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Raimund G. Philipp
Die Geschichte Chinas als Geschichte von Fetischverhältnissen
Raimund G. Philipp
Die Geschichte Chinas als Geschichte von Fetischverhältnissen Zur Kritik der Rückprojektion moderner Kategorien auf die Vormoderne: ausgehendes Neolithikum, die drei Dynastien
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„[D]ie Kritik [ist] keine Leidenschaft des Kopfs, sie ist der Kopf der Leidenschaft.“ (Karl Marx)
Robert Kurz
24.12.1943-18.07.2012 in memoriam
Inhalt Inhalt ......................................................................................................... 7 Vorwort .................................................................................................... 9 Einleitung ............................................................................................... 18 1. Die »Theorie der Geschichte als Geschichte von Fetisch-Verhältnissen« in Grundzügen ......................................... 36 Einleitung ......................................................................................... 36 Geschichte als Aporie...................................................................... 52 Vormoderne und moderne Fetischverhältnisse: Differenzen und Gemeinsamkeiten ............................................101 2. Die Grundkategorien des modernen warenproduzierenden Systems und ihre abgeleiteten Funktionselemente ...................134 Einleitung .......................................................................................134 Die Kategorie Arbeit......................................................................137 Die Kategorien Staat und Politik .................................................167 Die Kategorie Gesetz .....................................................................180 3. „Die Richtigstellung der Namen“ ................................................189 4. Zur Kritik der Rückprojektion moderner Kategorien auf die Vormoderne ......................................................................209 Einleitung .......................................................................................209
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Kurioses aus der Kunstsammlung der Ontologisierung und Rückprojektion moderner Kategorien auf die Vormoderne .................................................................................. 218 Eine unhaltbare These .................................................................. 222 Chang Kwang-chihs Obsession................................................... 229 Otto Frankes „Faden der beherrschenden Idee“, der keiner sein kann...................................................................... 335 Liu Li und Chen Xingcan: Modelle statt einer fundierten Theorie ........................................................................ 370 Liu Lis „methodologischer Individualismus“............................ 387 Li Fengs Darstellung des komplexen Pantheons der Shang- und Zhou-Dynastie ................................................... 431 5. Theorie ist nicht alles, aber ohne Theorie ist alles nichts ....... 453 Literaturverzeichnis ............................................................................ 473 Personenverzeichnis ........................................................................... 492 Sachregister.......................................................................................... 496
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Vorwort Die Geschichte Chinas als Geschichte von Fetischverhältnissen basiert auf der Theorie der Geschichte als Geschichte von Fetischverhältnissen. Ihr Urheber ist Robert Kurz. Kurz hat den Marxschen Begriff des Fetischs aufgegriffen und zu einer Theorie weiterentwickelt: „Der Marxsche Begriff des Fetischs, konzipiert für den realmetaphysischen Charakter der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise als spezifischer Waren-, Kapital- und Rechtsfetisch, konnte so als Überwindung der soziologistisch und herrschaftstheoretisch verkürzten marxistischen Geschichtstheorie auf die bisherigen historischen Formationen bezogen werden, ohne außer Acht zu lassen, dass es sich dabei um jeweils ganz verschiedene Fetischverhältnisse gehandelt hat, deren je eigener Charakter erst zu untersuchen wäre. Der Marxsche Geschichtsmaterialismus (als Umdeutung oder ‚Umstülpung‘, aber auch Verlängerung der Hegelschen Geschichtsmetaphysik) einschließlich des Begriffs einer ‚Geschichte von Klassenkämpfe‘ stellt aus dieser Sicht eigentlich nur eine Transposition der modernen kapitalistischen Konstitution in die Geschichte dar. Eine ‚Geschichte von Fetischverhältnissen‘, so der bisherige Stand der neuen Theoriebildung, wäre etwas anderes: nämlich eine über Marx hinausgehende Kritik der modernen Geschichtsphilosophie, eine Kritik an der Idee eines fortschreitenden, in 9
sich kohärenten und ontologisch verankerten Aufstiegs von historischen Formationen, wie sie seit der späten Aufklärung als ‚Entwicklungsgeschichte der Menschheit‘ dargestellt wird.“1
Der grundlegende Vorteil gegenüber allen anderen geläufigen Geschichtstheorien besteht darin, dass abstrakt-allgemeine Kriterien entwickelt wurden, die es ermöglichen, jede Epoche der Menschheitsgeschichte und jede Kultur zu analysieren. Doch Robert Kurz warnt: „Es handelt sich bei diesem Konzept um eine notwendige geschichtstheoretische Abstraktion, die erst durch das historische Material durchgehen muss und nicht unabhängig davon zu beliebigen Schnellschuss-Hypothesen führen kann, schon gar nicht zu einer umfassenden Epochengliederung nach Art der positivistischen Evolutionstheorien oder des ‚Histomat‘“ (Kurz 2007, S. 12; Hervorhebung Kurz).
Hier soll ein erster Versuch unternommen werden, diese abstraktallgemeinen Kriterien auf einen konkreten Gegenstand, das „vorchinesische“ Neolithikum und das der drei Dynastien (Xia, trad. 2205-1767 v. u. Z.; Shang, 16-11. Jh. v. u. Z.; Westliche Zhou 1045-771 v. u. Z.), anzuwenden.2 Dabei geht es nicht in erster Linie um die 1
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Kurz, Robert 2006. Geschichte als Aporie. Vorläufige Thesen zur Auseinandersetzung um die Historizität von Fetischverhältnissen. Erste Folge, S. 2 (Hervorh. Kurz). http://exit-online.org/druck.php?tabelle=aktuelles& posnr=207, S. 1-11. Stand: 22.09.2006. Nachfolgend wird Geschichte als Aporie zitiert als „Kurz 2006“ bzw. „Kurz 2006a“ und „Kurz 2007“. Wenn hier vom „vor-chinesischen“ Neolithikum bzw. dem „Vor-China“ oder ähnlichen Formulierungen gesprochen wird, dann deshalb, weil nach Ansicht vieler Sinologen es erstmals in der Zhou-Dynastie zu einer relativen Vereinheitlichung der regionalen Kulturen kam, die dann von der Qin- und Han-Dynastie (221-207 v. u. Z. bzw. 206 v. u. Z.-220 u. Z.) 10
Analyse der damals existierenden Fetischverhältnisse, die werden selbstverständlich zur Illustration und Verdeutlichung herangezogen, sondern um eine Kritik der Rückprojektion und Ontologisierung moderner Kategorien auf die Vormoderne. Natürlich kann hier nicht das ganze Neolithikum des „Vor-China“ bzw. die dazu erschienene Literatur behandelt werden. Für einen ersten Versuch reicht es, exemplarisch auf die transhistorisch ontologisierende Rückprojektion moderner Kategorien auf diese Epochen hinzuweisen, wobei so manch Wunderliches ans Tageslicht kommt. Es besteht nämlich eine grundlegende Differenz zwischen der Vormoderne und der Moderne, die von den Historikern und Vertretern anverwandter Wissenschaftszweige, egal welcher Couleur und unabhängig davon, aus welchem Kulturkreis sie stammen, nicht in der letzten Konsequenz wahrgenommen wird, wie dies eigentlich nötig wäre. Die vormodernen Sozietäten waren mindestens seit der Steinzeit bis hin zur beginnenden Neuzeit allesamt »religiös« konstituiert, in welcher Form auch immer. Es herrschte das »transzendente göttliche Prinzip« (Kurz), der »Glaube an übersinnliche Kräfte und Mächte, der die Daseins- und Lebensverhältnisse der Menschen objektiv beherrschte und bestimmte«, wie eindrucksvoll belegt werden kann. Mit der allmählichen Entwicklung des Kapitalverhältnisses im 15. Jahrhundert verliert das »transzendente göttliche Prinzip« langsam aber sicher seine objektive Daseinsberechtigung: „In der Moderne verschiebt sich die Fetisch-Konstitution von der transzendent verankerten ‚Gottesbeziehung‘ zur weltimmanenten Wertverwertung (...). Dabei handelt es sich jedoch um eine paradoxe ‚immanente Transzendenz‘, denn die Wertabstraktion als gesellschaftliche Realabstrak-
vollendet wurde, so dass ab der Qin-Herrschaft von China gesprochen werden kann. 11
tion ist nicht weniger ‚übersinnlich‘ als die ganz andere ‚Gottesabstraktion‘. Dieses übersinnliche Wert-Wesen (wie es Marx im Fetischkapitel bestimmt) der qua kapitalistischer Wertverwertung zur offiziellen allgemeinen Reproduktionsform gemachten Warenform ist aber nicht in derselben Weise transzendent wie die vormoderne ‚Gottessphäre‘, sondern ‚diesseitig‘ inkorporiert in die materiellen Warenkörper und damit ‚versachlicht‘. Deshalb konnte die optische Täuschung entstehen, die moderne Gesellschaft sei nicht mehr metaphysisch konstituiert, während tatsächlich die vormoderne religiöse Jenseits-Metaphysik abgelöst wurde durch die moderne Diesseits-Metaphysik des Wert-Abspaltungsverhältnisses“ (Kurz 2006a, S. 14; Hervorh. Kurz).
Wir haben es also in der Moderne mit gänzlich anderen »Fetischverhältnissen« zu tun als mit denen, die in der Vormoderne existierten. Kategorien wie abstrakte Arbeit, Arbeit überhaupt, Wert, geschlechtliche Abspaltung,3 Ware, Geld, Staat und Politik etc., die erst durch das moderne warenproduzierende Patriarchat entstanden sind und mit diesem auch überwunden werden, hatten in der Vormoderne gar keine gesellschaftliche Allgemeingültigkeit, oder sie haben gar nicht existiert. Das heißt, die vormodernen »religiös konstituierten Sozietäten« waren anders konfiguriert als die kapitalistische Gesellschaftsformation. Dies wird von den Vertretern der entsprechenden Zünfte – Archäologen, Historikern, Sinologen etc. – regelmäßig außer acht gelassen. Ursprünglich war geplant, alle modernen Kategorien, die transhistorisch auf die Vormoderne rückprojiziert und ontologisiert werden, 3
Zum Wert-Abspaltungsverhältnis vgl. Scholz, Roswitha 2000. Das Geschlecht der Kapitalismus. Feministische Theorien und die postmoderne Metamorphose des Patriarchats, zweite Auflage, Bad Honnef. 12
einer radikalen Kritik zu unterziehen. Es stellte sich bei der Lektüre der einschlägigen Werke sehr schnell heraus, dass dieses Vorhaben in einer Abhandlung aus mehreren Gründen nicht zu realisieren war. Denn für viele Sinologen4 bzw. ihre überwiegende Mehrheit stand der verzweifelte Nachweis, dass es im ausgehenden „vor-chinesischen“ Neolithikum – genauer: in der späten Longshan-Periode (ca. 24001900 v. u. Z.) – zu so etwas wie einem Staatsbildungsprozess gekommen sein soll, absolut im Vordergrund. In den drei Dynastien soll er dann Realität geworden sein.5 Es reicht den Sinologen offensichtlich nicht, dass dieses Land die einzige Hochkultur ist, die trotz aller Wirrnisse – mehrfache Spaltung des Reiches, Eroberung durch Fremdvölker, halbkolonialer Status bedingt durch die Gelüste der damaligen imperialistischen Mächte Europas, den USA, Rußlands und Japans – mindestens 3.000 Jahre Bestand hatte (von der Westlichen Zhou aus gesehen), nein, es muss ein weiterer roter Faden in die Geschichte dieser Zivilisation implementiert werden. Mit tätiger und kenntnisreicher Mithilfe der Sinologen – nur bedingt erkenntnistheoretischer Art, worauf noch zu kommen sein wird – lässt sich eindeutig zeigen, dass das Neolithikum des „Vor-China“ »religiös« konstituiert war. Das »transzendente göttliche Prinzip« war das herrschende. Die Widerlegung der Behauptung, dass Staat und Politik charakteristisch für die drei Dynastien war, nimmt soviel Raum ein, dass die radikale Kritik an den wesentlichen Grundkategorien der Moderne, 4
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Wenn von Sinologen die Rede ist, sind damit alle Vertreter der Disziplinen zu verstehen, die sich auf die eine oder andere Weise mit dem »Reich der Mitte« beschäftigen, also Archäologen, Historiker, Kunsthistoriker etc. Bisher habe ich noch keine Abhandlung gefunden, die nicht auf die eine oder andere Weise den drei Dynastien einen Staat und damit auf der anderen Seite der Medaille Politik andichten wollte, bezogen auf den hier genannten Untersuchungszeitraum. 13
die transhistorisch rückprojiziert und ontologisiert werden, den Rahmen dieser Abhandlung gesprengt hätte. Hinzu kommt, dass manche dieser modernen Kategorien so selbstverständlich auf die Vormoderne angewandt werden, wie z. B. der Begriff der Arbeit, als würden sie zur Natur des Menschen gehören, anstatt diese Kategorien als Zwangsverhältnisse der Moderne zu dechiffrieren. Damit ist nicht gesagt, dass die Menschen der Antike, egal in welcher Kultur sie zu Hause waren, im Paradies gelebt hätten, im Gegenteil: „Die andere realmetaphysische Konstitution der vormodernen Sozietäten brachte aber auf ihre eigene Weise brutale Zwänge, Friktionen, Machtverhältnisse, Kriege, Elend usw. hervor, eben weil sie keineswegs auf einer ‚strikten Materialität‘ im Sinne gemeinschaftlich-selbstbestimmter Reproduktion beruhte, sondern auf einer metaphysischen Transzendenz-Bestimmung“ (Kurz 2007, S. 11; Hervorh. Kurz).
Nichtsdestotrotz wird beispielhaft auf diese modernen Kategorien eingegangen werden müssen, wenn sie das »transzendente göttliche Prinzip« berühren, wie u. a. die Akkumulation von Reichtum oder dass die vormodernen Sozietäten eine Ökonomie gehabt haben sollen. Die radikale Kritik an der transhistorischen Rückprojektion der modernen Kategorien Staat und Politik hat Konsequenzen zur Folge. Einerseits werde ich zu Redundanzen durch jene Autoren gezwungen, die der Auffassung sind, dass ein so genannter Staatsbildungsprozess in der Longshan-Kultur in der Entwicklung begriffen war. Obwohl die Sinologen z. T. äußerst ausführlich das »transzendente göttliche Prinzip« phänomenologisch richtig erfassen (ohne diesen Ausdruck zu gebrauchen), ziehen sie daraus falsche Schlüsse. Sie „springen“ vom »transzendenten göttlichen Prinzip« zum transzendentalen. Zwei Beispiele sollen hier vorab angeführt werden: einmal soll die
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Quelle der politischen Macht ihrer Auffassung nach aus dem »exklusiven Zugang der Herrschenden zu den übersinnlichen Kräften und Mächten« herrühren, zum anderen – dialektisch vermittelt – soll die monopolisierte Kontrolle über Ressourcen – Rohstoffe, aus denen die »rituellen Bronzen« hergestellt wurden – eine Entwicklung befeuert haben, die in der Etablierung eines Staates mündete und somit wiederum die Kategorie Politik hervorgebracht haben soll. Mit anderen Worten, sie können die Differenz zwischen dem »transzendenten« und dem transzendentalen Prinzip gar nicht erfassen, da ihnen eine kohärente und konsistente theoretische Grundlage fehlt. Um ihre vermeintlichen Beweise, dass in der Vormoderne schon moderne Kategorien existiert haben, zu widerlegen, müssen die abstrakt-allgemeinen Kriterien der Theorie der Geschichte als Geschichte von Fetischverhältnissen eben immer wieder in Stellung gebracht werden. Dass dann hier und da Zitate und Formulierungen wiederholt vorgebracht werden, erfolgt also gezwungenermaßen. Andererseits sind diese Redundanzen auch bis zu einem gewissen Grad gewollt, denn allem Anschein nach sind die Sinologen (aber nicht nur diese) gegenüber einer kohärenten und konsistenten Theorie resistent. Um es mit Marx zu sagen: „[M]an muß diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt“ (MEW Bd 1, S. 381), und zwar immer und immer wieder! (RGP)
Die oben erwähnte Resistenz gegen – wahrscheinlich – jede Form von Theorie, soll an einer Begebenheit geschildert werden. In einem Gespräch mit einer Archäologin, der ich die hier vertretene Theorie in groben Zügen zu erklären versuchte (mit Hinweisen zur einschlägigen Literatur), bekam ich, nachdem sie mir mehr oder weniger interessiert zugehört hatte, zur Antwort, dass sie genügend andere 15
Baustellen hätte. Nun ist es so, dass die Archäologie eine praxisbezogene Wissenschaft ist, aber was nützen einem die schönsten Artefakte, wenn sie nicht in den historischen Kontext eingebunden werden können, wenn die Vertreter der genannten Wissenschaftszweige den Unterschied zwischen dem »transzendenten« und dem transzendentalen Prinzip nicht erkennen bzw. ignorieren und auch die Gemeinsamkeiten von Vormoderne und Moderne nicht zu bestimmen in der Lage sind, wie oben schon erwähnt und in dieser Abhandlung deutlich gezeigt werden kann. Die obigen Ausführungen lassen sich durchaus verallgemeinern: der akademische Wissenschaftsbetrieb sperrt sich gegen neue Theorieansätze, erst recht dann, wenn sie wie die vorliegende Theorie der Geschichte als Geschichte von Fetischverhältnissen nicht aus den eigenen Reihen kommt – und das betrifft sowohl die Vertreter des bürgerlichen Lagers als auch die so genannte akademische Linke. Hier sei ein konkretes Beispiel genannt. Klaus Kempter wollte seinen Aufsatz Die Bedeutung von Wertkritik und Wert-Abspaltungs-Kritik für die Geschichtswissenschaft. Zur fortbestehenden Relevanz von Karl Marx in einer geschichtswissenschaftlichen Fachzeitschrift veröffentlichen, dies ist ihn nur zum Teil gelungen, denn: „Eine stark gekürzte Fassung erschien unter dem Titel Robert Kurz, die ‚Wertkritik‘ und die radikale Gesellschaftstheorie oder Ist Karl Marx doch noch relevant für die Geschichte? schließlich in WerkstattGeschichte, Nr. 72, 2016, S. 65-76“ (Hervorh. Kempter).
Glücklicherweise wurde sein Aufsatz zur Gänze auf der exit!homepage veröffentlicht.6 6
Vgl. Kempter, Klaus 2017. Die Bedeutung von Wertkritik und WertAbspaltungs-Kritik für die Geschichtswissenschaft. Zur fortbestehenden Relevanz von Karl Marx. exit-online.org/pdf/Kempter-2017.pdf, S.1-22. 16
Hier ist noch eine Vorbemerkung angebracht. Wie oben erwähnt, mangelt es den Sinologen an einer fundierten Theorie, was zur Folge hat, dass sie nicht nur vormoderne und moderne Kategorien verwenden, vielmehr lassen sie, auch das wurde schon erwähnt, aus den »vormodernen Fetischverhältnissen« moderne Kategorien hervorgehen und dies ohne jeglichen stichhaltigen Beweis. Wenn an dieser Vorgehensweise vom Standpunkt der hier vertretenen Theorie radikale Kritik geübt wird, bezieht sich diese Kritik keinesfalls auf die Personen, deren Publikationen ich zur Analyse ausgewählt habe. Dazu noch einmal Marx: „Wir werden überhaupt im Fortgang der Entwicklung finden, dass die ökonomischen Charaktermasken der Personen nur die Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse sind, als deren Träger sie sich gegenübertreten“ (MEW 23, S. 100).
Abschließend muss noch auf einige Formalia hingewiesen werden. Die Publikationen und der Verweis auf einzelne Kapitel etc. werden kursiv gesetzt. Vormoderne Kategorien und Begriffe, die damit in Verbindung gebracht werden können, sind durch »... « gekennzeichnet, moderne Kategorien werden kursiv gesetzt. Begriffe, die sowohl auf die Vormoderne und auch auf die Moderne zutreffen, werden »kursiv« gekennzeichnet, z. B. »Fetischverhältnisse« als allgemeiner Oberbegriff – gedacht als kleine Hilfe, damit der geneigte Leser sich nicht im Dschungel der differenten Kategorien verläuft.
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Einleitung Im Vorwort zu seinem posthum veröffentlichten Essay Geld ohne Wert. Grundrisse zu einer Transformation der Kritik der politischen Ökonomie unternimmt Robert Kurz den Versuch, „verschiedene Argumentationsstränge einer grundlegenden Neuinterpretation der Kritik der politischen Ökonomie in einer Art Übersicht oder Gesamtschau vorzustellen“ (Kurz 2012, 7). Eigentlich, so Kurz, sind es „vier große Themen oder vielleicht auch Projekte“ (ebd.). „Erstens das Problem der vormodernen oder vorkapitalistischen Sozietäten, die in der qualitativen Eigenheit ihrer geringen Vergesellschaftung mit ganz spezifischen Beziehungsformen und damit ihrer grundsätzlichen Differenz zur negativen »ökonomischen« Vergesellschaftung der so genannten Moderne gefasst werden müssen. Deshalb verbietet sich im Gegensatz zur Aufklärungsvernunft und ebenso zum Marxismus eine transhistorische Bestimmung vermeintlich übergreifender Grundkategorien (»Arbeit«, Geldform, Warenform etc.), wie sie aus der bürgerlichen Geschichtsmetaphysik folgt. Zweitens der historische Konstitutionsprozess des Kapitals in der Frühmoderne, der als Übergangsform eine andere Logik bzw. eine andere Abfolge der Kategorien impliziert als das »fertige« Kapitalverhältnis. Drittens die Logik und der kategoriale Zusammenhang oder »Kreislauf« (Marx) des Kapitals als sein eigener Reproduktionsprozess oder »Gang in sich«, der sich aus einer 18
veränderten Sicht der Grundbestimmungen auch anders darstellt als in den gängigen Lesarten der Marxschen Theorie. Und viertens der innere Selbstwiderspruch und die logische innere Schranke der kapitalistischen Dynamik, die sich schließlich auch historisch als manifestes Resultat einer fortschreitenden Binnengeschichte des Kapitalfetischs aufrichten muss“ (ebd., S. 7f.; Hervorheb. Kurz).
Die vorliegende Abhandlung basiert auf dem von Kurz angesprochenen ersten Thema. Seine grundlegende Leistung besteht darin, eine kohärente und konsistente Geschichtstheorie entwickelt zu haben, die – Mit Marx über Marx hinaus7 – die Vorgeschichte der Menschheit im Sinne von Marx8 als eine Geschichte von Fetischverhältnissen definiert. Das Wissen, dass die Menschen wohl schon seit Urzeiten an 7
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Zum Exit!-Programm siehe Verein für kritische Gesellschaftswissenschaften (Hrsg.) 9/2007. Exit! Mit Marx über Marx hinaus. Kapitalismuskritik für das 21. Jahrhundert. Das theoretische Projekt der Gruppe „Exit!“, Verantwortlich für den Inhalt: Claus Peter Ortlieb, Kaiserslautern. „In großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden. Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, antagonistisch nicht im Sinn von individuellem Antagonismus, sondern eines aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Individuen hervorwachsenden Antagonismus, aber die im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfte schaffen zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus. Mit dieser Gesellschaftsformation schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab“ (MEW 13, 1975, S. 9; Hervorh. RGP). Erst mit der Überwindung aller Fetischformen beginnt die wirkliche menschliche Geschichte als eine von den Menschen bewusst gemachte (vgl. Kurz 2012, S. 72). 19
»übersinnliche Kräfte und Mächte« geglaubt haben – zumindest seit dem Mittelpaläolithikum lässt sich dieser »Glaube durch Artefakte« mehr oder minder präzise belegen (vgl. u. a. Müller-Karpe 2005, S. 15) -, ist nichts Neues. Allenthalben, es mangelte an einer theoretischen Fundierung. Dieses unstrukturierte Wissen hob Robert Kurz mit der Theorie der Geschichte als Geschichte von Fetischverhältnissen auf eine abstrakt-allgemeine theoretische Ebene und entwickelte damit Kriterien, die es ermöglichen, jede Epoche der Menschheitsgeschichte zu analysieren (dazu weiter unten). Schon in früheren Schriften geht Kurz auf die besonderen Beziehungsstrukturen vormoderner und moderner Gesellschaftsformationen ein, so meines Wissens zum ersten Mal 1993 in Subjektlose Herrschaft. Zur Überwindung einer verkürzten Gesellschaftskritik (Kurz 2004d). Dort heißt es: „Es wäre eine eigene Aufgabe, die historische Abfolge und Ausdifferenzierung von Fetisch-Systemen zu untersuchen. Die Geschichte wird unter diesem Gesichtspunkt nicht mehr übergreifend als ‚Geschichte von Klassenkämpfen‘ bestimmt (wie es noch dem Erkenntnisstand des ‚Kommunistischen Manifests‘ entspricht), sondern als ‚Geschichte von Fetischverhältnissen‘. Die Klassenkämpfe (und andere Formen sozialer Auseinandersetzung) verschwinden dadurch natürlich nicht, aber sie werden herabgesetzt zu einer Binnenkategorie von etwas Übergeordnetem, nämlich der subjektlosen Fetisch-Konstitution und ihren jeweiligen Codierungen bzw. Funktionsgesetzen. Die in der Gestalt des Kapitals zur gesellschaftlichen Reproduktionsform gewordene Warenform ist dann die letzte und höchste, den Raum der Subjektivität gegenüber der ersten Natur am weitesten hinausschiebende Fetischform“ (ebd., 184; Hervorh. Kurz).
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Eine erste systematische Darstellung erfuhr die Theorie der Geschichte als Geschichte von Fetischverhältnissen in seinem dreiteiligen Fragment Geschichte als Aporie. Vorläufige Thesen zur Auseinandersetzung um die Historizität von Fetischverhältnissen (Kurz 2006, 2006a, 2007). Fortgeführt wurde sie in einigen Kapiteln in dem oben schon erwähnten Essay Geld ohne Wert. Diese Theorie als radikale Kritik am modernen warenproduzierenden System schließt die Abspaltungskritik, die Subjektkritik (und demgemäß die Herrschaftskritik; RGP) und die Aufklärungskritik als „unverzichtbare Einheit [ein], keines der Momente ist ohne das andere möglich“ (Kurz 2004c, S. 112). Dadurch, dass die Geschichte der Menschheit als »Geschichte von Fetischverhältnissen« aufgefasst wird, eröffnet sich ein vollkommen neuer Zugang, die einzelnen Epochen – um im herrschenden Sprachgebrauch zu bleiben: die so genannte Vorgeschichte (inklusive eines so genannten Urkommunismus, die Antike, die Feudalgesellschaft und die Moderne) – unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten. „Wie die gewöhnliche Einteilung der Geschichte in Antike, Mittelalter und Neuzeit (der man sich aus Verständigungsgründen kaum entziehen kann) rein formal und völlig beliebig ist, denn auch schon die Antike und das Mittelalter hatten ihre eigene Antike bzw. ihr eigenes Mittelalter und waren ihre eigene Moderne (...). Es ist, als würde man die Vorgeschichte als ‚posttierisch‘, die Antike als ‚postprähistorisch‘, das Mittelalter als ‚postantik‘ und die Moderne als ‚postmittelalterlich‘ bezeichnen“ (Kurz 2014, S. 63; Hervorh. Kurz).
Die traditionelle Einteilung der Geschichte in Epochen oder Perioden (ein von Le Goff bevorzugter Begriff; vgl. Le Goff 2014) verschleiert das Wesentliche: Der Kampf der neuen gegen die alten »Fetischverhältnisse« ist ein langwieriger Prozess, der sich eben nicht an einem noch so bedeutsamen Geschichtsdatum festmachen lässt. Ins Auge 21
gefasst werden müssen nicht nur der »Stoffwechselprozess mit der Natur« (Marx) sondern auch die „verschiedene[n] gleichursprüngliche[n] Momente der Reproduktion“, wie die sozialen Beziehungen, kulturell-symbolische Formen, Reflexionsformen, Geschlechterverhältnisse etc. (vgl. Kurz 2007, S. 1f.). Dass diese methodische Vorgehensweise nicht einfach ist, ergibt sich aus dem prozesshaften Charakter des Kampfes des Alten gegen das Neue. Z. B. ist gerade die Analyse des „vor-chinesischen“ Neolithikums mit Schwierigkeiten behaftet. Zwar kann der »Stoffwechselprozess mit der Natur« (Jagd, Fischfang, Anbau von Getreide, Herstellung von nützlichen Gegenständen etc.) die sozialen Beziehungen (u. a. »blutsverwandtschaftliche Verhältnisse«, die »Organisation in Clans, Stämmen«), die »Entstehung von Herrschaftsverhältnissen«, die »kulturell-symbolischen Formen« (Skulpturen, die gottähnliche und/oder anthropomorphe Wesen darstellen, rituelle Gefäße usw.) und das »Geschlechterverhältnis« (z. B. der »Übergang vom Matriarchat zum Patriarchat«) durch archäologische Artefakte bis zu einem gewissen Grad rekonstruiert werden. Da es keine schriftlichen Zeugnisse aus dem Neolithikum gibt, lassen sich Reflexionsformen nur spekulativ erahnen. Insgesamt muss festgehalten werden, dass wir annähernd ein ungefähres Bild von den Daseins- und Lebensverhältnissen der neolithischen Menschen erzeugen können, aber:
„Wir befinden uns immer schon im Kontext des modernen Geschichtsbegriffs (selbst noch bei dessen Negation); und wir können nicht aus unserem historischen Standort hinausspringen, wir können die Vergangenheit nicht mit den Augen der vergangenen Menschen betrachten (und natürlich auch nicht der künftigen)“ (Kurz 2006, S. 5).
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Was wir aber von unserem heutigen Standpunkt aus können, ist die Vergangenheit kritisch zu reflektieren. Dies lässt sich mit der kohärenten und konsistenten Theorie der Geschichte als Geschichte von Fetischverhältnissen weitaus treffender bewerkstelligen als mit den vom Aufklärungsdenken beeinflussten handelsüblichen geschichtsphilosophischen Ansätzen, wie noch ausführlich zu zeigen sein wird. Wenn der Grundgedanke wahr ist, dass die bisherige Geschichte der Menschheit eine »Geschichte von Fetischverhältnissen« war und noch ist, wofür es in der bürgerlichen wie auch in der marxistisch angehauchten Literatur hinreichend Belege gibt, auch wenn der Begriff »Fetischverhältnis« dort nicht auftaucht, dann stellt sich allein die Frage, welche Entwicklung und Ausformung diese »Fetischverhältnisse« im Laufe der einzelnen Geschichtsperioden erfahren haben. Eine erste große Einteilung bezieht sich auf die grundlegende Differenz zwischen den »vormodernen« und den modernen »Fetischverhältnissen«. In der Vormoderne konstituierte das »transzendente göttliche Prinzip«, also der »Glaube an übersinnliche Kräfte und Mächte«, Sozietäten, in denen objektivierte Daseins- und Lebensverhältnisse herrschten, die von den Menschen bewußtlos hervorgebracht wurden, d. h., „unter dem Diktat eines blinden, verselbständigten, inhaltsfremden und realmetaphysischen Regelsystems“ (Kurz 2012, S. 72). In der Moderne wurde dieses »transzendente Prinzip« transformiert, d. h., die »Transzendenz« wurde durch das transzendentale Prinzip der Verwertung des Werts überwunden – Wertvergesellschaftung statt »Übersinnlichkeitsvergesellschaftung«. Es kann davon ausgegangen werden, dass sich spätestens seit dem Neolithikum in allen Teilen der Welt »religiös konstituierte Sozietäten« entwickelt haben, die je nach Kontinent, dort je nach kulturellen Ausprägungen, bedingt durch verschiedene Faktoren, wie z. B. Umwelt, Klima, etc. je spezifische Entwicklungen und Ausformungen angenommen haben. »Die Gemeinsamkeit der vormodernen Sozietäten besteht in der Existenz von Fetischverhältnissen«, die »Differenz 23
in der unterschiedlichen Ausformung«, ob diese nun marginal waren oder nicht, bedarf einer konkreten Untersuchung. In der einschlägigen Literatur über die so genannte Vorgeschichte der Menschheit, hier dem „vor-chinesischen“ Neolithikum, wird der Begriff »Fetischverhältnis« nicht verwendet, allenfalls taucht das Wort »Fetisch« auf, um damit ein »sakrales Artefakt« zu bezeichnen. Zwar gehen die Sinologen mehr oder weniger ausführlich auf den »Glauben an übersinnliche Kräfte und Mächte« ein, auf die Bedeutung und Rolle, die z. B. »Animismus«, »Schamanismus«, die »Gottheiten« »shangdi« und »tian« etc. gespielt haben, aber sie sehen in diesem »Glauben« nur einen Faktor neben anderen Faktoren, der/die das Leben der Menschen und deren soziale Entwicklung bestimmte. Dass der »Glaube« an ein »transzendentes göttliches Prinzip«, das eine Sozietät »religiös« konstituierte und damit die Daseins- und Lebensverhältnisse objektiv beherrscht, also eine »Realmetaphysik« hervorbringt, wobei diese »Fetischverhältnisse« zu einer »apriorischen Matrix« erstarren, die nicht mehr hinterfragt wird – auf diesen Trichter kommen sie nicht, denn es ermangelt ihnen an einer kohärenten und konsistenten Theorie. Abzulesen ist dies daran, dass die betreffenden Autoren vormoderne und moderne Kategorien mir nichts dir nichts durcheinander würfeln. D. h., es kommt ihnen gar nicht in den Sinn, zwischen »vormodernen« und modernen »Fetischverhältnissen« und den jeweiligen Kategorien zu differenzieren. So versteigen sich so ziemlich alle Sinologen zu der Behauptung, dass Staat und Politik eine wesentliche Rolle, wenn nicht gar die entscheidende in der Geschichte des ausgehenden „vor-chinesischen“ Neolithikums, der Bronzezeit etc. gespielt hätten (vgl. u. a. Chang 1983, Liu/Chen 2003, Liu 2004). Anders formuliert: bei der Lektüre der verschiedenen Abhandlungen über die genannten Epochen fällt unweigerlich die Rückprojektion moderner – verdinglichter, säkularer – Kategorien auf, die mit vormodernen – »personalen«, »sakralen« – Kategorien in einen Topf
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geworfen werden. Diese transhistorische Vorgehensweise ebnet die Differenz zwischen Vormoderne und Moderne ein. Nehmen wir als Beispiel die oben schon erwähnten modernen Kategorien Staat und Politik – verdinglichte Herrschaftsinstrumente des Kapitalverhältnisses (vereinfacht formuliert, vgl. dazu das Kapitel Die Grundkategorien des modernen warenproduzierenden Systems und ihre abgeleiteten Funktionselemente) -, Kategorien, die von den Sinologen hyperinflationär verwendet werden, um womöglich einen weiteren roten Faden in die mehr als 3.000 Jahre als Zivilisation einzuweben.9 Wenn dem so seien sollte, ist dieser Versuch überflüssig wie ein Kropf, denn die Besonderheit dieses Reiches besteht allein schon darin, dass es die einzige Hochkultur ist, die nie unterging und auch die Eroberung durch Fremdvölker (Yuan, 1271-1368; Qing, 1644-1911) mehr oder weniger unbeschadet überstand und im oben genannten Zeitraum kulturelle Errungenschaften und Erfindungen hervorbrachte, die in anderen Teilen der Welt z. T. erst Jahrhunderte später entwickelt bzw. erfunden wurden. Zu fragen ist also zuerst einmal, ob die Kategorien Staat und Politik in den klassischen Schriften – die z. T. erst mehrere Jahrhunderte oder noch später nach dem ausgehenden Neolithikum und den drei Dynastien (Xia, trad. 2205-1267 v. u. Z.; Shang, 16.-11. Jh. v. u. Z.; Zhou 1045-221 v. u. Z.) verfasst wurden – expressis verbis und in der Bedeutung auftauchten, die sie heute in der Moderne als abgeleitete Funktionselemente des Kapitalverhältnisses haben. Wohl kaum (vgl. dazu das Kapitel „Die Richtigstellung der Namen“)! Es stellt sich ferner die Frage, ob die Verfasser der einschlägigen Werke sich überhaupt Gedanken darüber gemacht haben, ob die damals lebenden Menschen des „vor-chinesischen“ Neolithikums bzw. der drei Dynastien 9
Hier sei angemerkt, dass einige Autoren davon ausgehen, dass erst in der Westlichen- Zhou-Zeit (1045-771) alle die Elemente ausgeformt wurden, die die chinesische Zivilisation ausmachen, so u. a. Otto Franke 1930. 25
sich als politisch agierende Personen verstanden haben, die überdies in einem Staat gelebt haben sollen und nicht in einem »religiös konstituierten Gemeinwesen«, dessen Vergesellschaftungsgrad im Gegensatz zur heutigen Zeit äußerst gering war. Anders formuliert: würde man einen im „vor-chinesischen“ Neolithikum bzw. in den drei Dynastien lebenden Bauern, Handwerker, Krieger oder gar einem »Schamanen« sagen – die Herrscher übten die »schamanistischen Rituale« höchstselbst aus (vgl. u. a. Chang 1983) -, dass er in einem Staat leben würde und er ein politisch geprägtes Individuum sei, er/sie würde(n) nicht nur verständnislos mit dem Kopf schütteln, sondern er/sie würde(n) sofort die »animistischen Geister, die Götter, den Himmel und die Ahnen« anrufen und um »göttlichen Beistand« bitten.10 Es gibt einen wesentlichen Grund, der es verbietet, von Staat und Politik zu reden, die angeblich schon seit dem ausgehenden Neolithikum existiert haben sollen: Die »Religion« war keine Ideologie, keine subjektive »Glaubensfrage« (vgl. Kurz 2012, S. 72), sondern konstituierte „reale Verhältnisse (...), also die jeweilige Reproduktion des irdischen menschlichen Lebens und seiner sozialen Zusammenhänge“ (ebd., S. 71). Um es noch deutlicher zu formulieren: Das »transzendente Gottesverhältnis« basierte auf dem »Opferverhältnis« und aus diesem „ist offenbar die Sozietät als solche entsprungen; die Opferhandlungen, die damit verbundenen Rituale etc. bilden die ursprüngliche Matrix sowohl für das Naturverhältnis als auch für das soziale Verhältnis“ (ebd., S. 73). Die aus einem „blinden, verselbständigten, inhaltsfremden und realmetaphysischen Regelsystem(s)“(ebd., S. 72) 10
Die Kategorien Staat und Politik bzw. politisch werden im Kapitel Die Grundkategorien des modernen warenproduzierenden Systems und ihre abgeleiteten Funktionselemente behandelt und in Zur Kritik der Rückprojektion moderner Kategorien auf die Vormoderne werden sie ausführlich diskutiert, wobei die unterschiedlichen Auffassungen zu Worte kommen. 26
entstandenen »Fetischverhältnisse« hatten ihre eigene „bestimmte Logik (...), [die] keine eigengesetzliche andere neben sich dulden konnte“ (ebd., S. 91) analog zum anders konfigurierten Kapitalverhältnis, das keine „alternative“ Wirtschaftsformen neben sich duldet. Sind sie einmal entstanden – z. B. die so genannten sharing economy, crowd funding oder „die Tauschidealisten als historische Idioten der Aufklärungsideologie“ (ebd., 412) – werden sie sofort dem Prozess der Verwertung des Werts unterworfen. Greifen wir noch einmal auf die obigen Kategorien Staat und Politik zurück. Während diese Kategorien mehr oder weniger gleichursprünglich mit dem Kapitalverhältnis – Staatsbildungskriege, Feuerwaffen-Ökonomie (Kurz) – entstanden sind und im Laufe des Durchsetzungs- und Aufstiegsprozesses zu dessen abgeleiteten Funktionselementen mutierten und seiner (des Kapitalverhältnisses) eigengesetzlichen Logik zu folgen hatten – Staat und Politik als verdinglichte Herrschaftsinstrumente, die den reibungslosen Produktionsprozess zu gewährleisten hatten (Infrastrukturmaßnahmen i. w. S. d. W.) – konstituierte das »transzendente göttliche Prinzip religiöse Sozietäten«, die auf dem »Opferverhältnis« basierten, dass bestimmte »Rituale« hervorbrachte, die durch den Herrscher vollzogen wurden – als »personifiziertes Herrschaftsverhältnis« -, der als »Stellvertreter Gottes« Mittler zwischen der weltlichen und der »übersinnlichen Sphäre« fungierte. Obwohl die Sinologen mehr oder weniger ausführlich auf die »rituellen Opferhandlungen« eingehen – »Menschen- und Tieropfer« z. B. bei den Shang, weitgehende »Substituierung« ersterer durch die Zhou – erkennen sie den tatsächlichen Charakter dieser Sozietät nicht, die »religiös« konstituiert war und ein gänzlich anderes »Fetischverhältnis« hervorbrachte, das seine eigene Logik hatte. Hier haben wir, wie oben schon erwähnt, erneut eine Gemeinsamkeit von Vormoderne und Moderne vor uns: keines dieser »Fetischverhältnisse«
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duldet andere eigengesetzliche neben sich (s. w. o.) Trotzdem kommen die Sinologen vollkommen unvermittelt zu der Schlußfolgerung, dass durch die »Religion« politische Macht entstanden sein soll. Da, wie schon erwähnt, die Sinologen, Historiker etc. über keinen kohärenten und konsistenten Theorieansatz verfügen – was die betreffenden Vertreter der einzelnen Fachgebiete natürlich anders sehen – muss hier die Theorie der Geschichte als Geschichte von Fetischverhältnissen in Grundzügen dargestellt werden. Da dieser Theorieansatz neueren Datums ist und zudem außerhalb des akademischen Wissenschaftsbetriebs entstand, dürfte er in diesem etablierten und erlauchten Kreis weitgehend unbekannt sein, zumal sich die akademische Honoratiorenschaft mehr oder weniger erfolgreich gegen außeruniversitäre und progressive Erkenntnisse abzuschotten weiß. Die Darlegung des Theorieansatzes wird durch offensichtlich existierende »Fetischverhältnisse« veranschaulicht, wobei auf die Differenzen und die Gemeinsamkeiten von »vormodernen« und »modernen Fetischverhältnissen« verwiesen wird. Die »vormodernen Fetischverhältnisse« des „vor-chinesischen“ Neolithikums wie die der drei Dynastien dienen als Beispiele, sie bedürfen einer eingehenden Untersuchung und Analyse im Kontext des betreffenden historischen Zeitraums, um sie in diesem Zusammenhang dechiffrieren zu können. Liu Li untersucht in ihrer Abhandlung The Chinese Neolithic. Trajectories to Early States bestimmte Regionen, wobei die Zeitspanne von 7000-1500 v. u. Z. umfasst, z. B. „the Peiligang culture (ca. 7000/6500-5000 BC) in Henan; the Yangshao culture (ca. 5000-3000 BC) in Henan, Shanxi, and Shaanxi; the Dawenkou culture (ca. 4100-2600 BC) in Shandong and northern Jiangsu; the Qujialing culture (ca. 3000-2600 BC) in Hubei and southern Henan; the early Longshan period (Miaodigou II culture, ca. 3000/2800-2600/2500 BC) in Henan, Shanxi, and Shaanxi; the Erlitou culture (ca. 1900-1500 BC) and Xiaqiyuan culture (ca. 1800-1500 BC) 28
in southern Shanxi, Henan, and southern Hebei; and Yueshi culture (ca. 1900-1500 BC) in Shandong and northern Jiangsu“ (Liu 2004, S. 16). Das ist in dieser Abhandlung nicht zu leisten. Dass diese »Fetischverhältnisse« tatsächlich existiert haben, wird auch von den Sinologen nicht bestritten, auch wenn sie den Begriff Fetischverhältnis nicht verwenden. Neues bringt bekanntlich die eingefahrenen Bahnen durcheinander und rüttelt an dem Selbstverständnis des akademischen Establishments. Aber vielleicht lässt sich durch die Darlegung bei dem einen oder anderen Vertreter der betreffenden Zünfte Interesse an diesem Ansatz wecken. Dies könnte dann dazu führen, dass das theoretische Defizit eventuell überwunden wird, das gerade bei den Sinologen offenkundig vorhanden ist, allerdings nicht nur bei diesen. Vielleicht lässt sich dieser oder jener dazu hinreißen, diesen Theorieansatz auf einen konkreten Untersuchungsgegenstand anzuwenden. Die unbestreitbare Qualität dieser Theorie besteht darin, dass ihr Urheber abstrakt-allgemeine Thesen oder Kriterien entwickelt hat, die es ermöglichen, die Besonderheiten von »vormodernen Sozietäten« einer bestimmten Zivilisation analysieren zu können. Die Bedingung ist, dass das historische Material in seiner Eigenlogik ernst genommen wird (vgl. Kurz 2006, S. 6), denn: „Das historische Material hat seine sperrige Eigenqualität, die nicht missachtet oder gewaltsam nach Maßgabe des eigenen Interesses gemodelt werden darf. Es verbietet sich also ein bloß deduktives, ontologisches, ableitungs- und identitätslogisches Vorgehen. Der Begriff einer ‚Geschichte von Fetischverhältnissen‘ enthält ja gerade (...) eine Kritik an diesem Vorgehen der klassischen modernen Geschichtsphilosophie“ (ebd.; Hervorh. Kurz).
Was haben nun vormoderne Sozietäten und die moderne Gesellschaftsformation gemein und worin unterscheiden sie sich? Der Un29
terschied zwischen der Vormoderne einschließlich der so genannten „Prähistorie“ und der Moderne besteht darin, dass in der ersten das »transzendente göttliche Prinzip«, also der »Glaube an übersinnliche Kräfte und Mächte«, die Daseins- und Lebensverhältnisse der Menschen objektiv bestimmt und beherrscht, während in der Moderne das transzendentale Prinzip das herrschende ist, also die Verwertung des Werts das Leben der Menschen totalitär reglementiert. Die Gemeinsamkeit besteht in der bewußtlosen Ausformung von »Fetischverhältnissen«: „Die vorkapitalistischen Formationen insgesamt werden also mit dem Kapitalismus zu einer »Vorgeschichte« bewusstlos konstituierter Verhältnisse und Formbestimmungen zusammengeschlossen, sodass mit dem von allen Fetischformen befreiten Kommunismus die menschliche Geschichte nicht etwa endet, sondern als eine bewusst gemachte überhaupt erst beginnt. Die Andersheit der vorkapitalistischen, religiös konstituierten Fetischverhältnisse wird aber eben erst begreifbar, wenn klar geworden ist, dass es sich bei den religiösen Formen keineswegs um eine subjektive »Glaubensfrage« gehandelt hat, wozu die Religion erst in der Moderne gemacht und damit für die reale Reproduktion irrelevant wurde, sondern um eine objektivierte hierarchische Weltordnung, die auch den »Stoffwechselprozess mit der Natur« und die sozialen Beziehungen der Menschen bestimmte; analog zur »Ökonomie« des modernen Kapitalfetischs, aber in ganz anderen Formen der Verselbständigung. Das gilt dann auch für das Naturverständnis ebenso wie für den Werkzeuggebrauch oder das, was in diesem Kontext in moderner Terminologie als »Produktivkraftentwicklung« bezeichnet wird. Eine solche Begriffsbildung wäre in 30
den vorkapitalistischen Sozietäten ebenfalls unmöglich gewesen, weil für sie so etwas wie »Produktion« oder InputOutput-Relationen keinerlei eigenständige Bedeutung haben konnten. Das lässt eine moderne Betrachtung regelmäßig außer Acht, indem sie die eigenen Kategorien auf ganz andere Verhältnisse projiziert. Der reale Ablauf von Umformungen der Naturstoffe, etwa dass man für den Transport oder das Heben von Steinen bestimmte Techniken benötigt, wird dann projektiv mit modernen gesellschaftlichen Abstraktionen (»Arbeit«, »Produktion«, »Produktivkräfte« etc.) belegt, ohne den damit nicht begreifbaren Hintergrund der ganz anderen Verfasstheit zu berücksichtigen“ (Kurz 2012, S. 72f.; Hervorh. Kurz).
In allen Gesellschaftsformationen wird stets die moderne, bürgerliche Gesellschaft gesehen und damit werden die historischen Unterschiede verwischt, wie Marx schon in Zur Kritik der politischen Ökonomie (handschriftlicher Nachlaß) feststellte (vgl. MEW 13, S. 636; dazu später ausführlicher). Das fällt bei der Lektüre der Publikationen über das „prähistorische“ „Vor“-China sofort auf. So wird z. B. die Herstellung von Steinwerkzeugen als stone tool industry (Yan/Wang 2005, S. 15)11 bezeichnet. Eine Rückprojektion, die den Tatbestand der Ridikülität erfüllt und sich zuhauf finden lässt. Es ist also unerlässlich nach der Darstellung der Theorie der Geschichte als Geschichte von Fetischverhältnissen sich die modernen Kategorien einmal näher anzuschauen. In dem Kapitel Die Grundkategorien des modernen warenproduzierenden Systems und ihre abgeleiteten Funktionselemente werden kategoriale Begriffe der Moderne wie z. B. abstrakte Arbeit, Wert, Ware, Geld, Staat und Politik etc. näher beleuchtet. Es wird sich zeigen, dass die Kategorien der Moderne in der so genannten „Vorge 11
Dazu ausführlicher im Kapitel über die Grundkategorien. 31
schichte“ und in der Vormoderne entweder eine vollkommen andere Bedeutung hatten oder gar nicht existierten, wie wir noch sehen werden, oder sie besaßen keine gesellschaftliche Allgemeingültigkeit, d. h. sie existierten höchstens als »Nischenform« (Marx) und auch dann waren sie dem »transzendenten göttlichen Prinzip« unterworfen. Die Menschen hatten einen »Stoffwechselprozess mit der Natur« (Marx), aber die Kategorie abstrakte Arbeit, also die „Verausgabung von Hirn, Muskel, Nerv, Hand etc.“ (Marx) kannten sie nicht, ebensowenig kannten sie die oben genannten Kategorien. Dies wird sich im Laufe der Untersuchung belegen lassen. In „Die Richtigstellung der Namen“ wird gezeigt, dass erstens auch Vertreter des akademischen Establishments „Bauchschmerzen“ bei der Rückprojektion moderner Kategorien auf die Vormoderne bekommen bzw. haben, so u. a. der Althistoriker Christian Meier (vgl. Meier 1970). Zweitens wird aber auch deutlich, dass trotz aller Kritik eine „terminologische Unsicherheit“ (Kurz 2012, S. 107) herrscht, denn auch Meier hat keine fundierte Theorie vorzuweisen. Kurz kommt in Bezug auf andere Autoren zu dem Schluß: „Es fehlt die radikale theoretische Kritik an den modernen Kategorien, die allein als Katalysator für eine begriffliche Bestimmung der früheren Sozietäten dienen könnte. Deshalb hängt die aufscheinende Differenz in der Luft“ (ebd.).
Als „Kronzeuge“ für die Forderung nach der „Richtigstellung der Namen“ tritt dann Meister Kong (Kongzi, lat. Konfuzius [551-479]) auf, der zwar mit seiner Forderung etwas anderes im Schilde führte (vgl. dazu vorab Konfuzius 1991, Endnote 116, S. 153), aber schon zu
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seiner Zeit den „laxen Sprachgebrauch“ (Unger 2000, S. 68) kritisierte.12 In dem Kapitel Zur Kritik der Rückprojektion moderner Kategorien auf die Vormoderne wird die transhistorische Verwendung moderner Kategorien auf die so genannte „Vorgeschichte“ des „Vor-China“ und der drei Dynastien kritisiert. Dabei erfolgt der Rückgriff auf die in den Theorie- und den Grundkategorien-Kapiteln gewonnenen Erkenntnisse. Da der Schwerpunkt der westlichen sinologischen Forschung auf den angelsächsischen Raum übergegangen ist – vornehmlich den USA -, werden die von den Autoren verwendeten modernen Kategorien an Hand englischer Lexika überprüft. Hätten die Verfasser der einschlägigen Abhandlungen auch nur einen Blick in ein englisches etymologisches Wörterbuch oder noch simpler in das Oxford Dictionary and Usage Guide to the English language (nachfolgend zit. als Weiner/ Waite) geworfen, hätte ihre Formulierung bei der Bezeichnung bestimmter Begriffe und Sachverhalte anders ausfallen müssen (siehe z. B. die Wortwahl von Yan/Wang weiter oben; dazu im entsprechenden Kapitel ausführlich). Was immer die hier nur exemplarisch genannten Autoren – zu ihnen gesellen sich noch eine Vielzahl anderer – geritten haben mag, sie müssen sich mindestens den Vorwurf der ideologischen Verbrämung gefallen lassen. Aber damit ist der Fall nicht erledigt. Deshalb ist es notwendig, die ideologische Rückprojektion moderner Kategorien aus den konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen des neolithischen „Vor-China“ herzuleiten, so wie dies in dem Kapitel über Die Grundkategorien des modernen warenproduzierenden Systems und ihre abgeleiteten Funktionselemente im Allgemei 12
Hier sei kurz angemerkt, dass Konfuzius die Forderung erhebt, „‚auf korrekte Begriffe zu halten‘, –> cheng4 ming2'“ (ebd., die hochgestellten Zahlen verweisen auf die Töne mit denen die Wörter ausgesprochen werden sollen). 33
nen geschehen ist. Dass dabei nicht jede der nahezu unzähligen Veröffentlichungen über diesen Zeitraum durchforstet und zitiert werden kann, leuchtet wohl ein. Das ist aber auch nicht notwendig. Schon deshalb nicht, weil in jeder dieser Publikationen mehr oder weniger häufig moderne Kategorien rückprojiziert und ontologisch auf das „vorchinesische“ Neolithikum angewandt werden. Die tiefere Ursache für diese transhistorischen Rückprojektionen liegt im globalen Siegeszug des Aufklärungsdenkens, wie Robert Kurz treffend feststellt: „Das Aufklärungsdenken, zu seiner Zeit noch als distinkte und unerhörte, teils sogar geradezu schwer verständliche Denkweise aufgefallen, ist nicht nur zur Voraussetzung alles weiteren theoretischen Denkens überhaupt geworden, sondern in das allgemeine gesellschaftliche Bewusstsein eingegangen und als eine Art bewusstlose Sedimentation auch zur nicht-reflexiven Denkweise des bürgerlichen Alltagsverstands geworden. Und auch als solches ist es von Grund auf zu destruieren“ (Kurz 2004a, S. 18).
Es ist also nicht weiter verwunderlich, dass Sinologen, egal aus welchem Kulturkreis der Welt sie stammen mögen, egal welche Muttersprache sie sprechen, diesem Aufklärungsdenken als ideologischem Wegbereiter und Wegbegleiter des Kapitalverhältnisses erlegen sind. Den Abschluss dieser Abhandlung bildet das Kapitel Theorie ist nicht alles, aber ohne Theorie ist alles nichts. Am Beispiel der Analyse der Schriften von Chang Kwang-chih, Otto Franke, Liu Li/Chen Xingcan, Li Feng und anderen ist nachgewiesen worden, dass diese Autoren moderne Kategorien auf die Vormoderne rückprojiziert und ontologisiert haben, ohne auch nur einen stichhaltigen Beweis für ihre Behauptungen erbringen zu können. Auch Wissenschaftler aus dem abendländischen Kulturkreis sind dieser Ideologisierung erlegen, was sich an einem besonders krassen Beispiel zeigen lässt. Die Quintessenz ist: ohne eine kohärente und konsistente Theorie lassen sich 34
die gesellschaftlichen Verhältnisse der Vormoderne nicht adäquat erfassen. Vielmehr werden durch die Rückprojektion und Ontologisierung moderner Kategorien die vormodernen »religiös konstituierten« Verhältnisse verhüllt, wenn nicht sogar ideologisiert.
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„Alle bisherige Geschichte, nicht die menschliche Geschichte überhaupt (weil ‚der Mensch‘ angeblich seinem Wesen nach nicht anders könne), ist eine Geschichte von Fetischverhältnissen, mit deren Begriff allerdings auch schon ihre radikale Kritik gesetzt ist – und somit die Möglichkeit ihrer Überwindung.“ (Kurz, Robert Kurz 2003. Negative Ontologie. Die Dunkelmänner der Aufklärung und die Geschichtsmetaphysik der Moderne, S. 83)
1. Die »Theorie der Geschichte als Geschichte von Fetisch-Verhältnissen« in Grundzügen Einleitung Eine Geschichtstheorie, die sich gegen die Geschichtsmetaphysik der Aufklärungsvernunft (Kurz) behaupten und durchsetzen will, hat es schwer Gehör zu finden, zumal dann, wenn sie nicht dem etablierten universitären Wissenschaftsbetrieb entsprungen ist und eine radikale Kritik am Kapitalfetisch, also dem modernen warenproduzierenden Patriarchat, übt. Diese Geschichtstheorie, die hier in Grundzügen dargestellt werden soll, ist nicht vom Himmel gefallen, sondern das Ergebnis einer langen theoretischen Entwicklung ihres Urhebers, Robert Kurz. D. h., es finden sich in verschiedenen seiner Abhandlungen Ausführungen, die auf den Werdegang einer Geschichte als
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Geschichte von Fetischverhältnissen verweisen.13 In einigen seiner Essays liegt das Hauptaugenmerk auf „eine radikale[r], also bis auf den Grund gehende[n] Destruktion des Aufklärungsdenkens und seiner Orwellschen Sprache (...), weil die Kritik der bürgerlichen Vernunft und ihrer Resultate mit den Mitteln der bürgerlichen Vernunft ganz unmöglich geworden ist“ (Kurz 2004, Vorwort, S. 8f.). In anderen Abhandlungen ist diese Geschichtstheorie alleiniger oder hauptsächlicher Gegenstand der theoretischen Auseinandersetzung mit der überkommenen Geschichtsphilosophie, so in Geschichte als Aporie und in Geld ohne Wert (vgl. obige Fußnote). Bei genauerer Lektüre seiner umfangreichen Veröffentlichungen zeigt sich, dass dieser geschichtstheoretische Ansatz integraler Bestandteil der wertabspaltungskritischen Theoriebildung ist. Kurz will also keine neue „Geschichtsphilosophie“ kreieren, ganz im Gegenteil hat die wertabspaltungskritische Theoriebildung „nichts mit einer ideologischen Geschichtsmetaphysik nach dem Muster von Hegel oder andererseits des Existentialismus zu tun, die gerade umgekehrt grundsätzlich kritisiert wird im Zuge einer Kritik der Aufklärungsvernunft und ih-
13
Vgl. u. a. Kurz, Robert 2004. Blutige Vernunft. Essays zur emanzipatorischen Kritik der kapitalistischen Moderne und ihrer westlichen Werte, Bad Honnef. In diesem Essay-Band sind Artikel veröffentlicht worden, die in der Zeitschrift krisis (Bd. 12, 25-27) vor 2004 erschienen sind. Es wird auf die einzelnen Abhandlungen gesondert Bezug genommen. Siehe ferner das dreiteilige Fragment von Kurz, Robert GESCHICHTE ALS APORIE. Vorläufige Thesen zur Auseinandersetzung um die Historizität von Fetischverhältnissen. Veröffentlicht auf der Exit!-Homepage unter der Rubrik Theory in Progress, hier zitiert als Kurz 2006, 2006a und 2007, siehe das posthum veröffentlichte Essay Kurz, Robert 2012. Geld ohne Wert. Grundrisse zur Transformation einer Kritik der politischen Ökonomie, Berlin. 37
rer historischen Derivate. Die radikale Krisentheorie im strengen Sinne beruft sich nicht auf eine ‚Geschichtsphilosophie‘, sondern auf die übergreifende Dynamik des kapitalistischen Akkumulationsprozesses, also auf die Binnengeschichte dieser begrenzten Produktionsweise. Alle spezifisch krisentheoretischen Argumente beziehen sich allein darauf. Wenn unabhängig davon auf geschichtstheoretischer Ebene die Frage nach einer begrenzten ‚Geschichte von Fetischverhältnissen‘ aufgeworfen wird, so handelt es sich dabei ebenso wenig um eine ‚Geschichtsphilosophie‘ Hegelscher Prägung, weil auch in dieser Hinsicht jede ontologisch rückgebundene Fortschrittsmetaphysik verworfen und das Ende einer historischen Diskontunität von ‚Fetischverhältnissen‘ rein negativ bestimmt wird“ (Kurz 2013a, S. 65, FN 1; Hervorh. Kurz).
Eine zusammenfassende Darstellung dieser Theorie ist deshalb aus zwei Gründe erforderlich: zum einen hat Robert Kurz abstraktallgemeingültige Kriterien entwickelt, die es am konkreten Gegenstand, in diesem Fall der Geschichte Chinas, anzuwenden gilt, so wie er es selbst empfohlen hat.14 Dabei gilt es folgendes zu beachten: „Sobald wir nämlich das historische Binnen-Kontinuum der Durchsetzung von Wertform und Abspaltung verlassen und uns auf die Geschichte insgesamt oder auf bestimmte vormoderne Formationen beziehen, muss der theoretische Begriff zwangsläufig aporetisch werden, weil er einerseits unausweichlich den modernen Verhältnissen bzw. in unserem Fall deren radikaler Kritik entstammt, andererseits aber an
14
Siehe das Kurz-Zitat aus Subjektlose Herrschaft. Zur Überwindung einer verkürzten Gesellschaftskritik (Kurz 2004d, S. 184) in der Einleitung der vorliegenden Abhandlung. 38
diesen Verhältnissen ‚fremde‘ Gegenstände herangetragen wird (sic; RGP). Anders geht es nicht. Nur so kann der Geschichtsbegriff transformiert werden als Teilmoment einer Bewegung von der Immanenz zur Transzendenz, die (nicht nur geschichtstheoretisch) solche Aporien hervorbringt. Die radikale Kritik impliziert zusammen mit einer Transzendierung der bestehenden Wert-Abspaltungsverhältnisse auch eine Transzendierung des Geschichtsverständnisses, die der anvisierten gesellschaftlichen Umwälzung entspricht. In diesem Bruch sind immer Kontinuitätsmomente enthalten, und dazu gehört auch diese Aporie des geschichtstheoretischen Denkens. Wir brauchen gar nicht erst zu versuchen, den vormodernen Konstitutionen ‚völlig gerecht‘ zu werden im Sinne ihrer totalen gedanklichen Erfassung und deckungsgleichen theoretischen Reproduktion, weil die Beschäftigung damit immer schon Bestandteil der Kritik an unseren eigenen Verhältnissen ist und damit eben aporetisch. Es kann nur darum gehen, das historische Material ernst zu nehmen in seiner Eigenlogik, ohne deswegen auf den geschichtstheoretischen Begriff zu verzichten. Dabei wäre eine Unterscheidung zu machen von auflösbaren und in gewisser Weise unauflösbaren Aporien, wobei erstere sich auf unsere modern-kapitalistische Konstitutions- und Binnengeschichte, letztere auf einen weiter gehenden geschichtstheoretischen Zugang beziehen. (...) Nicht nur mit dem Begriff einer ‚Geschichte von Fetischverhältnissen‘, sondern auch mit jedem anderen geschichtstheoretischen Zugang befinden wir uns nun in einer Aporie, die in dieser Weise nicht auflösbar ist, weil wir kein entsprechendes korrigierendes Kriterium entwickeln können. Nicht einmal durch eine Zeitreise wäre dieser Abgrund ganz zu überbrücken, denn wir kämen in der Vergangenheit stets als die modern konstituierten Individuen an, die 39
wir sind. Und das gilt auch für die zukünftigen Menschen einer vom Wert-Abspaltungsverhältnis befreiten Welt. (...) Ich plädiere demgegenüber dafür, sich dieser Aporie bewusst zu stellen, sie ‚anzunehmen‘ und reflexiv damit zu operieren“ (Kurz 2006, S. 6f., Hervorh. Kurz).
Konkretisieren wir die Aussagen von Kurz, so leuchtet ein, dass Begriffe wie »apriorische Matrix«, »Fetisch« und »Fetischverhältnisse« der Wertabspaltungstheorie entspringen, die sich, wie oben deutlich wurde, der radikalen Kritik der Aufklärungsvernunft verschrieben hat und die Krisendynamik des modernen warenproduzierenden Patriarchats, dem der Todestrieb innewohnt, bloßlegen will, was von den meisten so genannten linken Akademikern geleugnet wird.15 Es sind also moderne Kategorien, die an die Vergangenheit herangetragen werden und die den damals lebenden Menschen der Vormoderne vollkommen fremd gewesen sind bzw. die im reflexiven Denken gar nicht existierten. Nehmen wir ein konkretes Beispiel: Der Himmel als natürliche Erscheinung, als objektiv gegeben, wurde in der Zhou-Dynastie die »höchste Gottheit« (vgl. zum »Himmel als oberster Gottheit« u. a. Bauer 2001, S. 41ff.; Moritz 1990, S. 19ff.). Die Theorie der Geschichte als Geschichte von Fetischverhältnissen bezeichnet dieses Herrschaftsverhältnis, denn nichts anderes war es, als ein »Fetischverhältnis«, ein, wie schon erwähnt, moderner Begriff, der erst im „18. Jh. entlehnt [wurde] aus gleichbedeutend frz. fétiche, dieses aus port. fetico ‚Zauber, Zaubermittel, (wörtlich:) künstlich Hergerichtetes‘ zu facere ‚machen, tun‘“ (Kluge 1989, S. 211).
15
Darauf kann hier nicht näher eingegangen werden. Robert Kurz hat sich ausführlich mit der Krise des Kapitalverhältnisses und den Autoren, die diese nicht wahrhaben wollen, auseinandergesetzt (vgl. dazu u. a. Kurz 2012, die Kapitel 7ff.). 40
Bei diesem »Himmel« (»tian«) als »höchster Gottheit« handelt es sich „um eine objektivierte hierarchische Weltordnung, die auch den »Stoffwechselprozess mit der Natur« und die sozialen Beziehungen der Menschen bestimmte; analog zur »Ökonomie« des modernen Kapitalfetischs, aber in ganz anderen Formen der Verselbständigung“ (Kurz 2012, S. 72; Hervorh. Kurz). Diese hierarchische Weltordnung „ist stets in einem transzendenten Prinzip verankert, also in einem Prinzip jenseits der erfahrbaren Welt, das verschiedene Namen trägt, aber grundsätzlich als göttliche Wesenheit verstanden werden kann. Darin besteht der Anfang oder Grund aller Dinge, auch der sichtbaren Welt, wobei sich eine Stufenfolge entfaltet. Die Rangordnung reicht dabei von Gott oder der Götterwelt bis zur unbelebten Materie. In dieser objektivierten Hierarchie und der entsprechenden Weltsicht nimmt die Menschenwelt eine mittlere Position ein, in der sie sich gegenüber den »höheren« (unsichtbaren) Mächten legitimieren muss, um ihr Leben fristen zu können“ (ebd., S. 73; Hervorh. Kurz).
Ähnlich äußert sich auch Ralf Moritz in der Einleitung zu Konfuzius. Gespräche (Lun-Yu [nachfolgend zit. als Konfuzius 1991]), wenn er sagt, dass die gesellschaftliche Ordnung als vom »Himmel« (»tian«) sanktioniert gegolten hatte, wobei der »Himmel das Synonym für die Gesamtheit der Ahnengeister« war, und im traditionellen chinesischen Denken verkörperte er die höchste Macht und Autorität (vgl. Konfuzius 1991, Einleitung, S. 15). Moritz geht über die von Kurz beschriebene Bedeutung des »Himmels als dem transzendenten Prinzip« hinaus: „Die kultisch-religiöse Verehrung des Himmels begann gegen Ende der Shang-Zeit, zu Beginn der Zhou-Dynastie (um das 11. Jahrhundert v. u. Z.). ‚Tian‘ hatte verschiedene Bedeutungsebenen; es meinte erstens den physikalischen Himmel im 41
Gegensatz zur Erde, zweitens Himmel als Herrscher über alles, als kosmisches Pendant zum Herrscher des Reiches, drittens Himmel als Schicksal, als Quelle von Kausalität, viertens Himmel als Synonym für moralische Prinzipien. ‚Himmel‘ war also ein ethico-physikalischer Begriff. Ein Teil der Natur wurde von den anderen Teilen der Natur gelöst und ihnen übergeordnet, wobei sich zugleich eine ‚Moralisierung‘ und in gewissem Sinne auch eine ‚Politisierung‘ (sic; RGP) des Himmels vollzog“ (ebd.; Hervorh. Moritz).
Für Alan Freeman hat der Himmel im europäischen Mittelalter zwei Bedeutungen: „Die exoterische Dimension erklärt und trifft Voraussagen darüber, was die Leute – genauer gesagt, die Gesellschaft – sehen, wenn sie ihren Blick nach oben richten. Die andere, esoterische, Dimension tritt in den Vordergrund, wenn die Gesellschaft ihren Mitgliedern gegenüber Aussagen darüber zu treffen hat, was richtig und was falsch ist, was man machen darf und was nicht und was die Gründe dafür sind“ (Freeman, Alan 2006, S. 217).
Zurück zum China der Zhou: Diese »Gottheit«, die irdisch nicht anwesend und empirisch nicht fassbar war, wurde durch den ZhouKönig als »Himmelssohn« (später war es der Kaiser) auf Erden repräsentiert. Er war das personifizierte Medium (Kurz) zwischen dem »Himmel« als dem »transzendenten göttlichen Prinzip« und der Welt der Menschen. Die Menschen der Vormoderne sahen das, was wir aus unserer heutigen Warte als »Fetisch« bzw. »Fetischverhältnisse« erkennen können und so benennen, nicht als solches an. Aus ihrer Sicht waren es objektiv gegebene Verhältnisse, von den Menschen zwar selber gemachte, aber unbewußt, die einmal entstanden, im Nachhinein 42
gedanklich erfasst, begründet und legitimiert wurden (dazu ausführlicher weiter unten); wieder analog zur Moderne, in der das Kapitalverhältnis von den Menschen ebenfalls unbewußt „gemacht“ wurde, mit dem Unterschied, dass dieses aber von der Masse der Bevölkerung nicht als Fetischverhältnis erkannt wird, obwohl die Möglichkeit besteht, es als solches zu erkennen.16 Wir tragen also an die Vormoderne fremde, aus der Moderne stammende Begriffe heran, in der Absicht, einer kritischen Analyse dieser vormodernen Sozietäten, wobei immer mit bedacht sein muss, dass die Erforschung der Vergangenheit zwar eine mehr oder minder große Annäherung an die damals herrschenden »Fetischverhältnisse« ermöglicht, aber eben keine hundertprozentige. Wie sollte das auch gehen, eine Sozietät, die z. B. 2000 Jahre v. u. Z. existierte, gedanklich und abstrakt-theoretisch voll zu erfassen, wenn noch nicht einmal die komplexen Fetischverhältnisse der Moderne in ihrer Gänze klar und deutlich durchleuchtet und auf den Punkt gebracht werden können? Das Dilemma einer jeden Theorie, auch einer radikal kritischen, besteht zumeist, nicht immer darin, dass die Entwicklung der realen Verhältnisse schneller voranschreitet als deren theoretische Erfassung möglich ist.17 Hüten wir uns also vor Aussagen, die einen apodiktischen Anschein erwecken können, wie z. B. die folgende: 16
17
Wenn heute in den Medien von „Fetisch“ bzw. „Fetischismen“ die Rede ist, ist damit u. a. ein „Marken-Fetischismus“ gemeint, der sich auf einen bestimmten Konsumartikel bezieht, z. B. ein angesagtes „Handy“ von einem mehr oder minder innovativen Hersteller. Auf den Gedanken, dass wir auch heute noch in einer fetischistischen Welt leben, kommen die wenigsten. Es gibt Ausnahmen. So hat z. B. Karl Marx die Entwicklung des Kapitalismus in einigen seiner Werke schon vor mehr als 150 Jahre vorweggenommen. In dem Kapitel Fixes Kapital und Entwicklung der Produktivkräfte der Gesellschaft (vgl. MEW 42, S. 590-609) hat er die Krisendynamik des Kapitalverhältnisses und den Zusammenbruch dieser Produktionsweise 43
„Art und myth in ancient China were inextricably related to politics“ (Chang 1983, S. 1; Hervorh. RGP).
Womit wir wieder beim Thema sind. Da die Vormoderne insgesamt »transzendent« konstituiert war im Gegensatz zur Moderne, die durch eine immanente Transzendenz bzw. Transzendentalität gekennzeichnet ist, „dechiffriert als Metaphysik der Wertabstraktion und damit des ontologisierten ‚automatischen Subjekts‘, die als ‚Vernunft‘-Metaphysik erscheint“ (Kurz 2007, S. 4; Hervorh. Kurz), kann die Theorie der Geschichte als Geschichte von Fetischverhältnissen als übergreifender Ansatz sowohl auf die Vormoderne als auch auf die Moderne angewendet werden, da die Gemeinsamkeiten – »Fetischverhältnisse« – und die Differenzen – »Transzendenz« und »Transzendalität als Realmetaphysiken« (s. w. u.) offengelegt werden können. Ganz anders verhält es sich, wenn Sinologen und Vertreter anverwandter Wissenschaften Begriffe aus der Moderne auf die Vormoderne ohne jegliche kritische Reflexion rückprojizieren. Sie verwischen die oben aufgezeigten Differenzen und Gemeinsamkeiten. Hier reicht vorerst ein Beispiel: die Kategorie Politik ist eindeutig allein der Moderne zugehörig, auch wenn es die Mehrheit der akademischen Wissenschaftsgemeinde nicht wahrhaben will (siehe dazu das Kapitel Die Grundkategorien des modernen warenproduzierenden Systems und ihre abgeleiteten Funktionselemente). Wenn behauptet wird, dass die vormodernen Sozietäten sowohl politisch als auch »religiös« konstituiert analytisch als unvermeidlich dargestellt (vgl. ebd., S. 601f.). 1991 erschien Der Kollaps der Modernisierung. Vom Zusammenbruch des Kasernensozialismus zur Krise der Welt-Ökonomie. Robert Kurz beschreibt darin u. a. warum es zum Zusammenbruch des so genannten real existierenden Sozialismus kommen mußte (vgl. ebd., S. 133-158) und warum dieser nicht zu einem neuen ökonomischen Aufschwung in der Weltwirtschaft führen konnte (vgl. ebd., S. 229-272). 44
gewesen seien, ist dies ein absoluter Anachronismus, wie oben am Beispiel Changs schon gezeigt wurde und wir noch sehen werden. Kommen wir zum zweiten Grund, der für eine Zusammenfassung besagter Theorie spricht. Die Wertabspaltungstheorie nimmt für sich in Anspruch, einen kohärenten und konsistenten Theorieansatz entwickelt zu haben, ist sich aber auch darüber im Klaren, dass es innerhalb der Entwicklung und Weiterentwicklung dieser Theorie Unzulänglichkeiten zu bewältigen galt und gilt. Das ist nur menschlich. Jede Theorie, die ernst genommen werden will, muss bereit sein, sich selbst in Frage zu stellen, getreu dem Motto von Karl Marx: „De omnibus dubitandum [An allem ist zu zweifeln]“ (Wheen, Francis 2001. Postskriptum 2. Bekenntnisse, S. 460).
Von diesem Anspruch sind die handelsüblichen akademischen geschichtsphilosophischen Ansätze meilenweit entfernt. An dieser Stelle soll nicht im Detail auf die einzelnen theoretischen Richtungen innerhalb der Geschichtswissenschaften eingegangen werden. Schaut man sich die einschlägige Literatur über das „vor-chinesische“ Neolithikum und das der drei Dynastien an, so fällt auf, dass die Sinologen, die in ihren Kreisen als ausgewiesene Kenner dieser Epochen gelten und zwar über die Kulturkreise hinweg, offensichtlich der „Fortschrittsmetaphysik auf ontologischer Grundlage“ (teleologische Kontinuität) und dem „transhistorischen Gesichtspunkt“ nahe zu stehen scheinen (vgl. Kurz 2007, S. 17), den einen oder anderen Ansatz offensiv oder gar beide eklektizistisch vertreten, was noch ausführlich zu zeigen sein wird (siehe dazu das Kapitel Zur Kritik der Rückprojektion moderner Kategorien auf die Vormoderne). Die oben angedeutete Rückprojektion bzw. transhistorische Verwendung moderner Kategorien ist in den betreffenden Publikationen gang und gäbe. Das lässt sich leicht nachweisen. So tauchen Begriffe auf, die im warenproduzierenden System der Moderne die gesellschaftliche Synthesis 45
konstituieren, z. B. Arbeit, Geld, Ware, Wirtschaft und Staat. Es ist gleichgültig, welche Werke man über die chinesische Geschichte, Philosophie, „Wirtschaft“ etc. zur Hand nimmt, durchweg lassen sich solche Begriffe finden (vgl. u. a. Bauer 1989, Goepper 1996, Kuhn 1991, Roetz 1991). In der englischsprachigen Literatur über China bzw. Publikationen, die aus dem Chinesischen ins Englische übersetzt wurden, werden ebenfalls unreflektiert moderne Kategorien transhistorisch verwendet (vgl. dazu u. a. Chang 1983, Chang/Xu 2005, Keightley 1998, Li 2013, Poo 1998, Yao/Zhao 2010). Die von den Sinologen auf die so genannte Vorgeschichte bzw. auf die Vormoderne rückprojizierten modernen Kategorien werden der Eigenlogik dieser Epochen in keiner Weise gerecht, vielmehr trägt diese Betrachtungsweise – von einer Erkenntnis geleiteten Analyse, die den »Fetischverhältnissen« wirklich auf den Grund gehen will, kann wohl kaum die Rede sein – ganz wesentlich zu einer bewußten oder bewußtlosen Ideologisierung und Verschleierung der damals herrschenden Verhältnisse bei. Greifen wir hier zwei transhistorisch verwendete Kategorien heraus: Geld und Wirtschaft (Ökonomie). Jacques Le Goff hat für das europäische Mittelalter die Feststellung getroffen, „(...) »dass es keinen mittelalterlichen Geldbegriff gab«“ (Le Goff 2011, 204, zit. nach Kurz 2012, S. 106) und Kurz fährt fort: „(...) dann heißt das nur, dass »Geld« nicht dem heute geläufigen abstrakten Begriff des »allgemeinen Äquivalents« (Marx) in einer warenproduzierenden Ökonomie entsprach. So lautet die Schlussfolgerung (von Le Goff; RGP): „»Was wir heute unter Geld verstehen... ist ein Produkt der Moderne«“ (Le Goff, a. a. O, 9, zit. nach Kurz, ebd., S. 107). Und über den Begriff Ökonomie sagt Kurz, sich abermals auf Le Goff berufend, dass „(...) der hier transportierte Ökonomiebegriff (...) erst im 18. Jahrhundert aufgetaucht“ (Kurz, ebd., S. 90) sei.
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Die Erkenntnis, dass Geld und Ökonomie ebenso moderne Kategorien sind, wie z. B. Staat und Politik, wäre auch den Sinologen, die diese Begriffe auf inflationäre Weise transhistorisch verwenden, zugänglich gewesen. Auch wenn hier und nachfolgend Autoren aus dem Okzident als Referenz herangezogen werden, kann nicht von einem Eurozentrismus gesprochen werden. Erstens wurden diese Autoren von ihren Zeitgenossen selber kritisiert, so u. a. Laum.18 Zweitens gibt es m. W. keine kohärente Theorie außerhalb Europas, die sich mit der Wertabspaltungstheorie auch nur annähernd in Bezug auf ihre Konsistenz vergleichen ließe, und die sich überdies zum Ziel gesetzt hat, neue Erkenntnisse ans Tageslicht zu bringen. Es müsste also erst einmal eine Theorie gleichen Schwergewichts wie die hier vertretene entwickelt werden. Chang Kwang-chih, der m. W. keine kohärente sozialwissenschaftliche Theorie entwickelt hat,19 fordert: „From now on we must place a new demand on the social sciences: that any general principles must be tested within
18
19
In „seinem Buch »Heiliges Geld« (1924) [entwickelt Laum; RGP] eine Theorie vom religiösen Ursprung des Geldes (...), die insgesamt auf wenig Interesse stieß und weder bei den bürgerlichen Ökonomen noch bei den Marxisten Anklang fand. Auch wenn Laum das Problem nicht so bezeichnet, so ist doch der historische Aspekt des »methodologischen Individualismus« für dieses Desinteresse weitgehend verantwortlich. Es wurde ihm angekreidet, dass er behauptet hatte, die modernen Geldtheorien seien allesamt »aus den Erscheinungen der Gegenwart abstrahiert« und müssten in ihrer transhistorischen Verallgemeinerung als eine »Vergewaltigung der Geschichte« (Laum 2006/1924, 9) bezeichnet werden“ (Kurz 2012, S. 94; Hervorh. Kurz). Er ist eher Anhänger der „Fortschrittsmetaphysik auf ontologischer Grundlage (teleologischer Kontinuität)“ (s. o.), also weit entfernt von einer radikalen Kritik, wie wir noch sehen werden. 47
the broad realm of non-Western history or that they be reformulated on the basis of this history. Or, to restate this: that any theory must pass the test of Chinese historical reality before it can be said to be universally applicable“ (Chang 2005a. Epilogue Part II, S. 294).
Einmal abgesehen davon, dass hier ein blanker Sinozentrismus vertreten wird, der theoretisch in der Luft hängt und den betreffenden Autoren auf den Kopf fällt, hat genau dies Robert Kurz getan, denn die Feststellungen der von ihm als Referenz angeführten Autoren hat er auf eine allgemeine Abstraktionsebene gehoben, die es erlaubt, mit besagter Theorie die je spezifischen Sozietäten einer Zivilisation zu analysieren. Grundlegende Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die besonderen historischen Verhältnisse in der zu untersuchenden Epoche „nicht missachtet oder gewaltsam nach Maßgabe des eigenen Interesses gemodelt werden darf“ (Kurz 2006, S. 6), denn „[d]as historische Material hat seine sperrige Eigenqualität“ (ebd.). Zurück zur transhistorischen Verwendung moderner Kategorien auf die Vormoderne: Wenn es schon im (europäischen) Mittelalter keinen Geldbegriff und keine Ökonomie gab, dann erst recht nicht in der Antike, die gerade aus dem Neolithikum herausgewachsen ist. Kurz, auf Le Goff zurückgreifend, der Clavero zitiert: „Es gab keine »Wirtschaft« (Clavero, zit. nach Le Goff 2001, 239; Kurz 2012, S. 91)“, Kurz führt weiter aus: „Polanyis Begriff der »Einbettung« ist also nun radikalisiert zur Einsicht in das Fehlen der Kategorie überhaupt; nicht nur im Sinne von zeitgenössischen Theorien, sondern auch im Sinne eines realen Daseins (das ja im Denken eine entsprechende Reflexionsbestimmung hervorrufen müsste). Daraus erhellt, dass die Verwechslung von »Produktion der Lebensmittel« oder »Reproduktion« in einem allgemeine-
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ren Sinne mit »Ökonomie« im modernen Sinne ein typischer Anachronismus ist, der eben in der kapitalistischen Aufklärungsvernunft wurzelt. Im Rückblick auf Polanyi lässt sich also sagen, dass zwar die materielle Produktion in ein (religiös konstituiertes) Gefüge »eingebettet« gewesen ist, aber nicht eine »Ökonomie«. Denn etwas, das es gar nicht gibt, kann auch nicht in etwas anderes »eingebettet« sein. Sicherlich bildete dieses soziale Gefüge, in dessen Zusammenhang auch die Lebensmittel produziert wurden, in gewisser Weise eine »zweite Natur«, aber eben als anders konfiguriertes Fetischverhältnis, das seine bestimmte Logik hatte und keine eigengesetzliche andere neben sich dulden konnte“ (ebd.; Hervorh. Kurz).20
Er kommt zu dem Schluß: „Wenn nämlich unter den Bedingungen des Kapitalverhältnisses Ware/Wertform und Geld etwas qualitativ anderes sind als in vormodernen Sozietäten, dann konstituiert der jeweils verschiedene Kontext auch ganz unterschiedliche »Logiken« und Funktionen des nur scheinbar Gleichar-
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Hier muss angemerkt werden, dass es in der Tang-Dynastie (618-907) ab etwa 806 ein von Kuhn so bezeichnetes „fliegendes Geld“ (feiqian) gegeben hat (Kuhn 1991, S. 583; Hervorh. Kuhn). Da auch die Tang, wie die ganze Vormoderne, »religiös« konstituiert war, müssten die damals herrschenden »Fetischverhältnisse« eingehend untersucht werden, um den Charakter dieses „fliegenden Geldes“ (nach Kuhn: „die ersten Wechsel“; ebd.) genau bestimmen zu können. Nach der Auffassung von Kuhn fanden diese Wechsel „allgemeine Verbreitung und Anerkennung. Damit nahm der bargeldlose Zahlungsverkehr mit seinen vielen Möglichkeiten der Verrechnung seinen Anfang. Bis zum Druck und zur Ausgabe des handlichen Papiergeldes im Jahre 1024 in Sichuan war es nur noch eine Frage der Zeit“ (ebd.). 49
tigen, wie es aus der schon kapitalistisch bestimmten Perspektive wahrgenommen wird“ (Kurz 2012, S. 68; Hervorh. Kurz).
Weiter oben wurde schon angemerkt, dass in den einschlägigen Publikationen moderne Kategorien auf das „vor-chinesische“ Neolithikum und die drei Dynastien rückprojiziert werden. Es stellen sich zwei Fragen. Erstens, existierten in der Vormoderne überhaupt bestimmte moderne Kategorien, die von den Sinologen so mir nichts dir nichts transhistorisch transponiert werden? Für den Ökonomiebegriff ist dies von Kurz eindeutig verneint worden. Zweitens, wenn gewisse Begriffe übergreifend in der Vormoderne und der Moderne existiert haben, dann müssen sie auf ihre daraus entspringende Logik und Funktion hin überprüft werden. Aus dem obigen Zitat erhellt, dass das Geld im Kapitalverhältnis etwas qualitativ anderes war, als das „Geld ohne Wert“ (Kurz) in vormodernen Zeiten. In der Moderne bilden die Grundkategorien des warenproduzierenden Patriarchats die gesellschaftliche Synthesis, darunter eben auch das Geld als Oberflächenphänomen des Werts. Ein „Geld ohne Wert“ bringt aber in den »religiös konstituierten Sozietäten der Vormoderne« eine andere Logik hervor und hat damit auch eine andere Funktion als in der Moderne. Um diese unterschiedlichen Logiken und Funktionen entschlüsseln zu können, bedarf es eines anderen theoretischen Ansatzes, einer radikalen Theorie, „nämlich eine über Marx hinausgehende Kritik der modernen Geschichtsphilosophie, eine Kritik an der Idee eines fortschreitenden, in sich kohärenten und ontologisch verankerten Aufstiegs von historischen Formationen, wie sie seit der späten Aufklärung als „Entwicklungsgeschichte der Menschheit“ dargestellt wird“ (Kurz 2006, S. 2; Hervorh. Kurz). Und weiter heißt es: 50
„Der neue kritische Begriff einer ‚Geschichte von Fetischverhältnissen‘ entspricht daher der Kritik am universalistischen Begriff der ‚Arbeit‘21 und ist mit der neuen Kapitalismuskritik der Wert-Abspaltungstheorie verbunden. Eine geschichtstheoretische Reflexion in diesem Sinne gehört notwendig zum wert-abspaltungskritischen Gesamtprogramm, weil diese umfassende neue Gesellschaftskritik jenseits des Arbeiterbewegungsmarxismus auch einer theoretischen Fundierung gegenüber dem traditionellen Geschichtsmaterialismus, also auch einer eigenen Geschichtstheorie bedarf“ (ebd., S. 3; Hervorh. Kurz).
Diese Theorie wird nun in zwei Schritten in Grundzügen dargestellt. Im ersten Teil beziehe ich mich auf die auf der Exit!-Homepage veröffentlichte dreiteilige Geschichte als Aporie (vgl. die Rubrik Theory in Progress). Der zweite Teil ist eine Zusammenfassung von Kapiteln aus Geld ohne Wert, die »vormoderne« und moderne »Fetischverhältnisse« zum Inhalt haben und die von Kurz auf einer abstrakt-allgemeinen Ebene thematisiert werden, die es an Beispielen aus dem „vor-chinesischen“ Neolithikum und den drei Dynastien zu konkretisieren gilt, denn: „Der Begriff einer Sache beruht immer auch auf der Distinktion zu anderen Sachen (Kriterium der Unterscheidung) und kann nie allein aus dieser Sache für sich entfaltet werden; so wie man – um etwas grobe Analogien zu bemühen – das biologische Leben nicht ohne die physikalische Materie, den Hund nicht ohne den Wolf oder die Industrialisierung nicht ohne die Manufaktur erklären kann. Hier zeigt sich übrigens wieder die zwingende Notwendigkeit ei-
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Auf die Kategorie Arbeit wird in dem Kapitel Die Grundkategorien des modernen warenproduzierenden Systems und ihre abgeleiteten Funktionselemente noch ausführlich einzugehen sein. 51
ner dialektischen Einheit von Kontinuität und Bruch/ Diskontinuität in allen zeitlichen Verhältnissen“ (Kurz 2006, S. 8).
Dass es bei dieser Zusammenfassung zu Überschneidungen und Wiederholungen kommt, ist einerseits ob der Komplexität dieses theoretischen Ansatzes kaum zu vermeiden, andererseits methodisch gewollt, um die Intention dieses Ansatzes in Abgrenzung zu den überkommenen Geschichtstheorien zu verdeutlichen.
Geschichte als Aporie Es kann nicht oft genug betont werden, dass die Theorie der Geschichte als Geschichte von Fetischverhältnissen u. a. das Ergebnis der Kritik des Aufklärungsdenkens ist. Dieses Aufklärungsdenken hatte im Wesentlichen seinen Ausgangspunkt im Europa des 18. Jahrhunderts und breitete sich im Zuge der ersten industriellen Revolution über alle Kontinente aus. Es ist also kein beliebiges Denken, sondern das bestimmende Denken, dass die Moderne und die so genannte Postmoderne beeinflusst hat (siehe das Kurz-Zitat in der Einleitung). Diese neue Geschichts-Theorie als integraler Bestandteil der WertAbspaltungstheorie will dem entgegenwirken, indem sie den affirmativen und apologetischen Charakter des Aufklärungsdenkens offen zu legen versucht, denn dieses Denken war der ideologische Wegbereiter des modernen warenproduzierenden Patriarchats und ist bis heute sein Wegbegleiter, das zeigt sich gerade auch in der Betrachtung und Darstellung der vergangenen und gegenwärtigen Menschheitsgeschichte. Wie verhält sich nun dieses Aufklärungsdenken zum Gegenstand Geschichte? Dazu Kurz:
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„Das Problem des postmodernen Denkens und der Denkbewegungen seit dem 19. Jahrhundert, aus denen es sich zusammensetzt und aufbaut, besteht gerade darin, dass kein Kriterium entwickelt wurde, um die Bezugsebenen von Relativität innerhalb der Menschheitsgeschichte als Geschichte von ‚Kulturen‘ oder Gesellschaftsformationen einerseits und Bestimmtheit oder Absolutheit in einem begrenzten, selber relativen historischen Raum einer bestimmten Formation andererseits auseinander zu halten. Mit anderen Worten: Es wird kein wesentlicher Unterschied gemacht zwischen historisch verschiedenen gesellschaftlichen FormKonstitutionen und demzufolge auch kein spezifischer Begriff des modernen warenproduzierenden Systems und seiner basalen Formkategorien gebildet. In diesem strengen Sinne reflektieren die postmodernen Theorien wie ihre Vorläufer gerade ihre eigene historisch-gesellschaftliche Bedingtheit und damit Relativität grundsätzlich nicht. (Abstrakte) Arbeit, Wert, Ware, Geld, Markt, Konkurrenz, Staat, Nation, Politik usw. mögen wie alle anderen ‚beliebigen‘ gesellschaftlichen Erscheinungen als ‚kulturelle Konstrukte‘ gelten, aber sie erscheinen deshalb nicht weniger ontologisch als in der gewöhnlichen bürgerlichen Ideologie, wie sie auch der Arbeiterbewegungsmarxismus ererbt hatte“ (Kurz 2004e, S 46; Hervorh. Kurz).
Schauen wir uns die Kritikpunkte von Kurz einmal näher an und beziehen sie – vorerst einmal skizzenhaft – auf den konkreten Untersuchungsgegenstand, dem „vor-chinesischen“ Neolithikum und den Anfängen der „vor-chinesischen“ Geschichte. Gehen wir zunächst auf den letzten Kritikpunkt ein, nämlich dass die von Kurz genannten Kategorien in den vom Aufklärungsdenken beeinflussten Theorien als ontologische erscheinen, obwohl sie es nicht sind, wie noch ausführlich zu zeigen sein wird. Hier sei Poo Mu-chou lediglich beispielhaft genannt: 53
„As the Liang-chu burials suggest, the concentration of jade objects in large tombs probably meant that the tomb owners were political as well as religious leaders“ (Poo Mu-chou 1998, S. 22f.).
Poo wirft hier eine moderne Kategorie – political – mit einer vormodernen – »religious« – in einen Topf und dies ist kein Ausrutscher – weder bei ihm noch bei anderen Sinologen. Hier zeigt sich illustrativ, dass es ihm an Kenntnis über die spezifischen Kategorien der Moderne ermangelt, die eben nur der Moderne und keiner vormodernen Gesellschaftsformation zugehörig sind.22 Ein anderes Beispiel verdeutlicht dass die „Relativität innerhalb der Menschheitsgeschichte von Kulturen und Gesellschaftsformationen“ (s. w. o.) ebenso eingeebnet wird wie die Besonderheiten eines historischen Raums: „In this book the Three Dynasties are treated as a single unit, a unit also referred to as ‚ancient China‘. This is permissible, I believe, because the characteristics of the political (sic; RGP) culture in ancient China were in many important respects common throughout the period, and they even continued into the postancient period, however we define these periods. Profound changes in ancient Chinese society took place around 500-600 B. C., when the Iron Age began to replace the Bronze Age“ (Chang 1983, S. 8; Hervorh. Chang).
22
Die Rückprojektion moderner Kategorien durchzieht seine gesamte Abhandlung. Hier seien nur einige wenige Kategorien stichwortartig genannt: „economic“, „central government“ (ebd., S., 1). „cult of state“ (ebd., S. 13), „bureaucratic nature of this religion“ (ebd., S. 23). Zur eingehenden Diskussion über die Grundkategorien des modernen warenproduzierenden Systems vgl. das entsprechende Kapitel. 54
Im Sinne der Theorie der Geschichte als Geschichte von Fetischverhältnissen ist es vollkommen unzulässig, die gesamte Bronzezeit des „ancient China“ als eine Einheit zu betrachten, denn einerseits hatten „schon die Antike und das Mittelalter (...) ihre eigene Antike bzw. ihr eigenes Mittelalter und waren ihre eigene Moderne“ (Kurz, 2014, S. 63). Mit anderen Worten: Bei der Betrachtung z. B. der drei Dynastien wird sich herausstellen, dass es in jeder dieser Dynastien Formen der sozialen Entwicklung gab; d. h. nach einer gewissen Phase der Kontinuität kam es zu einer Diskontinuität, einem Bruch (vgl. Kurz 2007, S. 14f.). Nehmen wir beispielsweise die Xia-Dynastie, die laut Dieter Kuhn traditionell von 2205-1767 v. u. Z. existiert haben soll (vgl. Kuhn 1991, S. 34). Erstens „wuchs“ diese Dynastie aus dem neolithischen Zeitalter heraus und in das historische des „vorchinesischen“ hinein. Allein an diesem Bespiel zeigt sich schon, dass von einer Einheit des antiken China nicht die Rede sein kann. Zweitens, wenn Chang meint, dass einschneidende Veränderungen im antiken China erst durch den Übergang vom Bronze- zum Eisenzeitalter eintraten, dann irrt er bzw. er „unterschlägt“ mindestens ein weiteres wesentliches Moment in der Geschichte dieser Epoche. Er weiß sehr wohl, dass z. B. der Sturz der Shang-Dynastie durch die Zhou einherging mit einer Veränderung im »religiösen Glauben«: »vom Höchsten Gott oder Gott in der Höhe (shangdi) zum Himmel (tian)«. Es fanden Veränderungen in Form und Inhalt dieses »Glaubens« statt, aber der »Glaube an eine übersinnliche Macht« blieb erhalten (s. u.). Er sieht „die Differenz von Relativität eines bestimmten historischen Ortes einerseits und Bestimmtheit oder Absolutheit innerhalb dieses Ortes“ (Kurz 2004e, S. 46) nicht, denn wenn innerhalb der Bronzezeit die »Götterwelt« einer Transformation unterworfen wurde, veränderten sich in einem mehr oder weniger langen Prozess die »Fetischverhältnisse« und mit diesen auch die „gleichursprünglichen
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Momente der Reproduktion“ (dazu ausführlicher weiter unten). Hier genügt vorerst ein Verweis auf die Differenz und die Gemeinsamkeit zwischen dem in der Shang- und der Zhou-Periode »herrschenden göttlichen transzendenten Prinzip«: „Wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass die Könige der Shang-Periode sich Zeit ihres Lebens nicht als Blutsverwandte des »Himmelsgottes« (Tian Di) verstanden, sondern dass sie nach ihrem Tod von ihm lediglich als »Gäste aufgenommen« wurden. Die Herrscher der Zhou hingegen definierten sich als Söhne des Himmels (tianzi) und als von der obersten Himmelsgottheit abgesandte Vertreter auf Erden“ (Chen 1996, S. 40; Hervorh. Chen).
Es macht einen himmelweiten Unterschied aus, ob ein Shang-König von »shangdi« als Gast aufgenommen wurde oder ob die ZhouHerrscher sich als »Söhne des Himmels« verstanden. Wie wir weiter unten sehen werden, verschmolzen laut Moritz beide »Glaubensvorstellungen« miteinander bzw. die Zhou-Herrscher übernahmen den »Ahnenkult« der Shang und integrierten ihn in den »Himmelskult«. Über einen längeren Zeitraum hinweg entwickelten sich neue »Fetischverhältnisse«, die einer eingehenden Untersuchung bedürfen. Es zeigt sich, dass beiden Stämmen – Shang und Zhou – der »Glaube an ein transzendentes göttliches Prinzip« gemein war. In beiden Sozietäten herrschte also „eine Binnen-Absolutheit oder zumindest ein entsprechender realer Anspruch (...) nämlich eben derjenige der jeweiligen fetischistischen Form-Konstitution“ (Kurz 2004e, S. 46) – »shangdi« hier, »tian« dort. Beide Stämme haben – wohl über Jahrhunderte hinweg – ihre eigenen »Fetischverhältnisse« entwickelt, das macht die Relativität zwischen beiden historischen Orten aus (Kurz). Weiter oben verwendet Chen anstelle des »Tian Di« die Bezeichnung »Höchster Di« (»Shang Di«) und Wolfgang Bauer führt dazu aus:
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„Am interessantesten innerhalb der gesamten Hierarchie ist der Spitzenplatz, weil er letztlich das System als ganzes bestimmt. Hier tritt uns bereits in den frühesten Schriften ein Wesen entgegen, das als shangdi, übersetzt als ‚Höchster Gott‘ oder ‚Gott in der Höhe‘, bezeichnet wurde. Di ist dabei das geläufige Wort für einen vergotteten Ahn (...), shang einfach das Wort für ‚Oben‘, wobei unklar bleibt, ob ‚oben‘ im übertragenen Sinn als ‚höchst‘ oder im einfachen Sinn als ‚oben in der Höhe‘ (etwa im Himmel) zu verstehen ist (...). Shangdi war also die oberste Autorität, an die man sich um Rat und Hilfe wenden konnte und auch tatsächlich wandte; der Name besagt noch keineswegs, dass man ihn sich als im Himmel thronend vorstellte“ (Bauer 2001, S. 42; Hervorh. Bauer).
Ohne das »transzendente göttliche Prinzip« als solches zu benennen, macht Bauer deutlich, dass das Shang-Volk an eine »oberste Autorität« glaubte und sich dieser um Rat suchend unterwarf. Unerheblich ist hierbei, ob dieser »shangdi« im »Himmel« thronte, entscheidend ist, dass er als »Gott«, als »übersinnliches Wesen«, die Geschicke der Menschen beherrschte. Und zu »tian« stellt Bauer fest: „In denselben Orakeltexten, in denen von shangdi die Rede ist, taucht aber auch (wenngleich, soweit man bisher ausmachen kann, vorwiegend in relativ späten Texten dieser Art) ein anderes göttliches Wesen auf, das die gleiche höchste Autorität besitzt, offensichtlich aber aus einer anderen Traditionslinie stammt. Es trägt den Namen tian. Das alte Schriftzeichen gibt unverwechselbar ein riesenhaftes Wesen wieder mit großem (und daher aufs Übernatürliche hinweisenden) Haupt: (...). Die heute geläufige und nahezu beim ersten Auftreten auch bereits nachweisbare Bedeutung dieses Wortes ist dann allerdings ‚Himmel‘, und zwar sowohl im 57
kultischen als auch (wenngleich erst allmählich) im physikalischen Sinn, nämlich beispielsweise der Ort, von dem der Regen kommt. Auch der wichtige Ausdruck für das ‚Reich‘ tianxia, der wörtlich mit ‚unter dem Himmel‘ zu übersetzen wäre, ist mit diesem Wort zusammengesetzt“ (ebd., S. 42f.; Hervorh. Bauer).
Hier zeigt sich, dass der »Himmel« als eigentlich natürliche Erscheinung zuerst eine kultische Bedeutung erhielt, als »Gott« verehrt wurde und „wenn gleich erst allmählich“ (s. o.) als physisches Objekt wahrgenommen wurde. Man könnte vielleicht sagen, dass der »Fetischcharakter des Himmels« zu einem anders gearteten »metaphysischen Objekt« mutierte. Erst war es ein „rein“ »metaphysisches Wesen«, dem sich die Menschen unterwarfen; dann wurde es ein „objektiv“ »metaphysisches«: gegen die natürlichen Elemente wie Regen, Sturm, Dürre etc. waren die Menschen damals machtlos. „Machtlos“ ist hier relativ zu verstehen. Die Menschen konnten sich gegen die Naturgewalten wehren – so sie ihre zyklischen Phasen erkannt hatten – und zwar in Form des Baus von Dämmen, Deichen, Be- und Entwässerungsgräben etc. Aber einen absoluten Schutz vor diesen Gewalten gab es damals – wie auch heute – nicht. Und das dürfte der Grund dafür gewesen sein, den »Himmel als Gottheit« zu verehren, ihm zu »opfern«. Der Unterschied zwischen der Vormoderne und der Moderne besteht darin, dass man die »Götter« durch »Opfer« besänftigen mußte, wobei diese »Opferhandlungen« den vielfältigsten Zwecken zu dienen hatte: Unheil durch Krieg, Naturkatastrophen etc. abzuwenden, eine gute Ernte zu erbitten usw. Da es den Menschen an einer rationalen, sprich physikalischen Erklärung für manche Naturphänomene gefehlt haben dürfte (zumindest für den vorliegenden Untersuchungszeitraum), blieb die Zuflucht zu »übersinnlichen Wesen« ungebrochen. Waren die damaligen »Opfer« periodischer Natur, so sind die „moder58
nen paradoxen Opferverhältnisse“, die dem Kapitalfetisch innewohnen „für die Mehrheit bereits zum (dauerhaften; RGP) Normalzustand geworden“ (Kurz 2012, S. 412). Zurück zu den »Göttern« der Vormoderne. Bauer verweist darauf, dass »tian« und »shangdi« zueinander in Konkurrenz traten (vgl. Bauer 2001, S. 43) und der »Himmel« den »Höchsten Gott« vom Thron stieß, was sich auch daran ablesen lässt, dass die Bezeichnung »Sohn des Himmels« bis zum Ende des Kaiserreichs der Titel für den chinesischen Herrscher blieb.23 Der Wechsel in der »Verehrung der Gottheiten« in der Shang- und Zhou-Dynastie ging einher mit Veränderungen im irdischen Leben der Menschen, wie Chen feststellt: „Auch wenn in der Xia- und Shang-Zeit noch kein festgelegtes Erbfolgesystem entwickelt war, besteht kein Zweifel darüber, dass die Herrschaft der Könige im Rahmen der Blutsverwandtschaft übertragen wurde. Erst als die Könige der Zhou an die Macht gelangten, nahm das patriarchalische Sippensystem (zongfa) klare Konturen an“ (Chen 1996, S. 40; Hervorh. Chen).
Dieses patriarchalische Sippensystem als Form der sozialen Beziehungen nahm seinen Ausgang vom Königshaus und durchdrang wahrscheinlich die gesamte Sozietät bis in die Bauernfamilien hin 23
Auf die Veränderungen des »transzendenten göttlichen Prinzips« vom Ende der Zhou-Dynastie bis zur Qing kann hier nicht eingegangen werden. Klar dürfte jedoch sein, dass mit dem faktischen Ende der ZhouHerrschaft (771 v. u. Z.) auch ein allmählicher Bruch in der Kontinuität des »transzendenten göttlichen Prinzips« hin zu anderen »Fetischformen« einsetzte, der dann spätestens einen erneuten Bruch mit Beginn der QinHerrschaft zur Folge hatte, worauf hier nicht eingegangen werden kann. 59
ein.24 So wurde u. a. die Herrschaft des Mannes über die Frau, des Vaters über das Kind etc. über die Jahrhunderte hinweg festgeschrieben und hat sich zumindest auf dem Land bis heute – wenn auch in abgeschwächter Form – erhalten. Wie sich diese »Fetischverhältnisse« im Einzelnen vollzogen, muss hier vorläufig offen bleiben, es genügt der allgemeine und grundlegende Hinweis, dass die von den Menschen ohne bewußte Reflexion gemachten Reproduktionsverhältnisse (modern formuliert) nicht nur den »Stoffwechselprozess mit der Natur« beinhalten, sondern darüber hinaus ebenso Formen der sozialen Beziehungen, kulturell-symbolische Formen, Reflexionsformen, Geschlechterverhältnisse etc., die einerseits nicht absolut deckungsgleich und andererseits nicht aufeinander reduzibel sind. In ihrer Gesamtheit konstituierten sie je spezifische historische Formationen (vgl. Kurz 2007, S. 1f.). Zurück zu Chang, der im obigen Zitat im antiken China eine political culture ausgemacht haben will, die „continued into the postancient period“ (s. w. o.). Genau wie Poo, nur 15 Jahre früher verwendet Chang moderne Kategorien transhistorisch. Dadurch, dass er in seinen Abhandlungen mehr oder weniger ausführlich auf die Rolle des »Schamanismus« bzw. der »Schamanen« eingeht, also auf eine besondere Art von Menschen, die durch ihre »spirituellen Fähigkeiten« als Vermittler zwischen der »Götter- und Geisterwelt« und der Menschenwelt fungierten, macht er deutlich, dass er weder die Bedeutung der kategorialen Bestimmungen der Vormoderne noch die der Moderne auch nur im entferntesten Sinne verstanden hat. Er versteigt 24
Einschränkend muss festgehalten werden, dass der Vergesellschaftungsgrad damals relativ gering gewesen ist und nicht den totalitären Charakter der Moderne aufwies. D. h., es kann davon ausgegangen werden, dass sich außerhalb des Herrscherhauses in der „einfachen“ Bevölkerung die Verhältnisse zwischen Mann und Frau etc. freier gestalteten, was allerdings eingehend untersucht werden müsste. 60
sich sogar zu der Aussage, dass die Rolle des »Schamanismus« unterschätzt worden sei. Chang verquickt dieses vormoderne Phänomen mit modernen Kategorien, u. a. macht er im ausgehenden Neolithikum schon ein staatsähnliches Gebilde aus, das sich während der drei Dynastien zu einem ausgewachsenen Staat entwickelt haben soll (vgl. Chang 1983, 2005, 2008).25 Diese kategoriale Blindheit ist letztendlich dem Fehlen eines fundierten theoretischen Ansatzes geschuldet. Es ist also zwingend geboten, Klarheit hinsichtlich der Verfasstheit vormoderner und moderner Gesellschaftsformationen zu schaffen, also den Gemeinsamkeiten und den Unterschieden auf den Grund zu gehen. Noch einmal in aller Deutlichkeit: die vormodernen Sozietäten waren »religiös« konstituiert (»transzendentes göttliches Prinzip«), die Moderne dagegen ist transzendental verfasst (immanente Transzendenz nach Kurz), ohne jedoch den »metaphysischen Charakter« abgestreift bzw. überwunden zu haben. Beide Formationen sind also mit »Fetischverhältnissen« behaftet, deshalb „liegt [es] nahe, die drei Begriffsfelder von Kapitalismus, religiöser Konstitution und Fetischverhältnis in eine genauere Beziehung zu setzen und die theoretischen Abstraktionsebenen zu differenzieren. Dabei ist es offensichtlich, dass die religiöse und die kapitalistische Konstitution grundverschiedene historische Formationen darstellen, wobei der Kapitalismus in einem kontingenten Prozess aus der religiösen Konstitution herausgewachsen ist und diese hinter sich gelassen hat“ (Kurz, 2006, S. 3).
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Changs Einfluß auf die Sinologen-Gemeinde – z. T. waren es Schüler und Kollegen, die von ihm inspiriert wurden -, zeigt sich daran, dass bis heute von diesem Personenkreis moderne Kategorien auf die Vormoderne rückprojiziert werden. 61
Obwohl das moderne warenproduzierende Patriarchat die, so der allgemeine Tenor, höchste Entwicklungsstufe der bisherigen Menschheitsgeschichte darstellt, wobei die höchste Entwicklungsstufe nicht als zivilisatorischer Fortschritt verstanden werden darf26, lassen sich von dieser Warte aus die vergangenen Gesellschaftsformationen nicht im Marxschen Sinne analysieren, der bekanntlich sagte, dass die Anatomie des Menschen ein Schlüssel zur Anatomie des Affen sei (vgl. MEW 13, S. 636) und daraus schlussfolgerte, dass z. B. die bürgerliche Ökonomie den Schlüssel zur antiken liefern würde (vgl. ebd.). Das dem nicht so sein kann, zeigt sich an den »differenten Fetischverhältnissen«, die die Vormoderne und die Moderne auf je unterschiedliche Weise konstituieren. Kurz widerspricht denn auch der obigen Aussagen von Marx: „Daraus ergibt sich, dass die vermeintlich identischen »einfachen« Kategorien von Ware und Geld in vormodernen Verhältnissen etwas qualitativ ganz anderes waren als im Kapitalismus und dass somit die »bürgerliche Ökonomie« eben gerade nicht »den Schlüssel liefert zur antiken etc.«“ (Kurz 2012, S. 67; Hervorh. Kurz). 26 Vgl. dazu das letzte Kapitel aus Geld ohne Wert mit dem Titel Das Opfer und die perverse Rückkehr des Archaischen (Kurz 2012, S. 389-413). Als Anregung zur Lektüre wird hier eine kurze Passage wiedergegeben: „Wer immer noch sagt, dass der Kapitalfetisch und seine immanente »Vernunft« ein positiver Fortschritt in der Geschichte der Menschheit gewesen seien (wie die Tauschidealisten als historische Idioten der Aufklärungsideologie), der muss unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts als postreligiöser Wahnsinniger bezeichnet werden, der den pseudo-religiösen Wahnsinnigen dieser Zeit in nichts nachsteht. Diese Vernunft wird von Grund auf zuschanden an ihrer eigenen historischen Konsequenz. Jener Notstand des modernen paradoxen Opferverhältnisses, der in der Vergangenheit periodisch aufschien, ist in der Weltgesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts für die Mehrheit bereits zum Normalzustand geworden und dringt Schritt für Schritt in die kapitalistischen Zentren vor“ (ebd., S. 412; Hervorh. Kurz). 62
Zunächst geht es um die grundsätzliche Gemeinsamkeit von Vormoderne und Moderne und die besteht darin, dass die Menschen ihre Geschichte zwar selber machen, aber nicht aus freien Stücken (Marx). Das bedeutet aber nichts anderes, als dass die »religiös« konstituierte ebenso wie die kapitalistische »Formation« auf „jeweils eigener und anderer Weise ‚fremdbestimmt‘ sind durch eine den empirischen Menschen gegenüber verselbständigte apriorische Matrix, die wir als Fetischverhältnis bezeichnet haben. Dieser Begriff der verselbständigten apriorischen Matrix bringt Religion und Kapitalismus auf einer bestimmten neuen Abstraktionsebene zusammen und kann trotzdem gleichzeitig die grundsätzliche Differenz in ihren jeweiligen Reproduktionsverhältnissen, auf der Ebene ihrer jeweils ganz verschiedenen Konstitution, anerkennen” (Kurz 2006a, S. 4; Hervorh. Kurz).
Für unseren Untersuchungsgegenstand bedeutet dies, herauszufinden, welche »apriorische Matrix« dem „vor-chinesischen“ Neolithikum zugrunde gelegen hat und welche »apriorischen Matrizes« den drei Dynastien. Es wird sich erweisen, dass die Prähistorie wie die Historie des „Vor-China“ eines gemeinsam haben, nämlich die Existenz eines »transzendenten göttlichen Prinzips«. Aber dies stellt sich im Neolithikum – soweit rekonstruierbar – anders dar als in den drei Dynastien, worauf weiter oben schon verwiesen wurde. Um die unterschiedlichen und gemeinsamen »Fetischverhältnisse« aufzeigen zu können, ist es zwingend geboten, das „Kriterium der Unterscheidung“ anzuwenden. Wir haben es also damit zu tun, „dass das Gemeinsame von Religion und Kapitalismus auf einer anderen Reflexionsebene bestimmt wird, nämlich derjenigen des Begriffs von (differenten) Fetischverhältnissen“ (Kurz 2006a, S. 6). Zudem ermöglicht es die Theorie der Geschichte als Geschichte von Fetischverhältnissen unterschiedliche 63
»Fetischverhältnisse« innerhalb des oben genannten Untersuchungsgegenstandes zu dechiffrieren, wobei neue Erkenntnisse ans Tageslicht treten könnten. Wie weiter unten ausführlich gezeigt wird, hat Robert Kurz in Geld ohne Wert dargelegt, dass die »Religion objektive Daseinsformen« konstituiert (vgl. Kurz 2012, S. 70f.). Das bedeutet: „Im Licht des Fetischbegriffs, aus dem sich der Gedanke einer ‚Geschichte von Fetischverhältnissen‘ ergibt, wird nun aber andererseits auch die Religion als etwas erkannt, was nicht bloß ‚Idee‘ und ‚Überbau‘ über einer historischen Entwicklungsform der Arbeitsontologie ist, sondern einstmals ein historisches Reproduktionsverhältnis, eine bestimmte Konstitution der Lebensverhältnisse war“ (Kurz 2006a, S. 5; Hervorh. Kurz).
Dies dürfte den Sinologen (aber nicht nur diesen) als starker Tobak erscheinen, denn einerseits verwenden sie, wie schon erwähnt, moderne Kategorien transhistorisch, darunter auch ganz selbstverständlich die Kategorie Arbeit, wie wir noch sehen werden. Andererseits wird im Zusammenhang mit den »religiösen Vorstellungen« der betreffenden Sozietät von ideologischen Verhältnissen gesprochen. Hier sei z. B. Ralf Moritz genannt (vgl. Moritz 1990, S. 13ff.). Umso bedeutsamer ist die Feststellung von Kurz, dass es sich bei der Religion eben nicht um eine „Idee“ oder nach der alten marxistischen Vorstellung um ein dialektisch vermitteltes Basis-Überbau-Verhältnis handelt, sondern um ein je spezifisches Reproduktionsverhältnis, welches das Leben der Menschen real bestimmte. Was unseren Untersuchsgegenstand angeht, so ist bei der Betrachtung des Neolithikums ganz allgemein und in Bezug auf das „vorchinesische“ Neolithikum hier schon einmal festzuhalten, dass wir aus diesem Abschnitt der Menschheitsgeschichte lediglich auf archäologische Funde zurückgreifen können und auf »Mythen«, die erst in späteren Zeiten – ab der Östlichen Zhou (770-221 v. u. Z.) bis zur 64
Han-Dynastie (206 v. u. Z.-220 u. Z.) – entstanden sind und dementsprechend von den Verfassern der jeweiligen Periode bzw. den Herrschenden der Dynastien „gefiltert“ wurden. Auch die Sinologen der letzten Jahrhunderte bis in die heutige Zeit hinein, die diese »mythologischen Werke«, die »Klassiker« etc. ins Englische, Deutsche, Französische etc. übersetzt haben, unterlagen z. B. einem „Zeitgeist“ und „filterten“ – bewusst oder unbewußt – ihre Übersetzungen. Hier muss noch einmal auf die oben schon angesprochene Schwierigkeit bei der Untersuchung des „vor-chinesischen“ Neolithikums im Sinne der Ausführungen von Kurz hingewiesen werden: Da auf dem heutigen Territorium Chinas zur Zeit des Neolithikums „neben der Yangshao-Kultur (...) 16 weitere, über das ganze Gebiet des heutigen China verteilte Regionalkulturen“ (Breuer 2014, S. 164) existierten, kann hier nur eine Art Anriss der herrschenden »Fetischverhältnisse« gegeben werden. Und auch das wird – will man der »apriorischen Matrix« halbwegs nahe kommen – kein leichtes Unterfangen sein.27 Was allerdings ohne weiteres möglich ist, ist die Kritik an der Rückprojektion modernen Kategorien auf vormoderne »religiös konstituierte Sozietäten«, und dies ist neben der hier in Grundzügen darzustellenden Theorie der Geschichte als Geschichte von Fetischverhältnissen ein weiteres Hauptanliegen dieses Essays. Kehren wir zurück zu der »apriorischen Matrix«, die natürlich im Lauf der Geschichte der Menschheit Transformationsprozesse durchlaufen hat und sich gegenüber den Menschen in verschiedenen Epochen anders darstellte (vgl. Kurz 2006a, S. 7). Denn auch die so genannte Prähistorie und die Vormoderne erlebten in ihrer »transzen 27
Weiter oben wurde schon darauf hingewiesen, dass im Rahmen der Darstellung der Theorie der Geschichte als Geschichte von Fetischverhältnissen unzweifelhaft existierende »Fetischverhältnisse« kurz beschrieben werden. Ursprünglich war ein eigenes Kapitel über diese »Fetischverhältnisse« geplant, was sich aber hier nicht realisieren lässt. 65
denten Verfasstheit« Kontinuität und Diskontinuität/Brüche (Kurz), die allerdings durch andere »Fetischverhältnisse« geprägt waren, wie wir weiter oben schon gesehen haben. „Nur mit einem so verstandenen geschichtstheoretischen Begriff von Fetischverhältnissen ist die Einheit von Differenz und Identität festzuhalten, ohne begrifflich in die eine oder andere Einseitigkeit abzustürzen“ (ebd.).
Wie schon an der Shang- und Zhou-Dynastie und an der Rückprojektion moderner Kategorien auf die Vormoderne illustrativ demonstriert, sind die hier exemplarisch genannten Sinologen nicht nur in eine Einseitigkeit abgestürzt (z. B. Staat als Produkt des ausgehenden Neolithikums), vielmehr offenbaren sie durch ihre Betrachtungsweise der prähistorischen und der historischen Epochen des „Vor-China“, dass sie „in allen Gesellschaftsformen die bürgerlichen sehen“ (MEW 13, S. 636f.). Wie Kurz zeigt, ist die Feststellung von Marx, die bürgerliche Ökonomie liefere den Schlüssel zur antiken nach den neuesten Erkenntnissen nicht mehr haltbar. Richtig bleibt aber die obige Aussage von Marx, was sich an der transhistorischen Rückprojektion moderner Kategorien auf die Vormoderne belegen lässt. Phänomenologisch erkennen die Sinologen zwar die damals existierenden »Fetischverhältnisse« (ohne sie so zu benennen) an, aber es bleibt ihnen verwehrt, bis zu deren inneren Kern vorzudringen. Was hat es nun mit diesen »Fetischverhältnissen« auf sich? Nach Kurz ist „der Fetisch einerseits etwas von den Menschen selbst Geschaffenes (...), andererseits aber [erscheint er] nicht als solches (...), sondern als äußere Veranlassung einer objektiven ‚Weltverfasstheit‘“ (Kurz 2006a, S. 8; Hervorh. Kurz). In Universismus – Die Grundlage der Religion und Ethik, des Staatswesens und der Wissenschaften Chinas formuliert de Groot die von
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Kurz abstrakt-allgemeine Aussage über die Entstehung von Fetischverhältnissen so: „(...) der Mensch erblickte im All ein belebtes Wesen, das mit unwiderstehlicher Kraft ihm seinen Willen aufzwingt, und versuchte nun diesen Willen zu ergründen, um sich ihm in schlichter Demut zwecks Vermeidung unheilvoller Konflikte anpassen und unterwerfen zu können. Dieses philosophische System ist offensichtlich darauf angelegt, die ganze Sphäre menschlichen Daseins und Tuns zu umfassen. Tatsächlich zeigt es sich uns als ein System von Regeln, Bräuchen und Sitten, die auf Beobachtung, Deutung und Nachahmung der Natur beruhen und in einer Unzahl von Vorschriften das ganze Verhalten des Menschen in seinem privaten, häuslichen und öffentlichen Leben normieren, wobei sie sogar politische (sic; RGP) Einrichtungen und staatliche Gesetze (sic; RGP) in ihren Bannkreis ziehen, und zwar alles dies zu dem einen großen Zweck: Volk und Regierung (sic; RGP) der wohltätigen Einflüsse der Natur teilhaftig zu machen, und umgekehrt die schädlichen Einwirkungen der Natur von ihnen fernzuhalten“ (de Groot 1918, S. 6).
Moritz spricht „von einer magischen, elementar-religiösen Weltanschauung“ (Moritz 1990, S. 13), die das gesellschaftliche Bewusstsein der altorientalischen Klassengesellschaft Chinas beherrscht haben soll (vgl. ebd.) und führt dazu weiter aus: „Es waren vor allem die Naturkräfte, die den Menschen in seiner Existenz bedrohten; es war die Unsicherheit seiner gesamten materiellen Lebensgrundlagen und die objektive Schwierigkeit, diese materiellen Lebensgrundlagen zu sichern. Mit dieser Situation war der Mensch konfrontiert,
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und er war bereits in der Lage, sie in gewisser Weise zu reflektieren. Die Gefühle der Abhängigkeit, der Furcht und der Dankbarkeit zusammen mit dem objektiv großen Schutzbedürfnis, das Gefühl der Ohnmacht einerseits und die Möglichkeit, die realen Grenzen der eigenen Macht auf dem Wege der Phantasie zu übersteigen – das brachte die Vorstellung von Zauberkräften hervor. Weil die objektive Natur so wenig beherrschbar war, wurde Geistiges, in irgendeiner Weise der menschlichen Psyche, dem menschlichen Bewusstsein Verwandtes, in sie ‚hineinphantasiert‘. Die Naturkräfte schienen so für den Menschen ansprechbar zu sein. Diese Ansprechbarkeit, die damit verbundene Möglichkeit zu bitten oder zu beten, um die Ohnmacht auf phantastische Weise ‚aufzuheben‘ – dies war der entscheidende praktische Gesichtspunkt“ (ebd., S. 13f.; Hervorh. Moritz).
Moritz bestätigt hier die Aussagen von de Groot. Allerdings waren die Menschen nicht vollkommen den Naturgewalten ausgeliefert. Das belegen schon die »Mythen«, die sich um die legendären Herrscher aus der Vorgeschichte ranken. Laut dem Shujing (Buch der Dokumente/Buch der Urkunden) beginnt die Urgeschichte mit Kaiser Yao (Lebensdaten, die jedoch nicht einheitlich wiedergegeben werden: 23572258 v. u. Z.; nach Kuhn 1991, S. 57). Der „läßt (...) die astronomischen Phänomene des Himmels beobachten und den Menschen die Zeit entsprechend dem täglichen Lauf der Sonne und dem Rhythmus der Jahreszeiten in Form einer Kalenderordnung erschließen“ (Keller 1996, S. 146). Die »Kosmologie« erhält hier neben der »transzendenten Dimension« eine physische, d. h., die Menschen des Neolithikums waren in allen Teilen der Welt durchaus in der Lage, Naturphänomene zu entschlüsseln und für ihre Daseins- und Lebensverhältnisse sinnvoll zu nutzen. Wir brauchen aber nicht auf »Mythen« allein zurückgreifen, vielmehr finden sich auch handfeste Artefakte aus der Vorgeschichte der 68
Menschheit, erwähnt sei u. a. die Himmelsscheibe von Nebra28. Für uns ist hier mehr das Taosi Solar Observatory von Interesse. Taosi war die größte bisher entdeckte Stadt der „so-called Shenxi Longshan culture“ (Li 2013, S. 31), die zwischen 2600 und 2000 v. u. Z. existiert hat. Das Sonnen-Observatorium wurde 2003 entdeckt und freigelegt und soll eines der ältesten weltweit sein (vgl. ebd., S. 31f.). Bevor es um 2100 v. u. Z. zerstört wurde, wurde „the platform used for solar observation between the two solstitial extremes in any given year, and it is one of the oldest astronomical observatories in the world confirmed by archaeology. The astronomical historian David W. Pankenier suggests that the structure could be used to determine sections on a horizonal calendar that could have yielded an approximation of the length of the solar year to within a week. Thus, the Taosi astronomers are concerned with correlations between the lunar months and the solar year and this eventually gave rise to a lunar-solar combined calendar with the intercalary thirteenth month inserted in the regular year circles, a system that was definitely in use in China by the thirteenth century BC, proven by the late Shang by oracle-bone studies. More importantly, Pankenier further suggests that the Taosi astronomical observatory provided a context in which a writing system would likely be needed for keeping the calendar starting with signs invented to identify sections of time or celestial bodies“ (ebd., S. 33).
Es scheint offensichtlich so gewesen zu sein, dass neben dem »Glauben an transzendente Kräfte und Mächte« – z. B. dem »Totemismus«, dessen Ursprung Moritz in die Zeit der Jäger und Sammler bzw. der 28
Vgl. dazu Was ist die Himmelsscheibe? http://web.archive.org/web 20081215034330/; http://www.himmels ..., S. 1-4. Stand: 02.05.2017. 69
Wildbeuter verortet und bis in die Shang- und Zhou-Zeit erhalten geblieben ist29 – auch Versuche einer Entmystifizierung von Naturphänomenen unternommen wurden, wie das obige Beispiel des Taosi Solar-Observatoriums belegt. Auch auf einer anderen Ebene, nämlich der philosophischen, fand eine Entmystifizierung des Kosmos statt, namentlich in Bezug auf den »Himmel« (»tian«), seit der Zhou-Dynastie die oberste Gottheit. Hier scheinen die Anhänger des Daoismus federführend gewesen zu sein, die sich von „the ‚arts of divination‘“ entfernten: „Wang Ch’ung (Wang Chong; RGP) (...) (A.D. 27- ca. 100), who in his large work, the Lun Heng or Critical Essays, used Taoist naturalism to attack the superstitions of his day. By so doing he undoubtedly did much to purge China of a great mass of popular superstition“ (Fung Yulan 1994, Vol. II, S. 151; Hervorh. Fung).
Feng (Fung) zitiert aus dem oben genannten Werk: 29
„Der Totemismus ist der Glaube, wonach der Stamm, zu dem man gehört, von einem phantastischen nichtmenschlichen Wesen abstammt, das meist als Tier, aber auch in anderer Gestalt, zum Beispiel als Pflanze, gedacht wurde. Die Angehörigen des Stammes glaubten an ihre Verwandtschaft mit dem Totem, führten die zwischen ihnen bestehenden Verwandtschaftsbeziehungen auf die gemeinsame Verwandtschaft mit dem Totem zurück und unterwarfen sich diesem. Der Stamm trug den Namen des Totems. Aus der Shang-Zeit sind Knocheninschriften erhalten, die totemistische Vorstellungen bezeugen. So werden in diesen Inschriften die Stämme des Hundes, des Hammels, des Pferdes, des Drachens, auch des Phönix genannt, was offensichtlich Bezeichnungen von den die Shang umgebenden Stämmen waren. Schriftliche Dokumente aus der Zhou-Zeit enthalten verschiedene Legenden, die den Totemismus im alten China belegen. Es sind Legenden um Stammesgründer der Xia, Shang und Zhou“ (Moritz 1990, S. 14). 70
„By the fusion of the (yin and yang) ethers of Heaven and Earth, all things are spontaneously produced, just as by the union of the fluids of husband and wife, children are spontaneously produced. Among the myriad things thus produced, those with blood in their veins are sensitive to hunger and cold. Seeing that the five grains may be eaten, they use them as food, and seeing that silk and hemp may be worn, they use them as clothing.... When Heaven moves, it does not desire to produce things thereby, but things are produced of their own accord: such is spontaneity (tzu jan). When it gives forth its ether, it does not desire to create things, but things are created of themselves: such is nonactivity (wu wei). What is it of Heaven that is thus a spontaneous and non-acting principle? It is its ethers (ch’i), which are placid, tranquil, desire nothing, do nothing, and are concerned with nothing....“ (ebd., S. 152, zit. nach Fung; Hervorh. Fung).
Die Vereinigung von Mann und Frau bringt spontan Kinder hervor, den Hunger bekämpft man, indem die Menschen Getreide etc. essen, vor Kälte schützen Seide und Hanf, die zu Kleidung „verarbeitet“ (in Anlehnung an Wang Chong formuliert) werden – alles, so will Wang in den nächsten Zeilen zum Ausdruck bringen, ohne dass der »Himmel« – als »göttliches Wesen« – etwas dazu beiträgt. Wang will mit dem volkstümlichen Aberglauben aufräumen bzw. einer gewissen Rationalität das Wort reden, etwas, was nach Wolfgang Bauer schon in einigen Passagen des Buchs der Lieder (Shijing) zu finden ist, nämliche eine „langsame Entfremdung und Entfernung vom »Gott in der Höhe« und vom »Himmel« [die] durchaus als schmerzhaft empfunden“ (Bauer 1996, S. 148; Hervorh. Bauer) wurde. Was hier zum Ausdruck gebracht werden sollte, ist, dass es schon im Neolithikum und in den darauffolgenden Zeiten, Versuche gab, die Naturphänomene vom »Übersinnlichen« zu entkleiden, sie ratio71
nal zu erklären und für die Menschen praktisch nutzbar zu machen, worauf auch Moritz hinweist: „Die Vergöttlichung dieser Naturerscheinungen hatte einen realen Hintergrund, der in ihrer tatsächlichen Rolle vor allem für den Ackerbau, damit für die Existenzgrundlage menschlichen Lebens, und in Verbindung hiermit für den Ablauf des Jahres, für den Wechsel der Jahreszeiten etc. bestand. Diese tatsächliche Rolle wurde nun durch einen historisch bedingten, in der Unreife materieller Lebensbedingungen wurzelnden, spirituellen Zerrspiegel betrachtet. An diesen Zusammenhang zu denken ist wichtig, damit nicht der Eindruck aufkommt, als habe der Mensch in der Frühperiode seiner geschichtlichen Existenz nur Phantasien, nur eingebildete Dinge, im Kopf gehabt. Wäre dem so gewesen, hätte der Mensch nicht überleben können. In Verbindung mit phantastischen Bewußtseinsinhalten standen – so begrenzt sie auch waren – echte Erfahrungen, gewonnen im Kampf ums Überleben. Zwischen Phantastischem und Realistischem im Kopf und dem historisch vorhandenen Maß der praktischen Aneignung der Umwelt durch den Menschen bestand ein enger Zusammenhang. So bedeutete die Vergöttlichung der Naturerscheinungen, dass ihnen ein magischer Einfluß auf das Leben der Menschen zugesprochen wurde“ (Moritz 1990, S. 15).
Festgehalten werden kann, dass es trotz der »religiös konstituierten Sozietäten« innerhalb dieser es Menschen gab, die nach neuen Erkenntnissen strebten, und zwar sowohl auf einer proto-wissenschaftlichen Ebene wie auch im philosophischen Denken. Im ersten Fall wurden diese neuen Erkenntnisse in den Dienst des »Stoffwechselprozesses mit der Natur« eingebracht, im zweiten Fall öffnete sich ein Raum für ein atheis-
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tisches Denken.30 Allerdings wurden dadurch die »vormodernen Fetischverhältnisse« nicht zur Gänze aufgebrochen, vielleicht ein wenig in Frage gestellt,31 von einer Überwindung ganz zu schweigen, womit wir wieder beim eigentlichen Thema wären. „Es gehört zum Begriff des Fetischs, dass er gerade keine ‚gedankliche schöpferische Leistung‘ darstellt, sondern als blinde Resultante aus Praxisprozessen in den sozialen Beziehungen und im ‚Stoffwechselprozess mit der Natur‘ heraus historisch auf kontingente Weise ‚entsteht‘. Wie alles an menschlichen Verhältnissen erscheint dieser Zusammenhang zwar ‚gedanklich‘; aber das heißt noch lange nicht, dass ein ‚Ausdenken‘ zu Grunde gelegen hat“ (Kurz 2006a, S. 13; Hervorh. Kurz).
Dazu Poo: „In any ancient society, the vicissitudes of ordinary life, from birth to death, and the interplay between natural and human environments already constituted a rich background for the development of religious beliefs“ (Poo 1998, S. 3).
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Tim Whitmarsh untersucht das atheistische Denken des antiken Griechenlands in Battling the Gods. Atheism in the Ancient World. Über China verliert er nur einen Satz: „Ancient China also had its atheists; but that would be a different story“ (Whitmarsh 2016, S. 8). Die Herrschenden werden bestenfalls die neuen „atheistischen“ Erkenntnisse für sich instrumentalisiert haben, die Masse der Bevölkerung ist – falls sie überhaupt Kenntnis darüber erlangte – im »Glauben an übersinnliche Kräfte und Mächte« gefangen geblieben. Poo Mu-chou hat das Verhältnis zwischen „offiziellen“ und volkstümlichen Glauben näher untersucht (vgl. Poo 1998. In Search of Personal Welfare. A View of Ancient Chinese Religion). 73
Poo bestätigt, was Kurz unter „blinde Resultante aus Praxisprozessen in den sozialen Beziehungen und im ‚Stoffwechselprozess mit der Natur‘ (s. o.) fasst, nämlich das »Religion« (»Fetisch«) historisch „auf kontingente Weise ‚entsteht‘“ (s. o.), durch Wechselfälle oder dem Wechselspiel, die sich im alltäglichen Leben einfach ergeben, durch das Ineinandergreifen der natürlichen und der menschlichen Umwelt. Es ist einleuchtend: „Das Fetischverhältnis ‚fußt‘ nicht auf einer ursprünglichen (gedanklichen) ‚Erklärung‘, sondern genau umgekehrt: Es ‚entsteht‘ in historischen Praxis- und Krisenprozessen, während die ‚Erklärung‘ im Sinne einer Legitimation (so ist es und nur so kann es qua ‚Weltverfasstheit‘ sein) erst im Zuge dieser Prozesse geleistet wird bzw. jene ‚Entstehung‘ affirmativ begleitet. ‚Erklärungsmomente‘ als bewusste Affirmation gehen so zwar mit dem historischen Durchsetzungsprozess von jeweiligen Fetischverhältnissen einher und bestimmen die Verlaufsform dieses Prozesses mit (vgl. dazu den Essay ‚Negative Ontologie‘, in: Blutige Vernunft, S. 86 f.), aber sie können nicht zum ‚gedanklichen Ursprung‘ hypostasiert werden“ (Kurz 2006a, S. 13; Hervorh. Kurz).
Erneut Poo: „The motivations for the acceptance and development of a new religion (or religions) are found not only in grave social or intellectual crises or in doctrines, but also in the daily life of a stable and prosperous society. By studying relatively ‚ordinary‘ factors, one reaches the basic stratum of the religious mentality of everyday, private life. How else might we explain why in times of peace or prosperity religion still
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constituted an essential part of society, and how it persisted?“ (Poo 1998, S. 3; Hervorh. Poo).
Die letzte Aussage von Poo ist dahingehend zu kritisieren, dass die »Religion« eben nicht nur „an essential part of society“ war, vielmehr wurde die jeweilige vormoderne Sozietät durch sie erst konstituiert. Die Akzeptanz einer neuen »Religion« bzw. die Verschmelzung zweier zu einem neuen »Fetischverhältnis«, die aus unterschiedlichen Traditionslinien zu stammen scheinen, lässt sich an der Shang- und Zhou-Dynastie illustrieren: „Die oberste Gottheit der Zhou war der Himmel, wobei die alten Schriftzeichen für Himmel eine menschliche Gestalt aufweisen. Mit dem Sieg der Zhou über die Shang war eine kulturelle Verschmelzung verbunden, in deren Verlauf auch der Himmelskult der Zhou mit dem Kult des Shang-di verbunden wurde. Dies war eine Synthese, die sicherlich längere Zeit, möglicherweise mehrere Jahrhunderte, in Anspruch nahm. Shang-di und Himmel (tian) wurden darum auch als Synonyme gebraucht, wie uns das ‚Shu-jing‘ (‚Buch der Urkunden‘) und das ‚Shi-jing‘ erkennen lassen. Shang-di war als Urahn der Shang gedacht; die unmittelbare Berufung auf ihn setzte Kontinuität in der Herrscherfolge voraus. Sie war mit der Diskontinuität, die der Wechsel der Herrschaft von Shang auf Zhou darstellte, nicht ohne weiteres zu vereinbaren. Andererseits war es wiederum zweckmäßig, den geistigen Gehalt der Shang-di-Vorstellung in den Himmelskult einfließen zu lassen, weil dies praktischpolitisch (sic; RGP) integrierte; man konnte an den Ahnenkult der Shang anknüpfen. Im übrigen machte der Sieg des Vasallen-Stammes der Zhou die Tatsache bewusst, dass das Reich ein Stammesbund, ein Konglomerat verschiedener Stämme, war. Dieser Tatsache mußte jetzt auch geistig 75
Rechnung getragen werden: Man mußte sich abstrakter zu den Ahnengeistern und ihrer Macht verhalten. Die Vorstellung vom Himmel bot diese Möglichkeit. War Shang-di der Urahn der Shang gewesen, so hatte der Himmel auch Platz für andere Ahnengeister. Der Herrscher begann entsprechend, den Titel tian-zi (‚Sohn des Himmels‘) zu führen, und dies war sein Name – über die Jahrtausende hinweg – bis in unser Jahrhundert“ (Moritz 1990, S. 19f.; Hervorh. Moritz).
Wir haben weiter oben gesehen, dass Chang die drei Dynastien als einen einzigen historischen Raum versteht, indem es seiner Auffassung nach erst zu einem Bruch in der Kontinuität kam, als die Bronzezeit in die Eisenzeit überging. Moritz, der zwar ebenfalls moderne Kategorien auf die Vormoderne rückprojiziert und sie damit transhistorisch verwendet – hier die Kategorie politisch, weiter oben spricht er von ideologischen Verhältnissen, womit er zeigt, dass er die kategorialen Bestimmungen von Vormoderne und Moderne nicht auseinanderhalten kann -, erkennt zumindest, dass der Machtübergang von den Shang zur Zhou-Dynastie eine Diskontinuität im »fetischistischen Herrschaftsverhältnis« darstellt und sich ein Kampf des Alten gegen das Neue (Flasch, nach Kurz; s. w. u.) bzw. eine Synthese aus beiden vollzog, der bzw. die einen längeren Zeitraum in Anspruch nahm. Diese neuen »Fetischverhältnisse« als »apriorische Matrix« wurden, hatten sie sich einmal gefestigt, nicht mehr hinterfragt, sie galt von „vornherein“.32 Für die Vormoderne ist das relativ leicht einzusehen. Die im Matriarchat herrschenden »Fetischverhältnisse« – Darstellungen von gebärenden Frauen, die eventuell mit »Fruchtbarkeitsritualen« und 32
Außer in Krisenzeiten, z. B. beim Übergang von einem »Fetischverhältnis« zu einem anderen, siehe den schon erwähnten Wechsel von der Shang- zur Zhou-Dynastie. 76
»Muttergottheitsverehrung« in Verbindung zu bringen sind (vgl. Brinker 1996, S. 25f.) – wurden als »apriorische Matrix« solange nicht in Frage gestellt, wie dieses Matriarchat in den Sozietäten dominierte. D. h., dass die sozialen Beziehungsstrukturen, die kulturell-symbolischen Formen (s. o.), der »Stoffwechselprozeß mit der Natur« und ganz wesentlich die Geschlechterverhältnisse matriarchalisch bestimmt waren. Brinker weist darauf hin, „dass der chinesische Begriff für »Familien- oder Sippenname«, xing, aus dem sinngebenden Element nü, »Frau, weiblich«, und dem Bestandteil sheng, »gebären, geboren werden«, besteht und dass erst ein durch Namen institutionalisiertes Sippenbewußtsein und Familiensystem zu einer genealogischen Abfolge von Ahnen sowie deren ritueller Verehrung führen kann“ (ebd. 1996, S. 29; Hervorh. Brinker). Und er fährt fort: „Der Legende zufolge war es Nügua, die übernatürliche Kulturschöpferin, die den Menschen rituelle Gesetze für Ehe und Familie gab, als sie Himmel und Erde in Ordnung brachte“ (ebd.).
Der Übergang vom Matriarchat zum Patriarchat brachte männlich dominierte »Fetischverhältnisse« hervor, die die weiblich bestimmten modifizierte und als »apriorische Matrix« diejenigen des Matriarchats ablöste. Es kann vermutet werden, dass es auch im Matriarchat zu Modifikationen der »Fetischverhältnisse« kam, mit Sicherheit war dies der Fall bei den patriarchalischen wie am Übergang von der Shang- zur Zhou-Dynastie demonstriert.33 33
Diese allgemein gehaltenen Aussagen müssen in Bezug auf die je spezifischen Sozietäten genau überprüft werden, z. B. der Longshan-Kultur, soweit sich dies für das Neolithikum überhaupt bewerkstelligen lässt. 77
Schauen wir uns nun die schon z. T. erwähnten zentralen Begriffe »Metaphysik«, »Realmetaphysik«, »Fetischverhältnisse« (»apriorische Matrix«) und die gleichursprünglich entstandenen Momente der Reproduktion einmal näher an. Kurz, sich auf Aristoteles beziehend, geht ausführlich auf die philosophische Lehre der Metaphysik ein (vgl. Kurz 2007, S. 2ff.). Hier genügt es vorerst, die Kernpunkte dieser Lehre darzustellen. Es muss zuerst darauf hingewiesen werden, dass nach Feng Youlan (1895-1990) die »Metaphysik« als philosophische Disziplin im vormodernen China keinen großen Stellenwert besaß, das gleiche gilt z. B. auch für die Epistemologie (vgl. dazu Feng Yulan 1994, Vol. I, S. 1ff.). Das mag u. a. daran gelegen haben, dass die bedeutendsten Denker in der Zeit zwischen der Mitte des 6. Jahrhunderts und dem 3. Jahrhundert v. u. Z. lebten, also in einer Periode, in der die alte Ordnung der Zhou zerfiel und es in der Epoche der „Zeit der Streitenden Reiche“ (Zhanguo, 475 oder 463-221 v. u. Z.; nach Kuhn 1991, S. 34), zu einem Kampf um die Vorherrschaft im chinesischen Reich kam. Feng Youlan, der Historiker der chinesischen Philosophie schlechthin, verweist auf die Differenzen zwischen westlicher und chinesischer Philosophie: „In the West, philosophy has been conveniently divided into such divisions as metaphysics, ethics, epistemology, logic, etc.. (sic; RGP) And likewise in China already in the fifth century B. C., we find reference being made to the discourse of Confucius on ‚human nature and the ways of Heaven‘ (Lun Yü, V, 12). Thus already in this quotation there are mentioned two of the divisions of western philosophic thought: ‚human nature‘ corresponds roughly to ethics, and the ‚ways of Heaven‘ to metaphysics. As for the other division’s, such as logic and epistemology, they in China have been touched on only by the thinkers of the Period of the Philosophers (extending from Confucius to about 100 B. C.), 78
and have been neglected by later Chinese thinkers (for example, those of the Sung and Ming periods). In one way, to be sure, this later philosophy can be said to have developed a methodology, when it discussed what it called ‚the method of conducting study‘. This method, however, was not primarily for the seeking of knowledge, but rather for selfcultivation; it was not for the search of truth, but for the search of good“ (Fung 1994, Vol. I, S. 1; Hervorh. Fung).
Hier sei angemerkt, dass es durchaus Philosophen der chinesischen Achsenzeit gab, die sich mit den Disziplinen Logik und Erkenntnistheorie auseinandergesetzt haben – getrieben gerade durch den Willen zur Abgrenzung gegenüber anderen Denkschulen. Greifen wir als Beispiel „Mo Di (bzw. Mozi oder Zimozi, ca. 480-397 v. u. Z.) heraus, der Begründer der Schule der Mohisten“ (Roetz, 1992, S. 372), der sich gegenüber dem Konfuzianismus behaupten will. Da Mo Di als erster chinesischer Denker die Notwendigkeit einer ausführlichen Begründung von Standpunkten erkennt, stellt er „sogar Geltungskriterien auf, was ihn zu einem der Stammväter der chinesischen Logik macht“ (ebd., S. 385). Und Moritz führt aus: „Die Bedeutung des frühen Mohismus für die Gesamtperspektive der geistigen Entwicklung besteht nicht zuletzt darin, dass mit ihm in China erkenntnistheoretisches Denken entsteht. Das ist dadurch bedingt, dass mit dieser Strömung in China das Bewusstsein beginnt, eigene ideologische Positionen in der Auseinandersetzung mit anderen argumentativ zu entwickeln. Das führt den Mohismus zur Frage nach der Norm für deren Bejahung oder Negation, letztlich für die Wahrheit oder Falschheit einer Aussage: ‚Man muß eine Norm aufstellen, redet man ohne Norm, dann ist es so, als würde man auf einer Drehscheibe stehen und dabei die Himmelsrichtungen bestimmen wollen. So wird man nicht 79
zwischen wahr und falsch, zwischen Nutzen und Schaden unterscheiden können.‘ (Mozi, zit. nach Moritz). So stellt Mo-zi die san biao auf, die drei Kriterien, die als Richtlinie dienen sollen: erstens die Taten der weisen Könige des Altertums, zweitens die Sinneswahrnehmungen des Volkes, drittens die Anwendung in Recht und Politik (sic; RGP) und der damit verbundene Nutzen für den Staat, (sic; RGP) die Familien und das Volk. Mit diesen drei Wahrheitskriterien des Mohismus beginnt in China das Nachdenken über das Denken“ (Moritz 1990, S. 91, Hervorh. Moritz; zum Mohismus vgl. Bauer 1989, S. 53-60, ferner Fung Yu-lan 1994, Vol. I, S. 76-105.).
Es mag zwar richtig sein, dass die »Metaphysik« als philosophische Disziplin keinen großen Stellenwert besaß, jedoch gibt es zweierlei zu bedenken: Erstens waren auch während der „Zeit der Streitenden Reiche“ die jeweiligen rivalisierenden Reiche »religiös« konstituiert. D. h., dass auch die so genannten „Hundert Schulen“ (bajia), die in dieser Zeit entstanden waren, dem »transzendenten göttlichen Prinzip« unterworfen waren. Zweitens folgt daraus, dass auch die so genannte „Selbstkultivierung“ auf dem »Glauben an übersinnliche Kräfte und Mächte« basierte. Die Frage ist, ob das metaphysische Denken der so genannten „Hundert Schulen“ mit dem des griechisch-abendländischen gleichzusetzen ist. Schauen wir uns letzteres einmal näher an. »Metaphysik« ist nach Kurz „die Lehre von den ‚ersten Ursachen und Prinzipien‘ des ‚Seienden überhaupt‘, die Erklärung oder ‚Letztbegründung‘, warum es überhaupt etwas gibt, die Lehre von dem, was ‚der Welt zugrunde liegt‘, die Lehre von einem ‚Absoluten‘, das die Erscheinungswelt erst konstituiert (‚constituens‘ im Unterschied zu ‚constitutum‘) und das überzeitlich 80
ist. Metaphysik kann daher eingeteilt werden in die Lehre von einem überzeitlichen ‚Wesen des Seienden überhaupt‘ (Ontologie), von einem überzeitlichen ‚Wesen der natürlichen Welt‘ (naturphilosophische Kosmologie) und einem überzeitlichen ‚Wesen des Menschen‘ (philosophische Anthropologie), wobei Kosmologie und Anthropologie in der allgemeinen Ontologie enthalten, also selber ontologisch bestimmt sind. Jedesmal ist es die ‚Wissenschaft vom Absoluten‘ und ‚letztursächlich‘ Konstituierenden, sei es eines Absoluten des ‚Seienden überhaupt‘, eines Absoluten der physischen Welt oder eines Absoluten der Menschenwelt und ihrer Geschichtlichkeit“ (Kurz 2007, S. 2f.; Hervorh. Kurz).
Der zentrale Begriff des »metaphysischen Denkens« in der chinesischen Philosophie ist das »dao«, was gemeinhin mit „Weg“ übersetzt wird. Allerdings ist die Bedeutung so umfassend, dass es im Grunde genommen unübersetzbar ist, wie u. a. Karl Albert meint: „Das Wort ist in seiner Bedeutungsfülle unübersetzbar. Die Grundbedeutung ‚Weg‘ läßt nicht erkennen, dass letztlich ein Kernprinzip und Weltprinzip gemeint ist, wenn in philosophischen Zusammenhängen von ‚Tao‘ die Rede ist“34 (Albert 1996, S. 74; Hervorh. Albert).
Wenn Kurz davon spricht, dass nach Aristoteles Metaphysik „die Lehre von einem ‚Absoluten‘, das die Erscheinungswelt erst konstituiert (...) und das überzeitlich ist“ (s. o.), dann scheint auf den ersten Blick das »dao« das Pedant zu dem aristotelischen Absoluten zu sein, denn Albert sieht im »dao« ein »Kernprinzip« und ein »Weltprinzip« walten. Tatsächlich existieren Unterschiede, wie wir gleich sehen werden. 34
Ähnlich äußert sich auch Ralf Moritz (vgl. Moritz 1990, S. 102f.). 81
Hier muß vorab festgehalten werden, dass für unsere Analyse die Unterschiede im »metaphysischen Denken« des Abendlandes und Chinas erst dann von Belang sein werden, wenn wir uns auf die philosophische Ebene begeben, also in die so genannte „Achsenzeit“ (Karl Jaspers), in der Laozi und Zhuangzi (370-300 v. u. Z.; nach Bauer 2001, S. 339) bzw. Aristoteles (384-322 v. u. Z.) gelebt und gewirkt haben, ihre Lehren Einfluss auf die jeweiligen Sozietäten gewannen. Albert weist auf die Differenzen im metaphysischen Denken hin, indem er zwei Autoren „kritisiert“: „Nach Forke darf man nun den Begriff des Tao ‚ohne Bedenken mit dem Absoluten, dem An-und-für-sich-Sein, dem reinen oder transzendenten Sein unserer Philosophen gleichsetzen‘, und Andre Eckardt meint sogar: ‚Im Grunde genommen bedeutet Tao bei Lao-tse das ewige, ursprüngliche absolute Sein, die Existenz schlechthin, entspricht also unserem Gottesbegriff.‘ Beide Autoren gehen gewiß ein wenig zu weit. Zu Forke möchte man das ‚gleichsetzen‘ korrigierend ersetzen durch ‚vergleichen‘. Bei Eckardt wäre einzuwenden, dass man den abendländischen Gottesbegriff vom Denken der klassischen chinesischen Philosophie ganz fernhalten muß“ (Albert 1996, S. 81).
Einen Schöpfergott hat es in China nicht gegeben (s. w. u.) und der »unbewegte Beweger« des Aristoteles (s. w. u.) scheint sich vom »dao« des Daode jing (Buch vom Weg und von der Tugend), das Laozi zugeschrieben wird, zu unterscheiden. Diese Auffassung vertritt Guy Alitto, der das Denken des Heraklit (ca. 540-480 v. u. Z.) mit dem des »Yi Jing« (Buch der Wandlungen) als Vergleich heranzieht, das die „älteste erhaltene kosmologische Abhandlung ist“ (Alitto, Guy 1992, S. 129). Er soll deshalb ausführlich zu Wort kommen, denn einige alte griechische »Kosmologien« hätten eine gewisse Ähnlichkeit mit der im »Yi Jing« dargestellten Annahme, „dass die Welt sich im ständi82
gen, aber regelmäßigen Fluss befinde“ (ebd.). Heraklits Denken, so Alitto, käme dem chinesischen Denken am nächsten: „In der chinesischen Weltsicht wie der des Heraklit geschieht alles in einem ungeschaffenen, sich ständig wandelnden Kosmos, gemäß dem Logos (bzw. dem chinesischen Tao). Die in Heraklits Logos bzw. dem chinesischen Tao ausgedrückte Grundwahrheit ist die Einheit der Gegensätze, welche, obwohl sie in ständigem Widerstreit stehen, dennoch gegenseitig voneinander abhängig und miteinander verbunden sind. Deshalb konnte ein und dieselbe Entität sowohl sein als auch nicht sein, weil das Werden das Prinzip falsifiziert, das alles ist, was es ist. Die chinesische Sprache besitzt das Verb »sein« gar nicht. Ebenso gibt es in den Annahmen und Erwartungen der chinesischen Logik keine Entsprechung zu Aristoteles’ Satz vom Widerspruch (das heißt zwei einander ausschließende Sätze können nicht beide wahr sein: A ist nicht Nicht-A). Vielmehr lautet die logische Annahme, dass zwei wahre (oder gute) Dinge in irgendeinem Sinn als notwendig und damit als komplementär betrachtet werden müssen. Deshalb auch müssen zwei sich widersprechende Dinge, die als gut oder wahr beurteilt worden sind, auf irgendeine Weise oder auf irgendeiner Ebene harmonisch und miteinander versöhnbar sein. Zwei unvereinbare Elemente gelten als wechselseitig notwendig und damit komplementär. Das Paradebeispiel für diese Voraussetzung ist das Yin-Yang-Prinzip, bei dem zwei entgegengesetzte kosmische Kräfte fortgesetzt einander bekämpfen und sich doch in wechselseitiger Abhängigkeit durchdringen. Daraus folgt die für das chinesische Denken charakteristische Tendenz oder auch Neigung zur 83
Synthese. Die logische Grundlage, von der aus wir eine Dichotomie zwischen orthodox und heterodox formulieren können, war also im chinesischen Denken gar nicht vorhanden“ (ebd., S. 129f.; Hervorh. Alitto).
Es scheint offensichtlich zu sein, dass das »metaphysische Denken« der chinesischen „Achsenzeit“ anders geartet war als das abendländische. Die Gemeinsamkeit besteht darin, dass sowohl im Okzident wie auch in China sich ein »metaphysisches Denken« ausgebildet hat. Nach Alitto steht, wie wir gesehen haben, das »metaphysische Denken« des Heraklit dem chinesischen näher als das des Aristoteles. Diese Differenz ist vorerst nicht von Belang. Die Wert-Abspaltungstheorie hat nicht das Geringste mit »metaphysischem Denken« zu tun, vielmehr macht sie es zum Gegenstand ihrer Untersuchungen. Das trifft für die Vormoderne ebenso zu wie für die Moderne. Mit anderen Worten: auch wenn über das „vor-chinesische“ Neolithikum und den drei Dynastien keine bzw. für letztere kaum schriftliche Zeugnisse über ein systematisches »metaphysisches Denken« existieren,35 lässt sich mit der Theorie der Geschichte als Geschichte von Fetischverhältnissen dieses Denken oder besser die damals herrschenden »Fetischverhältnisse« analysieren und entschlüsseln. Kurz verweist darauf, dass „die Transzendenz auch durch die Entwicklung der vormodernen metaphysischen Kosmologie bzw. Kosmogenese“ (Kurz 2007, S. 9) verschärft wird. In den „Schöpfungsmythen etwa (...) handelt es sich nicht um eine ‚creatio ex nihilo‘, 35
Nach Richard Wilhelm geht das Yi Jing auf den Gründer der ZhouDynastie (1045 v. u. Z.), König Wen, zurück. Sein Sohn soll den Text zu den einzelnen Strichen verfasst haben (vgl. Wilhelm 1972, S. 18). Erst gegen Ende der Westlichen Zhou (8. Jh. v. u. Z.) wurde durch die Schafgarbenstäbchen, die nun zur »Orakelbefragung« benutzt wurden, „die Voraussetzung für eine Verbreitung des Orakels über den engen Kreis des Königshofs“ (Ritsen/Schneider 2000, S. 50) möglich. 84
sondern es gibt immer schon vor dem Schöpfer oder unabhängig von ihm eine Weltsubstanz, eine Ursuppe oder ein Urwasser etc., wobei dann die gestaltete Welt witzigerweise durch göttliche Masturbation oder Ausspucken entsteht (...). Diese Konstellation ändert freilich in Wahrheit überhaupt nichts an der Transzendenz des Göttlichen“ (ebd.). Hier finden sich in der chinesischen »Mythologie« Entsprechungen. Andrea Keller führt zwei Mythen an, „deren erste Aufzeichnung nicht früher als auf das 3. nachchristliche Jahrhundert datiert werden kann“ (Keller 1996, S. 138). Die eine handelt vom „Strudelnden Einerlei (hundun)“, die andere vom Ur-qi (yuan-qi) [das] eine [einzige] (Einklammerung von A. Keller?) wogende Unermeßlichkeit (menghong)” gewesen sein soll (ebd.; Hervorh. Keller; zu den besagten Mythen siehe ebd.). Allerdings finden sich auch »Mythen«, die aus früheren Zeiten stammen, so aus der Zhou- und Han-Zeit. Dazu Keller: „Die dem Weltei analoge Idee einer präkosmischen Undifferenziertheit, die aber bereits das gesamte Sein keimhaft in sich trägt, äußert sich schon in einer Vielzahl von philosophischen Traktaten aus der Zhou- und besonders der HanZeit. Dieses einem Urozean oder einer Ursuppe vergleichbare präkosmische Einerlei wird dort zumeist mit Begriffen wie hundun, menghong u. a. bezeichnet, deren Etymologien in der Mehrzahl einen Zusammenhang mit Wasser aufweisen. Ganz wie in den Pangu-Mythen gestaltet und strukturiert sich auch in jenen kosmogonischen Fragmenten der Kosmos aus dem flüssigen, ja verschwommenen hundunZustand, d. h. einem strudelnden Einerlei, in einem Prozeß von Vereinigungen und fortschreitenden Trennungen allmählich zu dem geordneten, komplexen Gebilde, welches unsere Welt ist. Entscheidend für die Weltwerdung ist hier das Differenzieren, Trennen, Teilen und Verwandeln einer ursprünglich unfaßbaren und amorphen Urmasse. Im Un85
terschied zu den Kosmogonien mancher anderer Völker, in denen die Welt aus dem Nichts entsteht bzw. (von einem Schöpfergott) erschaffen wird (creatio ex nihilo), ist also in China immer schon ein Urstoff vorhanden, aus dem sich der Kosmos durch eine Reihe von Modifikationen als eine Seinsordnung herauskristallisiert“ (ebd.; Hervorh. Keller).
Verlassen wir die »Mythologie« und kehren zurück zur »Metaphysik« des Aristoteles, von dem Kurz sagt: „Aristoteles bestimmt als dieses welt-konstituierende Absolutum einen sogenannten ‚unbewegten Beweger‘, ein ‚unbewegliches Wesen‘ (Metaphysik, a.a.O., S. 127). Zu dieser Schlussfolgerung kommt er, weil alles in der Welt durch Ursachen bewegt wird, nicht nur im mechanischen Sinne, sondern auch im Sinne von Werden und Vergehen, und es deshalb eine erste, selber unbewegliche Ursache geben müsse, die ewig und transzendent ist: ‚(Nur) der uns umgebende Raum der Sinneswelt befindet sich in beständigem Vergehen und Entstehen‘ (a.a.O., S. 81), und ‚das erste Bewegende ist selbst unbewegt‘ (a.a.O., S. 88)“ (Kurz 2007, S. 3; Hervorh. Kurz).
Das »dao« des Laozi kann mit dem aristotelischen »unbewegten Beweger« verglichen werden, denn im Kapitel 25 des Daode jing heißt es: „Es gibt ein chaotisch gestaltetes Wesen, das war schon vor Himmel und Erde. Still und leer, steht es allein und verändert sich nicht, kreist es und erschöpft sich nicht. Vielleicht ist es die Mutter der zehntausend Dinge“ (Lao Tse 1996, Kap. 25, o. S.). 86
Albert, sich auf die Übersetzung von Günther Debon beziehend, der das obige Kapitel folgendermaßen wiedergibt: „Ein Wesen gibt es chaotischer Art. Das noch vor Himmel und Erde ward. So tonlos, so raumlos. Unverändert, auf sich nur gestellt, Ungefährdet wandelt es im Kreise. Du kannst es ansehn als die Mutter der Welt“ (Debon, zit. nach Albert 1996, S. 77)
interpretiert dieses Kapitel so: „Es geht jedenfalls um den Namen eines uranfänglich Seienden, eines Urwesens, eines Urprinzips. Von ihm wird gesagt, es sei ‚chaotischer Art‘. Was das bedeutet, läßt sich aus dem nächsten Vers erschließen: es war noch vor Himmel und Erde, also vor der Trennung von Himmel und Erde, also, wenn wir das 42. Kapitel heranziehen, vor der Entstehung einer Zweiheit. Darin liegt, dass dieses UrSeiende ein Eines war, vermutlich das Eine schlechthin“ (ebd.; Hervorh. Albert).
In Zhuangzi36 Kapitel 12, lesen wir: 36
Laut Moritz soll Zhuangzi in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts v. u. Z. bis in die ersten Jahre des 3. Jahrhunderts v. u. Z. gelebt haben. Die deutsche Übersetzung firmiert unter dem Titel Das wahre Buch vom südlichen Blütenland (vgl. Moritz 1990, S. 112f.). In Library of Chinese Classics, die The Complete Works of Zhuangzi herausgegeben haben, woraus hier zitiert wird, wird lediglich gesagt, dass „Zhuangzi was Zhuang by family name and Zhou by personal name, with the courtesy name Zixiu“ (Zhuangzi I, 1999, S. 44). Es folgen einige Angaben über seinen Lebenslauf, die hier nicht weiter von Interesse sind (vgl. ebd., S. 44ff.). 87
„At the very beginning, there was nothing in the world at all. There was no existence and there was no name. Then, there was Oneness, another name for Tao, which did not assume any form. From Oneness came everything, each receiving what is called its own ‚virtue‘. Before things took on their respective forms, there was already the distinction of yin and yang, inseparable from each other. This is called the ‚destiny‘. Things came into existence in the process of flow and flux of yin and yang, each with its own configuration which are called its ‚form‘. The physical form protects its spirit, each with its own characteristics which are called the ‚inborn nature‘. With further cultivation, the inborn nature returns to virtue; in its perfection, virtue is very much the same as the very beginning. To be the same as the very beginning is to be empty; to be empty is to be all-embracing“ (Zhuangzi I 1999. Chapter 12, S. 183; Hervorh. im Original).
Kurz formuliert dies auf der abstrakt-allgemeinen Ebene so: „Deshalb tendiert alles Denken in den religiösen Konstitutionen zu einer Aufspaltung in ein materiales, sinnliches, körperliches Dasein innerhalb der Welt einerseits und in ein ‚übersinnliches‘, unkörperliches, außerweltliches und gleichzeitig welt-konstitutives Jenseits andererseits“ (Kurz 2007, S. 9; Hervorh. Kurz).
Als Fazit dieses Exkurses lässt sich festhalten, dass es im »metaphysischen Denken« der griechischen Antike und des China der „Zeit der Streitenden Reiche“ Gemeinsamkeiten und Differenzen gibt. Im Fall der Gemeinsamkeit lässt sich der »unbewegte Beweger« oder das »unbewegliche Wesen« als das welt-konstituierende »Absolute« des
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Aristoteles mit dem »dao« des Laozi vergleichen, vorsichtiger formuliert könnte man sagen, sie ähneln einander. Im Kapitel 37 heißt es: „Tao never does; Yet through it all things are done“ (Laozi 1999. Chapter 37, S. 75).
In der deutschen Übersetzung lautet die Passage: „Der Weg bleibt immer im Zustand des Nicht-Tuns, und doch gibt es nichts, das ungetan bliebe“ (Lao Tse 1996, Kapitel 37, o. S.).
Der Unterschied zwischen dem »Absoluten« und dem »dao« scheint im Kapitel 40 auf: „Genau entgegengesetzt ist die Richtung des Weges; nachgeben ist seine Art und Weise. Die zehntausend Dinge entstehen aus dem Sein, und das Sein entsteht aus dem Nichtsein“ (ebd., Kapitel 40, o. S.).
Sehen wir uns die autorisierte Übersetzung dieses Kapitels aus dem Chinesischen ins Englische an, so werden in den ersten beiden Zeilen die Unterschiede deutlich: „In Tao only motion is returning; The only useful quality, weakness. Fore though all creatures under heaven are the product of Being, Being itself is the product of Non-Being“ 1“ (Laozi 1999, Chapter 40, S. 83).
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In der obigen Anmerkung (1) als Endnote heißt es, dass die Schriftzeichen, die mit „Being“ und „Not-Being“ übersetzt wurden, eigentlich unübersetzbar seien (vgl. ebd., S. 278). Auf Parmenides eingehend, wird die Differenz deutlich: „(But, we must not confuse them with Parmenides’ concepts of being and non-being, for Parmenides, there is only one unchanging, unmoving and indivisible real existence, he calls it ‚being,‘ but there is no non-being for him.) Laozi pays attention both to being and non-being and holds their relation as complementary and continuous“ (ebd., S. 278f.).
Anders formuliert, die von »yang« und »yin« gebildeten Gegensatzpaare sind komplementär und in einem stetigen Fluss (die Nacht wird vom Tag abgelöst, das Weiche [Wasser] höhlt dass Harte [Stein] aus, etc.). Es ist offensichtlich, dass es im »metaphysischen Denken« der beiden Kulturkreise Differenzen gibt, die nicht eingeebnet werden dürfen. Nun ist diese spezifisch chinesische »Metaphysik« zwar erst im oben genannten Zeitraum voll zum Tragen gekommen, aber eben nicht vom »Himmel« gefallen. D. h., dass es durchaus schon in der Westlichen Zhou-Periode oder noch früher Anzeichen eines anders gearteten Denkens gegeben haben könnte. Hier sei nur darauf verwiesen, dass die Vorstellung über die „Seele“ (linghun) sich von der des Abendlandes unterscheidet. Im alten China wurde zwischen einer so genannten „Geistseele“ (hun) und einer so genannten „Körperseele“ (po) unterschieden „und man verstand sie als Emanationen einer Leben einhauchenden Energie (qi)“37 (Chen 1996, S. 37; Hervorh. Chen; vgl. dazu auch Moritz 1990, S. 17ff.). 37
Zu »Qi« vgl. Choe Chong-Soh 1995. Qi, ein religiöses Urwort in China. Von den Knocheninschriften bis zur heutigen Feng-shui-Praxis, Frankfurt am Main. 90
Ob sich der »Glaube an zwei Seelen« für das „vor-chinesische“ Neolithikum eindeutig nachweisen lässt, dürfte fraglich sein, da sich in Bezug auf die Analyse dieser Epoche der Menschheitsgeschichte gewisse Probleme ergeben (s. u.). Erinnern wir uns an die eingangs von Kurz gemachte Feststellung, die sinngemäß lautet, dass wir den vormodernen Sozietäten niemals voll und ganz gerecht werden können, da wir uns in einer Aporie befinden, aber: „Es kann nur darum gehen, das historische Material ernst zu nehmen in seiner Eigenlogik, ohne deswegen auf den geschichtstheoretischen Begriff zu verzichten“ (Kurz 2006, S. 6).
Mit »Metaphysik« wird – wie oben dargelegt – ein bestimmter Bereich philosophischer Reflexion bezeichnet (vgl. Kurz 2007, S. 1). Da diese Reflexion nicht in einem luftleeren Raum stattfindet, vielmehr der Mensch seine »Reproduktionsverhältnisse« selbst macht und zwar als »Fetischverhältnisse«, sowohl in vormodernen Sozietäten wie im modernen warenproduzierenden Patriarchat, stehen diese Reflexionen „immer schon in einem Kontext von menschlicher Reproduktion, also der sozialen Beziehungen und des ‚Stoffwechselprozesses mit der Natur‘ in unterschiedlichen historischen Formationen. Wenn deshalb von Metaphysik die Rede ist, kann diese nicht für sich als philosophische Reflexion mit verschiedenen Standpunkten (‚geistesgeschichtlich‘) genommen, sondern muss im Zusammenhang mit den jeweiligen Reproduktionsverhältnissen gesehen werden“ (ebd.; Hervorh. Kurz).
Die Reproduktion der menschlichen Daseins- und Lebensverhältnisse werden im Sinne der Theorie der Geschichte als Geschichte von Fetischverhältnissen nicht mehr als das Marxsche Basis-Überbau-Schema 91
gefasst, vielmehr geht besagte Theorie davon aus, „dass es verschiedene ‚gleichursprüngliche‘ Momente der Reproduktion gibt, also außer der jeweiligen Form des ‚Stoffwechselprozesses mit der Natur‘ auch damit nicht absolut deckungsgleiche Formen der sozialen Beziehungen, kulturell-symbolische Formen, Reflexionsformen, nicht zuletzt Geschlechterverhältnisse etc., die aufeinander nicht reduzibel sind, sondern erst als Ganzes eine bestimmte historische Formation konstituieren“ (ebd., S. 1f.; Hervorh. Kurz). Wenn Kurz von „‚gleichursprünglichen‘ Momenten der Reproduktion“ (s. o.) spricht, dann reicht es nicht aus, nur den »Stoffwechselprozess mit der Natur«, also die Produktion von Lebensmitteln im weitesten Sinne in den Fokus zu nehmen. Es muss ebenso nach den sozialen Beziehungsformen – »blutsverwandtschaftliche Strukturen« oder solche, die darüber hinausgehen – geforscht werden – und welche Bedeutung sie in diesem Gesamtkontext haben. In Bezug auf die neolithischen Sozietäten ist es kein leichtes Unterfangen diesen „gleichursprünglichen Momenten der Reproduktion“ (s. o.) auf die Spur zu kommen. Auf archäologische Artefakte zurückgreifend, können die je spezifischen kulturell-symbolischen Formen – z. B. in der Yangshao- (ca. 5000-3000 v. u. Z.) und der Longshan-Periode (30002000 v. u. Z.) – untersucht werden. Was die neolithischen Menschen gedacht haben – Formen der Reflexion – ist mit Sicherheit nicht nachvollziehbar. Archäologische Funde – »anthropomorphe Kultgegenstände, Begräbnisrituale, Grabbeigaben« etc. – lassen Raum für Spekulationen. Ohne schriftliche Belege lassen sich keine eindeutigen Aussagen über das Denken dieser Menschen machen. Aussagen über das Geschlechterverhältnis – z. B. dem Übergang von der Herrschaft des Matriarchats zu der des Patriarchats – sind zeitlich nicht absolut eindeutig datierbar, da es sich um einen langen Transformationsprozess gehandelt haben dürfte. Helmut Brinker, sich auf die Darstellung ritueller Nacktheit weiblicher Körper beziehend, schließt daraus, dass zwischen dem 6. bis 3. 92
Jahrtausend die spätneolithische Gesellschaft weitgehend von matriarchalischen Kulten und Strukturen dominiert wurde (vgl. Brinker 1996, S. 25). Er verweist ferner auf den „Tempel der Göttin“ (Nüshen miao), wobei „es sich hier um eine exponierte Kultstätte in sakraler Isolation gehandelt haben muß“ (ebd., S. 28; Hervorh. Brinker). Bei den Fragmenten, die ausgegraben wurden, handelt „es sich bei der Mehrzahl um weibliche Gestalten (...), die durch Modellierung der Brüste eindeutig gekennzeichnet sind. Hier scheint der dominierende gesellschaftliche Status der Frau gegenüber dem Mann noch unangetastet zu sein und der im Allgemeinen konstatierte Wandel von einer »matrilinealen« zu einer »patrilinealen« Organisation noch nicht eingesetzt zu haben“ (ebd., S. 28f.; Hervorh. Brinker). Datiert wurden diese „auf 3020 (+/- 80) v. Chr. sowie 3025 (+/-85) v. Chr.“ (ebd., S. 28). Chen Lie weist darauf hin, dass die weiblichen Gottheiten „alle der neolithischen Hongshan-Kultur (ca. 6000-3000 v. Chr.) angehören. Das früheste Beispiel ist eine ca. 8000 Jahre alte, rundplastische Steinskulptur von 35,5 cm Höhe, die in Baiyin Changhan im Kreis Linxi in der Inneren Mongolei ausgegraben wurde und anhand der hervortretenden Brüste und des Bauchs einer Schwangeren eindeutig als weibliche Figur identifiziert werden kann“ (Chen 1996, S. 37). Grabfunde aus der Yangshao-Kultur (ca. 5000-3000 v. u. Z.) bezeugen die hohe Stellung der Frauen in dieser Sozietät (vgl. ebd., S. 38) Für den Übergang vom Matriarchat zum Patriarchat bemüht Chen die einschlägigen Mythen: „Auch die chinesischen Mythen aus alter Zeit berichten von berühmten Frauengestalten wie z. B. »Xiu Si«, Jian Di« (sic!) oder Jiang Yuan« (sic!). Sie belegen, dass die frühesten Ahnen weiblich waren und gleichzeitig wahrscheinlich die letzten Generationen einer langen Folge von weiblichen Stammesanführerinnen einer matriarchalischen Gesellschaft darstellen. Nach dem im Taiping yulan 93
zitierten Xiaojing goumingjue erblickte »Xiu Si« einen Kometen im Sternbild ang, verfiel darauf in einen Schlaf und wurde im Traum heimgesucht. Daraufhin schluckte sie eine »magische Perle« (shenzhu) und gebar »Yu«. Die Bambusannalen (Zhushu jinian) berichten, dass »Jian Di« das Ei eines mythischen Vogels (xuanniao) verschluckte und »Xie« gebar. Zu Jiang Yuan« (sic!) heißt es, sie sei in die Fußabdrücke eines Riesen getreten und habe darauf »Qi« geboren. Diese drei auf außergewöhnliche Weise gezeugten männlichen Personen werden als Anführer des Xia-, Shang- und Zhou-Volkes angesehen und historische Untersuchungen bestätigen, dass in jener Zeit sich die patriarchalische Gesellschaftsform in China durchsetzte“ (ebd., S. 39; Hervorh. Chen).
Was ebenfalls zeitlich nicht eindeutig feststellbar ist, ist die Herausbildung von »Herrschaftsverhältnissen« innerhalb der durch »Fetischverhältnisse« konstituierten Sozietäten, die sich auch für das „vorchinesische“ Neolithikum nachweisen lassen. Für die späte LongshanPeriode (ca. 2600-2000 v. u. Z.) stellt Shao Wangping fest: „As the rulers became more powerful, they used coercion to establish a new social order, limiting the behavior of all social classes and differentiating superior from inferior, high status from low, as well as coordinating the interests of the various strata of the elite. This in turn gave rise to a system of rites, which first represented the elite and then finally led to the multilayered society that characterized the early state (sic; RGP), that is, the entry into a civilized society“ (Shao 2005, S. 87f.).
Es mutet äußerst befremdlich an, den „frühen Staat“, den es gar nicht geben konnte, mit dem Eintritt in eine zivilisierte Gesellschaft bzw. 94
Sozietät gleichzusetzen. Dass erst mit dem Aufkommen von »Herrschaftsverhältnissen« ein »Ritensystem« entstanden sein soll, bezweifeln indes andere Autoren, so u. a. Lei (s. w. u.). In der Einleitung ist dargelegt worden, dass die »Darbringung von Opfern« an die »Ahnen, Geister, Götter« etc. wohl die jeweilige Sozietät begründet hat. Hier sei nur kurz angemerkt, dass die »Monopolisierung des Opferverhältnisses die Macht des Herrschers als Mittler zwischen den übersinnlichen Mächten und der Menschenwelt legitimierte und festigte«. Ähnlich wie sich die »Herrschaftsverhältnisse« allmählich entwickelt haben dürften, verhält es sich mit der »Herausbildung des Glaubens« im Neolithikum: aus einem „primitiven“ Glauben an „nebulöse übermächtige Kräfte“ (s. u.) entstand nach und nach der »Glaube an eine personifizierte Gottheit«, dargestellt durch »Fetische«, wie Lei Congyun meint: „Die religiösen Fundstätten der Hongshan-Kultur demonstrieren, dass die Entwicklung der vorhistorischen Religion hier bereits ein hohes Niveau erreicht hatte und offensichtlich in weiten Bereichen das gesellschaftliche Leben mitbestimmte. Der Opferaltar von Dongshanzui sowie die Tempelanlage und die Gräber an den Berghängen von Niuheliang dienten sicherlich nicht nur den Mitgliedern einer einzigen Stammesgemeinschaft. Sie verehrten nicht mehr nebulöse übermächtige Kräfte, sondern eine konkrete, personifizierte Gottheit sowie Jadefiguren von mythischen Schweinen und Drachen. Die Hauptgottheit in Menschengestalt beweist, dass ein primitiver Natur- und Totemkult in dieser Gesellschaft bereits durch den Ahnenkult abgelöst wurde. Die komplexen und aufwendigen rituellen Zeremonien zelebrierten Zauberpriester (wushi), die der Entwicklung des religiösen Gesellschaftslebens entscheidende Impulse verliehen hatten. Sie waren die zentra95
len Bindeglieder zwischen der Welt der Menschen und den Mächten der Natur und überirdischen Gottheiten, sie vermittelten in allen existentiellen Fragen der Stammesgesellschaft, verkündeten die göttlichen Entscheidungen über die Verlagerung des Stammesgebietes oder kriegerische Handlungen und deuteten ungewöhnliche Naturphänomene. Diese Aufgaben erfüllten sie in frühen Stammesgesellschaften ebenso wie in der Übergangsphase zu den ersten zivilisierten Gesellschaftsformen über einen langen Zeitraum, der als Schamanenkultur (wu wenhua) bezeichnet werden kann. Die Opferstätten und Tempel der Hongshan-Kultur, ihre weibliche Gottheit und die kunstfertigen Jadeskulpturen sind ein Teil dieser Schamanenkultur“ (Lei 1996, S. 72; Hervorh. Lei).
Folgt man Lei, so scheint sich der »Glaube an transzendente Mächte« über ein „primitive“ Form hin zu einer »Personifizierung« vollzogen zu haben, wobei sich in der Hongshan-Kultur (ca. 4900-2900 v. u. Z.) allmählich eine »Schicht von Zauberpriestern« etabliert haben soll. Wie wir weiter oben gesehen haben, mündet diese Entwicklung in den Glauben an »shangdi« bzw. in der Zhou-Periode wurde »tian zur obersten Gottheit« und der König Stellvertreter des »Himmels« auf der Erde. Die »religiös konstituierten Herrschaftsverhältnisse« können abstrakt-allgemein so bestimmt werden: „Diese Transzendenz ist Bestandteil der realmetaphysischen Konstitution vormoderner Fetisch- und damit Herrschaftsverhältnisse als ‚Gottesbeziehungsverhältnisse‘. Wie schon gezeigt wird die Reproduktion als fetischistisches Herrschaftsverhältnis hier über personale Medien als ‚Gottesrepräsentanzen‘ vermittelt, deren Legitimation davon abgeleitet ist, dass die entsprechend metaphysisch aufgela96
denen Personen die ‚Gottesbeziehung‘ darstellen und repräsentieren, also den ‚Rapport‘ zur Sphäre der Transzendenz herzustellen haben, aus der die ‚Weltordnung‘ oder das ‚Weltverhältnis‘ sich begründet“ (Kurz 2007, S. 3; Hervorh. Kurz).
Wie wir bei Lei gesehen haben, sind die »Schamanen die Mittler zwischen dem Gottesverhältnis und der Stammesgesellschaft«, es war also eine indirekte Herrschaft. Unterschied und Gemeinsamkeit zwischen den vormodernen und den modernen Herrschaftsverhältnissen lassen sich so verorten: „Auf der Abstraktionsebene des Fetischbegriffs bzw. des Begriffs einer ‚Geschichte von Fetischverhältnissen‘ ist also nicht nur die Differenz zu den vormodernen ‚Gottesbeziehungsverhältnissen‘ festzustellen, sondern auch das abstrakte Gemeinsamkeitsmoment einer jeweils verschiedenen ‚Realmetaphysik‘ und dementsprechend verschiedenen metaphysischen Reflexionen (Letztbegründungen in einem überhistorischen Absolutum). Man kann innerhalb der Realmetaphysik/Metaphysik von einem Unterschied zwischen vormoderner Transzendenz (jenseitig-übersinnlicher Gottessphäre) und moderner Transzendentalität (paradoxer ‚immanenter Transzendenz‘ des Werts) sprechen. Der Begriff des ‚Transzendentalen‘ geht auf Kant zurück, der mit diesem Ausdruck die formale Vernunft-Metaphysik der Moderne beschreibt, in der sich die Wert-Abspaltungsvergesellschaftung ausdrückt. Die vormodernen ‚Weltverhältnisse‘ sind transzendent bestimmt, die modernen transzendental“ (Kurz 2007, S. 4; Hervorh. Kurz).
Wie gezeigt, ist das »vormoderne Herrschaftsverhältnis« ein indirektes, ein vermitteltes, während die Herrschaft „in der Moderne qua
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paradoxer ‚Immanenz des Transzendenten‘ (Transzendentalität) eine direkte geworden ist“ (ebd., S. 6). Das erläutert Kurz so: „Indem das moderne, kapitalistische ‚Weltverhältnis‘ die Transzendenz auf paradoxe Weise als ‚automatisches Subjekt‘ weltimmanent gemacht und die darin nicht aufgehenden Momente der Reproduktion bzw. der sozialen Beziehungen in das geschlechtliche Abspaltungsverhältnis zu bannen versucht hat, erscheint das Absolutum, das ‚erste Prinzip‘ oder die ‚erste Ursache‘ nun nicht mehr als ein ‚Jenseits‘ der erfahrbaren Welt der Erscheinungen, sondern als in dieser Welt selbst enthaltenes Absolutum, und zwar als ein immanent ‚prozessierendes‘ (Wertverwertung). Dieses Absolutum ist als Wert wie gezeigt ebenfalls ‚übersinnlich‘, nicht physisch fassbar; aber indem es sich weltimmanent ‚darstellt‘ an den Weltdingen in der Tauschwert-Form (die sinnlichen Warenkörper drücken gegenseitig ihr ‚übersinnliches‘ Wesen aus, d. h. die Naturalform der einen Ware wird zur Wertform der anderen Ware), erscheint es ‚in‘ der Welt und degradiert die Weltdinge zu bloßen Erscheinungen seiner selbst. Das Geld als universeller Ausdruck dieses Verhältnisses wird zum unmittelbar ‚sinnlich-übersinnlichen‘ Ding, während die davon nicht erfassbaren, an das geschlechtliche Abspaltungsverhältnis delegierten Momente der Reproduktion als einer minderen Nur-Sinnlichkeit zugehörig bestimmt werden, die der ‚höheren‘ Dignität des paradox sinnlich-übersinnlichen Absolutums (das sich gerade dadurch als monistisches Absolutum selber dementiert) ermangeln“ (ebd., S. 3f.; Hervorh. Kurz).
»Gott als Absolutum«, als »transzendentes Prinzip«, ist zwar zum „Teufel“ gejagt worden, d. h., im Zuge der Herausbildung und Ent-
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wicklung des Kapitalverhältnisses mutierte der »Glaube an übersinnliche Wesen« von einer die realen Daseins- und Lebensverhältnisse konstituierenden Sozietät immer mehr zu einer bloßen Ideologie und diese wurde durch den Wert als absolute Destruktionskraft, die den Menschen die Hölle auf Erden bereitet, ersetzt.38 Kehren wir zurück zu dem »Gottesverhältnis« im „vorchinesischen“ Neolithikum und den drei Dynastien. Was sich in frühesten Zeiten entwickelt hat und bis heute erhalten blieb, war die »Verehrung der Ahnen«. Um die »bösen Geister« gnädig zu stimmen, wurde den »Ahnen« »Opfer« dargebracht, ein »Ritual«, das sich bis auf den heutigen Tag erhalten hat und, wie schon erwähnt, sich bis ins Neolithikum an Hand der Grabbeigaben belegen lässt.39 Von der Abstraktionsebene aus betrachtet hat der »Glaube an ein Jenseits« einen „strikt transzendenten Charakter. Das geht schon daraus hervor, dass das Jenseits (meist dualistisch unterteilt in Himmel und Hölle/Unterwelt etc.) der Nicht-Ort ist, zu dem die Toten gehen, die nicht mehr wiederkehren; oder wenn, dann als Geister, Dämonen etc., die gerade nicht mehr von dieser Welt sind, sondern einen gefährlichen Einbruch der Transzendenz darstellen. Es gibt auch Berich-
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Letzeres aber scheint der überwiegenden Mehrheit der heute lebenden Menschen nicht aufzugehen, denn weit und breit ist keine emanzipatorische Bewegung in Sicht, die den Namen wirklich verdient und in der Lage wäre, diesem transzendentalen Spuk ein Ende zu bereiten. Stattdessen schießen pseudo-emanzipatorische Bewegungen wie Pilze im Herbstregen aus dem Boden, z. B. Tauschbörsen, die in keiner Weise dazu in der Lage sind, den Prozess der Verwertung des Werts zu überwinden, eben weil sie sich genau in dessen Rahmen bewegen. Es kann davon ausgegangen werden, dass auch dieses »Ritual« im Laufe der Jahrtausende Veränderungen unterworfen war. 99
te über schamanistische und religiöse ‚Jenseitsreisen‘, (...) physische oder nicht-physische (...); aber dieses Hinausgehen ist ein solches in die gerade nicht irdisch verortbare Transzendenz (und deshalb sowohl frevelhaft oder jedenfalls gefährlich als auch sagenhafte Ausnahmeerscheinung). Und die Toten gelangen auch nicht als irdische Körper ins Jenseits, sondern als strikt nicht-materiale ‚Seelen‘“ (Kurz 2007, S. 8; Hervorh. Kurz).
Nach Chen Lie lässt sich der »Glaube an ein Totenreich« bis zum Peking-Menschen von Zhoukoudian zurückverfolgen (vgl. Chen 1996, S. 37). Der »Ahnenkult« – von chinesischen und nichtchinesischen Sinologen gemeinhin als »Konstante aller Religionen« angesehen – zeugt vom »Glauben an einen Himmel und an ein Reich der Toten«. Hier soll noch einmal auf die oben schon erwähnten »zwei Seelen« – »Körperseele (po)« und »Hauchseele (hun)« – eingegangen werden. Die »Körperseele« geht nach dem Tod des Menschen in die Erde und wird zum »Erdgeist (gui)«. Diese »Erdgeister« mußten durch »Opfergaben« besänftigt werden, da sie sonst Schaden anrichten würden (vgl. Moritz 1990, S. 18). Ein »Ritual«, das sich bis heute Jahr für Jahr beim Frühlingsfest wiederholt. Die »Hauchseele« erhebt sich beim Tod des Menschen zum »Himmel« und verwandelt sich in den »Geist (shen)«, der „als ein Mittler zwischen den Menschen und den übernatürlichen Kräften gedacht wurde“ (ebd.). Aus der »Verehrung der Ahnen« dürften die frühesten fassbaren »Fetischverhältnisse« hervorgegangen sein. Schon für den so genannten Peking-Menschen lassen sich »Beerdigungs- und Opferrituale« nachweisen. Nachdem hier die Geschichte als Aporie in Grundzügen dargestellt wurde, müssen wir uns noch einmal mit den »vormodernen« und den modernen »Fetischverhältnissen«, den Differenzen und den Gemein-
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samkeiten beschäftigen, wobei hier ebenfalls Beispiele aus dem zu untersuchenden Zeitraum flankierend herangezogen werden.
Vormoderne und moderne Fetischverhältnisse: Differenzen und Gemeinsamkeiten Wie schon erwähnt, lassen sich die essentiellen Unterschieden zwischen »vormodernen« und modernen »Fetischverhältnisse« allein durch das „Kriterium der Unterscheidung” darstellen. Während die »Religion« in der Moderne zu einer Ideologie herabsank, konstituierte sie in der Vormoderne „eine objektivierte hierarchische Weltordnung, die auch den »Stoffwechselprozess mit der Natur« und die sozialen Beziehungen der Menschen bestimmte; analog zur »Ökonomie« des modernen Kapitalfetischs, aber in ganz anderen Formen der Verselbständigung“ (Kurz 2012, S. 72; Hervorh. Kurz). Genau dies wird sich am Beispiel des neolithischen „Vor-China“ und den drei Dynastien zeigen lassen. Es wird sich erweisen, dass die weiter oben schon genannten modernen Kategorien wie Arbeit, Geld, Warenform und auch solche Begriffe wie Produktivkraftentwicklung, Produktion, Input-Output-Relation auf Verhältnisse projiziert werden, die ganz anders verfasst waren (vgl. ebd. S. 72f.), was von den Sinologen und Vertretern anderer Disziplinen auf Grund ihrer Befangenheit im Aufklärungsdenken nicht wahrgenommen wird. So verwendet Kuhn Begriffe wie „Ausübung politischer Macht“, „Entwicklung und Ausbau einer Verwaltungsstruktur“, „wirtschaftliche Veränderungen und technische Errungenschaften“ (= Produktivkraftentwicklung?; RGP) (Kuhn 1991, S. 165). Ein Hauch von Ahnung scheint Kuhn zu umschleichen, wenn er auf die Veränderungen in den „religiös konstituierten Fetischverhältnissen“ (Kurz) zu sprechen kommt. Diese hätten sich von astronomischen Phänomenen am Himmel während der Shang-Zeit zu einem moralischen Postulat in der 101
Zhou-Periode gewandelt (vgl. Kuhn 1991, S. 186).40 Dann verwendet er allerdings wieder einen Begriff der Moderne, wenn er von „Staatsreligion“ (ebd.) spricht. Staat ist nun einmal ein Begriff der Moderne. Diese Beispiele zeigen, dass das Geschichtsverständnis innerhalb der Sinologie (aber nicht nur dort) auf keine kohärente und konsistente Theorie zurückgreifen kann, denn wie anders ist es zu erklären, dass vormoderne und moderne Kategorien in einer Beliebigkeit sondergleichen durcheinandergeworfen werden. Kehren wir zurück zum „Wesen jener hierarchischen religiösen Weltordnung (...), die der realen vorkapitalistischen Lebensweise (modern ausgedrückt: der Reproduktion) als Matrix zugrunde liegt“ (Kurz 2012, S. 73). Diese so konstituierte Weltordnung hat als Grundlage ein »transzendentes göttliches Prinzip«, das über die Grenzen der Erfahrung hinausgeht, nicht von dieser Welt ist. Dieses Prinzip als göttliches Wesen verstanden, kann verschiedene Namen annehmen, ob »Jahwe«, »Gott«, »Allah« oder »Himmel« (»tian«), stets bleibt diese »Transzendenz« grundlegendes Prinzip, wobei sich eine Hierarchie herausbildet. Entscheidend dabei ist, dass die »Götterwelt« „empirisch-sinnlich nirgendwo fassbar ist; die entsprechenden Abstraktionen nehmen keine sichtbare, scheinbar selbständig tätige oder prozessierende Gestalt an, sondern bleiben Phänomene im menschlichen Geist. Ihre objektivierte Verselbständigung kann nicht unmittelbar als solche auftreten, sondern bedarf einer besonderen »Umsetzung« in die materielle Welt. Die symbolischen Darstellungen in Form von Artefakten (Statuen etc.) können nicht den Anspruch erheben, die Götter zu »sein«, was auch allgemein bewusst ist. Die Götter treten also nicht empirisch und
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Wolfgang Bauer vertritt hier eine andere Auffassung als Kuhn (s. w. o. und Bauer 2001, S. 42f.). 102
leibhaftig auf, sie sind nicht sichtbar irdisch anwesend“ (ebd., S. 75; Hervorh. Kurz).
Gerade weil dieses »göttliche Prinzip« als verselbständigtes herrscht, bestimmt es das irdische und geistige Leben der Menschen, wobei es als nicht-empirisches Prinzip einen greifbaren »Stellvertreter« auf der Erde haben muss, der durch »ritualisierte Opferhandlungen« dieses »göttliche Prinzip« gnädig stimmen muss. Aus diesen »Ritualen« entspringt zweierlei, einmal die Beziehung zur Natur, zum anderen die sozialen Verhältnisse (vgl. ebd., S. 73). Aus der »göttlich-hierarchischen Ordnung« leitete sich eine weltliche Ordnung ab, ein persönliches Herrschaftsverhältnis, das ebenfalls hierarchisch strukturiert ist: „Die hierarchische Weltordnung wurde garantiert, indem die personifizierte Götterwelt in spiegelbildlichen sozialen Personifikationen irdisch »realisiert« oder »umgesetzt« wurde. Dieses »personale Prinzip« pflanzte sich als eine Art Verkettungs-Zusammenhang in den menschlichen Beziehungen fort, zunächst in Gestalt von diversen Stellvertretern Gottes auf Erden mit ganz verschiedenen Ausprägungen und auf ganz verschiedenen Ebenen, vom Gottkaiser, König usw. bis zum pater familias. Es handelt sich also um ein System von direkten personalen Repräsentationen des transzendenten Prinzips. Insofern ist der vormoderne Fetisch gerade kein dinglicher wie in der Moderne das Geld, sondern ein unmittelbar personaler“ (ebd., S. 79; Hervorh. Kurz).
Diese Auffassung von Kurz steht im Gegensatz zu der von Moritz: „Im Sinne der Herrschaft über die Gesellschaft wurden in die Welt der Ahnengeister die Ränge und sozialen Schichtungen hineinprojiziert, die es in der Gesellschaft gab. Die 103
verstorbenen Herrscher hatten danach auch in der Welt der Ahnengeister die größte Macht. In dieser Vorstellung bewahrt sich der Herrscher nicht nur seine Macht über den Tod hinaus, diese Macht wuchs vielmehr noch, denn jetzt bekam er auch Einfluß auf die Naturgeister und damit auch die Naturkräfte. Aus einem bestimmten ideologischen (sic; RGP) Herrschaftsbedürfnis heraus wurde die Auffassung entwickelt, wonach die verstorbenen Herrscher in ihrer angenommenen Daseinsform als Ahnengeister die entscheidenden Kräfte und Mächte im Universum seien; sie werden damit über die Naturkräfte (-geister) gehoben“ (Moritz 1990, S. 19).
Wir erinnern uns, dass die »Fetischverhältnisse« „als blinde Resultante aus Praxisprozessen in den sozialen Beziehungen und im ‚Stoffwechselprozess mit der Natur‘ heraus historisch auf kontingente Weise ‚entsteh(t)[en]‘“ (Kurz 2006a, S. 13; Hervorh. Kurz) und zu diesem „Entstehungsprozess von Fetischverhältnissen gehören zwar auch ideelle Reflexionen, die jedoch keinesfalls als „Ursprung“ isoliert werden können“ (ebd.), d. h., die »Fetischverhältnisse«, die allmählich zu »Herrschaftsverhältnissen« mutieren, werden erst „im Nachhinein“ legitimiert, was im übrigen Moritz einige Seiten vorher ähnlich sieht (vgl. Moritz 1990, S. 13f.; ferner de Groot 1918, S. 6). Mit anderen Worten, die »hierarchisch strukturierte Götterwelt« – eine von Menschen bewußtlos gemachte – ist das „Vorbild“ für die Welt der Menschen. Dass dann „im Nachhinein“ – quasi dialektisch vermittelt – die verstorbenen Herrscher als »Ahnengötter« Macht über die Hinterbliebenen erhalten, festigt nur die bestehenden »Fetischverhältnisse als Herrschaftsverhältnisse«. Hier muss noch einmal darauf hingewiesen werden, dass es sich eben nicht um »ideologische Herrschaftsbedürfnisse« handelt, wie Moritz behauptet und wie wir gleich sehen werden. Vielmehr ist es so, dass das »Herrschaftsverhältnis« aus dem selbstverständlichen »Glauben an Gott, die Götterwelt« etc. objektiv entspringt 104
(vgl. Kurz 2004d, S. 188, FN 29). An was hätten die Menschen der Vormoderne sonst glauben können? Zurück zur »personifizierten Götterwelt und der hierarchischen Weltordnung«: Aus dieser „direkten personalen Repräsentanz des transzendenten Prinzips“ ergab sich die Verdoppelung des „Stellvertreters“ als Person, „nämlich in die leibliche physische Existenz und in die leibliche sakral-repräsentative Existenz“ (Kurz 2012, S. 81), letztere als personifizierte »Charaktermaske«, was sich am Beispiel des »Sohn des Himmels« deutlich manifestiert. An dem Begriff der »Charaktermaske« wird offensichtlich, dass es sich bei den »persönlichen Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnissen« nicht um subjektive persönliche Ausbeutungs- bzw. Interessenkalküle handelte wie es häufig in der Geschichte verschiedener chinesischer Dynastien dargestellt und wie es auch den Bankern oder Unternehmern der heutigen Zeit gerne untergeschoben wird: „Es kann also geschlussfolgert werden, dass die Moderne doch etwas Gemeinsames mit allen vorherigen Gesellschaftsformationen besitzt. Nur ist dies nicht der abstrakte Eigennutz, der sich im Kapitalismus endlich als solcher enthüllt hätte. Gerade umgekehrt ist dieses Gemeinsame vielmehr das, was in keinem ökonomischen oder politischen Interessenkalkül aufgeht, und was in der Moderne zwar paradoxerweise als Eigennutz erscheint, in Wirklichkeit aber dennoch nichts Eigenes der Individuen ist, sondern etwas ihnen Aufgeherrschtes. Auch den Herrschenden wird etwas aufgeherrscht, sie herrschen nie wirklich für das eigene Bedürfnis oder Behagen, sondern für etwas schlechthin Jenseitiges. Sie schädigen dabei immer auch sich selbst und vollziehen etwas ihnen selber Entfremdetes und scheinbar Äußerliches. Ihre vermeintliche Aneignung des Reichtums schlägt um in Selbstverstümmelung“ (Kurz 2004d., S. 155f.).
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Kurz an anderer Stelle: „Auch der personale Fetisch übersteigt seine Träger wie der moderne verdinglichte Fetisch, nur in anderer Weise; und stets werden »Charaktermasken« sozialer Verhältnisse hervorgebracht, wenn auch in völlig verschiedener Form” (Kurz 2012, S. 82; Hervorh. Kurz).
Es ist weiter oben schon darauf hingewiesen worden, dass es sich bei den »persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen« nicht um willkürlichpersonale und einseitig ausgerichtete »Ausbeutungs- und Abhängigkeitsverhältnisse« gehandelt hat, sondern um „»objektive Daseinsformen«“ (ebd., S. 70) und diese waren komplex strukturiert. Der Repräsentant des »transzendenten Prinzips« unterlag einerseits dem »wechselseitigen Verpflichtungsverhältnis«, andererseits dem Druck sich gegenüber der »Götterwelt« legitimieren zu müssen. Das »Verpflichtungsverhältnis« galt also nicht nur für die Beherrschten, sondern bezog auch den „scheinbar »direkt« Herrschenden“ (ebd., S. 83; Hervorh. Kurz) mit ein. Das gleiche galt für Personen gleichen Ranges oder Status ebenso wie für Landsmannschaften, Tempel etc. (vgl. ebd., S. 84), was sich sehr deutlich u. a. am Beispiel chinesischer Gilden dokumentieren lassen würde, deren Mitglieder einer »wechselseitigen Verpflichtung« unterlagen, wobei diese nur für die spezifischen Verhältnisse galten. Wir können für die »religiösen Konstitutionen« der „Reproduktion“ von einem »persönlichen und gesellschaftlichen bzw. kollektiven Verpflichtungsverhältnis« sprechen, (vgl. ebd., S. 83), allerdings fehlte „eine abstrakt-allgemeine »universalistische« Verpflichtungsstruktur“ (ebd., S. 84). Auch die »Herrschaft« unterlag als »religiös konstituierte« einem »bestimmten Regelsystem«, es war also kein pures Willensverhältnis am Werk, wie oft fälschlich angenommen wird, vielmehr war sie „(...) immer Ausdruck eines übergreifenden, dem Willen vorgela-
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gerten Fetisch-Verhältnisses; deshalb müssen sich die Herrschenden auch immer nach Maßgabe des verselbständigten Regelsystems legitimieren, ansonsten verfällt ihre Funktion“ (ebd., S. 83). Ein beredtes Beispiel liefert gerade der »Sohn des Himmels«, der äußerst komplexen »rituellen Verpflichtungsverhältnissen« unterworfen war, die ihm durch das »transzendente göttliche Prinzip« „aufgeherrscht“ (Kurz) wurden. Der chinesische Kaiser dürfte wohl zu den unfreiesten-„freien“ Herrschern überhaupt gezählt werden können. Hierzu zwei kurze Anmerkungen: Die »Hinrichtung oder Verbannung« eines Ministers kann bzw. könnte im Kontext der »religiösen Matrix« gesehen werden. »Hinrichtungen bzw. Verbannungen« wurden in der Regel nicht willkürlich vollzogen, sondern sind als »Opfer« zu verstehen, um dem Herrscher das »Mandat des Himmels« weiterhin zu sichern. Der letzte Herrscher einer Dynastie wurde von der neuen als Tyrann, Verschwender etc. dargestellt. Dieses Vorgehen diente der »Herrschaftslegitimation« der neuen Dynastie, ob der letzte Herrscher dieser Charakterisierung tatsächlich entsprach, war dabei unerheblich. Kehren wir zum unterschiedlichen Charakter der »Herrschaftsverhältnisse« von Vormoderne und Moderne zurück. Die Gemeinsamkeit besteht darin, dass Herrschaft „immer Ausdruck eines übergreifenden, dem Willen vorgelagerten Fetisch-Verhältnisses“ (ebd.) ist. Während die moderne »Personifizierung« des Kapitals durch Eigentümer, Manager, etc. „eine mittelbare, indirekte Repräsentation des irdischen »gesellschaftlichen Dings«“ (ebd.) darstellt, ist „die religiös konstituierte »Personifizierung« die unmittelbare Repräsentation des göttlichen Prinzips“ (ebd., Hervorh. Kurz). Daraus ergeben sich auch andere, die oben schon erwähnten, »Verpflichtungsstrukturen«. In der Moderne sind sie versachlicht, die ausführenden Personen unterliegen „nicht nur abstrakt-allgemeinen, sondern eben auch [einem] dinglich erscheinenden Prinzip(s)“(ebd., S. 84). Hingegen sind die 107
»vormodernen Verpflichtungsverhältnisse« „direkt auf die empirischen Personen oder Institutionen in ihrer Eigenheit bezogen“ (ebd.). Ein weiteres Missverständnis, dem die Geschichtsphilosophie der Aufklärungsvernunft (Kurz) unterliegt, betrifft das Grundeigentum in vorkapitalistischen agrarisch geprägten Formationen, denn auch dieses unterlag den »alten Verpflichtungsverhältnissen«, die wohl im Neolithikum ihren Ursprung gehabt hat, als es noch Gemeineigentum gegeben haben soll bzw. gab, was einer eingehenden Untersuchung bedarf. „Die soziale Matrix ist weitgehend auf die Herrschaft über Grund und Boden fixiert, wobei jedoch der Begriff des »Eigentums« irreführend ist, soweit er moderne Beziehungen und Vorstellungen impliziert. Es handelt sich nicht um ein durch Warenform bzw. Geldlogik und entsprechende Rechtsverhältnisse vermitteltes Eigentum, auch wenn die Repräsentanten der Grundherrschaft wechseln können“ (ebd., 84f.; Hervorh. Kurz).
Marx hatte schon in den Grundrissen zur Kritik der politischen Ökonomie auf die Besonderheiten der asiatischen Produktionsweise hingewiesen hat. In dem Abschnitt Formen, die der kapitalistischen Produktion vorhergehen geht er u. a. auf den spezifischen Charakter des Eigentums in diesen Gemeinwesen ein (vgl. MEW Bd. 42, S. 383ff.). In Bezug auf die »agrarische Naturalrente« stellt Kurz fest, dass sie „keine besondere Form eines transhistorischen »Mehrprodukts« [darstellt], das als kapitalistischer »Mehrwert« nur eine neue Formbestimmung angenommen hätte“ (Kurz 2012, S. 85). Wir können also nicht von einem transhistorischen Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnis sprechen, da die »institutionellen Verpflichtungsverhältnisse« die Grundherrschaft mit einbezog und diese »Verpflichtungsverhält-
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nisse« waren »religiös« konstituiert, von einem »subjektiven« Ausbeutungstrieb kann also keine Rede sein (vgl. ebd.). Wie weiter oben schon gezeigt und hinreichend belegt wurde, verfügen z. B. die Sinologen aber auch Historiker etc. über keine kohärente und konsistente theoretische Grundlage, was dazu führt, dass „(...) eine vermeintlich bekannte und vertraute angeblich übergreifende Erscheinung der Geschichte“ (ebd., S. 106), wie eben das Geld, dann in seiner andersartigen Logik nicht begriffen werden kann. Es bedarf einer fundierten radikal-kritischen Theorie, um den ideologischen Schleier, den das Aufklärungsdenken über die gesellschaftlichen Verhältnisse der damaligen Geschichtsepochen geworfen hat, zu lüften. Allein die Kritik an der transhistorischen Verwendung moderner Kategorien und ihre Entlarvung als Aufklärungsdenken ermöglicht es so, einen anderen Blick auf die so genannten „Vorgeschichte“ des „Vor-China“ und die darauffolgenden Zeiten zu werfen. Dazu bedarf es einiger Erläuterungen. Kurz macht auf zwei Probleme im akademisch-bürgerlichen, aber auch im marxistischen Wissenschaftsbetrieb aufmerksam. Zum einen ist dies die Fachborniertheit, die sich darin äußert, dass Erkenntnisse anderer Fachrichtungen ignoriert werden, zum anderen dünken sich die so genannten akademischen Linken erhaben, „bürgerliche“ Forschungsergebnisse aus der Geschichtswissenschaft, Ethnologie, Sinologie etc. aufzugreifen und sie auf ihren erkenntnistheoretischen Gehalt hin zu untersuchen. Was in Bezug auf die Sinologen schon erwähnte wurde, sieht Kurz auch bei den „bürgerlichen Historikern und Vertretern anverwandter Wissenschaften“, nämlich Unkenntnis über die verpönte Marxsche Theorie (vgl. ebd., S. 107). Die Folge ist – allgemein formuliert -, dass es keinen wissenschaftlichen Austausch zwischen den sich fremd gegenüberstehenden „Fakultäten“ gibt – hier „bürgerliche“ dort „marxistisch“ ausgerichtete Akademiker. Und die Konsequenz ist:
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„Die terminologische Unsicherheit kommt nicht von ungefähr, weil die Einsicht in den fremden, andersartigen Charakter der vorkapitalistischen Konstitutionen oberflächlich bleibt. Es fehlt die radikale theoretische Kritik an den modernen Kategorien, die allein als Katalysator für eine begriffliche Bestimmung der früheren Sozietäten dienen könnte. Deshalb hängt die aufscheinende Differenz in der Luft. Die im Sinne des akademischen Positivismus vorgenommene bloße Beschreibung der Andersartigkeit bleibt kategorial unbestimmt. Genauer gesagt: Die differente Phänomenologie der Vormoderne und die kategoriale Ontologisierung der Moderne stehen unvermittelt nebeneinander, oder der apodiktischen Formulierung der Inkompatibilität wie bei Le Goff fehlt die zureichende Begründung. Andererseits konnte und kann der Marxismus hier nicht weiterhelfen, weil bei ihm selber die Ontologisierung der modernen Kategorien korrespondiert mit einem Mangel an kategorialer Kritik“ (ebd., S. 107f.).
Es muss also erst einmal eine Kritik der Rückprojektion moderner Kategorien vorgenommen werden (vgl. ebd., S. 86), um dann die Erkenntnisse der Sinologen in Bezug auf die ältere Geschichte Chinas anders einordnen zu können. Ersteres geschieht hier zunächst auf einer allgemeinen Ebene, letzteres in der konkreten Analyse des vorgeschichtlichen „Vor-China“. Sowohl in der bürgerlichen Geschichtsschreibung (nur mit anderen Worten) als auch in der marxistischen werden auch die früheren Sozietäten dahingehend charakterisiert, dass es Produktionsverhältnisse als „bestimmende(n) und begrifflich isolierbare(n) Kategorien“ (ebd.) gab. Es ist nach Kurz fraglich, ob in den vormodernen Formationen die Produktion von Lebensmitteln tatsächlich alle anderen Lebensbereiche determinierte und somit zum bestimmenden Faktor ihres Lebens wurde. Seine Schlussfolgerung ist, dass die so genannte Arbeit 110
nicht die gesamte Lebenszeit der Menschen ausfüllte und er verweist auf Marx, der sagte, es hätte erst der Kapitalfetisch die „gesamte Lebenszeit der Menschen in »Arbeitszeit« auf immer höherer Stufenleiter verwandelt“ (ebd.; Hervorh. Kurz). Wenn dann der historische Materialismus den »Stoffwechselprozess mit der Natur« so interpretiert, dass er das „Verhältnis zur Welt“ bestimmt, dann führt dies zu einer Ontologisierung spezifischer kapitalistischer Kategorien und mithin zu einer Verfälschung der Logiken, die in vormodernen Sozietäten geherrscht haben. Diese Menschen waren keineswegs immerzu damit beschäftigt, ihren Lebensunterhalt zu „produzieren“ indem sie jagten, sammelten, säten und dergleichen mehr. Vielmehr gab es genügend Zeit, sich mit anderen Dingen des täglichen Lebens zu beschäftigen. Hier sei nur auf den Bau der „Verbotenen Stadt“ verwiesen, die „sich kaum aus »Produktionsverhältnissen« des damaligen alltäglichen Lebens erklären“ (ebd., S. 87; Hervorh. Kurz) lässt. Vielmehr ist sie das Symbol für das »transzendente göttliche Prinzip des tianming«, personifiziert im »Sohn des Himmels«. Gehen wir weiter in die Geschichte des „Reichs der Mitte“ zurück, so trifft dies auch für das Mausoleum des ersten chinesischen Kaisers Qin Shihuangdi und seiner »Terrakotta-Armee« zu. Und auch die »rituellen Bronzegefäße« der Shang- (16.-11. Jh.) und der Westlichen-Zhou-Zeit (1045-771 v. u. Z. [beide Daten nach Kuhn 1991, S. 34]) dürften kaum den „Produktionsverhältnissen“ entsprungen sein, dienten diese doch einem »religiösen« Zweck, dem »Ahnen- und Opferkult«. Natürlich wurden die zwangsverpflichteten Bauern, Kriegsgefangene, Sträflinge grausam behandelt, waren schlecht genährt etc. Aber das „Potential an masochistischem Überschuss, damit aber auch an Grausamkeit und Barbarei war bloß ein anderes“ (Kurz 2012, S. 87) als wir es aus der Moderne her kennen, in dem der fetischistische Selbstzweck des „»abstrakten Reichtums«“ (ebd.) herrscht. Die heutigen Arbeitsverhältnisse – Leiharbeit, Lohndumping, „Mindestlohn“ etc. – führen dazu, dass die Menschen von ihren Jobs nicht 111
mehr leben können, worauf Marx mit dem Begriff der arbeitenden Armen schon im 19. Jahrhundert hinwies. Hinzu kommt, dass die Menschen heute nach einem Arbeitstag, der immer weiter „verdichtet“ wird, d. h. in immer kürzerer Zeit muss mit immer weniger Menschen das gleiche Pensum oder sogar noch mehr bewältigt werden, kaum noch in der Lage sind bzw. die Muße dazu haben, sich kreativ zu betätigen. Stattdessen werden sie durch die modernen Massenmedien systematisch verblödet und lassen sich zum Teil bereitwillig verblöden. Ganz im Gegensatz zu archaischen Zeiten, in denen die Menschen durch die Veränderungen in ihrer Umwelt – Klimawandel, Kriege, Hungersnöte etc. – bestimmt Not und Elend erlitten haben, aber dennoch zu – heute würde man sagen – kulturellen Leistungen fähig waren, wie die steinzeitlichen Jäger, Sammler und Bauern, die eindrucksvolle Artefakte hinterließen (vgl. dazu u. a. Burenhult 2000, S. 56f.; Gimbutas 2000, S. 84ff.; Anati 2000, S. 120f.; Huang 2000, S. 128ff.). Damit ist allgemein gezeigt, dass die Menschen in vormodernen Sozietäten durchaus nicht nur mit der „Produktion“ ihres Lebensunterhalts beschäftigt waren, ihre Lebensverhältnisse waren nur anders konfiguriert: „In Wahrheit sagt die bloße Tatsache einer materiellen Produktion von Lebensmitteln gar nichts über den spezifischen Charakter der jeweiligen Sozietät aus, der nur aus den Beziehungsformen zur Natur und der Menschen untereinander erklärt werden kann. Diese Formen als solche sind jedoch niemals »materielle«, sondern es handelt sich um bewusstlos aus einer unreflektierten Praxis entstandene »geistige Konzepte«, die dann allerdings ein Regelsystem von Verhältnissen konstituieren, in die selbstverständlich auch die materielle Produktion eingebunden ist, ebenso wie die Sexualität oder überhaupt das Körperverständnis“ (Kurz 2012, S. 88, Hervorh. Kurz).
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Kurz kommt zu dem Schluss: „Wenn die Vormoderne insgesamt bis tief in die Steinzeit hinab keine »Produktionsverhältnisse« im strengen Sinne eines logisch verselbständigten und alle anderen Momente sich unterordnenden und anverwandelnden Bereichs hatte, kann also umso weniger von entsprechenden »ökonomischen« Verhältnissen und überhaupt einer »Ökonomie« als einem eigengesetzlichen Bereich oder gar einer selbständigen »zweiten Natur« die Rede sein” (ebd., S. 89; Hervorh. Kurz).
Das scheinen die Sinologen offensichtlich nicht zu bedenken, wenn z. B. Kuhn von „Wirtschaftsleben“, „Geld“ bzw. „geprägten Münzen“ etc. (vgl. Kuhn 1991, S. 217f.) spricht, ohne auf die besondere Logik dieser Begriffe einzugehen und sie in den spezifischen Kontext zu stellen. Stattdessen werden die modernen Kategorien transhistorisch verwendet, wobei der Anachronismus auf die Spitze getrieben wird, wenn z. B. Yan/Wang ein Kapitel mit The Small Tool Industry in North China betiteln (vgl. Yan/Wang 2005, S. 15-19) und damit den Homo erectus pekinensis meinen, der im Zhoukoudian-Gebiet vor ca. 200.000 Jahren lebte (vgl. ebd., S. 16). Das erfüllt den Tatbestand der Ridikülität. Kurz greift erneut auf zwei Werke von Le Goff (1988/2011) zurück, in denen dieser feststellt, „»dass die Realitäten, die wir heute isolieren und zum Gegenstand der spezifischen Kategorie des Ökonomischen machen, damals ganz anders betrachtet wurden«“ (Le Goff, 1988/ 1986, 18, zit. nach Kurz, 2012, S. 90). Le Goff zeigt dann in seinem Werk Geld im Mittelalter, dass es deshalb keinen mittelalterlichen Geldbegriff gab, weil ein spezifischer Bereich Ökonomie ebenso fehlte wie diesbezügliche Thesen oder Theorien (vgl. ebd., 2012, S. 90f.). Kurz spinnt den Gedankengang von Le Goff weiter:
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„Sicherlich bildete dieses soziale Gefüge, in dessen Zusammenhang auch die Lebensmittel produziert wurden, in gewisser Weise eine »zweite Natur«, aber eben als anders konfiguriertes Fetischverhältnis, das seine bestimmte Logik hatte und keine eigengesetzliche andere neben sich dulden konnte“ (ebd., S. 91; Hervorh. Kurz).
Um es noch einmal zu verdeutlichen: dieses »anders konfigurierte Fetischverhältnis« entsprang dem »Opferverhältnis«, denn das »Opfer als gemeinsame rituelle Handlung« war das »Bindeglied zwischen den übersinnlichen Kräften und Mächten und der Welt der Menschen«, die ihr Leben danach ausrichteten und so das Gemeinwesen konstituierten. Nicht umsonst wurde bis zum Ende des Kaiserreichs dieses »Opferritual durch den Sohn des Himmels« vollzogen, z. B. in dem er zu Beginn der Aussaat eine »symbolische Furche« zog. Ohne das »Opferverhältnis als Gottesverhältnis« wäre der Sozietät und ihren Mitgliedern die Sinnhaftigkeit verloren gegangen. Nach allem, was bisher über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Vormoderne und Moderne gesagt wurde, dürfte es einleuchten, dass sich in »sakral konstituierten Sozietäten« eine andere „zweite Natur“ entwickelt hatte als in der säkular verfassten Gesellschaftsformation des modernen warenproduzierenden Systems – und damit eben auch anders »konfigurierte Fetischverhältnisse«. Kurz greift wieder auf die „grundlegende Bedeutung der religiösen Matrix“ (ebd., S. 92) zurück und formuliert die These, dass, wenn das Geld nicht der Wertform-Entfaltung unterlag, dann kann es sich in vorkapitalistischen Gesellschaften nur um eine Form gehandelt haben, die inhaltlich anders bestimmt war als in der Moderne: „Sind einmal die religiöse Matrix und die darin eingeschlossenen Repräsentanzen als wesentlich für die vormodernen Verhältnisse erkannt, dann muss auch die als »Geld« identifizierte Erscheinung diesem Zusammenhang 114
angehören, also in einen ganz anderen Kontext als in der Moderne eingebunden gewesen sein. So könnte die materialiter als »Geld« identifizierte Gegenständlichkeit als eine (für unser Verständnis in befremdlicher Weise) religiös bestimmte tatsächlich vor und unabhängig von so genannten Tauschverhältnissen oder parallel dazu entstanden sein“ (ebd., 93; Hervorh. Kurz).
Wie schon erwähnt, basierte die vormoderne Reproduktion auf dem »Gottesverhältnis als Opferverhältnis«. Um die »Götterwelt« gnädig zu stimmen, musste der »transzendenten Macht ein wertvolles Opfer« dargebracht werden. Anfänglich waren es »Menschenopfer« als das Höchste, was den »Göttern« angeboten werden konnte und diese Menschen waren zwangsläufig Personen, die für die Gemeinschaft eine in vielerlei Hinsicht bedeutete Rolle spielten: hochgestellte Persönlichkeiten, heilige Menschen, die Tapfersten, Klügsten, Schönsten etc. (vgl. ebd., S. 95).41 Kuhn bestätigt die obige Auffassung von Kurz indirekt: „Grabbeigaben konnten sowohl kunstvoll gefertigte Ritualgefäße als auch andere Statusobjekte wie Waffen und Schmuck sein, die von der hohen Wertschätzung, die man den Verstorbenen entgegenbrachte, zeugten. In der Steinzeit gab man den Toten Vorratsgefäße, Waffen, Werkzeug und Schmuck mit, daneben aber auch Statussymbole wie Schweinekiefer, die belegen, dass der Tote aus einer vermögenden (sic; RGP) Familie kam. Vereinzelt wurden auch ri-
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Dass auch Kriegsgefangene geopfert wurden, kann mit dem Schutz der eigenen Mitglieder der Sozietät zusammenhängen und könnte als eine Art Übergang von den »Menschopfern hin zur symbolischen Opferhandlung« (Tiere etc.) gewertet werden, was allerdings einer genauen Untersuchung bedarf. 115
tuelle Menschenopfer entdeckt. In der Shang-Dynastie statteten die Nachkommen aus den wichtigen Familien die großen Schachtgräber ihrer Verstorbenen mit Menschenund Tieropfern in großer Zahl aus. Meistens mußten die Menschen ihrem Herrscher oder Herrn ins Grab folgen (xunzang). Dazu stellten die Angehörigen wertvolle Ritualbronzen für Speise- und Trankopfer, kunstvoll gearbeitete Gegenstände aus Jade, Knochen und Elfenbein in und bei den Särgen auf. Bereits in der frühen Westlichen Zhou-Zeit, als die Zahl der Menschenopfer pro Grab sieben nicht mehr überschritt und Typ und Zahl der Ritualbronzen den Rang des Grabbesitzers erkennen lassen, wurde zwischen wertvollen Grabbeigaben und unbrauchbaren Geistergeräten, die man den Verstorbenen ins Grab mitgab, unterschieden“ (Kuhn 1996, S. 67; Hervorh. Kuhn).
Hieraus ist nicht unbedingt ersichtlich, dass die Menschen, die »rituell geopfert« wurden, hochgestellte Persönlichkeiten etc. waren (s. o.), auch wenn Kuhn einige Seiten vorhersagt: „Die Menschen, die als Opfer ihrem Herrscher oder Herrn in den Tod folgten, gehörten in der Regel zum königlichen Hof“ (ebd., S. 51).
Kuhn führt einen anderen Grund an, nämlich dass viele Zeitgenossen die kunstvoll gefertigten »Ritualgefäße, Waffen und Schmuck«, allesamt aus wertvollem Material gefertigt, die den Toten ins Grab gelegt wurden, als „volkswirtschaftliche (sic; RGP) Verschwendung“ (ebd., S. 67) ansahen. Auch in der Chunqiu-Periode (770-476 oder 464 v. u. Z.) wurden weiterhin »Menschen rituell geopfert«, allerdings sollen laut Kuhn die Motive andere gewesen seien:
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„Zweifelsohne wurde mit solchen Begräbnissen die neue Macht der Lehensfürsten im eigenen Reich und ihr politischer (sic; RGP) Anspruch gegenüber dem Königshaus der Zhou demonstriert“ (ebd.).
In der „Zeit der Streitenden Reiche“ (475 oder 463-221 v. u. Z.) soll ein neuer Beweggrund die Verringerung der Menschenopfer bewirkt haben: „Doch die quantitative Abnahme der rituellen Menschenopfer in Gräbern hing nicht nur mit den machtpolitischen (sic; RGP) und wirtschaftlichen (sic; RGP) Bedingungen in den einzelnen Lehensstaaten (sic; RGP), sondern auch mit dem seit dem 4. Jh. zu beobachtenden, langsam wachsenden neuen Verständnis der Funktion eines Grabes zusammen. Dem neu aufkommenden Abbildcharakter des Grabes als domus aeterna des Verstorbenen, als unterirdische Residenz für die Ewigkeit, entsprachen vor allem die Grabfiguren aus Keramik, die man gegen Ende der Zhou- und in der Han-Zeit vermehrt in Gräbern entdeckt hat. L. von Falkenhausen erklärte dazu: ‚Für eine abbildende Funktion eignen sich Figuren viel besser als Menschenleichen; man kann auf ihnen die gewünschten Tätigkeiten, Handbewegungen und Körperposen unveränderlich festschreiben. Auch sind sie im allgemeinen handlicher‘“ (ebd., Hervorh. Kuhn; von Falkenhausen zit. nach Kuhn).
Die oben genannten Gründe mögen ebenso eine Rolle gespielt haben, wie die von Kurz in Anlehnung an Laum angeführten: Diese Art von Opfer tat weh, und zwar so weh, dass die Mitglieder der Sozietäten dazu übergingen, die »Idee der Stellvertretung« (Laum 2006/1924, 100, zit. nach Kurz 2012, S. 95) zu entwickeln. Diese „Idee“ wurde im Laufe der Zeit modifiziert: Opfertiere, „symbolische Requisiten des kultischen Vollzugs“, die „symbolische(n) Wandlung vegetabilischer 117
Opfer in Nachbildung von Tieren“, „runde Opferkuchen mit einfacher Form oder mit tierischen Prägungen“, „zuletzt synkretistisch als Form von runden Edelmetallplatten mit als Sigel aufgeprägtem Tieropfersymbol (Rindsköpfe), dann mit Götterköpfen und in historischer Zeit mit Herrscherköpfen“ (ebd., S. 97). Auch seltene und schwer zu beschaffende Edelmetalle, wie Gold und Silber, wurde den »Göttern geopfert«. In diesem Zusammenhang verweist Kurz auf das in den Marxschen Grundrissen entsprechende Kapitel vom Geld, in dem dieser feststellt, dass „Gold und Silber wohl ursprünglich als priesterliches und königliches Privilegium [galt], da der Gott und König der Waren nur den Göttern und Königen zukommt“ (Marx 2005/1857, 156, zit. nach Kurz 2012, S. 93). Das, was wir heute als Geld kennen, lässt sich etymologisch auf seine ursprüngliche Bedeutung als »Opfer« und »Vergeltung« zurückführen. Kurz zitiert hier das „Etymologische Wörterbuch des Deutschen“. U. a. heißt es dort, „eigentl. »das, womit man Opfer, Buße erstatten, entrichten kann...«“ (ebd., S. 94). Hier greift Kurz auf den schon erwähnten Autor Laum zurück, der in seinem Werk Heiliges Geld (1924) die Theorie entwickelte, dass das Geld eigentlich »religiösen Ursprungs« war. Laum geht davon aus, dass die modernen Geldtheorien als transhistorische Verallgemeinerung eine „»Vergewaltigung der Geschichte«“ darstellen, da sie „»aus den Erscheinungen der Gegenwart«“ (Laum 2006/1924, 9, zit. nach Kurz 2012, S. 94) abgeleitet seien. Ferner weist er nach, dass quantitative »Wertungen«, die in Rindern ausgedrückt wurden, nicht der säkularen „»Logik des Tausches«“ zuzurechnen seien, sondern dem Opferkult im Gottesverhältnis entspringen (vgl. ebd.). Das Rind diente als sakrales „»Zahlungsmittel« im Verkehr mit der Götterwelt“ (ebd. S. 95; Hervorh. Kurz) und nach seiner Opferung erfasst es in der Form der Zuteilung von Fleischportionen beim »heiligen Mahl« die menschlichen Beziehungen und zwar „vom Opferspezialisten (später Priester) bis zum einfachen Mitglied der jeweiligen Sozietät“ (ebd.). Auch die Blutrache bei 118
Tötungsdelikten oder der so genannte »Frauenraub« zwischen verschiedenen Sozietäten wird in religiöser Ableitung als Sühneleistung geahndet. Nach Laum erweist sich so der „»Kult als Schöpfer normierter Entgeltungsmittel« (Laum, a. a. o. 15ff., zit. nach Kurz 2012, S. 96) „und das »gelt« geht ein in ebenso sakral bestimmte Beziehungen, die entsprechend durch kultische Rechtsverhältnisse geregelt sind“ (Kurz 2012, S. 96). Allerdings darf dieses »Recht« nicht im moderne Sinne, z. B. als juristisches Verhältnis zwischen formal gleichberechtigten Parteien gesehen werden. Vielmehr ist es so, dass „alle persönlichen und institutionellen Verpflichtungsverhältnisse (...) sich aus diesem Grundverhältnis des Opfers und seiner Rituale“ (ebd.) herleiten. Wesentlich hierbei ist, dass der Symbolcharakter im Gottesverkehr der personalen Repräsentanz kein »ökonomisches Gesetz« ausdrückt, sondern ein religiöses Verhältnis der Reproduktion ist, wobei heilige Stätten oder Tempel zu Opferorten wurden, in denen die Gaben in haltbarer Form aufbewahrt wurden (vgl. ebd.), meistens sind es Edelmetalle in Form von Barren, in China z. B. wertvolle »Bronzegefäße, Bronzewaffen, und Bronzestatuen, Jade« etc. Hier ist ein Einschub in Bezug auf die „empirisch-historische Herkunft des Geldes“ (Aabromeit 2017, S. 256) vonnöten. Aabromeit bemängelt Robert Kurz’ einseitige Anlehnung an Laums Theorie, dass die Entstehung des Geldes durch die Religion als Opfergegenständlichkeit zu suchen sei mit den Worten: „In eigenartigem Kontrast zu seinen ansonsten avantgardistisch tiefen Einsichten in die gesellschaftlichen Verhältnisse sind seine Erkenntnisse bezüglich des Opfers und seiner möglichen Geldeigenschaften erstaunlich eindimensional, oberflächlich und wenig radikal“ (ebd., S. 260).
Aabromeit geht in seinem Aufsatz acht mehr oder weniger verschiedenen „Ansätze[n] zur Erklärung der Geldherkunft“ (ebd., S. 272)
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nach (vgl. ebd., S. 256-272), die hier – von ihm kurz zusammengefasst – wiedergegeben werden: „Sakrales Opfer für einen imaginierten, aber unverstandenen und bedrohlichen Dämon oder Natur- und später den Götterfetisch, zur Schuldbegleichung oder zur Besänftigung bzw. Bestechung in Demut und Hoffnung; Folge der politischen (sic; RGP) Setzung von Eigentum und dessen Kontraktierfähigkeit, in Verbindung mit der Entstehung der Eigentumsprämie; Anhäufung von Körperschmuck und anderen Zeichen von sozialer Hierarchie; Gesellschaftliche Entwicklung des Begriffes vom ökonomischen Wert; Erleichterung der Tauschakte im Fern- wie im Nahhandel; Folge der neuen Abstraktionsfähigkeit aufgrund des griechischen Alphabets; Folge der reziproken Gabe und Gegengabe; Wertmaßstab für die Taxierung von Schulden“ (ebd., S. 272; Hervorh. Aabromeit).
Sein Fazit lautet u. a., dass die von ihm „dargestellten acht Herkunftsnarrative in gewisser Weise, also mit Einschränkungen (...), allesamt zutreffend sind“ (ebd., S. 273). Ob einer von diesen Ansätzen über die Herkunft des Geldes auf China zutrifft oder aber ob es mehrere sind, muß näher untersucht werden, ist hier aber nicht Gegenstand dieser Abhandlung. Kehren wir zurück zum eigentlichen Thema. „Diese Tempelschätze können vielleicht als eine Art »Gottesguthaben« oder »Heilsguthaben« bezeichnet werden. Sie deshalb als »Banken« zu verstehen, ist wieder ein typisch moderner Anachronismus als Rückprojektion der eigenen 120
verdinglichten Logik auf die ganz andere der unmittelbar personalen Repräsentanz, bei der es um die Beeinflussung transzendenter Mächte geht, nicht um den Vollzug transzendentaler ökonomischer Gesetze“ (Kurz 2012, S. 96; Hervorh. Kurz).
Aus diesem Grund verliert das Edelmetall als »Geld« auch dann nicht seinen »sakralen Charakter« wenn es als »geprägtes Münzgeld« in Erscheinung tritt. Abzulesen ist dies auch an dem „Wert“-Verhältnis („Wert“ eben nicht als Wertform im heutigen Sinne zu verstehen) zwischen den göttlichen Symbolen der Sonne (Gold) und dem Mond (Silber), das bis in die frühe Neuzeit 1: 13 1/3 betrug und keine ökonomische Bedeutung hatte, also weder auf dem Arbeitsaufwand noch auf einer Marktkalkulation (vgl. ebd., S. 97), z. B. auf Angebot und Nachfrage, beruhte, da das »Geld« eben selbst die »Opfergegenständlichkeit« war. Auch als »geprägtes Münzgeld« war das »Geld« »sakral« bestimmt, da die münzenden Instanzen immer noch ein »personal bestimmtes Repräsentanzverhältnis jener Götterwelt« darstellten, die es »gnädig« zu stimmen galt. Kurz bezeichnet diese Art »Geld« als „ein Geld, das noch gar keines ist, weil es die symbolische Prägung eines hoheitlichen Gottesverhältnisses darstellt, nicht aber den allgemeinen Ausdruck einer ökonomischen Beziehung oder einer ökonomischen »gesellschaftlichen Synthesis«“ (ebd., S. 99f.; Hervorh. Kurz).42 42
In Geld in der Antike geht Christopher Howgego auf die Entwicklung des so genannten Geldes in Athen, Rom, Persien etc. ein. Bis zu einem gewissen Grad stimmen seine Ausführungen mit denen von Kurz überein. Allerdings finden sich bei ihm ebenfalls moderne Kategorien, die er auf die Vormoderne rückprojiziert. So überschreibt er ein Kapitel mit Politik (vgl. ebd., S. 71-100) und spricht von Formen politischer Repräsentation (ebd., S. 72-80). Inwieweit seine Abhandlungen in Bezug auf China brauchbar sind, müsste näher untersucht werden. 121
Diese letzte Feststellung von Kurz ist äußerst wichtig und wird von der akademischen Gelehrtenschaft, der bürgerlichen wie der so genannten linken entweder geflissentlich übersehen oder aufklärungsideologisch ignoriert, denn wenn heute der Kapitalfetisch die gesellschaftliche Synthesis konstituiert, war es in vorkapitalistischen Gesellschaften das »religiöse System persönlicher Verpflichtungsverhältnisse«. D. h., auch wenn dieses so genannte »Geld« in menschliche Austauschbeziehungen einging, blieb es »sakral« bestimmt, oder anders formuliert, es entfaltete keine ökonomische Eigenlogik bzw. es wurde nicht zum Ausdruck einer ökonomischen Allgemeinheit. Während das Wertverhältnis ein dynamisches ist – unter dem Zwangsgesetz der Konkurrenz aus einem Euro zwei machen zu müssen -, blieb das »religiös konstituierte Gottesgeld« statisch, d. h. es fand keine Selbstbewegung des »Geldes« in welcher Form auch immer statt. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass z. B. Kaufleute in China durch Handel Reichtümer erwarben. Denn diese Kaufleute waren einerseits in das »göttliche Prinzip des Mandats des Himmels« eingebunden wie andererseits in die »persönlichen Verpflichtungsverhältnisse« seitens der bestehenden Beziehungen, wie z. B. ihrer Familien bzw. Gilden etc. Allgemeiner formuliert gehörten diese »Austauschverhältnisse« nicht zu einer reinen Zirkulationssphäre von Waren, also einem sachlichen Wertgesetz unterliegend, sondern sie waren immer noch unmittelbar »personalen Repräsentanz- und Verpflichtungsverhältnissen« zugehörig und unterworfen. Kurz kritisiert in diesem Zusammenhang den „guten alten Engels“, die bürgerlichen Ideologen ebenso wie die neuere Orthodoxie á la Haugg, die davon ausgehen, dass das Wertgesetz seit Tausenden von Jahren gültig gewesen sei (vgl. Kurz 2012, S. 100). Zwar ergeben sich durch das »Geld« in Austauschbeziehungen neue Verhältnisbestimmungen, die aber nicht losgelöst sind von der »religiös personalen Matrix«. Dies aus zwei Gründen, einmal liegt der materiellen Produktion keine „objektive 122
Allgemeinheit »abstrakter Arbeit« zugrunde“, d. h., die „Verausgabung von menschlichem Hirn, Muskel, Nerv, Hand usw.“ (Marx) hat noch nicht den Status einer gesellschaftlichen Allgemeingültigkeit erlangt. Zum anderen ist die »Warenform«, wie oben bereits gezeigt, immer noch in die »persönlichen bzw. institutionellen Verpflichtungsverhältnisse« eingebunden, d. h., sie stellt eine Besonderheit auch dann dar, wenn »Produkte« gewohnheitsgemäß für den »Austausch und den Geldverkehr« hergestellt werden. Oder anders formuliert, die Warenform ist genauso wenig gesellschaftlich allgemein wie die Arbeit, falls man überhaupt von Arbeit sprechen kann (s. das nächste Kapitel). Produktion, Kauf- und Verkaufsakt unterliegen immer noch den »persönlichen Verpflichtungsverhältnissen«, „die im ursprünglichen Opferverhältnis wurzeln und nach wie vor sakral konstituiert sind“ (ebd., S. 101). Grundsätzlich lässt sich ein weiterer Unterschied zwischen der Moderne und der Prämoderne festmachen: „Das Kapitalverhältnis ist die erste und einzige dynamische und sich selbst dynamisierende, von innen heraus sich transformierende Produktionsweise, die dadurch von vornherein über sich selbst hinausweist und zur Selbstaufhebung drängt. Insofern schließt sie die gesamte ‚Vorgeschichte‘ in sich zusammen und hebt sie gleichzeitig auf. Vormoderne und nichteuropäische Gesellschaften dagegen entwickeln sich zwar, sie entfalten jedoch keine an sich selbstdestruktive Dynamik in diesem Sinne“ (Kurz 2004d, FN 30, S. 189; Hervorh. Kurz).
Betrachten wir es aus der Sicht der »vormodernen Fetischverhältnisse«, so lässt sich folgendes festhalten: Das »transzendente göttliche Prinzip« „und dem damit verbundenen Opferverhältnis“ (Kurz 2012, S. 73) schuf die anders geartete eigengesetzliche Logik, die in das praktisch-irdische Leben umgesetzt und damit zur »Realmetaphysik« 123
für die Mitglieder der je spezifischen Sozietäten wurde (vgl. ebd.), nach dem sie ihr bewusstloses Denken und Handeln ausrichteten „oder eben eines Handelns, das dem bewussten Denken vorausgesetzt ist und selber dessen Form konstituiert statt umgekehrt“ (ebd., S. 70). Kommen wir nun zu drei Begriffen – Reziprozität, Redistribution und Haushaltsführung – die Kurz in Anlehnung an Polanyi erläutert und die in der Moderne nur noch ein Nischendasein führen. Polanyi sagt, dass die vormoderne soziale Reproduktion „»von nichtökonomischen Prinzipien getragen«“ (Polanyi 1978/1944, 75, zit. nach Kurz 2012, S. 102) wurde und verweist einmal auf die Reziprozität und die Redistribution. Erstere meint, dass auf Basis der »sakralen Verpflichtungsverhältnisse« eine »gegenseitige Hilfe« in der Form existierte, wie die Früchte des »Stoffwechselprozesses mit der Natur« und des Wissens an Sozietätsmitglieder weitergegeben wurden, wobei, wie der Begriff schon sagt, dies auf Gegen- bzw. Wechselseitigkeit beruhte, allerdings nicht getragen von einem abstrakten Äquivalenzprinzip. Zudem fallen Geben und Nehmen auseinander. Die Reziprozität basiert auch nicht auf dem Wertgesetz. Die »Redistribution« folgt einem ähnlichen Muster, nur das hierbei eine herausragende Person der Gruppe Vorräte etc. erhält und verteilt. In diesem Fall konstituiert sich durch die »Redistribution ein personales Herrschaftsverhältnis«, wobei dieses die unterschiedlichsten Ausformungen annehmen kann, aber „das redistributive Moment bleibt jedoch durchgehend erhalten“ (Kurz 2012, S. 102). Auch wenn dabei »sakrales Geld« eine Rolle spielt, handelt es sich weder um Warenproduktion noch um Marktbeziehungen. Das dritte Prinzip, nämlich das der »Haushaltsführung« (altgriechisch: Oikos) bezieht sich auf die Produktion für den Eigenbedarf des Familienverbandes. »Reziprozität« und »Redistribution« sind nach Polanyi älter als das Prinzip der einzelfamilialen »Haushaltsführung«.
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„Unter den Bedingungen vormoderner Reziprozität und Redistribution kann im Grunde nicht von »Warentausch« gesprochen werden; zumindest gibt es keine scharfe Abgrenzung zwischen Tausch, »Geschenk«, Abgabe (an innere Instanzen) oder Tribut (an äußere Instanzen)“ (ebd., S. 103; Hervorh. Kurz).
Die beiden letzten Begriffe werden in der konkreten Untersuchung noch näher zu betrachten sein: die Abgabe, z. B. in Form von Naturalabgaben der bäuerlichen Bevölkerung an übergeordnete Instanzen; »Tribut«, den die „Barbaren” dem „Reich der Mitte“ zu leisten verpflichtet waren oder dies auch freiwillig taten, um einerseits in den Genuss von »Geschenken« seitens des »Himmelssohns« zu kommen und/oder um andererseits Handel treiben zu dürfen. Auch der Begriff des »Geschenks« muss hier näher beleuchtet werden. Dem »Geschenk« wird eine politische oder ökonomische Bedeutung untergeschoben, die aus der Moderne stammt. Nehmen wir zur Illustration dieses Sachverhalts den »Sohn des Himmels«, der in seiner »göttlichen Position Geschenke an tributpflichtige Völker bzw. an dessen Repräsentanten im Gegenzug zu deren Tributleistungen vergab« (»Gabe«; RGP), wobei diese »Geschenke« häufig den so genannten „Wert“ des »Tributs« überstieg. Es ist offensichtlich, dass hier kein Äquivalenzprinzip im Sinne des Wertgesetzes oder überhaupt einer ökonomischen Überlegung waltete bzw. zugrunde lag. Auch von einem Politikum kann hier nicht die Rede sein, denn der »Sohn des Himmels« „vergab diese »Geschenke auf der Basis der religiösen Matrix«. Das »Geschenk« hatte also seinen »sakralen Charakter« keineswegs verloren, vielmehr wollte der »Herrscher« damit seine einzigartige Stellung zum Ausdruck bringen, als dem »Herrscher«, dem alles »unter dem Himmel« (»tianxia«) gehörte. Hier von politischen oder ökonomischen Beweggründen zu sprechen, ist absoluter Anachronismus.
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Nachfolgend geht Kurz auf zwei Autoren ein, die sich mit diesem Problem des »Geschenks« bzw. der »Gabe« näher befasst haben: Marcel Mauss’ Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften (1925) und Michael Rostovtzeffs Gesellschafts- und Wirtschaftsgeschichte der hellenistischen Welt (1998/1941), die hier nur kurz Erwähnung finden sollen (vgl. ebd., S. 103ff.). Entscheidend ist, dass beide Autoren die obigen Begriffe in Bezug auf die »Reproduktion mit Riten« etc. verbinden, so wie es weiter oben schon dargestellt wurde. Marcel Granet beschreibt in dem Abschnitt Die Erntefeste und die tote Zeit im Jahr dass bei diesen „Erntefesten“ kein Äquivalenzprinzip waltet, allerdings wohnt laut Granet „diesem Wettstreit gegenseitigen Beschenkens nicht selten ein Moment von Raffgier inne“ (Granet 1980a, S. 31): „Der Wert der Geschenke erhöht sich und mit ihm die Erregung derer, die sie anbieten, bis sie sich schließlich zu einem allgemeinen Gefühlsausbruch steigern kann und alles gemeinschaftliches Eigentum wird oder in einer gemeinsamen Orgie konsumiert wird (...)“ (ebd.).
Dazu Kurz: „Weder waren solche Geschenkbeziehungen grundsätzlich »geldfrei«, obwohl sie keiner eigenständigen Logik von Ware-Geld-Beziehungen folgten, noch beinhalteten sie eine bewusste gemeinschaftliche Reproduktion. Ganz im Gegenteil ist das »Geschenkverhältnis« immer ein fetischistisches Verpflichtungsverhältnis, dessen Reziprozität Herrschaftsbeziehungen und wie gezeigt auch Krieg grundsätzlich einschließt. Aber es ist eben auch kein Verhältnis einer selbständigen »ökonomischen Sphäre«. Es geht also nicht um eine rückwärtsgewandte Programmatik, die eine am Kapitalismus leidende Menschheit mit 126
der Mystifikation vormoderner Verhältnisse erlösen möchte, sondern um die reale und begriffliche Differenz vormoderner und moderner Fetischverhältnisse, die jeder transhistorischen Bestimmung rein kapitalistischer Kategorien den Garaus macht“ (Kurz 2012, S. 109; Hervorh. Kurz).
Das, was eingangs in diesem Kapitel schon angeführt wurde, nämlich dass das vormoderne »Geld« als »Geld ohne Wert« bezeichnet werden kann, bekräftigt Kurz zu Ende des Kapitels Ein Geld, das noch gar keines ist, mit dem Verweis darauf, dass »Austausch und Geldverkehr keine Oberflächenphänomene« gewesen sind, wie dies im modernen warenproduzierenden Patriarchat der Fall ist, das auf abstrakter Arbeit und Wertgegenständlichkeit beruht. Vielmehr waren, wie schon mehrfach betont, die vormodernen Sozietäten »religiös« konstituiert und in ihnen herrschten »personale bzw. kollektive Verpflichtungsverhältnisse«, in die »Geld, Austausch, Produktion bzw. Reproduktion« etc. eingebunden waren als »integrale Bestandteile dieser religiösen Matrix«. Im letzten Kapitel seines Essays Geld ohne Wert geht Kurz der Frage nach, was die Kontinuität wie auch den Bruch zwischen vormodernen und modernen Fetischverhältnissen bedingt (vgl. ebd., 402) und er kommt zu dem Schluss: „Rein phänomenologisch ist es das Geld, das die transhistorische Kontinuität (nach Marx nur diejenige einer barbarischen »Vorgeschichte« unter Einschluss des Kapitalismus) stiftet. Genauer betrachtet ist es aber zugleich die qualitative Veränderung oder die sprunghafte Mutation des Geldes in etwas ganz anderes als zuvor, die wiederum den Bruch stiftet. Wertgegenständlichkeit und »abstrakte Arbeit« als logische Voraussetzung einer Selbstbewegung des »abstrakten Reichtums« in der Geldform (nach dem Bruch) sind historisch erst Resultat dieser Transformation“ (ebd.; Hervorh. Kurz). 127
Damit stellt sich eine weitere Frage, nämlich die nach der neuen Logik im Verhältnis zur alten in Bezug auf das Geld und die Antwort lautet, dass das »Geld« als »Gelt« ein »Opfer an die Götter« war, mit der eine »Schuld« beglichen werden sollte, um den Menschen das Leben auf Erden zu ermöglichen: Nahrung produzieren zu können (vgl. ebd., S. 403), Behausung zu schaffen, Kleidung zu nähen, das Los der Menschen insgesamt zu erleichtern etc. Wir haben weiter oben schon gesehen, dass das »Gelt« Metamorphosen durchlief, nämlich vom »Menschenopfer über das Opfern von Rindern«, das »OpferGelt« aus »Edelmetall, geprägte Münzen« etc. Das »Opfer-Gelt« wurde also im Laufe der Geschichte substituiert, aber der »Glaube an die Götter« (in verschiedenen Sozietäten in unterschiedlicher Form) hatte Bestand. Das »Gelt« als »Opfergabe« blieb bis in die frühe Neuzeit ein »Geld ohne Wert« und die »Opfer-Schuldigkeit« (Kurz) wurde, wie wir schon sahen, auf vielfältigste Weise „auf die sozialen Beziehungen der Menschen untereinander übertragen, aber damit keineswegs »säkularisiert«, sondern im Gegenteil das (immanente) Sozialverhältnis aus dem (transzendenten) Gottesverhältnis abgeleitet und als komplexe Struktur von persönlichen wie institutionellen »Schuldigkeiten« nach dem Muster der Opfergegenständlichkeit konstituiert. Mit einer Ökonomie oder Produktionsweise im Sinne von abstrakter Arbeit und Wertverhältnissen hatte das alles rein gar nichts zu tun“ (ebd., Hervorh. Kurz).
Erst die „Feuerwaffen-Ökonomie“ (Kurz) verwandelte das »Gelt« von der »Opfergegenständlichkeit« in die abstrakte Selbstzweckbewegung und trat selbst an die Stelle der »transzendenten Macht«. Das Geld wurde nun zum „Geld mit Wert“ (Wert, Wertform der Ware im Sinne von Marx) und „mutierte selber zum Quasi-Gott“ (ebd.). Mit dieser Verwandlung des Geldes veränderte sich auch die Produktion bzw. 128
Reproduktion (wie wir es heute nennen) und die sozialen Beziehungen der Menschen zueinander. Das ursprüngliche »Opferverhältnis«, in das auch der »Stoffwechselprozess mit der Natur« eingebunden war, transformierte sich zu einer so genannten Ökonomie. Das moderne warenproduzierende System war geboren, die »Religion« tot: „Der Kapitalismus ist keine Religion, sondern die Auflösung aller Religion in eine verselbständigte irdische Opferbewegung: den Kapitalfetisch“ (ebd., 404).
Während in den vormodernen Formationen die Lebensbedürfnisse von den »sakralen Opferhandlungen« und dem damit zusammenhängenden »personalen bzw. kollektiven Repräsentantionsverhältnissen« bestimmt wurden und die materiellen Restriktionen immer nur partiell und externalisiert waren in der zeit- und ortsgebundenen Form der »Schuld«-Tribute an das »Götterverhältnis als symbolisches Opferverhältnis« (vgl. ebd., S. 409), hat sich unter dem Diktat des Kapitalfetisch ein grundlegender Wandel vollzogen. Die materiellen Restriktionen können nun prinzipiell total werden, da die Lebensbedürfnisse unter absolutem „Vorbehalt der totalitären Opferbewegung als Selbstzweck-Akkumulation von »abstraktem Reichtum«“ (ebd., S. 410; Hervorh. Kurz) stehen. Ablesen lässt sich dies an den Menschen, die auf staatliche Transferleistungen angewiesen sind – Fordern und Fördern. Kommen diese Menschen den Forderungen der staatlichen Bürokratie nicht nach, verweigern sie sich z. B. sinnlosen Weiterbildungsmaßnahmen etc., dann können (und werden) ihnen die Leistungen zusammengestrichen, im Extremfall auf Null.43 Das Perfide ist, dass die betroffenen Menschen aus dieser Gesellschaft nicht aussteigen können. Zwar waren in den vormodernen Sozietäten die materiellen und gesellschaftlichen Verhältnisse, die Sanktionen 43
Vgl. die jüngsten Medien-Berichte über Strafmaßnahmen der Job-Center; ferner www.gegen-hartz.de/. 129
und Strafen gegen missliebige bzw. abtrünnige Mitglieder äußerst brutal, so bestand durchaus noch die Möglichkeit, sich auf vielfältige Weise der Gesellschaft zu entziehen, da diese »religiös konstituierten Formationen« einen geringen Vergesellschaftungsgrad aufwiesen und nicht den totalitären Charakter hatten, den der Kapitalfetisch heute in Zeiten seines absoluten Niedergangs an den Tag legt. Das Fazit von Robert Kurz lautet: „Waren die Metamorphosen des Geldes vom Menschenopfer zur symbolischen Ersatzgegenständlichkeit ein partieller Zivilisationsprozess auf dem unüberwundenen Boden von Fetischverhältnissen, so hat der Kapitalfetisch eine verdinglichte Opferbewegung in Gang gesetzt, die im Resultat alle zivilisatorischen Elemente der bisherigen menschlichen Geschichte zurücknimmt“ (ebd., S. 413).
Fassen wir die wesentlichsten Elemente der Theorie der Geschichte als Geschichte von Fetischverhältnissen zusammen, so ist als erstes festzuhalten, dass die »vormodernen religiös konstituierten Sozietäten« sich durch den »Glauben an eine wie immer geartete transzendente Götterwelt« auszeichneten. Der damit zusammenhängende »Opferkult«, mit dem diese »Götterwelt« gnädig gestimmt werden sollte, schuf wahrscheinlich die frühen neolithischen Sozietäten. Und aus diesem »religiös bestimmten Opferkult« entwickelte sich ein »System von Regeln, das spiegelbildlich der Götterwelt« glich. »Diesem Regelsystem, das reale Verhältnisse konstituierte« und als »Realmetaphysik« zu bezeichnen ist, unterwarfen sich die Mitglieder der jeweiligen Sozietäten«. D. h., alles Denken und Handeln blieb dieser »religiösen Matrix«, die keine andere eigengesetzliche Struktur neben sich duldete, verhaftet. Da diese »Götterwelt« irdisch nicht anwesend, nicht sichtbar, also übersinnlich war, entstand durch den »Opferkult ein hierarchisch-
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personales bzw. kollektives Herrschaftsverhältnis«, das aber keineswegs auf Willkür – oder modern ausgedrückt – auf subjektive Machtausübung beruhte. Vielmehr war dieses »Herrschaftsverhältnis in die religiöse Matrix« eingebunden. D. h., die »Herrschaft bzw. der Herrscher« hatte sich gegenüber dieser »transzendenten Götterwelt« – quasi „im Auftrag“ seiner Sozietät – zu legitimieren, indem der »Herrscher als Stellvertreter der Götter auf Erden diesen Opfer darbrachte«. Wurden diese »rituellen Opferhandlungen« nicht vollzogen – aus welchen Gründen auch immer -, verlor die »Herrschaft bzw. der Herrscher ihre bzw. seine Legitimation« und wurde durch ein anderes »personales Herrschaftsverhältnis« abgelöst. Die »religiöse Matrix« als solche blieb, mit den daraus resultierenden »Verpflichtungsverhältnissen«, bestehen. Diese »Herrschaftsund Verpflichtungsverhältnisse« waren nicht einseitig ausgerichtet, sondern bedingten sich wechselseitig. So wie der »Herrscher gegenüber der Götterwelt« in der Pflicht stand, so hatte er gegenüber der »Sozietät eine Fürsorgepflicht«, deren »Mitglieder gegenüber dem Herrscher eine Gehorsamspflicht«. Das bedeutet nicht, dass diese Herrschaft frei von Grausamkeiten, Ungerechtigkeiten etc. war, nur folgten diese Formen der Gewaltanwendung einer anderen Logik als es in der Moderne der Fall ist. Die erste war »personal und transzendent«, letztere verdinglicht und transzendental. Dieses »wechselseitige Verpflichtungsverhältnis« erfasste natürlich alle Mitglieder der betreffenden Sozietäten, die Familien ebenso wie die verschiedenen Gruppen, z. B. Clans, Gilden, Handwerker etc. und immer auf der Basis der »religiös konstituierten Sozietät«. Was sich änderte, war das »Opfer«. Wie weiter oben schon ausführlich geschildert, wurde das »Opfer« substituiert: anfänglich waren es »Menschen, die geopfert wurden, dann Rinder, in China u. a. Hunde und Pferde etc., später Edelmetalle, wie Gold und Silber«. Auch das in »geprägter Münze geopferte Geld« (ohne Wert) verlies nie die »religiöse Matrix«, entsprang also immer dem »transzendenten Verpflich131
tungsverhältnis gegenüber der Götterwelt«. Erst die „FeuerwaffenÖkonomie” (Kurz) verwandelte das Geld vom »göttlichen Opfer« zum Quasi-Gott – mit all den daraus hervorgehenden Konsequenzen für die Menschen. Nachdem die Theorie der Geschichte als Geschichte von Fetischverhältnissen in Grundzügen dargestellt wurde, ist es erforderlich, sich den Kategorien zuzuwenden, die allein durch das moderne warenproduzierende Patriarchat das Licht der Welt erblickt haben und somit, das sei noch einmal betont, allein dieser historisch endlichen Produktionsweise zugehörig sind. Zwar ist die Rückprojektion moderner Kategorien in den vorherigen Kapiteln mal skizzenhaft, mal ausführlicher kritisiert worden, allein das reicht nicht. Die Kritik der transhistorischen Verwendung muss erstens theoretisch fundiert werden und zweitens muss überdies gezeigt werden, dass diese Kategorien als ontologische angesehen werden – was schlicht und einfach falsch ist. In Verbindung mit der oben genannten Theorie verfolgt die Darstellung der Grundkategorien und ihrer abgeleiteten Funktionselemente das Ziel, diese aus der Geschichtswissenschaft, die die Vormoderne zum Gegenstand hat, zu eliminieren. Nun werden die Historiker und Vertreter anverwandter Wissenschaften nicht scharenweise vom Glauben an die Aufklärungsvernunft abfallen, dazu ist ihnen ihre eigene verdinglichte Logik so sehr mit der Muttermilch eingetrichtert worden, dass sie nur schwer davon loszueisen sein werden. Überdies bräche ihr akademisches Theoriegebäude, ob nun bürgerlicher Provenienz oder marxistischer (falls überhaupt vorhanden), zusammen und sie gerieten in Selbstzweifel. Somit wird hier ein Minimalziel verfolgt: falls die Vertreter der besagten Wissenschaftszweige sich die Mühe einer kritischen Auseinandersetzung mit besagter Theorie und der Kritik an der Rückprojektion moderner Kategorien unterziehen,
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können sie zumindest nicht mehr behaupten, sie hätten nichts gewußt.
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„Nichts ist, was es scheint, dasselbe ist nicht dasselbe.“ (Kurz, Robert 2012, S. 106).
2. Die Grundkategorien des modernen warenproduzierenden Systems und ihre abgeleiteten Funktionselemente Einleitung Es ist ziemlich gleichgültig welche historische Abhandlung über die vormodernen Geschichtsepochen man zur Hand nimmt: allenthalben stößt man auf die transhistorische Rückprojektion moderner Kategorien. Oberflächlich betrachtet könnte es daran liegen, dass die Historiker und anverwandte akademische Wissenschaftszweige und deren Repräsentanten sich nicht die Mühe machen, bestimmte Kategorien zu hinterfragen, sie aus dem jeweiligen Kontext abzuleiten und einer Neudefinition bzw. Interpretation zu unterziehen. Wenn man verschiedene historische Epochen betrachtet, stößt man zwangsläufig auf Eigenheiten, die sich eben nicht aus der Sicht der Moderne auflösen lassen. Warum „übersieht“ die bürgerliche und die marxistische Geschichtsschreibung diesen Sachverhalt? Es hat dies einen einzigen Grund, der ursächlich dafür verantwortlich ist: es ist das Aufklärungsdenken. Zwar haben Kant und Co. die Religion zum „Teufel“ gejagt, gleichzeitig waren sie theoretische und ideologische Wegbereiter 134
und Wegbegleiter des Kapitalverhältnisses. Wie das nachfolgende Zitat, das hier noch einmal in Erinnerung gebracht werden soll, belegt: „Das Aufklärungsdenken (...) ist nicht nur zur Voraussetzung alles weiteren theoretischen Denkens überhaupt geworden, sondern in das allgemeine gesellschaftliche Bewusstsein eingegangen und als eine Art bewusstlose Sedimentation auch zur nichtreflexiven Denkweise des bürgerlichen Alltagsverstands geworden. Und auch als solches ist es von Grund auf zu destruieren“ (Kurz 2004a, S. 18).
Wie schon erwähnt, verwenden die Vertreter des akademischen Wissenschaftsbetriebs durchweg moderne Kategorien transhistorisch, ohne darüber zu reflektieren, ob sie damit den vormodernen Epochen überhaupt „gerecht“ werden. Bezogen auf die Sinologen jeglicher Coleur und spezifischer Forschungsschwerpunkte muss festgestellt werden, dass sie über keine kohärente und konsistente theoretische Grundlage verfügen. Vielmehr ist, wie das obige Zitat belegt, das Aufklärungsdenken zur allgemeingültigen bewusstlosen Maxime geworden, das überhaupt nicht mehr kritisch hinterfragt wird – und das bezieht sich sowohl auf die westlichen als auch auf die asiatischen Sinologen. D. h. die westlichen Wertekategorien der Aufklärungsideologie sind auch u. a. durch die chinesischen und taiwanesischen etc. Vertreter dieser Zunft verinnerlicht worden. Dass dieses Aufklärungsdenken entlarvt werden muss als das was es ist: Ideologie, steht außer Frage. Die Schwierigkeiten, die dabei auftreten, benennt Kurz: „Natürlich ist es kaum zu bestreiten: Das Schwierige an einer Auseinandersetzung mit der Aufklärung besteht zunächst einmal darin, dass jegliches Verhältnis zu ihr, auch ein kritisches, selber a priori schon von der Aufklärung, ihrer Denkweise und ihrem Begriffsapparat bestimmt oder gefärbt sein muss. Es handelt sich bei den aufklärerischen 135
Essentials eben nicht um irgendwelche Ideen, die neben anderen Ideen stehen würden, nicht um eine Denkschule neben anderen Denkschulen, nicht um bestimmte Themen neben anderen Themen und ebenso wenig um ein einzelwissenschaftliches oder historisches Paradigma neben anderen, sondern um den Modus aller Ideen, Denkschulen, Themen und Paradigmen überhaupt in der modernen Welt seit dem 18. Jahrhundert“ (Kurz 2004c, S. 95).
Mit der Wertabspaltungs-Theorie ist die Rückprojektion moderner Kategorien auf »vormoderne Gesellschaftsformationen« als Aufklärungsdenken zu entlarven. Nur so kann eine radikale Kritik vormoderner Fetischverhältnisse geleistet werden. Bevor wir die modernen Kategorien näher betrachten, muss etwas über die Intention der hier vertretenen kritischen Werttheorie gesagt werden. „Wertkritik bezieht sich auf die Wertform der Ware als Vergesellschaftungsform der Moderne. Aber es geht dabei keineswegs bloß um eine ökonomische Bestimmung im engen Sinne. Vielmehr ist der Begriff des Werts bzw. der Verwertung ein negativer Totalitätsbegriff des Kapitalverhältnisses oder der ‘Wertvergesellschaftung’. Nation, Staat und Politik sind nicht unmittelbar der empirischen Ökonomie subsumiert, aber sie gehören derselben vom Wert gesetzten fetischistischen Totalität an. Deshalb kann die politische Form auch keine Emanzipationsform sein, ebensowenig die so genannte Nation. Dasselbe gilt für die kapitalistische Ontologie der ‘Arbeit’. Auch der abstrakte Arbeitsbegriff bildet keinen, womöglich noch transhistorisch zu fassenden, Hebel der Emanzipation. Arbeit, Nation und Politik stellen einzig Kategorien des warenproduzierenden Systems dar und verfallen als gesellschaftliche Kategorien zusammen mit diesem” (Kurz 2004. Vorwort, S. 9f.; Hervorh. Kurz).
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Hier spricht Kurz die wichtigsten primären Kategorien an, von denen die „sekundären” abgeleitet bzw. mit diesen primären „gleichursprünglich” im Sog der Entwicklung des Kapitalverhältnisses als gesellschaftliche Kategorien entstanden sind und das moderne warenproduzierende Patriarchat konstituierten. Wir werden sehen, dass neben den oben erwähnten Kategorien weitere auf die so genannte Prähistorie und die Vormoderne rückprojiziert werden. Sie alle entspringen dem Kapitalverhältnis, dessen ideologischer Ausdruck das Aufklärungsdenken ist. Insofern ist die Theorie der Geschichte als Geschichte von Fetischverhältnissen eine Kritik am Aufklärungsdenken, die das vorgeschichtliche und das vormoderne „Vor-China“ als konkreten Gegenstand hat.
Die Kategorie Arbeit Die Kategorie Arbeit, »abstrakte Arbeit« (Marx) ist wohl die tiefgreifendste aller modernen Kategorien. Die Wertabspaltungstheorie vertritt – anders als bürgerliche oder marxistische Theorien – die Auffassung, dass Arbeit nicht dem Wesen des Menschen entspricht. In einem historischen Exkurs kann dies überzeugend dargelegt werden. Blicken wir zurück auf die so genannten Jäger und Sammler der Steinzeit bzw. Wildbeuter wie sie in der neueren Terminologie genannt werden. Die Wildbeuter, die ein bestimmtes Gebiet auf der Suche nach pflanzlicher und tierischer Nahrung durchstreiften, dürften bei der Jagd nach Großwild, z. B. einem Mammut, wohl kaum daran gedacht haben, dass sie Arbeit verrichten. Und auch das Sammeln von Früchten, Beeren etc. dürfte von ihnen kaum als Arbeit empfunden worden sein, ebenso wenig das Errichten einer vor Kälte und Nässe abhaltenden Unterkunft (sofern sie nicht in einer Höhle nächtigten). Hatten sie ein Großwild erlegt, reichte der Fleischvorrat 137
wohl für einen längeren Zeitraum, in dem sie anderen konkreten Tätigkeiten nachgehen konnten. Eckhard Ehlers spricht davon, dass nach einer erfolgreichen Großwildjagd „es sich bei ihnen44 zumindest teilweise um ausgesprochene ‚Überflussgesellschaften‘ gehandelt haben mag: Insbesondere die Großwildjagd bedeutet bei Erfolg eine hohe ‚Energieeffizienz‘. So verweist Sieferle (1997b, S. 34) unter Hinweis auf amerikanische Literaturstudien darauf, dass der energetische Ertrag beim Erlegen von Großwild in einer günstigen Umwelt (z. B. in Steppenlandschaften) mit 40.000 bis 60.000 kj/Arbeitsstunde erheblich höher liegt als z. B. bei der bäuerlichen Landwirtschaft (12.000-20.000 kj/Arbeitsstunde45). Das aber bedeutet, dass in primitiven Gesellschaften nach erfolgreicher Jagd Muße und freie Zeit verfügbar war46. Gefördert wurden solche Freiräume durch die bereits erwähnten geringen Bevölkerungsdichten, die bis in die jüngste Vergangenheit hinein den Verhältnissen des 44
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Mit „ihnen“ sind die „wenigen noch erhaltenen und gegenwärtigen Wildbeuter- und Jagdgesellschaften“ (Ehlers 2008, S. 36) gemeint, d. h. er zieht eine Parallele zu den heutigen und im beginnenden Holozän lebenden Wildbeutern, was „auch problematisch sein mag“ (ebd.). Wenn Ehlers zweimal von Arbeitsstunden spricht, so will er wohl aus heutiger Sicht den energieeffizienten Unterschied zwischen Jagd und „bäuerlicher Landwirtschaft“ (die es damals gar nicht gab.; RGP) belegen. An Arbeit und ökonomischem Kalkül im heutigen Sinne haben die damaligen Wildbeuter wohl kaum gedacht. Aus Erfahrung dürften sie gewußt haben, dass ein bestimmtes Großwild einem Clan so und so lange das Überleben sicherte. Angemerkt werden muss, dass eine Trennung zwischen „erfolgreicher Jagd“ und „Muße und freie Zeit“ wohl unzutreffend sein dürfte, sollte Ehlers dies im modernen Sinne gemeint haben. Der »Stoffwechselprozess mit der Natur« kann als ganzheitlicher Daseins- und Lebensprozess angesehen werden, in dem eine strikte Trennung zwischen einzelnen Tätigkeiten kaum vorhanden, vielmehr fließend gewesen sein dürfte. 138
Spätglazials vergleichbare Werte aufweisen“ (ebd. 2008, S. 36; Hervorh. Ehlers). Es scheint wohl so gewesen zu sein, dass die Wildbeuter-Menschen nicht in Permanenz Wild jagen, Beeren und Früchte etc. sammeln mussten, sondern sich anderen Tätigkeiten widmen konnten, die ihnen ihr Dasein erleichterten. Ehlers spricht von neu erworbenen Fähigkeiten, z. B. die „Konservierung von Fisch, Fleisch und Pflanzen, aber auch die Vervollkommnung gemeinschaftlicher Jagdtechniken oder die Schaffung neuer Siedlungsformen. Zelte aus Wildhäuten, Schutzhütten aus Holz und Buschwerk oder aber Erdhöhlen lassen neue Formen der Sozialorganisation vermuten“ (ebd.). Natürlich lebten die Menschen z. B. des Paläolithikums oder des Neolithikums nicht im Paradies. Je nachdem in welcher Klimazone die Menschen siedelten, waren sie den unterschiedlichsten Umweltbedingungen ausgesetzt, denen sie sich anpassen mussten. Das Jagen von Großwild war sicherlich gefährlich, Raubtiere mögen den Menschen überdies die Beute streitig gemacht haben und das Sammeln von Früchten mag mitunter anstrengend gewesen sein. Diese urwüchsig lebenden Menschen hatten einen permanenten »Stoffwechselprozess mit der Natur«, aber von Arbeit, gar abstrakter Arbeit kann bei ihnen nicht die Rede sein. Dazu Robert Kurz: „Historisch ist die gesellschaftliche Allgemeinheit dieser Kategorie (die der abstrakten Arbeit; RGP) als angebliche Selbstverständlichkeit mehr als zweifelhaft. Viele Jäger-, Hirten- oder Bauernkulturen kannten überhaupt keinen abstrakten, ganz unterschiedliche Tätigkeiten übergreifenden Begriff der Arbeit. Aber nicht etwa deswegen, weil sie kein Abstraktionsvermögen gehabt hätten. Es wäre ihnen jedoch im höchsten Grade unvernünftig und geradezu verrückt erschienen, Tätigkeiten wie Jagen und Pflanzen, Kochen und Kinder erziehen, Kranke pflegen und kultische
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Handlungen ausführen unter einen einzigen abstrakten Oberbegriff von »Tätigkeit überhaupt« zusammenzufassen. Oft gab es in diesen archaischen Gesellschaften (soweit sie rekonstruierbar sind oder noch Reste existieren) für die verschiedenen Bereiche des Lebens, für Männer und Frauen, für verschiedene soziale Gruppen oder Fertigkeiten (Bauern, Künstler, Krieger usw.) auch verschiedene Oberbegriffe der Tätigkeit, die in keiner Weise dem modernen Universalbegriff der Arbeit entsprechen“ (Kurz 1999, S. 11f.; Hervorh. Kurz).
Im Etymologischen Wörterbuch der deutschen Sprache47 (nachfolgend zitiert als Kluge) findet sich folgende Erklärung zur Entstehungsgeschichte des Begriffs bzw. der Kategorie Arbeit: „Arbeit f. Mhd. arebeit, ahd. arabeit(i), as. arbed(i) aus g. *arbaipi- f. ‚Mühsal, Arbeit‘, auch in gt. arbaips, anord. erfi (...)i, ae. earfo(...), afr. arbe(i)d. Das Wort kann auch ein tiAbstraktum (vgl. Kluge 1989, 3.7, XVIII; RGP) zu einem Verb auf g. *-ae-ja- sein (eine sonst nicht bezeugte Bildungsweise), doch findet sich keine semantisch passende Grundlage (die Anknüpfung an Erbe ist unwahrscheinlich). Andererseits läßt sich das slavische Wort für Arbeit vergleichen: akslav. rabota ‚Sklaverei, Knechtschaft u. ä‘, das deutlich zu akslav. rabu m. ‚Knecht, Sklave‘ gehört; hierzu vielleicht auch arm. arbaneak ‚Diener, Gehilfe‘. Die weiteren Zusammenhänge sind noch nicht ausreichend geklärt“ (Kluge 1989, Hervorh. im Original, S. 38.).
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Üblicherweise wird in Nachschlagewerke, wie z. B. dem oben genannten Wörterbuch, der zu erklärende Begriff fett gedruckt wiedergegeben, hingegen werden die Ableitungen kursiv gedruckt. Ich habe auf Grund eines einheitlichen Schriftbildes durchgängig auf die Wiedergabe im Fettdruck verzichtet und sie ebenfalls kursiv gesetzt. 140
Laut den Ausführungen im ersten Teil des Artikels kann Arbeit, Mühsal als transhistorische Kategorie interpretiert werden, im zweiten Teil wird jedoch deutlich, dass dieser Begriff ein Zwangsverhältnis darstellt. Auch Marx ist in Hinsicht auf diese Kategorie nicht immer eindeutig. „Wo ihn das Kleidungsbedürfnis zwang, hat der Mensch jahrtausendelang geschneidert, bevor aus einem Menschen ein Schneider ward. Aber das Dasein von Rock, Leinwand, jedem nicht von Natur vorhandenem Element des stofflichen Reichtums, mußte immer vermittelt sein durch eine spezielle, zweckmäßig produzierte Tätigkeit, die besondere Naturstoffe besondre menschlichen Bedürfnissen assimiliert. Als Bildnerin von Gebrauchswerten, als nützliche Arbeit, ist die Arbeit daher eine von allen Gesellschaftsformen unabhängige Existenzbedingung des Menschen, ewige Naturnotwendigkeit, um den Stoffwechsel zwischen Menschen und Natur, also das menschliche Leben zu vermitteln‘ (MEW 23, S. 57).
Diese Aussage von Marx ist zwiespältig, einerseits spricht er davon, dass der Mensch jahrtausendelang geschneidert hat, bevor aus ihm ein Schneider wurde. D. h., diese notwendige und nützliche Tätigkeit war eine Tätigkeit neben anderen, die die vormodernen Menschen ausübten. Andererseits bringt Marx zwei moderne Kategorien ins Spiel, die er ontologisiert. Nützliche Arbeit als Bildnerin von Gebrauchswerten sei eine „ewige Naturnotwendigkeit“ die „eine von allen Gesellschaftsformen unabhängige Existenzbedingung des Menschen“ (s. o.) darstelle. Anstatt bei der Formulierung „spezielle, zweckmäßig produzierte Tätigkeit“ (s. o.) zu bleiben, ontologisiert er beide Kategorien. Der Gebrauchswert hat aber als andere Seite der Medaille den Tauschwert – zumindest in Bezug auf Gegenstände, die die Warenform annehmen. Daher wäre, um Mißverständnisse zu 141
vermeiden, der Begriff »nützliche Gegenstände« angebrachter. Zum dritten schränkt Marx seine Aussage selbst wieder ein, wenn er sagt, dass die Arbeit es sei, die „den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur“ (s. o.) vermitteln würde. Er verweist hier wie an anderen Stellen seiner Schriften darauf, dass ein Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur stattfindet. Hier haben wir den „doppelten Marx“ vor uns: den exoterischen und den esoterischen: „Insofern also muß man vom »doppelten Marx« sprechen, und zwar genau in bezug auf dieses Verhältnis von positivistischer Immanenz und kategorialer Transzendenz in seiner Theoriebildung. Dabei haben wir es einmal mit einem »exoterischen« (nach außen gewandten, gut rezipierbaren) und einmal mit einem »esoterischen« (kategorisch denkenden schwer zugänglichen) Marx zu tun. Der exoterische Marx ist der positiv auf die immanente Entwicklung des Kapitalismus bezogene, der esoterische Marx dagegen der auf die kategorische Kritik des Kapitalismus bezogene Theoretiker“ (Kurz, 2000, S. 28; Hervorh. Kurz).
Diese Ambivalenz im Denken durchzieht das ganze Marxsche Werk. Sehr radikal tritt der junge Marx in Über F. Lists Buch „Das nationale System der politischen Ökonomie“ auf, wenn er davon spricht, dass „der Arbeiter der Sklave des Kapitals ist, dass er eine ‚Ware‘ ist, ein Tauschwert“ (Marx 1972, S. 14). Dadurch dass Marx indirekt den Bogen vom Kapitalverhältnis zur antiken Sklaverei schlägt, wird deutlich, dass die Arbeit hier wie dort ein Zwangsverhältnis darstellt, mit dem Unterschied, dass sie in der Moderne der Regelfall ist, in der Antike dagegen eine »Nischenform« (Marx), unfrei sind die Sklaven („sprechende Werkzeuge“) ebenso wie die Arbeiter, aber eben unter ganz anderen »Fetischformen«. In
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der Vormoderne war die (Zwangs-)Arbeit eine Nischenform,48 gesellschaftlich nicht allgemeingültig; in der Moderne ist sie hingegen der Normalfall, bildet mit anderen Kategorien, wie z. B. dem Geld, die gesellschaftliche Synthesis, in der Vormoderne wurde die Synthesis durch den »Glauben an übersinnliche Wesenheiten« gebildet. Marx verweist auf den Tauschwert, den der Arbeiter für das Kapital darstellt, der als andere Seite der Medaille Gebrauchswert produziert. Daraus kann geschlussfolgert werden, dass es in der Vormoderne keine Arbeit als gesellschaftliche Allgemeingültigkeit gegeben haben kann, denn das »Geld ohne Wert« (Kurz) war kein Kapital, konnte es als »Opfergegenständlichkeit für die Götterwelt« gar nicht sein, höchstens ein »Gottesguthaben« oder »Heilsguthaben« (Kurz). Da das Kapital in der Vormoderne nicht existierte, stellte der zeitweilige (Zwangs-)Arbeiter weder Tauschwerte noch Gebrauchswerte her, sondern einzig und allein nützliche und kunstvolle Gegenstände. Nicht die Anhäufung von abstraktem Reichtum war die Intention der Herrschenden und der Beherrschten, sondern die Schaffung von »stofflichem Reichtum« (Marx). Abstrakte Arbeit, also die Verausgabung von »Hirn, Muskel, Nerv, Hand usw.« (Marx) war als vergleichbare gesellschaftlichen „Maßeinheit“ unbekannt. Es fehlte an einer betriebswirtschaftlichen Rationalität und an einer Input-OutputKalkulation im modernen Sinne. Andererseits spielt die Zeit, die zur Herstellung nützlicher Gegenstände etc. durchaus eine gewisse Rolle, jedoch unterlag dieses Zeitmaß ebenfalls einem »anders konfigurierten Fetischverhältnis«, nämlich nicht dem, wie Marx es für die Mo 48
Kurz sprach weiter oben davon, dass historisch gesehen, „die gesellschaftliche Allgemeinheit“ der Kategorie Arbeit „als angebliche Selbstverständlichkeit mehr als zweifelhaft“ (s. o.) sei. Wir werden weiter unten sehen, dass auch die Existenz von Zwangsarbeit in der Vormoderne aus berechtigten Gründen angezweifelt werden kann bzw. muß. 143
derne schon in den Grundrissen darlegte.49 In der Vormoderne waren Zeitmaß und nützliche Tätigkeit durchsichtig: „Die Fronarbeit ist ebensogut durch die Zeit gemessen wie die Waren produzierende Arbeit, aber jeder Leibeigne weiß, dass es ein bestimmtes Quantum seiner persönlichen Arbeitskraft ist, die er im Dienst seines Herrn verausgabt. Der dem Pfaffen zu leistende Zehnten ist klarer als der Segen des Pfaffen“ (MEW 23, S. 91).
Nimmt die Produktion die Warenform als allgemeingültiges gesellschaftliches Verhältnis an, haben wir es mit einem verdinglichten Arbeitsverhältnis als Ausbeutungsverhältnis zu tun, denn in „eine[r] Gesellschaft von Warenproduzenten, deren allgemein gesellschaftliches Produktionsverhältnis darin besteht, sich zu ihren Produkten als 49
„Das Kapital ist selbst der prozessierende Widerspruch [dadurch], dass es die Arbeitszeit auf ein Minimum zu reduzieren strebt, während es andrerseits die Arbeitszeit als einziges Maß und Quelle des Reichtums setzt. Es vermindert die Arbeitszeit daher in der Form der notwendigen, um sie zu vermehren in der Form der überflüssigen; setzt daher die überflüssige in wachsendem Maß als Bedingung – question de vie et de mort – für die notwendige. Nach der einen Seite hin ruft es also alle Mächte der Wissenschaft und der Natur wie der gesellschaftlichen Kombination und des gesellschaftlichen Verkehrs ins Leben, um die Schöpfung des Reichtums unabhängig (relativ) zu machen von der auf sie angewandten Arbeitszeit. Nach der andren Seite will es diese so geschaffnen riesigen Gesellschaftskräfte messen an der Arbeitszeit und sie einbannen in die Grenzen, die erheischt sind, um den schon geschaffnen Wert als Wert zu erhalten. Die Produktivkräfte und gesellschaftlichen Beziehungen – beides verschiedne Seiten der Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums – erscheinen dem Kapital nur als Mittel und sind für es nur Mittel, um von seiner bornierten Grundlage aus zu produzieren. In fact aber sind sie die materiellen Bedingungen, um sie in die Luft zu sprengen“ (MEW 42, S. 601f.). 144
Waren, also als Werten, zu verhalten und in dieser sachlichen Form ihre Privatarbeiten aufeinander zu beziehn als gleiche menschliche Arbeit“ (ebd., S. 93) werden diese Verhältnisse undurchsichtig. Zurück zur Vormoderne in der alle Tätigkeit darauf ausgerichtet war – mehr oder minder stark – die »Götterwelt« gnädig zu stimmen, dem »Übersinnlichen durch Opfer« zu huldigen, damit es den Menschen auf der Erde gut ergehe, da das »transzendente göttliche Prinzip die Daseins- und Lebensverhältnisse der Menschen bestimmte«. Es ist evident: „Die vormodernen Gesellschaften hatten zwar einen »Stoffwechselprozeß mit der Natur«, selbstverständlich, aber sie hatten keine ausdifferenzierte Sphäre der »Arbeit«; und selbst dort, wo sie Waren produzierten, war diese Produktion noch mit anderen Momenten verwoben (Religion, Tradition, blutsverwandtschaftlichen und »Gemeinschafts«-Strukturen usw.). Nicht einmal eine klare Trennung von »Arbeit« und »Freizeit« kann unter solchen Verhältnissen existieren. Das Problem betrifft also nicht etwa bloß die Einsichts- oder Verständnisfähigkeit vormoderner Menschen in etwas, das sie zwar an sich »gehabt hätten« (so das Dogma des ontologisierenden Arbeitsbegriffs), aber nicht hätten wissen können, sondern es betrifft ihre realen Verhältnisse: Sie »hatten« die »Arbeit« als besondere gesellschaftliche Sphäre auch an sich nicht“ (Kurz 1995, S. 114; Hervorh. Kurz).
Hier müssen jüngst gewonnene Erkenntnisse nachträglich einfließen. Roswitha Scholz hat in einem Interview50 auf eine Textstelle in Geld
50
Vgl. Scholz, Roswitha 2017. Wert-Abspaltung, Geschlecht und Krise des Kapitals. Interview von Clara Navarro Ruiz mit Roswitha Scholz. Auf Spanisch erschienen in Constelaciones. Revista de Teoria Critica, 145
ohne Wert aufmerksam gemacht (vgl. Scholz 2017, S. 11), die nachfolgend näher erläutert werden muß. Kurz hat oben darauf hingewiesen, dass die vormodernen Menschen „die »Arbeit« als besondere gesellschaftliche Sphäre auch an sich nicht [hatten]“ (s. o.). Dem ist hinzuzufügen, dass es fraglich ist, ob in der Vormoderne überhaupt von Zwangsarbeit gesprochen werden kann. Man könnte es so formulieren: Eine bestimmte Schicht von Menschen bzw. ein bestimmter Personenkreis (modern ausgedrückt: „Kriegsgefangene“, „Verbrecher“) wurde zu einer konkreten Tätigkeit gezwungen. Da diese Tätigkeit aber keinen Wert im modernen Sinne produziert, sondern »stofflichen Reichtum«, kann von abstrakter Arbeit bzw. Zwangsarbeit keine Rede sein. In der einschlägigen Literatur wird grundsätzlich von Zwangsarbeit gesprochen. Da unserer Auffassung nach Arbeit keine ontologische Konstante des Menschen ist, bietet sich vielleicht in Ermangelung eines anderen Begriffs der etwas sperrige, oben schon angedeutete Terminus der »konkreten Zwangstätigkeit« an.51 In der Moderne verhält es sich so: „Die Produktion ist unter der Bedingung dieses apriorischen Ganzen (im Sinne der Verwertung des Werts; RGP) bereits Einheit von »konkreter« und »abstrakter« Arbeit, im Resultat Einheit von stofflichem Produkt und Wertgegenständlichkeit. Gesellschaftlich »gültig« ist dabei an der »konkreten« Arbeit nur ihr Aspekt als »abstrakte« Arbeit, als Verausgabung von menschlicher Arbeits- oder Lebensenergie (Nerv, Muskel, Hirn). »Konkrete« und »abstrakte« Arbeit fallen also nicht in zwei getrennte Sphären ausei-
51
Nr. 8-9 (2017). http://exit-online.org/druck.php?tabelle=aktuelles&pos nr=679, S. 1-15. Stand: 17.12.2017. Damit soll dieser Begriff beileibe keine Verniedlichung dieses Zwangsverhältnisses ausdrücken. Es ist selbstverständlich, dass jedes von Menschen verursachte Zwangsverhältnis absolut verwerflich ist. 146
nander, sondern sind zwei Aspekte derselben Logik, die alle Sphären übergreift, dabei aber die konkrete Seite nur als Erscheinungsform der (real) abstrakten »gelten« lässt“ (Kurz 2012, S. 204; Hervorh. Kurz).
In der Vormoderne existiert keine Wertgegenständlichkeit. Die hergestellten Güter waren entweder nützliche Gegenstände oder aber PrestigeObjekte und dieser Herstellungsprozeß war weitestgehend durchsichtig (s. o.). Mit anderen Worten: während in der Moderne durch die Verausgabung abstrakter Arbeit die Waren vergleichbar werden, entfällt dies in der Vormoderne auch dann, wenn Güter für den Austausch angefertigt werden, da sie nicht unter das Verdikt der Verwertung des Werts fallen, keinen abstrakten Reichtum darstellen, vielmehr bilden sie »stofflichen Reichtum«. D. h. nicht, dass sie für den Besitzer nicht »wertvoll« sind (z. B. »Prestige-Objekte«), nur wird hier der »Wert« anders bemessen, einmal durch den Zeitaufwand, dann auch durch die Funktion, die diese Güter in den »Fetischverhältnissen« einnehmen. Hinzu kommt, dass, anders als in der Moderne, die Zeit deshalb nicht die gleiche Relevanz besaß, weil erstens eine lineare Zeit nicht existierte, sondern eine zyklische und zweitens gab es das Zwangsgesetz der Konkurrenz nicht.52 Es entfällt also der oben erwähnte Zwang 52
Auf die damals herrschenden Zeitvorstellungen kann hier nicht näher eingegangen werden. Vgl. dazu u. a. Czorny, Bernd 2017. Das Verständnis von Zeit in der Vormoderne und in der Moderne. In dem Abschnitt Zeitvorstellungen in archaischen und antiken Gesellschaften geht der Autor kurz auf die Zeitvorstellungen in China ein (vgl. ebd., S. 214f.). Marcel Granet hat in Das chinesische Denken der Zeit und dem Raum ein ganzes Kapitel gewidmet (vgl. Granet 1980, S. 63-85). Direkt zu Beginn sagt er: „Diese Beispiele (das Verhältnis der Embleme, wie Farben, Himmelsrichtungen, Jahreszeit etc.; RGP) zeigen hinreichend, daß die Chinesen, die in Zeit und Raum nicht bestimmte, umgrenzte Begriffe, sondern beziehungsreiche Embleme anordneten, auch in keiner Weise bereit wa147
der Vergleichbarkeit bzw. er ist auf der Ebene der »hierarchisch strukturierten religiös konstituierten Sozietät« angesiedelt. Hier bietet sich ein weiterer längerer historischer Einschub an, um die beiden letzten Aussagen von Kurz näher zu beleuchten. Wäre Arbeit eine ontologische Konstante des Menschen, warum ist es in der langen Durchsetzungsgeschichte des Kapitalverhältnisses zu Disziplinierungsmaßnahmen der brutalsten Art gegenüber der ehemaligen bäuerlichen und zunfthandwerklichen Bevölkerung gekommen? Zusammenhängend damit ist ferner zu fragen, warum es in der Zeit des vorindustriellen Kapitalismus und in der Phase, in der sich die industrielle Revolution durchzusetzen begann, zu Aufständen gegen das Manufaktur- und Maschinensystem kam, die ganz Europa mit einem „permanenten, bald schleichenden und bald offenen Bürgerkrieg“ (Kurz 1999a, S. 125) überzog. Gehen wir diesen Fragen einmal auf den Grund. Über die so genannte ursprüngliche Akkumulation, also den Prozess, der das Kapitalverhältnis schuf, sagt Marx: „Die sog. ursprüngliche Akkumulation ist also nichts als der historische Scheidungsprozeß von Produzent und Produktionsmittel. Er erscheint als ‚ursprünglich‘, weil er die Vorgeschichte des Kapitals und der ihm entsprechenden Produktionsweise bildet“ (MEW 23, S. 742).
ren, eine abstrakte Zeit und einen abstrakten Raum als zwei voneinander völlig unabhängige und neutrale Bereiche zu verstehen“ (Granet, S. 64). Allein eine so geartete Zeit-Raum-Vorstellung widerspricht der Behauptung von Liu Li (2004), dass es im ausgehenden Neolithikum bzw. der drei Dynastien des „Vor-China“ eine politische Ökonomie gegeben haben soll (vgl. ausführlich dazu Liu Lis „methodologischer Individualismus“ im Kapitel Zur Kritik der Rückprojektion moderner Kategorien auf die Vormoderne). 148
Und eine Seite weiter heißt es: „Und die Geschichte dieser ihrer Expropriation ist in die Annalen der Menschheit eingeschrieben mit Zügen von Blut und Feuer“ (ebd., S. 743).
Etliche Seiten weiter erläutert Marx seine obige Aussage: „So wurde das von Grund und Boden gewaltsam expropriierte, verjagte und zum Vagabunden gemachte Landvolk durch grotesk-terroristische Gesetze in eine dem System der Lohnarbeit notwendige Disziplin hineingepeitscht, -gebrandmarkt, -gefoltert. Es ist nicht genug, dass die Arbeitsbedingungen auf den einen Pol als Kapital treten und auf den andren Pol Menschen, welche nichts zu verkaufen haben als ihre Arbeitskraft. Es genügt auch nicht, sie zu zwingen, sich freiwillig zu verkaufen. Im Fortgang der kapitalistischen Produktion entwickelt sich eine Arbeiterklasse, die aus Erziehung, Tradition, Gewohnheit die Anforderungen jener Produktionsweise als selbstverständliche Naturgesetze anerkennt. Die Organisation des ausgebildeten kapitalistischen Produktionsprozesses bricht jeden Widerstand, die beständige Erzeugung einer relativen Übervölkerung hält das Gesetz der Zufuhr von und Nachfrage nach Arbeit und daher den Arbeitslohn in einem den Verwertungsbedürfnissen des Kapitals entsprechenden Gleise, der stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse besiegelt die Herrschaft des Kapitalisten über den Arbeiter. Außerökonomische, unmittelbare Gewalt wird zwar immer noch angewandt, aber nur ausnahmsweise“ (ebd., S. 765).
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Heute hat sich der stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse so tief in das Bewusstsein der Masse der Bevölkerung eingegraben, dass sie glauben, Arbeit wäre eine Naturnotwendigkeit und die Menschen rebellieren auch nicht mehr gegen neue Zumutungen wie Arbeitszeitverdichtung- und -verlängerung, Flexibilisierung der Arbeitszeit etc. Das dem nicht immer so war, bezeugt die Geschichte der vormodernen Gesellschaft. Noch einmal Marx: „Die Klasse der Lohnarbeiter, die in der letzten Hälfte des 14. Jahrhunderts entstand, bildete damals und im folgenden Jahrhundert nur einen sehr geringen Volksbestandteil, der in seiner Stellung stark beschützt war durch die selbständige Bauernwirtschaft auf dem Land und die Zunftorganisation der Stadt. In Land und Stadt standen sich Meister und Arbeiter sozial nahe. Die Unterordnung der Arbeit unter das Kapital war nur formell, d. h. die Produktionsweise selbst besaß noch keinen spezifisch kapitalistischen Charakter“ (ebd., S. 766).
Robert Kurz, sich u. a. auf Immanuel Wallerstein beziehend, führt aus, „dass im, damaligen England ein Arbeitstag »von Sonnenaufgang bis Mittag« ging“ (Kurz 1999a, S. 17; Hervorh. Kurz). Weiter heißt es: „Aus einem Erlaß von König Wenzel II. im Jahr 1300 geht hervor, dass die Schichtdauer im böhmischen Bergbau täglich 6 Stunden betrug, wie eine Dokumentensammlung zu Arbeitszeitfragen zeigt (Otto 1989, 33). Ebenso kommt der Sozialhistoriker Wilhelm Abel zu dem Schluß, dass beim Vergleich des Lebensniveaus von Bauhandwerkern »für das Spätmittelalter [...] zwei Feiertage in der Woche angenommen« werden können, während Arbeiter derselben Kategorie im Jahr 1800 nicht nur einen Tag mehr arbeiten, sondern wegen niedrigerer Löhne sogar in der Regel ihr 150
Einkommen »durch Gelegenheitsarbeiten an Sonn- und Feiertagen aufbessern« mußten (Abel 1981,63). Heute noch arbeiten die Lohnabhängigen trotz aller mühselig errungenen Arbeitszeitverkürzungen (die gegenwärtig schon wieder zurückgenommen werden) selbst in den kapitalistischen Kernländern länger und intensiver als die meisten Leibeigenen des Mittelalters“ (ebd.).
Nun wird von den Apologeten der „glorreichen Marktwirtschaft“ immer wieder behauptet, der Lebensstandard der Masse der Bevölkerung sei durch das Kapitalverhältnis gestiegen. Das mag für den kurzen Sommer des so genannten „Wirtschaftswunders“ der 50iger bis zu Beginn der 70iger Jahre vielleicht gegolten haben,53 dass dem nicht immer so war, belegen Zahlen: „Nach Angaben des Agrarhistorikers Slicher van Bath Wallerstein dazu eine entlarvende Tabelle bezüglich Reallohns eines englischen Zimmermanns pro Tag (in logramm Weizen) vom 13. bis zum 19. Jahrhundert sammengestellt:
hat des Kizu-
53
Wer in dieser Zeit sich den Zumutungen der Arbeit zu entziehen suchte – gerade in der Phase der Proteste gegen den Vietnamkrieg, der Studentenbewegung etc. –, galt als Hippie oder Gammler, kurz: als asozial; allerding waren die Arbeitsverweigerer nur wenige. Aus eigener Anschauung weiß ich, dass nicht wenige Arbeiter neben ihrer normalen Arbeit – die gab es damals tatsächlich noch – einer zweiten Tätigkeit nachgingen, landläufig Schwarzarbeit genannt, um sich die weiße und braune Ware (Waschmaschine, Kühlschrank bzw. Elektrogeräte wie Plattenspieler, Tonbandgeräte etc.) leisten zu können. Als Höhepunkt galt der Besitz eines eigenen Autos. Derjenige, der sich diese Doppelbelastung antat, arbeitete neben den regulären acht Stunden häufig vier oder mehr, um sich diese „Annehmlichkeiten“ leisten zu können. 151
Zeit Reallohn 1301-1350 94,6 1401-1450 155,1 1601-1650 48,3 1701-1750 94,6 1751-1800 79,6 1801-1850 94,6 (Quelle- Wallerstein 1986/1974) Es ist ein Hohn: Im glorreichen 19. Jahrhundert der Industrialisierung erreichte der Lebensstandard gerade einmal wieder das Niveau des hohen Mittelalters, ohne auch nur im Entferntesten an den spätmittelalterlichen Standard des 15. Jahrhunderts heranzukommen. Die gesamte Geschichte des Frühkapitalismus ist durch einen steilen Absturz des Lebensniveaus gekennzeichnet. Dabei haben wir es hier mit einem gerade zur ersten Weltmacht aufgestiegenen Land und mit einem bessergestellten Handwerker zu tun. Um wieviel tiefer muß der soziale Absturz infolge der Modernisierung für einfache Tagelöhner und für periphere Länder gewesen sein. Selbst heute noch liegt das Lebensniveau in vielen Ländern der Dritten Welt weit unter dem ihrer vorkolonialen und vorkapitalistischen Geschichte“ (ebd., S. 18).
Um die Menschen in die Tretmühle des entstehenden Kapitalverhältnisses zu zwingen, schuf der frühmoderne Staat „vielfältige Institutionen der Zwangsarbeit in Gestalt von Zuchthäusern,54 Armenhäusern, Irrenanstalten usw. (...) Die agrarkapitalistische Sklaverei, das Irren-
54
Es ist noch nicht lange her, dass die heute so genannten Gefängnisse Zuchthäuser hießen, in denen den Verurteilten Zucht und Ordnung beigebracht werden sollte – heute heißt das „Resozialisierung“. 152
haus und die Staatsmanufakturen waren die Urformen der modernen industriellen Fabrik und des Systems der Arbeitsplätze“ (ebd., S. 31f.). Wir haben weiter oben gesehen, dass sogar dann, wenn unselbständige Arbeit verrichtet wurde, (z. B. sechs Stunden Schichtdauer im Bergwerk, s. o.), die Arbeitszeit kürzer war als zu Zeiten der ersten industriellen Revolution, und sie ist auch heute noch länger als im Jahre 1300. Als die landlosen Bauern und die ihrer Produktionsmittel beraubten Handwerker in drakonische Arbeitsverhältnisse gezwungen werden sollten, die sie acht, meistens mehr Stunden an einen Arbeitsplatz fesselten, kam es zu Arbeitsverweigerungen z. B. der schlesischen Weber. Die „Deutsche Allgemeine Zeitung“ berichtet im Juni 1844: „»Die Weber litten nicht mehr Not als alle übrigen Tagelöhner, die aus der Hand in den Mund lebten, zu einer Zeit, wo der Arbeit wenig, die Konkurrenz groß, die Lebensmittel aber ungewöhnlich teuer waren. War ihre Bedrängnis größer als die der bezeichneten Klassen, so kam sie zum großen Teil her aus [...] ihrem Widerwillen gegen jede andere Arbeit. Hunderte von Weberburschen und Webermägden würden vom Bauer bereitwillig in Dienst, in Arbeit genommen worden sein, hätten bei Straßenbauten und sonst Beschäftigung gefunden; aber sie hätten streng arbeiten und gehorchen müssen, und sie wollten nur soviel arbeiten als ihnen gefiel und nur solange als ihnen recht war [...]« (zit. nach: Kroneberg/Schloesser 1980, 185)“ (ebd., S. 134, zit. nach Kurz 1999a).
Gerade der letzte Satz sollte denjenigen, die Arbeit als ontologische Konstante des Menschen ansehen, zu denken geben. „Schon der vorindustrielle Kapitalismus der Verleger und Staatsmanufakturen war von zahlreichen Aufständen und 153
sozialen Gegenbewegungen begleitet; die Revolte der schlesischen Weber war weder ein Einzelfall noch außergewöhnlich“ (ebd., S. 126).
Und einige Seiten weiter heißt es: „Die Menschen wollten sich nicht an irgendein »freies Spiel der Kräfte« ausliefern, sie empfanden den Wirtschaftsliberalismus nicht als Freiheit, sondern als ungeheuren Betrug, und sie wehrten sich daher gegen den »Verlust von Status und vor allem Unabhängigkeit für den Arbeiter, seine vollständige Abhängigkeit von den Produktionsmitteln des Unternehmers, [...] die Disziplin und Monotonie der Arbeit, [...] (den) Verlust von Freizeit und Annehmlichkeiten; und die Reduktion des Menschen zu einem >Instrument< [...]« (a.a.O., 218). Diese Maßstäbe sind keineswegs bloß rückwärtsgewandt, sondern sie klagen elementare und universelle Bedingungen menschlicher Freiheit ein, die durch das kapitalistische Markt- und Fabriksystem von Grund auf zerstört wurden“ (ebd., S. 133f.; Hervorh. Kurz?).
Wir haben gesehen, dass das vorindustrielle und das industrielle Kapitalverhältnis die Menschen mit allen erdenklichen Mitteln drangsalieren mußte, und dies über einen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten, um sie zu gefügigen Fabrikarbeitern „zu erziehen“, die dann nicht nur jeden Widerstand gegen die Zumutungen des Kapitalismus aufgaben, sondern um ihre Arbeitsplätze kämpften, wenn diese z. B. durch Rationalisierungsmaßnahmen, durch Auslagerung etc. wegzufallen drohen. Arbeit ist für die Masse der Bevölkerung zu einer angeblichen Naturnotwendigkeit geworden, so selbstverständlich wie die Luft zum Atmen, so dass über Alternativen gar nicht nachgedacht wird. Hier zeigt sich, dass das Aufklärungsdenken bis in den Alltagsverstand der 154
Menschen eingedrungen ist. Es nimmt daher auch nicht wunder, dass in den Publikationen der Sinologen etc. die Kategorie Arbeit in vormodernen Sozietäten als selbstverständlich dargestellt wird. Nur selten wird von Zwangsarbeit gesprochen, meist dann, wenn die Rede von Großprojekten ist, wie dem »Bau der Großen Mauer« oder dem des »Mausoleums« Qin Shihuangdis (reg. 221-210 v. u. Z.). Auch wenn hier Europa als Beispiel herangezogen wurde, aus gutem Grund, denn von England aus hat sich das industrielle Kapitalverhältnis erst über den Kontinent, dann weltweit ausgebreitet, so kann doch davon ausgegangen werden, dass ähnliche Zwangsmaßnahmen im Rest der Welt gang und gäbe waren, was im Einzelnen je Land und Epoche untersucht werden muß.55 Kehren wir nach diesen konkreten Ausführungen zur abstraktallgemeinen Darstellung zurück, die belegen soll, dass Arbeit keine ontologische Konstante des Menschen ist, sondern ein von Menschen bewußtlos gemachtes historisches Verhältnis, das alleine dem Kapitalverhältnis innewohnt. Wenn es keine „ausdifferenzierte Sphäre der »Arbeit«“ (s. o.) gab, dann konnte es auch kein Privateigentum an den – modern formuliert – Produktionsmitteln geben, denn wie Marx feststellt: „Die ‚Arbeit‘ ist die lebendige Grundlage des Privateigentums, das Privateigentum als die schöpferische Quelle seiner selbst. Das Privateigentum ist nichts als die vergegenständlichte Arbeit. Nicht allein das Privateigentum als sachlichen Zustand, das Privateigentum als Tätigkeit, als Arbeit, muss man angreifen, wenn man ihm den Todesstoß versetzen will. Es ist eines der größten Missverständnisse,
55
In den meisten Ländern, nicht nur außerhalb Europas gab es historische Nachzügler, die durch eine nachholende Modernisierungsdiktatur den Vorsprung der westlichen Industrienationen und Japans aufzuholen versuchten, was den wenigsten gelang. 155
von freier, menschlicher, gesellschaftlicher Arbeit, von Arbeit ohne Privateigentum zu sprechen. Die ‚Arbeit‘ ist ihrem Wesen nach die unfreie, unmenschliche, ungesellschaftliche, vom Privateigentum bedingte und das Privateigentum schaffende Tätigkeit“ (Marx 1972, S. 14; Hervorhebung Marx).
Für den durch das Aufklärungsdenken ideologisierten Betrachter mag es befremdlich, ja absurd erscheinen, dass in der Vormoderne die Menschen nicht gearbeitet haben sollen. Aber es kommt noch besser: die Annahme bzw. Behauptung etlicher Sinologen, dass es im vormodernen China so etwas wie Privateigentum z. B. an Grund und Boden gegeben haben soll, ist damit widerlegt, darauf ist im Theorie-Kapitel schon hingewiesen worden. Dies soll hier trotzdem noch einmal bekräftigt werden: „Die »Grundherrlichkeit« ist vielmehr statisch (als solche nicht veräußerbar und nicht durch eine »ökonomische« Dynamik vermittelt) in die religiöse Konstitution und das System der Verpflichtungsverhältnisse eingesunken, also deren Bestandteil“ (Kurz 2012, S. 85; Hervorh. Kurz).
Zurück zur Kategorie Arbeit. „Allerdings hat er (Adam Smith; RGP) recht, dass in den historischen Formen der Arbeit als Sklaven-, Fronde-, Lohnarbeit die Arbeit stets repulsiv, stets als äußere Zwangsarbeit erscheint und ihr gegenüber die Nichtarbeit als ‚Freiheit und Glück‘“ (MEW 42, S. 512; Hervorh. Marx).
Und etliche Seiten weiter geht er noch einmal auf die Arbeit bzw. das Arbeitsvermögen ein: „Denn solange das Arbeitsvermögen nicht selbst sich austauscht, beruht die Grundlage der Produktion noch nicht 156
auf dem Austausch, sondern der Austausch ist bloß ein enger Kreis, der auf Nichtaustausch als seiner Basis beruht, wie in allen der bürgerlichen Produktion vorhergehenden Stufen“ (ebd., 574f.).
Der „Nichtaustausch“ als allgemeines gesellschaftliches Verhältnis und die daraus resultierende Tätigkeit der Mitglieder der betreffenden Sozietät kann aber nicht als Arbeit interpretiert werden, sondern als »Stoffwechselprozess mit der Natur«, mithin ein für die vormodernen Sozietäten natürlicher Vorgang. Wenn Marx dann von einem Austausch spricht, von dem bloß ein enger Kreis der Mitglieder betroffen ist (an anderer Stelle spricht er von »Nischenform«), so ist darunter ein Teil der Bevölkerung zu verstehen, die eben Arbeit im Sinne eines Zwangsverhältnisses zu vollrichten haben. Soweit Marx. Im vormodernen China gab es sehr wohl Austausch von Waren, aber dieser hatte in der »religiös konstituierten Sozietät« einen anderen Charakter als es im modernen warenproduzierenden System der Fall ist (siehe das Theorie-Kapitel). Dies wird die konkrete Untersuchung noch belegen.56 Auch wenn (der exoterische) Marx fast durchgängig den Begriff Arbeit verwendet (s. o.), wird doch deutlich, dass in vormodernen 56
Vorab sei angemerkt, dass der Sohn des Himmels als Herrscher über alles „unter dem Himmel“ (»tianzi«) »Tribut« von „Barbarenstämmen“ erhielt, als Zeichen ihrer Unterordnung. Im Gegenzug erhielten diese »Geschenke«, die oft den „Wert“ des »Tributs« überschritten. Beides – »Tribut und Geschenk« – sind eindeutig »sakral« bestimmt. Dass der »Himmelssohn« in die Lage kam, an Nachbarvölker bzw. dessen Herrschern »Tribut« zu entrichten, hatte ebenfalls »sakralen Charakter«. Man denke an einige nördliche Nomaden- und Reitervölker, die ihre Herrschaft durch z. B. den Buddhismus etc. legitimierten. Insofern sind diese »Geschenk-Güter« anders zu bewerten: sie unterliegen dem »transzendenten göttlichen Prinzip«. 157
Sozietäten die Arbeit selbst noch keinen allgemeingültigen Charakter besass, keine gesellschaftliche Kategorie an sich war. „Wenn in einem nicht-kapitalistischen Gemeinwesen der gesellschaftlich-allgemeine Charakter der Arbeiten bereits aus der konkret-nützlichen Arbeit besteht, dann hat der Begriff der abstrakt-menschlichen Arbeit eben keinen Platz mehr und dann ist der Arbeitsbegriff als solcher, der ja an sich schon eine Abstraktion darstellt, im modernen Sinne nicht anwendbar bzw., soweit es überhaupt einen abstrakten Begriff von ‚Tätigkeit überhaupt‘ gibt, ist dieser gerade nicht auf die gesellschaftliche Allgemeinheit bezogen (Sklaventätigkeit usw.). Dass es sich bei allen Formen von Entäußerungen in der Gesellschaft um menschliche oder eben gesellschaftliche handelt, dies bedarf keiner extra Begrifflichkeit, weil es sowieso selbstverständlich ist“ (Kurz 2004e, S. 82; Hervorh. Kurz).
Wenn die Apologeten der Arbeits-Ontologie durch diese Argumentation, die sich im konkreten Fall – das neolithische „Vor-China“ und das ancient China – verifizieren lässt, noch nicht überzeugt sein sollten, vielleicht hilft ihnen folgende Passage auf die Sprünge: „Marx spricht nämlich von der physiologischen Verausgabung von Nerv, Muskel, Hirn ganz und gar nicht in einem unvermittelt naturalistischen oder transhistorischen Sinne. Denn die physiologische Verausgabung menschlicher Energie ist ja rein ‚natural‘ nicht von der konkreten Form dieser Verausgabung zu trennen. Genau dies geschieht jedoch gesellschaftlich in der Arbeitsabstraktion. Und dieses Abstrahieren von der konkreten Form der Verausgabung ist weder vernünftig noch transhistorisch. Würde man z. B. einem Fische fangenden alten Ägypter sagen, dass er hier
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nicht etwa einfach Fische fange, sondern wesentlich ‚Nerv, Muskel, Hirn‘ im abstrakten Sinne verausgabe, er würde sich mit Recht an den Kopf fassen. Eine solche Aussage macht nur ‚Sinn‘ im Kontext der modernen Realabstraktion“ (ebd., S. 62; Hervorh. Kurz).
Wenn es abstrakte Arbeit im modernen Sinne nicht gegeben hat, was ja einleuchtend dargelegt wurde, dann kann es auch keine Verwertung des Werts gegeben haben: „In der historischen Abgrenzung nach rückwärts, gegenüber subsistenzwirtschaftlichen bzw. feudalen Verhältnissen, ist vom kapitalistischen Standpunkt aus alle Arbeit »unproduktiv«, weil (noch) nicht der Kapitalverwertung dienend; strenggenommen handelt es sich dabei überhaupt nicht um »Arbeit«, da diese Abstraktion reproduktiver Tätigkeit überhaupt erst zusammen mit dem modernen warenproduzierenden System entstand“57 (Kurz 1995a, S. 30.; Hervorh. Kurz).
57
In Fußnote 9 geht Kurz noch einmal ausführlicher darauf ein, dass „es nur verschiedene konkrete, kontextgebundene Tätigkeitsbegriffe“ gab. „In den agrarischen Hochkulturen entstand zwar ein abstrakter Arbeitsbegriff, aber keineswegs (wie Marx anzunehmen scheint) als logischer Oberbegriff gesellschaftlicher Tätigkeit, als (angeblich) »vernünftige Abstraktion« des Denkens, sondern vielmehr als Bezeichnung für die Tätigkeit der Sklaven bzw. Unmündigen (»das, was der sozial Abhängige, nicht Satisfaktionsfähige tut«); es handelt sich also um eine (negative, pejorative) soziale Abstraktion, keineswegs um eine logische Abstraktion wie »Haus«, »Baum«, »Obst« usw. Erst im modernen warenproduzierenden System und an dieses logisch wie realhistorisch gebunden entstand die abstrakte Fetischkategorie der Arbeit als Begriff gesellschaftlicher Allgemeinheit der (warenförmigen) Tätigkeit“ (ebd.; Hervorh. Kurz). 159
Insofern ist die transhistorische Verwendung der Kategorie Kapital ebenfalls ein absoluter Anachronismus, auch in Bezug auf das so genannte »Kaufmannskapital«. Damit soll keineswegs geleugnet werden, dass es Geld gab, aber es war ein »Geld ohne Wert« (vgl. dazu das Kapitel Ein Geld, das noch gar keines ist, in: Kurz 2012, S. 86-111 und das vorliegende Theorie-Kapitel w. o.). „Tatsächlich gab es Geld und Warenbeziehungen, Fernhandel und Märkte schon seit der Antike in manchmal kleinerem, manchmal größerem Umfang, ohne dass daraus aber jemals ein totalitäres System von Markt- und Geldwirtschaft wie in der Moderne entstanden wäre. Es handelte sich dabei immer nur, wie Marx festgestellt hat, um eine ökonomische »Nischenform« am Rande agrarischer Naturalwirtschaften“ (Kurz 2013, S. 89; Hervorh. Kurz).
Wenn Sinologen in Bezug auf das antike China von Geld, Markt, Anund Verkauf von Waren, von Grund und Boden etc. sprechen, muss dieser Sachverhalt in einem völlig anderen Kontext gesehen werden, nämlich im Rahmen der »religiös konstituierten Sozietät« und nicht, wie es herkömmlich geschieht, aus der Sicht der Moderne und des Aufklärungsdenkens, deren Protagonisten Kategorien verwenden, die allein dem Kapitalverhältnis zugehörig sind. „Für die Untersuchung früherer Zustände und der bisherigen Geschichte insgesamt als einer ‚Geschichte von Fetischverhältnissen‘ ist damit nur ein vorsichtiger heuristischer Anspruch zu verbinden, keine neue ideologische ‚Geschichtsphilosophie‘. Es sind also die Fehler der Aufklärungsphilosophie und des historischen Materialismus zu vermeiden, die beide – einmal affirmativ, einmal in kritischer Absicht – die kapitalistischen, modernen Kategorien transhistorisch ontologisierten, wobei der historische Mate160
rialismus der Geschichte eine dynamische Entwicklungslogik als ‚Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen‘ überstülpte, die in Wirklichkeit allein den Kapitalismus, die moderne Wertvergesellschaftung kennzeichnet. Es ist von allen historischen Feldern nur das kapitalistische der Moderne, dessen Matrix die innere Dynamik eines blinden Widerspruchsprozesses im Vollzug des Handlungsmusters hervorbringt und damit eine Objektivität zweiter Natur, die einen objektiven Zusammenbruchsprozess auslösen kann; im Unterschied zu allen vormodernen Konstitutionen etwa der agrargesellschaftlichen historischen Felder, in denen sich die fetischistische Objektivität zu keiner solchen inneren Dynamik konfiguriert hat. Deshalb ist es auch allein die kapitalistische Gesellschaft, die kraft dieser destruktiven Dynamik an die Grenze einer ‚Geschichte von Fetischverhältnissen‘ herangeführt und die Erkenntnis des Fetischcharakters überhaupt möglich gemacht hat; allerdings eben nicht positiv als Krönung einer ‚notwendigen‘ Fortschrittsgeschichte, sondern rein negativ als Problem einer spezifisch diesem historischen Feld zugehörigen inneren Zusammenbruchsdynamik“ (Kurz 2005, S. 207; Hervorh. Kurz).
Wenn es weder eine „Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen“ (s. o.) im Neolithikum des „Vor-China“ und der drei Dynastien gegeben haben kann, sind auch die übrigen damit zusammenhängenden modernen Kategorien, wie z. B. Produktionsweise (mode of production), Kapital etc. als transhistorische Rückprojektion rigoros zu kritisieren. Dazu gehört auch die Kategorie Industrie bzw. industry, auf die ich in der Einleitung schon kurz ein-
161
gegangen bin, was hier noch einmal ausführlicher aufgegriffen werden soll, um die Absurdität zu verdeutlichen. Yan Wenming und Wang Youping haben in ihrem Beitrag Early Humans in China zwei kurzen Abschnitten die Titel The Small Tool Industry in North China (Yan/Wang 2005, S. 15) und The Pebble Tool Industry in South China (ebd., S. 19) gegeben. Dies ist beileibe kein Fehlgriff, denn sie versteigen sich zu folgender Aussage: „As Donggutuo, Cenjiawan, and some other archaeological sites indicate, small flake tools were very common in the temperate zones of north China. Homo erectus pekinensis – so-called Peking Man – was important in this small stone tool industry“ (Yan/Wang 2005, S. 15).
An anderer Stelle wird gar folgendes zum Besten gegeben: „Judging from the typology of the stone implements, the environment and distribution of the localities in Dingcun Village were similar to those of the early Paleolithic stone tool industry of the Lantian area, which indicates that Dingcun Village had close relations with the pebble tool industries of south China“ (ebd., S. 18).
Das „vor-chinesische“ frühe Paläolithikum war also schon industrialisiert, eine stolze Leistung! Kehren wir zurück zum Homo erectus pekinensis, der vor mehr als 200.000 Jahren in Zhoukoudian nahe Beijing lebte. Man stelle sich einmal bildlich vor, wie er vor seiner Höhle saß und Steinwerkzeuge industriell fertigte. Es bedarf keiner ausführlichen theoretischen Erklärung, dass die Kategorie Industrie bzw. industriell eine moderne Kategorie ist, die einzig und allein dem modernen warenproduzierenden Patriarchat zuzuschreiben ist.
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Wie gezeigt mangelt es den etablierten akademischen Sozialwissenschaftlern an allen Ecken und Enden an einer fundierten Theorie, mit deren Hilfe sie solche eklatanten „Fehlgriffe“ sicher hätten vermeiden können. Aber schon ein Blick in ein etymologisches Wörterbuch hätte sie davor bewahren können. Im The Concise Oxford Dictionary of English Etymology (nachfolgend zit. als Hoad) lesen wir unter dem Begriff „industry skill (lt. Hoad obsolet; RGP), dexterity XV; diligence, assiduity; systematic labour, form or kind of this XVI. – (O)F. industries or L. industria; see y3 [Fußnoten übernommen aus Hoad; RGP], ingenious; painstaking, hardworking. XVI. industrial XVI (isolated exx. before XIX); hence industrialism“ (Hoad 2003, S. 234; Hervorh. Hoad; im Original [fett]).
Wohlwollend betrachtet lassen sich die obigen Begriffe, die zur Erklärung von industry herangezogen werden – außer systematic labour, form or kind of this; etc. – durchaus auf den „Homo erectus pekinensis – so-called Peking Man“ (Yan/Wang 2005, S. 15) – anwenden, denn gewiss gehörte Geschicklichkeit, Sorgfalt, Kenntnisse über das Material usw. dazu, um diese Steinwerkzeuge herzustellen, aber mit irgendeiner Form von Industrie hatten diese vor ca. 200.000 Jahren lebenden Peking-Menschen nun wirklich nichts zu tun. Ein Blick in Hoads Introduction verrät uns, dass „In each case, the headword is followed by a figure in Roman numerals indicating the century in which the word is first recorded in English, or if definitions are provided these are followed by figures in Roman numerals indicating the centuries in which the various senses are first evidenced“ (ebd., S. vii).
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Im Englischen taucht das Wort industry – entlehnt aus dem Altfranzösischen bzw. dem Lateinischen – aber erst im 15. Jahrhundert, industries erst im 16. Jahrhundert und industrial sogar erst im 19. Jahrhundert auf. Hätten die Autoren auch nur einen Blick in das English Etymology Dictionary geworfen, wären sie sich der Absurdität ihrer Wortwahl bewusst geworden. Es kann doch niemand ernsthaft behaupten, dass stone tool industry eine adäquate Bezeichnung für steinzeitliche Tätigkeiten war, die der Herstellung nützlicher Gegenstände diente, noch viel weniger trifft dies auf den so genannten Peking-Menschen zu. Die ridiküle Wortwahl wird noch deutlicher, wenn man einen Blick in The Dictionary and Usage Guide to the English language (nachfolgend zit. als Weiner/Waite) wirft. Dort heißt es: „industry (...) noun (plural -ies) branch of trade or manufacture; commercial enterprise; trade or manufacture collectively; concerted activity; diligence“ (Weiner/Waite 1995, S. 351).
Gibt es noch Fragen? Nun ist aus der „Zeit der Streitenden Reiche“ (475 o. 463-221 v. u. Z.) bekannt, dass in Qin (221-207 v. u. Z.) »Waffen«, z. B. die gefürchteten Armbrüste normiert mit Ersatzteilen hergestellt wurden. D. h., diese Armbrüste wurden einerseits in enorm großer Stückzahl gefertigt, andererseits konnten Teile, die durch dauerhafte Belastung unbrauchbar wurden, durch neue ersetzt werden. Hier träfe der Begriff einer proto-industriellen Fertigung eher zu als von einer „large tool industry“ (s. o.) im Paläolithikum zu sprechen. Allerdings verbietet es sich auch hier von einer proto-industriellen Fertigung aus oben genannten Gründen zu sprechen, auch deshalb, weil es eine handwerkliche und keine durch moderne Maschinen bewirkte »Waffenherstellung« war. Die Fertigung von »Waffen« jeglicher Art war ebenfalls eingebunden in die »religiöse Matrix«. Wir erinnern uns an das von 164
vielen Sinologen inflationär herangezogene Zitat aus dem Zuo zhuan, das hier noch einmal mit einem Kommentar von Zhao versehen wiedergegeben werden soll: „»Die großen Aufgaben des Staates (sic; RGP) bestehen im Opfer und im Militärwesen«58 heißt es im Zuozhuan, einem vor 2400 Jahren verfaßten historischen Werk, das zu den dreizehn kanonischen Büchern Chinas gezählt wird. Der Begriff »Opfer« (ji) umfaßt die verschiedenen Formen ritueller Handlungen, die nicht nur die religiösen, sondern auch die politischen (sic; RGP) Strukturen des alten China widerspiegeln und uns einen Einblick in die in früher Zeit üblichen religiösen Bräuche erlauben. »Militärische Aktivitäten« (rong) meinen den Widerstand gegen fremde Angreifer von außen und die Sicherung des Staates (sic; s. o.) im Inneren. Bemerkenswert ist, dass die Bedeutung ritueller Handlungen höher eingestuft wird als die militärischen (sic; RGP), denn es heißt weiter: »Die wichtigste Aufgabe des Staates (s. o.) ist das Opferwesen.« Hieraus wird deutlich, welchen hohen Stellenwert das kultische Opferritual seit frühester Zeit im chinesischen Staat (s. o.) einnahm“ (Zhao 1996, S. 115, Hervorh. Zhao).
Es wurde gezeigt, dass das »Opferverhältnis« die Sozietät begründete, d. h., dass der Krieg in dieses »Fetischverhältnis« integriert war, nicht 58
Militär ist ebenfalls ein moderner Begriff: im 18. Jahrhundert entlehnt aus dem Französischen (vgl. Kluge 1989, S. 479). Allein an der Verwendung des Wortes Militärwesen wird deutlich, dass die Übersetzung des »Zuozhuan« aus dem Chinesischen ins Deutsche oder Englische eine Rückprojektion einer modernen Kategorie ist. Anders formuliert: die Übersetzungen aus diesem Werk sind mit äußerster Vorsicht zu genießen, zumal sie nicht einheitlich sind. Denn einige Autoren übersetzen diesen Begriff auch mit „Krieg“ bzw. „war“ (engl.). 165
von diesem losgelöst betrachtet werden konnte, aber das »Opfer« besass einen höheren Stellenwert als der »Krieg««. Dieser Vorgriff auf die im entsprechenden Kapitel erfolgende Kritik der Rückprojektion moderner Kategorien auf die Vormoderne bzw. in diesem Fall auf das Paläolithikum sollte nur demonstrieren, welche Blüten hervorgebracht werden, wenn es an einer kohärenten und konsistenten Theorie mangelt. An anderer Stelle weist Kurz darauf hin, dass im Gegensatz zum Kapitalverhältnis, in dem die inneren Widersprüche „prozessieren“, in allen früheren Formationen diese inneren Widersprüche „statisch” waren (vgl. Kurz 2013a, S. 78). Es muss also analysiert werden, welche statischen Widersprüche in den jeweiligen vorgeschichtlichen und geschichtlichen Epochen für Veränderungen verantwortlich waren. Hier kann ganz allgemein angemerkt werden, dass sich diese inneren Widersprüche im Rahmen des »transzendenten göttlichen Prinzips« vollzogen haben müssen. Alte »transzendente Glaubensvorstellungen« prallten auf neue, so z. B. beim Sturz der Shang-Dynastie durch die Zhou und selbst in der Zhou-Dynastie kam es zu einer so genannten »rituellen Revolution« (darauf kann hier nicht näher eingegangen werden). Es liegt auf der Hand, dass diese inneren statischen Widersprüche die Entwicklung dieser Sozietäten nicht verhinderten, denn sonst wäre der Übergang aus der so genannten Prähistorie des „vorchinesischen“ Neolithikums in die so genannte Antike, z. B. über die Bronzezeit hin zur Eisenzeit etc. nicht möglich gewesen. Anders formuliert: „Vormoderne und nichteuropäische Gesellschaften (...) entwickeln sich zwar, sie entfalten jedoch keine an sich selbstdestruktive Dynamik in diesem Sinne“ (Kurz 2004d, S. 189, FN 30).
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Es ist gezeigt worden, dass die von den Sinologen und anverwandten Wissenschaftlern gedankenlos, zumindest bedenkenlos rückprojizierten modernen Kategorien wie Arbeit, Ware, Geld, Wirtschaft, Industrie etc. entweder gar nicht existierten oder aber einen gänzlich anderen Charakter gehabt haben. Aber nehmen wir einmal spaßeshalber an, dass diese Kategorien existiert hätten und ihre Wirkkraft wäre zur Entfaltung gekommen, dann hätte sich nicht nur China, sondern auch Teile Europas nicht statisch, sondern dynamisch aus sich heraus permanent entwickelt und die „Geburtsstunde“ des Kapitalverhältnisses hätte schon in der Antike geschlagen und zwar nicht nur in China, im antiken Europa, sondern weltweit. Genug des Konjunktivs: Wie bekannt, war dem nun wirklich nicht so!
Die Kategorien Staat und Politik Kommen wir nun zu anderen modernen Kategorien, die von Sinologen, aber nicht nur diesen, transhistorisch auf die so genannte „Vorgeschichte“ und die Vormoderne rückprojiziert werden. Greifen wir z. B. Chang Kwang-chih heraus, der die modernen Kategorien Politik und Staat auf das vormoderne „China“ anwendet. Vor diesem transhistorischen „Missgriff“ sind andere Autoren ebenfalls nicht gefeit. Bezeichnenderweise betiteln Liu Li und Chen Xingcan ihr 2003 erschienenes Werk State Formation in Early China und stellen in dem Kapitel Early States: Theoretical Models and Applications verschiedene Varianten von Staats-Modellen vor: „Early states in different parts of the world vary in configuration and have been characterized by some anthropologists in several major forms. The most recurrent forms are city-states (Nichols and Charlton 1997; Trigger 1993), segmentary states (Southall 1956,1988), territorial states (Trig167
ger 1993), and village-states (Maisels 1987, 1990). Scholars have attempted to apply these generalizations to interpretations of early Chinese civilization from a cross-cultural comparative perspective (Keightley 2000; Lin 1998; Maisels 1987, 1990; Southall 1993; Trigger 1999; Yates 1997). These models, focusing mainly on the Shang and Western Zhou dynasties, may be briefly summarized as follows“ (Liu/ Chen, S. 15).
Darauf wird später kurz einzugehen sein. Hier soll erst einmal geklärt werden, was es mit diesen modernen Kategorien Staat und Politik tatsächlich auf sich hat. Da sich Sinologen und Vertreter anverwandter Wissenschaftszweige (wie z. B. die Gilde der Geistes- und Sozialwissenschaftler) mit einem konsistenten und radikal-kritischen Theorieansatz offensichtlich schwertun bzw. selber über keinen solchen verfügen, soll hier erst einmal eine etymologische Klärung der Kategorie Staat angeführt werden, bevor mit dem hier vertretenen Theorieansatz die Rückprojektion dieses Begriffes auf die Vormoderne als unhaltbar nachgewiesen wird. In dem schon mehrfach zitierten Etymologischen Wörterbuch der deutschen Sprache wird unter dieser Kategorie folgendes verstanden: „Staat m. im 15. Jh. entlehnt aus 1. status ‚Stand‘ (zu 1. stare ‚stehen‘). Der auffällige Plural nach niederländischen Vorbild. Die Bedeutung ist zunächst ‚Stand, Rang‘ und ‚Zustand (des Vermögens u. ä.)‘, aus dem zweiten entwickelt sich ‚Pracht‘ (Staat mit etwas machen, Sonntagsstaat; dann auch Hofstaat)‘. Die heutige Bedeutung ist übernommen aus frz. état, nndl. Staat“ (Kluge 1989, S. 693; Hervorh. im Original).
Die Kategorie Staat ist ganz offensichtlich modernen Ursprungs. Das wird auch von Reinhold Zippelius bestätigt, der schreibt, dass „[d]ie 168
Wörter stato, estato, status und état (...) erstmals in der Renaissancezeit zur Bezeichnung von Herrschaftsverbänden, Herrschaftsgebieten und Herrschaftsgewalt verwendet [wurden]“ (Zippelius 1986, S. 490). Das niederländisch-deutsche Wort Staat, so Zippelius weiter, fand Eingang sowohl in die wissenschaftliche Literatur, als auch in die Diplomatensprache und ab dem 19. Jahrhundert verdrängte es „die älteren Begriffe res publica, civitas, imperium und regnum“ (ebd.). Es ist schon erstaunlich, dass ein Begriff, der erst in der Renaissance, also ab etwa dem 14. Jahrhundert, entstand, heute noch auf vormoderne Sozietäten Anwendung findet, obwohl nachgewiesenermaßen die damals lebenden Menschen diesen Begriff gar nicht kannten und augenscheinlich ganz andere Vorstellungen von ihren Gemeinwesen hatten. Nun ist es nicht zu leugnen, dass mit der Theorie der Geschichte als Geschichte von Fetischverhältnissen fremde, d. h. moderne Kategorien an die Vormoderne herangetragen werden, worauf im TheorieKapitel schon hingewiesen wurde. Während die schon genannten Autoren dem ausgehenden „vor-chinesischen“ Neolithikum und den drei Dynastien aus ideologischen Gründen eine Staatlichkeit andichten wollen, verfolgt die hier vertretene Theorie einen rein analytischen Zweck. Denn in der Moderne haben sich die FetischKonstitution der Gesellschaft und mit ihr die Kategorien so entfaltet, dass von diesem historischen Standpunkt aus erst eine tiefgreifende Analyse vormoderner Verhältnisse möglich wird, denn: „Das Kapitalverhältnis ist die erste und einzige dynamische und sich selbst dynamisierende, von innen heraus sich transformierende Produktionsweise, die dadurch von vornherein über sich selbst hinausweist und zur Selbstaufhebung drängt. Insofern schließt sie die gesamte ‚Vorgeschichte‘ in sich zusammen und hebt sie gleichzeitig auf“ (Kurz 2004d, S. 189, FN 30; Hervorh. Kurz). 169
Wenn wir nun zur theoretischen Klärung der Kategorie Staat kommen, so ist folgendes festzuhalten: „Die Staatlichkeit selber entstand erst, indem die alte persönliche bzw. familiale ‚Oikonomia‘ zu einer ‚politischen‘ wurde, damit aber eine historisch beispiellose Entfesselung der Geldform ihren Lauf nahm, die sich auch gegenüber den ursprünglichen Zwecksetzungen (militärische Revolution, protestantische Ethik) verselbständigte. Insofern sind Staat und Kapital gleichursprünglich aus einer Wurzel entstanden und bedingen sich wechselseitig als zwei Seiten desselben Verhältnisses“ (Kurz 2011, S. 34; Hervorh. Kurz).
Auch wenn Robert Kurz Europa als Beispiel anführt, so ist dies nicht als Eurozentrismus zu werten. Denn aus dem Gesagten wird offensichtlich, dass in China die Entwicklung zwar anders als im Okzident verlaufen ist, aber eben nicht so, wie einige Sinologen es – aus welchen Gründen auch immer – darzustellen belieben. Erstens löste sich die persönliche bzw. familiale Haushaltsführung in unserem zu betrachtenden Zeitraum nicht auf. Die Bedeutung der Familie als kleinste gesellschaftliche Einheit und die des Familienoberhaupts als maßgebliche Entscheidungsinstanz blieb in der ZhouDynastie und auch danach durchweg erhalten und zog sich in modifizierter Form wie ein roter Faden durch das Kaiserreich. Erinnert sei nur an die uralte Tradition der »Ahnenverehrung«, die durch den ältesten Sohn der Familie »rituell« vollzogen werden mußte.59 In den abgelegenen Dörfern, dort wo der Arm des Herrschers nicht hin 59
Auch heute noch hat die »Ahnenverehrung« und der familiäre Zusammenhalt in China einen hohen Stellenwert, die beide im Zuge der „Modernisierung“ in den Städten allmählich zu erodieren beginnt, aber im ländlichen Raum relativ ungebrochen zu sein scheint (Stichwort: Bauernarbeiter, die das ländliche Gefüge „unterwandern“). 170
reichte, wurde durch die Dorfältesten, später durch die so genannte Gentry, eine lokale Selbstverwaltung organisiert60. Zweitens spielte das »sakrale Geld« im ancient „China“ – wieder bezogen auf den angegebenen Zeitraum – nur eine untergeordnete Rolle, von einer Entfesselung kann ganz und gar nicht gesprochen werden. Und aus oben genannten Gründen konnte das Kapital im „Reich der Mitte“ wie insgesamt in der ganzen Vormoderne gar nicht existieren. Wäre das Kapital tatsächlich existent gewesen, hätte es in dieser Phase der Menschheitsgeschichte schon zu der von Kurz oben angeführten dynamischen, sich transformierenden Produktionsweise kommen müssen – kam es aber nicht! Drittens wurden im vormodernen China zwar eine Reihe von Erfindungen gemacht, die für kriegerische Zwecke genutzt wurden, und das z. T. lange bevor dies in Europa der Fall war. Dazu zählt das Schießpulver (9. Jh.), der Flammenwerfer (10 Jh.), Bomben mit Metallhülsen (1221 u. Z.), Raketen (11. Jh.), mehrstufige Raketen (14. Jh.). Feuerwaffen, Kanonen und Mörser (1120) und die echte Feuerwaffe (1288).61 Zu einer militärischen Revolution wie im Europa der frühen Neuzeit ist es nicht gekommen, auch wenn das chinesische Kaiserreich in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen von Nomadenvölkern angegriffen, z. T. auch erobert wurde (Yuan-Dynastie, 12711368), aber dem „Reich der Mitte“ konnte keiner dieser Völker ernsthaft gefährlich werden. Es hatte auf Grund seiner zivilisatorischen Entwicklung eine Art Vorbildfunktion. Anders in Europa, in dem die besagte militärische Revolution ein erstes Aufrüsten der konkurrierenden Reiche hervorrief. Die Folge war, dass über so genannte Proto 60
61
Darauf kann hier nicht näher eingegangen werden, vgl. dazu u. a. Weber1988. Vgl. Temple 1990, siehe Zeitverschiebungen zwischen chinesischen Erfindungen und deren Übernahme bzw. Anerkennung im Westen (rückseitiger innerer Klappentext). 171
Staaten sich allmählich das Kapitalverhältnis entwickelte und sich Nationalstaaten bilden konnten (vgl. Kurz 1999). Diese Umwälzungen fanden einzig und allein in Europa statt und zeitverzögert in den USA und Japan. Das „Reich der Mitte“ hingegen verstand sich bis in die Neuzeit hinein als Zivilisation und nicht als Nationalstaat.62 Nun könnte es naheliegen, dass es in der Zeit der Streitenden Reiche zu »Staatsbildungskriegen« (vgl. Kurz, der den liberalkonservativen Schweizer Historiker Jacob Burkhard zitiert; s. w. o.) gekommen sei. In der Geschichtsschreibung ist dies ein feststehender Terminus, von einer „Zeit der Streitenden Staaten“ ist meistens nur in englischsprachigen Publikationen die Rede, aus gutem Grund, wie wir noch sehen werden. In dieser „Zeit der Streitenden Reiche“ behielt die »religiöse Konstitution« weiterhin ihre ungebrochene Gültigkeit (auf die Veränderungen dieser »apriorische Matrix« kann hier nicht weiter eingegangen werden). Im Europa des 14./15. Jahrhunderts hingegen war der Feudalismus dem Untergang geweiht, hervorgerufen durch die politische Ökonomie der Feuerwaffen, dem aufkommenden Absolutismus und durch die Reformation. Die Kehrseite dieser Staatsbildungskriege in Europa, die zu den bis heute gültigen Machtgebilden geführt hat, ist das, was wir heute Politik nennen (vgl. Kurz 2011, S. 34). In seinem Aufsatz Der Knall der Moderne63 zeigt er, dass es eine Destruktivkraft war, die die mittelalterliche Gesellschaft allmählich in 62
63
Wie absurd die Behauptung von Chang Kwang-chih und seinen Kollegen ist, die davon ausgehen, dass es im ausgehenden Neolithikum des „VorChina“ zu Staatsbildungsprozessen gekommen sein soll, lässt sich durch Sun Yat-sen beweisen (siehe das Schlusskapitel). Kurz, Robert 2013. Der Knall der Moderne. Innovation durch Feuerwaffen, Expansion durch Krieg: Ein Blick in die Urgeschichte der abstrakten Arbeit, Berlin, S. 88-108. Hier muss angemerkt werden, dass Kurz die Entstehung der abstrakten Arbeit durch die militärische Revolution erklären will, im Gegensatz zum überkommenen Marxismus. Dass die Feuer172
den Untergang trieb, nämlich „die Innovation der Feuerwaffe seit dem 14. Jahrhundert“ (Kurz 2012, S. 113), die er mit Bezug auf Geoffrey Parker als militärische Revolution bezeichnet (zu diesem Komplex vgl. ebd., S. 113ff. und Kurz 1999, S. 15ff.). Diese brachte nicht nur für die Kriegführung einschneidende Veränderungen hervor, sondern hatte grundlegende gesamtgesellschaftliche Auswirkungen. Waren die meisten Agrargesellschaften dadurch gekennzeichnet, dass die bürgerliche und die militärische64 Organisationsform der Gesellschaft weitgehend identisch waren und eine Zentralgewalt nur begrenzt und vorübergehend Einfluss auf das Leben der Menschen nehmen konnte, da die betreffenden Sozietäten dezentral strukturiert waren, so ändert sich dies durch die politische Ökonomie der Feuerwaffen (vgl. Kurz 2013, S. 89f.). Denn vordem brachten die Bürger ihre Waffen, die in den einzelnen Dorfschmieden hergestellt werden konnten (Helme, Schilder, Schwerter), zu den Kriegszügen mit. Musketen und Kanonen bedurften eines größeren technischen Aufwandes und konnten daher nur in den zu dieser Zeit gegründeten Manufakturen hergestellt werden. Gleichzeitig damit entstand ein spezielles Kriegshandwerk, denn es bildete sich der Berufsstand des Söldners heraus (vgl. ebd., S. 95). „Das Mordwerkzeug war plötzlich überdimensional geworden und überstieg den Rahmen der menschlichen Verhältnisse. In der Kanone finden wir also gewissermaßen den
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waffen-Ökonomie auch wesentlich zur Herausbildung der absolutistischen frühmodernen Staaten beigetragen hat, soll hier dargelegt werden, womit auch gezeigt wird, dass der moderne Staat im Laufe der Entwicklung des Kapitalverhältnisses allmählich zu einem nachgeordneten Funktionselement der Wertvergesellschaftung mutierte. Zum ersten Begriff – bürgerlich – vgl. Kluge 1989, S. 115, der zweite – militärisch – ist erst im 18. Jahrhundert aus dem Französischen entlehnt worden, vgl. ebd., S. 479. 173
Archetypus der Moderne, nämlich das Werkzeug, das seinen Schöpfer zu beherrschen beginnt. Es entstand eine neuartige Rüstungs- und Todesindustrie, die das Urbild oder die Matrix der späteren Industrialisierung bildete und deren Leichengeruch die modernen Gesellschaften einschließlich der Weltmarktdemokratien unserer Tage nie mehr losgeworden sind. Der militärische Apparat begann, sich von der bürgerlichen Organisation der Gesellschaft loszulösen“ (ebd.).
Da die Herstellung dieser Feuerwaffen enorme Geldsummen verschlang, wurde die Naturalsteuer, die die Bevölkerung bis dato zu entrichten hatte, in eine Geldsteuer verwandelt, so dass ein immer größerer Teil der Menschen gezwungen wurde durch Arbeit Geld zu verdienen. Betroffen davon waren in erster Linie Bauern, die ihr Land verloren hatten. Spielte das Geld vor der militärischen Revolution eine unbedeutende Rolle, so gab die Feuerwaffen-Ökonomie diesem Medium einen entscheidenden Schub (vgl. ebd., S. 97 sowie Kurz 2012, S. 112ff.). „Die permanente Rüstungsökonomie der Kanonen und strukturell verselbständigten Großarmeen wurde also gesellschaftlich in eine entsprechende Ausdehnung der Geldvermittlung übersetzt. Sie speiste sich zwar aus verschiedenen Quellen, die aber allesamt den Konsequenzen der »militärischen Revolution« entsprangen“ (Kurz 2013, S. 97; Hervorh. Kurz).
Standen zu Beginn dieser militärischen Revolution unabhängige Söldnertruppen im Dienst der Fürsten, so gingen die einzelnen Landesherren dazu über, ihre eigenen Heere aufzubauen. Diese von Kurz als Militärdespoten bezeichneten Herrscher gründeten auf Grund des Geldhungers der Feuerwaffen-Ökonomie eigene Manufakturen und Plantagen, die für einen anonymen Markt produzierten (vgl. ebd., 174
S. 103). Es entstand die Vorform des modernen Staates, das absolutistische Fürstentum. Diese frühmodernen Staatsgebilde prallten in einer Expansionsbewegung aufeinander, die ausgelöst wurde eben durch die sich selbst tragende Dynamik der militärischen Revolution (vgl. ebd., 104). „Alle modernen Staatsapparate stammen aus dieser Geschichte der frühen Modernisierung. An die Stelle lokaler Selbstverwaltung trat die zentralistische und hierarchische Verwaltung durch eine Bürokratie, deren Kern von den Apparaten der Besteuerung und der inneren Unterdrückung gebildet wurde“.65
Es bleibt festzuhalten, dass die Kategorie Staat ein Produkt der Neuzeit, der Moderne ist und keinesfalls auf vormoderne »religiös konstituierte Sozietäten« Anwendung finden darf. Für unsere konkrete Untersuchung von Bedeutung ist, dass es in diesem Zeitraum keineswegs zu einer Zentralisierung der Verwaltung durch eine Bürokratie kam, dem stand das »patrimoniale System der Zhou« mit seiner »personifizierten Herrschaftsstruktur« entgegen im Gegensatz zur frühen Neuzeit in Europa, in dem das Lehenswesen sich auflöste und durch die militärische Revolution kam es zu einer Monetarisierung der Besteuerung, die auf Permanenz ausgerichtet war. Das war in China nicht der Fall. Wenn es zu einer Monetarisierung der „Besteuerung“ (modern ausgedrückt) kam, so war sie erstens zeitweilig, da der Arm des Herrschers nur begrenzten Zugriff auf alle
65
Kurz, Robert 1997. Kanonen und Kapitalismus. Die militärische Revolution als Ursprung der Moderne. http://exit-online.org/druck.php?tabelle= schwerpunkte&posnr=80, S. 1.3. Stand: 14.09.2015. 175
Teile seines Reiches hatte66 und zweitens war das »Geld« immer noch ein »Geld ohne Wert« im Gegensatz zum Europa der frühen Neuzeit, wo das »Geld« seines »sakralen Charakters« verlustig ging und es zur frühen Form des Kapitalismus kam. Nicht umsonst (im wahrsten Sinne des Wortes) entwickelte sich einzig und allein in Europa das moderne warenproduzierende System mit den nur für den Okzident in diesem Zeitraum entstandenen Kategorien, die ansonsten nirgendwo auf der Welt existierten – und schon gar nicht im „Vor-China“ des ausgehenden Neolithikums bzw. in den drei Dynastien. Ferner erfasste das Kapitalverhältnis China erst mit der Ankunft der imperialistischen Mächte Europas. Dies nur nebenbei, denn unsere Untersuchung bezieht sich ja auf das Neolithikum und die ersten drei Dynastien. „Das System der Abgaben, Abpressungen usw. in den alten Agrargesellschaften als Ausdruck sozialer Herrschaft in bestimmten Fetisch-Konstitutionen beruhte gerade nicht auf einer derart absoluten, totalitären ‚Rechnungsführung‘. Elemente davon finden sich allein bei periodischen Zwangsarbeiten, etwa dem Bau der Pyramiden, der chinesischen Mauer etc. Dies war jedoch jeweils eine begrenzte und keineswegs die gesamte gesellschaftliche Reproduktion erfassende Angelegenheit. Allein der Gedanke, die einem ‚Gemeinwesen insgesamt zur Verfügung stehende Arbeit‘ zu erfassen, enthält bereits bewusstlos die kapitalistische Maßlosigkeit und den Totalitarismus der Wertform, wie es historisch zum ersten Mal vom Protestantismus vorgedacht wurde“ (Kurz 2004e, S. 81; Hervorheb. Kurz).
66
Es müsste eingehend untersucht werden, wann es in China zu einer Monetarisierung der Abgaben gekommen ist. Für den hier zu untersuchenden Zeitraum dürfte dies nicht der Fall gewesen sein. 176
Und eine Seite vorher: „Soweit solche rechenhafte Regulation in agrarischen Gesellschaften vorkommt, bezieht sie sich eben immer nur auf die soziale Abstraktion einer partikularen Tätigkeit, nämlich diejenige der sozial Abhängigen, und gerade nicht auf eine ‚gesellschaftliche Allgemeinheit‘; und in bestimmten Gesellschaften nicht oder nicht in erster Linie auf die Reproduktion des Lebens, sondern auf transzendente Zwecke (etwa beim altägyptischen Pyramidenbau)“ (ebd., S. 80; Hervorh. Kurz).
Oder im „Vor-China“ der Bronzezeit: Der Abbau der verschiedenen Rohstoffe (Kupfer, Zinn etc.), ihr Transport und die anschließende Herstellung »sakraler Gegenstände« bedurfte einer gewissen „Berechnung“ (oder modern ausgedrückt: einer gewissen Kalkulation). Da es sich dabei, wie Kurz anmerkt, um „transzendente Zwecke“ (s. o.) handelte, bezog sich diese „rechenhafte Regulation“ auf die herrschende Oberschicht und eben nicht auf alle Gesellschaftsmitglieder, z. B. dürften die vom Herrschersitz weit entfernt lebenden Bauern etc. davon nicht tangiert worden sein. Im Übrigen ist auch der Bau der »Großen Mauer« als »transzendenter Zweck« zu bestimmen, denn mit ihr schottete sich die chinesische Zivilisation von den aus der Perspektive des »Himmelssohns« und der herrschenden Oberschicht unzivilisierten, „barbarischen“ Völkern des Nordens ab. Die »Große Mauer« allein als materielles Verteidigungsbollwerk gegen die so genannten Barbaren zu sehen, greift schlicht und einfach zu kurz. Legt man das »transzendente göttliche Prinzip« als das alles beherrschende zu Grunde, dann ist ihre Errichtung der »religiösen Konstitution« geschuldet, im wahrsten Sinne des Wortes: die »Schuld« muss durch ein »Opfer« beglichen werden und das gab es bei diesem Bauwerk zu Hunderttausenden, wenn nicht gar
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Millionen in der Form der zwangsverpflichteten Bauern, Sträflinge etc. Der »Sohn des Himmels« wußte, dass er auch durch den Einfall „barbarischer“ Völker sein »himmlisches Mandat« verlieren konnte.67 Insofern ist die »Große Mauer« – so befremdlich dies auch klingen mag – wie das »Mausoleum« des Qin Shihuangdi (reg. 221-210 v. u. Z.) ein »sakrales Monument«. Werfen wir noch einen kurzen Blick in die von Sinologen verfassten Geschichtswerke über das vormoderne China, so müssen wir feststellen, dass sich sowohl in älteren Abhandlungen der Begriff Patrimonialbürokratie (vgl. u. a. Aschmoneit 1980) bzw. Bürokratie eingebürgert hat, wie auch in einer neueren Geschichte Chinas (vgl. Vogelsang 2012, S. 97). Natürlich sind diese beiden Begriffe, die ja im modernen Sinne auf den Staat bezogen sind, für den hier zu untersuchenden Zeitraum nicht haltbar. Es ist an anderer Stelle schon darauf hingewiesen worden, dass der Vergesellschaftungsgrad in der Vormoderne äußerst gering war.68 Kommen wir noch einmal auf die von Kurz so genannte „rechenhafte Regulation“ (s. o.) zurück. Nur bei größeren Projekten, wie z. B. dem Bau von Verteidigungsanlagen, dürfte eine Art Rechnungsführung angewandt worden sein (s. w. o.). Entscheidend ist jedoch, dass, 67
68
Erinnert sei daran, dass so genannte Fremdvölker des Öfteren das „Reich der Mitte“ eroberten und eine han-chinesische Dynastie stürzten, u. a. die Mongolen (Yüan), und die Mandschus (Qing). Das mag sich in der Qin-Dynastie unter Qin Shihuangdi auch schon vor der Reichseinigung geändert haben, denn zu dieser Zeit wurden mehrere Familien, Bauern, Soldaten (im Kampf) zu einer größeren Einheit zusammengefasst, wobei die Mitglieder gegenseitig für sich verantwortlich waren. Sie hatten bei noch so geringem Fehlverhalten mit drakonischen Strafen zu rechnen; durch herausragende Leistungen, z. B. im Krieg, wurden sie entsprechend belohnt. Aber dies war eine kurze Epoche des vor-kaiserlichen Reichs, die bis zum Ende der Qin andauerte. 178
nennen wir es eine Art von Haushaltsführung, die sich auf den Königshof etc. beschränkte und keineswegs die gesamte Sozietät lückenlos erfasste. Wir haben es hier mit einer »herrschaftlich-personalen Haushaltsführung« zu tun, wobei der König dem »transzendenten göttlichen Prinzip« unterworfen war. Wir haben bei der Kategorie Staat gesehen, dass dieser aus dem absolutistischen Fürstentümern als Endstadium einer »personenbezogenen Herrschaft« entstanden ist, in der sich ein bürokratischer Apparat mit einer immer noch persönlich dominierten Regierung entwickelte, die dann zum verdinglichten Herrschaftsinstrument mutierte. Wenn dann in den einschlägigen Werken über das vormoderne China von Regierung, government etc. die Rede ist, ist diese moderne Kategorie ebenfalls eine Rückprojektion auf die Vormoderne. Sich auf den Schweizer Historiker Jacob Burckhard berufend, der „vom »Staatsbildungskrieg« der frühen Neuzeit gesprochen“ (s. o.) hat, kommt Kurz zu dem Schluss, dass die heute noch gültigen Machtgebilde in dieser Epoche entstanden sind.69 Die vormals dezentrale Struktur der Gesellschaft, d. h. das Fehlen einer organisierten Verwaltung von oben nach unten, wurde nun ab etwa dem 16. Jahrhundert gewaltsam zerstört und führte zu einer Zentralisierung der gesamten Gesellschaft, zu absolutistischen Staatsapparaten. Waren deren Herrscher zu Beginn noch in der Lage, die von ihnen gegründeten staatlichen Manufakturen zu beherrschen und zu kontrollieren, so entglitten ihnen allmählich die Geister, die sie riefen mit der Konsequenz: „Aus dem Geldhunger der frühmodernen Militärdespotien wurde das Prinzip der »Verwertung des Werts«, das seit dem frühen 19. Jahrhundert als Kapitalismus firmierte“ (Kurz 2013, S. 106; Hervorh. Kurz).
69
Ähnlich, wenn auch nicht ganz so eindeutig, äußert sich dazu auch Weber (vgl. Weber 2005, S. 1034). 179
Anders formuliert: der Primat der Politik, der in den absolutistischen Staaten noch gegeben war, musste dem Zwangsgesetz der Konkurrenz, also dem Primat der Ökonomie, weichen. Noch einmal zur Verdeutlichung: Die Kategorie Staat ist einzig und allein ein Produkt der Neuzeit und darf keinesfalls auf »vormoderne religiös konstituierte Sozietäten« Anwendung finden. Es hat in der Vormoderne, deren Sozietäten allesamt »religiös« konstituiert waren, aus den Gründen, die oben hinreichend dargelegt wurden, keine Institution (modern formuliert) gegeben, die als Staat bezeichnet werden könnte bzw. kann. Wer dies dennoch behauptet, ohne die Ausführungen widerlegen zu können, ist der verdinglichten Logik der Moderne erlegen.
Die Kategorie Gesetz Betrachten wir nun eine weitere Kategorie, das Gesetz, das ebenfalls unreflektiert auf vormoderne Sozietäten rückprojiziert wird. Im Etymologischen Wörterbuch der deutschen Sprache heißt es kurz und bündig: „Gesetz n. Mhd. gesetzede n./f., gesetze, ahd. gisezzida f., also eigentlich ‚das Gesetzte‘ mit einem ähnlichen Bedeutungsübergang wie bei Satzung“ (Kluge 1989, S. 263; Hervorh. im Original).
Diese allgemein gehaltene Definition der Kategorie Gesetz hilft uns nicht viel weiter, da die gesellschaftliche und historische Dimension fehlt. Laut Jörg Berkemann „ist das Gesetz ein Ergebnis moderner Staatlichkeit“ (Berkemann 1986, S. 179), da es das gesellschaftliche Zusammenleben im Staat absichtsvoll und funktional (vgl. ebd.) setzen könne. Ein weiteres Merkmal der Gesetzgebung in einem Rechts180
staat ist die Gewaltenteilung (vgl. ebd.). Ferner dürfen die Gesetze nicht willkürlich erlassen werden, sondern sind „im modernen Verfassungsstaat eingebettet“ (...) und unterliegen „in aller Regel [einer] grundwertorientierte[n] Rechtsordnung“ (Oberreuter 1996, S. 206). Nun steht außer Frage, dass es auch in vormodernen Gemeinwesen »Gesetze« gegeben hat, die darauf ausgerichtet waren, das Zusammenleben der Menschen in dieser oder jener Form zu regeln (vgl. dazu Weber 2005 u. a. S. 204ff., S. 564ff, S. 718ff., S. 770 und S. 806ff).70 Nun gilt auch hier die Aussage, die diesem Kapitel vorangestellt wurde: „Nichts ist, was es scheint, dasselbe ist nicht dasselbe.“ (Kurz, Robert 2012, S. 106).
Das heißt nichts anderes, dass wenn in den einschlägigen Abhandlungen von »Gesetz«, »Recht« etc. gesprochen wird, dann dürfen diese Begriffe nicht im modernen Sinne verstanden werden, denn auch sie unterliegen dem »transzendenten göttlichen Prinzip«. Indirekt bezeugt dies Kuhn, der darauf verweist, dass es schon „in der Qin- und Han-Dynastie (...) Rechtskodices mit allgemeiner Verbindlichkeit“ (Kuhn 1991, S. 533) gab, aber, sich auf die Tang-Dynastie beziehend, lässt er die Differenz zur Moderne aufscheinen: „Das Rechtswesen in der Tang-Zeit unterscheidet sich von unserem westlichen Recht schon im hierarchischen Aufbau und im Begriff der Rechtssprechung. Die Festlegung der Straftat stand in China im Vordergrund. Die einzelnen Pa-
70
Auch Weber projiziert moderne Kategorien auf vormoderne Sozietäten (vgl. die oben angegebenen Stellen, siehe dazu auch Weber 1988, S. 276536), allerdings geht er z. T. etwas differenzierter vor, wenn er z. B. davon spricht, dass „der voll entwickelte Ständestaat sowohl wie die voll entwickelte Bürokratie – [die ja der Gesetze bedarf; RGP] – allein auf europäischem Boden ursprünglich gewachsen“ (Weber 2005, S. 811) sei. 181
ragraphen bereiteten den chinesischen Juristen (sic; RGP) keine Schwierigkeiten, wohl aber die Durchsetzung der Verbindlichkeit des im Gesetzbuch niedergelegten Rechts. Es haperte an der eigentlichen praktischen Rechtssprechung, da sie in den Händen der lokalen Behörden lag. Sie unterstanden aber wiederum den vorgesetzten Institutionen (sic; RGP) und hatten entsprechend deren Verfügungen zu handeln, ebenso wie diese an die Weisungen des Kaisers, der letzten und höchsten Instanz, gebunden waren. Durch diese Handhabung war die Autonomie des Rechts stark eingeschränkt“ (ebd., S. 534).
Was in diesem Zitat deutlich wird, ist, dass der »Rechtskodex« in letzter Instanz personenbezogen war. Der »Sohn des Himmels« konnte dieses »Recht« faktisch außer Kraft setzen qua seiner »Autorität als Mittler zwischen der übersinnlichen Götterwelt und der Welt der Menschen«. Daraus darf aber nicht geschlossen werden, dass hier eine Willkürherrschaft waltete, denn wie an anderer Stelle schon erwähnt: „Herrschaft steht grundsätzlich nie für sich als pures Willensverhältnis, sondern ist immer Ausdruck eines übergreifenden, dem Willen vorgelagerten Fetisch-Verhältnisses; deshalb müssen sich die Herrschenden auch immer nach Maßgabe des verselbständigten Regelsystems legitimieren, ansonsten verfällt ihre Funktion“ (Kurz 2012, S. 83).
D. h., dass der Herrscher sich den zu seiner Zeit herrschenden »Fetischverhältnissen« zu beugen hatte, also einer »höheren Macht«, die die seinige überstieg. Das Übergehen oder die „Missachtung“ eines »Gesetzes« geschah nicht aus einem persönlichen Interessenkalkül, sondern war den »Verpflichtungsverhältnissen« geschuldet, die die »Fetischverhältnisse« hervor gebracht haben, denen auch der »Sohn des Himmels« unterworfen war, abstrakt-allgemein formuliert: 182
„Auch der personale Fetisch übersteigt seine Träger wie der moderne verdinglichte Fetisch, nur in anderer Weise; und stets werden »Charaktermasken« sozialer Verhältnisse hervorgebracht, wenn auch in völlig verschiedener Form“ (ebd., S. 82; Hervorh. Kurz).
In Bezug auf die Kategorie »Gesetz« kann also festgehalten werden, dass die Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie den »Fetischverhältnissen« unterlag bzw. unterliegt. Die Differenz besteht darin, dass das vormoderne »Gesetz« bzw. »Recht« dem »personalen Fetisch« zugehörig war, also dem »transzendenten göttlichen Prinzip«; das moderne Gesetz ist ein verdinglichter Fetisch und strikt unpersönlich. Wie oft ist von Rechtsanwälten, Beamten etc., die mehr oder weniger häufig mit Gesetzen bzw. Gesetzesvorschriften zu tun haben, zu hören: „Es tut mir leid, da kann ich nichts machen. Dass Gesetz ist nun einmal so. Auch wenn ich wollte... !“ Die Rechtssprechung dient ausnahmslos den Interessen des Kapital-Fetischs, während sie in der Vormoderne als »Gottes-Fetisch« anzusehen ist. Daran ändert sich auch mit dem Aufkommen des »Legismus« bzw. »Legalismus« nichts, die von Han Feizi (ca. 280-233 v. u. Z.), ihrem herausragenden Vertreter, zur Vollendung gebracht wurde. In Die Kunst der Staatsführung71 vereint er die von seinen Vorgängern Shen Buhai (385-337 v. u. Z.), Shen Dao (395-315 v. u. Z.) und Shang Yang (390-338 v. u. Z.) entwickelte Idee der Staatskunst (shu), der Lehre der Macht (shi) und die Politik des Gesetzes (fa) (vgl. Han Feizi 1994, S. 12) zu einem einheitlichen Gedankengebäude. Yang Zheng, besser unter dem Namen Qin Shihuangdi bekannt, setzte die 71
Nachfolgend übernehme ich alle Begriffe kommentarlos, da eine Kritik an den modernen Kategorien, wie die oben genannten, schon erfolgte. Die Lebensdaten der angeführten Personen sind aus Han Feizi 1994, S. 604 bzw. 612f. entnommen. 183
se Lehre äußerst konsequent in seinem Land, nach der Einigung des Reiches, in ganz China um.72 Hier interessiert uns erst einmal die Kategorie »Gesetz«. Han Feizi fordert, dass das Gesetz folgende Merkmale aufweisen muss: Universalität, Stetigkeit, Eindeutigkeit, Klarheit und Glaubwürdigkeit (vgl. ebd., S. 14). Ferner muss es schriftlich fixiert sein und dem Volk bekannt gemacht werden. Da Han Feizi davon ausging, dass der Mensch ein egoistisches Wesen und von Grund auf schlecht ist, sind die »legistischen Gesetze« „fixierte Normierungen von Strafen und Belohnungen“ (ebd., S. 15). Seiner Auffassung nach musste das Reich und der Herrscher vor dem Volk geschützt werden. Allerdings sah er die größte Bedrohung für die Macht des Herrschers in den „Beamten“. Trotz der modern klingenden Forderungen, die Han Feizi an das »Gesetz« stellt, auch der »Legismus« ist ein Bestandteil der »Fetischverhältnisse der Vormoderne«. Er drückt die Veränderungen aus, die sich in der „Zeit der Streitenden Reiche“ in der chinesischen Gesellschaft vollzogen. Auch wenn die Qin-Herrschaft hier kein zentrales Thema ist, sollen einige Maßnahmen, die wohl unter der Federführung des Kanzlers 72
Zwar wurde der »Legalismus« wie er in der Qin-Zeit mit seinen drastischen Methoden praktiziert wurde (z. B. Kollektivstrafen für kleinste Vergehen), in der nachfolgenden Han-Dynastie (206 v. u. Z.-220 u. Z.) mit seinen Strafmaßnahmen abgemildert, aber bis zum Ende der Kaiserzeit – im Grunde genommen bis in die Gegenwart, man denke nur an die häufig verhängten Todesstrafen in der VR China – war er im Hintergrund als Machtinstrument unentbehrlich, auch wenn der Konfuzianismus offiziell zur Doktrin erhoben worden war, wobei auch dieser zeitweilig an Einfluß verlor (s. z. B. in der Tang-Dynastie, 618-907). Es lässt sich vielleicht sagen, dass der Konfuzianismus im Rahmen des »transzendenten göttlichen Prinzips« zu einer »Vergeistigung der Herrschaft« führte, während der »Legalismus« das »praktische Herrschaftsinstrument« blieb. 184
Li Si (ca. 280-208 v. u. Z.) durchgeführt wurden, erwähnt werden, u. a. deshalb, weil sie die Qin-Zeit – wenn auch in modifizierter Form – überdauert haben. Zum anderen deshalb, weil sie, wie oben bereits erwähnt, äußerst modern anmuten. Um dem „Lehenswesen“ der Zhou ein Ende zu bereiten, wurde das Reich in 36 Provinzen (jun) und jede einzelne in eine unbekannte Zahl von Bezirken (xian) eingeteilt. An der Spitze der Provinz stand ein »Provinzgouverneur« (junshou), dem ein »Oberkommandierender des Militärs« (wei) zur Seite gestellt wurde. Der »Kaiserliche Archivar für die Überwachung« (jianyushi) vertrat wohl den »Kaiser« in der Provinz. Die Bezüge der »kaiserlichen Statthalter« waren festgelegt (vgl. Kuhn 1991, S. 284). Da sich in der Periode der „Zeit der Streitenden Reiche“ in den einzelnen Königtümern – der Titel des Königs (wang) war eigentlich dem Zhou-Herrscherhaus vorbehalten gewesen, wurde aber im Laufe der Zeit von den Fürsten usurpiert – unterschiedliche Formen der aus der Zhou-Dynastie stammenden „großen Siegelschrift“ (dazhuan) entwickelt hatte, wurde unter Li Si die Vereinheitlichung der Schrift zur „kleinen Siegelschrift“ (xiaozhuan) angeordnet, die in der Han-Dynastie durch die „Kanzleischrift“ (lishu) ersetzt wurde (vgl. ebd., S. 285f.). Die Folge war, dass sich die Bevölkerung trotz unterschiedlicher Dialekte über die einheitlichen Schriftzeichen verständigen konnte. Auch Maße, Gewichte und Münzen wurden ebenso vereinheitlicht wie das Achsmaß und der Abstand der Wagenräder (vgl. ebd., S. 289). „Dadurch gab es für ganz China ein einheitliches Breitenmaß ausgefahrener Spuren, was vor allem auf den Lößwegen in Nordchina wichtig war. Solche Vorgaben erleichterten und beschleunigten den Transport von Waren auf Überlandwagen“ (ebd.).
Denn auch der Aufbau eines Straßennetzes mit einer Länge von ca. 6.800 km wurde forciert betrieben, wobei die Straßenbreite 11,5 m 185
betrug. Zum Vergleich: Im Römischen Reich um 150 u. Z. belief sich das Straßennetz auf 6.000 km mit einer Spurbreite von ca. 8,5 m. (vgl. ebd.). Hier muss noch hinzugefügt werden, dass auch die Verschiebung von Streitkräften, die Nachrichtenübermittlung durch Kurierreiter erheblich erleichtert wurde und schneller von statten ging. In ihrer Gänze waren diese Maßnahmen für den Aufbau eines Imperiums notwendig, wobei die Han-Dynastie diese – heute würde man sagen – Infrastrukturmaßnahmen i. w. S. d. W. – übernahm, allerdings mußte das Reich nach dem Sturz der Qin erst konsolidiert werden, was unter den Kaisern Wendi (reg. 179-157 v. u. Z.) und Jingdi (reg. 156-141 v. u. Z.) weitestgehend gelang (vgl. dazu ebd., S. 309ff.), worauf hier nicht näher eingegangen werden kann. Hier ist etwas anderes entscheidend. Zum Aufbau eines Imperiums und zum Machterhalt des Herrschers waren die oben beschriebenen Maßnahmen nicht nur sinnvoll, sondern eine unbedingte Notwendigkeit. Diese Rahmenbedingungen sind vergleichbar mit denen eines modernen Staatsapparates, allerdings müssen diese vormodernen Normierungen in einem anderen Gesamtzusammenhang betrachtet werden, nämlich dem der vormodernen »Fetischverhältnisse«, die die »religiös konstituierten Sozietäten« hervorgebracht haben. Mit diesen Ausführungen kann die Darstellung der Grundkategorien abgeschlossen werden, denn die wichtigsten Kategorien des modernen warenproduzierenden Systems und die sekundären, von diesen abgeleiteten bzw. gleichursprünglich entstandenen, die allesamt von verschiedenen Sinologen transhistorisch rückprojiziert bzw. ontologisiert werden, sind hinreichend dargelegt worden. Dass bei der konkreten Untersuchung hier und da weitere moderne transhistorisch verwendete Kategorien noch einer Klärung bedürfen, steht außer Frage, ergibt sich als solches aus dem Kontext.
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Das nachfolgende Kapitel Die Richtigstellung der Namen soll in Erinnerung rufen, dass es schon im China der ausgehenden „Frühlingsund Herbst-Periode“ (Chunqiu, 770-464 bzw. 770-476 v. u. Z.; nach Kuhn 1991, S. 194) den Ruf nach einer exakten Darstellung der bestehenden bzw. vergangenen Verhältnisse gab. Bürgerliche Wissenschaftler unserer Zeit haben sich ebenfalls Gedanken über kategoriale Bestimmungen gemacht. Auch wenn es ihnen an einem kohärenten und konsistenten theoretischen Ansatz mangelt und ihre Kritik an der Rückprojektion moderner Kategorien auf die Vormoderne keine radikal negative ist, sondern im Rahmen der bestehenden Verhältnisse gefangen bleibt, sollen sie zu Wort kommen. Denn offensichtlich scheint es so zu sein, dass die Rückprojektion moderner Kategorien auf die Vormoderne in einigen wenigen Wissenschaftskreisen auf Kritik stößt, wie zu zeigen sein wird.
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„Lass dir von keinem Fachmann imponieren, der dir erzählt: Lieber Freund, das mache ich schon seit zwanzig Jahren so! – Man kann eine Sache auch zwanzig Jahre falsch machen“ (Tucholsky, Kurt 1980. Schnipsel, S 49)
3. „Die Richtigstellung der Namen“ In den einschlägigen Wissenschaftskreisen besteht kein Zweifel darüber, dass in den vormodernen Sozietäten der »Glaube an übersinnliche Kräfte und Mächte«, an der »Verehrung eines wie auch immer vorgestellten Gottes« eine wesentliche Bedeutung für die Menschen der damaligen Zeit hatte. Allerdings sehen z. B. die Sinologen in diesem »Glauben an übersinnliche Wesenheiten« nur einen Faktor neben anderen Faktoren, die das Leben der Menschen bestimmte. Wie wir sahen, versteigen sich einige Autoren zu der Behauptung, dass auch Politik und Staatlichkeit (vgl. Liu/Chen 2003) eine wesentliche, wenn nicht gar die wesentlichste Rolle gespielt hätten (vgl. Chang 1983). Wie im Theorie-Kapitel schon dargelegt, muss von »religiös konstituierten Sozietäten« – in sehr früher Zeit, z. B. dem Neolithikum, von Clans, Stämmen – gesprochen werden. Durch archäologische Funde und schriftliche Zeugnisse kann belegt werden, dass das »transzendente göttliche Prinzip« objektive Daseins- und Lebensverhältnisse konstituierte. Hier scheiden sich die Geister. Alle Autoren gehen zwar auf die »hierarchisch strukturierte religiöse Weltordnung« des neolithischen „Vor-China“ und der nachfolgenden drei Dynastien (halb-legendäre Xia, Shang und Zhou) beschreibend ein, je nach Forschungsschwerpunkt mehr oder weniger nuanciert. Aber
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sowohl die „westlichen“ Sinologen als auch ihre chinesischen Kollegen unterschätzen die Bedeutung, die diese »religiöse Konstitution« für die damals lebenden Menschen hatte. Das lässt sich allein schon daran ablesen, dass, wie wir schon exemplarisch gesehen haben, permanent moderne Kategorien transhistorisch verwendet werden, die den spezifischen »Fetisch-Charakter dieser religiös konstituierten Sozietät« grundsätzlich verkennt. Bei den westlichen Sinologen und Vertretern anverwandter Wissenschaftszweige ist ein Eurozentrismus im Spiel, dessen Grundhaltung durch die so genannte Aufklärungsphilosophie getragen und bestimmt wird. Bei den chinesischen Sinologen dürfte so etwas wie ein berechtigter Stolz auf die einzige Hochkultur, die seit ca. 4.000 Jahren dauerhaft Bestand hat, eine Rolle spielen, gepaart mit der Überzeugung, dass das „Reich der Mitte“ im 21. Jahrhundert wieder maßgeblich an Bedeutung in der Weltpolitik und der Weltwirtschaft gewonnen hat und der globale Einfluss weiter zunehmen wird. Darüber hinaus sind auch die nicht-westlichen Sinologen diesem Aufklärungsdenken verhaftet wie wir schon gesehen haben und sich weiter unten an konkreten Beispielen zeigen lassen wird. Beeinflusst durch dieses Denken lässt sich in den mir vorliegenden Werken kein Hinweis auf die unterschiedliche Konstitution von vormodernen und modernen Gesellschaften finden, zumindest nicht in dem Sinne des hier vertretenen theoretischen Ansatzes. Zwar wird die »religiöse Konstitution« des neolithischen und des vormodernen „Vor-China“ z. T. ausführlich beschrieben, aber es ist in keiner Abhandlung erkennbar, dass durch das »transzendente göttliche Prinzip« in diesen Sozietäten eine Eigenlogik waltet, die sich durch die in der Moderne herrschende grundlegend unterscheidet. Ganz im Gegenteil wird von namhaften Sinologen der Versuch unternommen, dem vormodernen „Vor-China“ der drei Dynastien den Status von Staaten anzudichten und die Herrscher werden zu Akteuren, die Politik betreiben, wobei die Wurzeln dieser vermeintlichen Staatlichkeit 190
schon im ausgehenden Neolithikum zu finden seien. Das muss entschieden kritisiert werden. „Die Andersheit der vorkapitalistischen, religiös konstituierten Fetischverhältnisse wird aber eben erst begreifbar, wenn klar geworden ist, dass es sich bei den religiösen Formen keineswegs um eine subjektive »Glaubensfrage« gehandelt hat, wozu die Religion erst in der Moderne gemacht und damit für die reale Reproduktion irrelevant wurde, sondern um eine objektivierte hierarchische Weltordnung, die auch den »Stoffwechselprozess mit der Natur« und die sozialen Beziehungen der Menschen bestimmte; analog zur »Ökonomie« des modernen Kapitalfetischs, aber in ganz anderen Formen der Verselbständigung. Das gilt dann auch für das Naturverständnis ebenso wie für den Werkzeuggebrauch oder das, was in diesem Kontext in moderner Terminologie als »Produktivkraftentwicklung« bezeichnet wird. Eine solche Begriffsbildung wäre in den vorkapitalistischen Sozietäten ebenfalls unmöglich gewesen, weil für sie so etwas wie »Produktion« oder Input-OutputRelationen keinerlei eigenständige Bedeutung haben konnten. Das lässt eine moderne Betrachtung regelmäßig außer Acht, indem sie die eigenen Kategorien auf ganz andere Verhältnisse projiziert“ (Kurz 2012, S. 72, Hervorh. Kurz).
Bevor im entsprechenden Kapitel ausführlich auf die Kritik der transhistorischen Rückprojektion moderner Kategorien eingegangen wird, soll hier vorab ein Beispiel zur Illustration angeführt werden, das erahnen lässt, welchen Stellenwert die »Religion« für die damals lebenden Menschen besass. Gleichzeitig wird aus dem nachfolgenden Zitat deutlich, wie Wissenschaftler der heutigen Zeit moderne Kategorien auf die Vormoderne rückprojizieren, nicht nur, ohne einen stichhaltigen Beweis für ihre Behauptung zu erbringen, vielmehr wi191
dersprechen sie sich in einem fort. Im The Cambridge History of Ancient China: From the Origin of Civilization to 221 B. C. veröffentlichten Aufsatz China on the Eve of the Historical Period von Chang Kwang-chih heißt es: „This political power manifest itself in two aspects of ancient China: ritual and war. ‚Ritual and war‘, says the Zuo zhuan (...) (Zuo’s tradition), ‚are the affairs of the state‘“(Chang 2008, S. 64).
Bezeichnenderweise führt der Abschnitt aus dem dieses Zitat stammt den Titel The „Ten Thousand States“ on the Eve of the Historical Period (vgl. ebd., S. 59-65). Auch wenn die Anführungszeichen den Ausdruck Ten Thousand States in seiner Bedeutung abmildern sollen, dürften sich die damals lebenden Menschen kaum Gedanken darüber gemacht haben, dass sie womöglich in einem Staat und an der Schwelle zur Historical Period lebten. Dieses vermeintliche Bewusstsein ist den neolithischen Menschen schlicht und einfach untergeschoben worden. Entscheidend aber ist noch etwas anderes, das grundlegende Bedeutung hat. Eine Seite vorher beschreibt Chang, dass es eine „small group of people within each community“ gab, „who were privileged to perform shamanistic rituals and were allowed to visit Heaven“ (ebd., S. 63). Die »Ritualobjekte«, die in den Gräbern gefunden wurden, weisen laut den Gelehrten darauf hin, dass es sich um »schamanistische Paraphernalien« handelt, die es dieser kleinen Gruppe privilegierter Menschen ermöglichte „to ascend from Earth (symbolized by the square shape of the cong) to Heaven (symbolized by the round shape of the bi and cong) with the assistance of the shaman’s animals (which are engraved on all kinds of ritual jades; Fig. 1.9)“ (ebd., Hervorh. Chang).
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Hier wird eindeutig das »transzendente göttliche Prinzip« angesprochen. Mit Hilfe von »Fetisch-Objekten« nahmen die »Schamanen« Kontakt mit der »übersinnlichen Welt« auf, kommunizierten mit dieser und übermittelten deren »Botschaft« an die Menschen ihrer Sozietät. Changs Schlussfolgerung ist aber eine andere: „It is clear that in ancient China political power, derived from the concentration of shamanic paraphernalia, was the principal means to accumulate and divide material wealth. Among these paraphernalia, the most important were made of jade, a rock that is both rare and requires political power to quarry“ (ebd., S. 63f.).
Um es mit Wolfgang Bauer zu sagen, der einen „zeitgenössischen deutschen Philosophen (Odo Marquard)“ (Bauer 2001, S. 35f.) zitiert: „‚Hermeneutik ist die Kunst, aus einem Text herauszubringen, was nicht drinsteht.‘ In China ist diese Kunst schon außerordentlich früh zu höchster Vollendung herangereift, was dort eben mit dem unbezweifelbaren Prestige aller alten Texte zusammenhing. Sie verboten es gleichsam, etwas zugestandenermaßen wirklich Neues zu Papier zu bringen“ (ebd., S. 36; Marquard zit. nach Bauer).
Das von Bauer angeführte Zitat trifft auf Chang vollends zu, denn er leitet aus den damals existierenden »religiösen Konstitutionen«, den »schamanistischen Kultgegenständen«, den auf die »Transzendenz« hinweisenden »Fetisch-Objekten« etwas ab, was es gar nicht gegeben haben kann: politische Macht – und er bleibt dafür jeden stichhaltigen Beweis schuldig. Changs „Argumentation“ ist ein Circulus vitiosus, denn sie läuft darauf hinaus, dass er die politische Macht aus der politischen Macht herleitet, eine, wenn man so will, creatio ex nihilo (dazu ausführlicher im nächsten Kapitel). 193
Bauers letzter Satz muß im entgegengesetzten Sinne gelesen werden: Chang versucht auf Biegen und Brechen etwas Neues zu kreieren. Wohin es führt, wenn eine kohärente und konsistente theoretische Grundlage fehlt, zeigt sich bei Chang. In Art, Myth, and Ritual von 1983 behauptet er noch, dass das „ancient Chinese civilisation (...) having a strong political orientation“ (Chang 1983, S. 1). Nun soll die „political action“ durch „the conduct of religious rites“ (Chang 2005, S. 291) kontrolliert und entschieden worden sein. Chang kommt hier zu der Ansicht, dass die »religiösen Rituale bzw. Riten« die Führung bei den politischen Aktionen übernommen haben sollen (s. w. u. ausführlicher). Hier stellt sich eine Frage: gibt es in den klassischen Texten eine Stelle, in der von Politik, politischer Aktion, politischer Macht die Rede ist? Kommen wir noch einmal auf das von ihm angeführte Zitat aus dem Zuo zhuan zurück. Dort ist die Rede von „affairs of the state“. Steht im Zuo zhuan tatsächlich „state“ – als Schriftzeichen guo (kuo) – dann ist die Übersetzung falsch bzw. manipuliert. Besagtes Schriftzeichen kann auch als »Königreich«, »Land«, »Dynastie« und »Hauptstadt« übersetzt werden (vgl. Matthews’ 1975, S. 550 [3738]). Wie wäre es mit einem Blick ins Shuowen jiezi (Etymologische Erklärung der Schriftzeichen)? Chang geht in Anlehnung an das Zuo zhuan davon aus, dass diese political power sich selbst im »Ritual und im Krieg« manifestiert. Wie schon gezeigt, liegt der vorkapitalistischen Lebensweise eine »hierarchische religiöse Weltordnung als apriorische Matrix« zugrunde (vgl. Kurz 2012, S. 73). Die »Religion als Fetisch« ist das Bestimmende. Das »transzendente göttliche Prinzip, das die »objektive(n) Daseinsform(en)« (vgl. ebd., S. 70) konstituiert, ist die grundlegende Kategorie, die alle anderen bestimmt genau wie in der Moderne die Warenform: „Nun ist allerdings die Warenform als »objektive Gedankenform« kaum weniger ein (wenn auch ebenfalls bewusst194
los hergestelltes) »Produkt des menschlichen Kopfes«. Umgekehrt stellen die »mit eignem Leben begabten« Produkte der Religion, die als »selbständige Gestalten« erscheinen, ebenso wie die Warenform zugleich »objektive Daseinsformen« dar, was sich im Folgenden zeigen wird. Beides ist Einheit von ideeller und materieller Form bzw. soziale Beziehungsform, aber in jeweils grundsätzlich verschiedener Weise“ (ebd.; Hervorh. Kurz).
Chang behauptet zwar in dem obigen Zitat, dass die political power sich im »Ritual« manifestiert, liefert dafür aber nicht den geringsten Beweis. Umgekehrt jedoch kann gezeigt werden, dass durch die »rituellen Opfer die Götterwelt gnädig gestimmt werden soll«, damit den Menschen kein Leid widerfährt. Die »Repräsentanten des göttlichen Prinzips vollbringen als personifizierte Stellvertreter der Götter das Opfer« und nicht als Sachwalter einer verdinglichten Kategorie, wie sie der Staat darstellt, dessen Kehrseite die Politik ist. „Zutreffend hat der liberalkonservative Schweizer Historiker Jacob Burkhard vom »Staatsbildungskrieg« der frühen Neuzeit gesprochen, denn damals entstanden die Grundstrukturen der heute noch gültigen Machtgebilde und dessen, was wir – als Kehrseite der monetarisierten Reproduktion – Politik nennen“ (Kurz, 2013, S. 104; Hervorh. Kurz).
Es ist an anderer Stelle schon einmal dargelegt worden und soll hier noch einmal ins Gedächtnis zurückgerufen werden, was in dem obigen Zitat anklingt: Nur in Europa der Frühmoderne kam es u. a. bedingt durch die militärische Revolution zu Staatsbildungskriegen und nur in Europa entwickelte sich daraus in einem langwierigen Prozess das moderne warenproduzierende System, dem das transzendentale Prinzip (Wertverwertung) zugrunde liegt. Nirgendwo sonst auf der 195
Welt hat es in dieser frühen Neuzeit eine derartige Entwicklung gegeben. Alle anderen gesellschaftlichen Formationen auf der Erde, die heute mehr oder minder moderne Staaten sind, in denen mehr oder minder das warenproduzierende Patriarchat herrscht, sind im so genannten Prozess der Modernisierung historische Nachzügler bzw. nachholende Modernisierungsdiktaturen (Kurz). Und als solche haben sich moderne Staatlichkeit und Politik etc. erst im späten 19. Jahrhundert bzw. zu Anfang des 20. Jahrhunderts entwickeln können – in einigen Staaten noch wesentlich später und auf einigen Kontinenten, wie z. B. Afrika und Asien ist dieser Prozess der Modernisierung gänzlich gescheitert (auf die Gründe dafür kann hier nicht eingegangen werden, vgl. u. a. Kurz 1991. Der Kollaps der Modernisierung sowie ders. 1999a. Schwarzbuch Kapitalismus). Noch einmal: Die »Fetischverhältnisse« – die zu einer »apriorische Matrix« erstarren – liegen den neolithischen und den vormodernen Sozietäten bis in das Spätmittelalter hinein zugrunde und determinieren alle gesellschaftlichen Verhältnisse. Damit keine Mißverständnisse aufkommen, sei zur Sicherheit noch einmal gesagt: diese »Fetischverhältnisse« unterliegen einer Entwicklung, einem Wandel, wie noch zu zeigen sein wird. Die Rückprojektion der modernen Kategorie political power ist absolut falsch. Was sich einzig und allein manifestiert, ist die »religiöse Macht«, die die »rituellen Opferhandlungen« an die »übersinnlichen Mächte und die Ahnen bestimmt«. Auch der »Krieg« ist eine Manifestation des »transzendenten göttlichen Prinzips« und als solcher ist er mit den Kriegen der Neuzeit bzw. der Moderne nicht ohne weiteres vergleichbar.73
73
Der Kampf des Zhou-Stammes gegen die Shang darf nicht auf reine Machteroberung und Territorialgewinn reduziert werden. In dieser Auseinandersetzung prallen unterschiedliche »transzendente Glaubensvorstellungen« aufeinander. Herrschafts- und Territorialgewinn verschwin196
Da Staat – und als Kehrseite der Medaille – Politik moderne Kategorien sind, können die Menschen im ausgehenden Neolithikum und im Übergang zur Bronzezeit überhaupt keine Vorstellung von diesen Kategorien gehabt haben, da sie gar nicht existierten. Und von etwas, das nicht existiert, kann man sich nichts vorstellen. Das, was einzig und allein existierte, war der »Glaube an eine übersinnliche Götterund Ahnenwelt«, die die Daseins- und Lebensverhältnisse der Menschen objektiv bestimmte. Chang und seine Kollegen verkennen die konstituierenden Elemente dieser Gesellschaftsformation ganz wesentlich und können deshalb nicht zum Kern dieser Sozietäten vordringen. Nun ist der Cambridge History of Ancient China-Band erstmalig 1999 erschienen und Chang geht an anderer Stelle davon aus, dass die »Religion als Fetischverhältnis« eine entscheidende Rolle spielt. Im Abschnitt The Mayan-China Continuum zieht er die Maya als Beispiel einer Entwicklung heran, die in China sehr ähnlich verlaufen sein soll: „In the burgeoning class society of the classic period, political action was still controlled and decided through the conduct of religious rites“ (Chang 2005, S. 291).
Es ist falsch zu behaupten, dass die political action von den »religiösen Riten« kontrolliert und bestimmt worden sind, denn die damals lebenden Menschen waren in einer »objektiven religiösen Totalität« befangen. Ein politisches Bewusstsein, das politische Aktionen hätte bewirken können, existierte damals gar nicht. Der ganze Ansatz, die ganze Vorgehensweise von Chang ist von Grund auf falsch. Aber nicht nur Chang, einer der bedeutendsten Sinologen in Bezug auf das antike China, sondern auch andere namhafte Sinologen gehen den so nicht als Beweggrund, sondern werden zu Binnenkategorien eines übergeordneten Prinzips, wie Robert Kurz es formuliert hätte. 197
einerseits von einem »religiös« konstituierten „Reich der Mitte“ aus, andererseits verwenden auch sie moderne Kategorien transhistorisch und bleiben damit der »fetischistischen Konstitution« phänomenologisch verhaftet, ohne sie dechiffrieren zu können. Bei der nachfolgenden Kritik der Rückprojektion moderner Kategorien auf die Vormoderne ergeben sich mehrere miteinander zusammenhängende Probleme. Zuerst einmal ist zu fragen, ob diejenigen Sinologen, die die verschiedenen klassischen Schriften in die englische bzw. deutsche Sprache übersetzt haben, sich des Shuowen jiezi bedienten, um die orignäre Bedeutung, die die Schriftzeichen einmal hatten, zu eruieren oder ob sie lediglich ein klassisches Wörterbuch zu Rate zogen, wie z. B. Matthews’? Ist letzteres der Fall, dann sind diese Schriften durch die Übersetzung schon gefiltert, d. h., die ursprüngliche Bedeutung und der Sinn des Schriftzeichens ist weitestgehend verloren gegangen, wenn nicht gar verfälscht. Z. B. liegt dies nahe bei der Übersetzung des Han Feizi. Die Gesamtausgabe ist aus dem Altchinesischen von Wilmar Mögling übersetzt worden und trägt den Titel Die Kunst der Staatsführung. Die Schriften des Meisters Han Fei, Originaltitel Han Feizi jishi. Wer auch immer dem Buch den deutschen Titel gab, die Begriffe Staatskunst bzw. Staat sind moderne Kategorien. Allein auf den ersten einhundert Seiten taucht die Kategorie Staat mehrere dutzendmale auf. Auf die Schwierigkeiten, die sich aus der Übersetzung altchinesischer Schriftzeichen in eine andere Sprache ergeben, weist Ulrich Unger hin: „Das Altchinesische, von dem die Sprache der Klassischen Periode die letzte darstellt, hat nun aber einmal eine irritierende Bewandtnis: es ist eine verstummte Sprache, verstummt in dem Sinne, dass die chinesischen Schriftzeichen die Wörter nicht unmittelbar als Lautgebilde wiedergeben. Die Schrift verstellt den Blick auf das Wort. Die altchinesi198
schen Lautungen der Wörter sind nur von Fall zu Fall, und mit großen Unsicherheiten, zu rekonstruieren“ (Unger 2000, S. VII).
Wenn man z. B. weiß, dass Staat eine moderne Kategorie ist, verbietet es sich von selbst kuo (Kueh or Kuoh, modern guo) mit Staat zu übersetzen, zumal im Matthews’ andere Übersetzungen angeboten werden (vgl. Matthews’, S. 550; [3738]). Unger weist noch auf etwas anderes hin, was einigen Sinologen offenbar nicht in den Sinn kommt: „Für das Verständnis philosophisch relevanter Wörter ist die Kenntnis der Etymologie meist nicht unwichtig, manchmal sogar wesentlich“ (Unger 2000, S. VIII).
Wenn man aber wie Chang aus offensichtlich ideologischen Gründen dem „ancient China“ partout einen Staat und als dessen Kehrseite Politik unterschieben will, dann ist Hopfen und Malz verloren, weder die Kenntnis der Etymologie noch eine kohärente und konsistente Theorie helfen dann weiter. Auch Yao und Zhao haben das Problem, das sich einer Übersetzung aus dem Chinesischen in eine andere Sprache, z. B. dem Englischen stellt, erkannt: „Chinese language has rich etymological and pragmatic meanings which as interpretative tools facilitate the acceptance or rejection of particular beliefs or practices. It is necessary therefore for us to examine the key terms against their linguistic origins, and to take into account their historical and contemporary applications in special language contexts. For many Chinese characters, it is often difficult, if not totally impossible, to find an exact match in English“ (Yao/Zhao 2010, S. X).
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Allerding werden Yao und Zhao ihren eigenen Anforderungen nicht gerecht, denn auch sie verwenden moderne Kategorien transhistorisch, z. B. tauchen Begriffe wie state (vgl. ebd., S. 6) auf. In Bezug auf die Zhou-Dynastie werden political norms und political boundaries (vgl. ebd., S. 10) verwendet. Durch die Kritik an der Rückprojektion moderner Kategorien auf vormoderne Sozietäten ergibt sich noch ein weiteres Problem, das einer Lösung harrt. Wenn die Rückprojektion moderner Kategorien auf die so genannte Vorgeschichte und die Vormoderne falsch ist, wie lässt sich dann die je betreffende historische Epoche adäquat erfassen? Der Althistoriker Christian Meier, der „(...) die kritische Funktion der Universität, gegen links wie gegen rechts, gegen die Gesellschaft wie gegen sich selbst; gegen die Zeit und dadurch auf die Zeit und hoffentlich zugunsten einer kommenden Zeit zu wirken“74 (Meier 1970a, S. 221),
74
Meiers Ruf nach einer »kritischen Funktion der Universität« klingt nach dem Ende der 68er-Bewegung und aus heutiger Sicht im neoliberalen Zeitalter der so genannten Postmoderne idealistisch und die heutigen herrschenden Verhältnisse bezeugen, dass sich in dieser Hinsicht – gerade in Bezug auf die so genannte akademische Linke – nichts, aber auch gar nichts getan hat. Die Universität als ideeller Gesamtgeist ist eine staatstragende Institution, in der nur in Ausnahmefällen einzelne Personen »gegen die Gesellschaft«, »gegen die Zeit und dadurch auf die Zeit und hoffentlich zugunsten einer kommenden Zeit« (s. o.) zu wirken vermögen. In den überwiegenden Fällen werden diese Personen materiell vereinnahmt (und damit geistig aufgesogen) oder aber sie scheitern an den verfestigten Strukturen und werden ausgespuckt. Was übrig bleibt, ist überwiegend Mittelmaß, das sich dem gesellschaftlich herrschenden ideologischen Zeitgeist angepasst hat. Was übrig bleibt, ist eine PseudoKritik, die den Boden der bestehenden Verhältnisse nicht verlässt. 200
gefordert hat, hat dieses Problem schon 1970 erkannt. Er schreibt: „In dem sie (‚mindestens einige Althistoriker‘; RGP) etwa (...) sich einmal gründlich die durchweg modernen Begriffe vornähmen, mit denen man sich auch in der Althistorie behilft – um die Fehler aufzuweisen, die dabei entstehen, die Schwierigkeit der Beschreibung ferner Zeiten deutlich zu machen und auf das Problem einer modernen historischen Begriffsbildung zu kommen“ (Meier 1970b, S. 161).
Als Beispiel führt Meier die Kategorie Staat an, die auch heute noch – wie wir gesehen haben – Anwendung auf die Vormoderne findet: „Nachdem und indem erkannt wurde, wie fragwürdig der Begriff Staat sei, wurde deutlich, dass man – unter Übernahme oder einfacher Ablehnung dieses Begriffs – die Gemeinwesen des Mittelalters verkannt hatte. Die Auflösung des Begriffs Staat wirkte sich also in der Mediävistik aus, und höchst fruchtbar, und wenn sie die Alte Geschichte noch nicht betroffen hat, so nur, weil diese noch nicht die Konsequenzen aus der neuen Situation gezogen hat. In Wirklichkeit stellt sich heute die Frage neu, womit wir es bei Polis, res publica und imperium zu tun haben“ (Meier 1970a, S. 196f.; Hervorh. Meier).
Er fährt an anderer Stelle, den Faden weiterspinnend, fort:
Nur außerhalb staatlicher Institutionen ist die Suche nach neuen radikalkritischen Erkenntnissen möglich, wie die vergangene Geschichte belegt – der „tote Hund [Marx] beißt“ [immer noch] – und das auch nur unter erheblichen Restriktionen, aber er beißt durch eine neue Generation von radikal-kritischen Denkern. 201
„Die Historie braucht vielmehr einen neuen eigenen Raum, einen neuen Horizont (in dem es Punkte gibt, auf die man sich beziehen kann), eine neue eigene Sprache75 (die ihren Aufgaben adäquat ist, die einerseits nicht zur schwer übersetzbaren Chiffresprache wird, andererseits aber doch Bezeichnungen für eine Menge von Verhältnissen und Strukturen enthält, die erst weit hinter den Dingen sichtbar werden und Zusammenhänge zwischen Symptomen freilegen, wo wir bisher eher die einen Symptome für die Ursachen der anderen hielten). Diese Elemente einer Wissenschaft kann die Historie nur in der Historik finden. Nur in der Theorie kann sie den Boden künstlich und von sich aus schaffen und immer von neuem sichern – und fortbilden -, den sie früher als selbstverständlich voraussetzte. 76 Dann wird ein Inter-esse (Hervorhebung im Original; RGP) auch wieder über den Kreis historischer Kapazitäten hinaus erwachsen“ (Meier 1970b, 171, Hervorh. RGP).
Sein Fazit lautet: „Der Raum aber, der da zu schaffen ist, in dem endlich wieder Orientierung möglich sein soll, muß eine gewisse Geschlossenheit und Einheit (zwischen den verschiedenen Teilen der Geschichte) mit Offenheit (nach den verschiedensten Nachbardisziplinen hin) kombinieren. Wieweit er entstehen kann, ist sehr fraglich; dass man soviel wie möglich tun muß, damit er entsteht, ist gewiß“ (ebd., S. 172).
75 76
Die selbstverständlich auch einen neuen Inhalt haben muß. Wenn Meier davon spricht, dass in der Theorie der Boden für diese Elemente künstlich geschaffen werden soll, so ist dem nicht zuzustimmen. Die Theorie soll die Realität, auch die z. T. schwer zugängliche vergangene so getreu wie möglich analytisch darstellen. 202
Wie wir gesehen haben und noch sehen werden, war die Skepsis von Meier berechtigt, denn bis heute, nach über fünfundvierzig Jahren, werden immer noch umstandslos moderne Kategorien auf vormoderne Sozietäten angewendet. Und von der Geschlossenheit und Einheit wie von der fachübergreifenden Zusammenarbeit ist genauso wenig zu spüren.77 Festzuhalten bleibt, dass Christian Meier in den vorliegenden Prolegomena einige beachtenswerte Hinweise auf eine Modifizierung der damals und heute noch herrschenden Geschichtsmetaphysik bzw. Geschichtsphilosophie geliefert hat, allerdings entwickelte er keinen neuen geschichtstheoretischen Ansatz. Das mag daran liegen, dass Meier dem Aufklärungsdenken verhaftet ist. Dies belegt folgendes Zitat: „Wichtig ist, neben dem Entwickeln neuer »Geschichten«, wie etwa der Begriffsgeschichte, das direkte, systematische Zusammenwirken mit den Wissenschaften, die zugleich die Sache der Geschichte zum Thema haben: Rechtswissenschaft, Nationalökonomie, Theologie, Soziologie, Politik, Literatur- und Sprachwissenschaft, Psychologie, Kulturanthropologie etc. Dabei werden Überschneidungen eintre-
77
In einem anderen Zusammenhang, der jedoch durchaus symptomatisch für das Verhältnis von kritischer Theorie und akademischer Lehre (polemisch formuliert: letzteres schließt ersteres aus) ist, stellt Roswitha Scholz fest: „Dabei ist es bezeichnend, dass bloß Uni-ProfessorInnen/Promis, StudentInnen und Promovierende (zu einer Konferenz ‚Zur Lage des Marxismus‘; RGP) eingeladen waren. Dies unterstreicht noch einmal, dass eine quasi ‚ständisch‘ orientierte (fetischismuskritische) scientific community zur (disziplinären) Selbstrettung auf jeden Fall unter sich bleiben will und ein außerakademisches widerständiges Theorie-Potential im Grunde dezidiert fern gehalten werden soll“ (Scholz 2014, S. 113; Hervorheb. Scholz). 203
ten, die zu aller Vorteil ausschlagen müssten“ (Meier 1970a, S. 203; Hervorh. Meier).
Von der wertabspaltungskritischen Theorie aus betrachtet sind die von Meier genannten Disziplinen als Bestandteile des Aufklärungsdenkens von diesem Denken durchdrungen. Die einzelnen Publikationen aus den besagten Fachrichtungen sind auf für die Theorie der Geschichte als Geschichte von Fetischverhältnissen erhellende Erkenntnisse hin zu überprüfen, so wie Kurz et al. es z. B. mit Le Goff, Laum etc. getan haben. Gleichzeitig muß auf die theoretischen Mängel, die aus der Sicht des hier vertretenen Ansatzes bestehen, hingewiesen werden. Meiers Anmerkungen sollten jedoch Beachtung finden, zumal nach mehr als fünfundvierzig Jahren die bürgerliche und auch die so genannte linke akademische Wissenschaftsgemeinde immer noch mit den überkommenen Kategorien hantiert – und damit den alten vormodernen Sozietäten nicht gerecht wird. Wie aus dem obigen Zitat hervorgeht, sehen Yao und Zhao die Notwendigkeit, die Schlüsselbegriffe auf ihren historischen Gehalt und ihre zeitgenössische Verwendung hin zu überprüfen, da die chinesischen Schriftzeichen eine vielfältige etymologische und pragmatische Bedeutung haben. Offensichtlich gibt es zwischen dem Altchinesischen, dem Klassischen Chinesisch und der heutigen Umgangssprache inhaltliche Unterschiede, die aus der mehr als dreitausendjährigen Weiterentwicklung der Sprache herrühren, was bei der Entwicklung dieser Zivilisation und ihrem Kontakt mit dem Rest der Welt auch nicht weiter verwunderlich ist. Allerdings erfüllen Yao und Zhao ihre an sich selbst gestellte Forderung nicht (s. o.). Die Übertragung chinesischer Schlüsselbegriff in eine andere Sprache ist m. E. nicht das größte Problem, es ist der fehlende kohärente und konsistente Theorieansatz, der zu einer ideologisierten Darstel-
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lung des „Vor-China“ sowohl des Neolithikums als auch der drei Dynastie (ver-)führt. Es wäre angebracht, wenn die Sinologen aller Länder sich auf die Denktradition des China der Hundert Schulen besännen und einmal den „alten“ Kongzi hervorkramen würden, damit wäre zwar das theoretische Defizit nicht beseitigt, aber ein Anfang in Hinsicht auf die „Richtigstellung der Namen“ wäre gemacht. Kongzi: „‚The cornered vessel (ku) has no longer corners. What a ‚cornered‘ vessel! What a ‚cornered‘ vessel!‘ (VI, 23)“ (Lun Yu, zitiert nach Fung Yu-lan 1994, S. 60; Hervorh. Fung?).
In der deutschen Übersetzung von Ralf Moritz heißt es: „VI, 25. Konfuzius sprach: ‚Ein viereckiges Gefäß ohne vier Ecken – was für ein sonderbares viereckiges Gefäß ist das!‘ (Konfuzius 1991, S. 67).
In der Endnote 116 erläutert Moritz, was Kongzi damit zum Ausdruck bringen wollte: „Gemeint ist eine bestimmte Sorte von Opfergefäßen, die viereckig waren und als ‚gu‘ bezeichnet wurden. Inzwischen hatten diese Gefäße ihre Gestalt verändert, die Bezeichnung ‚gu‘ war aber geblieben. Für Konfuzius ist nun ‚gu‘ nicht mehr ‚gu‘. Mit diesem Gleichnis kritisiert Konfuzius, dass zu seiner Zeit Herrscher nicht mehr Herrscher und Untertan nicht mehr Untertan war, es geht ihm also um die ‚Richtigstellung der Namen/Begriffe‘ (zheng ming) (siehe Einleitung)“ (ebd., S. 153; Hervorh. Moritz).
Und Fung Yu-lan stößt in das gleiche Horn:
205
„Every name possesses its own definition, which designates that which makes the thing to which the name is applied be that thing and no other. In other words, the name its that thing’s essence or concept“ (Fung Yu-lan, 1994, S. 60).
Wenn sich die „Gestalt“ verändert, muss sich auch die Bezeichnung verändern. Aus dem »transzendenten göttlichen Prinzip« ist das »paradoxe immanente transzendente Prinzip« (Transzendentalität, Verwertung des Werts) in einem kontingenten Prozess hervorgegangen, aber die Bezeichnung Staat für die Gemeinwesen soll von der Antike bis zur Moderne gleich geblieben sein? Hier soll im Zusammenhang mit der Forderung von Kongzi, die Namen bzw. Begriffe richtig zu stellen, Unger ausführlich zitiert werden: ming2 (im Original fett; RGP) „‚Name‘, übertragen ‚Begriff‘. Das Wort ming2 wird für die Eigennamen von Menschen und für Toponyme gebraucht, aber auch für ‚Nomina‘ allgemein: Substantive, welche Tiere und Pflanzen, Sachen und Dinge bezeichnen. Philosophisch thematisch wird ming2, sobald nach dem Verhältnis zwischen dem Namen und dem damit Bezeichneten gefragt wird. Das sinnlich erfahrbare Objekt heißt –> shih2 (...) ‚Realität‘. Es stehen daher ming2 (...) und shih2 (...) in unmittelbarer Beziehung: ein Name, ming2, bezieht sich immer auf eine Realität, shih2. Das Verhältnis zwischen beiden wird mit der Formel ming2 shih2 (...) bezeichnet. – Am Anfang der Diskussion von ming2 shih2 steht die Forderung des Konfuzius, ‚auf korrekte Begriffe zu halten‘, –> cheng4 ming2 (...). Dies ist, nach Lun-yü 13,3, die Grundbedingung für die Regierung (sic; RGP) eines Staates (sic; RGP). Es ist wohl gleichermaßen eine Verwahrung gegen laxen Sprach-
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gebrauch wie gegen Deuteleien. Sun tsi jedenfalls, der mit dem Titel seiner Schrift Cheng-ming auf den Ausspruch Bezug nimmt, verurteilt ausdrücklich Sophistereien. Bei ihm wird die Vorstellung sehr deutlich, dass das Verhältnis zwischen Realität und Name ein festes, unveränderliches sein müsse, dergestalt, dass das Beziehungsgefüge der Namen untereinander ein getreues Abbild der Weltordnung sei. – Yin Wen tsi (...), der sich gleichfalls auf den Ausspruch des Konfuzius bezieht, definiert: (...): ‚Der Name, das ist das, was dem Gestalteten seine Stimmigkeit gibt. Wenn also die Stimmigkeit des Gestalteten von den Namen abhängt, dann darf man die Namen nicht differieren lassen.‘ – Dieser Auffassung steht das Wort des Chuang tsi gegenüber: (...) ‚Die Namen, das sind die Gäste der Realitäten‘ – sie kommen und gehen“ (Unger 2000, S. 67f.; Hervorh. Unger).
Von der Moderne aus betrachtet und auf der Grundlage der hier vertretenen Theorie lässt sich mit dem Kriterium der Unterscheidung festhalten, dass, um bei der Kategorien Sozietät und Staat zu bleiben, eine »religiös konstituierte Gemeinschaft«, die auf dem »Opferverhältnis zur Götterwelt« beruht, kein Staat ist, sie kann keiner sein.78 Umgekehrt ist es ebenso anachronistisch vom Staat, der mehr oder weniger gleichursprünglich mit dem Kapitalverhältnis entstand, von einer Sozietät zu sprechen, denn dieser Staat steht außerhalb und über der Gesellschaft, da er die divergierenden Interesse der unterschiedlichen Klassen unter „einen Hut“ bringen muss. Gleichzeitig müssen die infrastrukturellen Rahmenbedingungen für das Funktionieren des modernen warenproduzierenden Patriarchats garantiert 78
Wir werden sehen, welche Kapriolen manche Autoren schlagen, um die Kategorie Staat irgendwie in die Vormoderne zu implantieren (siehe dazu das nächste Kapitel). 207
werden, denn sonst läuft „der Laden“ nicht.79 In der Vormoderne gab es diese Rahmenbedingungen ebenfalls, wenn auch nicht vergleichbar mit den heutigen, aber da dass »Opferverhältnis an die Götterwelt als Fetischverhältnis« „seine bestimmte Logik hatte und keine eigengesetzliche andere neben sich dulden konnte“ (Kurz 2012, S. 91), müssen diese Normierungen und Rahmenbedingungen, so wie sie zu Ende des letzten Kapitels beschrieben wurden, unter dem Gesichtspunkt der »vormodernen Fetischverhältnisse« analysiert werden. Kommen wir noch einmal auf das Unger-Zitat zurück. Kurz sprach davon, dass z. B. die „Antike“ eben auch ihre „Antike“ und ihre „Moderne“ hatte. Als Beispiel wurde Kongzi angeführt, der sich darüber beklagte, dass das viereckige Opfergefäß, „gu“ genannt, zu seiner Zeit eben nicht mehr viereckig war und trotzdem weiter „gu“ genannt wurde (vgl. Konfuzius 1991, S. 153, FN 116). Übertragen auf die Epoche, in der Kongzi lebte, bedeutet dies, dass der „Meister“ von seinem historischen Standort aus die Vergangenheit betrachtet: er schaute auf die „Antike“ der Frühlings- und Herbst-Periode. Es wäre sicherlich ein interessantes Unterfangen, wenn sich die Sinologen, die des Altchinesischen mächtig sind, sich die „klassischen Schriften“ einmal unter dem Gesichtspunkt der Theorie der Geschichte als Geschichte von Fetischverhältnissen vornähmen, um zu analysieren, wie die Denker der ausgehenden „Chunqiu-Zeit“ und die der „Zeit der Streitenden Reiche“, ihre Vergangenheit sahen. Zurück zu Kongzi, er wendet sich „gegen laxen Sprachgebrauch wie gegen Deuteleien“. Auch nach ca 2.500 Jahren ist diese Warnung angebracht, wie die obigen Beispiele und weitere andere belegen werden. 79
Es würde zu weit führen, dies hier im Einzelnen darzulegen. Nur so viel: der Staat hat im weitesten Sinne des Wortes die Infrastruktur bereitzustellen, Aufgaben die das Kapitalverhältnis nicht übernehmen kann und will, da diese Maßnahmen tote Kosten (Marx) sind, die keinen Mehrwert generieren. 208
„[M]an muß diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt!“ [und zwar immer und immer wieder; RGP] (Marx, Karl 1976. Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, S. 381. In: MEW Bd. 1, S. 378-391.)
4. Zur Kritik der Rückprojektion moderner Kategorien auf die Vormoderne Einleitung Nachdem in den letzten drei Kapiteln beispielhaft Kritik an der Rückprojektion moderner Kategorien auf die Vormoderne geübt wurde, um den hier vertretenen Theorieansatz plastisch zu illustrieren, wird nun die transhistorische Verwendung und Ontologisierung dieser modernen Kategorien an Hand verschiedener Abhandlungen des Archäologen und Sinologen Chang Kwang-chih (1931-2001) einer systematischen Kritik unterzogen. Dies aus gutem Grund, denn nach Robert E. Murowchick hatte Chang einen wesentlichen, kaum zu unterschätzenden Einfluß auf die Sinologen und Archäologen, die sich mit dem prähistorischen „Vor-China“ und den drei Dynastien beschäftigt haben, und damit auch auf den akademisch-wissenschaftlichen Nachwuchs. So schreibt Murowchick in Kwang-Chih Chang 19312001. A Biographical Memoir u. a.:
209
„When K.C. Chang died in early 2001, he left behind a field transformed by his work. For more than 40 years, he served as a bridge between East and West, between traditional Chinese historiography and Western anthropological archaeology. He trained three generations of students, many now prominent archaeologists in Korea, Japan, the People’s Republic of China and Taiwan, Hong Kong, Thailand, Vietnam, Malaysia, Indonesia, the Philippines, Australia, Europe, the United States, and Canada. His prodigious scholarly articles, books, and monographs, dizzying in their range, form a fundamental foundation for the field that will endure well into the future. The emphasis on collaboration – between disciplines and between countries – that was a hallmark of K.C.’s work throughout his life and that played a key role in the gradual opening up of China to Western scholars during the 1970s and 1980s bears fruit today in the form of dozens of collaborative field projects and international conferences, and the growth of Chinese and East Asian archaeology in American and Canadian universities, that he could scarcely have imagined 20 years ago.“80
Ähnlich äußern sich auch William Fash, Arthur Kleinman, Lothar von Falkenhausen und C. C. Lamberg-Karlovsky: „K.C. was an extraordinarily productive scholar. His more than 350 publications include some 20 books and monographs. His 1963 publication The Archaeology of China stood without peer for over three decades and four editions in informing the western world of the wonders of China’s ancient past. His majesterial Shang Civilization (1980) and
80
Murowchick, Robert E. 2012. Kwang-chih Chang 1931-2001. A Biographical Memoir., S. 35ff. www.nasonline.org/publications/biographicalmemoirs/memoirs.pdfs/chang-kwang-chih-1.pdf.pdf, S. 1-47. 210
his site report Fengpitou, Tapenkeng, and the Archaeology of Taiwan transformed the way we understand the emergence of Chinese civilization. For his undergraduate core class he wrote another book, Art, Myth and Ritual: The Path to Political Authority in Ancient China (1983). This book, with its rich theoretical insights, has impacted all concerned with the emergence of ancient civilizations. For almost half a century K.C.’s numerous publications stood alone in pioneering and promoting over 3000 years of understanding China’s past. (...) K.C.’s gigantic stature in academia won him many parchments and many medals. He wore them with great modesty. He took quiet pride in having a number of graduate students that filled prominent positions. (...) K.C.’s passing marks the end of an era. No one alive today can match his synthetic vision and no one can address the complexities of Chinese archaeology in their wider contexts with similar authority. As a scholar and as a person he was an enduring source of inspiration.“81
Sowohl Murowchick als auch Fash et al. heben die wissenschaftlichen Leistungen Changs hervor, die einen wirkmächtigen Einfluß auf seine Schüler gehabt haben müssen. Fash et al. betonen, dass die theoretischen Einsichten in seinem Werk Art, Myth, and Ritual. The Path to Political Authority in Ancient China alle beeinflusst haben, die sich mit antiken Zivilisationen befassen. Hält man sich die von Murowchick angeführte Liste der Studenten aus den verschiedenen Ländern 81
Fash et al. 2007, S. 2. http://news.harvard.edu/gazette/story/2007/03/ kwang-chih-chang/, S. 1-2. Stand: 01.12.2015. Zu Changs Lebenslauf, seinem akademischen Werdegang und seine umfassenden Publikationen, die sich nicht allein auf die Archäologie in China beschränken vgl. Murowchick 2012, S. 43ff. 211
vor Augen, so ist es unumgänglich, sich mit einigen Abhandlungen von Chang Kwang-chih kritisch auseinander zu setzen (was ansatzweise in den vorherigen Kapiteln schon geschehen ist). Es stellt sich die Frage, welchen konkreten Einfluß Chang auf seine Kollegen und den akademischen Nachwuchs gehabt hat. Neben dem oben angeführten Werk ziehe ich drei weitere, kürzere Veröffentlichungen Changs hinzu. Dies sind China on the Eve of the Historical Period aus The Cambridge History of Ancient China: From the Origins of Civilization to 221 BC (Hrsg. Loewe/Shaughnessy 2008) sowie The Rise of Kings and the Formation of City-States und Epilogue II, beide Essays aus dem von Chang Kwang-chih und Xu Pingfang herausgegebenen Band The Formation of Chinese Civilization. An Archaeological Perspective, erschienen 2005. Da es, wie eingangs erwähnt, in diesem Kapitel um die Kritik der Rückprojektion moderner Kategorien auf die Vormoderne geht, werden ausgewählte Publikationen seiner Kollegen und Schüler zu analysieren sein. Es kann hier schon vorweggenommen werden, dass der Einfluß Changs unübersehbar ist. Die von ihm transhistorisch verwendeten modernen Kategorien werden, ohne sie ernsthaft in Frage zu stellen, kritiklos übernommen. Diese Rückprojektion und Ontologisierung der modernen Kategorien muss als geistiger Ausfluss des aufklärungsideologischen Denkens entlarvt werden. Es ist offensichtlich, dass dieses Aufklärungsdenken keineswegs ein beliebiges Denken ist, sondern dass es das bestimmende Denken des modernen warenproduzierenden Systems geworden ist (vgl. Kurz 2004a, S. 18), das seinen Siegeszug über die ganze Welt vollzogen hat. Dies zeigt sich überdeutlich daran, dass Archäologen, Sinologen etc. die aus dem chinesisch-sprachigen Raum kommen, ebenfalls vom Aufklärungsdenken beeinflußt worden und darin gefangen sind. Es hat offensichtlich den Anschein, dass die chinesische Zivilisation durch die so genannte Aufklärung, die nichts weiter als eine „‚Durchsetzungs-
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ideologie‘“(ebd.) des Kapitalverhältnisses war, geistige Risse und Löcher bekommen hat. Wenn dieses Aufklärungsdenken in der Form der Rückprojektion moderner Kategorien auf die Vormoderne als Ideologie dechiffriert und scharf kritisiert wird – manchmal mit einem polemischen Unterton -, so richtet sich diese Kritik keinesfalls gegen die Person des Chang Kwang-chih oder gegen seine Kollegen und Schüler, sondern steht eindeutig in der Tradition von Karl Marx, der im Vorwort zur ersten Auflage des Kapital schreibt: „Zur Vermeidung möglicher Mißverständnisse ein Wort. Die Gestalten von Kapitalist und Grundeigentümer zeichne ich keineswegs in rosigem Licht. Aber es handelt sich hier um die Personen nur, soweit sie die Personifikation ökonomischer Kategorien sind, Träger von bestimmten Klassenverhältnissen und Interessen. Weniger als jeder andere kann mein Standpunkt, der die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als einen naturgeschichtlichen Prozeß auffaßt, den einzelnen verantwortlich machen für Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt, sosehr er sich auch subjektiv über sie erheben mag“ (MEW 23, 1977, Vorwort, S. 16).
Es ist offensichtlich, dass es Marx nicht um die Kritik an einzelnen Personen bzw. Personengruppen geht; sosehr seine mitunter scharfe Polemik diesen Eindruck erwecken mag, weiß er doch, dass die Menschen, die im und mit dem Kapitalverhältnis leben müssen, von diesem System präformiert sind. Dazu passt eine weitere Aussage von Marx. „Wir werden überhaupt im Fortgang der Entwicklung finden, dass die ökonomischen Charaktermasken der Personen nur die Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse sind, als deren Träger sie sich gegenübertreten“ (ebd., S. 100). 213
Hier sei angemerkt, dass die intellektuellen Verhältnisse an EliteUniversitäten, wie z. B. Harvard, oder allgemeiner: an staatlichen Bildungsinstitutionen überhaupt, anders konfiguriert sind als die intellektuellen Verhältnisse, die von Personen freiwillig und aus einer gemeinsamen Grundhaltung und Überzeugung heraus gebildet werden, die sich den offenen und/oder versteckten Restriktionen staatlicher oder privatwirtschaftlicher ausgerichteter Bildungsinstitutionen nicht unterwerfen wollen, auch dann nicht, wenn sie dafür prekäre Lebensverhältnisse in Kauf nehmen müssen. Zurück zur Kritik der Rückprojektion moderner Kategorien auf die Vormoderne. Wir haben in den vorherigen Kapiteln schon gesehen, dass durch die Bank weg alle Autoren moderne Kategorien auf die Vormoderne rückprojizieren. Bis zu einem gewissen Grad dürfte Chang dafür verantwortlich sein, aber beileibe ist er nicht der einzige, der diese modernen Kategorien ontologisiert, wie wir noch sehen werden. Das Fatale ist, dass diese Kategorien von seinen Kollegen und Schülern nicht nur nicht kritisch hinterfragt, sondern bis heute weiter kolportiert werden. Einen schlagenden Beweis liefert die Abhandlung Cosmology and Political Culture in Early China von Wang Aihe. Nach ihrem Bekunden ist dieses Werk „the fruit of more than a decade of inspiration and guidance from my teachers, Professors Kwang-chih Chang, Michael Loewe, Sally F. Moore, and Stanley J. Tambiah“ (Wang 2000, S. XIV).82 Der Titel ihres Buches verrät den Einfluß ihrer Lehrer und die Zielsetzung ihrer Untersuchung: 82
Wang bedankt sich bei weiteren Sinologen und Vertretern anverwandter Wissenschaftszweige (z. B. aus der Anthropologie), wie u. a. Lothar von Falkenhausen, Nathan Sivin, David Keightley, Edward Shaughnessy, Constance Cook, Li Feng, Robin Yates, Wu Hung, Benjamin Schwartz, Hsu Cho-yun, Peter Bol, Stephen Owen, and Tu Wei-ming, Michael Herzfeld, James Ferguson, Lissa Malkki, Rubie Watson, and James Watson ( vgl. ebd.). Es liest sich wie das Who is Who der etablierten sinologischen etc. Wissenschaftsgemeinde. 214
„By questioning the social production of these two enduring structures of Chinese civilization (cosmology and the unified empire; RGP), this study seeks to demonstrate how, beneath their unitary and recurring patterns, cosmology as a realm of the cultural and empire as a realm of the political were formed by a common dialectical process of mutual production and transformation in early China“ (ebd., S. 1f.).
Ihrer Auffassung nach hat es schon im frühen China zwei Sphären gegeben: die »kosmologische« und die politische, die in einem dialektischen Prozess die Entwicklung seit dem ausgehenden Neolithikum und den drei Dynastien bestimmt haben sollen. Wang ist nicht die/der einzige, die/der von Chang Kwang-chih beeinflusst wurde. Diesem und anderen wird von Liu Li im Vorwort zu ihrem Buch The Chinese Neolithic. Trajectories to Early States mit den Worten gedankt: „I would like to first express my greatest appreciation to my dissertation advisors: Kwang-chih Chang, Richard Meadow, and Rosemary Joyce of the Anthropology Department at Harvard University, who gave me tremendous help and encouragement, not only during the course of writing the thesis but also throughout the years I was studying at Harvard. I am especially grateful to the late Professor K. C. Chang, whose advice and help at every step of my academic life have been extremely valuable in many ways“ (Liu 2004, S. XV).83
Liu will und kann den Einfluß Changs nicht verleugnen: 83
Dieser handelsüblichen Danksagung von Wang Aihe steht Liu Li in keiner Weise nach, auch hier ist die Creme de la Creme versammelt (vgl. ebd., S. XV/XVI). 215
„The aim of this book is to reveal the trajectories through which Neolithic culture developed from simple villages to complex political (sic; RGP) entities in the middle and lower Yellow River valley, the region in which the first Chinese states (sic; RGP) evolved. The most crucial time period for understanding these processes is the eve of the emergence of states (sic; RGP), when the Longshan culture flourished“ (ebd., S. 1).
Die Verwendung moderner Kategorien scheint auf eine terminologische Unsicherheit hinzudeuten, „weil die Einsicht in den fremden, andersartigen Charakter der vorkapitalistischen Konstitutionen oberflächlich bleibt. Es fehlt die radikale theoretische Kritik an den modernen Kategorien, die allein als Katalysator für eine begriffliche Bestimmung der früheren Sozietäten dienen könnte. Deshalb hängt die aufscheinende Differenz in der Luft“ (Kurz 2012, S. 107). Die Feststellung von Kurz trifft auf die akademische Auseinandersetzung bzw. die Differenzen zwischen dem bürgerlichen Wissenschaftsbetrieb und der Marxschen Theorie (vgl. ebd.) des Abendlandes gewiß zu. In der so genannten Neuen Welt dürfte dies nur eine Marginalie gewesen sein, denn von einer radikalen theoretischen Kritik innerhalb der Sinologie an den Elite-Universitäten der USA ist mir nichts bekannt. Bei Liu scheint keine „terminologische Unsicherheit“ vorzuliegen, da die parallele Verwendung vormoderner und moderner Kategorien System hat (dazu später, vgl. z. B. Liu 2004, S. 12f.), denn aus der »religiösen Konstitution«, durch die die prähistorischen Sozietäten und die der Bronzezeit geprägt sind, lässt Liu Kategorien wie Politik und Staat hervorgehen. Damit folgt sie ihrem Lehrer, denn genau das ist die Vorgehensweise Changs. Er leugnet nicht – ganz im Gegenteil -, dass das »Übersinnliche« (in Form der »Ahnenverehrung«, des »Schamanismus«, der »Religion«) eine herausragende Rolle in der Prähistorie und dem Bronzezeitalter gespielt hat, worauf noch zu 216
kommen sein wird. Zwar benutzt er weder den Begriff »religiöse Konstitution« noch spricht er von einem »transzendenten göttlichen Prinzip«. Das würde seiner Argumentation widersprechen, denn er subsumiert die »religiöse Konstitution« unter die Politik, bestenfalls lässt er es zu, dass die Politik von der »Religion« kontrolliert wird (vgl. Chang 2005, S. 291). Wenn Kurz davon spricht, dass „die aufscheinende Differenz in der Luft“ (s. o.) hängt, so kann in Bezug auf Chang vermutet werden, dass er die Differenz zwischen vormodernen Sozietäten und den sich in ihnen entfaltenden Kategorien und der modernen Gesellschaftsformation, die auf dem Kapitalverhältnis beruht, gar nicht erkennt. Er scheint nicht zu begreifen, dass in »religiös konstituierten Sozietäten« „eine völlig andere Logik am Werk ist“ (s. o.). Und genau das ist der entscheidende Punkt, der eine Kritik an Changs Behauptungen rechtfertigt. Mehr noch: diese Kritik ist aus der Sicht der Theorie der Geschichte als Geschichte von Fetischverhältnissen notwendig. Erstens deshalb, um der Rückprojektion moderner Kategorien auf die Vormoderne Einhalt zu gebieten und damit der Ontologisierung moderner Kategorien einen Schlag zu versetzen, zweitens zeichnet die von Chang vertretene These ein z. T. falsches bzw. verzerrtes Bild des prähistorischen „Vor-China“ und dem der drei Dynastien, dass es zumindest in wesentlichen Bereichen zu korrigieren gilt. Es kann den Sinologen und anverwandten Wissenschaftsvertretern zugute gehalten werden, dass die Theorie der Geschichte als Geschichte von Fetischverhältnissen jüngeren Datums ist, nicht im akademischuniversitären Diskurs ihre Wurzeln hat, darüber hinaus m. W. nur in deutscher Sprache zugänglich ist und aus diesen Gründen wohl kaum Verbreitung gefunden hat – man kann, man muss aber nicht. Denn die oben genannten Vertreter scheinen resistent gegenüber einer kohärenten und konsistenten Theoriebildung zu sein, was sich erstens schon daran erkennen lässt, dass sie selbst keine den oben genannten Kriterien entsprechende Theorie „auf die Beine gestellt haben“ und zweitens daran, dass das, was sie als Theorie bezeichnen und als sol217
che „verkaufen wollen“, den Namen Theorie im Sinne der Formulierung von abstrakt-allgemeinen Kategorien gar nicht verdient. Wir werden im Laufe dieses Kapitels noch des Öfteren mit so genannten Theorien, die in der Sinologie und anverwandten Wissenschaftszweigen kursieren, konfrontiert werden. Um diesen ihre Unhaltbarkeit nachweisen zu können, ist es unumgänglich, dass Kernpunkte der hier vertretenen Theorie wiederholt dargelegt werden. Zuvor machen wir noch einen kurzen Abstecher in die Welt der wunderlichen Begriffsbestimmungen.
Kurioses aus der Kunstsammlung der Ontologisierung und Rückprojektion moderner Kategorien auf die Vormoderne Sowohl im Theorie- als auch im Kapitel Grundkategorien ist auf den Aufsatz Early Humans in China von Yan Wenming und Wang Youping hingewiesen worden, in dem die Autoren einen Abschnitt mit The Small Tool Industry in North China und einen weiteren mit The Pebble Tool Industry in South China betiteln (vgl. Yan/Wang 2005, 15ff.). Es wimmelt nur so von Termini wie small tool industry, pebble tool industry etc. (vgl. ebd.). Auch Chang verwendet die Kategorie industry. So spricht er von einer Acheulean industry (vgl. Chang 2008, S. 41) und in einer Fußnote verweist er auf die umfangreiche Literatur zur lithic industry (vgl. ebd., FN 10). Damit stehen die genannten Autoren aber nicht alleine da. Offensichtlich hat sich die Kategorie industry bzw. Industrie in die Archäologie eingeschlichen, denn auch deutsche Autoren verwenden sie: „Die Rekonstruktion der lithischen Artefakte erlaubt die Feststellung, dass H. ergaster bereits vor 1,7 Millionen Jah218
ren mit Beginn der Acheuléen-Industrie über sehr effiziente Werkzeuge zum Zerlegen von Beute und Kadavern verfügte, die eine deutliche ‚Evolution‘ gegenüber den bis zu 2,5 Millionen alten pebble tools zeigen“ (Henke/Rothe 2005, S. 110, Hervorh. der Autoren).
Der Untertitel des Aufsatzes „Ursprung, Adaption und Verbreitung der Gattung Homo” lautet „Marginalien zur Evolution eines global players“ (sic; RGP; Hervorh. der Autoren). Dasselbe Autorengespann versteigt sich in einem weiteren Beitrag Machiavellistische Intelligenz bei Primaten. Sind die Sozialsysteme der Menschaffen Modelle für frühmenschliche Gesellschaften? zu der Aussage, dass „nach unserer Definition, technische Intelligenz soweit evolviert war, dass einfache Artefakte, z. B. der Oldowan- oder GeröllgeräteIndustrie, hergestellt werden konnten. Die einfachsten OldowanWerkzeuge – Hammersteine der Oldowan A-Kultur – unterscheiden sich nicht bzw. nur sehr unerheblich von den Werkzeugen, die beispielsweise die Tai-Schimpansen in ([der], sic; RGP) Elfenbeinküste herstellen (siehe oben Abschnitt 6)“ (Rothe/Henke 2005, S. 177). In einem Online-Wörterbuch findet sich für lithic industry die Übersetzung Steingeräteherstellung.84 8ung: Polemik: Vergleichen wir die wohl aus dem Englischen übernommene Verwendung des Begriffs Steingeräte-Industrie mit der Übersetzung Steingeräteherstellung und zählen die Buchstaben zusammen, so ergibt sich ein Verhältnis von 20 zu 22, zählt man den Bindestrich dazu, reduziert sich das Verhältnis auf 21 zu 22. Es scheint so zu 84
Vgl. https://dict.leo.org/englisch-deutsch/lithic sandstone, S. 1. Stand: 04.03.2017. 219
sein, dass deutsche Wissenschaftler – und wohl nicht nur diese – mittlerweile Anglizismen unhinterfragt übernehmen. Etwas besser sieht es für stone tool industry vs. Steingeräteherstellung aus: 17 zu 22; würden die englischsprachigen Autoren anstelle von industry das etwas neutralere und angemessenere Wort production – im Sinne von handwerklicher Anfertigung, Herstellung etc. – verwenden, käme man auf ein Verhältnis von 17 zu 19. Betrachten wir nun diese Geschichte der Rückprojektion einmal ernsthaft. Unter der Kategorie Industrie, die im Zusammenhang mit der Kategorie Arbeit im Kapitel Grundkategorien abgehandelt wurde, ist die maschinelle Produktion von Gütern zu verstehen, die sowohl einen Gebrauchswert und einen Tauschwert haben, letzteres als alleiniges Motiv des Unternehmers, der aus einem Euro zwei machen muss, was man beileibe nicht von einem Vorfahren unserer Gattung, der vor ca. 1,7 Mio. Jahren gelebt hat, behaupten kann. Der ursprüngliche Produzent, landläufig als Arbeiter bekannt, wird durch die Betätigung der Maschine zu deren Handlager degradiert, die handwerklich-kreativen Fähigkeiten bleiben auf der Strecke und werden auf ein Minimum reduziert. Experimentelle Archäologen haben indes gezeigt, dass die Fertigung von Steinwerkzeugen den prähistorischen Menschen ein Höchstmaß an Geschick, Kenntnis der Struktur des Materials etc. abverlangt haben dürfte. Es ist absurd, von einer Acheuléen-, Geröllgeräte-Industrie oder einer lithic industry zu sprechen, die es vor 1,7 Mio. Jahren – plus/minus ein Paar Hunderttausend Jahre – mit Sicherheit nicht gegeben hat. Mit ein bisschen Fantasie lässt sich gewiß ein passender Ausdruck finden, wie wäre es mit handgefertigte Werkzeuge (die geistige Tätigkeit ist darin selbstverständlich eingeschlossen). Auch wenn sich der Begriff industry bzw. Industrie als Fachbegriff in die Archäologie etc. eingebürgert hat, so heißt das noch lange nicht, dass er für die Beschreibung der Herstellung steinzeitlicher 220
Werkzeuge ein adäquater Ausdruck ist. Warum auch immer dieser Begriff verwendet wird – ob aus Bequemlichkeit, aus Gründen der Nachahmung, am wahrscheinlichsten ist das Nicht-Vorhandensein eines kohärenten und konsistenten theoretischen Ansatzes – er ist schlicht und einfach falsch.
221
Eine unhaltbare These Wie im Theorie-Kapitel schon erwähnt, stellt Chang die These auf: „Art and myth in ancient China were inextricably related to politics“ (Chang 1983, S. 1).
Und er fährt fort: „We are quite accustomed to thinking of politics as a critical element in modern Chinese society. That it is equally so for ancient China is less commonly recognized and my purpose here is to demonstrate this through a combination of data and insights derived not only from archaeology but also from literature and art. The objective of the book is thus twofold. First, it provides a fundamental perspective for viewing the nature and structure of ancient Chinese civilization as having a strong political orientation. Second, it demonstrates that the study of ancient civilizations – at least the study of the ancient Chinese civilization – can be most rewarding if it deemphasizes traditional disciplinary barriers, a point I have made repeatedly in the past decade“ (ebd).
Chang spricht damit indirekt aus, dass sich die Politik seit ca. 4.000 Jahren wie ein roter Faden durch die Geschichte Chinas zieht. Schon der erste Satz ist aus Sicht der Theorie der Geschichte als Geschichte von Fetischverhältnissen falsch. Der Begriff Mythos (Sage, Legende: Fabel, erfundene Geschichte, Fiktion, Erfindung) weist auf ein »transzendentes göttliches Prinzip« hin, wie es in den chinesischen Überlie-
222
ferungen tatsächlich der Fall ist. Die Kategorie Kunst ist in vormodernen Sozietäten ein Ausfluss der »religiösen Konstitution« der jeweiligen Sozietät. Wenn Chang nun behauptet, dass Kunst und Mythos unentwirrbar bzw. unlösbar mit der Politik verbunden gewesen wären, und das mit dem Satz untermauert, dass vormoderne China hätte „a strong political orientation“ gehabt, dann verkennt er eklatant die »religiös« konstituierten vormodernen Verhältnisse. Genausowenig wie das Kapitalverhältnis keine andere Logik als die Verwertung des Werts neben sich duldet, genausowenig konnte das »religiös konfigurierte Fetischverhältnis« „keine eigengesetzliche andere [Logik] neben sich dulden“ (Kurz 2012, S. 91). Wenn von einer Orientierung die Rede sein soll, dann kann es sich nur um eine »religiös« ausgerichtete handeln. Bei seiner Beweisführung stützt sich Chang auf archäologische Artefakte ebenso wie auf Inschriften: „The data lead to the conclusion that civilization evolved along with the dynasties because in China – as elsewhere – it was the manifestation of the accumulated wealth of a small segment of society, the dynasty. New kinds of data, both artifactual and inscriptional, have also been brought to light. In addition to numerous artifacts of stone, clay, wood, bamboo, silk, and bronze, which are indispensable for our examination into Bronze Age life, archaeology has also yielded inscriptional material of other kinds, principally inscriptions incised on oracle bones of the Shang and early Chou periods (...) and those cast on ritual bronze vessels“ (ebd., S. 5).
Sein Ziel ist, an Hand dieser Daten „to analyze the political culture of ancient China, and to seek an answer to a basic question: How did civilization and its concomitant, the political dynasties, arise in ancient China?“ (ebd., S. 8).
223
Seiner Auffassung nach entwickelte sich die Zivilisation in China gemeinsam mit den Dynastien, deren Herrscher in der Lage waren, „Reichtümer“ aufzuhäufen.85 Chang kommt auch gleich darauf zu sprechen, wie bzw. wodurch dieser Reichtum angesammelt wurde: „In our case we can demonstrate that this wealth was accumulated primarily through the exercise of political authority, and that the accrual of political authority in the Chinese context was facilitated by several interrelated factors: kinship hierarchy, moral authority of the ruler, military power, exclusive access to gods and to ancestors (as through rituals, art, and the use of writing), and access to wealth itself. By examining the history of these factors we
85
Der Begriff „Reichtum“ ist im Zusammenhang mit dem Neolithikum und dem Bronzezeitalter zu undifferenziert. Das Kapitalverhältnis bringt durch die zwanghafte und permanente Verwertung des Werts abstrakten Reichtum in der Form von immensen Geldvermögen, Aktienkapital etc. hervor, während in der Vormoderne richtiger von »stofflichem Reichtum« gesprochen werden sollte, denn die »rituellen Bronze- und Jadeobjekte« stellten einen »konkreten Reichtum« dar, der bestimmten Zwecken diente, z. B. als »Medium«, um mit der »Götter- und Ahnenwelt« in Verbindung treten zu können, und auch, um dem »verstorbenen Herrscher« als Grabbeigabe zu dienen, denn mit seinem Tod zählte er zu den zu »verehrenden Ahnen«, deren »Geister« es zu beschwichtigen galt, indem man ihnen im Jenseits ein luxuriöses Leben ermöglichte. Chang verwendet für das „Anhäufen von Reichtümern“ das Wort „accumulate“, „akkumulieren“, das eine Nähe zur Moderne assoziieren könnte, z. B. Kapital akkumulieren. Im TheorieKapitel ist festgestellt worden, dass das Wertgesetz als Kategorie allein dem Kapitalverhältnis zugehörig ist, deswegen wird hier dieser von Chang benutzte Ausdruck nicht verwendet (vgl. auch die Kapitel Monetäre und prämonetäre Werttheorie, Ein Geld, das noch gar keines ist sowie Geld als historische Fundsache und die ursprüngliche Konstitution des Kapitals in Kurz 2012; S. 46-56, S. 86-111 und S. 112-134). 224
can isolate some of the more convincing causes of the rise of political authority in ancient China“ (Chang, 1983, S. 8).
Eine grundsätzliche Frage: Finden sich auf den Orakelknochen und/ oder in den Inschriften, z. B. auf den Bronzen, Hinweise auf die Kategorie Politik? Waren die Schriftzeichen schon soweit entwickelt, dass ein so abstrakter Begriff als Zeichen ausgedrückt werden konnte? Zurück zu Chang. Dass seiner Auffassung nach eine politische Autorität am Werke war, die mittels der Reichtumsanhäufung eine Zivilisation hervorbrachte, begründet er mit sich in Korrelation befindenden Faktoren. So weit so gut; allerdings entspringen diese „interrelated factors“ allesamt »vormodernen Fetischverhältnissen«, worauf noch ausführlich einzugehen sein wird, wenn Chang in den nachfolgenden Kapiteln selber seine angeblichen Beweise vorlegt. Bevor diese Kapitel einer kritischen Analyse unterzogen werden, werfen wir einen einführenden Blick auf seine Kollegen und Schüler, die sich offensichtlich wie Chang dem Ziel verschrieben haben, im prähistorischen „Vor-China“ und den drei Dynastien die Anfänge von Politik und Staat auszumachen. So schreibt die weiter oben schon erwähnte Liu Li: „There is no need to emphasize the significance of Chinese civilization, which produced one of the few pristine states in the world nearly four thousand year (sic; RGP) ago. But it is rather surprising to note that, compared to other civilizations, little has been done in Chinese archaeology to systematically study the processes of state development“ (Liu 2004, S. 1).
Ihre Zielsetzung ist ebenfalls schon genannt worden: sie will nachweisen, dass sich das „Vor-China“ im Verlauf der neolithischen Kultur von einfachen Dorfgemeinschaften zu komplexen politischen Entitä225
ten entwickelte, die letztendlich in der späten Longshan-Kultur (30002000 v. u. Z.) zur Staatsbildung führte. Sie fährt fort: „The Longshan culture of Neolithic China was distributed through the middle and lower Yellow River valley in the third millennium BC. As the platform for fundamental social change it anticipated the emergence of early Chinese states and civilizations, the Xia, Shang, and Zhou dynasties“ (ebd.).
Nachdem sie wesentliche kulturelle Errungenschaften angeführt hat (vgl. ebd.), die ihren vermeintlichen oder tatsächlichen Ursprung in der Longshan-Periode gehabt haben, kommt sie zu dem Schluß: „Without understanding the social organization and transformations of the Longshan culture, we simply cannot conduct any meaningful study on the emergence of early states in ancient China“ (ebd.).
Zumindest mit dem ersten Halbsatz hat Liu recht. Was die Entstehung von Staaten im antiken China anbelangt, bleibt sie auf der Linie von Chang und greift ganz offensichtlich auf eine 2003 erschienene Publikation zurück, die sie in Koproduktion mit Chen Xingcan verfasst hat, der bezeichnende Titel: State Formation in Early China. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass das Autorengespann Chang ihre Referenz erweisen: „All these arguments86, which brought fresh air as well as new debate into Chinese archaeology, have inspired our re-
86
Kurz gefasst sind diese Argumente von Chang u. a., dass die chinesische Zivilisation sich in ihrer Entwicklung von der Mesopotamiens unterschied, dass es des Weiteren einen Zusammenhang zwischen der Verle226
search on state formation in early China, the topic of this book. Since there is far more archaeological data available today than Professor Chang had when he discussed these topics nearly twenty years ago, some of our conclusions are different from his. However, the results of our research, as presented in this book, are but the extension and elaboration of issues initially explored by Kwang-chih Chang“ (Liu/Chen 2003, S. 13, Hervorh. RGP).
Auch Liu und Chen halten an der Überzeugung von Chang fest, dass es schon vor ca. 4.000 Jahren Staaten auf chinesischem Boden gegeben haben soll. Während alle anderen Autoren in den mir vorliegenden Werken es nicht für nötig erachten, auf die Kategorie Staat näher einzugehen, diskutieren Liu und Chen im ersten Kapitel die verschiedenen Modelle (vgl. ebd., S. 21ff.). Zumindest auf den ersten Blick unterscheidet sich dies lobenswert von ihren Kollegen, die diese Kategorie als das Natürlichste von der Welt ansehen. Dass es in der Vormoderne keinen Staat gegeben haben kann, ist schon mehrfach dargelegt worden, und wird an anderer Stelle noch einmal aufgerollt. Ein weiteres Beispiel für die Behauptung, dass es im ausgehenden Neolithikum des „Vor-China“ quasi zu Staatsbildungsprozessen gekommen sein soll, liefert Li Feng in Early China. A Social and Cultural History. Er reiht sich damit nahtlos in die Riege der schon genannten Autoren ein. In seiner Introduction lesen wir: „During the late fourth millennium BC, early complex societies began to emerge in a number of regions which were each organized into a settlement hierarchy, headed by a large political center that was often surrounded by rammed earth walls. This stage was followed, first in limited areas in
gung der Städte der Shang und Zhou und den Erzvorkommen gab (vgl. ebd., S. 14), dazu später. 227
North and South China, by intense social development into early states, or state-level societies. In North China, these early states are best known from archaeology and history to have been ruled by the dynastic houses such as that of Shang (1554-1046 BC) and of Western Zhou (1045-771 BC). Therefore, they can be called the early ‚royal states.‘“ (Li 2013, S. 6).
Auch hier finden wir, wen wundert es noch, die modernen Kategorien Politik und Staat wieder. Aber nicht nur Sinologen und Archäologen aus dem chinesisch-englisch-sprachigen Raum wollen der Vormoderne diese moderne Kategorie implementieren, wie wir noch sehen werden. Aus den in der Einleitung schon erwähnten Gründen, steht Changs Art, Myth, and Ritual. The Path to Political Authority in Ancient China im Mittelpunkt dieser grundsätzlichen Kritik im Sinne des hier vertretenen Theorieansatzes. Darüber hinaus gehe ich auf die von mir schon erwähnten Autoren Liu Li und Chen Xingcan sowie auf Li Feng ein, deren wesentlichsten Thesen hinsichtlich ihrer Übereinstimmung bzw. ihrer partiellen Differenzen mit Chang untersucht werden. Ferner wird Otto Frankes Geschichte des chinesischen Reiches. Eine Darstellung seiner Entstehung, seines Wesens und seiner Entwicklung bis zur neuesten Zeit. I. Band Das Altertum und das Werden des konfuzianischen Staates (erstmals erschienen 1930) zu betrachten sein, da er ausführlich auf die »universalistische« Weltanschauung des „vor-chinesischen“ Neolithikums und der Bronzezeit eingegangen ist (vgl. ebd.). Bei der Analyse des oben genannten Werks von Chang werde ich zudem Autoren flankierend zitieren bzw. auf sie verweisen, die in The Formation of Chinese Civilization. An Archaeological Perspective zu speziellen Themen Beiträge verfasst haben. Zum einen ist diese Publikation relativ jüngeren Datums, zum anderen zeigt sich an Hand der 228
Aufsätze, dass aus theoretischer Sicht keinerlei Fortschritt gegenüber der 1983 erschienen Publikation zu verzeichnen ist. Obwohl manche Autoren äußerst ausführlich auf die »vormodernen Fetischverhältnisse« eingehen (die sie so nicht nennen), bleiben sie im ideologischen Fahrwasser Chang Kwang-chihs. Auch wenn Chang tatsächlich der Überzeugung gewesen sein sollte, dass Staat und Politik eine wesentliche Rolle im „ancient China“ gespielt haben, ist es nicht nur nach neuesten theoretischen Erkenntnissen Ideologie (vgl. dazu den schon erwähnten Althistoriker Christian Meier). Die Analyse seiner Schriften wird zeigen, dass Chang keinerlei Beweise für seine Behauptung beibringen kann.
Chang Kwang-chihs Obsession In dem Kapitel Clans, Towns, and the Political Landscape (S. 9-19) geht Chang auf die Rolle der Clans, die Bedeutung der Städte für das antike China und die so genannte politische Landschaft ein. Chang widmet sich zunächst den »Ahnherren« der drei Dynastien Xia, Shang und Zhou, wobei er auf »mythische Erzählungen« zurückgreift und dabei mehrere Versionen anbietet (vgl. ebd., S. 10ff.). Schauen wir uns erst einmal die Kurzversion von Chen Lie an, in der es heißt, dass diese Ahnherren „von berühmten Frauengestalten wie z. B. >Xiu SiXiu Si< einen Kometen im Sternbild ang, verfiel darauf 229
in einen Schlaf und wurde im Traum heimgesucht. Daraufhin schluckte sie eine »magische Perle« (shenzhu) und gebar >YuJian Di< das Ei eines mythischen Vogels (xuanniao) verschluckte und >Xie< gebar. Zu Jiang Yuan< (sic!) heißt es, sie sei in die Fußabdrücke eines Riesen getreten und habe darauf >Qi< geboren. Diese drei auf außergewöhnliche Weise gezeugten männlichen Personen werden als Anführer des Xia-, Shang- und Zhou-Volkes angesehen und historische Untersuchungen bestätigen, dass in jener Zeit sich die patriarchalische Gesellschaftsform in China durchsetzte“ (Chen 1996, S. 38f; Hervorh. Chen).
Auch wenn Chang und Chen sich hinsichtlich der matrilinearen bzw. der patrilinearen Abstammung uneinig sind,87 von Bedeutung ist, dass diese »Ahnherren auf übernatürliche Weise gezeugt wurden«. Chang zitiert aus verschiedenen »Mythen«: „The Hsia dynasty, the first political (sic; RGP) dynasty in traditional recorded history, was founded by members of the Ssu clan. Perhaps because of the greater antiquity of the dynasty, for which texts are as yet unknown, the mythical
87
Zwischen Chang und Chen gibt es unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich der Existenz einer matriarchalischen Phase bezüglich der »Ahnherren« der drei Dynastien. Obwohl Chang und Chen sich auf gleiche oder ähnlich lautende Erzählungen berufen, hebt Chen die Rolle der Frau hervor (s. o.), während Chang Einwände erhebt. So meint er: „The second source consists of scattered textual accounts of a society in the remote past in which mothers were known (or recognized) while fathers were not. If there was indeed such a stage in Chinese history, it must have occurred long before the Three Dynasties. We know of no actual clans from the Three Dynasties period that were not patrilineal“ (Chang 1983, S. 9, FN 19). 230
origin of the clan’s ancestors is unclear. In one version the mother of Yü (Yu; RGP), founder of the dynasty (...), gave birth to him as the result of eating some grains of Job’s tears (Coix lacryma-jobi). (Job’s tears were called yi-ssu, hence the name of the clan, and they are one of the oldest domesticated crops in Eastern Asia.) In another story, however, the clan’s ancestor appears to have been born out of a rock. Yü’s father, Kun, charged with the task of stemming a great flood, ‚stole from the [Supreme God] the ‚swelling mold‘ (hsi jang) – a magical kind of soil which had the property of ever swelling in size. With this he tried to build dams which, through their swelling, would hold back waters. When his efforts failed, the [Supreme God], angered by his theft, had him executed. There his body remained for three years [turning to a stone], until somebody... cut it open with a sword; thereupon Yü emerged from his father’s belly.‘ This story is more or less repeated to account, as well, for the birth of Yü’s son. ‚While digging a passage rough a certain mountain, [Yü] was changed... into a bear. His wife, the Lady of T’u Shan], seeing him, ran away and herself became changed to stone. She was pregnant at the time, and so when Yü pursued her and called out, ‚Give me my son!‘ the stone split open on its north side and a son, Ch’i [which means ‚to open‘] came forth.‘“ (Chang 1983, S. 10; Hervorh. Chang).
Sehen wir einmal davon ab, dass diese »mythischen Erzählungen« mit Vorsicht zu genießen sind, so wird doch deutlich, dass eine Jahrtausende später lebende Generation von Herrschern bzw. die Herrscher von Shang und Zhou selbst ein Interesse daran hatten, die Entstehung der drei Dynastien auf »übernatürliche Kräfte« zurückzuführen, wie aus den obigen und nachfolgenden Zitaten hervorgeht. Chang setzt hier den »Supreme God« durch Klammern selbst ein, und verweist 231
damit ausdrücklich auf die »Existenz eines übernatürlichen Wesens und den Glauben an ein solches«. Der von Chang benutzte Ausdruck politische Dynastie ist schlichtweg falsch. Zur Gründung der Shang-Dynastie, der ersten historisch durch schriftliche Zeugnisse nachgewiesenen, heißt es: „The Shang dynasty was founded by members of the Tzu clan, who were descendants of the clan’s founder, Hsieh (Xie; RGP). According to Shang myth, an egg dropped by a dark bird was devoured by Hsieh’s mother, who became pregnant as a result and later gave birth to him (...). The myth of ancestral birth from a bird’s egg was widespread in ancient times among the peoples in the eastern coastal areas of China and Northeast Asia, a fact which seems to support the belief of many scholars that the Shang people had come from the east“ (ebd., S. 12; Hervorh. Chang; zu einer längeren Version vgl. ebd., S. 12, FN 8).
Und zur Zhou führt Chang an: „The last of the Three Dynasties, the Chou, was founded by members of the Chi clan, which derived its name – according to one account – from the name of a small river flowing in the clan’s homeland. The clan’s ancestor, Ch’i (‚the Abandoned One‘) or Hou Chi (‚Lord Millet‘; Qi), (...), was according to the origin myth ‚Sheng min‘ (in Shih) a direct descendant of Supreme God himself, who made an imprint with his foot and caused Lady Yuan of the Chiang clan to become pregnant when she trod on the big toe of the footprint. ‚Sheng min‘ relates that after Chiang Yuan gave birth to Hou Chi, he was abandoned in a narrow lane, then in a far-off wood, and then on ice, but each time he was saved, by oxen and sheep, by woodcutters, or by birds. When he
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grew up, he became a specialist in plant husbandry, was adept in growing millet, beans, and other plants, and began the practice of offering sacrifices. In another dynastic legend, ‚Mien‘, also in Shih, the origin of the human race was compared to the spreading of young gourds. The ancestral birth from bottle gourds is a common myth, and this could be another version of the Chi clan origins“ (ebd., S. 12ff.; Hervorh. Chang; zu einer weiteren Version vgl. ebd., S. 15, FN 9 und 10).
Der »Glaube an übersinnliche Kräfte und Mächte« lässt sich eindeutig für die Zhou-Dynastie belegen, denn ihre Herrscher verstanden sich als direkte Nachkommen des »Supreme God« und der Gründer der Dynastie (Ch’i, Hou Chi bzw. Qi) opferte den »Ahnen und/oder den Göttern und Geistern«. Mehr »Transzendenz« geht eigentlich nicht. Auch wenn die »mythischen Erzählungen« als Beweis nur bedingt verwendbar sind, da sie meist eintausend Jahre oder noch später schriftlich verfasst wurden: es zeigt sich, dass auch im ersten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung der »Glaube an übersinnliche Kräfte und Mächte« existierte. Ich muß noch einmal auf das obige Zitat zurückkommen. Die Verfasser dieser einschlägigen »Mythen«, sofern sie überhaupt namentlich festgemacht werden können, stellen bewusst eine »Verbindung zum Übersinnlichen« her. Es kann daraus der Schluß gezogen werden, dass die drei Dynastiegründer ins »Reich des Göttlichen« gehoben werden sollten und dadurch ihre besondere »Legitimation als Herrscher« beziehen konnten. Wer sich als Abkömmling eines »Gottes« legitimieren kann, wie die Zhou es tun, was Chang durch das obige Zitat bestätigt,88 warum, so ist zu fragen, sollte sich ein solches 88
Offensichtlich beruft sich Chang auf das »Shih«, auch »Shijing« genannt, dem »Buch der Lieder«, von dem Kuhn sagt, es sei eine „zuverlässige Quelle aus der Zeit zwischen dem 11. und 7. Jahrhundert v. u. Z.“ (Kuhn 233
Herrschergeschlecht auf die profane Ebene einer political authority herab begeben? Genau das aber scheint Chang den drei Dynastien durch seine Interpretation unterstellen zu wollen, denn vollkommen unvermittelt führt Chang moderne Kategorien ein: „Since the Three Dynasties were founded by the three clans – Ssu, Tzu, and Chi – the dynasties’ rise and fall were in fact the rise and fall of the fortunes of the individual clans in the political arena in which many clans coexisted, and this fact – that political authority was wielded by social groups basing their membership on blood relationships – is a prominent feature of the ancient Chinese state. Furthermore, each of the clans was itself highly stratified, again along blood lines. Each clan comprised a number of lineage groups, and the members of each group were related to one another according to a genealogically demonstrable relationship. Individual lineages, and even individual members
1991, S. 167). Granet äußert sich ausführlicher: „Die orthodoxe Tradition besagt ja denn auch, dass ihnen sämtlich ein einheitlicher Vorwurf zugrunde liege. So seien alle Lieder des Kuo-feng aus Anlaß wohlbekannter und ganz bestimmter historischer Begebenheiten verfaßt und vorgetragen worden. Samt und sonders besäßen sie politische (sic; RGP) Bedeutung wie auch rituellen Wert, und zwar den, dem Fürsten ein Verhalten vorzuschreiben und es in Einklang mit der guten Sitte zu bringen. Diese überlieferte Deutung hat das Verdienst, dass sie den religiösen Charakter, welchen alle Gedichte besitzen, klar zutage treten läßt. Es ist dies ein wesentlicher Zug, der allein erklärt, weshalb diese Dichtungen überliefert wurden, wie auch die Aufgabe, welche sie im Verlauf der chinesischen Geschichte erfüllten. Ist doch das Shih-ching (Buch der Lieder) unter den Klassikern jener, der die größte Achtung genoß – und in ihm finden sich noch besser als in den Ritenbüchern die Grundlagen gesitteten Verhaltens“ (Granet 1980, S. 40; Hervorh. Granet). 234
within each lineage, possessed unequal degrees of political status” (ebd., S. 15).
Schauen wir uns das obige Zitat einmal näher an. Der Aufstieg und Fall einer Dynastie war nach Chang abhängig vom Erfolg bzw. Mißerfolg einzelner Clans in der politischen Arena, in der eine Vielzahl an Clans nebeneinander koexistierten. Von Politik kann keine Rede sein, wie im Theorie-Kapitel schon nachgewiesen wurde. Wie gezeigt, gab es unterschiedliche »Glaubensvorstellungen«, z. B. bei den Shang und Zhou, wobei letztere Elemente der ersteren in ihre »religiösen Vorstellungen« integrierten. Es kann vermutet werden, dass sie dadurch die Mitglieder des Shang-Adels und deren (ehemalige?) Untertanen mit den neuen »Gottheiten« versöhnen wollten. Im Theorie-Kapitel ist gezeigt worden, dass in vormodernen Sozietäten rein »persönliche, hierarchisch strukturierte Herrschaftsverhältnisse« existieren, die auf dem »Glauben an übersinnliche Kräfte und Mächte« beruhen, dem »transzendenten göttlichen Prinzip«. Genau das beschreibt Chang und verweist überdies auf die »Blutsverwandtschaft« innerhalb des Clans und ihres Verbandes. Im Kapitel Grundkategorien wird der verdinglichte Charakter von Staat und Politik eindeutig nachgewiesen. Es herrscht das transzendentale Prinzip, die Verwertung des Werts. Hier scheint deutlich die Differenz zwischen Vormoderne und Moderne auf. Die Gemeinsamkeit besteht in »hierarchischen Herrschaftsstrukturen«, aber nur als »Instrument der Macht«. In der Vormoderne ist diese »Hierarchie persönlicher Natur«, in der Moderne hingegen versachtlicht. Warum kommt Chang auf die Idee, dass in den „vor-chinesischen“ Sozietäten politische Verhältnisse existierte haben könnten? Man könnte ihm und den anderen Autoren zugute halten, dass sie aus dem chinesischen Kulturkreis stammen, in dem bis heute die familiären, blutsverwandtschaftlichen Beziehungen eine bedeutende Rolle spielen, sowohl in der Politik als auch in der Wirtschaft. Was könnte nä235
her liegen, als die über Jahrtausende gewachsenen traditionellen Familienbande mit den modernen Kategorien Staat und Politik zu verknüpfen und sie auf die vormodernen Verhältnisse transhistorisch anzuwenden? Allerdings hat diese Vermutung zwei Schönheitsfehler. Erstens haben Chang und seine Kollegen keinerlei Beweise für die Existenz moderner Kategorien in der Vormoderne parat, wie oben zu sehen ist. Und das Fehlen an Beweisen zieht sich wie ein roter Faden durch ihre Publikationen. Zweitens gehen auch Sinologen aus dem westlichen Kulturkreis davon aus, dass in der Vormoderne Staat und Politik existiert haben. Als Beispiel sei hier zuerst einmal David N. Keightley genannt. 89 Die Herkunft Changs aus dem chinesischsprachigen Kulturkreis kann für seine Behauptung, dass Staat und Politik im antiken „China“ existiert haben sollen, nicht herhalten. Dass auch 22 Jahren nach dem Erscheinen von Art, Myth, and Ritual terminologisch alles drunter und drüber geht, beweisen folgende Ausführungen von Lu Liancheng und Yan Wenming90 in Society during the Three Dynasties: 89
90
Keightley behauptet in seinem Artikel, der bezeichnenderweise den Titel Shamanism, Death, and the Ancestors: Religious Mediation in Neolithic and Shang China trägt, nicht nur, dass es eine „political authority by Shang kings“ (Keightley1998, S. 763f.) gegeben habe und beruft sich dabei auf Chang Kwang-chih. Auch bei ihm finden sich moderne Kategorien, die er auf die Vormoderne rückprojiziert (vgl. u. a. ebd., S. 793ff.). Sarah Allan vermerkt über Lu: „Lu Liancheng is a specialist in the archaeology of the Western Zhou dynasty (ca. 11th century-770 B.C.E.) and he has led numerous excavations in the Xi’an region of Shaanxi Province.“ (Allan, Sarah 2005, S. 2). Und zu Yan: „Yan Wenming is a specialist in the Chinese Neolithic, and as chair of the Department of Archaeology at Peking University has not only conducted numerous excavations but also trained generations of Chinese archaeologists“ (ebd.). Es kann beiden zugutegehalten werden, dass ihre wissenschaftliche Tätigkeit eher praxisbezogen ist. Allerdings: wie wir schon gesehen haben, und 236
„During the period of the Three Dynasties a central dynasty appeared, the territory was expanded, and a state (sic; RGP) ruled by one clan formally came into being. However, the formation and development of civilization during the Three Dynasties did not destroy or dismantle the exiting clan system; rather, a stricter hierarchical lineage system evolved from it. A ruling network made up of the king, the king’s lineage, and aristocrats of various ranks emerged, founded upon kinship relations, thus enabling political (sic; RGP) power, clan authority, and religious leadership to be closely combined. The lineage clan system and political (s. o.) power were integrated; control of the clan was combined with control of the state (s. o.). The resulting system of lineage government (sic; RGP) was characteristically Chinese and distinctive among the civilizations of the ancient world. Religion played an essential role in the formation of the civilization during the Three Dynasties period. In Shang society, kingship and divine power were integrated and religious power became the central pillar of political authority. Successive generations of Shang kings monopolized the power of sacrifice to heaven through the status accorded to the worship of their own ancestors. In the Western Zhou dynasty, the worship of ancestors and ritual offerings to
nachfolgend noch des Öfteren demonstriert wird, führt ein nicht vorhandener fundierter Theorieansatz zu eklatanten Fehleinschätzungen. Gerade die Beschäftigung mit der Vergangenheit erfordert eine kohärente und konsistente Theorie, denn: „Wir befinden uns immer schon im Kontext des modernen Geschichtsbegriffs (selbst noch bei dessen Negation); und wir können nicht aus unserem historischen Standort hinausspringen, wir können die Vergangenheit nicht mit den Augen der vergangenen Menschen betrachten (und natürlich auch nicht der künftigen)“ (Kurz 2006, S. 5). 237
them formed an inward-looking and closed religious system that functioned as the spiritual support of the lineage system and the hierarchical structure of Western Zhou society. This integration of political (s. o.) power and religious authority was one of the basic characteristics of the Three Dynasties“ (Lu/Yan 2005, S. 142).
Lu und Yan sind offensichtlich davon überzeugt, dass die drei Dynastien die Herrschaftsform des Staates angenommen haben. Und diese so genannten Staaten wurden durch »Clans« beherrscht, wobei das existierende »Clan-System« nicht etwa zerstört oder ausgehöhlt wurde, im Gegenteil: es entwickelte sich ein »striktes hierarchisches System von Verwandtschaftsbeziehungen«, aber nicht wie Lu und Yan suggerieren möchten, durch die angebliche Existenz eines Staates. Sie selbst bestätigen, dass mit dem König an der Spitze, seiner engen Verwandtschaft an der Seite und einer nach Rang abgestuften Aristokratie sich ein »Netzwerk der Herrschaft« etablierte, das auf »Abstammungslinie« gründete. Durch diese »Herrschaftstrukturen« soll es möglich gewesen sein, politische Macht, »Clan-Autorität« und »religiöse Führung« miteinander zu kombinieren. Das »Clan-System«, personal strukturiert, und politische Macht, also eine verdinglichte Herrschaftsform, sollen integriert gewesen sein, m. a. W., sie sollen eine Einheit gebildet haben. Die Kontrolle über den Clan gehabt zu haben, soll gleichbedeutend gewesen sein mit der Kontrolle über den vermeintlich existierenden Staat. Und dieses „system of lineage government“ (s. o.), also die auf »verwandtschaftlichen Verhältnissen beruhende Herrschaftsausübung« war charakteristisch für das antike „China“ und unterschied sich von allen anderen zu der Zeit existierenden Zivilisationen (s.o.). Wie oben schon vermerkt, geht hier terminologisch alles durcheinander: vormoderne Kategorien (»persönliche Herrschaftsverhältnisse: der König, seine Verwandtschaft und die Aristokratie als 238
hierarchisch abgestuftes System«) und moderne Kategorien (Staat, politische Macht als verdinglichtes Herrschaftsverhältnis, gekennzeichnet durch formale Gleichheit) werden auf eine Stufe gestellt. Im nächsten Abschnitt führen die Autoren ihre eigene Argumentation ad absurdum, wenn sie sagen, dass die »Religion« in den drei Dynastien eine essentielle, auf deutsch: eine lebensnotwendige Rolle gespielt haben soll, was ja auch tatsächlich der Fall war, wie wir gesehen haben. »Königtum und Weissagung« waren in einer Hand und die »religiöse Macht« wurde ein wesentlicher Pfeiler der angeblich existierenden politischen Macht. Wo letztere hergekommen sein soll, verraten uns Lu und Yan nicht – vom »Himmel« dürfte sie nicht gefallen sein. Generationen von Shang-Königen haben die »Opferzeremonien« an den »shangdi« durch ihre »Ahnenverehrung« monopolisiert. Und auch die Westliche Zhou haben ihre »Ahnenverehrung« und ihre »Opferzeremonien« zu einem geschlossenen »religiösen System« geformt, das als »spirituelle Unterstützung des Verwandtschaftssystems und der hierarchischen Machtstrukturen ihrer Sozietät« diente. Die angeblich existierende politische Macht und die »religiöse Autorität« sollen charakteristisch für die drei Dynastien gewesen sein. Nicht nur rhetorisch gefragt: Kann man noch treffender seiner eigenen Argumentation widersprechen? Man kann: „Oracle bone inscriptions cast particular light on two areas of religious activity in the Shang period. One was the worship of Di or Shang Di (the Lord or High Lord). Di was extremely powerful and controlled all living things: nature, weather, human relations, hunting, military expeditions, and the success of harvests. The worship of Di may be taken as including the worship and offering of sacrifices to all the spirits of nature, including those of the sun, moon, stars, clouds, wind, rain, thunder, lightning, mountains, rivers, and earth. A late Shang site for offering sacrifices to the
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she ji (earth god) has been discovered in Qiuwan, Tongshan, in Jiangsu Province; this ritual offering to the earth took the form of a prayer for a good harvest“ (ebd., S. 168; Hervorh. durch die Autoren).
Aus diesen Orakelknochen-Inschriften wird ersichtlich, dass »Di« oder »Shangdi« durch seine extreme Machtfülle alles Leben auf Erden kontrollierte. Die Verehrung des »Di« beinhaltete die Darbringung von »Opfern an alle Geister der Natur«, sie ist universal, d. h., sie umfasst »Himmel und Erde« in allen Facetten. Sie ist das »transzendente göttliche Prinzip«. Wenn Marx schreibt: „Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen“ (MEW Bd. 1, 1976, S. 378; Hervorheb. Marx),
so ist das nur bedingt richtig. Wir haben im Theorie-Kapitel gesehen, dass der Mensch die »Religion« zwar macht, indem er die für ihn unerklärlichen Phänomene »fetischisiert«, sie objektiviert und diese Objektivierung schlägt dann als objektive Gegebenheit auf ihn zurück und bestimmt dadurch die Daseinsweise und Lebensverhältnisse der vormodernen Menschen real, sie wird zur »Realmetaphysik« (Kurz). Abstrakt-allgemein formuliert: „Diese Analogie wäre freilich bloß eine metaphorische, wenn Religion als Muster eines reinen Ideenhimmels, die Warenform dagegen als Muster handfester materieller Verhältnisse zu gelten hätte. Sobald man aber die historische Dimension einbezieht, erweist es sich, dass die vermeintlichen »religiösen Nebelwelten« der Vorgeschichte, der Antike und des so genannten Mittelalters durchaus reale Verhältnisse konstituierten, also die jeweilige Reproduktion des irdischen menschlichen Lebens und seiner sozialen Zusammenhänge formten“ (Kurz 2012, S. 70f.; Hervorheb. Kurz). 240
Wenn wir uns das obige Zitat von Lu und Yan noch einmal anschauen, bringen sie das, was abstrakt-allgemein formuliert wurde, ganz konkret zum Ausdruck. Genau das macht die Qualität der Theorie der Geschichte als Geschichte von Fetischverhältnissen aus: die abstraktallgemeinen Kriterien können an die vergangenen, konkreten Verhältnisse angewandt werden. Es kann auf dieser abstrakten Ebene überprüft werden, ob sie mit den vergangenen Gegebenheiten übereinstimmen – oder auch nicht.91 Hingegen könnte man in Bezug auf 91
Die radikale Wertabspaltungstheorie nimmt für sich in Anspruch, sich selbst in Frage zu stellen, denn: „Die Wahrheit ist nicht absolut relativ, sondern relativ absolut. Relativ ist nur das Verhältnis der spezifisch historischen Situationen zueinander, in gewisser Weise absolut aber die Wahrheitsfindung innerhalb einer solchen Situation“ (Kurz 2014, S. 67). Ich nenne hier zwei Beispiele. Die Wertkritiker der ersten Stunde mußten erfahren, dass neben dem Wert eine Abspaltung existiert, d. h., alles das, was nicht unter die Verwertung des Werts subsumiert werden kann, fällt dem weiblichen Geschlecht anheim, wie z. B. Kindererziehung, häusliche Tätigkeiten i. w. S. etc. Als „Dank“ wird das weibliche Geschlecht dafür inferior gesetzt, da es unproduktiv im Sinne der Kapitalverwertung ist. Diese neue von Roswitha Scholz ans Licht gebracht Erkenntnis war für einige Wertkritiker eine schmerzliche Erfahrung, für andere eine anregende. Dieses Theorem, erstmals in einem Aufsatz formuliert, schloß eine wesentliche Lücke in der Theoriebildung (vgl. Scholz, Roswitha 1992. Der Wert ist der Mann. exit-online.org/druck.php?tabelle=schwerpunkt&posnr=20). Eine andere Lücke harrt noch darauf geschlossen zu werden, aber ein Anfang ist gemacht. Nunmehr soll die Psychologie in die Wertabspaltungstheorie integriert werden (vgl. dazu Wissen, Leni 2017. Die sozialpsychische Matrix des bürgerlichen Subjekts in der Krise. Eine Lesart der Freud’schen Psychoanalyse aus wert-abspaltungskritischer Sicht. In: Exit! 14 2017, Angermünde). Auf den Punkt gebracht: Solange die Menschen unter den Bedingungen von Fetischverhältnissen leben, muss sich eine radikale Theorie weiter241
das obige Zitat und die noch nachfolgenden sagen, dass das Autorengespann eine theoretische Selbstdemontage begangen hat. „As Chinese civilization progressed, religious ideas and techniques also underwent profound changes. The cosmos was divided into two different parts: that of the living and that of the spirits and ghosts. The oracle bone inscriptions suggest that by the time of the Shang dynasty, a chief deity, Shang Di, who had charge of all the gods, had already emerged. The Shang royal family and the nobility ingeniously combined the two systems of worship into one, integrating the worship of Shang Di with the worship of clan ancestors based on kinship ties. Thus the king became the son of Shang Di, who had the mandate of heaven to rule over the human world. After his death, the Shang monarch returned to Shang Di’s side and continued to be worshipped by his descendants. This kind of Shang Di – ancestral spirits worship became the major ideological support of the Shang dynasty. From the tens of thousands of oracle bone inscriptions we have, it is also clear that the spirits affected everything that people did; all matters were the concern of the spirits, and divinations were required to determine their instructions. Thus, a professional group who controlled divination and shamanistic activities became the conduit between heaven and the human world, conducting special ceremonies, with particular rules and their own special paraphernalia. These diviners were important members of the royal family and were under the direct control of the Shang king. Thus, political (sic; RGP) and spiritual power were integrated, with
entwickeln, will sie neue Erkenntnisse zutage fördern. Anders geht es nicht. Ein Anbiedern an den Zeitgeist verbietet sich. 242
the royal capital as the political (s. o.) center. The ruler and the shaman were also brought together, and this system in which religious thought – the ancestors and Shang Di – and the rites were integrated with the clan and lineage system was the hub of Shang social and political (s. o.) authority“ (Lu/Yan 2005, S. 168f.).92
In diesem Zitat bringen Lu und Yan eindeutige Beweise für die »Existenz einer übersinnlichen Sphäre«, für »Fetischverhältnisse«, die eine unhintergehbare »apriorische Matrix« bilden. Übersetzen wir die konkreten Befunde der beiden Autoren ins Abstrakt-Allgemeine, so finden wir alle theoretischen Kriterien wieder, wie sie in Geschichte als Aporie und in den entsprechenden Kapiteln von Geld ohne Wert formuliert wurden, zusammengefasst im vorliegenden TheorieKapitel. »Shangdi«, als »Obergottheit«, überwachte und „befehligte“ alle anderen »Götter und Geister«. Durch die Integration der Verehrung von »Shangdi« und den »Clan-Ahnen« wurde der Shang-König der Sohn von »Di«, und er erhielt das »Mandat des Himmels«, das ihm das Recht gab, die menschliche Welt zu beherrschen. Der Shang-König wurde somit zum »personifizierten Stellvertreter bzw. Repräsentanten Shangdis« auf Erden, eine Notwendigkeit, da, wie wir wissen, »Götter und Geister« empirisch nicht fassbar sind. Wenn Lu und Yan dann sagen, dass »Shangdi« und die »Geister der Ahnen« der ShangDynastie ideologische Unterstützung gewährten, dann offenbaren sie damit, dass sie das »transzendente göttliche Prinzip«, das sie phänomenologisch richtig beschreiben, in seinem innersten Kern gar nicht 92
Die Auffassung von Lu und Yan in Bezug auf das Verhältnis der ShangKönige zu »shangdi« wird nicht von allen Sinologen geteilt, wie wir weiter unten sehen werden, was aber der »Existenz eines übersinnlichen Wesens« in der Shang-Dynastie keinen Abbruch tut. 243
verstanden haben, denn der »Glaube an übersinnliche Kräfte und Mächte« war, wie wir gesehen haben, keine Ideologie, sondern »Realmetaphysik«. Nun verweisen die Autoren auf die „tens of thousands of oracle bone inscriptions“ (s. o.) aus denen eindeutig hervorgeht, dass die »Geister« das Leben der Menschen in allen Lebensbereichen bestimmten – kommt einem irgendwie bekannt vor! Da alle menschlichen Angelegenheiten von den »Göttern und Geistern« gelenkt wurden, bedurfte es der »Wahrsagung«, um ihre Anweisungen befolgen zu können. Nun wird es wieder interpretationsbedürftig: eine „professional group“ – eine berufsmäßige Gruppe?93 – „kontrollierte“ die »Weissagung« und die »schamanistischen Aktivitäten« stellten die Verbindung zwischen der »übersinnlichen Sphäre« und der irdischmenschlichen Welt her, wobei sich feststehende »Rituale«, unterstützt und begleitet durch besondere »Paraphernalien«, herauszubilden begannen. Es ist an anderer Stelle schon erwähnt worden, dass diese »Schamanen« unter der »Aufsicht des Herrschers« standen, denn die Könige hatten den Kontakt zur »übersinnlichen Welt« und die »Interpretation der Weissagungen« monopolisiert. Die Darstellung des »transzendenten göttlichen Prinzips« durch Lu und Yan endet in einer aus der ideologischen Mottenkiste herausgeholten Behauptung: 93
Entweder ist diese Formulierung etwas unglücklich gewählt worden oder aber hier wurde erneut eine moderne Kategorie rückprojiziert, was nicht ausgeschlossen werden kann, denn bei Chang findet sich eine Aussage, dass die frühen Schreibkundigen – „media people“ – die ersten gewesen seien, die damit ihren Lebensunterhalt verdient hätten (vgl. Chang 1983, S. 81). Im Etymologischen Wörterbuch der deutschen Sprache finden wir „Ein dritter Gebrauch von berufen geht zurück auf die Vorstellung, dass Geister durch die Nennung ihres Namens herbeigerufen werden“ (Kluge 1989, S. 77; Hervorh. im Original), was in etwa den Kern der Sache trifft. Professional ließe sich auch übersetzen mit „engaged in specific activity“ (Weiner/Waite 1995, S. 461). 244
politische und »spirituelle« Macht sollen integriert und die königliche Hauptstadt soll das politische Zentrum gewesen sein. Dieses System soll das Zentrum der sozialen und politischen Autorität der Shang dargestellt haben – nach Auffassung nicht nur von Lu und Yan. Hier offenbart sich erneut das absolute Unverständnis über das »transzendente göttliche Prinzip« und dem transzendentalen Prinzip. Die Gemeinsamkeit besteht darin, das weder die »Götterwelt« noch der Wert empirisch fassbar sind. Der Unterschied besteht u. a. darin, dass die »Religion« und die durch sie, besser durch die Menschen, hervorgebrachten »Fetischverhältnisse« anders konfiguriert waren als in der Moderne, was hinreichend in den entsprechenden Kapiteln dargelegt wurde. Es muss erneut die Frage gestellt werden: Gab es unter den „tens of thousands of oracle bone inscriptions“ (s. o.) auch nur den geringsten Hinweis auf eine „political authority“? In dem Abschnitt Western Zhou Cities gehen Lu und Yan auf die Bedeutung der »Ahnentempel« und der »verwandtschaftlichen Beziehungen« ein, wobei sie auch hier moderne Kategorien rückprojizieren (state, economic). „During the Western Zhou, temples were linked to palaces. Bronze inscriptions from the Western Zhou and other archaeological data reveal that there were ancestral temples of the Zhou royal family in Hao, Qiyi, and Luoyi. These temples were called Jinggong, Kanggong, Kangzhaogong, Kangmugong, Kangcigong, Zhoukang (,?; RGP) Yitaishi, and so on. The king was not the only one to build temples; the feudal lords and aristocrats of various ranks all built them in their palace areas. The clan ancestral temple was not just a place where the Zhou king worshipped his ancestors but also the sacred site for all kinds of important ritual activities, including audiences with the king, weddings, funerals, the offering of war captives, archery rituals, the con-
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ferring of titles on the lords of the various states or powerful families, and rewarding ministers for their services. In Western Zhou society, belief in ancestral deities was very strong. Consequently, the main part of the state capital was the palace area with the ancestral temple as its core. The temple was not only the reflection of a hierarchical lineage system but also a symbol of the perpetuity of the power of the Western Zhou. This kind of layout clearly indicates that a main function of the early Chinese city was ancestral worship, whereas its economic (sic; RGP) and commercial role was quite weak. The basic structure of the state capital in the Western Zhou was the combination of the royal palace and temple area with several clan settlements and lineage cemeteries“ (Lu/Yan 2005, S. 184f.).
Wir sehen, das der »Tempel« ein integraler Bestandteil des Palastes war und zwar nicht nur innerhalb der königlichen Familie, sondern nach Rängen abgestuft auch innerhalb der Aristokratie. Die Autoren verweisen darauf, dass der Herrscher im »Ahnentempel« nicht nur seine Vorfahren ehrte, vielmehr fanden dort alle wesentlichen »rituellen Aktivitäten« statt, ebenso Audienzen, Heiraten, Beerdigungen. Innerhalb der Palastanlage war der »Ahnentempel« der Mittelpunkt, man könnte auch sagen: das geistige Herzstück, denn der Glaube an die »vergöttlichten Ahnen« war in der Zhou-Dynastie tief verwurzelt, so tief, dass nach Lu und Yan die hauptsächlichste Funktion der frühen „chinesischen” Städte die »Ahnenverehrung« war, wobei die Ökonomie (sic; RGP) und der Handel kaum Bedeutung hatte. In dieser »Ahnenverehrung« offenbart sich erneut der »Glaube an übersinnliche Kräfte und Mächte«, die wie die Autoren selbst bekundet haben, alle Daseins- und Lebensverhältnisse der Menschen bestimmte.
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Kehren wir zu Chang Kwang-chih zurück. Nachdem er seine Behauptungen durch die eigene Beweisführung zunichte gemacht hat, wird er apodiktisch: „The lineage system of the Three Dynasties is not clearly understood, but the broad principle that political status was genealogically determined is not in question“ (Chang 1983, S. 16).
Es ist schon ein Erlebnis: lang und breit lässt sich Chang über die Geburt der Ahnherren der drei Dynastien aus, die, wie er selbst an Hand »mythischer Erzählungen« zeigt, auf »übernatürliche Weise« das Licht der Welt erblickten und von ihren Nachfahren als quasi »Gottheiten« verehrt wurden, um dann die »Abstammungslinie« zu politisieren und als Beweis präsentiert er ausgerechnet die »genealogische Determination«. Um diese neuerliche Behauptung zu untermauern, führt Chang ein hypothetisches Beispiel an: „At some point in the royal lineage’s life there would arise reasons for sending one of its male members away from the royal domain to establish a new polity. He would be a brother, an uncle, or a cousin of the ruler, and he might be accompanied by a sizable group of people in order to relieve population pressure, to open up new arable land, or to shore up defense. Whatever the reason, he would be sent off with (a) his clan affiliation and emblem, (b) several groups of lineage members of one or more clans to provide both agricultural and industrial labor (sic; RGP) and military (sic; RGP) force, (c) title to the land of his newly established domain, (d) a new name for his new polity, and (e) ritual symbols and paraphernalia both to continue his ritual affiliation with his father’s lineage and to manifest his new independence. In the new land he would build a new temple, in 247
which his own tablet would eventually be placed as that of the founder of the new lineage. Thus, a new line of lineage segments would be initiated; they would be secondary lineages with respect to the stem lineage from which they had broken off, and their political (sic; RGP) as well as ritual status would likewise be secondary. This process of branching off would be repeated to form tertiary, quaternary, and subsequent levels of lineage segments. Such a system of segmentary lineages was thus also a system of decreasing political (sic; RGP) statuses“ (ebd.).
Schauen wir uns die von Chang angeführten Punkte eingehender an. Der neue Herrscher zieht mit seinem Gefolge und seinem »Emblem« in dieses Territorium ein. Das »Emblem« hat eine besondere Bedeutung und dürfte von Chang nicht von ungefähr an die erste Stelle gesetzt worden sein. Marcel Granet hebt die besondere Bedeutung des »Emblems« hervor, deshalb soll er ausführlich zu Wort kommen: „Des Fürsten erste Pflicht ist es, der Menschheit jene Embleme zu zeigen, mit deren Hilfe sie die Natur zu zähmen vermag. Denn die Embleme geben ja Auskunft über die Persönlichkeit eines jeden Wesens und über seine Zugehörigkeit und seine Stellung im Kosmos. Indem er allen Dingen seine richtige (cheng) Bezeichnung (ming) verlieh, »auf dass das Volk über die verfügbaren Hilfsquellen unterrichtet werde«, hatte Huang-ti in der Morgendämmerung der chinesischen Kultur den Ruhm eines Gründerheroen erlangt. »Die Namen richtigstellen (cheng ming)« ist in der Tat die erste der fürstlichen Obliegenheiten. Der Herrscher hat den Auftrag, sowohl die Dinge als auch die Taten zu ordnen: Er stimmt die Handlungen auf die Dinge ab. Dies gelingt ihm mit einem Schlag, wenn er die Bezeichnungen (ming), d. h. die Wortklänge und die Schriftzeichen (ming)
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= die Zeichen festlegt“ (Granet 1980, S. 32f.; Hervorh. Granet).
Dass ein Herrscher ohne seine Gefolgschaft kein neues Gebiet in Besitz nehmen kann, bedarf keiner Erklärung. Allerdings ist die Bedeutung des »Emblems« erklärungsbedürftig. Wie aus dem obigen Zitat ersichtlich, stellen die »Embleme« den Bezug zum »Kosmos« her: „über die Persönlichkeit eines jeden Wesens“ (s. o.). Damit meint Granet offensichtlich sowohl Pflanzen,94 Tiere und Menschen – und „über seine Zugehörigkeit und seine Stellung im Kosmos“ (s. o.; Hervorh. RGP). Diese »Embleme« verweisen eindeutig auf ein »transzendentes göttliches Prinzip«. Dazu noch einmal Granet: „Huang-ti, der erste Herrscher, begann seine Tätigkeit, indem er die Gesellschaftsordnung begründete; er teilte jeder Familie einen Namen zu, wodurch deren Tugend (>virtus