestaltete. Es hatte schon vor 1914 unterschiedlich umfangreiche Maßnahmen gegeben, von staatlicher Seite die soziale Sicherheit und Wohlfahrt der Arbeiterschaft zu gewährleisten. Im Krieg erhielten diese Ansätze neue Impulse. In Großbritannien zum Beispiel stellte die Regierung den Soldaten und Arbeitern für die Zeit nach dem Krieg sozialen Wohnbau, bessere Gesundheitsvorsorge, Pensionen für Witwen, Waisenkinder und Invalide sowie eine stärkere Demokratisierung der Gesellschaft in Aussicht. Die Regierungen erkannten zudem die Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften, wollten sie die Unterstützung der Arbeiterschaft für die Kriegsanstrengungen gewinnen. Dies erhöhte den Einfluß und die Legitimität der Arbeiterorganisationen und verschob die Machtverteilung innerhalb der Gesellschaft. Nach Kriegsende war den Regierungen bewußt, daß sie zumindest ein Minimum der sozialen Forderungen erfüllen mußten, um nicht aus dem Amt gewählt zu werden oder eine Revolution zu riskieren. Gleichzeitig stießen aber Steuererhöhungen auf den Widerstand der Interessengruppen der Wirtschaft. Die Rolle des Staates war durch den Krieg stärker geworden, umgekehrt stellten aber auch im Unterschied zu den Jahrzehnten vor 1914 jetzt mehr und mächtiger gewordene Verbände ihre oft gegensätzlichen Forderungen an den Staat. In Deutschland verband sich die Undurchführbarkeit von Steuererhöhungen einerseits und die Verringerung der staatlichen Unterstützung für Industrie, Landwirte, Arbeiter und Kriegsveteranen andererseits auf explosive Weise mit der Entschlossenheit, die Reparationszahlungen zu beenden. Hierin lag einer der Hauptgründe für die spek-
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takuläre Inflation der Reichsmark im Jahr 1923. In Frankreich stand die Regierung unter dem innenpolitischen Druck, darauf zu beharren, daß der Kriegsverlierer Deutschland und nicht Frankreich den Wiederaufbau der französischen Wirtschaft zu bezahlen habe. Dieser Antagonismus, aus innenpolitischen Zwängen die Steuern nicht erhöhen, gleichzeitig aber auch die Staatsausgaben nicht reduzieren zu wollen, machte einstige große Geldgeber abhängig von internationalen Anleihen und die Verfügungsgewalt über Geld zu einem zentralen Faktor von Einfluß im internationalen System. Die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges auf die Rolle der USA als Wirtschaftsmacht 1918 hatten die USA den Hauptanteil an den Goldreserven der Welt akkumuliert, während die meisten anderen Nationen über nicht ausreichende Reserven verfügten, um ihre Währungen in Gold konvertieren zu können. Diese Entwicklung war ebenfalls primär eine Konsequenz des Ersten Weltkrieges. Woodrow Wilson, Präsident der USA von 1913 bis 1921, hatte sich bei seinem Amtsantritt zwar von der DollarDiplomatie seines Vorgängers distanziert, doch blieben auch während seiner Präsidentschaft in den außenwirtschaftlichen Zielsetzungen Kontinuitäten bestehen. Schon im Wahlkampf 1912 trat Wilson für eine expansive Außenwirtschaftspolitik ein, deren Notwendigkeit sich für ihn ebenfalls aus der wirtschaftlichen Entwicklung der USA ergab. Wirtschaftspolitische Motive spielten für Wilson in der Konzeption seiner Außenpolitik eine ebenso wichtige Rolle wie die oft betonten idealistischen Komponenten. Dafür bezeichnend ernannte Wilson nach seinem Wahlsieg William C. Redfield, den Präsidenten der 1910 gegründeten „American Manufacturers Export Association", zum Secretary of Commerce (Gardner 1969:204ff). In Übereinstimmung mit den Zielsetzungen des Präsidenten und auch des neuen Secretary of State, William Jennings Bryan, baute Redfield das „Bureau of Foreign and Domestic Commerce" zu einer wichtigen Kontaktstelle zwischen Regierung und Privatwirtschaft und hier insbesondere den exportorientierten Branchen der Industrie aus. Diese von Wilson, Redfield und Bryan schon vor 1914 angekündigte enge Kooperation von Regierung und Privatwirtschaft wurde während des Ersten Weltkrieges verwirklicht, da die Regierung zur Mobilisierung der ökonomischen Ressourcen auf die Unterstützung der privaten Wirtschaftszweige angewiesen war. Zur Realisierung der Zielsetzung, die Ausweitung des amerikanischen Handels zu fördern, traf die Administration Wilson auch mehrere ge-
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setzliche Maßnahmen. Dazu zählten der Ausbau des Bankwesens, um die Finanzierungsmöglichkeiten bei Auslandsgeschäften zu verbessern, die Lockerung der Antitrustbestimmungen von 1890 zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der amerikanischen Industrie auf dem Weltmarkt und die Revision der Zollpolitik im Sinne der Durchsetzung des Prinzips der „Offenen Tür" (Parrini 1969). Die „Federal Reserve Act" von 1913 brachte eine gewisse Zentralisierung des amerikanischen Bankensystems und enthielt erste Bestimmungen über die Gründung von Bankfilialen im Ausland. 1916 wurde durch einen Zusatz zu diesem Gesetz den privaten Banken die Möglichkeit geboten, sich zur Gründung von Auslandsfilialen zusammenzuschließen, um so die damit verbundenen Risiken auf mehrere Banken verteilen zu können. In den folgenden Jahren erfolgte auch eine beachtliche Ausweitung des Netzes von US-Banken im Ausland, vorwiegend in den Staaten Lateinamerikas. Damit wurde ein wichtiges Instrument zur Finanzierung von Auslandsgeschäften auf Dollarbasis eingeführt und darüber hinaus die Grundlage für eine Politik geschaffen, die auf lange Sicht eine internationale ökonomische Kontroll- und Hegemoniestellung der USA anvisierte (Parrini 1969:79ff). Die Lockerung der Bestimmungen des Antritrustgesetzes bis 1918 wiederum ermöglichte zunächst den Zusammenschluß von Transport-, Handelsund industriellen Unternehmensinteressen. In einem weiteren Schritt wurde konkurrierenden amerikanischen Unternehmen zugestanden, zur Verbesserung ihrer Wettbewerbssituation im Ausland Absprachen über die Aufteilung von Märkten treffen zu dürfen. Während die Gesetze zur Neuordnung des Bankwesens und zur Lokkerung der Antitrustbestimmungen innenpolitisch weitgehend konsensfähig waren, stieß die geplante Revision der Zoll- und Handelspolitik auf erheblichen Widerstand. Hier galt es, zwischen Bankiers und Produzenten, Importeuren und Exporteuren, Industrie und Landwirtschaft einen Kompromiß zu finden. Zur gleichen Zeit, als sich einflußreiche Organisationen, wie zum Beispiel die amerikanische Handelskammer oder der „National Foreign Trade Council", um eine neue Zollgesetzgebung bemühten, war auch der politischen Führung die Notwendigkeit einer Revision auf diesem Gebiet klar, wollte man den von Wilson im Jänner 1918 im Rahmen seiner 14 Punkte als Punkt 3 formulierten Anspruch der USA auf handelspolitische Gleichstellung aller handeltreibenden Nationen durchsetzen. Die Zielsetzung, dem Prinzip der „Offenen Tür" weltweit Geltung zu verschaffen, sah sich nach Kriegsende mit dem Problem konfrontiert, den amerikanischen Binnenmarkt gegen die Konkurrenz jener Industriestaaten, die wäh-
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rend des Krieges vom amerikanischen Markt faktisch ausgeschlossen worden waren, abzuschirmen. Die Versuche, namentlich der assoziierten Mächte des Krieges, ihre früheren Positionen am Markt der USA durch Exportoffensiven wiederzuerlangen, mußten für die Wirtschaft der USA dann folgenreich sein, wenn sich die europäischen Exporteure durch Dumpingpreise Wettbewerbsvorteile verschafften. Bei der Revision der Zoll- und Handelspolitik ging es den USA daher aus ihrer Sicht darum, die Strategie der „Offenen Tür" mit den protektionistischen Interessen einer Reihe von Wirtschaftszweigen in Einklang zu bringen, eine Konstellation, die die diesbezügliche Politik in den USA während der gesamten zwanziger Jahre bestimmen sollte. In der Ära Wilson kam es hinsichtlich der neuen Zoll- und Handelspolitik noch zu keiner Entscheidung. Denn zum einen herrschten trotz der prinzipiellen Übereinstimmung, die ökonomische Expansion fördern zu müssen, innerhalb der Administration Divergenzen, welche Methoden zur Erreichung dieses Zieles angewandt werden sollten. Zum zweiten schien es zunächst auch ratsam, sich über den handelspolitischen Kurs der verbündeten Mächte in Europa Klarheit zu verschaffen. Die Außenpolitik Wilsons auch als Außenwirtschaftspolitik und nicht nur als eine vorrangig von idealistischen Motiven bestimmte Politik zu analysieren, kann im wesentlichen unter zwei Gesichtspunkten geschehen. Es ist dies zum einen unter bilateralen Aspekten möglich, und dies wiederum insbesondere hinsichtlich der anglo-amerikanischen Beziehungen, des Handels zwischen diesen beiden Ländern und der sich vollziehenden Schwergewichtsverlagerung im internationalen System von Großbritannien zu den USA (Dobson 1995; McKercher 1991). Zum anderen läßt sich aber auch nach der inhärenten, global ausgerichteten und langfristigen Strategie fragen, die darauf abzielte, die USA als führende Wirtschaftsmacht zu etablieren. Während des Krieges, aber noch vor ihrem Kriegseintritt, wandten sich die USA entschieden gegen jene 1916 auf der Pariser Wirtschaftskonferenz erkennbaren Absichten Großbritanniens und Frankreichs, durch Zollund Handelspräferenzen einen wirtschaftlichen Großraum unter Ausschluß der USA zu schaffen. Dieser Plan der Alliierten bildete praktisch das Gegenstück zu den vom Deutschen Reich konzipierten Mitteleuropaplänen, die eine Abgrenzung gegenüber Rußland, Westeuropa und auch den USA beinhalteten, allerdings nicht allein ökonomisch bestimmt waren (Le Rider 1994:12lff). Die USA nützten darüber hinaus die Kriegssituation dazu, um die starke ökonomische Position Großbritanniens und Deutschlands in Lateinamerika zu schwächen und dort selbst als neue ökonomische Hegemonialmacht aufzutreten.
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Den ökonomischen Aspekt in der Außenpolitik Wilsons zu betonen, bedeutet nicht, einen ökonomischen Determinismus zu propagieren. Es bestanden vielmehr enge Wechselbeziehungen zwischen idealistischen und ökonomischen Motiven. Die Errichtung einer liberalkapitalistischen Weltordnung, die sich sowohl gegen den formalen Imperialismus der europäischen Mächte als auch gegen die Strahlkraft der bolschewistischen Revolution von 1917 behaupten konnte, hatte für Wilson deshalb eine so zentrale Bedeutung, weil er in ihr eine entscheidende Voraussetzung dafür sah, daß die USA ihren politischen und ökonomischen Führungsanspruch durchsetzen konnten (Levin 1968). Unter diesem Gesichtspunkt stellte die von Wilson vertretene liberale Weltordnung nicht nur ein Ideal dar, das dem von Lenin propagierten sozialistischen Modell gegenübergestellt wurde, sondern es kam ihr auf dem Hintergrund der Entwicklung in den USA auch eine funktionale Bedeutung zu. Wilson verstand sich dabei allerdings nicht als bloßes Exekutivorgan für außenwirtschaftliche Zielsetzungen des Big Business oder einzelner Firmen. Er sah in seinem Programm der Etablierung eines globalen liberalkapitalistischen Systems die beste Gewähr für die Realisierung auch der ökonomischen Interessen der USA insgesamt. Hierbei schloß der Präsident als utima ratio bewaffnete Interventionen nicht aus, wie dies die Beispiele Mexiko, Nicaragua, Haiti und auch die Dominikanische Republik beweisen. Die Hervorhebung ökonomisch bedingter Motive macht es zudem möglich, stärker als bei einer rein diplomatiegeschichtlichen Betrachtungsweise Kontinuitäten in der US-Außenpolitik zu erkennen. Im Lichte der auch von der Regierung Wilson verfolgten expansiven Außenwirtschaftspolitik und der Strategie der „Offenen Tür" bedeutete Wilsons Einzug ins Weiße Haus ebenso wenig einen prinzipiellen Bruch mit der Außenpolitik seines Vorgängers Taft, wie dann die Regierungsübernahme im Jahr 1921 durch die Republikaner. Die schon erwähnten zollpolitischen Reformen wurden unter Präsident Harding am Beginn der zwanziger Jahre zum Abschluß gebracht. Zunächst erfolgte im Mai 1921 eine Erhöhung der Agrarzölle, um dem Preissturz bei landwirtschaftlichen Erzeugnissen entgegenzuwirken. Ab September 1922 schirmte ein neues Tarifgesetz den US-Markt gegen die ausländische Konkurrenz bei Industrieprodukten weitgehend ab. Dieses neue Tarifgesetz räumte vor allem aber dem Präsidenten das Recht ein, Strafzölle gegen die Exporte jener Länder zu verhängen, die gegen amerikanische Exporte diskriminierende Maßnahmen ergriffen. Damit stand der Exekutive ein Instrument zur Verfügung, zumindest gegenüber jenen Staaten, die auf den US-Markt angewiesen waren, eine Gleichstel-
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lung des US-Handels zu erzwingen. So gesehen war der „FordneyMcCumber Tariff" von 1922 nicht allein eine protektionistische Maßnahme, sondern ein wichtiger Schritt weiter in Richtung einer „OpenDoor"-Politik, die das Ziel verfolgte, den USA auf dem Weltmarkt gleichen Zugang wie anderen Exporteuren zu sichern. Darüber hinaus brachte dieser Tarif den Übergang von der bedingten zur unbedingten Form der Meistbegünstigung, die umso wichtiger war, als die Außenwirtschaft für die USA zunehmend an Bedeutung gewann. Diese Neuorientierung manifestierte sich zuerst auf der „Washingtoner Konferenz" von 1921/22, auf der die USA unter anderem im Neun-MächteAbkommen vom 6. Februar 1922 auch das Prinzip der „Offenen Tür" in bezug auf China durchsetzten (Goldstein/Maurer 1993). Ende 1923 erfolgte die Unterzeichnung eines deutsch-amerikanischen Handelsvertrages, der eine unbedingte Meistbegünstigungsklausel enthielt und damit dem US-Handel alle Zollvorteile einräumte, die Deutschland dritten Ländern gewährte. Dies bedeutete eine Gleichstellung der amerikanischen Exporteure auf dem deutschen Markt. Diese Wechselbeziehung zwischen „United States prosperity" und einer Welt der „Offenen Tür", die sich zumindest in den Vorstellungen der Führungsspitzen von Politik und Wirtschaft erkennen läßt, relativiert die Sichtweise einer isolationistischen Außenpolitik der USA in den zwanziger Jahren. Allenfalls traten in der innenpolitischen Auseinandersetzung unterschiedliche isolationistische Tendenzen zutage, deren Kritik an der Außenpolitik sich im wesentlichen aber an deren Methoden, nicht aber an den Zielen entzündete. Neben der Politik der „Offenen Tür" mit ihrem Anspruch auf Gleichberechtigung des US-Handels auf dem Weltmarkt spielte nach dem Ersten Weltkrieg der Kapitalexport der USA eine weitere entscheidende Rolle. Gerade er unterstreicht die neue Rolle der USA im internationalen System und ihre Intentionen, zumindest regional, wie zum Beispiel in Lateinamerika, ein „informal Empire" aufzubauen. Der Gold-Devisen-Standard
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Jahre
Diese neue Position der USA und die ungleiche Verteilung der Goldreserven nach dem Ersten Weltkrieg machten klar, daß eine erfolgreiche Restauration des klassischen Goldstandards unmöglich war. Daher schlugen Experten der britischen Regierung vor, neben dem Gold auch auf konvertible Währungen lautende Obligationen und Banknoten als Reserven zu halten. Dieses auf Gold und Fremdwährungen als Reserven beruhende System hatte sich de facto, wenn auch informell,
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schon vor 1914 herausgebildet. Jetzt wurde es zur offiziellen Leitlinie. Bis in die Mitte der zwanziger Jahre hatten die meisten europäischen Staaten dieses System übernommen und neuerlich stabile Wechselkurse festgelegt. Allerdings belasteten von Anfang an mehrere Probleme den „Gold-Devisen-Standard". So berücksichtigte zum Beispiel die Wiederaufnahme des Wechselkurses von 1 Pfund zu 4,86 Dollar, wie er vor 1914 bestanden hatte, nicht die Tatsache, daß in Großbritannien die Inflation viel höher war als in den USA. Britische Güter waren daher jetzt zu teuer, um am Weltmarkt wettbewerbsfähig zu sein. Als die Bank of England die Regeln des Goldstandards in Anwendung bringen wollte, stellte sie fest, daß zwar die Arbeitslosigkeit stieg, die Löhne aber nicht sanken. Als Folge davon sah sich Großbritannien ständig sowohl mit Defiziten in der Handelsbilanz als auch hoher Arbeitslosigkeit konfrontiert. Im Gegensatz zu Großbritannien legte Frankreich 1926 für den Franc einen Kurs fest, der unter seinem internationalen Marktwert lag. Französische Produkte waren demnach billig und Frankreich erzielte auch beachtliche Handelsüberschüsse. Anstatt jetzt Erhöhungen der Preise vorzunehmen, wie es die Regeln des Goldstandards zur Herstellung eines Gleichgewichts erfordert hätten, hielt Frankreich die Inflation gering und baute seine Goldreserven aus. Krieg und Inflation hatten die einzelnen Staaten unterschiedlich getroffen. Die Ungewißheit hinsichtlich der korrekten Wechselkurse zwischen den Währungen ließen Zweifel an den bestehenden Spielregeln aufkommen. Hinzu kam, daß Staaten mit Handelsüberschüssen, wie Frankreich und die USA, sich weigerten, ihre finanziellen Unterstützungen auszuweiten und ihre Binnenmärkte zu öffnen. Mit einem neuen Gesetz setzten die USA im Gegenteil Schritte, die den Zugang zum US-Markt noch restriktiver machten. Nur für kurze Zeit Mitte der zwanziger Jahre machte die Kooperation der großen Zentralbanken der USA (Federal Reserve), Großbritanniens, Frankreichs und Deutschlands eine Stabilisierung des Systems möglich, indem sie Kapitalströme von Ländern mit Überschüssen in Länder mit Defiziten ermutigte. Während des Ersten Weltkrieges waren aber Kredite mit sehr kurzfristigen Laufzeiten in großem Umfang auf die Märkte gekommen. Diese Kredite konnten rasch gekauft und verkauft werden und unterlagen regelmäßigen, oft alle drei Monate fälligen Erneuerungen. In den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren wurden diese Kredite dann überall dort rasch abgezogen, wo Währungen schwach und gefährdet schienen. Am Ende der zwanziger Jahre begann das im Grunde fragile Weltwirtschafts- und Währungssystem zu zerfallen. Anzeichen dafür waren
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zunächst eine Reihe von regionalen Einzelkrisen. In Deutschland überdeckten staatliche Unterstützungen die Strukturschwäche der Wirtschaft, und Auslandsanleihen glichen das Defizit aus. Als 1928/29 an der New Yorker Börse über Nacht riesige Vermögen gemacht werden konnten, investierten die Amerikaner nicht mehr im Ausland, sondern im eigenen Land. Für Deutschland bedeutete dies unter anderem, daß es für seine Anleihen weniger zeichnungswillige Interessenten in den USA fand. Um nun das Defizit im Staatshaushalt finanzieren zu können, mußten Steuern erhöht und Ausgaben gekürzt werden mit all den Belastungen, die damit für die deutsche Gesellschaft verbunden waren. Obwohl das System des Gold-Devisen-Standards offensichtlich versagt hatte, blieben seine Wertvorstellungen erhalten. Defizite im Staatshaushalt galten als unmoralisch und unverantwortlich und mußten daher beseitigt werden. Mit 1929 fiel die deutsche Wirtschaft zudem in eine zyklische Rezession, die sich in Verbindung mit der neuen restriktiven Budgetpolitik zu einer Depression ausweitete. Der Börsenkrach im Oktober 1929 an der Wall Street in New York erschütterte ebenfalls das Vertrauen in eine Wirtschaft, die ohnedies bereits von längeren Krisen im Agrarbereich, in einzelnen Industriezweigen und in vielen Ländern der Peripherie gekennzeichnet war. Die Weltwirtschaftskrise
und ihre
Auswirkungen
Die „Große Depression" der dreißiger Jahre war ein dramatisches Ereignis. Mehr als alles andere machte diese Krise deutlich, daß der moderne Kapitalismus ein interdependentes System mit globalen Auswirkungen war. Sie war ein Indiz dafür, daß sich der Kapitalismus zu einem Weltsystem entwickelt hatte, in das nicht nur die Industrie-, sondern auch die Agrarländer eingebunden waren. Wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, so war doch jedes Land betroffen. In den Industrieländern stieg die Arbeitslosigkeit bis über 25 Prozent der Erwerbstätigen an, und noch weit mehr Menschen leisteten Kurzarbeit. Das Bruttosozialprodukt der 16 führenden Industrieländer fiel zwischen 1929 und 1932 um 17 Prozent, die Industrieproduktion um 30 Prozent, in den USA sogar um 45 Prozent, und der Welthandel ging wertmäßig um zwei Drittel zurück (Matis/Stiefel 1991:108f). Die „Zeitzeugen" erlebten in der Weltwirtschaftskrise zwei ihnen unverständlich erscheinende Phänomene, nämlich die Not bei vollen Lagern und einen sich selbst verstärkenden Niedergang der Wirtschaft. Denn jede gängige Gegenmaßnahme führte bloß dazu, daß sich der wirtschaftliche Niedergang noch vertiefte. Frühere Krisen hatten sich
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zumeist auf Teilbereiche der Wirtschaft beschränkt oder nur einzelne Regionen betroffen. Diese Krise betraf aber sämtliche Wirtschaftsbereiche, wobei Teilkrisen zusammenwirkten und sich wechselseitig verstärkten. Schematisch und im zeitlichen Ablauf lassen sich dabei vier Phasen festhalten: eine Krise ab 1926 in jenen Ländern, die sich auf den Export von Agrarprodukten und Rohstoffen stützten; eine Produktionskrise ab 1929; eine Banken- und Währungskrise ab 1931 sowie eine Außenhandelskrise ab 1932. Es ist hier nicht möglich und sinnvoll, die vielen schon zeitgenössischen und seither vorgebrachten Erklärungen und Hypothesen hinsichtlich der Ursachen der Weltwirtschaftskrise vorzustellen. Bemerkenswert erscheint dabei, daß jede ökonomische Lehrmeinung vom Laissezfaire-Liberalismus über die Neoklassik bis zum Marxismus sich in ihren Grundanschauungen durch diese Krise bestätigt sah. Im wesentlichen lassen sich die verursachenden Faktoren aber in endogene und exogene zusammenfassen. Zu den Vertretern der These der endogenen Verursachung der Weltwirtschaftskrise gehörten die marxistischen Theoretiker mit ihrer Interpretation des kapitalistischen Systems, das an seinen inhärenten Widersprüchen zerbrechen müsse, aber auch Joseph A. Schumpeter, der die Große Depression als ein historisch einmaliges Zusammentreffen von drei zyklischen Konjunkturabschwüngen sah. Während die marxistischen Theoretiker mit der Weltwirtschaftskrise das einsetzende Ende des Kapitalismus verbanden, prognostizierte Schumpeter für die Zeit nach der Großen Depression ein Erstarken des kapitalistischen Systems. Bei den exogenen Ursachen kommt dem Ersten Weltkrieg und einzelnen (wirtschafts-) politischen Entscheidungen und Maßnahmen zentrale Bedeutung zu. Während des Ersten Weltkrieges war es zu einem weitgehenden Rückzug Europas als Exporteur vom Weltmarkt gekommen. Umgekehrt stiegen die Importe von Agrarprodukten und Rohstoffen aus Übersee an. So wurde zum Beispiel in den USA und in Kanada der Anbau von Weizen enorm ausgeweitet. Als sich nach Ende des Krieges die Landwirtschaft auch in Europa wieder konsolidierte, stellte der Agrarbereich jenen Wirtschaftssektor dar, der als erster wegen der kriegsbedingten Verschiebungen in eine Krise der Überproduktion geriet. Darüber hinaus führte die praktizierte Schutzzollpolitik zu beachtlichen Preisunterschieden auf dem Markt. So war zum Beispiel Weizen in Deutschland um ein Vielfaches teurer als in Kanada. In der Phase des Ersten Weltkrieges verschoben sich aber auch die Relationen in der industriellen Produktion. Vor allem die USA erhöhten weltweit ihren Anteil von 36 auf 42 Prozent, jener Deutschlands ging
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von 14 auf 12 Prozent zurück und jener Großbritanniens von 14 sogar auf 9 Prozent. Hingegen konnten Staaten wie Japan oder auch Chile und Argentinien ihre industrielle Produktion erhöhen. Als nach Kriegsende die europäischen Staaten wieder auf den Weltmarkt zurückkehrten, hatte sich hier die Konkurrenz verschärft. Während Europas Anteil an den weltweiten Exporten von Industrieprodukten von 82 im Jahr 1913 auf 67 Prozent im Jahr 1928 gefallen war, stieg jener der USA von 11 auf 19 Prozent und jener der Länder Asiens von 7 auf 12 Prozent an. Besonders betroffen von dieser Entwicklung war Großbritannien, dessen Exporte nach Asien und Lateinamerika deutlich zurückgingen. Schließlich gelang es in den zwanziger Jahren, trotz der Zunahme internationaler Anleihen und Kredite, im Prinzip nicht, einen funktionierenden Kapitalmarkt einzurichten. Dies hing zum einen mit der verbreiteten Nachkriegsinflation zusammen, die in Deutschland, Österreich, Ungarn, Polen und im neuen Sowjetstaat sogar hyperinflationäre Ausmaße erreichte und Maßnahmen zur Stabilisierung der Währungen mit all den belastenden Folgen für die Gesellschaften erzwang. Zum anderen hatten die Kreditvergaben zur Kriegsfinanzierung ein kompliziertes Verschuldungssystem zwischen den Alliierten hervorgebracht, das de facto mit den Reparationen, die den Kriegsverlierern auferlegt wurden, verkoppelt war. Der Hauptgläubiger waren die USA, die zwar ihrerseits auf Reparationen verzichteten, auf der Bezahlung der Kriegsschulden durch ihre Verbündeten aber beharrten. Dadurch wurde es für Großbritannien und Frankreich jedoch schwieriger, sich in der Frage der Reparationen gegenüber Deutschland flexibler zu verhalten. Der auf amerikanische Initiative hin erstellte Dawes-Plan von 1924 legte einerseits einen Modus fest, in welcher Höhe und auf welche Weise Deutschland seine Reparationen zahlen sollte, und sah andererseits Auslandskredite, insbesondere aus den USA, für Deutschland vor. Insgesamt flössen von 1924 bis 1930 28 Milliarden Goldmark in Form von Auslandskrediten nach Deutschland, wovon 10 Milliarden als Reparationen wieder zurückgingen. Die Krise in diesem System begann, als ab 1929 der Zustrom von Auslandskapital nach Deutschland versiegte. Vor dem Hintergrund dieser verschiedenen regionalen und sektoralen Krisen führte im Frühjahr und Sommer 1931 eine internationale Banken* und Währungskrise letztlich zur Großen Depression der dreißiger Jahre. Der unmittelbare Anlaß dafür war der Zusammenbruch der Credit-Anstalt für Handel und Gewerbe in Wien im Mai 1931. Dieses Ereignis erschütterte das Vertrauen der internationalen Anleger in das Bankwesen Zentraleuropas - bei der Credit-Anstalt handelte es sich um
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eines der größten Geldinstitute in diesem Raum - und führte zur Abberufung von Kapital in großem Ausmaß. Auf diese Weise verlor zum Beispiel Österreich innerhalb von wenigen Wochen fast seine gesamten Reserven an Devisen (Stiefel 1989). Im Juni wurde bekannt, daß eine der bedeutendsten deutschen Banken - die Darmstädter und Nationalbank Kommandit-Gesellschaft (Danat) - hohe Investitionen in die Norddeutsche Wollkämmerei und Kammgarnspinnerei AG getätigt hatte. Dieses Unternehmen spekulierte mit einem Anstieg des ungemein niedrigen Wollpreises. Als der Preis für Wolle jedoch noch weiter fiel, ging die Firma bankrott und riß die „Danat" mit. Als Folge sahen sich im Juli 1931 alle deutschen Banken mit Forderungen nach Rückzahlung ihrer ausländischen Kredite konfrontiert, die sie jedoch aufgrund ihrer eigenen Vergabepolitik bei Krediten nicht erfüllen konnten. Innerhalb weniger Wochen brach das deutsche Bankensystem zusammen und mußte von staatlicher Seite praktisch neu aufgebaut werden (James 1986). Die Bankenkrise breitete sich international aus, erfaßte Skandinavien, Großbritannien und schließlich auch die USA, wo bis 1933 rund 9.000 der ca. 25.000 Banken des Landes schließen mußten. Diese internationale Bankenkrise war in erster Linie eine Verlustkrise, die die Uneinbringlichkeit von Schulden und Forderungen deutlich machte, und sie trug wesentlich zur folgenden Krise im internationalen Währungssystem bei. Die Erschütterungen im Bankwesen Zentraleuropas und Deutschlands im Sommer 1931 führten nämlich einerseits dazu, daß die internationalen Gläubiger ihre Verluste wettzumachen versuchten und andererseits bestrebt waren, mögliche schwache und überbewertete Währungen rechtzeitig zu orten. Beide Intentionen trafen vor allem das britische Pfund. Sein Wert sank trotz amerikanischer und französischer Stützungsversuche durch Abzug von Kapital aus Großbritannien drastisch ab - innerhalb kurzer Zeit büßte die Bank of England mehr als 200 Millionen Pfund an Gold und Devisen ein - und wurde weiter unterhöhlt, als ein Regierungsbericht für 1931 ein riesiges Defizit für den britischen Staatshaushalt prognostizierte. Ganz dem Schema des „Gold-Devisen-Standards" verhaftet, weigerte sich die Bank of England zunächst, ohne gleichzeitige Kürzungen der Staatsausgaben zur Verringerung des Defizits durch die Regierung Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Am 18. September 1931 sah sich dann Großbritannien allerdings gezwungen, die traditionsreiche Bindung seiner Währung an das Gold zu lösen und die Bestimmung ihres Wertes dem Prinzip von Angebot und Nachfrage zu überlassen. Dies stellte de facto eine Abwertung dar, und das Pfund fiel auch sofort gegenüber dem Dollar
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und anderen Währungen, die ihre Bindung an das Gold noch aufrechthielten, ab. Innerhalb kurzer Zeit werteten weitere 25 Länder ihre Währungen ab, womit das an den „Gold-Devisen-Standard" gebundene internationale Währungssystem mit seinen fixierten Wechselkursen, wie es ab der Mitte der zwanziger Jahre auf eine Empfehlung der Konferenz von Genua im Jahr 1922 hin errichtet worden war, zusammenbrach. Es entstanden de facto drei Währungsblöcke: die „Dollar-Zone" mit dem US-Dollar als Leitwährung; der „SterlingBlock", wie er 1932 in Ottawa für Großbritannien, seine Kolonien und die meisten Commonwealth-Länder beschlossen worden war, sowie der „Goldblock" mit Frankreich, Belgien, Italien und der Schweiz, der bis 1935/36 offiziell an der Goldpreisparität festhielt (Kindleberger 1984:378ff). Als auch Frankreich 1936 den Franc um ca. 35 Prozent abwerten mußte, kamen die Regierungen in Paris, London und Washington allerdings überein, die Abwertung des Franc nicht durch Abwertungen von Pfund und Dollar zu unterlaufen und damit neuerlich eine „Abwertungskonkurrenz" auszulösen. Dieses „Tripartite Agreement" stellte während der Weltwirtschaftskrise einen ersten Versuch dar, währungspolitisch international wieder zu kooperieren, ein Konzept, das in der Planungsphase der Konferenz von Bretton Woods 1944 wiederaufgegriffen wurde (Walter 1993:156). Zudem war es ein frühes Indiz einer Kooperation der westlichen Demokratien in einer Phase, als zum Beispiel das NS-Regime in Deutschland die Errichtung eines „informellen" deutschen Imperiums in Südosteuropa und gleichzeitig damit eines auf bilateralen Verträgen beruhenden Großwirtschaftsraumes mit eigenen Devisenbestimmungen, Zollpräferenzen, Verrechnungsmodalitäten, Wechselkursen und Regelungen beim Warenaustausch betrieb. Darüber hinaus drang die deutsche Politik darauf, in direkter Konkurrenz zu den USA insbesondere auch Staaten Lateinamerikas über Waffenexporte in ihr Wirtschafts- und Handelssystem einzugliedern (Schröder 1970; Boelcke 1994:94ff). Die internationale Währungskrise, für die die Abwertung des britischen Pfundes 1931 das signifikanteste Kennzeichen war, spielte eine entscheidende Rolle dabei, daß sich verschiedene regionale und sektorale Krisen zur Großen Depression vereinigten. Dies läßt sich für ein „Land der Peripherie" unter anderem am Beispiel Indiens skizzieren. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges schien der britisch-indische Staat noch kaum erschütterbar. Die globalen Umbrüche ab 1914 wirkten sich jedoch auch auf ihn aus und betrafen nicht nur seinen Binnenmarkt und dessen Beziehungen zum Weltmarkt, sondern auch das Fundament der Kolonialherrschaft als Ganzes.
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In der Phase des Ersten Weltkrieges erfolgte zunächst eine Stärkung des Binnenmarktes gegenüber dem Weltmarkt. Die indische Industrie erhielt jenen Schutz, den ihr die Kolonialmacht zuvor weitgehend versagt hatte. Sie profitierte von Kriegsaufträgen und hatte Anteil am Kriegsgewinn. In Indien selbst stieg die Nachfrage nach Investitionsgütern, die aber aufgrund der Unterbrechung der internationalen Handelswege nicht ausreichend erfüllt werden konnte. Erst unmittelbar nach Kriegsende änderte sich hier die Situation, und Indien erlebte eine erhebliche Zunahme an Importen von Investitionsgütern. Zu den Profiteuren des Krieges zählten aber insbesondere die landbesitzenden Bauern. Sie verzeichneten durch die Nachfrage und die kriegsbedingte Inflation bei den Agrarpreisen im Unterschied zur Arbeiterschaft beachtliche Einkommenszuwächse. Als eine schlechte Ernte im Jahr 1918 eine weitere Verteuerung der Agrarprodukte auslöste, traf dies wiederum insbesondere die Arbeiterschaft. Die daraus resultierenden sozialen Unruhen verliehen unter anderem auch Mahatma Ghandis Bewegung des passiven Widerstandes gegenüber der britischen Kolonialmacht stärkeren Rückhalt. Die Agrarpreise blieben in Indien während der zwanziger Jahre hoch. Umso spürbarer wirkte sich die Weltwirtschaftskrise aus, in deren Verlauf diese Preise praktisch halbiert wurden. Diese Entwicklung traf Indiens Landwirtschaft deshalb besonders schwer, weil sie vielfach bereits keine reine Subsistenzlandwirtschaft mit geringen Marktverflechtungen mehr war. Die Bauern mußten trotz halbiertem Einkommen ihre Steuern und Kreditzinsen in unverminderter Höhe bezahlen. Hinzu kam, daß die Gläubiger nicht mehr nur auf den Zahlungen der Zinsen beharrten, sondern auch das verliehene Kapital einforderten. Großhändler versuchten ihre Lagervorräte abzusetzen. Durch die Krise wurde der Markt für landwirtschaftliche Produkte in Indien auf Jahre hinaus beeinträchtigt, und bis zum Zweiten Weltkrieg trat auch keine Erhöhung der auf ein sehr tiefes Niveau gefallenen Preise ein. Das Besondere dabei war, daß nicht Angebot und Nachfrage die Preise bestimmten, denn am Volumen der Produktion und des Konsums von Nahrungsmitteln änderte sich in Indien wenig. Ein markantes Beispiel für dieses Phänomen bot der Reis. Dieses Produkt gab es im Unterschied zum Weizen auf dem Weltmarkt nicht im Überangebot. Es konnte auch weder in der Produktion noch im Konsum durch den Weizen ersetzt werden. Während der Preis für Weizen am Weltmarkt auch einbrach, blieb jener für Reis vorerst noch stabil. Im Oktober 1930 fiel allerdings der Preis für Reis in Japan um rund ein Drittel.
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Dies war den Ursachen nach vorwiegend ein innerjapanisches Phänomen, für das eine reiche Ernte und deflationäre Maßnahmen der Regierung, die Japan 1930 an den „Gold-Devisen-Standard" gebunden hatte, verantwortlich waren. Die Nachricht vom Preisverfall bei Reis in Japan führte jedoch dazu, daß auch der Preis für den indischen Reis sank. Zu Beginn des Jahres 1931 wurde Indiens Haupternte an Reis auf dem Markt nur noch zum halben Preis gehandelt. So wirkten regionale Entwicklungen global verunsichernd und beeinträchtigten den Handel mit Agrarprodukten und die dazu benötigten Kreditvergaben (Rothermund 1992). Trotz der 1927, 1929, 1931 und auch noch 1933 auf den großen internationalen Wirtschaftskonferenzen formulierten Appellen, die Prinzipien des freien Handels zu fördern, sah die politische Praxis anders aus. Drastische Zollerhöhungen schützten die Binnenmärkte vor ausländischer Konkurrenz, wobei vor allem die Landwirtschaft in vielen Ländern fast völlig aus der Marktwirtschaft herausgenommen und abgeschirmt wurde. Selbst die USA erschwerten den Zugang zu ihrem riesigen Binnenmarkt, als 1930 der Kongreß nach heftigen und kontroversiellen Debatten die „Hawley-Smooth-Act" beschloß. 1931/ 1932 rückte auch Großbritannien von seiner dem Freihandel verbundenen Haltung ab und konzentrierte sich auf den Binnenmarkt des Empires und der Staaten des Commonwealth. Im Hinblick auf Indien spielte dabei vor allem auch die Konkurrenz und Herausforderung durch Japan eine wesentliche Rolle. Wie viele andere Regierungen, so wertete auch die japanische im Dezember 1931 die Währung des Landes ab, um die Exporte durch Verbilligung auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig zu halten bzw. die Konkurrenz unterbieten zu können. Die Abwertung des Yen traf unter anderem auch die indische Textilindustrie, deren Vertretungen nunmehr Schutzzölle verlangten. Schon unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg hatte die britisch-indische Regierung die Stahlindustrie des Landes durch entsprechende Zölle vor deutscher und belgischer Konkurrenz abgesichert, gleichzeitig aber über bestimmte Vorzugszölle dem viel zu teuren britischen Stahl die Präsenz am Markt Indiens ermöglicht. Diese Strategie des „market sharing", das heißt, die Aufteilung des Marktes zwischen britischen und indischen Produkten einerseits und die Ausschaltung der Konkurrenz andererseits, kam nun auch für die Textilindustrie zur Anwendung. Darüber hinaus wurde dieser neue Protektionismus sogar innerhalb des Empire und des Commonwealth eingeführt, wenn „imperiale Interessen" auf dem Spiel standen. So wurde zum Beispiel der indische Weizen gegen australische Exporte im wesentlichen deshalb
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geschützt, weil das Hauptanbaugebiet für Weizen im Panjab lag, aus dieser Region aber gleichzeitig auch die meisten Soldaten der britischindischen Armee stammten. Anders verhielt es sich bei verarbeitetem Zucker. Indien baute zwar Rohrzucker in großem Ausmaß an, der verarbeitete Zucker kam jedoch als Importware zumeist aus Java. Im Jahr 1931 gewährte die Kolonialregierung der indischen Zuckerindustrie zunächst einen Schutzzoll, der eine weitere Ausdehnung des Anbaus von Rohrzucker und den raschen Aufbau einer eigenen Zuckerindustrie bewirkte. Schon 1937 hätte die indische Zuckerindustrie als Exporteur den Weltmarkt beliefern können. Doch diesmal erblickten darin die britischen Produzenten in der Karibik eine unerwünschte Konkurrenz. Das Weltzuckerabkommen von 1937 erklärte Indien dann auch zum Importeur von Zucker und gestand keine Exportquoten zu (Rothermund 1995:193ff). Im Laufe der dreißiger Jahre setzte sich schrittweise die Überzeugung durch, daß es zur Bekämpfung der Krise einer Neudefinition der Rolle des Staates im Sinne eines wirtschaftspolitisch aktiven und interventionistischen Systems bedurfte. Der britische Ökonom John Maynard Keynes lieferte mit seinem 1936 erschienenen Buch „The General Theory of Employment, Interest and Money" dazu den theoretischen Rahmen. Danach sollte auch über den Weg des „deficit spending" durch staatliche oder staatlich geförderte Maßnahmen die Vollbeschäftigung erreicht und damit wiederum die Nachfrage nach Gütern gesteigert werden, ein Prozeß, der schließlich die Produktion wieder in Gang bringen würde. In der Praxis vollzog sich diese Entwicklung in den einzelnen Ländern in ganz unterschiedlichen Kontexten und wurde im Prinzip erst möglich, als ein Austausch der politischen Eliten stattgefunden hatte. In den USA hatten noch Präsident Herbert Hoover (1929-1933) und seine Staatssekretäre auf die Fähigkeit der Wirtschaft zur Selbstregulierung vertraut und ein „big government" abgelehnt, weil sie darin mehr eine Gefahr für die liberalen Freiheiten als ein Instrument der Rettung aus der Depression sahen. Unter Franklin D. Roosevelt setzte schrittweise ein Umdenken ein. Aber auch Roosevelt versuchte nach einer Reihe von interventionistischen Maßnahmen während seiner ersten Amtsperiode, am Beginn seiner zweiten Administration das Wahlversprechen von 1936 einzuhalten und durch Kürzungen der Staatsausgaben ein ausgeglichenes Budget zu erstellen. Die USA gerieten jedoch neuerlich in eine schwere Depression mit steigender Arbeitslosigkeit; eine Krise, die durch staatliche Intervention gemildert wurde. In Frankreich, wo der Goldstandard am läng-
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sten beibehalten wurde, kam der Umschwung 1936 mit der Volksfrontregierung unter Léon Blum, in Deutschland mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 (Eichengreen/Temin 2000:205). Die neue Rolle des interventionistischen Staates bezog sich allerdings auf viele Bereiche, darunter auch auf das Verhältnis von Kapital und Arbeit. Schweden begann in der Phase der Wirtschaftskrise mit dem Aufbau des Wohlfahrtsstaates. In den USA bedeuteten die Maßnahmen des New Deal eine Aufwertung der Gewerkschaften und ein Nachziehen gegenüber Europa in sozialgesetzlicher Hinsicht. Zur gleichen Zeit erfolgte jedoch in faschistischen Ländern durch die Staatsmacht vielfach ein Abbau sozialer Errungenschaften, wie sie nach 1918 hatten durchgesetzt werden können. Das System von Bretton Woods
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Noch vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges, als sich der militärische Sieg der Allianz der „Vereinten Nationen" allerdings bereits abzeichnete, wurden Schritte hinsichtlich einer neuen internationalen Währungsordnung gesetzt, wobei die negativen Erfahrungen mit dem Wirtschaftsund Währungssystem der Zwischenkriegszeit eine wesentliche Rolle spielten. Insbesondere sollten einseitige Abwertungen von Währungen zur Verbesserung der Wettbewerbschancen am Markt verhindert werden. Im Juli 1944 trafen sich Delegierte aus mehr als 40 Staaten in Bretton Woods im US-Bundesstaat New Hampshire, um die Grundlagen einer neuen Ordnung zu beraten. Federführend waren dabei die USA und Großbritannien mit ihren jeweiligen führenden Experten Harry Dexter White und John Maynard Keynes. Beide stimmten in vieler Hinsicht überein, vertraten manchmal aber auch sehr unterschiedliche Auffassungen, wobei sich hier der realen Machtverteilung entsprechend die USA durchsetzten. Weit mehr noch als im Ersten hatte sich im Zweiten Weltkrieg im Lend-Lease-Verfahren die finanzielle Abhängigkeit Großbritanniens von den USA gezeigt (Ponting 1999:260f). Das Bretton Woods-Abkommen wurde 1944 von 35 Staaten ratifiziert. Durch neuerlich festgelegte Wechselkurse - Keynes hatte demgegenüber flexible Wechselkurse vorgeschlagen - wollte man die Stabilität des Systems erreichen. Jedes Mitgliedsland legte fixe Paritäten für seine Währung fest, die in Gold oder Dollar zu definieren waren. Damit wurde der Dollar als die Währung der führenden Wirtschaftsmacht auch als die Leitwährung des neuen Systems bestimmt und eine Einlösepflicht gegenüber dem Gold mit 35 Dollar je Unze Feingold festgelegt. Schwankungen bei den Wechselkursen waren nur innerhalb einer Bandbreite
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von +/- 1 Prozent zulässig. Darüber hinausgehende Änderungen waren nur bei „gravierenden Ungleichgewichten" in der Zahlungsbilanz gestattet und an die Zustimmung des „Internationalen Währungsfonds" (IMF) gebunden. Der IMF stellte für diese Fälle kurzfristig finanzielle Mittel zur Verfügung, die aus einem Fonds stammten, den die einzelnen Mitgliedsländer durch Beiträge entsprechend ihrem Volkseinkommen, ihren Währungsreserven und ihrem Außenhandelsvolumen errichteten. Die Höhe des Beitrages bestimmte auch die Stimmrechtsanteile des jeweiligen Landes sowie das Ausmaß eines eventuellen Kredites, der jedoch mit der Verpflichtung zu einem „Stabilisierungsprogramm" verbunden war. Die zweite in Bretton Woods gegründete Institution war die „International Bank for Reconstruction and Development". Dieser „Weltbank" kam die Vergabe langfristiger Kredite für kriegszerstörte oder industriell noch wenig ausgebaute Länder zu. Mit der Errichtung von IMF und „Weltbank" hatten sich ebenfalls die USA durchgesetzt, der Vorschlag von Keynes war in Richtung einer einzigen supranationalen Zentralbank gegangen. Die Prinzipien und Ziele der in Bretton Woods geschaffenen neuen internationalen Währungsordnung waren feste Wechselkurse, die Konvertierbarkeit der Währungen, die Goldeinlösepflicht für die Leitwährung, außenwirtschaftliche Gleichgewichte und die Ausweitung der Handelsbeziehungen durch entsprechende Liquidität. Mit Kriegsende verfügten die USA, deren Währung gleichzeitig auch die Leitwährung des neuen Systems war, über einen Großteil der globalen Goldreserven. Wenn nun Staaten den Verpflichtungen von Bretton Woods beitraten, dann hatten ihre Zentralbanken Gold oder konvertierbare Währungen als Reserven zu halten. Diese Wiederbelebung eines Elementes des „Gold-Devisen-Standards" der zwanziger Jahre war de facto ein „Dollar-Standard", da wenige Länder außer den USA über genügend Goldreserven verfügten. Das System trat offiziell 1946 in Kraft und stand grundsätzlich jedem Staat offen. Im Kontext des Ost-West-Konfliktes beteiligte sich die Sowjetunion allerdings nicht daran, obwohl sie an der Konferenz im Juli 1944 teilgenommen und auch große Zugeständnisse als Gegenleistung für die Anerkennung der von den nordatlantischen Demokratien USA und Großbritannien vorgeschlagenen Struktur der neuen Währungsordnung erhalten hatte. Auch die im Einflußbereich der Sowjetunion liegenden Staaten folgten diesem Beispiel oder schieden in den ersten Jahren wieder aus. Erhebliche Probleme bei der Erfüllung der Standards traten aber auch in Frankreich und Großbritannien auf. Beide Staaten waren durch den Krieg ökonomisch und finanziell sehr geschwächt und in
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hohem Maße von den USA abhängig. So scheiterte 1947 zunächst auch der Versuch, die Konvertierbarkeit des britischen Pfundes den Regeln von Bretton Woods zu unterwerfen; ein Faktum, das auch auf eine Reihe von anderen Staaten zutraf. Mit der schrittweisen Durchsetzung des Systems traten Anfang der fünfziger Jahre auch die früheren Kriegsgegner der Alliierten, Deutschland (Bundesrepublik) und Japan, dem IMF bei sowie auch zahlreiche neue Staaten, die im Zuge der Entkolonialisierung ihre politische Selbständigkeit erlangt hatten. Für diesen Schritt spielte es eine entscheidende Rolle, daß die Mitgliedschaft im IMF Voraussetzung für den Beitritt zur „Weltbank" war. Die Mitglieder- und Binnenstruktur, wonach zum Beispiel die Stimmrechtsanteile sich nach der Höhe der eingezahlten Beiträge richteten und damit nicht, wie in der UNO, das Prinzip ein Land - eine Stimme herrschte, machte den IMF von Anfang an zu einer westlich dominierten internationalen Organisation. Der Imperialismus als direkte Herrschaftsausübung wurde durch den Zweiten Weltkrieg erheblich erschüttert und kam zunächst, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in Asien und später auch in Afrika zu einem Ende. Über Institutionen wie IMF und „Weltbank", auf die die UNO wenig konkreten Einfluß hatte, transformierte er sich in eine mehr informelle Form. LITERATUR Adams, Francis (2000): Dollar Diplomacy. United States Economic Assistance to Latin America. Aldershot: Ashgate Appadurai, Arjun (1997): Modernity at Large. Minneapolis: University of Minnesota Press Barker, Pat (1991): Regeneration. London: Viking Barker, Pat (1993): The Eye in the Door. London: Viking Barker, Pat (1995): The Ghost Road. London: Viking Beyrau, Dietrich, Hg. (2000): Im Dschungel der Macht. Intellektuelle Professionen unter Stalin und Hitler. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Boelcke, Willi A. (1994): Deutschland als Welthandelsmacht 1930-1945. Stuttgart: Kohlhammer Brown, Ian, Hg. (1989): The Economies of Africa and Asia in the Inter-war Depression. London: Routledge Costigliola, Frank (1972): The Other Side of Isolationism. The Establishment of the First World Bank 1929-1930. In: American Historical Review 59: 602-629 Costigliola, Frank (1984): Awkward Dominion. American Political, Economic and Cultural Relations with Europe, 1919-1933. Ithaca: Cornell University Press Dobson, Alan P. (1995): Anglo-American Relations in the Twentieth Century. London: Routledge Edelmayer, Friedrich/Hausberger, Bernd/Weinzierl, Michael, Hg. (1996): Die beiden Amerikas. Die Neue Welt unter kolonialer Herrschaft. Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel/Südwind
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AUTORINNEN
UND
AUTOREN
Walther L. Bernecker Dr., Professor für Neuere Geschichte (Auslandswissenschaft) an der Universität Erlangen-Nürnberg Friedrich Edelmayer Dr., Professor für Neuere Geschichte an der Universität Wien Silke Hensel Dr., Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Iberischen und Lateinamerikanischen Abteilung des Historischen Seminars an der Universität zu Köln Herbert Knittler Dr., Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien Erich Landsteiner Dr., Assistenzprofessor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien Ulrich Mücke Dr., Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Lateinamerikanische und Südwesteuropäische Geschichte an der Universität Erfurt Renate Pieper Dr., Professorin für Allgemeine Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Karl-Franzens-Universität Graz Nikolaus Reisinger Dr., Assistent für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Karl-Franzens-Universität Graz Eduard Staudinger Dr., Assistenzprofessor für Zeitgeschichte an der Karl-Franzens-Universität Graz Helfried Valentinitsch Dr., Professor für Allgemeine Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit an der Karl-Franzens-Universität Graz
QUERSCHNITTE 6
Vom Mittelmeer zum Atlantik Die mittelalterlichen Anfänge der europäischen Expansion Peter Feldbauer, Gottfried Liedl, John Morrissey (Hg.)
INHALT P e t e r Fe 1 d b a u e r / G o 1 1 f r i e d L i e d l / J o h n M o r r i s s e y Einleitung Janet Lippmann Abu-Lughod Das Weltsystem im dreizehnten Jahrhundert: Sackgasse oder Wegweiser? Ingolf Ahlers Die Kreuzzüge. Feudale Kolonialexpansion als kriegerische Pilgerschaft John M o r r i s s e y Die italienischen Seerepubliken Peter Feldbauer/John Morrissey Italiens Kolonialexpansion - östlicher Mittelmeerraum und die Küsten des Schwarzen Meeres Gottfried Liedl Die andere Seite der Reconquista: Islamisch Spanien im Wirtschaftsraum des Spätmittelalters Peter Feldbauer Die islamische Welt seit der Jahrtausendwende Jean-Paul Lehners Die Anfänge der portugiesischen Expansion Ferdinand Gschwendtner Reconquista und Conquista: Kastilien und der Ausgriff nach Amerika Manfred Pittioni Kaproute und Osmanisches Reich - Ein Welthandelskrieg der Neuzeit Peter Feldbauer Portugal in Asien Bernd Hausberger Die Eroberung Amerikas durch die Spanier (1492-1572) Herbert Frey Die Europäisierung Europas und die Okzidentalisierung der Welt
BESTELLADRESSE: Verlag für Geschichte und Politik, Neulinggasse 26, A-1030 Wien
QUERSCHNITTE Einführungstexte zur Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte Bd. 1: 1848 im europäischen Kontext Helgard Fröhlich, Margarete Grandner, Michael Weinzierl (Hg.) ISBN 3-85132-209-6, Wien 1999 Bd. 2: Von der mediterranen zur atlantischen Macht. Geschichte der europäischen Expansion bis in die frühe Neuzeit Peter Feldbauer, Gottfried Liedl, John Morrissey (Hg.) ISBN 3-85132-226-6, Wien 1999 Bd. 3: Neue Geschichten der Sexualität. Beispiele aus Ostasien und Zentraleuropa 1700-2000 Franz X. Eder, Sabine Frühstück (Hg.) ISBN 3-85132-241-X, Wien 2000 Bd. 4: Die europäische Stadt in der frühen Neuzeit Herbert Knittler ISBN 3-7028-0370-X, ISBN 3-486-56504-4, Wien 2000 Bd. 5: Die Geschichte des europäischen Welthandels und der wirtschaftliche Globalisierungsprozeß Friedrich Edelmayer, Erich Landsteiner, Renate Pieper (Hg.) ISBN 3-7028-0375-0, ISBN 3-486-56536-2, Wien 2001 Bd. 6: Vom Mittelmeer zum Atlantik. Die mittelalterlichen Anfänge der euopäischen Expansion Peter Feldbauer, Gottfried Liedl, John Morrissey (Hg.) ISBN 3-7028-0376-9, ISBN 3-486-56537-0, Wien 2001 In Planung: Die politische Ökonomie des Holocaust Dieter Stiefel (Hg.) Umweltgeschichte Sylvia Hahn, Reinhold Reith (Hg.)
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