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German Pages 426 [428] Year 1986
Die Frankfurter Schule und die Folgen Referate eines Symposiums der Alexander von Humboldt-Stiftung vom 10.-15. Dezember 1984 in Ludwigsburg herausgegeben von
Axel Honneth und Albrecht Wellmer
w DE
G Walter de Gruyter · Berlin · New York 1986
Internationale Fachgespräche veranstaltet durch die Alexander von Humboldt-Stiftung Bonn-Bad Godesberg
Gedruckt auf säurefreiem Papier (alterungsbeständig — pH 7, neutral)
C
- Kur^titelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Die Frankfurter Schule und die Folgen : Referate e. Symposiums d. Alexander-von-Humboldt-Stiftung vom 10. —15. Dezember 1984 in Ludwigsburg / hrsg. von Axel Honneth u. Albrecht Wellmer. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1986. Internationale Fachgespräche / Alexander-von-Humboldt-Stiftung) ISBN 3-11-010805-4 NE: Honneth, Axel [Hrsg.]; Alexander-von-Humboldt-Stiftung
© 1986 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30 Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf fotomechanischem Wege (Fotokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin Printed in Germany Gedruckt mit Unterstützung der Alexander von Humboldt-Stiftung
Geleitwort Der vorliegende Band versammelt 27 Beiträge von Wissenschaftlern aus 11 Ländern. Die ausländischen Autoren sind Forschungsstipendiaten und Preisträger der Alexander von Humboldt-Stiftung (AvH). Auf Einladung der Stiftung kamen sie vom 10. bis 15. Dezember 1984 nach Ludwigsburg zu dem 9. Fachsymposium der AvH, um über ihre Forschungsarbeiten zu berichten und mit deutschen Fachkollegen zu diskutieren. Die Symposien sind Teil des Förderungsprogramms der AvH, das einen langfristigen Forschungsaufenthalt ausländischer Wissenschaftler in der Bundesrepublik Deutschland und anschließend eine zeitlich unbegrenzte Förderung nach Rückkehr ins Heimatland vorsieht. Damit will die AvH nicht nur hochqualifizierte Forscher individuell fördern, sondern darüber hinaus die intensive Zusammenarbeit zwischen der ausländischen und deutschen Forschung ermöglichen. Daher nehmen an den Fachsymposien auch deutsche Wissenschaftler teil, die den Forschungsstipendiaten und Preisträgern als Gastgeber und Gesprächspartner in Deutschland zur Verfügung standen. Dabei wurden bisher Strafrecht und Strafrechtsreform, die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert, die neuere deutsche Literatur, die internationale Zusammenarbeit im Grenzbereich von Theologie und Philosophie, die neueren Entwicklungen im öffentlichen Recht und Themen der Archäologie sowie der Vor- und Frühgeschichte und schließlich des Internationalen Privatrechts und Wirtschaftsrecht behandelt. Die Übersicht über die ausländischen Teilnehmer an diesem Symposium läßt sogleich erkennen, aus welchen Ländern besonders zahlreiche Geisteswissenschaftler von der AvH gefördert wurden. Während es bei der Auswahl der AvH-Geisteswissenschaftler keinerlei festgelegte Quoten oder unausgesprochene Präferenzen für bestimmte Länder oder Fächer gibt, werden aber doch traditionelle Verbindungen zur deutschen Philosophie und Gesellschaftswissenschaft sichtbar. Das Thema des Fachsymposiums „Die Frankfurter Schule und die Folgen" gewinnt wieder an Aufmerksamkeit, da die kritische Theorie seit einigen Jahren wieder im Mittelpunkt des Interesses steht — nicht nur in verschiedenen Disziplinen, sondern auch in Ländern unterschiedlicher gesellschaftlicher Strukturen. Nach der Erschütterung der philosophischen Überzeugungen, die in den letzten Jahren wie selbstverständlich wirkten, liegt es heute nahe, sich für die Antworten zu interessieren, die die Frankfurter Schule in ihren verschiedenen Phasen und Disziplinen zu dem
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Geleitwort
Problem der gesellschaftlichen Rationalität gegeben hat. Die Stiftung hatte die Hoffnung, mit dem Symposium die internationalen Fachgespräche zu beleben. Den ausländischen und den deutschen Teilnehmern des Fachsymposiums sei hier noch einmal für die Mitarbeit und für die wahre Internationalität der Diskussionen und Gespräche gedankt. Ein besonderer Dank gilt Herrn Professor Albrecht Wellmer, Konstanz, und Herrn Dr. Axel Honneth, Frankfurt, die nicht nur als Diskussionsleiter während des Symposiums sondern auch als Herausgeber des Sammelbandes sich besondere Verdienste erworben haben. Die oft schwierige Redaktion der Manuskripte und Ergänzung vieler Fußnoten und Nachweise brachte erhebliche Belastungen für die Herausgeber. Dafür, daß das Fachsymposium überhaupt geplant und durchgeführt werden konnte, danken wir dem Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft, der die Reihe der Symposien von Anfang an durch finanzielle Zuwendungen ermöglichte. Juni 1986 Dr. Heinrich Pfeiffer Generalsekretär der Alexander von Humboldt-Stiftung
Vorwort der Herausgeber Die internationale Aufmerksamkeit, die die Kritische Theorie heute in der Philosophie und den Sozialwissenschaften genießt, hat die Alexander von Humboldt-Stiftung ermutigt, ein Fachsymposium zum Thema „Die Frankfurter Schule und die Folgen" zu veranstalten; zu dieser Konferenz, die vom 10. bis 15. Dezember 1984 in Ludwigsburg stattfand, waren 64 ehemalige Humboldt-Stipendianten und ^einige deutsche Wissenschaftler geladen. Das Ziel des Symposiums^ war es, anhand einer Reihe von Referaten und Diskussionsbeiträgen die historische Entwicklung, die internationale Wirkung und schließlich das theoretische Potential der Frankfurter Schule zu erörtern; die Fragestellung war fächerübergreifend angelegt, so daß Wissenschaftler aus unterschiedlichen geisteswissenschaftlichen Disziplinen Beiträge leisten konnten. Der Aufbau des Kongresses ergab sich zwanglos aus den Interessenschwerpunkten der Kritischen Theorie: die Referate waren auf Diskussionsgruppen aufgeteilt worden, die sich jeweils den Schwerpunkten der Philosophie, der Gesellschaftswissenschaften und der Ästhetik widmeten. Dazu eingeladen, einen Dokumentationsband dieses Symposiums zusammenzustellen, standen die beiden Herausgeber vor einer schwierigen Aufgabe. Sei mußten, um einen lesbaren und überblickbaren Band herausgeben zu können, aus der Gesamtmenge der vorgelegten Referate einen repräsentativen Ausschnitt auswählen. Von drei miteinander konkurrierenden Gesichtspunkten konnten sie sich dabei leiten lassen: zum einen waren solche Beiträge zu bevorzugen, deren theoretische Qualität und sachliches Problembewußtsein außer Frage stand; nur so war zu gewährleisten, daß der Band überhaupt von Einfluß auf die gegenwärtige Diskussion über die Kritische Theorie sein konnte. Zum zweiten aber war auch der internationalen Zusammensetzung des Symposiums Rechnung zu tragen; nach Möglichkeit sollten alle beteiligten Länder durch Referate in dem Sammelband vertreten sein, um dadurch einen Überblick über die verschiedenen Wege der Rezeption der Kritischen Theorie geben zu können. Schließlich war auch auf solche Beiträge Rücksicht zu nehmen, die, auch wenn sie in der Durcharbeitung nicht ganz überzeugten, so doch durch die Neuartigkeit ihres Interpretationsansatzes von Interesse für die heutige Diskussion sein konnten. Die Herausgeber konnten sich nicht dazu entschließen, nur einen der drei genannten Gesichtspunkte, insbesondere den ersten oder zweiten, bei der Auswahl der Referate zu berücksichtigen; so ergibt sich der Inhalt
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Vorwort der Herausgeber
des hier vorliegenden Bandes aus einer flexiblen Anwendung aller drei Kriterien. Diesen Dokumentationsband hat Herr Dr. Pfeiffer, Generalsekretär der Humboldt-Stiftung, ermöglicht; bei den Herausgebertätigkeiten hat uns Herr Dr. Papenfuss von der Humboldt-Stiftung tatkräftig geholfen. Beiden möchten wir für ihre Hilfe herzlich danken. Juni 1986
Axel Honneth Albrecht Wellmer
Inhalt Geleitwort Vorwort der Herausgeber
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I. Eröffnung Podiumsveranstaltungen und Einzelvorträge IRING FETSCHER (Frankfurt) Zur aktuellen politischen Bedeutung der Frankfurter Schule . . .
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JÜRGEN HABERMAS (Frankfurt) Drei Thesen zur Wirkungsgeschichte der Frankfurter S c h u l e . . .
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GAJO PETROVIC (Zagreb) Die Bedeutung der Frankfurter Schule heute
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ALBRECHT WELLMER (Konstanz) Die Bedeutung der Frankfurter Schule heute
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IRVING WOHLFARTH (Eugene/Oregon) „Das Leben lebt nicht". Adornos Pathos — am Beispiel der Minima Moralia Postscriptum: Habermas contra Horkheimer/Adorno contra Habermas
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GAJO PETROVIC (Zagreb) Die Frankfurter Schule und die Zagreber Philosophie der Praxis
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II. Arbeitsgruppe Philosophie ALFRED SCHMIDT (Frankfurt) Die ursprüngliche Konzeption der Kritischen Theorie im frühen und mittleren Werk Max Horkheimers
89
THOMAS MCCARTHY (Evanston) Philosophie und Wissenssoziologie. Zur Aktualität der Kritischen Theorie
113
Inhalt
SEYLA BENHABIB (Boston) Zur Dialektik von Glück und Vernunft. Max Horkheimers frühe Moralphilosophie
128
MARIE FLEMING (London/Ontario) Habermas, Marx and the Question of Ethics
139
PAVEL PETR (Melbourne) Negation, Subjekt—Objekt, Praxisbezug: Dialektik in Frankfurt, Prag und Moskau 151 DICK HOWARD (Stony Brook/New York) Hermeneutik und Kritische Theorie: Aufklärung als Politik . . . 167 HOTIMIR BURGER (Zagreb) Anthropologie als Anhaltspunkt der Kritischen Theorie
179
III. Arbeitsgruppe Gesellschaftstheorie ANDREW ARATO (New York) Autoritärer Sozialismus und die Frankfurter Schule
193
JOHANN P. ARNASON (Melbourne) Die Dialektik der Aufklärung und die postfunktionalistische Gesellschaftstheorie
207
IRING FETSCHER (Frankfurt) Zur kritischen Theorie der Sozialwissenschaften in Adornos „Minima Moralia" 223 FURIO CERUTTI (Florenz) Philosophie und Sozialforschung. Zum ursprünglichen Programm der kritischen Theorie
246
KEITH TRIBE (Keele) Franz Neumann in der Emigration: 1933 — 1942
259
ZORAN DJINDJIC (Belgrad) Kontinuität der Liberalismuskritik von Marx bis zur Frankfurter Schule
275
STANISLAW CZERNIAK (Warzawa) Die Ideologielehre Max Horkheimers (1930—1938) und ihre paradigmatische Bedeutung für die frühe Frankfurter Schule 285 LOLLE NAUTA (Groningen) Heuristischer Wert und Unwert der Dialektik
299
Inhalt
JOSE MARIA RIPALDA (Madrid) Das gesellschaftliche Subjekt in der Frankfurter Schule und heute
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IV. Arbeitsgruppe Ästhetik VIKTOR ZMEGA£ (Zagreb) Adorno und die Wiener Moderne der Jahrhundertwende
321
MANFRED JURGENSEN (Brisbane) Adornos Literaturkonzept
339
ANDREI CORBEA-ÜOISIE (Ja§i) Zur Rezeption der Frankfurter Schule in der Konstanzer Schule der Rezeptionsästhetik
353
KVETOSLAV CHVATIK (Konstanz) Herbert Marcuse und Karel Teige über die gesellschaftliche Funktion der Kunst 367 DAVID FRISBY (Glasgow) Walter Benjamins Urgeschichte der Moderne: eine Rekonstruktion 384
Autorenverzeichnis
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Verzeichnis der Symposiums-Teilnehmer
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I. Eröffnung: Podiumsveranstaltungen und Einzelvorträge
IRING FETSCHER (Frankfurt)
Zur aktuellen politischen Bedeutung der Frankfurter Schule Historizität und Aktualität der Arbeiten von Horkheimer, Benjamin, Adorno und Marcuse kann man von verschiedenen Seiten aus zu Gesicht bekommen. Für mich ist am einleuchtendsten, wenn man diese als eine Reihe von Problematisierungen und Aktualisierungen von Ansätzen der Marxschen Kritik interpretiert. Daß sie auf den Schriften „westlicher Marxisten" wie Karl Korsch und Georg Lukacs aufbauen, ist allgemein bekannt. Unter den übrigen geistesgeschichtlichen Einflüssen sind in erster Linie die deutsche idealistische Philosophie — namentlich Kant und Hegel —, die Husserlsche Phänomenologie (für Marcuse und Adorno) und die Psychoanalyse sowie — allein für Benjamin — die jüdische Theologie zu nennen. Etwas schematisch vereinfacht könnte man sagen, daß alle genannten Autoren in den folgenden vier Gesichtspunkten Marx modifizieren und korrigieren: Erstens wird zwar die Marxsche „Kritik der politischen Ökonomie" rezipiert, aber von ihrem sozialen Substrat, dem die „Verwirklichung der Emanzipation" zugeschrieben wurde, dem Proletariat, gelöst. Zweitens wurde — vor allem von Benjamin und Adorno — der Focus der Kritik am Industriekapitalismus von einer Kritik an dessen voraussehbarer Stagnation (so Marx im 3. Band des „Kapital") auf eine Kritik an dessen ungebrochener expansiver Dynamik, die ihn „auf ferne Sterne einstürmen" läßt, verlagert. Nicht das Erlahmen der Produktivkraftentwicklung, sondern die zunehmende, unheilvolle Zerstörung von Mensch und Natur wurde als zentraler Kritikpunkt ausgemacht. Drittens wurden die Instrumente einer Ideologiekritik bürgerlicher Kultur und Moral durch produktive Anleihen bei der psychoanalytischen Theorie verfeinert und differenziert. Auf diese Weise gelang es ihnen weit eindrucksvoller als orthodoxen Marxisten, die Ambivalenzen des Fortschritts (die „Dialektik der Aufklärung") herauszuarbeiten. Viertens wurden durch die Einbeziehung sozialpsychologischer Überlegungen die Mängel vulgärmarxistischer (soziologistischer) Faschismusdeu-
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Ir'ng Fetscher
tungen korrigiert und das „Rätsel des Massenanhangs" einer auf Autodestruktion gerichteten Bewegung damit der Lösung nähergebracht. Dieser Fortschritt bestand in einer ähnlichen Verfeinerung des Reflexionsniveaus wie desjenigen, der von der Religion als „Priesterbetrug" zur Marxschen Ideologiekritik geführt hatte. Während in dem sowjetmarxistischen Erklärungsversuch der Faschismus (und Nationalsozialismus) nichts anderes ist als die Etablierung der direkten Herrschaft durch die „reaktionärsten Teile des Monopol- und Finanzkapitals", das mit Hilfe seiner ihm dienstbaren Propagandaapparate die Massen „manipuliert", vermag die kritische Theorie (unter Verarbeitung psychoanalytischer Einsichten) eine Antwort auf die Frage zu geben, wie es zu jener Kanalisierung von unbewußten Triebenergien kommen konnte, die Menschen noch ihre totale Unterdrückung als „Befreiung" erstreben und erleben läßt. Lassen Sie mich diese vier Thesen kurz erläutern: 1. Die Ablösung der Marxschen Ökonomiekritik von ihrem sozialen Substrat, dem Industrieproletariat, war zunächst weniger die Folge einer erkenntniskritischen Korrektur des Marxschen Ansatzes als eine Konsequenz der Realgeschichte: Während in dem bäuerlichen Rußland eine politische Elite ihre Diktatur „im Namen" eines nicht vorhandenen Industrieproletariats errichtet hatte, war der revolutionäre Elan der Arbeiterklassen in den entwickelten Industriegesellschaften mehr und mehr verlorengegangen, so daß sie in Italien und Deutschland nicht einmal den Faschismus zu verhindern vermochten. Endlich hatte die Keynesianische Wirtschaftspolitik und der labouristische Wohlfahrtsstaat (samt seiner amerikanischen Variante, Roosevelts „New Deal") eine weitgehende Integration der Arbeiterklasse der fortgeschrittenen Industrienationen in die „bürgerliche Gesellschaft" ermöglicht. Die von Marx zwar geschichtsphilosophisch — kaum jedoch wissenschaftlich — begründete Erwartung, daß die „assoziierten Produzenten" durch eine Revolution zugleich sich und die übrige Gesellschaft von den Verhaltenszwängen der kapitalistischen Produktionsweise emanzipieren werden, hatte sich historisch nicht bewahrheitet. Während die Massen im Westen den Marxismus allenfalls in einer vereinfachten und revidierten Gestalt aufzunehmen bereit waren, wurde den Untertanen des Landes des „real existierenden Sozialismus" ein dogmatisierter und damit seiner kritischen Potenzen beraubter Marxismus (-Leninismus) als Staatsideologie oktroyiert. Wer den kritischen Gehalt der Marxschen Theorie bewahren wollte, konnte sich keiner der beiden Richtungen der Arbeiterbewegung anschließen. Ihrer Tendenz nach waren daher die Arbeiten der „Frankfurter Schule" von Anfang an „häretisch" in bezug auf den „institutionellen Marxismus", auch wenn einzelne Mitarbeiter des „Instituts für Sozialforschung" zeitweilig sogar Mitglieder der Kommunistischen Partei waren (Wittfogel, Sorge)
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und sich bis in die dreißiger Jahre hinein gelegentlich traditionellmarxistische Formulierungen — z. B. bei Horkheimer — finden. 2. Von größter auch aktueller Bedeutung ist — meines Erachtens — die Verschiebung des Focus der Kritik, die am deutlichsten bei Walter Benjamin und Theodor W. Adorno zu erkennen ist. [Auf diesen Punkt werde ich ausführlicher in meinem morgigen Referat eingehen.] (S. 223ff.) Trotz seiner durchaus vorhandenen Einsicht in die Gesundheits- und Natur-zerstörenden Folgen der industriekapitalistischen Entwicklung war Marx davon überzeugt, daß die immanente Dynamik dieser Produktionsweise mehr positive als negative historische Bedeutung habe und vor allem deshalb kritisiert werden müsse, weil diese Dynamik (auf Grund des „tendenziellen Falls der Profitrate") erlahmen werde, noch bevor „die Produktivkräfte ausreichend genug entwickelt sind, um die Bedürfnisse gesellschaftlich entwickelter Individuen zu befriedigen": „Es treten daher Schranken für sie ein schon auf einem Ausdehnungsgrad der Produktion, der umgekehrt unter der andren Voraussetzung weitaus ungenügend erschiene" (MEW 25, S. 269). Heute sieht die Lage in den entwickelten Industrieländern erheblich anders aus. Nicht der „tendenzielle Fall der Profitrate" und die damit einhergehende Begrenzung des ökonomischen Wachstums ist zum aktuellen Hauptproblem geworden, sondern umgekehrt die noch immer ungebrochene Wachstumsdynamik einer oligopolistisch gewordenen Wirtschaft, die zu immer gefährlicheren Belastungen für Mensch und Natur geführt hat. Horkheimer und Adorno haben in der „Dialektik der Aufklärung" (l 947) zwar nicht die naturzerstörende Dynamik der Wirtschaftsweise, wohl aber die Ambivalenz des mit ihr zusammenhängenden naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts und der ihm zugrundeliegenden bürgerlichen Denkweise aufgezeigt. Sie schrieben dort u. a.: „Diesem ... Denken aber wird die Rechnung präsentiert: die Weltherrschaft über die Natur wendet sich gegen das denkende Subjekt selbst, nichts wird von ihm übriggelassen, als eben jenes ewig gleiche Ich denke, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können. Subjekt und Objekt werden beide nichtig ... In der Reduktion des Denkens auf mathematische Apparatur ist die Sanktion der Welt als ihres eigenen Maßes beschlossen. Was als Triumph der subjektiven Rationalität erscheint, die Unterwerfung alles Seienden unter den logischen Formalismus, wird mit der gehorsamen Unterordnung der Vernunft unters unmittelbar Vorfindliche erkauft" (S. 39, Hervorhebung von mir). Das „unmittelbar Vorfindliche", das rationalistisches (schließlich positivistisches) Denken dieser Art nicht mehr übersteigen kann, ist aber nicht „Natur" schlechthin, sondern auch jener zur „zweiten Natur" gewordene Zustand der Gesellschaft, der zugleich die verabsolutierte Stellung positivistischer Rationalität hervorgerufen und sanktioniert hat. Die Kritik am Positivismus als des dem bürgerlichen „Siegeszug" und seiner Ambivalenz korrespondierenden Denkens setzt hier an.
Fetscher
Walter Benjamin hat die Notwendigkeit einer kritischen Kehrtwendung in der Bewertung der kapitalistischen Produktionsweise wie des Sozialismus in einem — seit einiger Zeit oft zitierten — „Denkbild" zusammengefaßt: „Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotive der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse" (Gesammelte Schriften 1,3, Frankfurt 1974, S: 1232). Will man dieses „Denkbild", wie Benjamin solche metaphorischen Formeln gerne nannte, extensiv interpretieren, so kommt man zu einer vollständigen Abkehr von der Marxschen Revolutionstheorie. Was jene als problematische Randerscheinungen der bürgerlichen Revolution verstand, das wird dann als Ausdruck für deren eigentlich gemeinten Sinn begriffen. 3. Der Aufweis der „Ambivalenz des Fortschritts" wurde, als 1944 die „Dialektik der Aufklärung" (unter dem Titel „Philosophische Fragmente") erschien, kaum schon in seiner ganzen Bedeutung verstanden. Heute ist diese Einsicht umso wichtiger, als offensichtlich die Gefahr besteht, daß aus einer durchaus begreiflichen emotionalen Ablehnung von Industrie, Wissenschaft und Zweckrationalität ein neuer Irrationalismus und Primitivismus sich entwickelt, der die unschätzbaren Errungenschaften von Aufklärung, Vernunft und bürgerlicher Freiheit (im Rechts- und Verfassungsstaat) wieder zunichte machen kann. Kritiker der Ambivalenzen des Fortschritts sind heute die weitaus besseren Verteidiger jener Errungenschaften als die Apologeten des „industriellen Fortschritts ohne wenn und aber". Was die „kritische Theorie" — lange vor Foucault und angemessener als jener — sichtbar gemacht hat, kann man auf die Formel „Fragwürdigkeit und Unvollständigkeit der bürgerlichen Befreiung, Widerspruch zwischen Versprechen und Einlösung der Ideale der bürgerlichen Revolution" bringen. Freilich war auch schon der frühe Marx von diesem Widerspruch ausgegangen, hatte ihn aber nicht bis in seine feinsten Verästelungen und Ursprünge hin verfolgt und war daher — teilweise — selbst jener Ambivalenz wieder zum Opfer gefallen. Eine unfundierte fortschrittsgläubige Adaptation der Hegeischen Geschichtsdialektik und deren „materialistische" Anwendung hatte Marx für jene tieferen Ambivalenzen blind gemacht. Die Instrumente der psychoanalytischen Kulturtheorie eröffneten eine Möglichkeit, über die Marxsche Konzeption hinauszugehen. Die Weiterentwicklung der kritischen Theorie — bei Marcuse und Habermas — setzt mit unterschiedlichen Akzenten und Methoden an dieser Stelle an. Es geht darum, sowohl ein anderes „Subjekt" für eine gelingende Emanzipation zu finden, als auch die naive Geschichtstheorie (mit ihrem lediglich am Kollektivsubjekt Menschheit und an welthistorischen Klassen orientierten Schema) durch eine differenziertere Evolutionstheorie zu ersetzen. 4. Das psychoanalytische Instrumentarium und an ihm geschulte Befragungsmethoden erlaubten es Angehörigen des „Instituts für Sozialfor-
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schung", die seelischen Dispositionen sichtbar zu machen, die zu einer massenhaften Anfälligkeit für autoritäre Herrschaft und totalitäre Systeme führen. Max Horkheimer hat in „Egoismus und Freiheitsbewegung" den Zusammenhang von repressiver Moral und bürgerlicher Kultur aufgewiesen. Er illustriert ihn am Beispiel „bürgerlicher Führer" wie Cola di Rienzo, Martin Luther, Maximilien Robespierre. Der „philosophische Polizeimann Dutard", den Matthiez in seiner Geschichte der Französischen Revolution erwähnt, habe offenbar Einsichten von Freud vorweggenommen, als er feststellte: „Ich muß sagen, daß diese Hinrichtungen in der Politik die größten Wirkungen hervorrufen, aber die wichtigsten bestehen darin, aas Ressentiment des Volkes wegen der von ihm ertragenen Übel %u beruhigen. Es übt dadurch seine Rache aus. Die Frau, die ihren Gatten verloren hat, der Vater, der seinen Sohn verloren hat, der Kaufmann, der kein Geschäft mehr hat, der Arbeiter, der alles so teuer bezahlen muß, daß sein Lohn sich beinahe auf nichts reduziert, lassen sich nur herbei, sich mit den Übeln, die sie bedrücken, zu versöhnen, wenn sie Menschen sehen, die noch unglücklicher sind als sie und in denen sie glauben, ihre Feinde zu erblicken" (Matthiez, La Revolution Frangaise, Paris 1928, Bd. III, S. 81 f.). Diese Aussage des „Polizeimanns Dutard" kann beinahe schon als Erklärung für die Popularität der Verfolgung von Minderheiten — insbesondere der Juden — herangezogen werden. Sigmund Freud hat, wie Horkheimer anmerkt, mehr als hundert Jahre später die gleiche Ansicht theoretisch fundiert: „Die Analyse der psychischen Mechanismen, durch die Haß und Grausamkeit erzeugt werden, ist in der modernen Psychologie hauptsächlich von Freud angebahnt worden ... Aus seiner ursprünglichen Lehre leuchtet ein, daß die gesellschaftlichen Verbote unter den gegebenen familialen und allgemeinen sozialen Bedingungen geeignet sind, den Menschen auf einer sadistischen Triebstufe festzuhalten oder ihn dahin zurückzuwerfen" (Egoismus und Freiheitsbewegung, in: Kritische Theorie, Bd. II, S. 73, Hervorhebung von mir). In einer Fußnote (ebend.) verweist Horkheimer — ein einziges Mal, soweit ich sehe — auf die theoretische „Fortführung innerhalb der Psychoanalyse" durch Wilhelm Reichs „Massenpsychologie des Faschismus" (Kopenhagen 1933) und erklärt seine Übereinstimmung „in vielen Punkten . . . seiner psychologischen Deutung einzelner Züge des bürgerlichen Charakters", bezweifelt allerdings die ausschließliche Relevanz der „Sexualunterdrückung", deren Aufhebung Reich „fast utopische Bedeutung" zuschreibe. Auch dieser theoretische Ansatz der „älteren" Frankfurter Schule ist — trotz seiner praktischen Anwendung in „Autorität und Familie" (Paris 1936) und „The Authoritarian Personality" (New York 1950) — unvollendet geblieben und von späteren Autoren auch außerhalb der „Frankfurter Schule" aufgegriffen und kritisch modifiziert worden.
JÜRGEN HABERMAS (Frankfurt)
Drei Thesen zur Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule 1. Kennzeichnungen wie „Kritische Theorie" oder „Frankfurter Schule" suggerieren die Einheit eines Schul^usammenhangs, der, mit Ausnahme weniger Jahre in New York, nie bestanden hat. Allerdings erklärt die weitgehend fiktive Einheit dieser Forschungstradition einen Teil ihrer relativ großen Wirkung (a). Ein weiterer Teil des Erfolges erklärt sich aus den vielfältigen Verbindungen, die die Kritische Theorie mit anderen Forschungsrichtungen eingegangen ist (b).
Erläuterungen zu: a) Horkheimer ist aus dem Kreise des alten Instituts der einzige, dessen produktive Leistungen nur im Zusammenhang der Kooperation mit anderen gewürdigt werden können. Er hat als Leiter des Instituts und als Herausgeber der Zeitschrift für Sozialforschung den organisatorischen Zusammenhalt des Kreises gesichert. Horkheimer vereinigte die Fähigkeiten eines originellen Sozialphilosophen mit denen eines cleveren Direktors und Wissenschaftsmanagers, der begabte Mitarbeiter zusammenführen, programmatisch inspirieren und verhältnismäßig lange an die eigene Person binden konnte. So bleibt Horkheimers Lebenswerk mit dem institutionellen Kontext verflochten. In anderer Weise kann man einen ähnlich engen Zusammenhang nur noch für Leo Löwenthals Arbeiten behaupten. Marcuse stammt akademisch aus Heideggers nächstem Umkreis; er steht während der gemeinsamen New Yorker Zeit gewiß unter Horkheimers Einfluß, verhält sich aber schon zur „Dialektik der Aufklärung" distanziert; und geht dann, spätestens seit „Eros and Civilization", mit einer triebtheoretischen, beinahe anthropologischen Grundlegung der kritischen Gesellschaftstheorie eigene Wege. Adornos philosophische Arbeiten haben sich von Anbeginn stärker mit Benjamins als mit Horkheimers Interessen und Gedankenmotiven berührt. Ihrer beider Intentionen decken sich nur zur Zeit der Ausarbeitung der „Dialektik der Aufklärung" (obgleich die einzelnen Kapitel deutlich den jeweiligen Autoren zugeordnet werden können). Mit seiner Spätphilosophie steht Adorno ganz auf eigenen Füßen. Offensichtlich hat Adorno in der zweiten Frankfurter Zeit von Horkheimer keine produktiven Antöße mehr empfangen. Die Arbeiten von Fromm,
Drei Thesen zur Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule
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Kirchheimer und Neumann waren zu jeder Zeit eigenständig. Das wird bei Pollock nicht so deutlich, weil sich der engere Kreis dessen einzigen produktiven Beitrag — die Theorie des Staatskapitalismus — umstandslos zu eigen gemacht hat. b) Diese Responsivität gegenüber anderen, absorptionsfähigen Ansätzen ist typisch für alle Entwicklungsphasen der Frankfurter Theorie. Horkheimers und Löwenthals Bereitschaft, Fromms Sozialpsychologie im Ansatz zu übernehmen, ist sogar für die Konstituierung des ursprünglichen Programms, wie es sich im ersten Heft der Zeitschrift darstellt, entscheidend gewesen. Benjamins eigentümlicher Messianismus und seine mikrologische Arbeitsweise werden über Adorno rezipiert. Die stärker orthodoxe Staatsund Rechtstheorie von Kirchheimer und Neumann wird zwar nicht übernommen; die Auseinandersetzung mit ihr hinterläßt aber Spuren vor allem bei Marcuse und Pollock. In Fragen der Psychoanalyse beharrt der engere Kreis freilich in Abgrenzung gegen die Ich-Psychologie auf orthodoxen Positionen. Natürlich wird die Rezeptionsbereitschaft und vor allem die Integrationsfähigkeit der Kritischen Theorie in der nächsten Generation noch stärker herausgefordert. Hier stellen sich Verbindungen her zur Industriesoziologie (G. Brand), zum klassischen Materialismus (A. Schmidt), zu Hermeneutik und Sprachanalyse (J. Habermas), zur analytischen Wissenschaftstheorie (A. Wellmer, H. Schnädelbach), zur Systemtheorie (C. Offe) und zum Strukturalismus (U. Oevermann). 2. Die kritische Theorie verdankt ihre Durchset^ungskraft weiterhin dem Umstand, a) daß sich ihre Wirkungsgescbicbte auf verschiedenen Ebenen vollzieht und h) daß die verschiedenen Entwicklungsphasen Anschlüsse für gan^ heterogene Fortsetzungen bieten.
Erläuterungen zu: a) Wie zuletzt die umfassende Studie von Martin Jay über „Marxism and Totality" (Berkeley 1984) gezeigt hat, nimmt die Kritische Theorie in ihren verschiedenen Repräsentanten und Spielarten einen zentralen Platz in der Geschichte des westlichen Marxismus ein, der von Gramsci, Lukacs und Korsch über Sartre und Merleau-Ponty bis zu Althusser, Delia Volpe und beispielsweise O. Negt reicht. Horkheimer nimmt Motive des frühen Lukacs auf, distanziert sich aber vom Hegeischen Totalitätsdenken und begründet so einen Webermarxismus. Auf einer anderen Ebene hat die Kritische Theorie in ihrer Adornoschen Version zeitweise als philosophische Modeströmung gewirkt; vergleichbar dem Existentialismus in der frühen Nachkriegszeit, hat Adornos Kulturkritik in den späten 50er und während der 60er Jahre die intellektuelle Szene in der Bundesrepublik nachhaltig geprägt. Auf einer dritten Ebene hat die von Studenten wiederentdeckte
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Jürgen Habermas
und (gegen die politischen Intentionen von Horkheimer und Adorno) wiederbelebte Kritische Theorie der 30er Jahre, hat vor allem auch Marcuses tief pessimistisch angelegte, erst von seinen Schülern ins Offensive gewendete Theorie des „Eindimensionalen Menschen" zeitgeschichtliche Bedeutung erlangt; sie haben bekanntlich einen inspirierenden Einfluß auf die Anfänge der studentischen Protestbewegung sowohl in den USA wie in der Bundesrepublik gewonnen. Davon ist viertens die Ebene der innerakademischen Wirkung zu unterscheiden. Für den Kommunikationszusammenhang der sozialwissenschaftlichen Emigranten war die „Zeitschrift für Sozialforschung" in den dreißiger Jahren von großer Bedeutung — das läßt sich schon an dem eindrucksvollen, von Löwenthal besorgten Rezensionsteil der Zeitschrift ablesen. In den USA hat die „Authoritarian Personality" erhebliche methodologische Diskussionen ausgelöst. Im Nachkriegsdeutschland haben die vor allem unter dem Einfluß von L. v. Friedeburg zustandegekommenen Studien des wiedererrichteten Instituts für Sozialforschung eine anregende Wirkung für die Industriesoziologie, überhaupt für die Anwendung empirischer Methoden entfaltet. Durch den Positivismusstreit, auch durch die späteren Auseinandersetzungen mit den konkurrierenden Ansätzen der philosophischen Hermeneutik auf der einen, der Systemtheorie auf der anderen Seite, hat die Kritische Theorie auf die Neubestimmung des methodologischen Selbstverständnisses mehrerer sozial- und geisteswissenschaftlicher Disziplinen eingewirkt. b) Interessanterweise stammen die Anstöße, die von der Kritischen Theorie für die gegenwärtige Diskussion ausgehen, aus verschiedenen Phasen. Das Programm des interdisziplinären Materialismus, mit dem Horkheimer die Institutsleitung übernommen hatte, ist zwar nur auf der Ebene der Organisation von Zeitschriftenartikeln verwirklicht worden; es hat aber weiterhin als Vorbild gewirkt — bis hin zu dem krisentheoretischen Forschungsprogramm des Starnberger Instituts, das ich in den „Legitimationsproblemen" dargestellt habe. In der New Yorker Zeit, vor allem in der zweiten Hälfte der 30er Jahre, sind die erkenntnistheoretischen Arbeiten entstanden, an die später A. Schmidt, A. Wellmer, H. Schnädelbach und, durch mich vermittelt, K. O. Apel angeknüpft haben. Die 40er Jahre stehen im Zeichen der „Dialektik der Aufklärung", die seit dem Ende der 50er Jahre kontinuierlich, d. h. für jede Studentengeneration von neuem, als Anknüpfungspunkt für eine totalisierende, selbstbezügliche Vernunftkritik gedient hat. In den 50er und 60er Jahren sind schließlich Marcuses und Adornos Hauptwerke entstanden, mit denen beide, Adorno freilich in stärkerem Maße, auf die gegenwärtige Diskussion einwirken. 3. Heute wirken in der wissenschaftlichen Diskussion die von der Kritischen Theorie ausgehenden Anstöße in so viele verschiedene, manchmal entgegengesetzte Richtungen,
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daß von der Identität einer Schule, wenn sie je bestanden hat, keine Rede mehr sein kann. Die suggestive Fiktion eines einheitlichen Schul^usammenhangs sollte nicht %u viele Energien für das Unternehmen der ideengeschichtlichen Selbsttbematisierung binden. Wir tun besser daran, uns den Problemen selbst %u%uwenden, um aus^uprobieren, wie weit man mit der rücksichtslos revisionistischen Ausschöpfung des Anregungspotentials einer derart weitverzweigten Forschungstradition kommt.
Zur Erläuterung: In der Bundesrepublik — und auf diesen Bereich beschränke ich mich vor einem internationalen Publikum, das die Entwicklung jeweils im eigenen Land besser beurteilen kann als ich — sehe ich heute fünf Diskussionszusammenhänge, in denen Positionen der Kritischen Theorie eine erhebliche Rolle spielen. (1) Die in der „Dialektik der Aufklärung" und der „Negativen Dialektik" entwickelte Vernunftkritik wird a) im Sinne einer negativistischen Bestimmung der Vernunft fortgeführt, und zwar in einer soziologischen Version im Anschluß an die Kapitalformanalyse (z. B. von St. Breuer) sowie in einer philosophischen Version im Anschluß an das Erbe der negativen Theologie von M. Theunissen. Diese Vernunftkritik wird b) mit kommunikationstheoretischen Mitteln reformuliert, und zwar im Rahmen der Theorie des kommunikativen Handelns von J. Habermas, im Rahmen einer Diskursanalyse von H. Schnädelbach. c) Im Sinne einer totalisierenden, ans Andere der Vernunft appellierenden Vernunftkritik wird sie neuerdings auch an Foucaults Machttheorie oder an Derridas Dekonstruktivismus oder allgemein an strukturalistische Ansätze angenähert (M. Seel). (2) Adornos Ästhetische Theorie hat nicht nur in Peter Szondis Werk eine bedeutende literaturtheoretische Ergänzung erhalten; sie steht auch weiterhin im Mittelpunkt einer breiten Diskussion, die in der Bundesrepublik durch P. Bürger, K. H. Bohrer und A. Wellmer angeregt wird, an der aber auch R. Jauß, R. Bubner, B. Lindner u. v. a. teilnehmen. Damit überschneidet sich die lebhafte, seit den späten sechziger Jahren nie ganz abgerissene Diskussion über Benjamins Stellung, die auch durch G. Scholems Publikationen angefacht worden sind. Neue Anregungen erhält die ästhetische Diskussion von Seiten der Dekonstruktivisten, die immer stärkere Parallelen zwischen Adorno und Benjamin einerseits, Derrida andererseits entdecken. (3) Ironischerweise sind heute die Ansätze zu einer kritischen Gesellschaftstheorie am schwächsten ausgebildet. Es ist nicht ganz untypisch, daß das Institut für Sozialforschung seine Arbeit nach Adornos Tod auf Sohn-Rethelsche Überlegungen umgestellt hat. Verschiedene Motive werden freilich fortgeführt: die Kritik des Warenfetischismus und der entfremdeten Arbeit bei Negt und Kluge, die Theorie des kapitalistischen
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Jürgen Habermas
Staates bei Offe und Berger, die Kritik der Massenkultur und die Sozialpsychologie bei Oevermann (und in den USA bei W. Leiss, J. Benjamin, D. Kellner, T. Schroyer u. a.). Aber der Versuch, das interdisziplinäre Programm einer Gesellschaftstheorie, die verschiedene empirische Ansätze (der Soziologie, Kulturanthropologie, Sozial- und Entwicklungspsychologie) zusammenführt und integriert, ist zwar in Starnberg noch einmal unternommen worden, aber gescheitert. Übriggeblieben ist das am Ende der „Theorie des kommunikativen Handelns" skizzierte Forschungsprogramm (das ich immer noch für realistisch halte). (4) Die interessanten methodologischen Überlegungen zu mikrologischen und ganzheitlich-qualitativen Fallstudien, die Adorno immer wieder angestellt und sowohl in seinen Analysen zur F-Skala wie in den literaturkritischen Arbeiten fruchtbar gemacht hat, haben noch nach dem Kriege im Institut für Sozialforschung Experimente mit Gruppendiskussionen (W. Mangold) angeregt. Diese Überlegungen werden heute, in einem strukturalistisch-sozialisationstheoretischen Rahmen, von U. Oevermann fortgeführt. W. Bonß hat sie im Lichte ethnomethodologischer Einsichten aktualisiert. (5) Im Laufe der 70er Jahre ist die Kritische Theorie in ihren verschiedenen Aspekten und Versionen zum Gegenstand sensibler und sorgfältiger historischer Untersuchungen gemacht worden (H. Dubiel, W. Bonß, A. Honneth, A. Söllner, H. Brunkhorst, R. Wiggershaus). Diese wissenschaftsgeschichtliche Verfremdung zeigt, daß orthodox-ungebrochene Fortsetzungen schwieriger werden (H. Schweppenhäuser, R. Tiedemann). Es ist zu begrüßen, daß inzwischen auch die historisch gerichteten Untersuchungen durch komparative Fragestellungen systematische Perspektiven in sich aufnehmen (Dubiel: Neokonservativismus; Honneth: Foucault und Poststrukturalismus; Brunkhorst: Kulturtheorie und Sozialpädagogik).
GAJO PETROVIC (Zagreb)
Die Bedeutung der Frankfurter Schule heute Was immer unter der „Frankfurter Schule" verstanden wird, es ist etwas sehr wichtiges, allzugroß und allzukompliziert für eine kurze Stellungnahme. Zwar haben die Organisatoren dieser Tagung die an uns gerichtete Frage über die Frankfurter Schule in zwei Beziehungen begrenzt: die Frage fragt nicht nach der Frankfurter Schule überhaupt, sondern nach ihrer Bedeutung, und zwar nicht nach ihrer Bedeutung für alle Zeiten, sondern nach ihrer Bedeutung heute. Ist aber heute so einfach von gestern und morgen, ist aber die gegenwärtige Bedeutung der Frankfurter Schule von der Bedeutung, die sie in vergangenen Dekaden gehabt hat, und von der, die ihr vermutlich noch in der Zukunft bevorsteht, zu trennen? Und ist die Frage nach ihrer Bedeutung ganz unabhängig von der Frage nach ihrem ,WasSein" (ihrem „Wesen" oder ihrer „Natur") zu beantworten? Ist es vielleicht schon festgestellt und allgemein bekannt, was die Frankfurter Schule überhaupt war und ist, so daß jetzt nur noch die Herausstellung ihrer Bedeutung übrig bliebe? Trotz den erwähnten Einschränkungen ist die aufgegebene Frage, wie es scheint, in einem kurzen Text nicht zu beantworten. Und doch hat Jürgen Habermas in seiner kurzen Einleitung1 die fast unmögliche Aufgabe auf eine meisterhafte Weise bewältigt. Fast alles wichtige über die Frankfurter Schule hat er klar und bündig gesagt. Daß die Kritische Theorie vielfältige Verbindungen2 mit anderen Forschungsrichtungen eingegangen ist (These l b), scheint mir ein unbestreitbarer Tatbestand. Daß sich die Wirkungsgeschichte der Kritischen Theorie „auf verschiedenen Ebenen vollzieht" (These 2 b) und daß ihre verschiedenen Entwicklungsphasen „Anschlüsse für gan% heterogene Fortsetzungen" bieten (These 2 a), kann ich unterschreiben. Daß die von der Kritischen Theorie ausgehenden Anstöße in der wissenschaftlichen Diskussion heute in sehr „viele verschiedene, manchmal entgegengesetzte Richtungen" wirken (These 1
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J. HABERMAS, „Drei Thesen zur Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule" (vgl. in diesem Band, S. 8-12). Kursivschrift (hier und weiter) von mir.
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3), scheint mir eine treffende Feststellung. Was die Aufzählung der fünf (m. E. nicht sehr zusammenhängenden} „Diskussionszusammenhänge" betrifft, in denen „Positionen der Kritischen Theorie (heute) eine erhebliche Rolle spielen", bin ich geneigt zu glauben, daß Habermas die fünf wichtigsten Punkte auf die bestmögliche Weise herausgehoben hat. Sicherlich hinkt meine Kenntnis der entsprechenden Einzeluntersuchungen in der Bundesrepublik seiner so weit hinterher, daß es mir nicht in den Sinn kommt, auch nur zu versuchen, seine Schematisierung zu korrigieren. Wie er sich in diesem Punkt „vor einem internationalen Publikum" bescheiden auf den Bereich der Bundesrepublik beschränkt hat, so muß ich auch in dieser Frage die eventuelle Kritik oder Korrektur den deutschen Fachkollegen überlassen. Im Zusammenhang mit dieser vorzüglichen Darstellung erhebt sich aber für mich eine Frage, die ich nicht überzeugend bei Habermas beantwortet finde: Ist diese so große Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule — auf verschiedenen Ebenen, mit ganz heterogenen Fortsetzungen, mit Anstößen in manchmal entgegengesetzte Richtungen und mit Befruchtung der nichtzusammenhängenden Diskussionszusammenhänge — doch irgendwie zu erklären oder zu verstehen? Bei vielen großen Philosophen hat man ähnliche, zwar nicht so ganz heterogene Wirkungsgeschichten schon gesehen, und viele von diesen Wirkungsgeschichten könnte man auch wenigstens teilweise erklären. So wurde der Hauptgrund manchmal in der Komplexität, Vielfältigkeit, Tiefsinnigkeit oder Ausdrucksunklarheit des großen Denkers gefunden, manchmal in der Inkonsequenz oder Widersprüchlichkeit seines Grundprojekts. Kann ein Grund auch für die heterogene Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule entdeckt werden? Eine gewisse Erklärung dafür gibt andeutungsweise auch Habermas, und zwar zusammenfassend in der These l a und aspektweise in den anderen. Wenn ich ihn nämlich richtig verstehe, so handelt es sich ihm zufolge in der Frankfurter Schule um heterogen denkende Theoretiker und um sehr verschiedene Entwicklungsphasen, so daß die sogenannte „Schule" in der Tat eine „weitgehend fiktive Einheit" war. Kann so etwas als eine hinreichende Erklärung betrachtet werden? Wie könnte so eine „weitgehend fiktive Einheit" als eine weitgehend reale Einheit dekadenlang nicht nur von Außenstehenden, sondern auch von vielen „Insidern" aufgefaßt werden? Wie kann sie auch heutzutage, speziell von anderen, als eine eng verbundene Gruppe, fast als eine geschlossene Gesellschaft erlebt werden? Warum haben sich die Ausdrücke „Frankfurter Schule" und die „Kritische Theorie" weitgehend eingebürgert und so lange gehalten, ohne einen stärkeren Widerstand (abgesehen von zufälligen Nebenbemerkungen) hervorzurufen? Nun bedeutet auch eine „weitgehend fiktive Einheit" nicht ganz dasselbe wie eine „völlig fiktive Einheit". Ein Stück realer Einheit nimmt also
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auch Habermas mit in Kauf. Nur spricht er über die reale Einheit nicht allzuviel. Zwar erwähnt er vereinzelte und vorübergehende Gemeinsamkeiten bestimmter Vertreter der „Schule" in bestimmten Fragen und in bestimmten Perioden. Ist das aber alles? Meines Erachtens kann man bei der Frankfurter Schule nicht nur über vereinzelte Gemeinsamkeiten und Interessenüberschneidungen sprechen, sondern auch über ein gemeinsames grundlegendes Projekt, ein Projekt, das, nicht ganz ausdrücklich und ausführlich entworfen, doch die ganze Arbeit der Frankfurter Schule geleitet hat und obwohl es teilweise großartige Resultate hervorgebracht hat, doch im ganzen auf unüberbrückbare Schwierigkeiten gestoßen und gescheitert ist. Das Projekt war, kurz und einfach, den Marxismus in neuen geschichtlichen Bedingungen schöpferisch weiterzuentwickeln und für die Gesellschaftswissenschaft (oder Sozialforschung) und für die gesellschaftliche Praxis fruchtbar zu machen. Zwar war das nie so ganz klar und explizit gesagt worden; manchmal erwähnte man namentlich Marx und den Marxismus, und manchmal wurden die beiden verschwiegen3. Die Gründe dafür waren in der Regel nicht wissenschaftlich und von reiner Wahrheitsliebe getragen, sondern eher „praktisch" und „taktisch" (um nicht zu sagen „opportunistisch"). Trotz der teilweise äsopischen Sprache war es den Beteiligten wie auch den Betrachtern im großen und ganzen klar, worum es ging. Hat die absichtliche, taktische Unklarheit des Ausdrucks zur realen, nicht beabsichtigten Unklarheit (zum Scheitern) des Denkens beigetragen? Das scheint wahrscheinlich. Schwerlich war es aber der Hauptgrund des Mißlingens — wenn so etwas überhaupt geschehen ist. Meines Erachtens ist etwas derartiges in der Tat geschehen. Die schöpferische Weiterentwicklung des Marxismus ist nicht gelungen. Statt dessen ist es zu verschiedenartigen eklektischen Kombinationen des ererbten Marxismus mit verschiedenen anderen Richtungen gekommen. So eine Entwicklung, wo es zu keiner durchdachten eigenen Konzeption kommt, betrachte ich als Scheitern, unabhängig davon, ob der resultierende Eklektizismus mehr oder minder „Erfolg" im Sinne von Verbreitung oder Einfluß hat. 3
So z. B. nachdem das Institut sich an der Columbia University eingerichtet hat, worüber MARTIN JAY schreibt: „Articles in the Zeitschrift scrupulously avoided using words like .Marxism' or .communism', substituting .dialectical materialism', or the .materialist theory of society' instead. Careful editing prevented emphasising the revolutionary implications of their thougt. In the Institut's American bibliography the title of GROSSMANN'S book was shortened to The Law of Accumulation in Capitalist Society without any reference to the ,law of collapse', which appeared in the original." (MARTIN JAY, The Dialectical Imagination. A History of the Frankfurt School and the Institute of Social Research 1923-50. Heinemann, London 1973, S. 44.)
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Der Hauptgrund des Scheiterns ist, wie mir scheint, nicht irgendwo außerhalb des Grundprojekts zu suchen. Er lag in seiner Grundvoraussetzung, d. h. im unkritischen Glauben, daß, was sich geschichtlich als der „Marxismus" entwickelt hat (und was vom Denken von Marx in der Tat grundverschieden ist), noch irgendwie berichtigt und schöpferisch weiterentwickelt werden könnte. In Perry Andersons Buch über den westlichen Marxismus4 hat die Frankfurter Schule ganz berechtigt einen wichtigen Platz bekommen. Und Habermas hat recht, wenn er, sich auf Martin Jay stützend, behauptet, daß die Kritische Theorie (diese „weitgehend fiktive Einheit" — G. P.) in ihren verschiedenen Repräsentanten und Spielarten einen zentralen Platz in der Geschichte des westlichen Marxismus einnimmt. Die Unterscheidung zwischen dem westlichen und dem nichtwestlichen Marxismus, die von M. Merleau-Ponty stammt und von verschiedenen Autoren verwendet wird, betrachte ich als eine interessante und wichtige. Und doch finde ich in dieser Problematik den Unterschied zwischen dem Marxismus (einschließlich dem westlichen) und dem Denken von Karl Marx selbst noch wichtiger. Eben diesen Unterschied haben, ebenso wie andere „Marxisten", auch die Frankfurter übersehen. Den genannten Unterschied habe ich in einer Reihe von Veröffentlichungen zu klären versucht, und hier kann ich ihn nur andeutungsweise angeben.5 Unter dem „Denken von Marx" verstehe ich das Denken von Karl Marx selbst, seine so ungenau genannte „Philosophie der Praxis", wie auch das Denken jener Denker, die, durch Marx angeregt, über die „Sache von Marx", die die Sache des gegenwärtigen Menschen und der gegenwärtigen Welt ist (nämlich die Revolution), selbständig zu denken versucht haben oder noch immer versuchen (wie z. B. Ernst Bloch, der junge Lukäcs, der späte Lefebvre, die jugoslawischen Praxis-Philosophen). Und unter der „Philosophie der Praxis" verstehe ich eben das Denken der Revolution, d. h. eine Philosophie, die philosophisch so weit und so radikal vorgeht, daß sie sich als Philosophie aufhebt, nicht aber so, daß sie sich in Wissenschaften auflöst, sondern sich auf eine höhere Ebene, zu einem wahren (wesentlichen) Denken erhebt, das die Revolution (nicht die Revolution im Sinne einer gesellschaftlichen Veränderung, sondern die Revolution im Sinne von wahrem Sein) zu denken imstande ist. Unter dem „Marxismus" verstehe ich dagegen eine entfremdete Gestalt des Marxschen Denkens, eine (etwas bessere oder schlechtere, mehr oder minder kritische, d. h. unkritische) Theorie (und/oder auch eine mit der 4
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PERRY ANDERSON, Über den westlichen Marxismus. Aus dem Englischen übersetzt von REINHARD KAISER, Syndikat, Frankfurt am Main 1978. Mehr darüber in meinen Büchern Philosophie und Revolution, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1971, und Miiljenje revolucije [Das Denken der Revolution], Naprijed, Zagreb 1978.
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Theorie verbundene oder von der Theorie abgelöste Methode), die von Marx zwar vielleicht vieles (auch Gutes, speziell aber Schlechtes und Unfruchtbares) übernommen hat, aber seinem Denken der Revolution wesentlich fern bleibt, weil sie seinen Gedanken der Aufhebung der Philosophie entweder ignoriert oder positivistisch mißdeutet, und so dem „Phänomen" (d. h. der Aufgabe) der Revolution nicht gewachsen bleibt. Der Marxismus in diesem Sinne beginnt mit Friedrich Engels, entwickelt sich in der Zweiten und der Dritten Internationale und erreicht seine radikal entfremdete Gestalt im Stalinismus. Dabei bestehen sicherlich große Unterschiede zwischen den beiden erwähnten Internationalen wie auch zwischen den einzelnen Theoretikern innerhalb der beiden Internationalen. Stalin z. B. ist sicherlich undenkbar ohne Lenin, aber er darf nicht mit Lenin identifiziert werden, weil seine Theorien teilweise eine folgerichtige Entwicklung und teilweise eine radikale Negation der Leninschen Theorien darstellen. Und trotzdem haben die Theoretiker der beiden Internationalen gewisse gemeinsame Züge und gewisse gemeinsame Grenzen gehabt. Das wird durch anscheinend abenteuerliche Entwicklungen verdeckt. So wird zunächst der Marxismus im Sinne von Engelsschen Äußerungen (wie derjenigen am Grabe von Marx) als eine Kombination des historischen Materialismus und der politischen Ökonomie aufgefaßt, dann wird den beiden als der dritte (oder eher als der „erste", der „grundlegende") Teil der „dialektische Materialismus" hinzugefügt. Sodann wird der Dialektische Materialismus in die Ecke geschoben und die Höchstautorität des Historischen Materialismus wiederhergestellt. Um seine Unzulänglichkeiten zu beseitigen, sucht man ihn durch die Verbindung mit anderen Theorien oder durch die Anwendung in der empirischen Sozialforschung zu befruchten. Man findet das unbefriedigend und versucht, ihn zu „rekonstruieren" oder auch neu zu gestalten. Trotz allen diesen Abenteuern der Theorie bleiben gewisse Züge oder wenigstens Tendenzen allen Phasen und Spielarten gemeinsam: die Auflösung der Philosophie in die Wissenschaft, Verzicht auf die kritische Ausweisung eigener Grundbegriffe und Grundprinzipien, die Besessenheit vom Historischen Materialismus, die deterministische Auffassung der Geschichte, die Auffassung des Menschen als eines ökonomischen Tieres, die Identifizierung der Praxis mit ihren entfremdeten (speziell politischen und ökonomischen) Formen, die Zurückführung der Revolution auf eine gesellschaftliche Umwälzung, die Auffassung des Sozialismus als einer sozioökonomischen Formation. Auch: die Abwesenheit einer durchdachten folgerichtigen Konzeption, die Unfähigkeit zu einem wahren Dialog mit Andersdenkenden, die eklektische Kombinierung verschiedener Theorien. Im Rahmen des so beschriebenen Marxismus hat sich auch die Kritische Theorie bewegt. Es wäre aber ungerecht zu sagen, daß sie sich in diesem Rahmen wohl fühlte oder daß sie die geerbte marxistische
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Konzeption unkritisch akzeptierte. In vielen Hinsichten war man unzufrieden und versuchte etwas besseres. So war schon der Versuch, die Psychoanalyse mit dem Marxismus zu verbinden, unabhängig vom Resultat, eine wichtige Neuerung. Auch was die Grundfragen betrifft, finde ich wenigstens zwei Versuche, den geerbten Rahmen des bisherigen Marxismus zu sprengen (bei dem frühen Marcuse und bei dem späten Adorno). Die beiden Versuche sind leider auf halbem Wege steckengeblieben. Wie weit der dritte Versuch, derjenige von Habermas, noch kommt, das möchte ich im Moment nicht voraussagen. Im großen und ganzen hat sich die Frankfurter Schule im geerbten Rahmen bewegt. Diese These kann ich hier wohl nicht beweisen. Ich kann sie bestenfalls verständlich und teilweise glaubwürdig machen. Als ein Musterbeispiel für die positivistische Auflösung der Philosophie in die Wissenschaften und für die unkritische Natur der Kritischen Theorie kann schon einer der grundlegenden Texte dienen — die berühmte Horkheimersche Antrittsvorlesung als Direktor des Instituts für Sozialforschung.6 Seine ziemlich lange Kritik an der gegenwärtigen Sozialphilosophie beginnt Horkheimer mit einem Rückgang auf den klassischen deutschen Idealismus, wo sich die „Sozialphilosophie, auf solche Weise verstanden, ... zur entscheidenden philosophischen Aufgabe entwickelt" hat (33). Und er kommt zum Schluß, daß dieser im deutschen Idealismus verwurzelten Auffassung der Sozialphilosophie „ein nicht mehr haltbarer Begriff der Philosophie" zugrunde liegt (40). Wo man über einen nicht mehr haltbaren Begriff der Philosophie spricht, da möchte man gerne etwas über einen noch immer oder eben jetzt haltbaren hören. Darüber sagt uns Horkheimer aber nichts. Es bleibt sogar unklar, ob so ein haltbarer Begriff der Philosophie überhaupt möglich ist und ob er einer guten Sozialphilosophie zugrunde gelegt werden soll oder erst auf Grundlage dieser gebildet werden kann. Im Laufe der Diskussion gebraucht Horkheimer ganz frei die Worte „Philosophie", „philosophische Disziplinen", „Sozialphilosophie", wir erfahren aber nichts darüber, wie diese Philosophie zu verstehen ist; wie und warum wird sie in „Disziplinen" geteilt, und in welchem Verhältnis steht die Sozialphilosophie zum Ganzen der Philosophie und zu anderen philosophischen Disziplinen? Über die Marxsche Idee der Aufhebung der Philosophie ebenso wie über spätere Versuche, die Philosophie zu überwinden, will er sich mit keinem Wort äußern. Nur über eine prinzipielle Frage (die kaum so isoliert zu entscheiden ist) äußert er sich ganz klar, nämlich über „das Verhältnis zwischen 6
„Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung", hier zitiert nach MAX HORKHEIMER, So^ialphilosophische Studien. Aufsätze, Reden und Vorträge 1930—1972, herausgegeben von WERNER BREDE, zweite Auflage, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1981 (Seitenzahlen eingefügt in den Text).
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philosophischen und entsprechenden einzelwissenschaftlichen Disziplinen" (40). Die Auffassung von der Trennbarkeit und der gegenseitigen Unabhängigkeit der beiden Reihen von Disziplinen wird angeblich „durch den Gedanken (ist, was folgt, wirklich ein Gedanke oder eher eine rettende Phrase? — G. P.) einer fortwährenden dialektischen Durchdringung und Entwicklung von philosophischen Theorien und einzelwissenschaftlicher Praxis überwunden" (40; überwunden oder vielleicht übersprungen? — G. P.). Und jetzt kommt die Begründung: „Dafür (für die eben zitierte Phrase — G. P.) bieten die Beziehungen von Naturphilosophie und Naturwissenchaft im ganzen wie auch innerhalb der einzelnen naturwissenschaftlichen Disziplinen gute Beispiele" (40). Nach dem guten Beispiel der Naturphilosophie (die hier ganz unproblematisch als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt wird) soll sich die ganze Philosophie und auch die „Sozialphilosopie" (ein-)richten! Wie das zu tun ist, wird auch beschrieben: „... aufgrund aktueller philosophischer Fragestellungen Untersuchungen zu organisieren, zu denen Philosophen, Soziologen, Nationalökonomen, Historiker, Psychologen in dauernder Arbeitsgemeinschaft sich vereinigen und das gemeinsam tun, was auf anderen Gebieten im Laboratorium einer allein tun kann, was alle echten Forscher immer getan haben: nämlich ihre aufs Große zielenden philosophischen Fragen anhand der feinsten wissenschaftlichen Methoden zu verfolgen, die Fragen im Verlauf der Arbeit am Gegenstand umzuformen, zu präzisieren, neue Methoden zu ersinnen und doch das Allgemeine nicht aus den Augen zu verlieren" (41). Die „feinsten wissenschaftlichen Methoden" sind sicherlich den feinsten wissenschaftlichen Fragen angemessen. Wie können sie aber auf „aufs Große zielende philosophische Fragen" angewendet werden? Welche „feinsten wissenschaftlichen Methoden" helfen den Sinn von Sein oder das Wesen des Menschen zu klären? Oder auch die Frage nach dem Sinn und der Möglichkeit der Erkenntnis? Ist diese Berufung auf „die feinsten wissenschaftlichen Methoden" nur ein Hinweis auf den Verzicht auf die „aufs Große zielenden philosophischen Fragen"? Wenn dem so ist, warum wird das nicht ausdrücklich gesagt? Wie ist nun das skizzierte Programm der interdisziplinären Sozialforschung zu beurteilen? Mit unerschrockener Selbstkritik spricht Habermas über die eigenen Erfahrungen: „... der Versuch, das interdisziplinäre Programm einer Gesellschaftstheorie, die verschiedene empirische Ansätze (der Soziologie, Kulturanthropologie, Sozial- und Entwicklungspsychologie) zusammenführt und integriert, ist zwar in Starnberg noch einmal unternommen worden, aber gescheitert."6* Warum ist aber der Versuch 6
"J. HABERMAS, „Drei Thesen zur Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule", a.a.O., S. 12.
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gescheitert? Weil die am Programm engagierten Kräfte dem Programm nicht gewachsen waren, oder weil das Programm selbst gewisse innere Unzulänglichkeiten enthielt? Im Horkheimerschen Projekt werden noch „philosophische Fragestellungen" und die „Philosophen" genannt. Im eben zitierten Satz von Habermas werden weder die philosophischen Fragen noch die Philosophen erwähnt. Ist dies eine Veruntreuung gegenüber Horkheimer oder die folgerichtige Durchführung seiner Grundideen? Unabhängig davon, ob sie im Programm waren, waren die Philosophen in der Frankfurter Schule immer vertreten. Dabei haben sie immer die leitende Rolle gespielt, es fragt sich nur wie. Wie es mir scheint, haben die Philosophen unter den Frankfurtern die Philosophie mehr von außen her, vorwiegend soziologisch gesehen. Vielleicht die einzige Ausnahme in der frühen Frankfurter Schule war in dieser Hinsicht Herbert Marcuse. Das haben aber die anderen nicht als sein Verdienst, sondern eher als seine Jugendsünde betrachtet. Bei den anderen war die Philosophie trotz der Polemik gegen den Positivismus grundsätzlich positivistisch in die Wissenschaft aufgelöst worden. Deshalb konnten sie auch zur Idee einer wahren Aufhebung der Philosophie durch die volle Entwicklung ihrer Möglichkeiten nicht gelangen. Jay sagt ganz richtig: „Of the major figures connected with the Institut, only Marcuse attempted to articulate a positive anthropology at any time of his career."7 Und er hat recht, wenn er über eine „abhorrence of ontology" in der ganzen Frankfurter Schule und speziell bei Adorno spricht8. Alfred Schmidt beschreibt sehr eindrucksvoll, wie „die Frankfurter Theoretiker von vornherein vor der leeren Tiefe sich philosophisch gebender Marx-Interpretationen bewahrt blieben, wie sie seit den frühen dreißiger Jahren" (d. h. angeregt durch die Veröffentlichung der Marxschen Pariser Manuskripte) „allenthalben aufkamen"9. Daß die Frankfurter Theoretiker mit Ausnahme von Marcuse und Fromm kein Verständnis für die Pariser Manuskripte gehabt haben (und daß die beiden erwähnten in ihrem Verständnis der Manuskripte nur bis zu einer gewissen Grenze gingen), ist allerdings wahr. Wo ist da aber der Anlaß, irgend etwas zu feiern? Ist es nicht nur ein Zeichen dafür, daß die Theoretiker der Frankfurter Schule in den Traditionen der Zweiten und der Dritten Internationale geblieben sind, wo man Marx angeblich von seiner „reifen" Position her verstand, wo man den „jungen Marx" als eine junghegelianische Jugendsünde abtat, und wo man ebenso fern vom
7
MARTIN JAY, The Dialectical Imagination, London 1973, S. 56.
8
Op. cit., S. 70.
9
ALFRED SCHMIDT, Die „Zeitschrift für Soyialforschung". Geschichte und gegenwärtige Bedeutung. Sonderheft der Nachrichten aus dem Kösel-Verlag, München 1970, S. 3.
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„jungen" wie auch vom „alten" Marx im „Historischen Materialismus" und im „ökonomischen Determinismus" verblieb. „Das Institut hat denn auch, wie gerade aus der Zeitschrift hervorgeht, eine Reihe wichtiger Studien durchgeführt, in denen die ökonomische Geschichtsauffassung — um sie handelt es sich bei der erörterten Frage — nicht abstrakt verkündet, sondern am Stoff selbst erprobt wird."10 So Alfred Schmidt, und wieder gibt er uns hier eine treffende Beschreibung. Offensichtlich ohne es zu wollen, schildert er in der Tat eine der Grundverlegenheiten der Frankfurter Schule. Man hat aus der marxistischen Tradition „die ökonomische Geschichtsauffassung" übernommen, und anstatt sie zunächst kritisch zu betrachten, um ihren Wert, ihre Unzulänglichkeiten und ihre Grenzen zu bestimmen, hat man sie nur „am Stoff selbst erprobt", als ob man durch Probieren im Denken sehr weit kommt. Nun möchte ich weder der „materialistischen" (bzw. „ökonomischen") Geschichtsauffassung noch den auf ihrer Basis durchgeführten Forschungen der Frankfurter Schule jeden Wert absprechen. Wie ich es schon mehrmals zu zeigen versucht habe, hat innerhalb einer Philosophie der Praxis bzw. eines Denkens der Revolution auch der historische Materialismus seinen Platz als ein „Moment" — als eine Kritik des selbstentfremdeten Menschen und der selbstentfremdeten Gesellschaft. Herausgerissen aus diesem Kontext und zu einer ganzen Philosophie der Geschichte oder zu einem Ersatz für die philosophische Anthropologie und/oder Ontologie (bzw. für die ganze Philosophie) erklärt, kann der Historische Materialismus sehr wenig leisten und sehr viel verkehren und verklären. Das haben auch die Frankfurter manchmal gesprürt. Bei der Erprobung des Historischen Materialismus sind sie auf viele Schwierigkeiten gestoßen und haben Auswege in verschiedenen Richtungen gesucht. Statt die ganze aus der Zweiten und der Dritten Internationale geerbte Konzeption in Frage zu stellen und sie einer grundsätzlichen Kritik zu unterwerfen, haben sie nur vereinzelte Korrekturen unternommen und bei verschiedenen anderen Richtungen Anleihen gemacht. In ein wahres Gespräch mit den produktivsten gedanklichen Strömungen der Gegenwart einzutreten ist nicht gelungen, und zwar aus demselben Grunde, aus welchem man nicht imstande war, die Tradition des Marxismus zu bewältigen — weil nämlich die eigene durchdachte Position fehlte. Ebenso wie andere „Marxisten" blieben die Frankfurter dem Denken von Marx fern. Von vornherein haben sie Marx mit den Augen der Zweiten und der Dritten Internationale betrachtet. Zeit und Lust sich etwas mehr und ohne feste Vormeinungen auf Marx einzulassen, haben sie nie gefunden. Daß man Marx nicht besser verstehen konnte, scheint 10
Op. dt., S. 11.
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auch damit verbunden zu sein, daß man auch von der vormarxschen Philosophie nicht lernen wollte. Man hat sich zwar herausgerissene Teile oder Aspekte von Kant und Hegel (und auch von anderen) angeeignet, das war aber in der Regel äußerlich, d. h. unangemessen getan. „Das Institut für Sozialforschung wird sich auch weiterhin bemühen, die Theorie der Gesamtgesellschaft und ihre Hilfswissenschaften zu fördern. Sein Mitarbeiterkreis, der sich aus jungen Gelehrten verschiedener Fächer zusammensetzt, erblickt in der Theorie einen Faktor zur Verbesserung der Wirklichkeit. Das begreifende Denken hat für die gesellschaftlichen Mächte keineswegs die gleiche Bedeutung: manchen unter ihnen gilt es mit Recht als schädlicher Ballast; die vorwärts strebenden Kräfte der Menschheit aber werden seiner nicht entraten können." So schrieb Horkheimer im September 1933 im Vorwort zur ersten in Paris herausgegebenen Nummer der Zeitschrift11. Waren es taktisch abgeschwächte und absichtlich vermummte Formulierungen? Ich möchte sie lieber als einen angemessenen Ausdruck der wahren Überzeugungen Horkheimers betrachten. So finde ich hier eine aufrichtige Entscheidung für den Fortschritt (die „vorwärts strebenden Kräfte"), einen wahren Meliorismus („Verbesserung der Wirklichkeit"), eine echte Wissenschaftstreue („Theorie der Gesamtgesellschaft und ihre Hilfswissenschaften zu fördern"), einen tiefen Glauben an die interdisziplinäre Zusammenarbeit („Gelehrte verschiedener Fächer") und ein Vertrauen auf die Jugend („junge Gelehrte"). Nur zwei „Sachen" fehlen in dieser kurzen Prinzipienerklärung: die Philosophie und die Revolution. Das ist auch nicht zufällig, weil die beiden zusammen (und mithin nicht zu diesem Projekt) gehören. Die „Theorie der Gesamtgesellschaft und ihre Hilfswissenschaften", speziell wenn sie eine (wenn auch begrenzt) kritische Theorie ist (was Horkheimer hier wohl voraussetzt und nicht direkt erwähnt), kann in der Tat einen wichtigen „Faktor" einer gewissen Verbesserung der Wirklichkeit darstellen, einer Verbesserung der bestehenden Gesellschaft, die keine grundsätzliche Veränderung ist. Nur ein philosophisches Denken, das sich in einem transphilosophischen Denken (in einem Denken der Revolution) aufhebt, kann auch ein „Faktor" (oder eher ein „Moment") einer grundsätzlichen, einer revolutionären Veränderung der Welt darstellen. Wer die Marxsche „Theorie" des Menschen als eines freien schöpferischen Wesens der Praxis und seine „Theorie" der Entfremdung (d. h. Selbstentfremdung) nicht ernst nimmt, kann auch keine „Theorie" der Revolution im vollen und wahren Sinn entwickeln. Sollen wir nun Entfremdung und Revolution nur deshalb lehren, um Marx treu zu bleiben? Sicherlich nicht. Eher um der gegenwärtigen Wirk11
Zeitschrift für So^ialforschung, Jahrgang II 1933, Heft 2, S. 161.
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lichkeit und auch um der Frankfurter Theoretiker willen. Nicht nur durch Resultate ihrer theoretischen Analysen, sondern auch durch die Art und Weise, wie sie gelebt und geforscht, gekämpft und gelitten, gehofft und gezweifelt, in vielen Richtungen sich versucht haben und zurückgeschrokken sind, haben sie überzeugend gezeigt und bezeugt, daß wir in einer verrückten Welt leben. Die Tendenz, sich dieser Welt „kritisch" anzupassen, innerhalb dieser Welt einen Standpunkt zu finden, wo man sich mit der Welt auseinandersetzen kann, ohne sie grundsätzlich in Frage zu stellen, ist eben der Grundmangel der Frankfurter Schule. Wie ich schon gesagt habe, kommen die Frankfurter in ihren besten Arbeiten in die Nähe von dem, was man die Philosophie der Praxis bzw. das Denken der Revolution nennen würde. Das gilt ebenso für Marcuse und Fromm wie auch für Horkheimer, Adorno, Benjamin und vielleicht noch für einige andere. Wenn sie aber manchmal bis zur Grenze gekommen sind, an welcher das dogmatische Gebäude des überkommenen Marxismus gesprengt werden sollte, machten sie immer einen Halt. Nur als ein Beispiel des Ringens zwischen den beiden Tendenzen möchte ich hier die Adornosche Negative Dialektik erwähnen. Schon der im Titel des Buches genannte Grundbegriff zeugt von einem tragischen Ringen und Scheitern. Statt den Begriff der Dialektik, der in der vorangegangenen Entwicklung schon nicht minder als der des Materialismus kompromittiert war, in Ruhe zu lassen, wählt Adorno ihn zu seinem Grundbegriff. Um zu zeigen, daß es ihm um etwas anderes geht, spricht er von einer „negativen Dialektik", wobei er dem überlieferten Begriff der Dialektik widerspricht. In diesen Widerspruch kommt er sicherlich nicht unwissentlich, sondern eben um klarzumachen, daß es ihm um eine ganz andere, nichtdialektische Dialektik geht. Wo es aber so weit gekommen ist; warum sollte er sich dann überhaupt an den Begriff der Dialektik binden? Ebenso wie Adorno die überlieferte Dialektik nicht akzeptieren will, will er sich auch nicht an den überlieferten Begriff des Materialismus binden. Doch ebenso wie er die Dialektik nicht verabschieden will, möchte er eine Art Materialismus vertreten. Trotzdem er den „zur politischen Macht gelangte[n] Materialismus" streng kritisiert12, will er doch bei der Auffassung bleiben, daß „das spezifisch Materialistische mit dem Kritischen, mit gesellschaftlich verändernder Praxis"13 konvergiert. Die Idee des jungen Marx, daß der Materialismus als solcher ebenso wie der Idealismus eine Einseitigkeit ist, die zu überwinden wäre, bleibt ihm jedoch fremd. 12
13
THEODOR W. ADORNO, Negative Dialektik, in: Gesammelte Schriften, Bd. 6, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1973, S. 204. Op. «/., S. 203.
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Zur selben Zeit, wo Adorno jede Ontologie als „apologetisch" verurteilt14, sehnt er sich nach einer Erkenntnistheorie15, als ob die traditionellen philosophischen Disziplinen so einfach in gute und schlechte zu teilen seien. Daß etwas mehr Wohlwollen aufzubieten wäre, um das Wichtige, was innerhalb der traditionellen philosophischen Disziplinen geleistet worden war, zu verstehen und etwas mehr Kritik, um die Grenze zu sehen, die eine disziplinär geteilte Philosophie nicht überschreiten kann, kommt ihm nicht in den Sinn. Daß Adorno mit dem Problem der philosophischen Disziplinen nicht fertig werden kann, scheint mit seiner allgemeinen Auffassung der Philosophie verbunden zu sein, einer Auffassung, die von einem nur teilweise verstandenen Marx ausgeht. Dafür ist der erste Satz seiner „Einleitung" symptomatisch: „Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward."16 Der Satz zeigt, wie sehr die von Marx angeregte Problematik der Verwirklichung der Philosophie Adorno am Herzen liegt. Der Satz zeigt aber auch, bis zu welcher Grenze er hier im Geiste von Marx denkt. Adorno scheint zu denken: Die Verwirklichung der Philosophie bedeutet ihren Tod und ist die Sache des Augenblicks. Wenn der Augenblick nicht versäumt wird, dann kann sich die Philosophie — indem sie sich verwirklicht — nicht mehr am Leben erhalten. Ich würde die ganze Sache vollkommen anders sehen: Soweit die Philosophie nur Philosophie bleibt, muß auch der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt werden. Um sich verwirklichen zu können, muß die Philosophie zunächst sich zum Denken der Revolution erheben. Und nachdem der Augenblick der Verwirklichung ergriffen ist, kommt kein Ende für die wahre (und sogar nicht für die „falsche") Philosophie. Erst dann kann die wahre Philosophie (das Denken der Revolution) voll zu blühen beginnen. Die obigen Bemerkungen dürfen keineswegs als eine „Analyse" oder Kritik von Adornos großartigem Buch betrachtet werden. Die Bemerkungen sollten in der Tat nur als eine Überleitung zur Endfrage dienen: Wo liegt also die Bedeutung der Frankfurter Schule heute? Wie ich es sehe, liegt ihre Grundbedeutung nicht in den fertigen Resultaten ihrer Analysen, sondern in ihren heroischen Versuchen, die gescheitert sind. Eben an solche Versuche (wie den erwähnten Adornoschen) sollte man anzuknüpfen versuchen, nicht um an derselben Grenze zu verbleiben, sondern sie eben zu überschreiten zu versuchen.
14 15 16
Op. fit., S. 69. Op. tit., S. 205. Op. tit., S. 15.
ALBRECHT WELLMER (Konstanz)
Die Bedeutung der Frankfurter Schule heute Thesen zur Podiumsdiskussion 1. Leo Löwenthal hat sich gelegentlich über den Ausdruck „Frankfurter Schule" lustig gemacht. Dieser Ausdruck hat, wenn man ihn auf den Arbeits- und Diskussionszusammenhang des Frankfurter Instituts für Sozialforschung bezieht und auf das, was direkt oder indirekt aus diesem Institut hervorgegangen ist, in der Tat weniger Berechtigung als etwa der Ausdruck „zweite Wiener Schule" zur Bezeichnung des Schönberg-Kreises. Schönberg war nicht nur die allseits anerkannte Autorität seines Kreises, sondern auch der Lehrer der jüngeren Mitglieder des Kreises, das „Schulhaupt" seines Kreises. Max Horkheimer dagegen, so sehr er auch in vieler Hinsicht Autorität unter den Mitgliedern des Instituts für Sozialforschung besaß, war kein Schulhaupt. Die „Frankfurter Schule" war keine Schule, sondern ein kollektives und kooperatives Projekt; das Projekt einer Erneuerung und Entwicklung einer kritischen Gesellschaftstheorie. Erst nach dem Krieg, das heißt nach der Rückkehr Horkheimers und Adornos aus dem amerikanischen Exil, also nach der Rückkehr des Instituts für Sozialforschung nach Frankfurt, entstand, und zwar vor allem aufgrund der Lehrtätigkeit von Horkheimer und Adorno, eine Frankfurter Schule. Deren Schulhäupter waren Horkheimer und Adorno. Daß Horkheimer und Adorno nach Frankfurt zurückkehrten, war, wie Jürgen Habermas bemerkt hat, ein außerordentlicher Glücksfall für das nicht nur materiell, sondern auch moralisch und intellektuell verwüstete Nachkriegsdeutschland. Insbesondere Adorno wurde zum Lehrer einer Generation von Intellektuellen, Literaten und Künstlern, die bei ihm — bei wem sonst? — „zur Schule gingen". Der Ausdruck „Frankfurter Schule" hat also durchaus seine Berechtigung; er paßt aber nicht auf das Unternehmen des Kreises um das ursprüngliche Institut für Sozialforschung; er paßt nicht auf das Werk von ehemaligen Mitgliedern dieses Kreises wie Leo Löwenthal, Herbert Marcuse oder gar Walter Benjamin. Löwen thai hat deshalb recht, wenn er sich dagegen verwahrt, das Wort „Frankfurter Schule" synonym mit „Kritischer Theorie" zu verwenden. 2. Trotz dieser einschränkenden Vorbemerkung möchte ich das Thema dieser Podiumsdiskussion zunächst so aufnehmen, wie es formuliert wurde;
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also nicht: „Die Bedeutung der Kritischen Theorie heute", sondern: „Die Bedeutung der Frankfurter Schule heute". Nach Philosophenart möchte ich das Thema aber noch ein bißchen umwenden. „Die Bedeutung der Frankfurter Schule heute" — das könnte heißen: „Die Bedeutung der Frankfurter Schule aus heutiger Sicht". Dies wäre ein hochinteressantes Thema für eine geistes- und kulturgeschichtlich orientierte Diskussion über die Anfangsphase der Bundesrepublik bis hin zur Studentenbewegung der sechziger Jahre. Zu untersuchen wären nicht nur die Bedeutung von Horkheimer und Adorno für das Selbstverständnis der Studentenbewegung und für das Wiederaufleben eines „westlichen" Marxismus in Deutschland, sondern auch die kaum zu überschätzende Bedeutung Adornos für die Diskussionen und das Selbstverständnis der musikalischen, literarischen und künstlerischen Avantgarde Nachkriegsdeutschlands. Nicht wenige von deren Vertretern haben in Adornos Seminaren gesessen. Zur Charakterisierung von Adornos Wirkung wäre das Wort „Eingriffe" — Titel einer seiner Essaysammlungen — nicht schlecht gewählt. Spuren solcher „Eingriffe" finden sich nicht nur in der Musikdiskussion seit den fünfziger Jahren, sondern an zahllosen anderen Stellen — bis hin zu den Filmen Alexander Kluges oder dem literarischen Werk von Botho Strauß. Innerhalb der kulturellen Szene der Bundesrepublik war Adorno mehr als ein vielbeachteter Kritiker und philosophischer Kommentator; er war vielmehr derjenige, der an den reaktionär verseuchten Traditionen der deutschen Kultur ihr Authentisches wieder freigelegt und dem Bewußtsein einer moralisch verstörten und in ihrer Identität gebrochenen Nachkriegsgeneration zugänglich gemacht hat. Es ist, als ob alle Anstrengungen dieser von den Nazis vertriebenen Intellektuellen sich darauf gerichtet hätten, den Deutschen ihre kulturelle Identität zu retten: Mit Adorno wurde es in Deutschland wieder möglich, intellektuell, moralisch und ästhetisch gegenwärtig zu sein und doch Kant, Hegel, Bach, Beethoven, Goethe oder Hölderlin nicht zu hassen. Auf diese Weise hat Adorno mehr als andere dazu beigetragen, dem allzu oft apologetisch verwendeten Begriff eines „anderen Deutschland" einen legitimen Sinn zu geben. Seine konservativen Kritiker haben dies bis heute nicht verstanden. So oder ähnlich könnte man argumentieren, wollte man über die Bedeutung der Frankfurter Schule aus heutiger Sicht sprechen. Ich denke aber, daß die Veranstalter dieser Diskussion ein anderes Thema im Sinn hatten, nämlich: die Bedeutung der Frankfurter Schule für die Gegenwart. Dieses Thema aber bedeutet soviel wie die Frage: Wie steht es denn nun mit der Kritischen Theorie heute? Und diese Frage läßt sich nicht mehr aus historischer Distanz, sondern nur noch von innen, aus der Sache heraus beantworten. Allerdings wäre schon der Versuch, diese Frage im Rahmen eines kurzen Diskussionsbeitrags wirklich zu beantworten, mehr als ver-
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messen. Ich werde mich daher auf einige Stichworte und thesenhaft zugespitzte Behauptungen beschränken. 3. Es war nicht zuletzt die Zugehörigkeit der Kritischen Theorie zur marxistischen Tradition, die es Horkheimer und Adorno möglich machten, nach und trotz Auschwitz nicht nur ihre akademische Tätigkeit in Frankfurt wieder aufzunehmen, sondern auch sich vergleichsweise unbefangen einem deutschen Publikum und deutschen Studenten wieder zuzuwenden. Vielleicht ist das Wort „unbefangen" irreführend; ich will sagen, daß der Faschismus für Horkheimer und Adorno in erster Linie eine in allen kapitalistischen Gesellschaften latent vorhandene Möglichkeit und erst in zweiter Linie eine spezifisch deutsche Verirrung bezeichnete. Wie immer man eine solche Auffassung beurteilt, man wird zugeben müssen, daß sie eine psychologisch wichtige Voraussetzung für die Möglichkeit einer Frankfurter Schule im nachfaschistischen Deutschland darstellte: sie eröffnete die Möglichkeit einer Auseinandersetzung mit dem Faschismus jenseits der hoffnungslosen Perspektive eines ins Negative gekehrten Deutschland-Mythos. Es war also gerade die Betonung universeller ökonomischsozialer Determinanten anstelle der nationalen in der Kritischen Theorie, die es Horkheimer und Adorno ermöglichten, spezifisch deutsche kulturelle Traditionen gegen deren reaktionäre und faschistische Pervertierungen zu verteidigen: Die Kritische Theorie erwies sich als eine Position, von der her sich einerseits die reaktionären, repressiven und kulturfeindlichen Aspekte der deutschen kulturellen Tradition — und zwar präziser als von irgendeinem anderen Gesichtspunkt aus — analysieren ließen; von der her sich aber andererseits auch die subversiven, aufklärerischen und universalistischen Züge dieser Tradition sichtbar machen ließen. Die Kritische Theorie, so möchte ich behaupten, war die einzige nach dem Krieg in Deutschland vertretene theoretische Position, die einen radikalen Bruch mit dem Faschismus ohne einen ebenso radikalen Bruch mit der deutschen kulturellen Tradition, und das heißt einen radikalen Bruch mit der eigenen kulturellen Identität, denk-möglich machte. Ich glaube, daß die ungeheure, eben nicht nur destruktiv-kritische, sondern vor allem befreiende Wirkung Adornos und Horkheimers nicht zuletzt aus dieser einzigartigen Konstellation zu erklären ist. Es war vor allem Adorno, der in seiner überaus reichen Produktion nach dem Kriege den Schutt wegräumte, unter dem die deutsche Kultur verborgen lag, und der sie wieder sichtbar werden ließ. Er tat dies als ein Mann der städtischen Zivilisation, der gegen die Versuchungen des Archaischen gefeit war und doch den romantischen Impuls in sich bewahrte; dem der Universalismus der Moderne selbstverständlich war und der doch die Spuren der Verstümmelung in den existierenden Formen des Humanismus nicht übersah: seltener Fall eines Philosophen, der zugleich ganz der Moderne angehörte und der deutschen Tradi-
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tion. Ähnliches gilt für Horkheimer und die übrigen Mitarbeiter des alten Instituts für Sozialforschung. Wenn ich hier vor allem über Adorno spreche, dann deshalb, weil dessen Wirkung in Deutschland nach dem Kriege auch diejenige Horkheimers überstrahlt hat. Gleichwohl gibt es gute Gründe dafür, daß sich die Kritische Theorie über Adornos Positionen hinausbewegt und in mancher Hinsicht auch wieder zu dem ursprünglichen kooperativen und interdisziplinären Projekt des alten Instituts für Sozialforschung zurückbewegt hat. Es ist heute fast schon ein Gemeinplatz, wenn man sagt, daß die Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno, die gleichsam zum lange Zeit verborgenen Ursprungsdokument der späteren Frankfurter Schule wurde, die Abwendung der Autoren von einer in marxistischem Geiste und in praktischrevolutionärer Absicht vorangetriebenen Gesellschaftstheorie bedeutet. Die Dialektik der Aufklärung ist die Theorie einer endgültig verfinsterten Moderne; aus deren Teufelskreis scheint es keinen Ausweg mehr zu geben: Faschismus, Stalinismus und kapitalistische Massenkultur erscheinen als nur noch in gradueller Hinsicht verschiedenartige Ausprägungen desselben universellen Verblendungszusammenhangs. Eine These dieser Art liegt auch dem Spätwerk Adornos, wenn auch in vielfach und dialektisch gebrochener Form zugrunde. Man könnte geradezu Adornos philosophisches Spätwerk bis hin zur Negativen Dialektik als die Ausarbeitung der Grundthesen der Dialektik der Aufklärung verstehen. Zwar soll dies nicht heißen, daß sich Adornos Philosophie auf diese Grundthesen, gleichsam ihre eigene Meta philosophic, reduzieren ließe; es verhält sich vielmehr so, daß die geschichtsphilosophische Grundthese wie eine Art von Lichttrübung in allen Analysen Adornos wiederkehrt. Aber während Adorno glaubte, es sei die tatsächliche Geschichte, die alle Dinge in ein trübes Licht taucht, bemerkte er nicht, daß die Trübung des Lichts schon durch die Optik bewirkt wurde, durch welche er die Dinge betrachtete: Die These vom Verblendungszusammenhang der modernen Welt ist zwar in vieler Hinsicht aus den konkreten geschichtlichen Phänomenen herausgelesen, sie ist aber — und darin liegt ihre philosophische Schwäche — bei Adorno zugleich in einer Theorie des Begriffs begründet, durch deren Optik sie als a priori wahr erscheint. A priori deshalb, weil aus der Sicht Adornos das Andere dieses Verblendungszusammenhangs das Andere der diskursiven Rationalität sein müßte, und daher das Andere der Geschichte: Nur von einem messianischen Fluchtpunkt her läßt die Analyse der wirklichen Vernunft noch als Kritik der falschen sich verstehen. „Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint" heißt es entsprechend im Schlußaphorismus der Minima Moralia. Alle produktiven Anknüpfungen an Adornos Sprachphilosophie, Ästhetik oder Soziologie, und das heißt soviel wie: alle produktiven Versuche einer Fortführung der Frankfurter Schule oder auch einer Rück-
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Besinnung auf das ursprüngliche, stärker mit dem Namen Horkheimer verknüpfte Projekt des Instituts für Sozialforschung haben, wenn ich es richtig sehe, eines gemeinsam: nämlich eine Abkehr von jenen metatheoretischen Prämissen Adornos, durch welche die wirkliche Geschichte a priori auf Negativität fixiert wird, eine Abkehr also von dem für Adornos Philosophie konstitutiven Zusammenhang zwischen Negativismus und Messianismus. Allerdings könnte sein, daß das atemberaubend Subtile von Adornos dialektischem Verfahren zu einem Teil aus genau diesem Zusammenhang sich speist. In diesem Falle — und in diesem Sinne — müßten wir dann wohl auch Botho Strauß' Kommentar zu den Minima Moralin akzeptieren: „Ohne Dialektik denken wir auf Anhieb dümmer; aber es muß sein: ohne sie!"1 4. Es ist natürlich kein Zufall, daß die vorangegangenen Bemerkungen eine Art von Hohlform umschreiben, in welche die Theorie von Jürgen Habermas zwanglos sich einpassen ließe. Es war Habermas, der dem Projekt einer kritischen Fortführung der Frankfurter Schule eine konkrete Gestalt gegeben hat. Habermas' Theorie bedeutet zugleich eine Anknüpfung an das gesellschaftstheoretische Programm des frühen Horkheimer und seiner Mitarbeiter. Habermas hat jedoch durch seine Rezeption der sprachanalytischen Philosophie, der funktionalistischen Soziologie und der Weberschen Theorie der Rationalisierung zugleich kategoriale Unterscheidungen gegenüber der früheren Kritischen Theorie wie gegenüber der marxistischen Tradition insgesamt zur Geltung gebracht, durch welche der Kritischen Theorie ein Ausweg aus der Sackgasse des dialektischen Negativismus — ohne die Nötigung zur Rückkehr in die Sackgasse eines pseudodialektischen Positivismus — eröffnet wurde. Ich möchte diese These nur an einem Beispiel illustrieren: In der älteren Kritischen Theorie besteht zwischen der Ausdifferenzierung unterschiedlicher Geltungssphären in der Neuzeit, Prozessen der Systemdifferenzierung und einem Prozeß zunehmender Verdinglichung der Individuen nicht nur ein geschichtlichempirischer, sondern auch ein begrifflicher Zusammenhang. Nichts anderes meint die Rede von einer Dialektik der Aufklärung. Aus der Perspektive Horkheimers und Adornos sind auch die demokratischen Traditionen unwiderstehlich in den Sog dieser Dialektik hineingezogen. Unter diesen Bedingungen sind aber gesellschaftliche Komplexität und Demokratie nicht mehr zusammenzudenken. Wenn aber die Alternative einer Regression zur vorindustriellen Gesellschaft, wie dies bei Adorno und Horkheimer im Gegensatz zu Klages der Fall ist, als illusionär und potentiell faschistisch durchschaut wird, wird die Situation der Moderne als geschichtliche ausweglos: Der utopische Horizont muß an die Stelle einer geschichtli1
BOTHO STRAUSS, Paare, Passanten, München 1981, S. 115.
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chen Perspektive treten. Dies folgt aber, wie gesagt, bereits aus kategorialen Vorentscheidungen, das heißt aus dem eindimensionalen Charakter der Metatheorie, welche die Eindimensionalität der Marxschen Metatheorie gleichsam seitenverkehrt wiederholt. Auf diese Weise wird aber die Möglichkeit einer menschenwürdigen Einrichtung der Gesellschaft als geschichtliche Möglichkeit ausgeschlossen. Habermas' Theorie bedeutet nicht zuletzt die Rückeroberung eines geschichtlichen Horizonts für die Kritische Theorie, das heißt die Eröffnung eines geschichtlichen Möglichkeitshori^onts. Aus diesem Grunde — und aus vielen anderen Gründen — ist eine Diskussion über „die Bedeutung der Frankfurter Schule heute" unmöglich, ohne daß sie zugleich — explizit oder implizit — zu einer Diskussion über die Theorie von Jürgen Habermas wird. Habermas hat Grundmotive dreier Theoretiker, die für die Kritische Theorie immer eine zentrale Rolle gespielt haben, innerhalb der Kritischen Theorie in neuer Weise zur Geltung gebracht: Ich denke an den moralphilosophischen Universalismus Kants, den gesellschaftstheoretischen Realismus Hegels und den postmetaphysischen Empirismus Max Webers. In allen drei Fällen hat Habermas gleichsam den Schnitt neu zu legen versucht, der die aufklärerischen Elemente der jeweiligen Theorien von jenen Elementen trennt, in denen die Aufklärung sistiert wird. Habermas hat Kants Universalismus in einer kommunikativen Ethik aufgehoben, ohne hinter Adornos — nicht zuletzt gegen Kant gerichtete — Kritik des Identitätszwanges zurückzufallen; er hat Hegels gesellschaftstheoretischen Realismus in einer Theorie kategorialer, kultureller und systemischer Differenzierungsprozesse aufgehoben, ohne hinter die marxistische Kritik Hegels zurückzufallen; und er hat Elemente eines geschichtsphilosophischen Empirismus im Sinne Webers gegenüber der in der Tradition der Kritischen Theorie tiefverwurzelten Tendenz zu einer totalisierenden Geschichtsbetrachtung in die kritische Gesellschaftstheorie eingebracht, ohne hinter die Kritik der Frankfurter Theoretiker am restriktiven Rationalitätsbegriff Webers zurückzufallen. Religionsgeschichtlich gesprochen hat Habermas ein Stück protestantischer Aufklärung für die Kritische Theorie gerettet und hierdurch zugleich die Kritische Theorie für die protestantische Aufklärung: ich meine für jene Traditionen einer demokratischen und postmetaphysischen Rechts- und Wissenschaftskultur, die nur aus einer messianischen Perspektive unter den Begriff der Verdinglichung sich subsumieren lassen. 5. Es ist unmöglich, an dieser Stelle eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Werk von Habermas zu beginnen. Ich möchte statt dessen eine Hinsicht andeuten, in der mir die Aktualität Adornos ungebrochen zu sein scheint. Wenn ich unter den Vertretern der älteren Kritischen Theorie wieder Adorno heraushebe, dann deshalb, weil ich bei Adorno deutlicher
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als bei anderen Vertretern der Kritischen Theorie Denkimpulse entdecke, die sich in einer sprachpragmatisch aufgeklärten Form der Kritischen Theorie nicht ohne weiteres aufheben lassen. Ich spreche nicht von Adornos ästhetischen und kultursoziologischen Einzelanalysen, die sich durch meta-philosophische Erkenntnisfortschritte ohnehin nicht überflüssig machen lassen: es sind Texte, die, literarischen Kunstwerken ähnlich, immer wieder neu gelesen und entziffert werden wollen: und zwar ungeachtet der Tatsache, daß natürlich die philosophische Kritik auch vor ihnen nicht haltmachen darf. Das Aufregende an diesen Texten liegt ja nicht in ihren philosophischen Prämissen, sondern in der Art und Weise, wie sie über diese Prämissen hinausgehen und konkrete — musikalische, literarische, kulturelle — Phänomene und Konstellationen aufschließen; es liegt in Adornos mikrologischem Verfahren, das durch die metaphilosophischen Prämissen weniger begründet als vielmehr gelegentlich gehemmt wird. Oder um es vorsichtiger auszudrücken: Adornos Verfahren einer in die Sache eindringenden statt über sie hinweggleitenden Analyse ist sicherlich in seinen philosophischen Prämissen begründet; aber es ist gewissermaßen %ugut begründet: In Adornos philosophischen Prämissen, in seiner Theorie des identifizierenden Begriffs, steckt ein Rest genau jenes Identitätszwanges, den er an der philosophischen Tradition kritisiert. Der eigentümliche Zug des negativistisch „Vorentschiedenen" in Adornos Analysen widerspricht der Pointe seines eigenen Verfahrens; diese Pointe ist, die Phänomene zum Sprechen zu bringen, ohne sie mit Begriffen zuzudecken. Wenn es aber einen solchen Widerspruch bei Adorno gibt, dann wäre seine Philosophie erst noch gegen seine eigene Metaphilosophie zu retten; und mit „Philosophie" meine ich jetzt nicht etwa seine Einzelanalysen im Gegensatz zu dem, was man heutzutage ein philosophisches „Bezugssystem" nennt, ich meine vielmehr das an Adornos Philosophie, was in seiner expliziten Theorie des Begriffs nur unzulänglich und gleichsam dogmatisch erstarrt zum Ausdruck kommt. Vielleicht könnte man von einer impliziten Sprachphilosophie oder Rationalitätstheorie Adornos reden; aber welchen Titel man immer auch wählen wird, ich habe Zweifel, ob diese implizite Philosophie Adornos durch die sprachpragmatische Reformulierung der Kritischen Theorie bereits eingeholt ist. Adorno hat mit dem Ausdruck „Negative Dialektik" nicht zuletzt eine Form des Philosophierens gemeint, das seine Kohärenz nicht von oben, aus der Logik des Bezugssystems, sondern gleichsam von unten, aus der Logik des in die Sache vertieften Gedankens gewinnt. In einer Anspielung auf Schönbergs Kritik der traditionellen Musiktheorie sagt er einmal: „Analog hätte Philosophie nicht sich auf Kategorien zu bringen sondern in gewissem Sinn erst zu komponieren. Sie muß in ihrem Fortgang unablässig sich erneuern, aus der eigenen Kraft ebenso wie aus der Reibung mit dem, woran sie sich mißt; was in ihr sich zuträgt, entscheidet, nicht
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These oder Position; das Gewebe, nicht der deduktive oder induktive, eingleisige Gedankengang. Daher ist Philosophie wesentlich nicht referierbar. Sonst wäre sie überflüssig; daß sie meist sich referieren läßt, spricht gegen sie."2 An anderer Stelle gebraucht Adorno eine Formulierung, die zwar nicht von Wittgenstein sein könnte, die aber dessen eigenes philosophisches Verfahren recht gut beschreibt. Es heißt dort: „Das traditionelle Denken und die Gewohnheiten des gesunden Menschenverstandes, die es hinterließ, nachdem es philosophisch verging, fordern ein Bezugssystem, ein frame of reference, in dem alles seine Stelle findet. Nicht einmal allzuviel Wert wird auf die Einsichtigkeit des Bezugssystems gelegt — es darf sogar in dogmatischen Axiomen niedergelegt werden —, wofern nur jede Überlegung lokalisierbar wird und der ungedeckte Gedanke ferngehalten. Demgegenüber wirft Erkenntnis, damit sie fruchte, a fond perdu sich weg an die Gegenstände. Der Schwindel, den das erregt, ist ein index veri; der Schock des Offenen, die Negativität, als welche es im Gedeckten und Immergleichen notwendig erscheint, Unwahrheit nur fürs Unwahre."3 Und schließlich erläutert Adorno in immer neuen Wendungen seine Idee einer Philosophie, die, analog dem modernen Kunstwerk, nicht mehr die Einheit des geschlossenen Systems, sondern eine Einheit jenseits des Systems repräsentierte: die zwanglose Kohärenz eines Denkens jenseits des Identitätszwangs. Diese Einheit jenseits des Systemzwangs ist eigentlich das, worauf nach Adorno eine „Negative Dialektik" abzielt; deren Form wäre daher das philosophische Fragment oder, wie Adorno auch sagt, ein „Ensemble von Modellanalysen".4 Wenn Adorno von einer Einheit jenseits des Systems spricht, meint er nie nur die Philosophie, sondern immer auch die Wirklichkeit: die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen untereinander. Habermas hat diese Grundidee Adornos im Begriff einer herrschaftsfreien Kommunikation aufgenommen und sprachphilosophisch auseinandergefaltet. Die kommunikationstheoretische Umformulierung von Adornos Grundidee bedeutet ihre Herauslösung aus dem Zusammenhang von Negativismus und Messianismus, den ich oben kritisiert habe. Zugleich scheint mir aber, daß die kommunikationstheoretische Umformulierung einen wichtigen Aspekt von Adornos Grundidee nicht erfaßt; und zwar jenen Aspekt, bei dem es nicht um zwanglose Kommunikation, sondern um zwanglose Synthesis, nicht um die Anerkennung des Nicht-Identischen am Anderen, sondern um die Anerkennung des Nicht-Identischen im Begreifen der Wirklichkeit und im Selbstverhältnis der Subjekte geht. Gewiß, Adorno hat die Sache 2
3 4
THEODOR W. ADORNO, Negative Dialektik, in: Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt a. M. 1973, S. 44. Ibid., S. 43. Ibid., S. 39.
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so konstruiert, als ginge es um die Herstellung eines kommunikativen Verhältnisses zur Wirklichkeit im Ganzen. Habermas hat demgegenüber zu Recht das Kommunikationsmodell als ein Modell der Beziehungen zwischen Menschen, das heißt zwischen den Sprechern einer Sprache, entziffert. In Wirklichkeit geht es aber bei dem, was Adorno mit „Negativer Dialektik" meint, garnicht um Strukturen der Kommunikation, sondern vor allem um die Form der Synthesen, an denen Kommunikation sich jeweils neu entzünden kann; und hierin geht es zugleich um die Logik einer „nicht-verdinglichenden" Argumentation. Wenn Adorno über das ästhetische Moment in der Philosophie spricht oder über das Moment der Darstellung, das „ihrer Idee immanent"5 sei, so geht es ihm nicht um das Ob des philosophischen Argumentierens, sondern um das Wie, das heißt um die spezifische Logik eines philosophischen Gedankenzusammenhanges, um den Charakter der philosophischen Sprache und damit letztlich um einen Aspekt von Sprache und Rationalität, der sich kommunikationstheoretisch deshalb nicht fassen läßt, weil er in jeder Kommunikation a tergo wirksam ist: er läßt sich nur durch eine Reflexion auf das Was des zu Kommunizierenden erschließen. Ich möchte nicht mißverstanden werden: Ich behaupte natürlich nicht, daß es hier etwas gibt, über das nicht argumentiert werden kann; ich behaupte nur, daß die Überlegungen, die Adorno zur Sprache der Philosophie anstellt, etwas mit der Frage zu tun haben, was denn eine rationale Argumentation genannt werden darf. Habermas' Konsenstheorie der Wahrheit ist ein Versuch, auch diese Frage noch kommunikationstheoretisch zu lösen. Mich überzeugt diese Lösung nicht. Wenn aber eine konsens- oder diskurstheoretische Antwort auf die Fragen, die Adorno stellte, unmöglich wäre, dann wäre immerhin denkbar, daß Adornos Philosophie noch ungehobene Schätze enthält: nämlich Beiträge zu einer Sprach- und Rationalitätstheorie, die sich als notwendiges Komplement einer kommunikationstheoretischen Sprach- und Rationalitätstheorie verstehen ließe. Habermas behielte freilich recht gegen Adorno, wenn er den von Adorno kritisierten Identitätszwang nicht als Ausdruck diskursiver Rationalität, sondern als Mangel an diskursiver Rationalität deutet; Adorno aber behielte recht gegen Habermas, wenn er an dem, was wir mit Habermas getrost „diskursive Rationalität" nennen wollen, ein kommunikationstheoretisch nicht faßbares Moment namhaft zu machen versucht. Dies Moment ist zwar, wenn wir nicht auf einen rationalistischen Sprachbegriff zurückfallen wollen, nicht außerhalb der Kommunikation; ich vermute aber, daß es sich — und das ist etwas ganz anderes — mit Kategorien der Kommunikation nicht fassen läßt. Mein Interesse an diesem Moment diskursiver Rationalität rührt von meinem Interesse an dem her, was der Sprach- und Systemkritik Adornos 5
Ibid., S. 29.
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und Wittgensteins, und vielleicht auch derjenigen Heideggers, gemeinsam ist — gewissermaßen einem gemeinsamen Fluchtpunkt der MetaphysikKritik Adornos, Wittgensteins und Heideggers. Ich möchte diese Kritiken der Metaphysik verstehen als das Bewußtsein einer bodenlosen, und doch nicht hilflosen Vernunft; einer Vernunft ohne letztes Fundament und ohne die Aussicht auf endgültige Versöhnung, und doch genau darin auch einer Vernunft, die dem, was Adorno „Identitätszwang" nannte, entronnen wäre. Adorno hat die Vernunft am Ende nur versöhnungsphilosophisch denken können. Ich glaube aber, es kommt nicht nur darauf an, die Idee der Versöhnung gleichsam kommunikationstheoretisch zu verweltlichen, wie Habermas dies getan hat; es käme vielmehr auch noch darauf an, gerade jene Züge von Adornos Rationalitätsbegriff herauszuarbeiten, in denen es weder um instrumentelle noch um kommunikative Rationalität geht, sondern, traditionell gesprochen, um die Dialektik von Besonderem und Allgemeinem als Problem der Erkenntnis- und Sprachkritik. Wenn Adorno gelegentlich von „gewaltloser Synthesis" spricht, so meint er nicht — oder doch nicht nur — die Gewaltlosigkeit einer Kommunikation, die gleichsam jederzeit zum rationalen Diskurs hin offen ist; er meint vielmehr Bedingungen der Möglichkeit einer kommunikativen Rationalität, die das Verhältnis zwischen Sprache und Wirklichkeit betreffen und nicht — primär — das Verhältnis zwischen Sprecher und Sprecher; die die nichtkommunikativen Aspekte der Konstitution kommunizierbarer sprachlicher Bedeutungszusammenhänge betreffen und nicht — primär — den Umgang der Sprecher mit dem jeweils Kommunizierten. Vielleicht läßt sich an diesem Punkte auch Adornos Beharren auf einem Subjekt-Objekt-Modell der Erkenntnis noch rechtfertigen. Vielleicht, so meine ich, sind in Adornos Gebrauch dieses Modells Elemente eines Rationalitätsbegriffs verborgen, der nicht Versöhnung meint, sondern die Möglichkeit, Vernunft auch ohne die Hoffnung auf eine letzte Versöhnung zu denken.
IRVING WOHLFARTH (Eugene/Oregon)
„Das Leben lebt nicht". Adornos Pathos — am Beispiel der Minima Moralia Mais je poursuis en vain le Dieu qui se retire; L'irresistible Nuit etablit son empire, Noire, humide, funeste et pleine de frissons (Baudelaire, Le Coucher du Soleil Romantique) Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch nicht mehr den Pfeil seiner Sehnsucht über den Menschen hinaus wirft, und die Sehne seines Bogens verlernt hat, zu schwirren! (...) Seht! Ich zeige euch den letzten Menschen. (...) Krankwerden und Misstrauen-haben gilt ihnen sündhaft: man geht achtsam einher. Ein Thor, der noch über Steine oder Menschen stolpert! (Nietzsche, Zaratbustra' Vorrede)
„Wie scheint doch alles Werdende so krank." (87)' In Trakls „Entlang" findet sich der Vers: „Sag wie lang wir gestorben sind"; in Däublers „Goldenen Sonetten": „Wie wahr, daß wir schon alle lange starben." Die Einheit des Expressionismus besteht im Ausdruck dessen, daß die einander ganz entfremdeten Menschen, in welche Leben sich zurückgezogen hat, damit eben zu Toten wurden. (254) Karl Kraus tat recht daran, sein Stück „Die letzten Tage der Menschheit" zu nennen. Was heute geschieht, müßte „Nach Weltuntergang" heißen. (63) (...) das Weiterleben selbst hat etwas Widersinniges wie die Träume, in denen man den Weltuntergang mitmacht und nach dessen Ende aus einem Kellerloch herauskriecht (...). (39) Millionen Juden sind ermordet worden, und das soll ein Zwischenspiel sein und nicht die Katastrophe selbst. Worauf wartet diese Kultur eigentlich noch? (65)
1
Minima Moralia, Frankfurt am Main 1962. Im folgenden verweisen Seitenangaben ohne Siglen auf diesen Text.
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„Das Leben lebt nicht" (13). So lautet das Motto zum ersten, 1944 geschriebenen Teil der Minima Moralia, die den Untertitel tragen: Reflexionen aus dem beschädigten Leben. „Where everything is bad", heißt es ein Jahr später gleichsam am Eingang zum zweiten Höllenkreis, „it must be good to know the worst" (103). Vor dem letzten, 1946—47 verfaßten Teil steht die Schlußzeile von Baudelaires Le Gout du Neant: Avalanche, veux-tu m'emporter dans ta chute? „Denn ich will meine Trauer" — einer Variante zufolge: „meine Wut" — „datieren". So endet ein Prosastück aus Baudelaires Intimen Tagebüchern, welche fast ein Jahrhundert zuvor das heraufziehende Zeitalter als einen „Sturm" beschreibt, „der nichts Neues enthält" — den Sturm, den wir Walter Benjamin zufolge „den Fortschritt nennen"2. Das Stück fängt folgendermaßen an: Die Welt wird enden. Der einzige Grund, warum sie weiterdauern könnte, ist, daß sie schon existiert. Wie schwach aber ist dieser Grund mit all denen verglichen, die das Gegenteil ankündigen, insbesondere mit folgendem: was hat die Welt überhaupt noch unter dem Himmel zu schaffen? Denn angenommen, sie würde materiell weiterexistieren, wäre eine solche Existenz des Namens und des geschichtlichen Wörterbuchs noch würdig? Als neues Beispiel und neue Opfer unerbittlicher moralischer Gesetze werden wir an dem sterben, wodurch wir zu leben gedachten. Die Mechanik wird uns so amerikanisiert haben, der Fortschritt unseren Geist so verkümmern lassen, daß sich keiner der blutrünstigen, frevlerischen oder anti-natürlichen Träume der Utopisten mit solch positiven Resultaten wird vergleichen lassen. Ich fordere jeden denkenden Menschen auf, mir zu zeigen, was vom Leben übrigbleibt.
Baudelaire, der hier den eigenen utopischen Hoffnungen von 1848 rückblickend abschwört, und Adorno, der im amerikanischen Exil umso verzweifelter an der Utopie festhält, fühlen sich von derselben „Lawine"3, derselben naturgeschichtlichen Dialektik ereilt. Der vorausgesagte Sturm ist pünktlich angekommen, und die amerikanische „Mechanik" — jene marxsche „Lokomotive" des revolutionären Fortschritts, von der es inzwischen bei Benjamin heißt, die Revolution bestünde vielmehr im „Griff nach der Notbremse" (GS, 1.3, 1232) — ist inzwischen wieder dabei, ebenso fahrplanmäßig wieder loszustürmen. „Das Leben lebt nicht" — aber die Höllenmaschine geht unentwegt weiter. „Daß es ,so weiter' geht", notierte Benjamin, „ist die Katastrophe. Sie ist nicht das jeweils 2
3
WALTER BENJAMIN, Gesammelte Schriften (hiernach GS), hrsg. von ROLF TIEDEMANN und HERMANN SCHWEPPENHÄUSER, Frankfurt am Main, 1.2, 698. Vgl. die gleichnamige Notiz in der Dialektik der Aufklärung (Amsterdam 1947). Auch die Niederlage des Faschismus, heißt es dort, „bricht nicht notwendig die Bewegung der Lawine" (S. 232).
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Bevorstehende, sondern das jeweils Gegebene" (GS, 1.2, 683). Untergang und Wiederaufbau in eins; Weltende ohne Ende; „This is the way the world ends,/Not with a bang but a whimper" (Eliot); das Winseln der Glocken, die in Baudelaires Sp/een-Gedicht die Wut des eigenen Ausbruchsversuchs überleben; die ausgeleierte Apokalypse — solche Motive aus der europäischen Dekadenz, der anti-modernen Moderne, haben in Adornos materialistischer Übersetzung Schule gemacht. Die ubiquitäre Prostitution, die Baudelaire im vorhin zitierten Prosastück aufkommen sieht, erfährt ein durch Weber und Lukacs hindurchgegangener Adorno als allgegenwärtige Verdinglichung. Während Baudelaire jedoch abschließend seine Resignation bekundet und — enivre de son sang-froid et de son dandysme — zum letzten Rauschmittel greift: dem des sich abdichtenden Ichs, besteht Adornos programmatischer Versuch bis zuletzt darin, gegen die Dämonen der Resignation „aufzubegehren" und das bürgerliche Individuationsprinzip, wie narzißtisch auch immer, auf andere, bessere Weise gegen dessen Abkapselungstendenzen umzufunktionieren. Baudelaire beschwört an anderer Stelle den Dandy als eine untergehende Sonne (...) großartig, ohne Hitze und voller Melancholie. Aber, helas! die steigende Flut der Demokratie, die alles überschwemmt und alles nivelliert, ertrinkt Tag für Tag diese letzten Vertreter des menschlichen Stolzes und überspült die Spuren dieser letzten Myrmidonen mit den Wellen des Vergessene. Nun, die „heraufziehende Barbarei", auf die Adorno immer wieder zurückkommt (und die er als Verfolgter seinerseits bis in die Urzeit zurückverfolgt), war nicht in erster Linie die Massendemokratie, sondern deren schrekklichste, von Baudelaire vorausgeahnte Ausgeburt — der Faschismus. Es lebe der kleine Unterschied: War der Unterschied aus der Perspektive der Dialektik der Aufklärung tatsächlich ein gradueller, so verdankte ihm der Statthalter eines nirgendwo lebenden Lebens gleichwohl sein eigenes Überleben samt dessen Schuld. Es wäre freilich unsinnig, bei Adorno den Wahn einer herabsinkenden Oberschicht zu vermuten, die Welt gehe mit ihr selber unter — auch nicht jener Oberschicht, die sämtliche klassischen Argumente gegen das Bürgertum geliefert hat, deren sich der Sozialismus dann bedienen sollte. Dennoch herrscht bei den Dialektikern der Aufklärung angesichts der Fortschritte des Vergessens — „Denn es ist ja ein Sturm", schreibt Benjamin, „der aus dem Vergessen herweht" (GS, II.2, 436) — ein Untergangspathos, das, wie gebrochen, überdeterminiert und dialektisch auch immer, an Baudelaires „letzte Vertreter des menschlichen Stolzes" erinnert. Zwar sahen sie ihre Aufgabe darin, „alle reaktionären Argumente gegen die abendländische Kultur in den Dienst der fortschreitenden Aufklärung zu stellen" (254) und damit „die Kräfte, die im Zerfall freiwerden" (282), entsprechend zu nutzen. Welcher Allgemeinheit sich der schreibende Intellektuelle noch zur Verfügung stellen sollte, wo mit dem
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„Tod der Unsterblichkeit" sogar „alle Flaschenposten" (126) anachronistisch geworden waren, war jedoch die akute, die chronische Frage4. Hier war also einer, der der steigenden Flut der Demokratie als Demokrat trotzte und den verschwindenden Boden, auf dem er stand, zum verlorenen Posten der Utopie dadurch machte, daß er sich mit keinem Angreifer, keinem Lager, keiner — anderen — Praxis identifizierte. Schon auf der ersten Seite der Minima Moralia stellt sich Adorno als anachronistisches Überbleibsel der großbürgerlichen Dekadenz vor, der gleichsam dort anknüpft, wo die Buddenbrooks aufhörten. Für Marcel Proust. — Der Sohn wohlhabender Eltern, der, gleichgültig ob aus Talent oder Schwäche, einen sogenannten intellektuellen Beruf, als Künstler oder Gelehrter, ergreift, hat es unter denen, die den degoutanten Namen des Kollegen tragen, besonders schwer (...). Die Beschäftigung mit geistigen Dingen ist mittlerweile selber .praktisch', zu einem Geschäft mit strenger Arbeitsteilung, mit Branchen und numerus clausus geworden. Der materiell Unabhängige, der sie aus Widerwillen gegen die Schmach des Geldverdienens wählt, wird nicht geneigt sein, das anzuerkennen. Dafür wird er bestraft. Er ist kein ,professional', rangiert in der Hierarchie der Konkurrenten als Dilettant (...). So ist für Ordnung gesorgt: die einen müssen mitmachen, weil sie sonst nicht leben können, und die sonst leben könnten, werden draußen gehalten, weil sie nicht mitmachen wollen. Es ist, als rächte sich die Klasse, von der die unabhängigen Intellektuellen desertiert sind, indem zwangshaft ihre Forderungen dort sich durchsetzen, wo der Deserteur Zuflucht sucht.
Wie man's macht, macht man's falsch, aber man macht's am ehesten richtig, wenn man's niemandem recht macht. Solche trotzigen Wendungen, die bei Adorno immer wieder vorkommen, sind die Signatur eines Mannes, der Gruppenerklärungen ungern unterschrieb. War Baudelaire Benjamin 4
FLAUBERT glaubte „auf die Nachwelt sich verlassen zu können, ein vom Bann der Dummheit befreites Bürgertum, das deren authentischen Kritiker zu Ehren brächte. Aber er hat die Dummheit unterschätzt: die Gesellschaft, die er vertritt, kann sich nicht selbst beim Namen nennen, und mit ihrer Entfaltung zur Totalität hat gleich der Intelligenz auch die Dummheit zur absoluten sich entfaltet. Das zehrt an den Kräftezentren des Intellektuellen. (...). Ruhm (...) ist liquidiert. Er ist ganz zur Funktion bezahlter Propagandastellen geworden und mißt sich an der Investition, die vom Träger des Namens oder der Interessengruppe, die hinter ihm steht, riskiert wird (...). Wie willkürliches Gedächtnis und spurlose Vergessenheit stets zusammengehörten, so führt die geplante Verfügung über Ruhm und Andenken unweigerlich ins Nichts (...)" (126 — 27). Der Name von FLAUBERT fällt hier nicht von ungefähr. Der Autor der Minima Moralia ist nicht weit davon entfernt, den Ehrgeiz zu teilen, einen sottisier zu schreiben, nach dessen Lektüre jeder Angst haben wird, den Mund aufzumachen. Man kann darüber spekulieren, wie die halboffizielle Veranstaltung einer Tagung über „die Frankfurter Schule und ihre Folgen" in einem „Schloßhotel" namens „Monrepos" aus der Perspektive der Minima Moralia zu beschreiben wäre.
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zufolge ein „Agent der geheimen Unzufriedenheit seiner Klasse mit ihrer eignen Herrschaft" (GS, 1.3, 1167), so war Adorno in mancher Hinsicht sein dialektischer Widerpart. Als materialistischer Anwalt künstlerischer Dekadenz vertrat er seine eigene Sache, die er als die allgemeine verstanden wissen wollte. „Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist", so hebt das Schlußstück der Minima Moralia an, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten. Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik. Perspektiven müßten hergestellt werden, in denen die Welt ähnlich sich versetzt, verfremdet, ihre Risse und Schrunde offenbart, wie sie einmal als bedürftig und entstellt im Messianischen Lichte daliegen wird. Ohne Willkür und Gewalt, ganz aus der Fühlung mit den Gegenständen heraus solche Perspektiven zu gewinnen, darauf allein kommt es dem Denken an. Es ist das Allereinfachste, weil der Zustand unabweisbar nach solcher Erkenntnis ruft, ja weil die vollendete Negativität, einmal ganz ins Auge gefaßt, zur Spiegelschrift ihres Gegenteils zusammenschießt. Aber es ist auch das ganz Unmögliche, weil es einen Standort voraussetzt, der dem Bannkreis des Daseins, wäre es auch nur um ein Winziges, entrückt ist, während doch jede mögliche Erkenntnis nicht bloß dem was ist erst abgetrotzt werden muß, um verbindlich zu geraten, sondern eben darum selber auch mit der gleichen Entstelltheit und Bedürftigkeit geschlagen ist, der sie zu entrinnen vorhat. Je leidenschaftlicher der Gedanke gegen sein Bedingtsein sich abdichtet um des Unbedingten willen, um so bewußtloser, und damit verhängnisvoller, fällt er der Welt zu. Selbst seine eigene Möglichkeit muß er noch begreifen um der Möglichkeit willen. Gegenüber der Forderung, die damit an ihn ergeht, ist aber die Frage nach der Wirklichkeit oder Unwirklichkeit der Erlösung selber fast gleichgültig (333 — 34). Mit diesem beschwörenden Versuch, kurz nach Ende des zweiten Weltkriegs eine Verzweiflung zu bannen, die sich vom — stillschweigend übergangenen — Sieg über das Siegheil kein Heil versprechen konnte, wiederholt sich auf gespenstische Weise die Lage, in der sich ein Vorgänger Adornos schon im ersten Weltkrieg gefunden hatte. „Als ich in dieser Zeit meine gefühlsmäßige Stellungnahme mir selbst bewußt zu machen versuchte", schreibt Georg Lukacs 1962 im retrospektiven Vorwort zur Theorie des Romans, kam ich zu etwa folgendem Ergebnis: die Mittelmächte werden voraussichtlich Rußland schlagen; das kann zum Sturz des Zarismus führen: einverstanden. Es ist eine gewisse Wahrscheinlichkeit vorhanden, daß der Westen gegen Deutschland siegt; wenn das den Untergang der Hohenzollern und der Habsburger zur Folge hat, bin ich ebenfalls einverstanden. Aber dann entsteht die Frage: wer rettet uns vor der westlichen Zivilisation?
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Die Theorie des Romans entstand also in einer Stimmung der permanenten Verzweiflung über den Weltzustand. Erst das Jahr 1917 hat für mich eine Antwort auf bis dahin unlösbar scheinende Fragen gebracht. (ThdR, 5—6) 5
Entstanden die Dialektik der Aufklärung und die Minima Moralia aus einer noch auswegloseren Verzweiflung, so deshalb, weil die geopolitische Rollenverteilung inzwischen ganz anders aussah. Wer würde uns diesmal, nachdem der Faschismus besiegt worden war, vor den ostwestlichen Siegermächten retten, die sich anschickten, sich zu einem einzigen, antagonistischen Weltblock zusammenzuballen? Seitdem Sowjetrußland, das dem jungen Lukacs die „Antwort" auf das weltgeschichtliche Dilemma zu versprechen schien, sich als integrierender Bestandteil jenes Dilemmas erwiesen hatte, konnte sich die ursprüngliche Verzweiflung nur noch vertiefen. Kein Wunder, daß sich Walter Benjamin in dieser Lage durch Blanquis Eternitepar /es Astres angesprochen fühlte, die er als die „Phantasmagorie" eines gescheiterten Revolutionärs entzauberte, der jetzt mit umgekehrter Radikalität die ewige Wiederkehr des Gleichen auf das ganze Weltall projizierte — eine Deutung, die die abgründige Frage nahelegte, ob es sich nicht hier um eine Dialektik der Extreme handelt, die diesmal alle revolutionäre Praxis von vornherein als einen Verzweiflungsakt, einen „Optimismus des Willens" erscheinen läßt, der nicht Hand in Hand mit einem „Pessimismus des Intellekts" (Gramsci), sondern eher gegen ihn, wenn nicht gar hinter seinem Rücken, arbeitet. Daß die Schlußgeste der Minima Moralia an das metaphysische Pathos der Theorie des Romans wieder anklingt, entbehrt jedenfalls nicht einer traurigen geschichtlichen Logik. Als „Epopöe einer gottverlassenen Welt" stellt der Roman — jener Theorie zufolge, die selber als eine Art von autobiographischem Roman zu lesen ist — den „wahren Zustand des gegenwärtigen Geistes" (ThdR, 71) dar. Und zwar als die — „wesentlich biographische" (ThdR, 75) — „Form der gereiften Männlichkeit im Gegensatz zur normativen Kindlichkeit der Epopöe" (ThdR, 69), die ihrerseits die „Immanenz des Sinnes", das „ewig verlorene Paradies" verkörpert, das „gesucht und nicht gefunden" (ThdR, 84) wird. Der ethisch-ästhetische „Takt" des Romans besteht darin, diese „normative Unvollendung" (ThdR, 71) nach keiner Seite aufzuheben, sondern die Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit gestaltend auszutragen: weder die männliche Resignation in „quälende Trostlosigkeit" umschlagen, noch die „allzu starke Sehnsucht" zu einem „voreiligen Schließen" (ThdR, 70) werden zu lassen: „nicht nur die tiefe Hoffnungslosigkeit dieses Kampfes, sondern auch die noch tiefere Hoffnungslosigkeit seines Aufgebens" (ThdR, 85) festzuhalten. Dieses „Gleichgewicht" wird 5
GEORG LUKACS, Die Theorie des Romans, Neuwied und Berlin 1963.
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durch die korrigierende „Ironie" des Schriftstellers erzielt, die die subjektive Beschränktheit des dämonisch suchenden Helden reflexiv erweitert, die abstrakte Gegenüberstellung von problematischem Subjekt und kontingenter Welt partiell überbrückt und durch eine niemals voll geleistete „Selbstaufhebung der zu Ende gegangenen Subjektivität" (ThdR, 93) zum Statthalter einer unerreichbbar gewordenen epischen Objektivität wird. Die „formgeforderte Immanenz des Sinnes entsteht gerade aus dem rücksichtslosen Zu-Ende-Gehen im Aufdecken ihrer Abwesenheit" (ThdR, 70). Die negative Weisheit, die daraus erwächst, wird mit dem höchsten metaphysischen Pathos besetzt. Nur „ein Maximum an Annäherung, ein ganz tiefes und intensives Durchleuchtetsein des Menschen vom Sinn seines Lebens ist erreichbar", aber „dieses bloße Erblicken des Sinnes" ist „das einzige, was des Einsetzens von einem ganzen Leben würdig ist" (ThdR, 79). So wird die Ironie des Romans schließlich als die „negative Mystik der gottlosen Zeiten" gedeutet — „die tiefe, nur gestaltend ausdrückbare Gewißheit: in diesem Nicht-wissen-Wollen und Nicht-wissenKönnen das Letzte, die wahre Substanz, den gegenwärtigen, nichtseienden Gott in Wahrheit getroffen, erblickt und ergriffen zu haben" (ThdR, 90). Ob eine positivere Mystik überhaupt aussprechbar ist, wird insofern implizit bezweifelt, als die „konsumtive Bezogenheit auf die Erlösung", die das Wesen der Freiheit ausmacht, nur in Kategorien ausgesprochen werden kann, „die der geschichtsphilosophische Stand der Weltuhr vorschreibt" (ThdR, 91). Gott wird somit „unter den technischen Begriff der Materialechtheit" einzelner ästhetischer Formen subsumiert, deren Immanenz wiederum eine „vorangehende konstitutive Beziehung auf das endgültige transzendente Sein zur Voraussetung" (ThdR, 92) hat. Damit wird in genialer Verkürzung die gesamte Adornosche Ästhetik samt ihrer unterschwelligen Metaphysik vorweggenommen. Mit einem abschließenden Hinweis auf Dostojewskij, der „keine Romane" (ThdR, 158) geschrieben haben soll, wird noch innerhalb der Theorie des Romans ein erster Versuch angemeldet, die Spannungen, die jener Theorie zufolge innerhalb des Romans selber nicht aufgehoben werden können, einer absehbaren Lösung zuzuführen. Das gelobte Land ist scheinbar schon in Sicht. Damit scheint zugleich der Übergang zu einem historischen Materialismus angelegt zu sein, der freilich die ästhetischen Jugendschriften — zum Teil in einer Heidelberger Bank — hinter sich lassen wird. Nicht unähnlich wird am Ende von Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels, den Adorno in seiner Antrittsvorlesung Die Idee der Naturgeschichte zur Theorie des Romans in Beziehung setzte, „die zur Schau getragene eingestandne Subjektivität zum förmlichen Garanten des Wunders, weil sie die göttliche Aktion selbst ankündigt" — ein „Eingreifen Gottes ins Kunstwerk" (GS, 1.1, 408), das ebenfalls die rahmensprengende Wende des Ästhetikers zum historischen Materialismus zumindest aus
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retrospektiver Sicht anzukündigen scheint. Die Rettung des Allegorikers, der — wie bei Lukacs der Romanheld — das Paradigma neu2eitlicher Subjektivität darstellt, aus dem Abgrund der Verzweiflung fallt jedenfalls mit der Genese des Marxisten zeitlich zusammen. „Erwacht" der Allegoriker „in Gottes Welt" (GS, 1.1, 406), so erwacht seinerseits der Ästhetiker zur Geschichte. Die Geburt des Marxisten aus dem Versuch, eine Verzweiflung zu bannen, die zugleich der Geist der Moderne ist — so ließe sich die abenteuerliche Dialektik jener zwei Bücher zusammenfassen, deren Autoren sich daraufhin auf sehr verschiedene Weise mit der „Unwirklichkeit der Verzweiflung" auseinandersetzten. Während Lukacs ihr im Namen des Marxismus abschwörte, versuchte Benjamin mit ihr in dessen Namen zu operieren. Als Brecht zu Benjamins Kafka-Aufsatz anmerkte, daß man mit der Tiefe nicht vorwärtskomme, erwiderte letzterer, in die Tiefe zu dringen, sei seine Art, sich zu den Antipoden zu begeben. Der Autor der Minima Moralia hingegen, dem die Dimension der Praxis als verstellt gilt, wird zunehmend auf das metaphysische Pathos jener quasi theologischen, fast nur noch innerhalb der Kunst anzudeutenden negativen Wahrheit angewiesen sein, von dem der junge Lukacs in der Theorie des Romans ausgegangen war. „Der Roman", heißt es dort, ist die Form der Epoche der vollendeten Sündhaftigkeit, nach Fichtes Worten, und muß die herrschende Form bleiben, solange die Welt unter der Herrschaft dieser Gestirne steht. (ThdR, 157)
Kaum wird jener Satz formuliert, so eröffnet sich schon die konkrete, wenn auch prekäre, Perspektive auf eine „neue Weltepoche", deren erstes Anzeichen — die Erneuerung des Epos bei Dostojewskij als „Sphäre einer reinen Seelen Wirklichkeit" (ThdR, 157) — die europäische Romantik des neunzehnten Jahrhunderts, zu der sie sich „weder bejahend noch verneinend" verhält, schon hinter sich gelassen haben soll. Solche messianischen Perspektiven verblassen nun bei Adorno zu einer rein kontemplativen Denknotwendigkeit. Die „vollendete Negativität", von der das Schlußfragment der Minima Moralia spricht, „schießt" zwar zum Spiegelbild ihres Gegenteils „zusammen", aber das, wozu sie zusammenschießt, macht sie lediglich als Negativität sichtbar: Perspektiven ohne Perspektiven. Der sei's dialektische, sei's theologische Umschlag der Extreme bleibt nunmehr innerhalb der reinen Denksphäre gebannt. Es wird nichts mehr gerettet als die Perspektive der Rettung selber, die das Bestehende so zu erkennen gibt, wie es eigentlich gewesen sein wird. Der historische Materialismus kann es — dem späten Benjamin zufolge — „mit jedem aufnehmen", wenn er die Theologie in seinen Dienst nimmt (GS, 1.2, 693). Ein Messianismus, der kaum mehr als Erkenntniswert besitzt, kann dagegen nur noch vor dem Positivismus („Nachkonstruktion", „ein Stück Technik") retten. Die aporetische Konstruktion des Verhältnisses zwischen
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Theologie und historischem Materialismus, die sich bei Benjamin als eine praktische erweisen soll, stellt im Schlußstück der Minima Moralia nur noch die Bedingung der Möglichkeit des Satzes dar: „Das Ganze ist das Unwahre" (57). Wie der Autor der Theorie des Romans, steht Adorno hier vor dem hermeneutisch-theologischen Zirkel von Immanenz und Transzendenz. Befand sich jener im Übergang von Kant zu Hegel, so legt dieser hier fast den umgekehrten Weg zurück. Wo Lukacs zum Schluß die Frage offenließ, „ob wir wirklich im Begriffe sind, den Stand der vollendeten Sündhaftigkeit zu verlassen", oder ob „die Ankunft des Neuen" von Hoffnungen gespeist wird, die „von der unfruchtbaren Macht des bloß Seienden wann immer spielend erdrückt" (ThdR, 158) werden kann, erscheint Adorno angesichts der „Forderung", die jene theologische Aporie an den „Gedanken" stellt, „die Frage nach der Wirklichkeit oder Unwirklichkeit der Erlösung selber fast gleichgültig". Gegen eine geschwächte Wiederaufnahme messianischer Motive, die den massiven Niederlagen des zwanzigsten Jahrhunderts Rechnung trägt, wäre sicherlich nichts einzuwenden. Von Benjamins Geschichtsphilosophischen Thesen her, denen die Dialektik der Aufklärung ihr Grundkonzept verdankt, wäre immerhin zu fragen, ob die „schwache messianische Kraft" (GS, 1.2, 694), die jedem Geschlecht migegeben sein soll, nicht %usät%licb geschwächt wird, wenn sie mit einem wesentlich erkenntnistheoretischen Begriff von Utopie verwechselt wird. Der deus absconditus rückt in Adornos Schlußsatz immer ferner, und es bleibt ungewiß, ob man hier mehr als das Nachbild eines blassen, untergehenden Sterns der Erlösung zu sehen bekommt. Das Leben lebt nicht: Wahrheit, Glück, Versöhnung, Utopie befinden sich in — amerikanischem — Exil. Die Wirklichkeit der Utopie mag gleichgültig geworden sein. Ihrer Möglichkeit hingegen steht keiner gleichgültig gegenüber. Wer die Utopie nicht wahrhaben will, versündigt sich wider besseres Wissen gegen die Wahrheit selbst. Sie tun es zwar nicht, Gott sei's geklagt, aber sie wissen es, und sie wissen es, wie unbewußt auch immer, viel besser als sie's wissen wollen. Daran hält Adorno, sei's aus verzweifeltem Optimismus oder aus gelassenem Urvertrauen, deshalb so eisern fest, weil die Möglichkeit eines Lebens, das — ihm zufolge — lebte, damit steht und fallt. Sollte nämlich das Vergessene allmählich keine Spuren, das Verdrängte keine Symptome mehr hinterlassen, so wäre dann kein Halten mehr. Die rastlose „Selbstzerstörung", die die Dialektik der Aufklärung ausmacht, hätte „ihr eigenes Schicksal": den Untergang des Abendlandes endgültig „besiegelt"6. Das Pathos dieser Diagnose ist ebenso positiv wie negativ, und beides gleich extrem, denn beide Extreme gehören strikt zusammen. Die „vollendete
Dialektik der Aufklärung, S. 1-3.
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Negativität" ist — wie die „vollendete Sündhaftigkeit" — die spekulative Kehrseite, das „Spiegelbild", ihres absoluten utopischen Gegenteils. So sehr jene Negativität sich bei Adorno als Negativismus auswirkt, so sehr fällt sie mit einer nicht weniger emphatischen Positivität zusammen. Nicht nur will die Dialektik der Aufklärung einen „positiven Begriff von Aufklärung „vorbereiten" 7 , sondern sie geht schon stillschweigend von einem solchen Positivum aus. Der positivistischen Kapitulation vor den Tatsachen setzt Adorno eine Utopie entgegen, die ihrerseits — wie das kantische Moralgesetz — als intelligibles Faktum vorausgesetzt wird. Sein Untergangspathos rührt deshalb nicht an diesem dogmatischen Kern, weil dieser der Kern von jenem Pathos ist. „Das Ganze ist das Unwahre" — dieser Satz operiert immer noch in Ganzheitskategorien. Wirf dieses Ganze gänzlich weg, so scheint er zu empfehlen, damit du ein ganz anderes Ganzes gewinnst. Damit entsteht jedoch die Frage, ob nicht nur der Fortschritt, sondern auch die Utopie, die doch dem mythischen Ritual von Schuld und Sühne ein Ende setzen soll, einen zu hohen „Preis" verlangt 8 . Sie wissen es angeblich, aber sie tun es nicht. Dieses unendlich hoffnungsvolle, unendlich hoffnungslose Schema begegnet bei Adorno immer wieder. Wer etwa moderne Kunst nicht verstehe, der verstehe sie in Wahrheit nur allzu gut. Weit entfernt, ihm fremd zu sein, tritt sie ihm befremdlich nah und protokolliert seine eigenen Dissonanzen. In einer verkehrten Welt vollendeter Negativität, wo das Nächstliegende — die Utopie — inzwischen völlig fremd, die Entfremdung dagegen ganz natürlich wirkt, da gilt es, Entfremdung von der Entfremdung auf allen Fronten zu erkämpfen. „Aufgabe der Kunst heute ist es, Chaos in die Ordnung zu bringen" (298). Auf die falsche Dialektik von Nähe und Ferne antwortet eine wahre. Die Kunst erinnert die Ordnung an ihr eigenes Chaos, das ihre Hüter nach außen projizieren. Pan jedoch löst Panik aus — die unentwegte Flucht nach vorne, die wir den Fortschritt nennen. Wie das „Unheimliche" Freud zufolge nur deshalb fremd erscheint, weil es als unser Geheimnis, unser Anderes, als die heimliche Verdrängung unseres eigenen Familienromans uns in Wahrheit anheimelt, so schrecken wir — gleichsam allergisch gegen uns selbst geworden — vor dem schauerlichen Glücksversprechen der Utopie zurück, als wäre uns jenes noch nie Dagewesene nicht längst schon vertraut. Die Utopie wäre jene unheimliche Heimat, zu der es das philosophische „Heimweh"9 hinzieht — eine Heimat, die das beschädigte Leben (darin besteht ja gerade seine Beschädigung) kaum ertragen könnte. „Esclaves", ruft das Eingangsmotto zu den Dissonanten aus, welches Nietzsches fröhliche Wissenschaft im Vorbeigehen auf die 7
Dialektik der Aufklärung, S. 6. * Vgl. die Notiz Le prix du progres in der Dialektik der Aufklärung, S. 243 — 44. 9 NOVALIS, zit. in Theorie des Romans, S. 22.
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Füße stellt, „ne maudissons pas la vie" (Rimbaud). Wir haben zwar nichts zu verlieren als unsere Ketten. Diese hüten wir jedoch mittlerweile als unseren teuersten, einzigen Besitz. Wehe dem, der an ihnen rüttelt! Das Leben, das nicht lebt, verflucht den Glücksboten, der ihm etwas anderes erzählen will. „Es möge der Messias kommen", hört sich sogar dieser selbst zuweilen murmeln, „aber ich will ihn nicht sehen". Die Wahrheit, die der Bote bringt, wird bei Adorno nach einem psychoanalytischen Modell konstruiert. Der Widerstand, auf den die Theorie gefaßt ist, kommt wie bei Freud innerhalb der Theorie selber — und zwar an zentraler Stelle — vor als das untrügliche, virulente Symptom ihrer eigenen Richtigkeit. Aber Adornos Theorie wendet sich gleichzeitig gegen das stoische Freudsche Pathos des Verzichts, der nun seinerseits als Widerstand gedeutet wird — als Parteinahme für die bestehende Kultur gegen das Unbehagen, das es besser weiß. Der unterdrückte Trieb übernimmt gleichsam die Rolle der Gewissensinstanz. Verzicht gilt Adorno als psychischer Positivismus, so wie umgekehrt die positivistische Adäquation an bestehende Tatsachen als verbissene Einübung einer Verbotstafel, als Verzicht auf die Utopie verstanden wird. Der Familienroman, um den es sich hier handelt, ist der des Abendlands. Wie Kafkas Bericht an eine Akademie liest er sich wie eine melancholische Betrachtung über die Preisfrage: War der Preis zu hoch? Er könnte den Titel tragen: Glanz und Elend des Subjekts, oder: Vergiß das Beste nicht. Denn die Wahrheit stellt sich als jenes Vergessene, Andere, Nichtidentische heraus, das um der Identität willen geopfert wurde oder werden mußte und jetzt nicht weniger dringlich nachgeholt werden muß, wenn Identität nicht länger zum Wiederholungszwang erstarren soll, der den Fortschritt in sein Gegenteil verkehrt. Der Prozeß der Zivilisation soll durch sich selber revidiert werden: darin liegt das paradoxe, aber durchaus positive, durch die Psychoanalyse hindurchgegangene Programm einer sich aus ihrer mytischen Verstricktheit rettenden Aufklärung, die nicht mehr in „Furcht vor der Wahrheit"10 zu erstarren braucht. Der Begriff der Aufhebung spielt dabei die Schlüsselrolle11. Hegel wird gegen sich selber gewendet: Der Geist soll nach wie vor seine eigenen Wunden mit dialektischen Mitteln heilen. Daß das Leben nicht lebt, geht also auf die Urgeschichte eines herrschaftlichen, paranoischen Subjekts zurück, das in seinem Beziehungswahn nie aufgehört hat, sich systematisch tot zu siegen. Das abendländische Subjekt, das den Fortschritt erfunden hat, ist somit ein im Kern gestörtes, auf 10 11
Dialektik der Aufklärung, S. 4. „Nimmt Aufklärung die Reflexion (...) nicht in sich auf, so besiegelt sie ihr eigenes Schicksal. Indem die Besinnung auf das Destruktive des Fortschritts seinen Feinden überlassen bleibt, verliert das blindlings pragmatisierte Denken seinen aufhebenden Charakter, und darum auch die Beziehung auf Wahrheit" (Dialektik der Aufklärung, S. 3).
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archaischer Stufe zurückgebliebenes. In einsamen, makabren, entmythologisierten Kulthandlungen opfert es sich selber als der letzte Götze mitten in der Götzendämmerung: so beschreibt auch Baudelaire den Dandy. Indem es alle Bilder stürmt, schafft es sich „eine Welt nach seinem eigenen Bilde" (Marx), ein „stahlhartes Gehäuse" (Weber), aus dem es — wie Midas, der „traurigste aller Alchimisten" (Baudelaire) — nicht wieder heraus kann. So häuslich hat es sich aber in seinem Elend eingerichtet, daß es das Andere als den Unruhestifter ahndet, der es an die wachsende Sinnlosigkeit seines Opfers — sprich: seines Sinnes — erinnert. Wahrheit ist somit nichts anderes als die Erinnerung an die Zukunft. Die scheinbar abstrakte Utopie des Anderen speist sich aus seiner Erfahrbarkeit. Sie ist durch eine regressiv-progressive Anamnese, eine Art gattungsgeschichtlicher Psychoanalyse zu konstruieren. Weder lebt das Leben, das nicht lebt, noch ist es jemals ganz totzukriegen. Ein Gespenst geht immer noch um in Europa und anderswo, nur bleibt es zunehmend ins Reich der Schatten verbannt 12 . Wer die Utopie nicht wahrhaben will, macht sich einer eigentümlichen Perversion schuldig, die an das kantische Motiv einer „selbstverschuldeten Unmündigkeit" anklingt. Zugleich erinnert Adornos Vorstellung eines pathologischen Widerstands gegen die eigenen Möglichkeiten an Nietzsches „Psychologie des Ressentiments". Als Nietzsche jene Psychologie entwarf, hatte er allerdings eine entgegengesetzte Perversion, die Verleugnung einer ganz anderen Wahrheit im Sinn. Beiden Perversionen ist der rätselhafte Zwang gemeinsam, das „Leben" zu verneinen; beide gehören zum psychischen Haushalt des europäischen Nihilismus. Wo Adorno jedoch das Ressentiment als Widerstand gegen das wahre, „richtige" (7) Leben deutet, hätte Nietzsche vermutlich jede Vorstellung von Utopie ihrerseits als Widerstand gegen das Leben, als ein Stück Ressentiment identifiziert und somit einen gewissen Widerstand gegen die Utopie als einen gesunden
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ADORNOS Denken hätte deshalb nicht durch die heute neuerdings proklamierte „Krise des Marxismus" erschüttert werden können, weil es sie spätestens seit der Dialektik der Aufklärung verarbeitet hat. — Der junge LUKACS konnte sich noch davon überzeugen lassen, daß die Logik der Verdinglichung an interne Schranken stoßen mußte. Die „scheinbar rastlose, bis ins tiefste physische und psychische Sein des Menschen hineinreichende Rationalisierung der Welt" hatte Geschichte und Klassenbewußtsein zufolge „ihre Grenze an dem formellen Charakter ihrer eigenen Rationalität" (Werke, Bd 2, 1968, S. 275). Dieses unzerstörbare Reservat entspricht den Motiven des besseren Wissens bei ADORNO und dem quasi biologischen Protest bei MARCUSE. Wo jedoch LUKACS in der Tradition der marxschen Krisentheorie daraus noch einen für den Kapitalismus tödlichen Widerspruch konstruieren konnte, sieht ADORNO nur noch ein Unbehagen in der kapitalistischen Kultur, das weniger eine revolutionäre Triebkraft als eine ohnmächtige Ahnung (oder aber ein vom Faschismus manipulierbares Potential) darstellt.
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feiern wollen. Betrachtet Adorno das Freudsche Pathos des Verzichts als Widerstand gegen das Leben, so dreht sich hier der Spieß nochmals um. Zwischen dem Geist der Utopie und dem, der stets verneint, der „Ontologie des Noch-Nicht-Seins" und der Anbetung des Nichts, zwischen Utopismus und Nihilismus hätte Nietzsche wohl keinen allzu großen Unterschied erblickt. Ist doch seiner Theorie zufolge die Psychologie des Ressentiments darauf zurückzuführen, daß sich der Wille zur Macht auf unheimliche Weise gegen sich selber wenden ließ. Zu schwach, um die Kraftprobe des Bestehenden zu bestehen; zu dekadent, um eine „ewige Wiederkehr des Gleichen" zu wollen, ohne daß das ad inßnitum zu einem ad nauseam entartet, flüchtet — Nietzsche zufolge — der geschwächte Wille seither zu kompensatorischen Visionen einer anderen, besseren Welt. Der langen Liste solcher Hinterwelten wären aus solcher Perspektive neben dem platonischen Ideenhimmel, der jüdisch-christlichen Metaphysik und dem Schopenhauerschen Nirwana zuletzt wohl auch die Utopien des westlichen Marxismus hinzuzufügen. Zwei scheinbar unversöhnliche Deutungen „des" Lebens, das nicht lebt, prallen hier aufeinander. Sie meinen jeweils die Versöhnung und ihr Gegenteil. Wo Nietzsche die „ewige Wiederkehr des Gleichen" fordert, denunziert Adorno das „Immergleiche"; und wo dieser das Offene, Freie apostrophiert, sähe jener Sklavenmoral. Der ewige Friede, von dem Nietzsche behauptet, daß er bloß langweilig wäre — das wäre erst die Kraftprobe, die in Adornos Augen zu bestehen wäre. Dagegen kommt es Nietzsche einzig darauf an, diesem beschädigten Leben nicht länger auszuweichen, sondern sich mit ihm in seiner ganzen Bedürftigkeit gründlich auszusöhnen. Insofern konfrontieren sich hier zwei konträre Versionen von Versöhnung, die jeweils das intendieren, womit die andere sich gerade nicht versöhnen will. Daß zwei Versionen des Ressentiments jeweils den Widerstand der anderen gegen die eigene Wahrheit anvisieren, gibt allerdings zu denken. Beide stellen einen absoluten Wahrheitsanspruch. In dem Maße, in dem beide zwingend sind, werden sie jedoch voneinander relativiert. Setzt sich die „traurige Wissenschaft" (7) der Minima Moralia ständig mit Nietzsche als ihrem eigenen Ahnherrn, dem Prototyp des philosophierenden Schriftstellers, kritisch auseinander, so tut sie das im ungebrochenen Vertrauen auf den Nutzen der erinnernden Aufhebung für das Leben. Dieses Vertrauen verleiht Adornos Argumentationsstrategie einen zugleich polemischen und ökumenischen Charakter. Für die vollendete Negativität des Bestehenden zeugt jetzt alles ebenso einstimmig wie einst für die Herrlichkeit Gottes das Loblied der Schöpfung. Es gibt keinen Gegner, in dessen Kraft der wendige Dialektiker nicht eintreten kann, um ihn nicht sogleich als unfreiwilligen Kronzeugen für die eigene Position beizubringen: keinen der sogenannten „Dunkelmänner der Aufklärung", der nicht in deren Licht gerettet, in deren kirchlich-mütterlichem
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Schoß als mehr oder weniger verlorener Sohn gut aufgehoben wäre. „Aufklärung ist totalitär"13. Die Frage ist erlaubt, ob nicht das großartige Programm, Aufklärung dadurch zu ihrer eigenen Genesung zu verhelfen, daß man ihr die Gegengifte einimpft, nicht ständig in Gefahr ist, jene totalitäre Tendenz auf sublimere Weise fortzusetzen. Wird nicht das Andere dabei wieder, oder sagen wir lieber: zu sehr (denn die Prinzipien, um die es sich in solchen Fragen handelt, sind eher eine Sache der Proportionen} assimiliert? Gibt es denn überhaupt das Andere? Gibt es das Leben, das nicht monolithisch, die Wahrheit, die nicht monotheistisch14, das Andere, das nicht monoton wäre? Wieviel Andersartigkeit paßt ihnen jeweils ins Konzept? Ist nicht die eine Wahrheit, in deren Pathos Adorno so ungeniert schwelgt, immer jenes Prokrustesbett, gegen welches seine Wahrheit eigentlich konzipiert wurde? Gibt es nicht also auch — wie sollte es auch anders möglich sein? — ein Prokrustesbett des Nicht identischen, nach dessen Maß von Fall zu Fall mit unterschiedlicher Genauigkeit geschnitten wird? Auch auf solchen Widerstand war Adorno längst gefaßt, und seine Antworten sind bekannt: die Welt ist es, die zu einem einzigen, sich selber zurichtenden Prokrustesbett zusammenwuchs; sie muß deshalb als System systematisch auseinandergelegt werden; alles andere wäre bloße Reprise des Nominalismus, der selber zum Prokrustesbett der Moderne wurde. Mit solchen Antworten läßt sich schwerlich streiten. Die Frage wäre nur, ob Adorno, der in den Minima Moralia wiederholt davor warnt, recht haben zu wollen, sich nicht zunehmend hinter massive, triftige Argumente verschanzt hat, die auch eine falsche, faszinierte Mimesis des „Weltlaufs" darstellen; ob solche Argumente oft genug in zweiter oder dritter Instanz — wie der Prozeß der Zivilisation selber — nicht zwar annulliert, wohl aber revidiert werden müßten.15 Man könnte meinen, daß das Amerikabild, das sich aus den Minima Moralia ergibt, ein besonders geeignetes Material wäre, um eine solche Vermutung zu erhärten. Wird doch dort die neue Welt als brave new world vorgestellt, wo die makabren Auswirkungen des bürgerlichen Tauschprinzips sich wie in Reinkultur studieren lassen und die Krankheit alles 13 14
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Dialektik der Aufklärung, S. 12. „Dialektik, Inbegriff negativen Wissens, möchte kein anderes neben sich haben; noch als negative schleppt sie das Gebot der Ausschließlichkeit aus der positiven, dem System, mit sich fort" (Negative Dialektik, in Gesammelte Schriften 6, Frankfurt 1973, S. 397). Man mag hier an BENJAMINS messianische Vorstellung von „Apokatastasis" (GS, V.l, 573) — dem Eingehen aller Seelen ins Paradies — als einen Prozeß denken, in dessen Verlauf jedes kritische Urteil revidiert wird, bis schließlich das Urteilen sich selber aufgehoben hat.
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Werdenden in ein scheinbar irreversibles Endstadium eingetreten ist. Aber erstens ist das „Material", um das es sich handelt, unabhängig von Adornos polemischer Optik kaum rekonstruierbar; und zweitens wird hier im Zusammenhang mit der Dialektik der Aufklärung eine Anthropologie des Spätkapitalismus entworfen, deren Grundannahme — die strukturelle Verwandtschaft zwischen deutschem Faschismus und amerikanischer Kulturindustrie — eine planvolle und oft geniale Verwischung geographischer Grenzen zur Folge hat16. Dennoch sollen hier zwei Stellen angeführt werden, die den „Splitter" in Adornos Auge, den er für das „beste Vergrößerungsglas" (57) hielt, sichtbar machen dürften. Daß sie, anstatt den Hut zu ziehen, mit dem Hallo der vertrauten Gleichgültigkeit sich begrüßen, daß sie anstatt von Briefen sich anrede- und unterschriftslose Inter office communications schicken, sind beliebige Symptome einer Erkrankung des Kontakts. Die Entfremdung erweist sich an den Menschen gerade daran, daß die Distanzen fortfallen. (44)
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Vgl. etwa die These einer wachsenden organischen Zusammensetzung des Menschen, die diejenige des Kapitals begleiten soll: „Das, wodurch die Subjekte in sich selber als Produktionsmittel und nicht als lebende Zwecke bestimmt sind, steigt wie der Anteil der Maschinen gegenüber dem variablen Kapital. (...). Nur indem der Prozeß, der mit der Verwandlung von Arbeitskraft in Ware einsetzt, die Menschen samt und sonders durchdringt und jede ihrer Regungen als eine Spielart des Tauschverhältnisses a priori zugleich kommensurabel macht und vergegenständlicht, wird es möglich, daß das Leben unter den herrschenden Produktionsverhältnissen sich reproduziert. Seine Durchorganisation verlangt den Zusammenschluß von Toten. Der Wille zum Leben sieht sich auf die Verneinung des Willens zum Leben verwiesen: Selbsterhaltung annulliert Leben an der Subjektivität. (...). Die Eigenschaften, von der echten Freundlichkeit bis zum hysterischen Wutanfall, werden bedienbar, bis sie schließlich ganz in ihrem situationsgerechten Einsatz aufgehen. Mit ihrer Mobilisierung verändern sie sich. Sie bleiben nur noch als leichte, starre und leere Hülsen von Regungen zurück, beliebig transportabler Stoff, eigenen Zuges bar. (...). In ihrer grenzenlosen Gefügigkeit gegens Ich sind sie diesem zugleich entfremdet: als ganz passive nähren sie es nicht länger. Das ist die gesellschaftliche Pathogenese der Schizophrenie. (...). Die im Individuum vollendete Arbeitsteilung, seine radikale Objektivation, kommt auf seine kranke Aufspaltung heraus. Daher der .psychotische Charakter', die anthropologische Voraussetzung aller totalitären Massenbewegungen. Gerade der Übergang fester Eigenschaften in einschnappende Verhaltensweisen — scheinbar Verlebendigung — ist Ausdruck der steigenden organischen Zusammensetzung. Quickes Reagieren, ledig der Vermittlung durchs Beschaffensein, stellt nicht Spontaneität wieder her, sondern etabliert die Person als Meßinstrument, disponibel und ablesbar für die Zentrale. (...). Je näher Organismen dem Tod, um so mehr regredieren sie auf Zuckungen. Danach wären die Destruktionstendenzen der Massen, die in den totalitären Staaten beider Spielart explodieren, nicht so sehr Todeswünsche wie Manifestationen dessen, wozu sie schon geworden sind. Sie morden, damit ihnen gleicht, was lebendig ihnen dünkt" (307-10).
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Daß solche Beobachtungen selber zum festen Bestand der Gemeinplätze gehören, die europäische Touristen regelmäßig austauschen, um sich ihrer kulturellen Identität zu vergewissern, spricht noch nicht gegen sie. Die Rückbesinnung auf die humane Substanz europäischer Gesellschaftsformen erlaubt Adorno sehr wohl, die verborgenen Zwänge einer anonymen Kontaktfreudigkeit zu durchschauen, die in Wirklichkeit eine „Kolonisierung der Lebenswelt" (Habermas) darstellt. Will man jedoch nicht mehr als Untergehender der steigenden Flut der Rationalisierung wahllos trotzen, sondern Strategien des Widerstands entwickeln, so sind eine Reihe von schwierigen Differenzierungen vorzunehmen, die Adorno selber nur innerhalb der Ästhetik herausgearbeitet hat. Selbstverständlich hat er sich zumindest von den plumperen anti-amerikanischen Vorurteilen des europäischen Bildungsbürgers distanziert und sich auch einige freundliche Bemerkungen über Amerika abgerungen17. Was man jedoch in den Minima Moralia vermißt, ist nicht bloß eine nuanciertere Betrachtungsweise, die keineswegs mit einer ausgewogeneren gleichzusetzen wäre, sondern vor allem das andere dialektische Extrem — jenen auf Montesquieus Lettres persanes zurückdatierenden Versuch, einen fremdländischen Blick auf die eigenen Unsitten ruhen zu lassen. Erst vom Land der gym shoes her sieht die europäische Kultur wie eine komische Alte aus, die in ihrer Handtasche nach dem Gesichtspuder wühlt, und niemand, der Adorno seinen Hut hat ziehen sehen, wird in jenem rührenden Schauspiel altmodischer Höflichkeit ein zukunftsschwangeres Modell menschlicher Umgangsformen erblicken wollen. Wer möchte ein für allemal entscheiden, ob chaotische oder klappernde Gesellschaftsrituale die widerstandsfähigere Alternative zur verwalteten Welt darstellen? Daß Adorno den Kulturschock niemals überwand, ist ihm freilich nicht zu verdenken. Es ist ihm eher dafür zu danken. Wer darauf verzichtet hat, auf Gruppenzugehörigkeit — auf rechte Ontologie oder linke Illusionen — Rücksicht zu nehmen, kann sich Einsichten erlauben, die man sich sonst verbietet: wir wissen es, aber wir wagen es nicht. Nicht nur für die eigene Kontinuität, sondern ebenfalls für das bessere Verständnis Amerikas 17
Vgl. etwa Sticbtvorte, Frankfurt 1969, S. 107 f. (zit. von JÜRGEN HABERMAS in AdornoKonferen^ 1983, hrsg. von LUDWIG VON FRIEDEBURG und JÜRGEN HABERMAS, Frankfurt 1983, S. 352—53, und den Artikel „Wissenschaftliche Erfahrungen in Amerika" in Gesammelte Schriften 10,2: „Wesentlicher, und beglückender, war die Erfahrung des Substantiellen demokratischer Formen: daß sie in Amerika ins Leben eingesickert sind, während sie zumindest in Deutschland nie mehr als formale Spielregeln waren und, wie ich fürchte, immer noch nicht mehr sind" (S. 735). Nicht nur ist keine Spur von einer solchen Erfahrung in den Minima Moralia vorhanden, sie scheint auch vor dem Hintergrund der dort umrissenen „dialektische(n) Anthropologie" (Dialektik der Aufklärung, S. 7) kaum denkbar zu sein.
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waren Widerstand und Mißverständnis durchaus produktiv. Wenige haben die Untiefen amerikanischer Oberflächlichkeit besser erkannt als Adorno, auch wenn der Kritiker „verwilderter Selbstbehauptung" dabei sichtlich seinem eigenen geistigen Selbsterhaltungstrieb gehorcht. Es ist indessen schwierig, die von Adorno vielgerühmte „ungemilderte Einsicht" in die „negative Ontologie" des „Weltlaufs" vom bösen, apotropäischen Blick zu unterscheiden, der die Menschen erst recht verdinglicht. Unter dem Titel Gesundheit %um Tode schildert er folgendermaßen the American way of death: Die libidinösen Leistungen, die vom Individuum verlangt werden, das sich gesund an Leib und Seele benimmt, sind derart, daß sie nur vermöge der tiefsten Verstümmelung vollbracht werden können, einer Verinnerlichung der Kastration in den extroverts, der gegenüber die alte Aufgabe der Identifikation mit dem Vater das Kinderspiel ist, in dem sie eingeübt wurde. Der regular guy, das popular girl müssen nicht nur ihre Begierden und Erkenntnisse verdrängen, sondern auch noch alle die Symptome, die in bürgerlichen Zeiten aus der Verdrängung folgten. Wie das alte Unrecht durch das generöse Massenaufgebot von Licht, Luft und Hygiene nicht geändert, sondern durch die blinkende Durchsichtigkeit des rationalisierten Betriebs gerade verdeckt wird, so besteht die inwendige Gesundheit der Epoche darin, daß sie die Flucht in die Krankheit abgeschnitten hat, ohne doch an deren Ätiologie das mindeste zu ändern. (...). Aber die Spur der Krankheit verrät sich doch: sie sehen aus, als wäre ihre Haut mit einem regelmäßig gemusterten Ausschlag bedruckt, als trieben sie Mimikry mit dem Anorganischen. Wenig fehlt, und man könnte die, welche im Beweis ihrer quicken Lebendigkeit und strotzenden Kraft aufgehen, für präparierte Leichen halten, denen man die Nachricht von ihrem nicht ganz gelungenen Ableben aus bevölkerungspolitischen Rücksichten vorenthielt. Auf dem Grunde der herrschenden Gesundheit liegt der Tod. (69 — 70) In der Gestalt des amerikanischen extrovert stellt das Leben, das nicht lebt, eine tödliche Herausforderung nicht nur an die Person des sensiblen Europäers, sondern auch an die Wahrheit dar, die er wie sein eigenes Leben liebt. Ein weiterer Topos aus dem ßn-de-siecle klingt hier an: die Infizierung des Gesunden durch den Dekadenten, der ihm die eigene Dekadenz nachweisen will. Adorno muß jene, die ihn mittlerweile gern als einen introvert abtun, mit jener neuen Pest: der Psychoanalyse verseuchen, von der schon Freud behauptete, er habe sie nach Amerika mitgebracht. Kann nämlich der Diagnostiker keine Symptome mehr ausfindig machen, so ist er am Ende seines Lateins und muß gestehen, er verstehe die Welt nicht mehr. Adorno wird tatsächlich fündig — aber man wird nicht behaupten können, daß sein begriffliches Instrumentarium geeignet ist, Züge des Nichtidentischen noch im tiefsten Mittelwesten zu entdecken. Daß die Menschen „immer noch besser als ihre Kultur" (51) sind, ist eine folgenreiche Einsicht, die nur als Nebenbemerkung in die Minima Moralia eingegangen ist. Der Denker, der in die „Nuance ums Ganze" verliebt war, scheint für die feinen Unterschiede, die es außerhalb von Philosophie
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und Kunst noch gibt, wenig Interesse aufbringen zu können. Ich möchte Ihnen an dieser Stelle ein kleines Geständnis machen und damit auch mein erkenntnisleitendes Interesse verraten: Zwar mache ich zuweilen Adornosches Gedankengut gegen meine amerikanische Freundin geltend, die übrigens eine Karriere als cheer leader hinter sich hat, aber ich habe bisher jenen von Adorno so eindringlich beschriebenen Ausschlag, den ich gut zu kennen glaube, an ihr nicht zu entdecken vermocht. Die Frage, wer uns vor Amerika retten soll, ist indessen dringender, apokalyptischer denn je. Daß die neue Welt die alte lediglich zu Ende führt, haben die Dialektiker der Aufklärung überzeugend dargelegt. Macht es doch die Neuheit ihrer dialektischen Optik aus, daß die Katastrophen der Gegenwart die Perspektive auf die Vergangenheit so sehr verschieben, daß diese rückwirkend als Komplize des jüngsten Grauens erscheint. Horkheimer und Adorno sehen Amerika mit den weit geöffneten Augen des benjaminschen Engels der Geschichte: Jahrhunderte hat sich die Gesellschaft auf Victor Mature und Mickey Rooney vorbereitet. Indem sie auflösen, kommen sie zu erfüllen.18
Die Schockwellen einer traumatischen Amerika-Erfahrung schlagen an vielen Stellen der Dialektik der Aufklärung auf die europäische Vergangenheit majestätisch zurück. Im Sinne jener Dialektik müßte die Gegenüberstellung der Kontinente ähnlich negativ ausfallen wie die vernichtende Konfrontation von Feudalherr und Kapitalist in Marxens Pariser Manuskripten, allerdings ohne das Hinzutreten eines positiven, These und Antithese aufhebenden Geschichtsträgers. Aber es dürfte sich auch aus einer solchen allseitig ausgetragenen Dialektik die Spiegelschrift einer Utopie ergeben, deren Spuren schon hier und jetzt aus der beiderseitigen Negation zu extrapolieren wären. Was jedoch bei der Lektüre der Minima Moralia auffällt, ist, daß eine solche doppelseitige Dialektik zwar verbal anvisiert, aber im eigenen Falle eher selektiv und schonend durchgeführt wird. Oft genug wird sie durch eine verfallsgeschichtliche Perspektive („Erkrankung des Kontakts") ersetzt, wonach das Gute Alte, das freilich den Keim des Schlechten Neuen schon in sich barg, dennoch qualitativ anders gewesen sein und somit das Bild des „Anderen" aufbewahren soll. Aus diesem Perspektivenwechsel — benjaminisch gesprochen; der Auswechslung des politischen Blicks aufs Gewesene gegen den historischen19 — wäre dem Verfasser der Minima 18 19
Dialektik der Aufklärung, S. 165, Vgl. GS, II.l, 300, wo von der surrealistischen „Auswechslung des historischen Blicks aufs Gewesene gegen den politischen" die Rede ist, Aber BENJAMIN wirft einem Historiker der Berliner Mietskasernen, der kein Sensorium für das Leben, das sich auch in den Hinterhöfen abspielt, seine Unfähigkeit vor, die politische Perspektive auf Gelebtes gegen eine historische auszuwechseln: „Wäre es nicht urn der Wahrheit, danr? um der Wirkung
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Moralia zunächst kein Vorwurf zu machen. Ist doch — wie Benjamin schrieb, der sehr entschieden für das Schlechte Neue, wenn auch nicht für Amerika, Partei zu ergreifen wußte — das Bild von Glück, das wir hegen, durch und durch von der Zeit tingiert (...), in welche der Verlauf unseres eigenen Daseins uns nun einmal verwiesen
hat. (GS, 1.2, 693)
Daraus sind jedoch keine Monopolansprüche hinsichtlich der verpflichtenden Allgemeingültigkeit der eigenen Erfahrung abzuleiten: sie verpflichtet zunächst nur einen selbst. Von niemandem — geschweige denn von einem Denker, der davon überzeugt ist, daß „Vernunft vollends, und fensterlos, in die Idiosynkrasien sich geflüchtet" (85) hat — sollte verlangt werden, er solle von der Kontingenz seiner eigenen Erfahrung gefälligst abstrahieren. Wer wissen will, welche Monumente Idiosynkrasien erbauen können, soll sich in der Tat bei Adorno umsehen. Man fragt sich jedoch, ob nicht Adorno, statt den Mut zu seinen Idiosynkrasien — den heute vielgerühmten „Eigensinn" — durch selbstgewährte Vorschußlorbeeren zu belohnen, gelegentlich die eigene Beschränktheit — wie es zur einfachsten intellektuellen Hygiene gehört — mehr als bloß flüchtig hätte bekennen sollen. Sonst tut's ja die Wissenssoziologie, gegen die Adorno mit Recht — aber vielleicht nicht zufällig — allergisch war. Je konkreter Adornos Einsichten, desto „bewußtloser, und damit verhängnisvoller" fallen sie nicht bloß „der Welt" im allgemeinen, sondern dem eigenen, keineswegs freischwebenden Standort innerhalb eines „Verblendungszusammenhangs" zu, den er mit aller dialektischen Bescheidenheit — „wäre es auch nur um ein Winziges" — zu überblicken behauptet, als wäre er noch in seiner Abneigung gegen Whisky20 der leibhaftige Engel der Geschichte. Jener Engel übernimmt bei Adorno die vakante Stelle des Weltgeists. Nur „der Blick, der aufs Grauen geht" (53), ist ihm noch unverdächtig. Aber Benjamin, der jenen Blick permanent übte, änderte auch permanent den Blickwinkel. Er wollte seine Moskaureise dazu benutzen, eine „neue Optik" (GS, IV.l, 316) auf Europa zu gewinnen, und interessierte sich nicht für den Splitter im Auge, sondern für die Splitter der messianischen „Jetztzeit" (GS, 1.2, 704) mitten im Bestehenden. Allerdings fiel auch ihm zu Amerika nur Kafka ein: Er fürchtete, man würde ihn dort als den „letzten Europäer" ausstellen.
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willen. Nicht als abstraktes Negativum, als Gegenbeispiel darf vor uns stehen, was wir vernichten wollen (...)" (GS, III, 265). Der versöhnende Blick, dem BENJAMIN hier das Wort redet, gilt allerdings erst der Vergangenheit, die als solche schon gerichtet ist. „(...) anders als beim Wein, läßt jedem Glas Whisky, jedem Zug an der Zigarre der Widerwille noch sich nachfühlen, den es den Organismus gekostet hat, auf so kräftige Reize anzusprechen, und das allein wird als Lust registriert" (S. 51).
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„Jeder Intellektuelle in der Emigration", gesteht Adorno vorübergehend zu, „lebt in einer Umwelt, die ihm unverständlich bleiben muß (...) immerzu ist er in der Irre" (32). Noch der dümmste Mensch, heißt es weiter, ist imstande, die Denkfehler des klügsten zu erkennen. Der kluge Dialektiker weiß also um seine Dummheit gründlich Bescheid und glaubt sie damit schon wieder aufgehoben zu haben. Wie aber wenn seine Dummheit im aufhebenden Bescheidwissen selber liegt? Jeder amerikanische Automechaniker würde den dubiosen Materialismus eines Denkers durchschauen, der lieber anläßlich einer Bemerkung von David Hume „die ganze Wahrheit über den Geist der Praxis" (43) verkündet, als daß er seine plumpe Ablehnung plumpen Denkens aufgäbe, und lieber Scham über die Trennung geistiger und physischer Arbeit empfindet, als daß er aufhörte, aus der Erkenntnis seiner Not eine Tugend zu machen. Vor Mißbrauch wird gewarnt (330 — 33), heißt es in den Minima Moralia hinsichtlich der Dialektik. Adornos eigener Mißbrauch besteht darin, den Widerstand seiner Gegner — und seien sie Weltalter oder Kontinente — wegzurationalisieren. Gewiß, der „Konformist" im „Raketenflugzeug" stößt heute vor „ins Plusquamperfekt" (293). Daß es auch Neues unter der Sonne gibt, hat jedoch Adorno selber als Ästhetiker ausgeführt. Sonst tut er's allerdings in mancher Hinsicht der Kulturindustrie gleich: er glättet Widersprüche, meidet Ambivalenz, vereinfacht Unübersichtliches. Sollte jene Identifikation mit dem Angreifer, die er anderen stereotyp vorwirft, der Balken im eigenen Auge gewesen sein? Und sollte es nicht heute zu den Aufgaben der Aufklärung gehören, Adorno hier und da mit seiner eigenen, immensen, unersetzlichen Hilfe ein bißchen zu widerlegen? Sonst bleibt's beim romantischen Sonnenuntergang. „Wahr sind nur die Gedanken, die sich nicht verstehen" (254). Wahr — so könnte man eventuell diesen Satz verstehen — sind jene Gedanken, die nicht nur — hegelisch — mit der Zeit über sich selber hinausweisen, sondern sich auch — benjaminisch — aus dem Konzept bringen lassen, aus der eigenen Konsequenz herausfallen, und damit den Wunsch des Selbstgefangenen: „Sesam, öffne dich, ich möchte hinaus" zum Durchbruch verhelfen. Im Vertrauen, sie seien wahrer als er's selber weiß, begibt sich Adorno an dieser Stelle aller Urheberrechte auf seine Gedanken und hofft damit („Wirf weg, damit du gewinnst"), dans le vrai zu sein: „Mit dem Glück ist es nicht anders als mit der Wahrheit: Man hat es nicht, sondern ist darin" (143). Wenn man sie aber nicht „hat", dann kann sie einem jederzeit „davonlaufen"21. „Wahr sind nur die Gedanken ...". Der Satz ist eine bewußte Übertreibung. Übertreibungen stellen jedoch in Adornos Augen den besten Zugang 21
Vgl. GS, 1.2, 695.
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zur Wahrheit als einem Ziele dar, das man entweder gar nicht erst erreicht oder gleich wieder überschießt. „An der Psychoanalyse ist nichts wahr als ihre Übertreibungen" (56, Hervorhebung von mir). Der Rest wäre nämlich inadäquate Adäquation, verdinglichter Positivismus, realitätsgerechter — aber nicht wahrheitsgerechter — common sense, Verzicht auf die Utopie. Haben nur Übertreibungen eine prekäre Chance, der Glückstreffer zu sein, dann dürften in der Tat sehr viele Sätze der Minima Moralia wahr sein. Es wäre aber auch mit Sätzen zu rechnen, die abwechselnd wahr und unwahr wären, und das jeweils so extrem, daß sie vor jedem Rückfall in den vordialektischen common sense gefeit wären, demzufolge „jedes Ding seine zwei Seiten hat" (333). In diesem Sinne wäre der Satz „Das Leben lebt nicht" auch gegen den Strich zu lesen. Gibt es ohnehin keine rein konstativen Sätze; strahlt ein jeder Impulse aus, und sei's durch deren objektivierende Brechung oder gar Unterdrückung; ist der Wunsch im Sinne sowohl einer materialistischen Trieb- als auch einer utopischen Sprechakttheorie der legitime Vater eines jeden noch so ausdruckslosen Gedankens (262), so protestiert jener Satz unüberhörbar gegen seinen eigenen Inhalt. Das Leben sträubt sich dagegen, daß es nicht lebt, und zwar innerhalb jenes Satzes selber, der durch seine bloße Existenz seinen Doppelsinn akzentuiert, ohne dabei die Sinnlosigkeit, die er festhält, durch ein heroisches, lebensphilosophisches Dennoch zu verleugnen. Ebenfalls wäre das Ganze erst dann das Unwahre, wenn der Absolutismus ehemaliger philosophischer Systeme sich restlos als Weltsystem bewahrheitet hätte. Zu den untilgbaren Resten gehört aber jener vorbeugende Satz selber. An den Minima Moralia ist nichts wahrer als die Übertreibungen, aus denen das Buch größtenteils besteht und die in der Zwischenzeit an Wahrheit jedenfalls nicht verloren haben. Wahr sind jedoch vor allem jene pechschwarzen Gedanken Adornos, die wirklich hoffen, daß sie unwahr sind. Einmal vom narzißtisch besetzten Pathos der Wahrheit, vom gottverdammten Tiefsinn des deutschen Professors befreit, und zwar with a little help from our friends, wären sie vielleicht wahrer, utopischer als sie's manchmal selber wissen wollten. Postscriptum: Habermas contra Horkheimer/Adorno contra Habermas In seiner Theorie des kommunikativen Handelns (Band l, Frankfurt 1981; im folgenden ThkH) stellt Jürgen Habermas einen „Paradigmenwechsel" vor, der das ursprüngliche Programm der Kritischen Theorie, das mit der Dialektik der Aufklärung abgebrochen wurde, sowohl wiederaufnehmen als auch über seine Grenzen hinaustreiben soll. Bedeutet der damit wiedergewonnene Anschluß an den „Wissenschaftsbetrieb", den die Dialektiker der Aufklärung von vornherein als Symptom der „rastlosen Selbstzerstö-
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rung der Aufklärung" abwerteten, vielleicht einen Fortschritt, so ist ein solcher Begriff auch in diesem Zusammenhang ein ambivalenter. Zwar ist das alte Pathos einem in jedem Sinne kommunikativeren Ton gewichen, dafür scheint jedoch die Möglichkeit eines Buches wie der Minima Moralia, das von jenem Pathos getragen wird, nicht mehr zugelassen zu sein. Das wäre der Preis des Fortschritts. Habermas legt am Weberschen Modell der Rationalisierung dar, wie sich innerhalb moderner Gesellschaften drei Wertsphären ausdifferenziert haben, die jeweils einer eigenen Logik gehorchen: die kognitive (propositionale Wahrheit, Wissenschaftsbetrieb), die moralisch-evaluative (normative Richtigkeit) und die ästhetisch-expressive (Schönheit, Authentizität, Kunstbetrieb) (ThkH, 234). Während Max Weber den „Rationalitäts^*wacbs" betont, der mit der Ausdifferenzierung der kognitiven Wertsphäre eintritt, legen Horkheimer und Adorno den Akzent auf den „Rationalitätsverlust", der mit der wissenschaftlichen Instrumentalisierung der Vernunft einsetzt (ThkH, 461—462). Denn der „emphatische(n) Wahrheitsbegriff der Metaphysik" (ThkH, 464) ist damit auseinandergefallen. Der Subjektivierung einer auf Zweckrationalität reduzierten Vernunft entspricht nämlich ein „Irrationalwerden von Moral und Kunst" (ThkH, 463), die fortan von den Ansprüchen propositionaler Wahrheit abgespalten werden; die normativen und expressiven Wertsphären werden im Zuge des Rationalisierungsprozesses jedes immanenten Geltungsanspruchs beraubt. Stellt Weber mit heroisch-stoischem Pathos die unumkehrbare Logik eines solchen Prozesses fest, so suchen die Dialektiker der Aufklärung die verlorengegangene Einheit der Vernunft, die weder ungeschehen zu machen noch in ihrer alten dogmatischen Form zu halten ist, im Medium der Kritik doch noch zu retten. Deshalb der Name „die Kritische Theorie". Negative Dialektik ist „solidarisch mit Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes" (Negative Dialektik, S. 400) und hebt sie als verschwindende auf. Wo jene metaphysisch gedachte Einheit der Vernunft noch bei Lukacs jenseits von bloßer Kontemplation, die in Geschichte und Klassenbewußtsein selber als Symptom von Verdinglichung gilt, als praktisch-geschichtliche Verwirklichung der Theorie zurückgewonnen werden soll, glaubt die Kritische Theorie inzwischen wieder, auf Philosophie zurückgeworfen zu sein: diese, „die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward" (Negative Dialektik, S. 15). Da die Kritische Theorie den systematischen Anspruch der großen Philosophie weder erneuern noch aufgeben kann und gleichzeitig nicht bereit ist, in eine materiale Wissenschaftskritik überzugehen, die an „die Situation des Zerfalls der objektiven Vernunft" anknüpft, „um am Leitfaden einer an ihre Gegenstände entäußerten subjektiven Vernunft (...) einen .phänomenologischen', durch Selbstreflexion erweiterten Begriff der Erkenntnis zu entwickeln" (ThkH, S. 504—05), verstrickt sie sich Haber-
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mas zufolge zunehmend in Aporien. Diese werden dadurch akzentuiert, daß Lukacs' Kritik der Verdinglichung nun zu einer ungeschichtlichen „Urgeschichte des Subjekts" ausgeweitet wird, die als ein von vornherein bis zur Unkenntlichkeit entstelltes Verhältnis von Geist und Natur dargestellt wird (ThkH, 508 — 09). Deren Versöhnung soll in einer Selbstkritik der Vernunft bestehen, die zwischen ihrer subjektiv-instrumentellen und ihrer objektiv-dogmatischen Gestalt, zwischen Nominalismus und Realismus, zu vermitteln weiß. Anstatt jedoch, wie Habermas vorschlägt, die „nächstliegende Spur" zu verfolgen, „die durch den Eigensinn der verschiedenen Rationalitäts komplexe und die nach universalen Geltungsaspekten aufgespaltenen Prozesse der gesellschaftlichen Rationalisierung hindurchführt", und erst so — wie etwa in Kleists Aufsatz über das Marionettentheater — die verlorengegangene Einheit wiederherstellt, halten sich Adorno und Horkheimer an die „weitgehend verwischte Spur, die zu den Ursprüngen der instrumentellen Vernunft zurückführt, um so den Begriff der objektiven Vernunft noch zu überbieten" (ThkH, 511). Denn die Stelle einer nicht mehr halbierten Vernunft wird durch den Begriff einer der Rationalität vorangehenden Mimesis vertreten, die von der Begriffssprache noch einzuholen wäre (ThkH, 512). Das führt Habermas zufolge zu einer ästhetisierenden Beschwörung der Wahrheit. Die Kritische Theorie „tritt (...) die Kompetenz der Darstellung einer nur noch indirekt beschworenen Vernunft an die Kunst ab" (ThkH, 489 f.) und verstrickt sich damit in noch tiefere Aporien, aus denen Adorno schließlich „nicht mehr herausführen" (ThkH, 514) will. Sie muß „eine Theorie der Mimesis aufstellen (...), die nach ihren eigenen Begriffen unmöglich ist" und sich höchstens in Bildern der jüdisch-christlichen Mystik umkreisen läßt (ThkH, 512). Übrig bleibt nur noch der Versuch, das zu beschwören, was sich diskursiv nicht sagen läßt. Damit wären wir in der Tat bei der negativen Mystik gottloser Zeiten wieder angelangt. Liefert Habermas' Auseinandersetzung mit Adornos und vor allem Horkheimers Abkehr vom ursprünglichen Programm eines interdisziplinären Instituts für Sozialforschung eine theoretische Rechtfertigung für den hier unternommenen Versuch, ein gewisses Unbehagen an Adornos Pathos zu artikulieren, so ist gleichzeitig der Verlust festzuhalten, der sich dort bemerkbar macht, wo — wie bei Habermas — jenes Pathos fallengelassen wird. Daß Habermas in der gegenseitigen Annäherung von Philosophie und Ästhetik beim späten Adorno lediglich einen Rückschritt — „schockierende Nähe" zu Heidegger (ThkH, 516) — sieht, ist ein Indiz dafür, wie strikt er sich an die Grenzen hält, die vom Auseinandertreten der Vernunft in drei arbeitsteilige Wertsphären vorgeschrieben sind. Die Tugend der Minima Moralia liegt hingegen in der bewußten Überschreitung solcher Grenzen. Das Buch verdankt seine besten Einsichten dem Umstand, daß es gleichzeitig an allen drei Fronten kämpft und damit — punktuell und
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ex mgativo — die Einheit der Vernunft, des Wahren, Guten, Schönen, festhält. Minima Moralia: Metaphysik ist Adorno zufolge „in die Mikrologie ein(ge)wandert" (Negative Dialektik, S. 399). Ist sie als verschwindende nur in ihrem „Sturz" zu retten, so bleibt ein unverminderter Anspruch auf — die Eine — Wahrheit dennoch bestehen. Die Minima Moralia werden nicht länger — wie bei Aristoteles — als Maxima vorgestellt. Gleichwohl sollen sie zur heute vergessenen „Lehre vom richtigen Leben" (7) beitragen. In ihrer vielschichtigen Rhetorik gehen ästhetische, ethische, philosophische und sozialpsychologische Momente systematisch ineinander über. Dieser permanente Verstoß gegen das Ethos des Wissenschaftsbetriebs zeitigt sowohl ihre Stärken als auch ihre Schwächen. Man kann die Frage aufwerfen, ob erstere überhaupt ohne letztere zu haben waren. Denn um ein solches Buch zu schreiben, muß man sich nicht unendlich — und zuweilen unerträglich — ernst genommen haben? Muß man nicht ein grenzenloses Vertrauen in den kognitiven Wert seiner wildesten Affekte haben und jede Idiosynkrasie andächtig für eine Regung des Weltgeists halten? Vergleicht man Habermas' methodologisch abgesicherte Bemerkungen über die „Kolonisierung der Lebenswelt" mit Adornos „unreglementierten" Attacken auf die „verwaltete Welt", so ermißt man jedenfalls den „Preis" (ThkH, 506), welche beide für ihre jeweiligen theoretischen Optionen zu bezahlen haben. Die Theorie des kommunikativen Handelns erhebt implizit den Anspruch, der legitime Erbe der Kritischen Theorie zu sein. Sollte nicht ein historischer Materialismus, der sich ernst nimmt, mit dem Pathos jener Theorie solidarisch sein im Augenblick ihrer Ablösung?
GAJO PETROVIC (Zagreb)
Die Frankfurter Schule und die Zagreber Philosophie der Praxis Nicht die Frankfurter Schule und die Zagreber Philosophie der Praxis im ganzen sollen in diesem Vortrag betrachtet werden, sondern eben das Verhältnis zwischen den beiden1. Auch so eingeengt, ist das Thema sehr breit und kann hier mehr angedeutet und angeregt als ausführlich behandelt werden. Es ist nicht so ganz ausgemacht, wer genau und wie in die Frankfurter Schule gehört. Anstatt mich in eine Diskussion darüber einzulassen, möchte ich nur erwähnen, daß ich in die Frankfurter Schule alle jene Sozialforscher und Theoretiker einbeziehe, die sich auf eine längere oder kürzere Zeit an der Arbeit des Frankfurter „Instituts für Sozialforschung" beteiligt haben, und zwar nachdem zur Ausübung der „Diktatur des Direktors", was das grundlegende Prinzip des Instituts von Anfang an war2, Max Horkheimer (im Jahre 1930) berufen wurde. Als den „harten Kern" der Schule werde ich zunächst den Direktor-Diktator Horkheimer und seinen alter ego und Nachfolge-Direktor Adorno betrachten wie auch alle diejenigen (wie z. B. Pollock), die mit der Arbeit des Instituts auf die Dauer verbunden geblieben sind, und als „Dissidenten" diejenigen, die (wie Fromm und Marcuse) von einem Zeitpunkt an sich gegenüber dem 1
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Dieser Text entspricht ungefähr dem in Ludwigsburg frei gesprochenen Vortrag. Indem ich aus dem Gedächtnis den Vortrag rekonstruierte, habe ich nicht nach einer wortwörtlichen Rekonstruktion des Gesagten gestrebt (was sowieso unmöglich gewesen wäre). Einige Thesen, die in Ludwigsburg ohne dazugehörige Begründung vorgelegt worden sind, werden hier (noch immer ungenügend) durch bibliographische Angaben und Zitate aus den relevanten Texten unterstützt, während einige Teile der Ludwigsburger Ausführungen hier ausgelassen oder sehr kurz zusammengefaßt werden. Während ich in Ludwigsburg ziemlich ausführlich die Hauptideen der jugoslawischen Philosophie der Praxis dargelegt habe, sind diese Darlegungen hier auf ein Minimum reduziert. Was aber die Grundkonzeption und die Hauptthesen betrifft, fällt dieser Text mit dem Ludwigsburger Vortrag völlig zusammen. Vgl. MAX HORKHEIMER, Sosyalphilosophisehe Studien, hrsg. von WERNER BREDE, Fischer, Frankfurt a. Main 1981, S. 42.
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Gajo Petrovic
„harten Kern" verselbständigt haben3. In einer mehr oder minder üblichen Weise werde ich zwischen der „ersten" (Vorkriegs-) und der „zweiten" (Nachkriegs-) Generation der Schule (wie z. B. J. Habermas, A. Schmidt, A. Wellmer) unterscheiden. Unter der „Zagreber Philosophie der Praxis" werde ich die Philosophie der Praxis verstehen, wie sie sich in Zagreb entwickelt hat, und unter der „Philosophie der Praxis" die von Marx ausgehende Philosophie, die den Begriff der Praxis in den Mittelpunkt ihres Denkens stellt4. Eine Reihe der jugoslawischen Philosophen sind im Laufe der fünfziger und sechziger Jahre bei einer solchen Philosophie angekommen. Sie haben sich selbst zunächst als Vertreter eines undogmatischen, schöpferischen bzw. humanistischen Marxismus betrachtet, später oft als Vertreter eines selbständigen Denkens im Geiste von Marx. Erst nachdem sie die Sommerschule von Korcula (1963) und die Zeitschrift Praxis (1964) gegründet hatten5, wurden sie von anderen immer häufiger als „Praxis-Philosophen" bezeichnet. An diese Bezeichnung haben sie sich im Verlauf der Zeit gewöhnt und haben sich ihr manchmal selbst bedient. Inzwischen sind sie aber zu dem 3
4
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Sicherlich bin ich mir des nur relativen Wertes dieser Unterscheidung bewußt (so ist z. B. W. BENJAMIN weder zum „harten Kern" noch zu den „Dissidenten" zu rechnen). MARX selbst hat sich nie als einen „Philosophen der Praxis" bezeichnet, noch wäre das ein ganz angemessener Name für sein Denken (wie es auch für die Zagreber „Philosophie der Praxis" nicht ist!). Dieser Titel weist aber doch besser auf das Wesen des Marxschen Denkens hin als Namen wie der „dialektische Materialist", „der historische Materialist", der „politische Ökonom" u. a. Als eine „Philosophie der Praxis" haben das Marxsche Denken die italienischen Marxisten LABRIOLA und GRAMSCI ebenso wie die Nichtmarxisten CROCE und GENTILE gesehen. Eine Reihe bedeutender marxistischer Denker im 20. Jahrhundert — wie z. B. BLOCH, LUKÄCS, KORSCH, LEFEBVRE, KOSIK — können als „Philosophen der Praxis" bezeichnet werden. Sie haben sich aber selbst nicht so bezeichnet, und sie haben sich nie als eine spezielle Richtung oder Schule konstituiert. In den letzten Jahren hat sich eine Gruppe von jüngeren Philosophen und Sozialwissenschaftlern in der Bundesrepublik speziell um die Ausarbeitung einer Philosophie der Praxis bemüht. Davon zeugen die zwei Tagungen über die Philosophie der Praxis (in Kassel 1982 und 1984) wie auch die veröffentlichten Arbeiten (speziell diejenigen von W. SCHMIED-KOWARZIK). Als ein Resultat der Zusammenarbeit der jugoslawischen (speziell der Zagreber) und der bundesdeutschen (speziell der Kasseler und der Tübinger) Praxis-Philosophen sind auch drei Kurse („Marxismus und Existenzphilosophie I, II" und „Marxismus und Philosophie") und zwei Symposien (das eine über MARX, das andere über BLOCH und LUKÄCS) in Dubrovnik 1983—1985 zustandegekommen. Die erste Nummer der jugoslawischen Ausgabe der Zeitschrift ist im September 1964 und die erste Nummer der internationalen Ausgabe im Januar 1965 erschienen. Im Jahre 1969 wurde auch die „Taschenausgabe" von Praxis begründet, und 1971 sind als Sonderausgabe von Praxis die Dokumente aus der Studentenbewegung 1968 veröffentlicht worden. Ende 1974 wurde die Zeitschrift zwar nicht formell verboten, wohl aber von außen her verhindert.
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Schluß gekommen, daß ihr Denken (ebenso wie das Denken von Karl Marx) noch angemessener als das „Denken der Revolution" zu bezeichnen wäre. Die Hauptanstöße zur Entwicklung der jugoslawischen Praxis-Philosophie sind aus Zagreb gekommen. Die Zagreber Philosophen haben auch die Zeitschrift „Praxis" gegründet. In diesem Sinne könnte man in die Versuchung kommen, die ganze jugoslawische Philosophie der Praxis als eine „Zagreber Philosophie" zu bezeichnen. Das wäre jedoch nicht ganz angemessen, weil wichtige Beiträge zur Entwicklung dieser Philosophie (die keine „Schule" und keine streng abgegrenzte philosophische Richtung darstellt) auch aus anderen Städten und speziell aus Belgrad gekommen sind6. Wegen der großen Vielfalt der innerhalb der jugoslawischen PraxisPhilosophie vertretenen individuellen Auffassungen wäre es schwierig, innerhalb ihres Rahmens klar abgesonderte Spielarten zu unterscheiden, und noch schwieriger (oder eher unmöglich), alle in einer Stadt lebenden Praxis-Philosophen in eine Spielart zu drängen. So, wenn ich hier über die „Zagreber Philosophie der Praxis" spreche, verstehe ich darunter keine spezielle Schule oder Spielart der jugoslawischen Philosophie der Praxis, sondern eher die Gesamtheit der in Zagreb wirkenden Vertreter dieser Richtung, mit allen individuellen Unterschieden in ihren Auffassungen. Die in diesem Text vorgenommene Beschränkung auf die Zagreber Philosophie der Praxis habe ich nicht nur deshalb als erwünscht empfunden, weil auf diese Weise das breite Thema etwas eingeengt werden kann, sondern auch deshalb, weil eben einige Zagreber Philosophen speziell am 6
Obwohl die Redaktion aller Ausgaben von Praxis zunächst ausschließlich aus Zagrebern bestand, haben von Anfang an auch die Philosophen aus anderen Städten Jugoslawiens zu der Zeitschrift intensiv beigetragen. In den 1966 gegründeten Redaktionsrat der Praxis sind neben einer Reihe ausländischer Philosophen und Soziologen auch die Mitarbeiter aus Belgrad, Sarajevo und Ljubljana (und später auch aus Skopje und Split) eingetreten. Im Jahre 1970 wurde die Redaktion der internationalen Ausgabe so reorganisiert, daß in sie neben der Zagreber auch die Belgrader aufgenommen wurden (die Redaktion von anderen Ausgaben verblieb auch weiterhin ausschließlich bei den Zagrebern). — Mehr über die Zeitschrift Praxis in meinem Buch Wo^u Praxis (serbokroatisch, Praxis, Zagreb 1972) wie auch in einer Reihe auf Deutsch, Französisch und Englisch veröffentlichter Aufsätze (z. B. „Die jugoslawische Philosophie und die Zeitschrift Praxis", Einleitung zu G. PETROVIC, Hrsg., Revolutionäre Praxis, Jugoslawischer Marxismus der Gegenwart, Rombach, Freiburg 1968). Siehe auch die Bücher: GERSON SHER, Praxis: Marxist Criticism and Dissent in Socialist Yugoslavia, Indiana University Press, Bloomington & London, 1977; JULIUS OSWALD, Revolutionäre Praxis, Darstellung und Kritik der philosophischen Positionen der Gründer der Zeitschrift „Praxis", Pathmos Verlag, Düsseldorf 1982; STJEPAN SIROVEC, Ethik und Metaethik im jugoslawischen Marxismus, Ferdinand Schöningh, Paderborn, München, Wien, Zürich, 1982.
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Dialog mit der Frankfurter Schule interessiert waren und weil auch die Frankfurter in ihren Äußerungen über die jugoslawische Philosophie sich mehrmals speziell auf die Zagreber Philosophen bezogen haben. Wegen der Unabtrennbarkeit der Zagreber Philosophie der Praxis von der jugoslawischen kann auch die Beschränkung auf die Zagreber in diesem Beitrag nicht absolut sein. Manches soll auch allgemein über die jugoslawische Philosophie gesagt werden. Die jugoslawische (und vor allem auch die Zagreber) Philosophie der Praxis ist im Laufe der fünfziger Jahre entstanden, beträchtlich später als die Frankfurter Schule und zugleich ganz unabhängig von ihr. Geboren als Resultat der Kritik der stalinistischen Interpretation des Marxismus, einer Kritik, die sich zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Marxismus der Zweiten und der Dritten Internationale ausweitete, hat sie ein Denken zu entwerfen versucht, das nicht an den bisherigen Marxismus, sondern an das Denken von Karl Marx anknüpft, und zwar nicht um bei einer „besseren Marx-Interpretation" zu verbleiben, sondern um über die Probleme des gegenwärtigen Menschen und der gegenwärtigen Welt selbständig zu denken zu versuchen. Indem sie den Nachdruck dabei auf das selbständige Denken legte, hat sie zugleich die kritische Aneignung des ganzen philosophischen Erbes wie auch den Dialog und die Auseinandersetzung mit den gegenwärtigen philosophischen Strömungen (den „marxistischen" ebenso wie den „nicht-marxistischen") zu einer Vorbedingung für ein fruchtbares Denken und so zu einer ständigen Aufgabe erklärt. Innerhalb dieser Optik wurde Ende der fünfziger und am Beginn der sechziger Jahre auch die Frankfurter Schule als die zunächst übersehene ältere Schwester entdeckt, eine bewundernswerte Schwester mit vielfältigen Begabungen, die schon längst manche wichtige Probleme gesehen hat, die die jüngere erst vor kurzem wahrgenommen hat, und die zu vielen bedeutenden Einsichten vor geraumer Zeit gekommen war, zu denen sich die Zagreber durch große Anstrengungen selbst durchzuarbeiten hatten. Die Faszination war außerordentlich groß, vergleichbar nur mit derjenigen, die die Entdeckung von Ernst Bloch in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre begleitete. Seitdem ist die Frankfurter Schule für die Zagreber Praxis-Philosophen (wie auch für andere Philosophen in Jugoslawien) eine ständige Quelle der Belehrung und der Anregung geblieben. Die Praxis-Philosophen haben sich sehr bemüht, mit den Vertretern der Frankfurter Schule in einen direkten Kontakt und in die mündliche Diskussion zu treten, und das ist teilweise gelungen. Erich Fromm ist im Jahre 1960 mit Vorträgen nach Belgrad und Zagreb gekommen, und im Jahre 1963 hat er sich am internationalen Symposium „Mensch heute"7 in Dubrovnik und an der ersten Tagung der Sommerschule 7
Dieses Symposium wurde auch in der Weltpresse registriert (der ausführliche Bericht von IRING FETSCHER erstreckte sich über eine ganze Zeitungsseite).
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von Korcula („Progreß und Kultur") beteiligt. Der andere Frankfurter „Dissident", Herbert Marcuse (sonst in ständigen Streitigkeiten mit Fromm), hat sich an den Tagungen der Sommerschule von Korcula 1964 („Sinn und Perspektiven des Sozialismus") und 1968 („Marx und die Revolution") beteiligt, zwei Tagungen, die sicherlich zu den wichtigsten gehören8. Später ist Fromm nochmals nach Jugoslawien gekommen, und die beiden verblieben in engsten Beziehungen mit den Praxis-Philosophen. So sind die beiden im Jahre 1966 in den Redaktionsrat von „Praxis" eingetreten9 und haben in der Zeitschrift veröffentlicht. Mit dem „harten Kern" der „ersten Generation" ist es leider nicht gelungen, ähnliche Beziehungen zu entwickeln. Sie sind weder zur Sommerschule von Korcula (oder auch nach Jugoslawien) gekommen, noch haben sie zu der Zeitschrift „Praxis" beigetragen10. Dagegen sind zwei Vertreter der „zweiten Generation" (J. Habermas und A. Wellmer) nach Korcula, Zagreb, Belgrad und speziell nach Dubrovnik mehrmals gekommen. In Dubrovnik haben sich in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre gewisse Formen der intensiven Zusammenarbeit entwickelt (gemeinsame Kurse in dem Interuniversity Centre for Post-Graduate Studies in Dubrovnik)11. 8
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Über diese Tagungen wurde sehr ausführlich in der internationalen Presse berichtet. Unter den Berichterstattern waren hervorragende Marxisten (wie z. B. H. LEFEBVRE und L. GOLDMANN) und Marxologen (wie z. B. I. FETSCHER und A. KÜNZLI). Zu den Mitgliedern des Redaktionsrates von Praxis zählten seit 1966 auch E. BLocH, G. LUKÄCS, H. LEFEBVRE, L. GOLDMANN, L. KOLAKOWSKI, K. KOSIK, E. PACI, S. MALLET, K. AXELOS, A, GORZ, J. HABERMAS, U. CERRONI, A. ZANARDO, T. B. BOTTOMORE, R. S. COHEN, N. BIRNBAUM, K. WOLFF, A. HELLER, J. STRINKA wie auch die Nichtmarxisten A. J. AVER, M. FARBER, E. FINK, D. RIESMAN und viele andere. Später auch H. D. BAHR, L. LOMBARDORADICE, S. MORAWSKI, P. NAVILLE, M. WARTOFFSKY, G. H. VON WRIGHT u. a. In einem Gespräch, das ich im Institut für Sozialforschung in Frankfurt im Dezember 1967 oder im Januar 1968 mit ADORNO führte und das einen ziemlich diplomatischen Charakter hatte, weil sich ADORNO bemühte, sich möglichst höflich und liebenswürdig dem Gast gegenüber zu zeigen, und ich mich meinerseits bemühte, ihn für die Teilnahme an der Sommerschule von Kortula zu gewinnen, versicherte ADORNO, daß er die Zeitschrift Praxis mit großem Interesse liest und sehr gerne an der Sommerschule von Korcula teilnehmen möchte. Dabei entschuldigte er sich sofort für die folgende Tagung (im Sommer 1968), indem er behauptete, er möchte zunächst seine ästhetischen Studien zu einem vorläufigen Abschluß bringen, um sich danach wieder mehr den Problemen widmen zu können, die, wie er meinte, den in Korcula diskutierten näherstanden. Dabei hat er mir als fast sicher versprochen, im Jahre 1969 nach Korcula zu kommen. Ich kann mich nicht genau erinnern, ob er im Jahre 1969 eingeladen wurde und was er eventuell antwortete. Jedenfalls hat er im Jahre 1969 an der Sommerschule von Korcula nicht teilgenommen (noch konnte er teilnehmen), weil er am 6. August 1969, zwei Wochen vor dem Beginn der Tagung, starb. So der von J. HABERMAS und G. PETROVIC gegründete Kurs „Philosophie und Sozialwissenschaft" (zunächst in deutscher und dann in englischer Sprache durchgeführt), der
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Um eine breitere und intensivere Rezeption der Frankfurter Theoretiker in Jugoslawien zu stimulieren, haben die Praxis-Philosophen Übersetzung und Veröffentlichung ihrer Werke in Jugoslawien angeregt. So wurden bisher mehr als vierzig Bücher der Frankfurter Philosophen und Soziologen wie auch mehrere hundert ihrer kleineren Arbeiten (in Zeitschriften und Sammelbänden) in das Serbokroatische (von anderen in Jugoslawien vertretenen Sprachen ganz zu schweigen) übersetzt12. Nicht alle, wohl
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seither regelmäßig im Frühjahr stattfindet (in den letzten Jahren ohne die beiden ursprünglichen Gründer). Es handelt sich um die folgenden Bücher (es werden die Titel der Originalausgabe, nicht der Übersetzungen, angeführt; nur bei den selbständig gemachten Auswahlausgaben wird zunächst der serbokroatische Titel und dann die deutsche Übersetzung angeführt; in Klammern werden die Stadt und das Jahr der Veröffentlichung der Übersetzung genannt): ERICH FROMM: The Sane Society (Beograd 1963), Escape from Freedom (Beograd 1964), Psychoanalysis and Zen Buddhism, with D. T. SUZUKI (Beograd 1964), The Art of Loving (Zagreb 1965), Man for Himself (Zagreb 1966), The Forgotten Language (Zagreb 1970), The Anatomy of Human Destructiveness (Zagreb 1975), The Revolution of Hope (Beograd 1978), Sigmund Freud's Mission (Beograd 1978), Marx's Concept of Man (Beograd 1978), To Have or To Be (Zagreb 1979), Autorität und Familie (Zagreb 1980), The Crisis of Psychoanalysis (Zagreb 1980), Beyond the Chains of Illusion (Zagreb 1980), Greatness and Limitations of Freud's Thought (Zagreb 1980), The Dogma of Christ (Zagreb 1984), You Shall Be As Gods (Zagreb 1984), Psychoanalysis and Religion (Zagreb 1984). — I^abrana djela u 8 knjika (Selected Works in 8 volumes, Zagreb 1980), Djela u 12 svessytka (Works in 12 volumes, Zagreb 1984). HERBERT MARCUSE: Eros and Civilisation (Zagreb 1965), Reason and Revolution (Sarajevo 1966), One-Dimensional Man (Sarajevo 1968), Das Ende der Utopie & An Essay on Liberation (Zagreb 1972), Kultur und Gesellschaft (Beograd 1977), Counterrevolution and Revolt (Beograd 1979), Estetska dimen^ija (Ästhetische Dimension, 10 Texte zur Kunst und Kultur, Zagreb 1981), Hegels Ontologie und die Grundlegung einer Theorie der Geschichtlichkeit (Sarajevo 1981), Priloay %a fenomenologiju historijskog materijaUyma (Beiträge zu einer Phänomenologie des Historischen Materialismus, 8 frühe Aufsätze, Beograd 1982), Soviet Marxism (Zagreb 1982), A Critique of Pure Tolerance (with R. P. WOLFF and B. MOORE, Zagreb 1984). THEODOR W. ADORNO: Philosophie der neuen Musik (Beograd 1968), Drei Studien %u Hegel (Sarajevo 1972), Jargon der Eigentlichkeit (Beograd 1978), Negative Dialektik (Beograd 1979), Filo^pfsko-socioloiki eseji o knjifyvnosti (Philosophisch-soziologische Essays über die Literatur, Zagreb 1985). MAX HORKHEIMER: Eclipse of Reason (Sarajevo 1963), Traditionelle und kritische Theorie (Beograd 1976), Kritische Theorie, I-II (Zagreb 1982). MAX HORKHEIMER und THEODOR W. ADORNO: Dialektik der Aufklärung (Sarajevo 1974). THEODOR W. ADORNO und MAX HORKHEIMER: Soziologische Exkurse (Zagreb 1980). WALTER BENJAMIN: Eseji (Essays, Beograd 1974), Zur Kritik der Gewalt (Zagreb 1976). JÜRGEN HABERMAS: Strukturwandel der Öffentlichkeit (Beograd 1969), Erkenntnis und Interesse (Beograd 1975), Theorie und Praxis (Beograd 1980), Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus (Zagreb 1982), Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus (Sarajevo 1985), Technik und Wissenschaft als „Ideologie" (Zagreb, im Druck).
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aber die Mehrheit von diesen Übersetzungen wurden durch die PraxisPhilosophen und ihre Schüler bzw. Mitarbeiter angeregt. Und wo die Anregung aus anderen Kreisen kam, war das auch dem geistigen Klima und den Bewertungen zu verdanken, zu deren Entwicklung die PraxisPhilosophen entscheidend beigetragen haben. Die ersten zwei Bücher der Frankfurter sind in der serbokroatischen Übersetzung im Jahre 1963 erschienen (Fromms Sane Society und Horkheimers Eclipse of Reason}. Marcuses erstes Buch wurde 1965 veröffentlicht, Adornos 1968. Fromm wurde sofort (und blieb bis heute) der am meisten übersetzte Autor. Seine Bücher fanden ihre Leser immer leichter, so daß es schließlich unnötig wurde, weitere Übersetzungen von ihm speziell anzuregen. So haben drei Verlagshäuser vor kurzem in eigener Initiative eine Ausgabe seiner Werke in 12 Bänden veröffentlicht. Im Laufe der sechziger Jahre konnte mit ihm in der Zahl der übersetzten Bücher nur Marcuse konkurrieren (gegen vier Bücher von Fromm waren in der genannten Dekade drei Bücher von Marcuse und je eines von Horkheimer, Adorno und Habermas veröffentlicht). Erst im Laufe der siebziger Jahre wurden die ersten Bücher von Benjamin wie auch weitere Bücher von Horkheimer und Adorno übersetzt. Daß Fromm der am meisten veröffentlichte Autor war, bedeutet nicht, daß er auch unter den Philosophen der am meisten gelesene war. Er wurde (und wird noch immer) von Intellektuellen (und sogar Nicht-Intellektuellen) verschiedener Art viel gelesen, und die Soziologen haben ihn immer mehr als die Philosophen studiert. Im Laufe der sechziger Jahre war Marcuse der unter den Philosophen am meisten gelesene Frankfurter, im Moment ist es vermutlich Habermas oder Adorno. Sicherlich hat sich die Rezeption der Frankfurter Schule durch die Praxis-Philosophen nicht nur auf die Anregung von Übersetzungen beschränkt. Man hat auch versucht, den Beitrag der Frankfurter Theoretiker zum gegenwärtigen Denken zu würdigen, sich mit ihnen über die offenen Fragen der gegenwärtigen Philosophie auseinanderzusetzen und so mit ihnen in einen Dialog zu treten. So haben die „Praxis-Philosophen" in verschiedener Form über die Frankfurter Schule geschrieben: in Form von informativen Aufsätzen, kritischen Abhandlungen, Einleitungen zu übersetzten Büchern und Zeitschriftenrezensionen über die nichtübersetzten. Man hat versucht, bei der Ausarbeitung der eigenen Auffassungen in problemorientierten Beiträgen die Arbeit der Frankfurter Schule zu berücksichtigen. Man hat auch die jüngeren Kollegen und Studenten zu ALFRED SCHMIDT: Geschichte und Struktur (Beograd 1976), Begriff der Natur in der Lehre von Marx (Beograd 1981). ALFRED SCHMIDT, G. E. RUSCONI: Die Frankfurter Schule (Beograd 1974). FRANZ NEUMANN: The Democratic and the Authoritarian State (Zagreb 1980).
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Buchrezensionen, Artikeln und speziell auch zu Doktor-, Magister- und Diplomarbeiten über die Frankfurter Schule und ihre Vertreter angeregt13. Speziell hat man sich bemüht, das wertvolle bei den Frankfurtern angemessen zu würdigen und für das eigene Denken fruchtbar zu machen. Nun konnte das sicherlich nicht nur in Form von Lobpreisungen und des passiven Aneignens vor sich gehen. Diesen Tatbestand habe ich in meinen für das Ludwigsburger Treffen vorbereiteten „Vorgreifenden Andeutungen" zu diesem Vortrag mit den folgenden Worten charakterisiert: „Jedoch haben sich das eigene Denken und das kritische Gefühl bei der jüngeren Schwester schon im Laufe der fünfziger Jahre so weit entwickelt, daß sie sich auch zur älteren Schwester nicht ganz unkritisch verhalten konnte. Sie glaubte zu merken, daß auch bei der älteren Schwester nicht alles zu Ende und konsequent durchdacht war und speziell daß gewisse Grundfragen (wie z. B. die Frage nach der Möglichkeit, ,Natur' und Rolle der Philosophie in unserer Zeit oder die Frage nach dem ,Wesen' des Menschen) nicht genügend geklärt worden sind. So schien es, als ob sich die Schwester in ihre geistreichen und glänzenden Anwendungen und SpezialUntersuchungen eingelassen hatte, ohne vorher die eigene Grundund Ausgangsposition kritisch zu sichern oder wenigstens zu klären. Mit einer gewissen Erleichterung haben die Zagreber Philosophen dagegen festzustellen geglaubt, daß auch die eigenen Denkbemühungen nicht ganz vergeblich waren, weil man nicht nur die schon entdeckten Gedanken wieder entdeckt hatte, sondern auch über gewisse Fragen oder Probleme nachzudenken versucht hatte, die in der Frankfurter Schule (wie überhaupt in der gegenwärtigen philosophischen Diskussion) etwas vernachlässigt waren. Man fand, daß es vielleicht nicht ganz unfruchtbar wäre, in der angenommenen Richtung weiterzudenken. Die Marxsche Idee von der Aufhebung und der Verwirklichung der Philosophie wurde in der ,Philosophie der Praxis' weder als ein Verzicht auf die Philosophie zugunsten einer philosophisch nicht fundierten, soziologischen oder halbsoziologischen ,kritischen Theorie der Gesellschaft' verstanden noch als ein Verzicht auf alle Theorie zugunsten einer theoretisch nicht fundierten ^evolutionären Praxis'. Die Philosophie kann sich, dieser Auffassung zufolge, nur in einer neuen und höheren Praxis verwirklichen (Praxis verstanden in einem ganz anderen, in der Frankfurter Schule unberücksichtigten Sinn), deren entscheidendes Moment eben eine höhere Denkpraxis ist, ein Denken der Praxis oder ein Denken der Revolution, das philosophischer' als alle bisherige Philosophie sein soll, um eben 13
Auf eine Konkretisierung und bibliographische Bekräftigung der obigen Behauptungen muß ich leider verzichten. Eine ganz kurze beispielhafte Illustrierung könnte eher zu Mißverständnissen führen, und für eine angemessene Bekräftigung gibt es hier keinen Platz.
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nicht nur bei der Philosophie in einem schulmäßigen Sinne verbleiben zu müssen."14 Leider ist das meiste von dem, was die Zagreber Philosophen über die Frankfurter Schule geschrieben haben, in der serbokroatischen Sprache geblieben. Es gibt hier keine Möglichkeit, darüber ausführlich zu berichten. Nur auf drei Beispiele von Stellungnahmen der Zagreber Philosophen zur Frankfurter Schule, die alle drei in der deutschen Sprache zugänglich sind, möchte ich hier kurz hinweisen. Als das erste Beispiel nehme ich die bei Suhrkamp erschienene Geschichte des Marxismus von Predrag Vranicki15. In der serbokroatischen Ausgabe hat sich dieses Buch von der einbändigen ersten bis zur dreibändigen vierten Ausgabe entwickelt. In allen Ausgaben ist die Frankfurter Schule gebührend vertreten, wobei die ihr gewidmete Aufmerksamkeit (und der ihr zugeteilte Raum) von der ersten bis zur vierten Ausgabe absolut und relativ gewachsen sind. Auch in der deutschen, auf der zweiten jugoslawischen Ausgabe16 basierenden Übersetzung sind die Frankfurter Theoretiker ausführlich dargestellt. So wird die frühe Tätigkeit des Frankfurter Kreises im Vierten Teil des Buches („Marxismus in der Periode der Dritten Internationale") im Abschnitt „Die Gruppe um die Zeitschrift für Sozialforschung" dargestellt17, und im Fünften Teil („Marxismus in der zeitgenössischen Periode") werden die wichtigsten Frankfurter in einer Reihe von Abschnitten gesondert behandelt18. Sicherlich ist die Darstellung der Frankfurter Schule in Vranickis Geschichte des Marxismus schon deshalb unvollständig geblieben, weil das Buch nur bis zum Jahre 1968 reicht. Auch handelt es sich um einen Versuch, die ganze Geschichte des Marxschen Denkens, wie auch des Marxismus, bis zum genannten Jahre zu umfassen, so daß kein individueller Denker oder auch Gruppe sehr ausführlich oder gar erschöpfend dargestellt werden könnte. Selbstverständlich hat das Buch auch seine „subjektiven", von dem zur Verfügung stehenden Umfang unabhängigen Mängel. So ist meines Erachtens z. B. das wichtige Werk Benjamins allzu flüchtig erwähnt ebenso wie die ausdrücklich philosophischen (nicht 14
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Die zitierten „Vorgreifenden Andeutungen" sind gewissermaßen in einem anderen „Schlüssel" (oder Stil) als dieser Text geschrieben. Deshalb zitiere ich sie lieber, als sie in den Text unmittelbar einzuschließen zu versuchen. PREDRAG VRANICKI, Geschichte des Marxismus, erweiterte Ausgabe, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1983 (bis auf einen Zusatz unveränderter Nachdruck der Suhrkamp Ausgabe 1972 und 1974). — Im weiteren zitiert als GM. PREDRAG VRANICKI, Historija marksi^ma, Drugo preradeno i prosireno izdanje, Dvije knjige, Naprijed 1971. — Im weiteren zitiert als HM. GM 543-550, HM I 446-452. GM 829-877, HM II 225-264.
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nur kulturphilosophischen und ästhetischen) Arbeiten Adornos. Im ganzen ist es aber ein gewissenhafter Versuch, die Entwicklungsgeschichte, die Grundideen und Hauptbeiträge der Frankfurter Schule objektiv darzustellen. Wiederholt betont Vranicki die große Bedeutung der Frankfurter Theoretiker. So charakterisiert er das Institut für Sozialforschung als „eines der bedeutendsten Zentren, wo die gesellschaftliche Problematik marxistisch oder zumindest von dem Marxismus nahestehenden Positionen aus reflektiert und untersucht wurde"19. Speziell betont er „die Offenheit [dieser Theoretiker] gegenüber allen wissenschaftlichen Problemen des bürgerlichen, sozialistischen und marxistischen Denkens", eine Offenheit, die ihnen erlaubte „frei von höchsten Autoritäten, Exkursionen in verschiedene Gebiete zu unternehmen, die im eingeschlossenen stalinistischen Marxismus tabu waren", und auch die positiven Resultate der nichtmarxistischen Philosophie „für die Entwicklung eines tieferen marxistischen Bildes der Welt und des Menschen zu verwenden."20 So schließt er sein Urteil über die frühe Phase der Frankfurter Schule mit den folgenden Worten ab: „Durch die Breite ihres Eingriffs in die Problematik der modernen Zivilisation wie durch ihr theoretisches Niveau versprach diese Gruppe marxistischer Wissenschaftler mehr als jede andere Gruppe dieser Periode, zu neuen Positionen zu führen."21 Bei der Behandlung der einzelnen Frankfurter bezeichnet Vranicki Benjamin als einen „sehr subtilen Denker, der durch seine Bildung und seinen verfeinerten Sinn für die detaillierte Analyse sehr anregend auf seine Freunde wirkte"22. Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung wird als eine „radikale Kritik der Industriekultur in der gegenwärtigen technisch entwickelten Zivilisation" und als „eines der geistreichsten Werke des Frankfurter Kreises" gekennzeichnet, als eines der Werke, das „den neuen Generationen sehr geholfen [hat], einen kritischen Standpunkt gegenüber der total ideologisierten Welt zu bekommen"23. Nachdem er Marcuse als einen Denker bezeichnet hat, „der von der zentralen Marxschen Konzeption der Geschichtsdialektik zu einer selbständigen Analyse der modernen Zivilisation übergegangen ist"24, würdigt er noch eine Reihe seiner Werke und Analysen25. In Erich Fromm sieht Vranicki „einen 19
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GM 543, HM I 446. GM 543-544, HM I 447. GM 549, HM I 451. GM 818, HM II 215-216. GM 835, HM II 230. GM 849, HM II 241. So wird z. B. Eros and Civilisation als ein „gedankenreiches Werk über die Freudsche Psychoanalyse" bezeichnet (GM 853, HM II 245).
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ausgesprochen humanistischen Denker", dessen „wichtige Erkenntnisse und Anregungen für eine weitere und tiefere Erfassung der Problematik des Menschen und der Geschichte von Bedeutung sind"26. Und Jürgen Habermas hat, Vranicki zufolge, „mit seinen Analysen der modernen Zivilisation, mit seiner kritischen Enthüllung des entpersonalisierten Charakters der modernen manipulierenden Gesellschaft bei der jüngeren Generation viel zu einer kritischen Einsicht in ihre eigene Lage beigetragen"27. Bestrebt, vor allem jenes Wertvolle aufzuzeigen, was die Frankfurter zu der gegenwärtigen Diskussion beigetragen haben, läßt Vranicki ohne einen kritischen Kommentar vieles stehen, was meines Erachtens zu kritisieren wäre. Doch ist seine Darstellung der Frankfurter nicht unkritisch. So bemängelt er die späteren Schriften von Horkheimer, wo „die revolutionären Akzente seiner früheren Arbeiten immer mehr hin zur Resignation, ja sogar zu der Illusion [führen], daß es nur die Alternative zwischen der sogenannten ,freien Welt' und dem .Faschismus Hitlerscher, Stalinscher oder anderer Varianz' gebe"28. Und wenn er über die Adornoschen Arbeiten spricht, wo sich dieser mit den Problemen der Phänomenologie und des Existenzialismus, der Philosophie Kants, Hegels und Heideggers befaßt, meint Vranicki, daß es „subtile und geistreiche Analysen [sind], die jedoch zur Problemlösung nichts wesentlicheres beitragen. Das unsystematische und polyphonische Kreisen um Persönlichkeiten und Gegenstände, das dazu noch mit einer gewissen esoterischen Abstraktheit belastet ist — vor allem in seinem letzten großen Werk, der Negativen Dialektik —, entfernte den Autor immer mehr von den kritischen Intentionen wie von den historischen Resonanzen, die die kritische Theorie einmal hatte und haben wollte."29 Entsprechende, beträchtlich mildere kritische Bemerkungen finden wir auch dort, wo Vranicki über Marcuse, Fromm und Habermas schreibt. Als ein zweites Beispiel der Rezeption der „kritischen Theoretiker" durch die Zagreber Philosophen erlaube ich mir, mein eigenes, zunächst auf Deutsch erschienenes Buch Philosophie und Revolution zu erwähnen. Das ist kein philosophic- oder ideengeschichtliches Werk und auch kein Buch über die Frankfurter Schule. Es handelt sich darum, eigene, durch Marx inspirierte Auffassungen zu Grundproblemen der Philosophie auszuarbeiten. In diesem Rahmen habe ich mich auch auf einige Frankfurter bezogen. So ist die zweite Hälfte des ersten Kapitels („Wesen und Entwicklung des Marxschen Denkens"), das übrigens als Beitrag für ein Symposium im
26 27 28 29
GM GM GM GM
877, 848, 841, 845,
HM HM HM HM
II II II II
264. 240. 235. 238.
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Frühling 1968 entstanden ist, einer Auseinandersetzung mit Habermas gewidmet. Indem ich einige Thesen von Habermas (die er in seinem Buch Theorie und Praxis vertritt) billige (wie z. B. diejenige, wonach das Denken von Marx nicht als ein Materialismus „im Sinne des Naturalismus der Enzyklopädisten im 18. oder gar der Monisten im 19. Jahrhundert" zu verstehen ist, sondern vielmehr „als Geschichtsphilosophie und Revolutionstheorie in einem [...], ein revolutionärer Humanismus, der seinen Ausgang nimmt von der Analyse der Entfremdung und in der praktischen Revolutionierung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse sein Ziel hat"30), frage ich mich, ob auch einige andere seiner Thesen aus demselben Buche ebenfalls annehmbar sind. So bestreite ich speziell seine energische Leugnung aller ontologischen und anthropologischen Fragestellungen bei Marx und die Thesen wie diejenige, wonach „Marx nie nach dem Wesen des Menschen und der Gesellschaft als solchem gefragt hat und niemals danach, wie sich der Sinn von Sein, gar des gesellschaftlichen Seins konstituiert"31. Teilweise im Einklang mit Habermas und zugleich im Gegensatz zu ihm versuche ich zu zeigen, daß das Denken von Marx „weder ,reine' Philosophie noch unphilosophische ,kritische Theorie', weder eine schulmäßige Ontologie und Anthropologie noch eine dilettantische politische Theorie ist", sondern eher ein Denken der Revolution, das „in aller bisherigen Erfahrung der gesellschaftlichen Praxis, Wissenschaft und Philosophie gegründet /j·/"32. In einem anderen Beitrag im selben Buch, wo ich das Verhältnis zwischen Macht, Gewalt und Humanität betrachte, beziehe ich mich auf Herbert Marcuse und speziell auf seine Unterscheidung zwischen der progressiven Gewalt des revolutionären Terrors und der regressiven Gewalt des weißen Terrors. Indem ich in seiner Unterscheidung den Versuch sehe, die Schwierigkeiten zu überwinden, „die in der Meinung liegen, daß Gewalt nur durch Gewalt überwunden werden könne, wie auch in der Meinung, daß jeder Gebrauch der Gewalt unzulässig sei"33, finde ich, daß in seiner Konzeption neue Schwierigkeiten und Gefahren entstehen wie auch speziell die Fragen, die er nicht befriedigend beantworten kann. So versuche ich einen meines Erachtens besseren Zugang zum Problem zu zeigen. Als ein drittes Beispiel für das Verhältnis der Zagreber Philosophen zu den Frankfurtern nehme ich einen Text von Milan Kangrga, der primär weder als ein Beitrag zur Geschichte des Marxismus noch als ein Versuch, 30
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J. HABERMAS, Theorie und Praxis, Sozialphilosophische Studien, Luchterhand, Neuwied und Berlin, 1963 (im weiteren zitiert als TP), S. 269. - Vgl. G. PETROVIC, Philosophie und Revolution, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 1971 (im weiteren zitiert als PhR), S. 26. TP 169, PhR 31. PhR 39. PhR 199-200.
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eigene Auffassungen systematisch zu klären, gemeint war, sondern eher als ein Versuch, sich mit den Lehren der Frankfurter Schule kritisch auseinanderzusetzen. Konkret, es handelt sich um Kangrgas Rezension des Buches von Alfred Schmidt Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx, eine Rezension, die nicht nur die Auffassungen von Schmidt, sondern auch einige der Grundauffassungen der ganzen Schule in Frage stellt34. Wohl betont Kangrga, daß auf Grund dieses einen Buches von Schmidt über „die Resultate des ganzen Kreises von Philosophen und Soziologen [nicht zu] urteilen [ist] [...], die einen wichtigen Beitrag zur zeitgenössischen marxistischen Philosophie geliefert haben und die neben den sehr seltenen Einzelgängern unter den Marxisten der vergangenen Jahrzehnte (G. Lukacs, K. Korsch, E. Bloch) eine kleine Oase des selbständigen und kritischen Denkens in der Wüste des dogmatisierten und vulgarisierten Marxismus in der Epoche der Apologie des Stalinismus bilden"35. Andererseits verweist er aber darauf, daß das Buch in den von Horkheimer und Adorno herausgegebenen „Frankfurter Beiträgen zur Soziologie" erschienen ist, daß die beiden in ihrer „Vorbemerkung" die Qualitäten des Buches hervorgehoben haben und auch daß das Buch „in einigen wesentlichen Äußerungen und mehr noch in der Art, wie der Autor Zugang zu diesem Problem findet, gewissermaßen einige Charakteristika des sgn. frankfurter Kreises' zum Ausdruck bringt, in dem auch A. Schmidt seine philosophische Schulung erfahren hat und aus dem er hervorgegangen ist" (113). Die Grenzen der Schmidtschen spezifischen Betrachtungsweise der Marxschen Philosophie sind, Kangrga zufolge, schon im ersten Kapitel seines Buches sichtbar, wo er auf den „nichtontologischen Charakter des Marxschen Materialismus" besteht und selbst in einem „abstrakten Gegensatz" zum Ontologismus verbleibt, der sich zu einer negativen Haltung zum Ganzen der Philosophie ausbreitet. So werden mit dem unhaltbaren „Ontologismus" sowohl die ontologischen wie auch die anthropologischen Grundlagen des Marxschen Denkens fallengelassen. Aus Furcht, daß aus Marx wieder ein traditioneller Ontologe gemacht wird, „verfällt der Verfasser ins andere Extrem und identifiziert die Philosophie mit dem Ontologismus" (114). Er versucht bei jener „nüchternen" Kritik zu verbleiben, die „im Einklang mit dieser Art des Philosophierens besten34
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Diese Rezension, veröffentlicht in der jugoslawischen wie auch in der internationalen Ausgabe der Zeitschrift Praxis, war zugleich der erste Text eines Zagreber (und auch eines jugoslawischen) „Philosophen der Praxis" über die Frankfurter Schule, der der internationalen Öffentlichkeit zugänglich wurde. MILAN KANGRGA: „Alfred Schmidt, Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx", Praxis, Internationale Ausgabe Nr. 1/1965 (im weiteren zitiert als PI), S. 113.
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falls im Sinne einer , kritischen Theorie der Gesellschaft' aufgefaßt werden kann" (114). Anhand vieler Zitate aus Schmidt sucht Kangrga zu zeigen, wie Schmidt im Einklang mit dieser grundlegenden Haltung die Begriffe der Gesellschaft und des Gesellschaftlichen im streng soziologischen Sinne auffaßt (115). Indem Schmidt die Unterscheidung zwischen Arbeit und Praxis nicht macht, faßt er die geschichtliche Praxis als ein Teil oder Moment des Naturgeschehens, als eine Modifikation der Naturformen oder eine Verarbeitung des vorhandenen Naturmaterials (und die Natur ausschließlich als „Arbeitsmaterial", 115). Damit ist auch im Einklang, Kangrga zufolge, wenn Schmidt den „mittleren" und „reifen" Marx gegen den „jungen" auszuspielen versucht, wobei er dem „reifen" Marx das Aufgeben der „Termini" wie „Entfremdung", „Entäußerung", „Rückkehr des Menschen in sich", „Verwirklichung des menschlichen Wesens" zuschreibt (115). Sehr ausführlich beschäftigt sich Kangrga mit der Schmidtschen Stellungnahme zur Erkenntnistheorie, die er im Grunde als inkonsequent betrachtet. Weil Schmidt, der „auf der Suche nach Texten ist, die den erkenntnistheoretischen Standpunkt in der Marxschen Philosophie bezeugen und bekräftigen würden", solche Texte bei Marx aber nicht findet, „interpretiert er einerseits Marx' explizite ontologisch-anthropologische Standpunkte und die Kritik auf erkenntnistheoretische Weise [...], und andererseits sucht er sie bei Engels und Lenin" (116). Als Resultat findet er sich plötzlich „im Fahrwasser einer Abbildtheorie [...] (die er auf seine Art aber auch gleichzeitig kritisiert!), und er gibt sich der Hoffnung hin, sie durch den Gebrauch des Begriffs , Spiegelung' an Stelle ihrer fundamentalen Standardbegriffe wie ,Abbild' oder .Widerspiegelung' vermieden zu haben" (116). So eine nur scheinbare Lösung kann Kangrga zufolge nur neue Schwierigkeiten bringen. Was aber die Schmidtsche Berufung auf Lenin betrifft, der angeblich den nicht genügend beachteten „erkenntnistheoretischen Charakter der Dialektik" (95) mit Recht hervorgehoben hat, so meint Kangrga, daß „in diesem wesentlichen Problem Lenin Marx nicht ganz verstanden hat (und nicht einmal Hegel)" (116). Schmidt zufolge ist, was Marx „Naturalismus" oder „Humanismus" nennt, „trotz der Feuerbachschen Terminologie schon weit über Feuerbach hinaus und enthält bereits den erkenntnistheoretischen Kern der materialistischen Dialektik". Laut Kangrga sieht Schmidt richtig, daß hier die Terminologie nicht wichtig ist, was er aber nicht sieht, ist die Tatsache, daß Marx bestrebt ist, „sowohl den Idealismus als auch den Materialismus zu überwinden, aber nicht auf erkenntnistheoretische Weise, nicht im Sinne der Bildung einer eigenen, neuen Erkenntnistheorie" (117). Deshalb ist es nach Kangrga nicht zufällig, daß sich Schmidt ständig im Widerspruch befindet, indem er einerseits Engels kritisiert und sich andererseits auf ihn
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beruft und speziell in der Bestimmung des Praxisbegriffes mit ihm im wesentlichen übereinstimmt (117). Indem Kangrga eine Stelle aus Schmidt anführt, wo dieser zur Praxis bei Marx nicht nur den Lebensprozeß der Gesellschaft und die revolutionäre Aktion zählt, sondern auch die Industrie im engeren Sinne und das naturwissenschaftliche Experiment, meint er dazu, ,,[d]aß es sich hier nicht um die geschichtliche Praxis als Grundlage und immer lebendige Quelle des Menschen und seiner Welt handeln kann, also um das wahre menschliche Sein" (117). Es wäre überflüssig, Kangrga zufolge, „an den Autor die Frage zu richten, zu welcher ,Kategorie' von den angeführten Praxisbestimmungen z. B. ein Kunstwerk, ein Gedicht oder die Liebe, das menschliche Leid, Sinn und Unsinn usw. gezählt werden sollen", weil sein Praxisbegriff „derartig positivistisch in dem experimentell-industriellen Rahmen der bestehenden Operativität und ,Gesellschaftlichkeit' eingeengt ist (in abstrakt-soziologischem Sinne), daß es in ihm keinen Platz mehr für den Menschen als menschliches, sinnvoll-tätiges, zielstrebiges und freies Wesen gibt" (117). So ist, Kangrga zufolge, Schmidt ganz folgerichtig, wenn er „mit einer beharrlichen Kritik am Marxschen revolutionären Pathos abschließt" und Marx „zum ,wahrscheinlich größten Utopisten der Geschichte der Philosophie' erklärt" (118). Nachdem Schmidt, Kangrga zufolge, „Marx gründlich, Seite für Seite, von allen ,Romantismen' gereinigt und radikal die Spitze seiner Kritik an der bestehenden entfremdeten Welt [...] abgebogen hat", ist ihm „nichts anderes übriggeblieben, als sich an nichts geringeres als den Marxschen ^Skeptizismus' zu klammern wie an einen rettenden Strohhalm!" (118). So ist Schmidt bei einem „skeptischen Marxismus" angelangt, einem Marxismus, „der nicht einmal bis zum Niveau einer kritischen Gesellschaftstheorie reicht, die viel besser und jedenfalls auf höherem Niveau seine Lehrer und Gesinnungsgenossen erreicht haben" (118). Durch diese strenge Kritik will Kangrga keineswegs Schmidt alle richtigen Einsichten absprechen. Aber: „Unter dem Ballast dieser und ähnlicher Auffassungen können die richtigen Einsichten des Autors in diesem Buch nicht voll zur Geltung kommen", und das Werk als ganzes bleibt interessant „mehr im negativen Sinne, seines wesentlichen Fehlschlages wegen, denn es ist kein Wegweiser zum ursprünglichen Marx, sondern auf einen Weg, den man weder beschreiten kann noch soll" (118). Nun kann es wohl als fraglich erscheinen, daß ich in einem Vortrag, der das Verhältnis der Zagreber Philosophie der Praxis im ganzen zum ganzen der Frankfurter Schule betrachten sollte, so ausführlich über eine Rezension aus dem Jahre 1964 berichte, die keine kollektive Arbeit, sondern das Werk eines der Praxis-Philosophen (Milan Kangrga) darstellt und nur eines der Bücher von einem der Frankfurter Philosophen betrifft,
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und zwar einem, der zur zweiten Generation gehört und sicherlich nicht als die zentrale Figur der Schule betrachtet werden kann. Das scheint aber doch gute Gründe zu haben. Obwohl auf Grund dieses Buches, wie es Kangrga hervorhebt, nicht über die Resultate des gesamten Frankfurter Kreises geurteilt werden darf, war das Buch doch in gewissen Hinsichten für den ganzen Kreis charakteristisch, wenn auch nicht durch sein Niveau, so doch durch gewisse Auffassungen, die nicht von Schmidt selbst, sondern von seinen Lehrern, Adorno und Horkheimer, stammten. Die Abweisung der Ontologie und der Anthropologie, begleitet durch eine gewisse Zuneigung zur Erkenntnistheorie, die Vernachlässigung der Marxschen These über die Verwirklichung der Philosophie, Neigung zum Positivismus, die Mißdeutung des Marxschen Begriffes der Praxis und Mißachtung des Unterschieds zwischen Arbeit und Praxis, die Antipathie gegenüber Marx' Frühschriften und Skeptizismus gegenüber seiner Theorie der Entfremdung und seiner Auffassung des Menschen, die Verdächtigung der allgemeinen Begriffe (wie der des Menschen), Abwendung vom Romantismus und Utopismus — können zu charakteristischen Grundkonzeptionen des Frankfurter Kreises gerechnet werden. So verweist Kangrgas Rezension zwar nicht auf die wichtigen Resultate des genannten bedeutenden Kreises, doch zeigt sie ziemlich gut die Grenzen, die ihnen allen und speziell dem harten Kern (Horkheimer und Adorno) gemeinsam waren. In diesem Sinne ist die Rezension Kangrgas charakteristisch, wenigstens was die kritische Seite des Verhältnisses der Zagreber Philosophie der Praxis zur Frankfurter Schule betrifft. Veröffentlicht in der ersten Nummer der jugoslawischen und der internationalen Ausgabe der „Praxis", durfte sie als eine offene Einladung zur Diskussion betrachtet werden. Daß die Zagreber Philosophen der Praxis (einschließlich Kangrga) die Frankfurter Schule nicht nur „angegriffen", sondern auch positiv bewertet und sich kritisch angeeignet haben, das zeigen auch viele andere Arbeiten von Kangrga, wie zum Beispiel seine Rezension des Buches von Habermas Theorie und Praxis, die auch 1965 (nicht in der internationalen, sondern in der jugoslawischen Ausgabe von „Praxis") abgedruckt wurde, wie auch zahlreiche Texte, in denen er sich auf Marcuse, Horkheimer und Adorno beruft. Das zeigen auch viele Arbeiten von Branko Bosnjak wie auch speziell die Arbeiten von Danko Grlic, wie z. B. sein „Lexikon der Philosophen", in welchem die Frankfurter Theoretiker gebührend vertreten und gewürdigt sind, seine vierbändige Geschichte der Ästhetik, wo die Frankfurter auch berücksichtigt werden, eine Reihe von kleineren Arbeiten über die ästhetischen Auffassungen der Frankfurter Theoretiker und besonders seine zwei letzten Bücher: das unmittelbar nach seinem Tode veröffentlichte Buch über Walter Benjamin und (noch im Druck) sein Buch über Adorno.
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Inwieweit haben die Vertreter der Frankfurter Schule die Existenz der jugoslawischen (und speziell der Zagreber) Philosophie der Praxis zur Kenntnis genommen, und wie haben sie sich zu ihr verhalten? Haben sie in ihr eine verwandte Denkrichtung gesehen, die an ähnlichen Grundfragen interessiert ist und mit der auch ein fruchtbarer Dialog möglich sein kann? Haben sie sich je in eine ernsthafte Diskussion mit den Praxis-Philosophen eingelassen? In meinen „Vorgreifenden Andeutungen" habe ich die Haltung der Frankfurter Schule kurz so zusammengefaßt: „Mit mehr Zuneigung als Verständnis hat die ältere Schwester die Denk versuche der jüngeren verfolgt. Mit liebevoller Besorgtheit hat sie bei der jungen die Wiederholung eigener Jugendirrtümer (und speziell des so genannten Irrtums des jungen Marcuse) erkannt. So hat man in der Zagreber Philosophie der Praxis manchmal eine, phänomenologische Spielart des Marxismus' gesehen, manchmal eine .heideggerisierende' Marx-Interpretation und manchmal auch eine ,anthropozentrische' Philosophie, bei der ,unter dem Vorwand einer Entstalinisierung wesentliche Positionen des Marxismus über Bord geworfen werden'." Nun war das sicherlich eine zugespitzte und vereinfachende Charakterisierung, die für alle Vertreter der Frankfurter Schule nicht gilt. Speziell gilt sie nicht für zwei wichtige Frankfurter, die ich vorher als „Dissidenten" bezeichnet habe — Fromm und Marcuse. Erich Fromm hat die jugoslawische Praxis-Philosophie hoch geschätzt und ihre Positionen sehr nahe den eigenen empfunden. „Ich muß gestehen" — äußerte er sich zur Presse im Jahre 1963 — „daß es für mich als einen Sozialisten und Marxisten ein großes Erlebnis war, den jugoslawischen Philosophen zu begegnen. Es scheint mir, daß in keinem anderen Land eine so zahlreiche Gruppe von Intellektuellen besteht, die so fruchtbar den marxistischen Humanismus entwickelt."36 Im selben Sinne hat sich Fromm auch später bei mehreren Gelegenheiten geäußert.37 Überzeugt von der Wichtigkeit, die Ideen der jugoslawischen Praxis-Philosophen in die internationale Diskussion einzuführen, hat er sechs Beiträge von ihnen (vier von Zagrebern und zwei von Belgradern) in seinen Sammelband Socialist Humanism aufgenommen — mehr aus Jugoslawien als aus irgend einem anderen Land.38 Fromms Würdigung der Praxis-Philosophen ist auch in seinem letzten Buch Haben und Sein zum Ausdruck gekommen, wo er sich zum radikalen Humanismus 36 37
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E. FROMM, Borba, 30. Juni 1963, S. 5. Siehe z. B. FROMMS Vorwort zum Buch von MIHAILO MARKOVIC, From Affluence to Praxis, The University of Michigan Press, Ann Arbor 1974. Siehe Socialist Humanism. An International Symposium, edited by E. FROMM, Doubleday, Garden City, New York, 1965. — Das Buch enthält insgesamt 36 Beiträge von Autoren aus 12 Ländern.
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bekennt und „die jugoslawischen Philosophen um die Zeitschrift ,Praxis', darunter M. Markovic, G. Petrovic, S. Stojanovic, R. Supek, P. Vranicki", in eine engere Auswahl der „radikalen Humanisten seit Marx" aufnimmt.39 Herbert Marcuse hat sich nicht in derselben Weise wie Fromm über die jugoslawischen Philosophen schriftlich geäußert. Daß er jedoch mit den abwertenden Urteilen über die Praxis-Philosophen nicht einverstanden war, ist speziell aus dem gedruckten Gespräch ersichtlich, das er mit J. Habermas, H. Lubasz und T. Spengler im Juli 1977 in Starnberg geführt hat.40 Horkheimer und Adorno haben sich, soweit es mir bekannt ist, öffentlich und schriftlich nie über die jugoslawische Praxis-Philosophie geäußert. Da es sich um eine philosophische „Erscheinung" handelt, die erst in den letzten Jahren ihres Lebens auf die internationale Szene getreten war, so darf man das ihnen nicht übelnehmen. Aus meinem Gespräch mit Adorno 39
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E. FROMM: Haben oder Sein, Deutscher Taschenbuch Verlag (dtv), 12. Auflage, München 1982, S. 153. „Ihr Versuch eines marxistischen Gebrauchs der Heideggerschen Fundamentalontologie", wendete sich HABERMAS an MARCUSE, „ähnelt in Grundzügen dem, was Sartre im Übergang von UEtre et le Neant zu marxistischen Positionen in den 50er Jahren dann — sicherlich ohne Ihre Arbeiten zu kennen — nachvollzogen hat." Mit dieser Meinung war MARCUSE ganz einverstanden: „Ja, sicher." Und HABERMAS setzte fort: „Halten Sie es für falsch, das so zu sehen? Sie haben das dann natürlich in den 50er Jahren alles nicht mehr ernst genommen." Da wollte MARCUSE nicht mehr zustimmen: „Das stimmt nicht." Was HABERMAS wohlwollend als eine unernste Phase in der philosophischen Entwicklung von Marcuse zu sehen (und ihm zu verzeihen) bereit war, wollte MARCUSE nicht auf dieselbe Weise sehen. HABERMAS bestand aber auf seiner Interpretation: „Doch, dann begann ja erst die marxistische Rezeption des späten Husserl und sogar Heideggers in der Tschechoslowakei, in Jugoslawien." Das kurze „doch" kann ich in diesem Zusammenhang nur auf eine Weise verstehen: „Doch, das war unernst, und Sie haben das schon im Laufe der fünfziger Jahre selbst gesehen." Und der Rest des Satzes ist klar: erst dann (also nachdem MARCUSE das unernste seiner Jugend versuche schon eingesehen hat) hat man dasselbe wieder in der Tschechoslowakei und in Jugoslawien versucht. Gegen diesen erneuten Versuch ihn zur Selbstkritik zu bewegen, wehrte sich Marcuse noch klarer: „Da zeigt sich, daß vielleicht doch ein begrifflicher Zusammenhang besteht in dem, was wirklich gut ist an Husserl und vielleicht sogar an Heidegger, denn dieser späte Husserlaufsatz über die Krisis der europäischen Wissenschaft ist ja, verglichen mit den vorherigen Transzendentalarbeiten, wirklich ein Neubeginn." (J. HABERMAS, S. BOVENSCHEN u. a., Gespräche mit Herbert Marcuse, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1978, S. 22). — Ohne also zu bestreiten, daß in der Tschechoslowakei und in Jugoslawien etwas ähnliches zu dem vorgeht, was in seinem frühen Denken schon geschah, sieht MARCUSE darin kein zusätzliches Argument für die These, daß seine frühen Versuche nicht ernst zu nehmen sind, sondern eher als eine Unterstützung dafür, daß er selbst doch etwas Richtiges gesehen hat. Nicht als ein Abschreckmittel will er das Beispiel Tschechoslowakei und Jugoslawien sehen, sondern als ein Gegenteil davon.
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weiß ich, daß ihm die Zeitschrift „Praxis" bekannt war. Ob seine Versicherungen, daß er die Zeitschrift mit großem Interesse liest und schätzt, als eine reine Höflichkeit oder auf irgendwelche andere Weise zu deuten wären, darüber möchte ich nicht spekulieren. Sicherlich standen seine Worte im schroffen Gegensatz zu sehr scharfen Kritiken der PraxisOrientierung, die ich bei dem damaligen Besuch in Frankfurt von einigen jungen Anhängern der Frankfurter Schule erfahren habe. Sie waren auch nicht im Einklang mit den schriftlichen Äußerungen der zwei „Senioren der zweiten Generation der Frankfurter Schule" (Habermas und Schmidt), von denen eben die oben angeführten anklagend-unterschätzenden Äußerungen stammen. Dürfen aber die erwähnten Äußerungen von Habermas und Schmidt als bezeichnend für sie beide und für die Frankfurter Schule „als solche" betrachtet werden? Meines Erachtens ist es berechtigt, weil die beiden eine Reihe von Äußerungen im selben Sinn gemacht haben41 und weil ihre Äußerungen eben jener Zeit entstammen, wo die erste Generation der Frankfurter Schule sich schon dem Ende ihrer öffentlichen Tätigkeit näherte und die beiden zu maßgebenden Repräsentanten der Frankfurter Schule geworden waren. Es ist besonders interessant, daß Habermas und Schmidt trotz ihrer sonst unterschiedlichen Auffassungen und trotz der Tatsache, daß sie unterschiedlich in Jugoslawien rezipiert worden sind, doch ziemlich ähnlich die jugoslawischen Praxis-Philosophen behandelt haben. Einerseits hat sich keiner von den beiden in irgendeine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Praxis-Philosophen eingelassen. Andererseits haben die beiden durch eine Reihe von kleinen Nebenbemerkungen (meist in den Fußnoten) die Praxis-Philosophen (speziell die Zagreber) als eine nicht-originelle, epigonale und antiquierte Erscheinung abzuwerten versucht, als eine Wiederholung alter Irrtümer, die schon längst als solche durchschaut wurden. Das maßgebende Urteil über die jugoslawische und speziell über die Zagreber Philosophie der Praxis ist 1968 in einem Büchlein gefallen, das zu den meist gelesenen Veröffentlichungen der Edition Suhrkamp gehörte und eine bedeutende Rolle in der bundesdeutschen Marxismus-Diskussion gespielt hatte, in den von Habermas herausgegebenen „Antworten auf Herbert Marcuse". In seinem Geleitwort äußerte sich Habermas kurz und bündig: „Die linken Existenzialisten in Paris und die Praxis-Philosophen in Prag und 41
Indem ich hier auf eine bibliographische Unterstützung dieser Behauptung verzichte, verweise ich auf den Text von SLOBODAN ZUNJIC (der hoffentlich auch auf Deutsch erscheint) „Habermas i praxis-filozofija" („Habermas und die Praxis-Philosophie"), Theoria 1—2/1985, S. 79 —97, wo alle entsprechenden Äußerungen von Habermas zitiert und betrachtet werden.
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Zagreb konnten nach dem Kriege die Lebensweltanalysen des späten Husserl an die Stelle der Heideggerschen Daseinsanalyse setzen, aber beide , Schulen' stützen sich auf die phänomenologische Grundlage eines Marxismus, der von Herbert Marcuse eigentlich antizipiert worden ist."42 Alfred Schmidt, im zweitgestellten und längsten Beitrag zum Sammelbändchen, schrieb etwas ausführlicher über die „Philosophie der Praxis", obwohl nicht im Haupttext, sondern in einer Fußnote: „Einen Nachhall dieser Entwicklung der ,heideggerisierenden' Marx-Interpretation stellt der (auch am späten Husserl orientierte) Versuch einer Reihe osteuropäischer Philosophen dar, den verknöcherten Diamat durch eine anthropozentrische ,Philosophie der Praxis' zu ersetzen, wie sie in ernst zu nehmender Form in der Dialektik des Konkreten, einem Buch des tschechischen Philosophen Kosik, vorliegt, vor allem aber bei den um die jugoslawische Zeitschrift Praxis gruppierten Autoren (etwa Petrovic und Grlic), bei denen freilich unter dem Vorwand einer Entstalinisierung wesentliche Positionen des Marxismus über Bord geworfen werden."43 Mit Hilfe von Begriffen wie „Heideggerisieren", „Anthropozentrismus" und „Über-Bord-Werfen" ist es Schmidt gelungen, mit der ganzen jugoslawischen Philosophie der Praxis (und speziell mit ihren Zagreber Vertretern) in ein paar Zeilen einer Fußnote fertig zu werden. Ohne sich in eine Diskussion oder Argumentation einzulassen, hat er die „um die jugoslawische Zeitschrift Praxis gruppierten Autoren" in den Nachhall der Entwicklung der „heideggerisierenden" Marx-Interpretation situiert (nicht in diese Entwicklung selbst, sondern eben in ihren Nachhall!). Ironischerweise, in derselben Fußnote, wo er über den „Nachhall" spricht, wiederholt er wortwörtlich den Vorwurf der radikalen stalinistisch-bürokratischen Kritiker der Praxis-Philosophen, wonach bei diesen „unter dem Vorwand der Entstalinisierung wesentliche Positionen des Marxismus über Bord geworfen werden"! Es ist nicht schwer, den Unterschied zwischen der Habermasschen Charakterisierung der Praxis-Philosophen und der Schmidtschen zu sehen. Habermas schreibt elegant, ohne grobe Etiketten und ohne direkte Anklagen. Und doch ist die Grundidee dieselbe: Was die Praxis-Philosophen verstanden haben als eine Wiederbelebung des authentischen Marxschen Denkens und als einen Versuch, im Geiste von Marx selbständig zu denken, ist in der Tat eine nicht angemessene Kombination von Husserl (und/oder Heidegger) und Marx, und zwar keine originelle. Es ist nur eine Wiederholung von dem, was schon viel früher und ohne Erfolg Marcuse versucht hat. 42
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Antworten auf Herbert Marcuse, hrsg. von J. HABERMAS, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1968, S. 11. Op. dt., S. 25.
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Es ist nicht nötig, weitere Stellen aus Habermas und Schmidt anzuführen. Ihre grundlegenden Abwertungen der Philosophie der Praxis (speziell der Zagreber) haben sich auch später nicht wesentlich verändert. Wohl haben sich die beiden (und speziell Habermas) gegen die Verfolgung der Praxis-Philosophen in Jugoslawien energisch geäußert. Mit bewundernswerter menschlicher Solidarität war Habermas besonders bereit, den in Schwierigkeiten geratenen Belgrader Kollegen zu helfen. Was aber die theoretische Bewertung der Praxis-Philosophie betrifft, da hat sich, soweit es mir bekannt ist, nichts geändert. Wenn wir das Verhalten der Frankfurter Theoretiker (mit der Ausnahme der „Dissidenten" Fromm und Marcuse)44 zur Zagreber Philosophie der Praxis mit dem Verhalten der Zagreber (und überhaupt der jugoslawischen) Philosophen der Praxis zur Frankfurter Schule vergleichen, so ist eine Asymmetrie in diesem Verhältnis leicht zu sehen. Die Zagreber (und überhaupt die jugoslawischen) Philosophen der Praxis haben sich um eine intensive Rezeption der Frankfurter Schule in Jugoslawien und um ein produktives Gespräch mit den Frankfurtern sehr bemüht. Wo sie mit den Frankfurtern nicht einverstanden waren, waren sie für eine ernsthafte Auseinandersetzung, mit rationalen Argumenten, über die Streitfragen bereit. Die Frankfurter Theoretiker waren dagegen an keiner rationalen Diskussion oder Auseinandersetzung mit den Praxis-Philosophen interessiert.45 Durch kurze Nebenbemerkungen versuchten sie die Zagreber Philosophie der Praxis als eine nichtoriginelle und nichtaktuelle Erscheinung abzustempeln, als ob es ihnen nur darum ginge, vom Studium der entsprechenden Werke abzuraten. Nicht weniger interessant als die genannte Asymmetrie ist die Diskrepan^ zwischen der Aufnahme der Zagreber Praxis-Philosophie in der Frankfurter Schule und ihrer Aufnahme im gegenwärtigen nicht-dogmatischen Marxismus (wie auch bei nicht voreingenommenen nicht-marxi44
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Auch im weiteren Text dieses Beitrages, wo ich über die Frankfurter Theoretiker und die Frankfurter Schule spreche, sollten die „Dissidenten" FROMM und MARCUSE aus der Diskussion ausgenommen werden. Bezeichnend ist in dieser Hinsicht das „Postscriptum 1971" in der Neuausgabe des Buches von SCHMIDT, wo der Verfasser einen „jugoslawischen Rezensenten" (vermutlich M. KANGRGA) erwähnt, der angeblich „hinsichtlich der Utopie-Konzeption des IV. Kapitels" zu einem „Mißverständnis verleitet" worden war (ALFRED SCHMIDT, Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx, überarbeitete, ergänzte und mit einem Postscriptum versehene Neuausgabe, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1971, S. 210). In seiner offensichtlich emotionellen Replik will A. Schmidt weder den Namen des „jugoslawischen Rezensenten" noch den Titel der Zeitschrift nennen, wo die Rezension erschienen ist. Von vielen Kritiken, die in Kangrgas Rezension enthalten sind, erwähnt er nur eine einzige (die dazu unrichtig wiedergegeben wird), und diese eine versucht er ohne Diskussion einfach durch einen überlegen-verächtlichen Ton abzutun.
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stischen Marxologen und Philosophen überhaupt). Wo die Frankfurter nur eine Wiederbelebung längst überwundener alter Irrtümer gesehen haben, da sahen die anderen ein originelles, selbständiges Denken im Geiste von Marx. Speziell nachdem die Praxis-Philosophen die Sommer-Schule von Korcula (1963) und die Zeitschrift „Praxis" (1964) gegründet haben, hat diese Denkrichtung ein starkes Interesse im Weltmaßstab hervorgerufen, wobei die nicht-dogmatischen Marxisten im Westen wie auch im Osten in ihr einen natürlichen Verbündeten und Diskussionspartner gesehen haben. „Was das jugoslawische Denken betrifft" — schloß Henri Lefebvre seinen Bericht über die Sommerschule von Korcula 1964 — „es erhebt sich schnell auf ein internationales und ein Weltniveau. Es besitzt die besten Aussichten."46 Das Lesen der Zeitschrift „Praxis" — schrieb der tschechische Philosoph Lubomir Sochot 1966 in seiner Rezension — bringt „viele neue Denkimpulse auch dem Leser, der die grundlegende internationale Literatur aus diesem Gebiet kennt."47 „Bei meinen Begegnungen mit den jugoslawischen Philosophen — und ich glaube, das gilt auch für andere westliche Denker" — meinte Lucien Goldmann im selben Jahr — „haben wir immer mehr von ihnen zu lernen gehabt, sie haben uns mit ihrem Dynamismus, der geistigen Unabhängigkeit und Ernsthaftigkeit ihres Denkens überrascht."473 In ähnlichem Sinne schrieben auch viele andere. So Ernst Bloch, der sicherlich kein Heideggerianer war (im Jahre 1969): „Im besonderen ist Zagreb sozusagen die Heimatsuniversität von tonangebenden Philosophen der Zeitschrift ,Praxis', diesem so wichtigen gegenwärtig fast einzigen Organ eines lebendigen innegehaltenen Marxismus. Die ,Praxis' hat dadurch nicht nur internationale Bedeutung, sie trägt auch zum geistigen Ruhm Jugoslawiens bei, unbeirrt von aller Versteinerung und allen Verdinglichungen der Mediokrität, denen gerade heutiger Marxismus so oft ausgesetzt ist. Hohes Niveau ist in dieser Zeitschrift so selbstverständlich wie es in bedeutend offizielleren außerhalb Jugoslawiens eine Ausnahme wurde."48 Auch viele nichtmarxistische Marxologen (I. Fetscher, A. Künzli u. a.) haben die Praxis-Philosophen auf eine ähnliche Weise gesehen. Viele Vertreter anderer Richtungen (Phänomenologen, analytische Philosophen, sogar Theologen) haben in den Praxis-Philosophen einen erwünschten 46
France Observateur, 20. 08. 1964. Literarny noviny, 08. 01. 1966. ^Odjek, 01.11.1966. 48 ERNST BLOCH, „Worte des Danks für die Verleihung der Ehrendoktorwürde in Zagreb", 18.12.1969, Praxis, Internationale Ausgabe 1—2/1970, S. 166. — Noch weiter ging BLOCH in seinem Beitrag „Geschichtliche Vermittlung und das Novum bei Hegel", wo er behauptet, daß die Zeitschrift Praxis „wohl die beste philosophische Zeitschrift unserer Zeit ist" (Praxis, Internationale Ausgabe 1-2/1971, S. 14). 47
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Diskussionspartner gesehen. Viele sind sicherlich nicht alle. Aus den Reihen der dogmatischen „Marxisten" (speziell der Stalinisten) wie auch aus der Reihe der Anti-Marxisten, die keinen Dialog mit irgendeiner Spielart des Marxismus für fruchtbar halten, sind heftige Angriffe auf die Praxis-Philosophen erfolgt. Das erstaunliche an der Sache liegt darin, daß die Frankfurter Theoretiker in ihrer Beurteilung der Praxis-Philosophen näher den Stalinisten als den anderen nichtdogmatischen Marxisten standen. Wie ist dies erstaunliche zu erklären oder zu verstehen? Wie es mir scheint, gehen die Stellungnahmen, die zur Asymmetrie des Verhältnisses zwischen der Zagreber Philosophie der Praxis und der Frankfurter Schule führen, folgerichtig aus ihren Grundpositionen hervor. Die Zagreber Philosophen haben die Philosophie der Praxis als ein Denken der Revolution entwickelt. Ihr Hauptanliegen war, die Möglichkeit eines prinzipiell andersartigen Menschseins zu denken zu versuchen, nicht nur einer neuen Gesellschaft, sondern vor allem einer neuen Lebensweise der Menschen. Ihr eigenes Denken haben sie als eine Vorbedingung und ein Moment der Revolution betrachtet, und die Revolution nicht als eine Gewalttat, sondern als eine Eröffnung und Vollentwicklung der menschlichen Möglichkeiten, als eine echtere und reichere Seinsform. Die Hauptanregung zu ihrem Denken haben sie in Karl Marx gefunden, und Marx haben sie nicht als einen Ökonomen oder einen Politiker gesehen, sondern vor allem als einen Philosophen, dessen Denken die ganze vorherige Geschichte der Philosophie in sich zu fassen versucht, um die Philosophie auf eine höhere Ebene — die Ebene des Denkens der Revolution — zu bringen. Diese Anknüpfung und Berufung auf Marx wollten sie keineswegs als ein Ignorieren der nach-Marxschen oder der nicht-marxistischen Philosophie verstehen. Die Idee, das menschliche Denken auf einen wie auch immer großen Denker zu reduzieren oder es an einem Zeitpunkt der menschlichen Geschichte zu unterbrechen, haben sie immer als absurd abgewiesen. Ein Unternehmen, die Philosophie „aufzuheben" und zu „verwirklichen", konnte sich nicht nihilistisch zur nachmarxschen Philosophie verhalten. Als eine Vorbedingung für die Aufhebung und die Verwirklichung der Philosophie wurde eine kritische Auseinandersetzung mit dem ganzen philosophischen Erbe wie auch mit der ganzen gegenwärtigen Philosophie gesehen. Ebenso wie ein nihilistisches Verhalten zur nichtmarxistischen Philosophie war den jugoslawischen Praxis-Philosophen ein nihilistisches Verhalten zur Geschichte des Marxismus fremd. Und innerhalb dieser Geschichte hat die Frankfurter Schule sicherlich eine wichtige Rolle gespielt. So schien eine kritische Auseinandersetzung mit der Frankfurter Schule, ihre kritische Aneignung, als ein Gebot. Die Praxis-Philosophen haben sich mit der Frankfurter Schule in vielem auf einem gemeinsamen Boden empfunden, und deshalb haben sie von einem Dialog mit ihr
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sehr viel erwartet. Zum Dialog ist es aber nicht gekommen, weil er von der Frankfurter Seite abgewiesen wurde. Warum? Zur Zeit, wo die Zagreber Philosophie der Praxis auf die internationale Szene getreten ist (Mitte der sechziger Jahre), hatte die Frankfurter Schule schon mehr als drei Dekaden der Entwicklung hinter sich. Die erste Generation der Schule war schon in die abschließende Phase ihres Wirkens getreten, und die zweite Generation war schon in den Vordergrund gerückt. Ähnlich wie die Zagreber Philosophen der Praxis wollte die Frankfurter Schule Marx mit Stalin nicht identifizieren. Sie hat wohl auch gewisse Unterschiede zwischen Marx, Engels, Kautsky, Lenin und den anderen bemerkt. Und doch hat sie den grundsätzlichen Unterschied zwischen dem Denken von Marx und dem, was sich in der Zweiten und der Dritten Internationale als Marxismus entwickelte, nie gründlich durchdacht. So hat sie in der Geschichte des Marxismus viel mehr Kontinuität gesehen als wirklich bestand. Dabei wurde Marx grundsätzlich durch die Optik des ererbten Marxismus betrachtet. Sogar von Stalin wurde das Denken von Marx in der Frankfurter Schule nie klar genug abgegrenzt. Selbst im Jahre 1975, in seinem berühmten Text „Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus", schrieb Jürgen Habermas: „1938 hat Stalin den Historischen Materialismus in folgenreicher Weise kodifiziert. Die historisch-materialistischen Forschungen, die seither unternommen worden sind, bleiben diesem theoretischen Rahmen weitgehend verhaftet. Die mit Stalin festgeschriebene Fassung des Historischen Materialismus bedarf einer Rekonstruktion. Sie soll der kritischen Verarbeitung konkurrierender Ansätze (vor allem des sozialwissenschaftlichen Neoevolutionismus und des Strukturalismus) dienen."49 Wie es zu vermuten ist und wie es aus dem Kontext klar hervorgeht, betrachtet Habermas den Historischen Materialismus als eine von Marx und Engels stammende Theorie. Die Stalinsche „Kodifizierung" des Historischen Materialismus betrachtet er als eine (wenn auch schlechte) Kodifizierung der Marxschen Theorie. Wie es aus einer Anmerkung zu seinem Aufsatz hervorgeht, versteht er unter den seitherigen „historisch-materialistischen Forschungen" gewisse, durch die genannte Kodifizierung inspirierte, in der Sowjetunion und der DDR veröffentlichte Arbeiten, die er so stillschweigend als „marxistisch" hinnimmt. Nun ist Habermas mit der Stalinschen angeblichen Kodifizierung des Marxschen Historischen Materialismus mit Recht unzufrieden. Diese bedarf aber, ihm zufolge, nicht einer grundlegenden Destruktion, sondern nur einer „Rekonstruktion", von der er sich sogar verspricht, daß sie „der kritischen Verarbeitung konkurrierender Ansätze [...] dienen" kann. 49
JÜRGEN HABERMAS, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1976, S. 144.
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Das Grundprojekt der Zagreber Praxis-Philosophen war in dieser Hinsicht ganz anders. Man hat (und zwar seit dem Jahre 1950) eine grundsätzliche Destruktion der Stalinschen Interpretation des Marxschen Denkens unternommen wie auch eine radikale Auseinandersetzung mit dem Marxismus der Zweiten und der Dritten Internationale, um das authentische Denken von Marx zu erneuern und es als eine Anregung zum selbständigen Denken zu nützen. Von irgendwelcher „Rekonstruktion" der Stalinschen Kodifizierung (des Stalinismus) hat man nichts fruchtbares erwartet. Nun ist es ganz verständlich, daß die Forderung der Zagreber Praxis-Philosophen, zunächst Marx von Stalin und dem „Marxismus" abzugrenzen und dann Marx selbst zu „rekonstruieren", den Frankfurtern als eine gewisse „nuisance" erscheinen mußte. Im Sinne des Evolutionismus, den auch Habermas jetzt so energisch vertritt, haben die Frankfurter die Entwicklung von Marx über Engels und Lenin zu Stalin als eine „reale" (obwohl nicht ganz befriedigende) hingenommen und sich nur mit den vereinzelten Verbesserungen des ererbten Marxismus begnügt. Erst 1975 ist Habermas zum „radikalen" (vom Standpunkt der Praxis-Philosophen allzu gemäßigten) Programm der „Rekonstruktion" des ererbten Marxismus gekommen. Nachdem die Frankfurter schon ein paar Dekaden mit der Hypothese der grundsätzlichen Identität (oder wenigstens Kontinuität) von Marx und Marxismus gearbeitet hatten, waren sie nicht willig, die von ihnen versäumte (und von den Praxis-Philosophen vollzogene) Auseinandersetzung mit dem bisherigen Marxismus nachzuvollziehen und ihre grundlegenden Positionen zu korrigieren. Nicht nur die Entwicklung von Marx zum Stalinismus haben die Frankfurter als eine Tatsache hingenommen, die nicht rückgängig gemacht werden kann, sondern auch die Entwicklung der gegenwärtigen nichtmarxistischen Philosophie von ihren breiteren ontologisch-anthropologisch begründeten Formen zu einer (voll- oder halb-)positivistischen Philosophie, die sich auf die erkenntnistheoretische Grundlegung der Wissenschaften oder auf eine logisch-methodologische Diskussion reduziert. Deshalb haben sie auch die Forderung nach einer Auseinandersetzung mit den Problemen der Ontologie und der philosophischen Anthropologie oder mit Strömungen wie Phänomenologie, Existenzphilosophie und Seinsdenken als eine Plage empfunden. In der Tatsache, daß solche Strömungen durch verschiedene analytisch-positivistische und strukturalistisch-linguistische Strömungen vom Zentrum der Szene verdrängt worden sind, haben sie den genügenden Grund gesehen, sich mit den veralteten „ontologisch-anthropologischen" Richtungen nicht ernsthaft zu beschäftigen (bzw. sie nur von außen her zu kritisieren und zu bagatellisieren). Der Versuch der Zagreber Praxis-Philosophen, auch mit denjenigen Denkrichtungen und Philosophen in eine inhaltliche Diskussion und Auseinandersetzung zu treten, die von den Frankfurtern schon als „konservativ" oder „überholt"
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Gajo Petrovic
abgestempelt worden sind, hat bei den Frankfurtern immer wieder Irritationen hervorgerufen. Man vergaß dabei, daß durch bloße Verurteilung kein philosophisches Denken überwunden werden kann. Nicht weniger sollten sich die Frankfurter durch das Bestehen der Praxis-Philosophen auf der Revolution verärgert fühlen. Sie haben die „marxistische Theorie der Revolution" in derjenigen Form zur Kenntnis genommen, wie sie sich in der Zweiten und der Dritten Internationale entwickelt hat (in beträchtlich unterschiedlichen Spielarten, die im grundsätzlichen zusammenfallen), und weil es ihnen mit Recht so schien, daß diese Theorie nicht gute Früchte gebracht hat und dazu in der gegenwärtigen (speziell westeuropäischen) Welt keine Aussichten mehr hat, so haben sie sich auf eine Evolutionstheorie eingestellt, die zwar die Revolution nicht ganz ausschließt, wohl aber als nicht aktuell beiseite läßt. Es ist ihnen nicht eingefallen, daß die Revolution vielleicht ganz anders zu denken wäre, als es in der „marxistischen" Tradition geschah. So haben sie auch die Anregung der jugoslawischen Philosophen, den Begriff der Revolution ganz anders zu verstehen, als eine Last erlebt. Im Denken der Praxis, wie es die Praxis-Philosophen zu entwickeln versucht haben, werden die Grundbegriffe wie „Praxis", „Freiheit", „Schöpfertum", „Geschichte", „Sozialismus" grundsätzlich anders als im ererbten Marxismus verstanden. Für die Frankfurter Theoretiker, die eine Reihe äußerst wertvoller Beiträge zur Ausbesserung und Versubtilisierung der traditionellen marxistischen Begriffe geleistet haben, mußte der Versuch, diese „Begriffe" auch in ihrer verbesserten Form in Frage zu stellen, wieder als ein Ärgernis erscheinen. So ist es verständlich, daß die Art und Weise, wie die Praxis-Philosophen diese Begriffe zu entwickeln versucht haben, den Frankfurtern manchmal als „nichtmarxistisch", „idealistisch", „existenzialistisch" oder einfach „verwirrt" erschien. Zusammenfassend dürfte man vielleicht sagen: Die negative Haltung der Frankfurter Schule gegenüber der Praxis-Philosophie ist daraus hervorgegangen, daß man sich durch die Fragen, die die Praxis-Philosophen angeregt haben, in Verlegenheit gebracht und in der eigenen Arbeit gestört fühlte. Man hatte sich schon eine gewisse ererbte Interpretation des Marxschen Denkens angeeignet, und man hatte sie durch Anleihen bei anderen Richtungen korrigiert und bereichert. Man fühlte sich auf einem gesicherten Boden und wollte in der angetretenen Richtung weitergehen. Nun fand man sich auf einmal mit einer Denkrichtung konfrontiert, die sich auf dieselbe (oder eine ähnliche) Tradition stützte und doch gewisse Grundauffassungen der Frankfurter Schule in Frage stellte und ihr eigenes Denkprojekt entwickelte. Die Frankfurter Theoretiker aber haben keine Lust gehabt, die Grundfragen erneut zu diskutieren. Anstatt sich dem Risiko einer Auseinandersetzung auszusetzen, versuchte man dadurch der Diskussion auszuweichen, daß man den unerwünschten Diskussionspart-
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ner zur Seite schob. So hat man die Zuflucht zur Abstempelung der PraxisPhilosophen als „Heideggerianer" und Nachfolger (oder Nachahmer) des jungen Marcuse gesucht. Man hat übersehen, daß bei den Praxis-Philosophen eine Reihe von Analysen durchgeführt worden sind, von denen bei dem jungen Marcuse keine Spur zu finden war. Auf diese Weise hat man dem eigenen Denken mehr geschadet als geholfen. Dadurch, daß man die offenen Probleme der gegenwärtigen Welt (und die Schwierigkeiten des eigenen Denkens) nicht sehen will, sind diese keineswegs aus der Welt geschafft.
II. Arbeitsgruppe Philosophie
ALFRED SCHMIDT (Frankfurt)
Die ursprüngliche Konzeption der Kritischen Theorie im frühen und mittleren Werk Max Horkheimers I. Schwierigkeiten des Zugangs Der angemessenen Darstellung des Horkheimerschen Denkens steht entgegen, daß seine Resultate nicht in einem umfassenden Hauptwerk niedergelegt sind, um das andere Schriften sich erläuternd gruppieren. Horkheimer bevorzugt — abgesehen von wenigen Texten, die als gelehrte Traktate gelten können — die kleine Form des Essays, des Aphorismus. Daneben gibt es tagebuchartige Notizen, auch Interviews, selbst Dramenfragmente und Novellen. Die Kritische Theorie ist von ihrem Begründer niemals „an sich" dargeboten worden, sondern stets nur in der (häufig polemischen) Auseinandersetzung mit anderen Theorien, geistigen oder politischen Strömungen, die jeweils zurückverwiesen auf konkret-gesellschaftliche Verhältnisse. Es ist deshalb völlig unmöglich, Horkheimers Denken auf einen referierbaren, fertigen Lehrgehalt zu bringen, der sich in bündigen Thesen wiedergeben läßt. Die Kritische Theorie ist eher eine — im Hegeischen Sinn — geistige „Erfahrung" der Wechselfälle dieses Jahrhunderts als daß sie doktrinal, gar „weltanschaulich" gekennzeichnet werden könnte. Die nationalsozialistische Gewaltherrschaft, die das mit einer individualistischen Kultur verbundene Europa zerstörte, bildet Horkheimers epochales Schlüsselerlebnis, das auf den philosophischen Begriff zu bringen er immer wieder versucht hat. Nun kann man sicher behaupten, die Kritische Theorie sei eine selektive, während der dreißiger Jahre unter unwiederholbaren Bedingungen entstandene Interpretation der Marxschen Lehre, die bei Horkheimer, seinen Schülern und Gefährten die Gestalt eines „interdisziplinären" Materialismus annahm, das heißt einer spezifischen Weise, Kulturphänomene in ideologiekritischer Absicht zu erforschen. Diese Auskunft ist in einem abstrakten Sinn richtig. Aber was ist damit wirklich gesagt? Horkheimer hat kurz vor seinem Tode neben Marx ausdrücklich Schopenhauer genannt als einen Philosophen, der Anfänge und Gehalt der Kritischen Theorie entscheidend geprägt habe. Aber wird man hier nicht
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auch die große Tradition westeuropäischer, zumal französischer Aufklärung erwähnen müssen sowie den deutschen Idealismus von Kant bis Hegel, der ebenfalls in Horkheimers Werk präsent ist? Wie steht es um die lebensphilosophische Komponente in Nietzsche und Freud? Sind nicht auch wichtige Elemente jüdisch-christlicher Theologie in dieses Werk eingegangen? Entstammt nicht Horkheimers zentraler Gedanke, die absolute Wahrheit, der Inhalt der Utopie lasse sich nicht positiv darstellen, dem Alten Testament? Wo soll man bei der Frage nach der Herkunft der Kritischen Theorie beginnen, wo aufhören? — Enthalten wir uns also jeder notwendig vergröbernden Systematisierung der Gedanken Horkheimers und schlagen wir den brauchbareren Weg einer — wenigstens umrißhaften — intellektuellen Biographie ein. II. Erster Weltkrieg, Novemberrevolution, Rezeption Schopenhauers aus dem Geist expressionistischer Literatur Im Jahre 1961 hat Horkheimer — seine frühen literarischen Versuche charakterisierend — einen Satz niedergeschrieben, der zugleich seinem späteren Lebenswerk als Motto dienen könnte. Er lautet: „Geist und Wille zur Gerechtigkeit sind identisch, und in der Welt wie sie ist, steht solcher Wille im Gegensatz zum Bestehenden." Was nun hat den jungen Horkheimer umgetrieben? Werfen wir einen Blick auf die Novellen und Tagebuchblätter, die 1974, kurz nach dem Tod des Philosophen, unter dem Titel Aus der Pubertät erschienen sind und die — cum grano salis — als frühe Dokumente der Kritischen Theorie gelten können. Sie entstammen einem Lebensabschnitt des späteren Gelehrten, in dem an kein Studium, geschweige denn eine akademische Laufbahn zu denken war. Aber sie zeugen — bei all ihren sprachlichen und stilistischen Mängeln — von der lebensgeschichtlichen wie sachlichen Einheit des Horkheimerschen Werks, die freilich erheblichen Wandel einschließt. Das existentielle Moment jener Einheit besteht in durchgehaltenem Nonkonformismus, das sachliche in pessimistischer, an Schopenhauer geschulter Metaphysik; sie bildet den geheimen Hinter- und Untergrund der Kritischen Theorie wie des häufig mißverstandenen Spätwerks. Horkheimer — das belegen seine Frühschriften — hat sich nicht zum metaphysischen Pessimismus hinentwickelt, sondern dieser ist von vornherein ein Wesenszug seines Denkens. Wie sahen die Lebensumstände des jungen Mannes aus, als er jene Novellen und Tagebuchblätter verfaßte? — Im Herbst 1910 verließ der Fünfzehnjährige nach der Untersekunda das Gymnasium und trat als Lehrling in den väterlichen Betrieb, eine Textilfabrik in Stuttgart-Zuffen1
MAX HORKHEIMER, Aus der Pubertät. Novellen und Tagebuchblätter, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von ALFRED SCHMIDT, München 1974.
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hausen, ein. Ende 1912 ging er mit seinem langjährigen Freund Friedrich Pollock, wie er selbst zum Kaufmann bestimmt, als Volontär nach Brüssel, von wo aus er gelegentlich Paris besuchte. Seit Mitte 1913 hielt Horkheimer sich in England auf und verblieb dort bis sechs Wochen vor Kriegsbeginn. Er lebte in Manchester bei einer Familie, dann in London und kehrte mit seinem Vater, der den Krieg kommen sah, nach Stuttgart zurück. Hier arbeitete er im elterlichen Geschäft. 1917 wurde er Soldat. Den Zusammenbruch des wilhelminischen Deutschland erlebte Horkheimer in einer Münchener Klinik. In München holte er, mit Pollock, als Externer sein Abitur nach und studierte von 1919 bis 1922 Philosophie, Psychologie und Nationalökonomie. Dahingestellt bleibe, inwieweit die schriftstellerischen Experimente des jungen Horkheimer durch seinen Konflikt mit dem bürgerlichen, konservativ-jüdischen Elternhaus motiviert wurden. Freilich mußten die in ihm erwachenden spezifisch geistigen Interessen dem erlernten Beruf ebenso zuwiderlaufen wie seine Liebe zu Rose Riekher, der Christin und Privatsekretärin des Vaters, den elterlichen Wünschen. Die kulturellen Einflüsse, unter denen Horkheimers Jugendschriften entstanden, sind nur schwer auszumachen. Eigenes, mehr oder minder selbständig verarbeitete Lesefrüchte und Elemente, die der zeitgeschichtlichen Atmosphäre entstammen, sind naturgemäß eng ineinander verwoben. Die düstere Spätromantik Wagnerscher Opern hat der noch nicht Zwanzigjährige ebenso leidenschaftlich in sich aufgenommen wie die schwermütige, in ihnen gegenwärtige Philosophie Schopenhauers, dessen Lektüre er 1913 mit den Aphorismen %ur Lebensweisheit aufnahm. Aus den Novellen und Aufzeichnungen geht freilich hervor, daß ihr Verfasser bald darauf auch zum Studium des Schopenhauerschen Hauptwerks Die Welt als Wille und Vorstellung gekommen sein muß. Schopenhauersche, zumal ethische Motive dürften ferner über Romane und Schriften Tolstois in Horkheimers Denken eingedrungen sein. Anzunehmen ist außerdem, daß er Strindberg, Wedekind und vor allem Ibsens aufsässige Dramen gelesen hat; die gegen den Druck des Elternhauses aufbegehrenden Mädchen seiner Novellen sind Schwestern Noras und Hedda Gablers. Darüber hinaus gehörten die Kraussche Fackel und, bis 1917, Pfemferts berühmte Aktion zur ständigen Lektüre des jungen Mannes. Die Aktion vereinigte die parteipolitisch unabhängige, literarisch-künstlerische Linke; sie war das Sprachrohr des Expressionismus. Dichtungen zeitgenössischer, meist jüngerer Autoren wurden hier ebenso vorgestellt und kommentiert wie Texte großer Aufklärung von Kant bis Nietzsche. Daneben spielten soziale Themen und Theorien in der Aktion eine erhebliche Rolle. Obwohl Horkheimer sich erst als Student näher mit der Marx-Engelsschen Lehre beschäftigt hat, war er — das steht zwischen den Zeilen der Jugendschriften — mit dem weltanschaulich-politischen Für und Wider der Diskussio-
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nen um den Sozialismus recht vertraut. Namentlich dessen ethisch-libertärer, radikal staatsfeindlicher, dem Rätegedanken zugetaner Flügel scheint ihn fasziniert zu haben: der Anarchismus Kropotkins, Mühsams, Eisners und Landauers, aber auch Tolstois unermüdlicher Appell an den Geist, seine Predigt der Gewaltlosigkeit, der Askese und allumfassenden Liebe. In Pfemferts Aktion trat neue Jugend auf. Hier erhob eine verschwindende Minderheit ihre Stimme, die sich dem nationalistischen Taumel vom August 1914 widersetzte und gegen die Bewilligung der Kriegskredite durch die sozialdemokratische Reichstagsfraktion protestierte. Republik, Demokratie, Völkerfriede, internationale Verbrüderung — so lauteten die Parolen. Kennzeichnend für die expressionistische Generation war ein unbeirrter Glaube an die sittliche, weltverändernde Kraft des Geistes und der Kunst. Daher der entschiedene Pazifismus der Pfemfertschen Zeitschrift. Horkheimer, der den Krieg vom ersten Tage an leidenschaftlich ablehnte, hat stets betont, wie sehr ihn die Aktion in seinen kritischen — sich erst formierenden — Gedanken bestärkte. Zudem war er durch die Aufenthalte im Ausland gegen blinden Haß gefeit. „Ich hatte Paris und London gesehen", erinnerte er sich Jahrzehnte später, „und konnte nicht glauben, daß die Menschen dort so viel kriegslustiger waren als unser friedliebender Kaiser, so viel schlechter als ich, daß ich nun auf sie schießen sollte. Die Menschen dort hatten ähnliche Ansichten und Sorgen wie die bei uns, wenn sie vielleicht auch etwas weniger tüchtig waren. Mein Glaube an die Lehren des Vaterhauses über das Deutsche Reich geriet ins Wanken, und ich hatte das Gefühl, daß etwas Furchtbares, etwas nie wieder gut zu Machendes in Europa, ja in der Menschheit, sich ereignete. Am schlimmsten schien mir — ohne daß ich es damals hätte formulieren können —, daß die historische Aufgabe, gleichsam die Mission der europäischen Völker, insbesondere des deutschen, dem ich angehörte, unrettbar preisgegeben war."2 — Sätze, die durch Horkheimers Frühschriften bestätigt werden. Sie sind überschattet von der bedrückenden Erfahrung des Ersten Weltkriegs, der Europas bürgerliche Kultur zertrümmerte und namenloses Elend heraufbeschwor. Der Krieg, das mutige, kompromißlose Auftreten Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs gegen seine Befürworter und Förderer, ihre schändliche Ermordung, schließlich die russische Revolution bilden den objektiven Hintergrund der schriftstellerischen Anfänge Horkheimers; sie wiegen schwerer als private Zerwürfnisse oder literarische Vorbilder. Horkheimers Novellen wohnt ein monographisches, ja didaktisches Element inne, das die essayistische Form des reifen Werks vorwegnimmt. 2
MAX HORKHEIMER, Nachwort zu: Porträts %ar deutsch-jüdischen Geistesgeschichte, herausgegeben von THILO KOCH, Köln 1961, S. 256 f.; cf. auch S. 262.
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Freilich konnte es sich für Horkheimer damals — wie auch später — nicht darum handeln, empirisch-wissenschaftliche Stoffe auszubreiten. Sein „Wille zur Erkenntnis", der sämtliche Frühschriften durchherrscht, ist philosophisch, genauer: metaphysisch zu verstehen. Der frühe Lukacs betont, daß die moderne Novelle mehr vom Inhalt als von der Form lebt. Im Falle Horkheimers ist das jedoch kein Negativum; denn die episodenhaft gestalteten Ereignisse und Schicksale sind bei ihm, gerade als vergängliche und auswechselbare, symbolisch nicht nur für das Leben der jeweiligen Figuren, sondern für die essentielle Beschaffenheit des Weltalls; sie drücken es, mit Lukacs zu reden, „ganz" aus.3 Daß Horkheimer vor seiner akademischen Laufbahn Jahre hindurch kaufmännisch tätig war, hat seine geistige Existenz entscheidend geprägt. Nicht zufällig wurde gerade Schopenhauer für ihn bedeutsam; beide verbinden weltkundigen Verstand mit metaphysischer Spekulation. Hinzu kommt die Ähnlichkeit ihrer Lebenswege. Auch Schopenhauers Vater war ein wohlhabender Geschäftsmann, auch er wurde Philosoph gegen dessen Wunsch. Eine weitere Parallele besteht darin, daß beide erstaunlich früh zu Einsichten vorstoßen, die für sie verbindlich bleiben. „In meinem 17ten Jahre", schreibt Schopenhauer 1831, „ohne alle gelehrte Schulbildung, wurde ich vom Jammer des Lebens so ergriffen, wie Buddha in seiner Jugend, als er Krankheit, Alter, Schmerz und Tod erblickte. Die Wahrheit, welche laut und deutlich aus der Welt sprach, überwand bald die auch mir eingeprägten Jüdischen Dogmen, und mein Resultat war, daß diese Welt kein Werk eines allgütigen Wesens seyn könnte, wohl aber das eines Teufels, der Geschöpfe ins Daseyn gerufen, um am Anblick ihrer Quaal sich zu weiden: darauf deuteten die Data, und der Glaube, daß es so sei, gewann die Oberhand."4 Horkheimers Frühschriften zeugen von der gleichen metaphysischen Trauer über den Weltzustand. Man wird ein Stück Selbstinterpretation darin sehen dürfen, daß Horkheimer, die Aktualität des Schopenhauerschen Denkens charakterisierend, 1960 sagte, es sei „so sehr an der Zeit, daß es der Jugend instinktiv zu eigen ist"5, wie denn auch die erste Version der Welt als Wille und Vorstellung der Feder eines Dreißigjährigen entstammt. Schopenhauers Einfluß ist unübersehbar. Trotzdem sollten wir den Horkheimer dieser Periode nicht auf ein geschlossenes Weltbild festlegen; derlei war ihm auch später verdächtig. Indes ist ein Streben nach einheitlicher Theorie schon damals unverkennbar; die literarischen Versuche sind um 3 4
5
GEORG VON LUKACS, Die Seele und die Formen, Berlin 1911, cf. S. 158 ff. ARTHUR SCHOPENHAUER, Sämtliche Werke, herausgegeben von ARTHUR HÜBSCHER, Band l, Wiesbaden 1948, S. 39 (Hervorhebungen von Schopenhauer). MAX HORKHEIMER, Die Aktualität Schopenhauers, in: HORKHEIMER/ADORNO, Sociologica II. Reden und Vorträge, Frankfurt am Main 1962, S. 137.
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— leitmotivisch wirkende — Schlüsselbegriffe zentriert, die in manchem den künftigen Sozialkritiker verraten. Zugleich aber enthalten sie, erstaunlich genug, Umrisse einer metaphysischen Konzeption, die Schopenhauers Lehre verarbeitet und — teilweise — fortbildet. Wer sich ernstlich mit Horkheimers Frühschriften beschäftigt, muß das für sie schlechthin konstitutive In- und Nebeneinander von spezifischer Gesellschaftskritik und prinzipiellem Pessimismus beachten. Ein ebenso produktiver wie schmerzlicher, letztlich unaufgelöster Widerspruch, der den jungen Horkheimer offenbar sehr bewegt hat und schon in Schopenhauer selbst angelegt ist. Dessen Philosophie weiß so gut wie die Hegelsche, daß der Weltlauf allemal über die Tugend triumphiert. Nur hütet sie sich, ihn pantheistisch zu verklären. Ebensowenig beugt sie sich einfach den Tatsachen. „Die Doktrin vom blinden Willen als dem Ewigen", heißt es in einem Aufsatz Horkheimers aus den sechziger Jahren, „entzieht der Welt den trügerischen Goldgrund, den die alte Metaphysik ihr bot. Indem sie ganz im Gegensatz zum Positivismus das Negative ausspricht und im Gedanken bewahrt, wird das Motiv zur Solidarität des Menschen und der Wesen überhaupt erst freigelegt, die Verlassenheit. Keine Not wird je in einem Jenseits kompensiert. Der Drang, ihr im Diesseits abzuhelfen, entspringt der Unfähigkeit, sie mit vollem Wissen dieses Fluchs ... zu dulden, wenn die Möglichkeit besteht, ihr Einhalt zu tun. Wider das unbarmherzige Ewige dem Zeitlichen beizustehen, heißt Moral im Schopenhauerschen Sinn."6 Ihr weiß schon der junge Horkheimer sich verpflichtet. Weder verfechten seine Schriften einen affirmativen „Sinn" des Weltganzen, noch resignieren sie angesichts des Leidens der Menschen. Wohl erblickt Horkheimer, traditionell gesprochen, im wandelbaren malum physicum die Erscheinungsform, das Symbol eines unwandelbaren malum metaphysicum. Daraus aber folgt für ihn keineswegs, daß man sich ins bestehende Unrecht schicken muß. Der moralische Protest gegen die wilhelminische Gesellschaft bildet denn auch ein durchgehendes Motiv seiner literarischen Versuche. Mit Recht gilt Schopenhauer, neben Kierkegaard und Nietzsche, als Ahnherr nicht nur der Lebens-, sondern auch der Existenzphilosophie. Anders freilich als deren spätere, offizielle Vertreter, hat er sich einen nüchtern-aufklärerischen Impuls bewahrt, der Horkheimers Denken insgesamt bestimmen sollte. Ehe Professoren Kategorien wie Angst und Sorge ideologisch verwalteten, sprach Schopenhauer ohne falschen Heroismus aus, „was eigentlich der Mensch ist: das großen und kleinen Unfällen, ohne Zahl, täglich und stündlich preisgegebene Wesen, ... welches daher in beständiger Sorge und Furcht zu leben hat".7 Diese negative Situation 6 7
Ibid., S. 139. ARTHUR SCHOPENHAUER, Sämtliche Werke, Band 3, 1. c., S. 164 f.
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des Menschen gründet Schopenhauer zufolge in der irrationalen Beschaffenheit des Universums; beide spiegeln sich ineinander. Dem folgt das Horkheimersche Frühwerk insofern, als es — überaus eindringlich — am kleinsten Detail menschlichen Lebens die ewige Struktur des Ganzen verdeutlicht und umgekehrt. Unbestreitbar, daß ein theoretisches Interesse durch es hindurchgeht. Aber nicht das des empirisch forschenden, an der Verfügbarkeit der Dinge orientierten Wissenschaftlers. Den jungen Horkheimer beschäftigen Fragen, die Kant dem „Weltbegriff" von Philosophie zurechnet. Mit erstaunlich wachem Blick für physisches Leiden und gesellschaftliches Unrecht sucht er sich zu verständigen über Gott, das Seiende im Ganzen, die Stellung des Einzelnen im Kosmos, die Verhältnisse zwischen den sozialen Gruppen und Klassen. Der behütete Sohn aus wohlhabendem Hause gerät in Konflikt mit der Gesellschaft, indem er ihre tägliche Praxis an den Ideen mißt, die sie verkündet, aber nicht einlöst. Das in der Familie erfahrene Glück entfacht in ihm unausrottbar den Gedanken der Gerechtigkeit: so sollte menschliches Leben überhaupt sein. Wie in Ibsens Volksfeind stößt auch in Horkheimers Novellen und Aufzeichnungen die „ideale Forderung" des Einzelnen auf erbitterten Widerstand der „kompakten Majorität". Die den jungen Schriftsteller umgebende Bürgerwelt hält sich mit Allotria nicht auf. In ihr zählen gesunde Ansichten, Bereitschaft zu Kompromissen, einträgliche Geschäfte; Feste, Konzerte und Soireen sorgen für wohltemperiertes Amüsement und Abwechslung. Keiner darf aus der sorgsam eingeübten Rolle fallen. Es mag hier und dort Mängel geben; grundsätzlich jedenfalls ist alles im Lot. Sosehr gerade der junge Horkheimer, dem kaum ein Genuß versagt geblieben sein dürfte, dieser großbürgerlichen Sphäre verhaftet ist — seine literarischen Versuche sind objektiv gegen die Interessen der eigenen Klasse gerichtet. Er ahnt, daß Reichtum, Bildung und Geist die grobe und verdummende Arbeit der Unteren voraussetzen. Zur Wirklichkeit gehören nicht nur Salons und kultivierte Gespräche, sondern ebenso schmutzige Fabriksäle, Spitäler, Zucht- und Irrenhäuser, Kneipen, Verbrechen, Prostitution, fanatische Massen, Krankheit und Tod. Hierin folgt Horkheimer der von der naturalistischen und expressionistischen Literatur eingeführten sozialen Thematik, über die er, spezifisch philosophisch weiterfragend, insofern hinausgeht, als er die menschlichen Schicksale nicht bloß abschildert, sondern als Symbole des allgemeinen Weltzustands deutet. Philosophische Reflexion erhebt die Frühschriften fast durchweg nicht nur über den Tonfall moralisierender Arme-Leute-Dichtung, sondern ebenso über bohemehaft leichtfertige Kritik am Philister. Zwar enthalten die Texte manches zeitgeschichtlich Bedingte: den Drang bürgerlicher Jugend seit 1900, sich, wie man damals sagte, „auszuleben", dumpf-alltäglichem Mittelmaß zu entfliehen. Aber damit hat es nicht sein Bewenden. Zum großen Jugendstil, dessen Spuren überall in Horkheimers Frühwerk hervortreten,
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gehört mehr. So drückt sich im Konflikt von Bürgerlichkeit und l'art pour l'art die unstillbare Sehnsucht aus, die Vollkommenheit des Kunstwerks im wirklichen Dasein zu erreichen. Schopenhauer, daran ist zu erinnern, erklärt das allein dem Menschen eigentümliche metaphysische Bedürfnis aus dem Bewußtsein des Todes, des Leidens und der Lebensnot. Der Metaphysiker löst sich von den raumzeitlichen, unverbrüchlicher Kausalität unterworfenen Dingen ab und betrachtet die Welt als Ding an sich. Ihr ewiger Kern ist Wille, der sich in allem Lebendigen reflektiert und dem für gewöhnlich auch die menschliche Denkfunktion dient. Mit den Aufklärern lehrt Schopenhauer, daß die „Haupt- und Grundtriebfeder" des Naturprozesses im Egoismus besteht, im schrankenlosen „Drang zum Daseyn und Wohlseyn".8 Diesem schlechthin Antimoralischen in uns widerstreitet die willensfreie, spezifisch metaphysische Einsicht, „daß die Ordnung der Natur nicht die einzige und absolute Ordnung der Dinge sei"9. Eine „absolute Physik"10, wie dogmatischer Materialismus sie verkündet, ist unmöglich. Was in Alltag und Wissenschaft als gegenständliche Welt erscheint, ist subjektiv bedingt: bloße Vorstellung. Eben dies durchschaut die allem Stofflichen, wenigstens zeitweise, enthobene „ruhige Kontemplation" des Metaphysikers, der „sein Individuum, seinen Willen, vergißt und nur noch als reines Subjekt, als klarer Spiegel des Objekts"11 auftritt. Erkannt wird nicht mehr das individuelle Ding, sondern „die Idee, die ewige Form, die unmittelbare Objektität des Willens"12 auf der jeweiligen Stufe. Der Kunst, insbesondere der Musik, ist diese Erkenntnisart zu eigen; ihr Glück ist es nach Schopenhauers Ästhetik, das ewige Wesen der Erscheinungen als „klares Weltauge"13 zu wiederholen. Gedanken, von denen Horkheimers Frühwerk durchdrungen ist. Die Welt, schreibt er, bedeutet nicht allein „Begierde nach Erde", sondern auch „Erlösungsstreben", Drang nach Licht, Schönheit, interesseloser Erkenntnis und Frieden. Freilich: all unser Leiden verdanken wir körperlichen Begierden — und können uns doch nicht von ihnen befreien. Wir hassen das uns mit jedem Schritt in Schuld und bloße Natur Verstrickende und bedürfen seiner. Das hieraus entspringende unglückliche Bewußtsein bildet ein tragendes Motiv der Novellen; sie gehen negativ aus, weil ihre Gestalten, sosehr sie danach trachten, sich übers unmittelbar Vorhandene zu erheben, ihm letztlich doch verhaftet bleiben. „Das Positive", schreibt 8 9 10 11 12 13
ARTHUR ARTHUR Ibid., S. ARTHUR Ibid. Ibid., S.
SCHOPENHAUER, Sämtliche Werke, Band 4, 1. c., S. 196. SCHOPENHAUER, Sämtliche Werke, Band 3, 1. c., S. 194. 195. SCHOPENHAUER, Sämtliche Werke, Band 2, 1. c., S. 210. 219.
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Horkheimer, „das Bestehende ist immer schlecht, doch seine Beschaffenheit ist der einzige Anhaltspunkt, den unsere Sinne benützen können und das seine ... Schönheit ausmacht. Bestünde die Körperwelt nicht, so ... gäbe es nur ein großes Nichts — Nirwana. Hier ist der Grund, warum wir bei schönen Dingen nie restlos befriedigt sein können, warum immer noch ein unbestimmtes, schmerzliches Sehnen übrigbleibt, das uns gerade durch ihren Anblick ins Bewußtsein tritt. Es ist ein Sehnen nach dem Vollkommenen, das uns Menschen — solange wir noch einen Leib besitzen und durch Sinne wahrnehmen müssen — nicht gestillt werden kann."14 Gleichwohl folgt für Horkheimer aus der Einsicht in die Sinnlosigkeit des Weltgetriebes keine Schopenhauersche Resignation. Die pessimistische Philosophie weiß, wie sehr Kriege, Elend und Unterdrückung in der menschlichen Bosheit, Habsucht und Dummheit begründet sind. Aber sie beruft sich nicht auf anthropologische Konstanten, wenn es sich darum handelt, vermeidbares Unrecht hier und jetzt zu beseitigen. Daher auch die Offenheit der Begriffe Horkheimers. Natur bedeutet nicht nur „die ewige, einzige, unendliche Ordnung", derzufolge alles menschliche Trachten „Wahn und eitel"15 ist; ihr wohnt auch der „Trieb zu Bewußtsein und Erkenntnis" inne, das Streben nach einem „ewig hellen Idealstaat"16. Darin erblickt der junge Horkheimer seine Aufgabe: „Was überwunden werden muß, verachten — das ... soll ich im Leben. So verachte ich ..., was dies Leiden notwendig macht, wovon wir uns reinigen müssen: die Gier nach Erde."17 Sie muß nicht das letzte Wort behalten, Roheit und Narretei sollen verschwinden. Noch immer fehlt es der Gesellschaft an vernünftiger Organisation: „Alle sind noch blind und vollziehen diese Ordnung als unbewußte Teile — hier wie in so manchem ... den Tieren ähnlich."18 Horkheimer spricht hier den Marxschen Gedanken aus, daß die noch in bloße „Naturgeschichte" verstrickte Menschheit dereinst das selbstbewußte Subjekt ihrer Geschichte sein wird. Was Schopenhauer nur dem buddhistischen oder christlichen Heiligen, großer Kunst, weltüberwindender Liebe zutraut: die Erlösung vom ewigen Kreislauf der Natur, von Raum, Zeit und Kausalität, erhofft Horkheimer vom künftigen Zustand der Menschheit. Geist soll aufhören, als biologisches Werkzeug zu dienen, was Mittel war, soll Zweck werden. Die „Politik" des jungen Mannes ist glühendes Bekenntnis, moralischer Protest gegen Lüge, Gemeinheit, Völker- und Rassenhaß, elementares Mitleid mit allem, was drunten ist und nach Licht verlangt. Charakteristisch für seine Münchner Zeit ist die schopenhauerisch gefärbte Analyse der damaligen politischen 14
MAX HORKHEIMER, Aas der Pubertät, 1. c., S. 32. Ibid., S. 208. 16 Ibid., S. 237. '7 Ibid., S. 23. 18 Ibid., S. 21. 15
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Richtungen. „Alle Schreibenden", heißt es hier, „nannten sich Fürsprecher des Volks, und alle bekämpften sich. Sichtbar war mir nur Abstufung ... nach dem Vermögensstand, Eigenart des Vertretenen schien gleich: Machtgier, Geldgier, Grund zur Verschiedenheit der Tonart war nicht Gegensatz der Wesenheit, sondern des Vorteils, des Besitzes. Ein Narr, wer hinter solchen Worten unabhängige Wahrheiten sucht, wer sie nicht erfaßt als Waffen im Daseinskampf, als Machtmittel."19 Horkheimers Frühwerk entzieht sich zusammenfassenden Thesen. Es ist wesentlich philosophisch, ohne als Philosophie konzipiert zu sein. Hier tritt uns kein bloßer Theoretiker entgegen, sondern ein lebendiger Mensch, leidenschaftlich bemüht, auszudrücken, was ihn in den Wirren der Zeit bewegt. Kritik am Bestehenden, utopische Sehnsucht über es hinaus und Trauer, ja nihilistische Verzweiflung über den unerbittlichen Weltlauf stehen unversöhnt nebeneinander. Der junge Horkheimer kann nicht vom Gedanken eines anderen, besseren Lebens lassen und weiß doch, wie verstrickt in Natur auch die Unterdrückten sind. „Er sah wohl", schreibt er in einer Novelle, „die Ungerechtigkeit der Verteilung der Güter, er begriff, daß vieles Äußerliche gemildert und gebessert werden könne, doch im tiefsten Bewußtsein ahnte er, daß ... die Erfüllung der kühnsten Utopien die große Qual nicht berühren würde, weil der Kern des Lebens selbst Qual und Sterben ist."20 Sollte es je — was ungewiß genug ist — zu einem humaneren Dasein kommen, so fiele vom guten Ende her kein versöhnender Glanz auf den grauenvollen Weg zu ihm hin. Ist der „Weltund Höllenapparat"21 einmal durchschaut, so wird die „übersinnliche Bedeutung" selbst „menschenfreundlicher, mitleidiger Tat"22 fraglich. Und doch ist dieser bedrückende Gedanke für den jungen Horkheimer kein Letztes. Die Welt ist nur deshalb kein Tollhaus, weil alle Menschen „Wille zum Glück" sind und „ein Vermögen, es ändern zu erfüllen"23. Tätige Liebe, Mitleid und Erbarmen bleiben die einzige Basis sittlichen Verhaltens: „Das innerste Wesen alles Lebendigen ist eines und dasselbe; ... was verschieden ist, betrifft immer nur das Äußerliche."24 Diese kreatürliche Identität gilt es zu begreifen; das führt uns, mit Schopenhauer, zu der Einsicht, daß alle Versuche der Menschen, die Rechte ihresgleichen zu schmälern, metaphysisch gesehen, vergeblich sind: „Der Quäler und der Gequälte sind Eines."25 Hieraus ergibt sich eine Idee möglicher Solidarität, der zumal der späte Horkheimer Treue bewahrt hat. 19 20 21 22 23 24 25
Ibid., S. 271 f. Ibid., S. 165. Ibid., S. 349. Ibid., S. 337. Ibid., S. 357. Ibid., S. 86. ARTHUR SCHOPENHAUER, Sämtliche Werke, Band 2, 1. c., S. 419.
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III. Die „Zeitschrift für Sozialforschung": wissenschaftliches Programm und Konkretisierung einer Idee Das Werden der Kritischen Theorie selbst ist aufs engste verknüpft mit dem Schicksal der Zeitschrift für So^ialforschung, die Horkheimer während der Jahre 1932—1941 im Auftrag des von ihm geleiteten Instituts herausgegeben hat. Diese Zeitschrift gehört zu den großen Dokumenten europäischen Geistes in unserem Jahrhundert. In ihr verbanden sich in einmaliger Weise Unabhängigkeit des Urteils von Machtinteressen, kritische Analyse und humanistischer Protest. In bewußtem Gegensatz zu akademisch weithin üblichen Organen verkörperte die Zeitschrift für So^ialforschung ein einheitliches Programm, ohne daß deshalb die individuellen Neigungen und Interessen der Mitarbeiter oder gar die Wissenschaftlichkeit des Anspruchs im mindesten geschmälert worden wären. Adorno, Marcuse, Löwenthal und Benjamin, um nur sie zu nennen, waren höchst individuierte, eigenwillige Menschen und doch der im Programm der Zeitschrift sich ausdrückenden Idee verbunden. Der Kreis junger Gelehrter um Horkheimer, der während der neun Jahre Spiritus rector des Unternehmens blieb, entwickelte Kategorien einer Gesamtkonzeption der Gesellschaft, die als Kritische Theorie der Frankfurter Schule weltbekannt werden sollte. Die geistig auf sich gestellte Gruppe verlieh dem Terminus „Sozialforschung" einen eigenen Klang. Gesellschaftliche Einsicht sollte auch auf Gebieten erzielt werden, die keineswegs von vornherein unter das Fach „Soziologie" fielen. Wenn etwa Benjamin Studien über die Lyrik Baudelaires vorgelegt hat, so enthielten diese im Selbstverständnis Horkheimers und seiner Mitarbeiter präzisere Erkenntnisse über die bürgerliche Welt des neunzehnten Jahrhunderts als manche andere, dem Kanon einzelwissenschaftlicher Soziologie verpflichtete Untersuchung. Soziologie im älteren, „enzyklopädischen" Sinn des Wortes — heute gern abschätzig „Weltbild-Soziologie" genannt — war wesentlich Geschichtsphilosophie, ob sie nun, wie in Deutschland, auf Hegel, Marx und Lorenz von Stein zurückging oder, wie in Westeuropa, auf Saint-Simon, Comte und Spencer. Etwas von jenem grundlegend geschichtsphilosophischen Interesse verband auch die sehr verschiedenen Intentionen, die sich in der Horkheimerschen Zeitschrift darstellen. Während nämlich die offizielle Soziologie geneigt war, ihre heroischen Anfänge als unreife, weil mit Spekulation behaftete Vorform dessen abzutun, was sie unter empirischem Studium der Tatsachen verstand, hat Horkheimer den geschichtsphilosophischen wie geschichtlich-situativen Grundzug seiner Theoretik nie bestritten. Im Anschluß an Marxens Kritik der politischen Ökonomie war er nicht nur darauf bedacht, Beiträge zu einer materialistischen Kulturgeschichte zu liefern, sondern auch darauf, Gegenwart als Geschichte im Sinn verändernder „Praxis" zu begreifen. Sofern Horkhei-
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mer Sozialforschung philosophisch konzipierte, das heißt mit dem Interesse der Vernunft an einer menschenwürdigeren Einrichtung der Gesellschaft verknüpfte, unterschied sich seine Vorgehensweise schon vom Ansatz her qualitativ von Soziologie als selbstgenügsamer, aller Philosophie abholder Einzelwissenschaft. IV. Der erste Direktor des Instituts für Sozialforschung: Carl Grünberg Ehe wir auf den Geist der wahrhaft schulbildenden Arbeiten Horkheimers in der Zeitschrift ausführlicher eingehen, scheint es geboten, an einige historische Tatsachen zu erinnern. — Nach dem plötzlichen Tod von Kurt Albert Gerlach, Professor für Staats- und Wirtschaftswissenschaften an der Technischen Hochschule Aachen, der als Direktor des neuerrichteten Frankfurter Instituts vorgesehen war, wurde der heute nur noch Spezialforschern bekannte Carl Grünberg auf das Direktorat berufen. Er war seit 1909 Ordinarius für politische Ökonomie in Wien gewesen, als er 1924 nach Frankfurt kam. Grünberg konnte seine Tätigkeit infolge schwerer Krankheit nur bis 1927 ausüben. Er war ursprünglich Jurist und lange praktisch als solcher tätig. Später wandte er sich wirtschafts-, sozialund namentlich dogmengeschichtlichen Studien zu. Er war ein ungemein beschlagener Gelehrter im Sinn der Historischen Schule der Nationalökonomie. Sein Lebenswerk bildet das von ihm 1911 begründete, umfangreiche Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung. Man hat Grünberg, zu Recht, den ersten Katheder-Marxisten im deutschsprachigen Raum genannt. Der Begriff „Marxismus" diente ihm „zur Bezeichnung eines in sich geschlossenen ökonomischen Systems, einer bestimmten Weltanschauung und einer festumrissenen Forschungsmethode"26. Wenn Grünberg (in der laxen Redeweise der II. Internationale) von „Weltanschauung" sprach, so drückte sich darin kein spezifisch philosophischer Ehrgeiz aus. Eher ein heute naiv wirkender Optimismus hinsichtlich des künftigen Geschichtsverlaufs — die Gewißheit, daß sich die Gesellschaft „mitten im Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus"27 befinde. Unter marxistischer „Forschungsmethode" verstand Grünberg die — positivistisch interpretierte — materialistische Geschichtsauffassung, die er als „Haupttragpfeiler des wissenschaftlichen Sozialismus"28 betrachtete. Ausdrücklich bestritt er jeden sachlichen Zusammenhang von Marxismus und Philosophie, einschließlich der materialistischen. Die Marxsche Lehre reduzierte sich derart bei Grünberg (der hierin Max Adler folgte) auf 26
27 28
CARL GRÜNBERG, Festrede, gehalten %ur Einweihung des Instituts für So^ialforscbung, Frankfurter Universitätsreden, XX, Frankfurt am Main 1924, S. 10. Ibid., S. 9. Ibid.
in:
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eine tatsachengläubige „Kausalforschung", die nachzuweisen suchte, daß „sämtliche Lebensäußerungen der Gesellschaft" bloße „Reflexe des Wirtschaftslebens in dessen jeweiliger Gestaltung"29 sind. Die offensichtliche Unzulänglichkeit dieses Marx-Verständnisses ist hier nicht zu erörtern. Immerhin bleibt bedenkenswert, daß Grünberg — zeitgeschichtlich orientiert — materiale Studien anregte und förderte, indem er die Kritik der politischen Ökonomie ins Zentrum der Gesellschaftslehre rückte und nicht irgendeine von außen aufgenommene Philosophie. Er stiftete damit ungewollt einen gewissen Traditionszusammenhang. Grünbergs Thema war die materiale, auf die dürren Bestimmungen Heideggerscher „Geschichtlichkeit" irreduktible Geschichte. Sein — an sich richtiger — Gedanke, daß den Marxschen Resultaten „keine Geltung in Raum und Zeit schlechthin" zukommt, „sondern nur relative, jeweils geschichtlich bedingte Bedeutung"30, konnte freilich erst in einer historischen Dialektik, wie Horkheimer und seine Mitarbeiter sie voraussetzten, zu seinem vollen, nicht-relativistischen Recht gelangen. V. Die Horkheimersche Rezeption und Kritik Hegels zu Beginn der dreißiger Jahre Am 24. Januar 1931 übernahm Horkheimer mit einem Lehrstuhl für Sozialphilosophie die Leitung des Instituts. Seine Antrittsvorlesung unter dem Titel Die gegenwärtige Lage der So^ialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für So^ialforschung enthielt in nuce das Programm der späteren Zeitschrift. Hatte sein Amtsvorgänger vom Kontakt mit Philosophie sich bestenfalls eine „Befruchtung" historischer Studien versprochen31, so mußte jene für den Fachphilosophen Horkheimer von Anbeginn eine positivere Rolle spielen. Allerdings verwarf er alle (seit Bernstein und dem Revisionismus üblichen) Versuche, die Marxsche Lehre mit neukantianischen, positivistischen oder, später, existentialphilosophischen Motiven zu versetzen. Für Horkheimer war eine wirklich produktive, weiterführende Aneignung des historisch-dialektischen Materialismus notwendig verbunden mit einer neuerlichen, präzisen Analyse der historischen wie sachlichen Bedeutung der Hegeischen Philosophie für Marx. Dieser hatte noch 1858, also zu unverdächtiger Zeit, die Dialektik „unbedingt das letzte Wort aller Philosophie" genannt, zugleich aber betont, wie wichtig es sei, „sie von dem mystischen Schein, den sie bei Hegel hat, zu befreien"32. Unter diesem 29 30 31 32
Ibid., S. 10. Ibid., S.U. Ibid., cf. S. 16. MARX an LASALLE, Brief vom 31. Mai 1858, in: MARX/ENGELS, Werke, Band 29, Berlin 1963, S. 561.
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ebenso affirmativen wie kritischen Aspekt war auch Horkheimer bestrebt, die Frage des Übergangs zum Materialismus zu reformulieren. Dabei konnte er auf beachtliche Vorarbeiten zweier Vertreter des „westlichen" Marxismus33 zurückgreifen: Lukacs und Korsch. Beide hatten — angefeindet von der sowjetischen wie der sozialdemokratischen Orthodoxie — im bewußten Rekurs auf Hegel versucht, die philosophischen Gehalte einer materialistischen Dialektik herauszuarbeiten. Zu erinnern ist hier an Lukacs' berühmtes Buch Geschichte und Klassenbewußtsein von 1923, das die Marxschen Kategorien des Warenfetischismus und der Verdinglichung erstmals auf die erkenntnistheoretische Problematik und das Studium der Kulturphänomene anwandte. Zu erinnern ist ferner an Korschs scharfe Polemik gegen die sozialdarwinistischen Entstellungen der Marxschen Theorie in Kautskys 1927 erschienenem Werk Die materialistische Geschichtsauffassung in der Schrift gleichen Titels von 1928 sowie an Marxismus und Philosophie, eine bedeutende Arbeit Korschs, die 1923 in Grünbergs Archiv erschien und 1930 in erweiterter Form. Das Verdienst dieser frühen Arbeiten von Lukacs und Korsch bestand darin, daß sie — unwiderruflich — neue Maßstäbe des Marx-Verständnisses setzten, indem sie mit den doktrinären Traditionen der II. Internationale brachen, die im späteren Kautskyanismus ebenso fortwirkten wie in dem nach Lenins Tode in Rußland kanonisierten „Marxismus-Leninismus". Beide Orthodoxien griffen Lukacs und Korsch heftig an, beide mit den Argumenten eines scientistischen Objektivismus. Dennoch zeugten diese Angriffe, so beschränkt sie waren, davon, daß es dem „westlichen" Marxismus der zwanziger Jahre nur um den allzu hohen Preis eines Rückfalls in den Hegeischen Idealismus gelungen war, die philosophische Seite von Marx zu reaktivieren34: anstatt ebenso über den (erkenntnistheoretisch unzulänglichen) Abbild-Realismus hinauszugehen wie über die spekulative Identität von Subjekt und Objekt, tendierten Lukacs und Korsch dazu, jenen durch diese zu ersetzen. Wohl hatten sie den Zusammenhang von Ökonomie und dialektischer Methode, von Theorie und politischer Aktion im Marxschen Werk erstmals so beleuchtet, daß dessen Themen unter völlig neuen Gesichtspunkten diskutiert werden konnten. Aber sie standen ihren — zumal kommunistischen — Gegnern näher als ihnen bewußt war. Korsch und mehr noch Lukacs formulierten nur in philosophischer Sprache, was anderswo politisch durchgesetzt wurde: die Theologisierung und moralische Glorifikation der monolithischen Partei und ihrer Rolle. Lukacs' geradezu apokalyptische Geschichtsphilosophie in Geschichte und Klas33
34
Cf. zum Begriff des „westlichen" Marxismus das Buch von MAURICE MERLEAU-PONTY, Die Abenteuer der Dialektik, Frankfurt am Main 1968, vor allem die Kapitel II und III. Darauf hat ADORNO in seiner Negativen Dialektik (Frankfurt am Main 1966, cf. S. 189) noch Jahrzehnte später hingewiesen.
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senbewußtsein, die im organisierten Proletariat das Subjekt-Objekt des welthistorischen Prozesses erblickte, stattete die Partei mit der — fragwürdigen — Tugend aus, den Arbeitern gegenüber als „Objektivation ihres eigensten, ihnen selbst noch nicht klaren Willens"35 aufzutreten. — Die Stalinsche Ära sollte darüber belehren, wie sehr die Rede von der objektiven, in der Partei verkörperten Vernunft zum Feigenblatt tyrannischer Willkür werden kann. Horkheimers Arbeiten aus den frühen dreißiger Jahren setzen die neuen, im geistigen Klima des „westlichen" Marxismus entstandenen Fragestellungen und Einsichten voraus. Aber sie verzichten auf den dogmatischen Anspruch, über ein welthistorisches Totalwissen zu verfügen, in dessen Namen alle Mittel gerechtfertigt sind. In Horkheimers nicht völlig ablehnendem, aber doch gebrochenem Verhältnis zur Geschichtsphilosophie ist ein Stück Schopenhauerscher Skepsis enthalten, das ihn davor bewahrte, der Suggestion des in den zwanziger Jahren marxistisch neuentdeckten Hegel einfach zu erliegen. In diesem — für sein Denken entscheidenden — Punkt steht er der Position des reifen Marx näher als die hegelianisierenden Autoren. Für Marx war die „aus der kritischen Erkenntnis der geschichtlichen Bewegung" zu schöpfende „Wissenschaft"36 sehr verschieden vom „Universalschlüssel einer allgemeinen geschichtsphilosophischen Theorie"37, die im Gang der Ereignisse einen höheren, sich stufenweise realisierenden Zweck nachzuweisen sucht. Marx leugnet nicht, was bei Hegel objektive Logik der Weltgeschichte heißt. Aber er hütet sich, ihre namenlosen Opfer einzubeziehen in einen metaphysischen Heilsplan. Diesen Gedanken nahm Horkheimer auf und führte ihn näher aus. So schrieb er 1930 in seiner Kritik des Mannheimschen Buches Ideologie und Utopie über die Marxsche Lehre: „Ihre Leistung sollte wesentlich in der einheitlichen Erklärung der gesellschaftlichen Bewegungen aus den durch die wirtschaftliche Entwicklung bedingten Klassenverhältnissen bestehen. Nicht die Erkenntnis einer ,Totalität' oder eine totale und absolute Wahrheit, sondern die Veränderung bestimmter gesellschaftlicher Zustände war die Absicht seiner Wissenschaft. Im Zusammenhang damit wird auch die Philosophie kritisiert, aber nicht eine neue Metaphysik an die Stelle der alten gesetzt."38 Im Gegensatz zur Hegeischen Spekulation, die letztlich den ehernen Lauf der Dinge verherrlichte, kam es der materialistischen Theorie, wie Horkheimer sie verstand, darauf an, ihn unter dem Aspekt 35 36
37 38
GEORG LUKÄCS, Geschichte und Klassenbewußtsein, Berlin-Halensee 1923, S. 54. MARX an. J. B. SCHWEITZER, Brief vom 24. Januar 1865, in: MARX/ENGELS, Ausgewählte Briefe, Berlin 1953, S. 184. MARX an die Redaktion der Vaterländischen Blätter, November 1877, in: ibid., S. 371. MAX HORKHEIMER, Ein neuer Ideologiebegrtfß, zitiert nach: KURT LENK, Ideologie, Neuwied/ Berlin 1961, S. 236.
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seiner künftigen Beherrschbarkeit begrifflich zu durchdringen. Sinngebende Metaphysik, die dem Weltlauf ein immanentes Telos von vornherein zuspricht, war Horkheimer ebenso verdächtig wie ein Positivismus, der das Vorhandensein überindividueller Strukturen, Tendenzen und Gesetzmäßigkeiten des historischen Prozesses schlicht bestreitet. Freilich war auch dem materialistisch erklärten Stufengang der sozialen Entwicklung nicht blind zu vertrauen. Darauf wies Horkheimer in der ebenfalls 1930 erschienenen Schrift Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie nachdrücklich hin. „Daß die Geschichte", heißt es hier, „eine bessere Gesellschaft aus einer weniger guten verwirklicht hat, daß sie eine noch bessere in ihrem Verlaufe verwirklichen kann, ist eine Tatsache; aber eine andere Tatsache ist es, daß der Weg der Geschichte über das Leiden und Elend der Individuen führt. Zwischen diesen beiden Tatsachen gibt es eine Reihe von erklärenden Zusammenhängen, aber keinen rechtfertigenden Sinn".39 Wer in den Kellern gnadenloser Gewaltherrscher umgekommen ist, auf dessen Tod fällt auch dann kein versöhnendes Licht, wenn es den Menschen gelingen sollte, ihre Verhältnisse mit mehr Weisheit einzurichten als bisher. Horkheimers radikal aufklärerische Entzauberung dessen, was positive Geschichtsphilosophie Fortschritt zu höheren Stufen nennt, machte in der letztgenannten Schrift auch vor dem Begriff der Geschichte selbst als einer einheitlichen Struktur nicht halt: „Die vollständig gelungene Erklärung, die durchgeführte Erkenntnis der Notwendigkeit eines geschichtlichen Ereignisses, kann für uns, die wir handeln, zum Mittel werden, Vernunft in die Geschichte hineinzubringen; aber die Geschichte hat keine Vernunft, ,an sich' betrachtet, ist keine wie immer geartete ,Wesenheit', weder ,Geist', dem wir uns beugen müßten, noch ,Macht', sondern eine begriffliche Zusammenfassung von Ereignissen, die sich aus dem gesellschaftlichen Lebensprozeß der Menschen ergeben ... Die pantheistische Verselbständigung der Geschichte zu einem einheitlichen substanziellen Wesen ist nichts als dogmatische Metaphysik."40 Vor ihr hatte bereits Schopenhauer, Horkheimers frühester Gewährsmann, gewarnt, wenn er die geschichtsphilosophische Verklärung der Welt zur Theophanie als „wahrhaft ruchlose Denkungsart" brandmarkte, als „Hohn über die namenlosen Leiden der Menschheit".41 In der Horkheimerschen Interpretation — das wird oft übersehen — treten die antimetaphysischen, selbst nihilistischen Konsequenzen des historischen Materialismus schärfer hervor als bei Marx selbst. Horkheimer spricht sie ohne hämischen Nebenton aus. Es gibt keinen verbindlichen 39 40 41
MAX HORKHEIMER, Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1930, S. 92. Ibid., S. 94. ARTHUR SCHOPENHAUER, Sämtliche Werke, Band 2, 1. c., S. 385 (Hervorhebung von Schopenhauer).
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Sinn-Hintergrund des Daseins, keine „höhere", die materielle, raum-zeitliche Wirklichkeit überwölbende Sphäre noch ein schlechthin Fundamentales, das jene Wirklichkeit als Einheitsprinzip trüge. Der erkennende Geist vermag sich in Natur und Geschichte nicht wiederzuerkennen. Sie sind mit ihm nicht identisch. Deshalb bleibt Horkheimer zufolge „auch eine nach den Grundsätzen der Dialektik dargestellte Wissenschaft ... eine in vieler Hinsicht bedingte Tatsache unseres Lebens"42: ein bloßes Moment der historischen Praxis. VI. Von der Sozialphilosophie zur Kritischen Theorie „Sozialphilosophie", lesen wir in Horkheimers Antrittsrede von 1931, zielt darauf ab, das kollektive Schicksal der Menschen philosophisch zu deuten; sie „hat sich daher um solche Phänomene zu bekümmern, die nur im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Leben der Menschen verstanden werden können: um Staat, Recht, Wirtschaft, Religion, kurz um die gesamte materielle und geistige Kultur der Menschheit überhaupt"43. Horkheimer erblickte die positive Seite der Hegeischen Philosophie darin, daß sie eben diesen — umfassenden — Begriff von Sozialphilosophie vorbereitete. Hegel befreite die Frage nach dem Individuum als kulturschöpferischem Subjekt dadurch von der Beschränktheit bloßer Introspektion, daß er sie an „die Arbeit der Geschichte"44 verwies, das heißt ans Studium konkreter Inhalte. Hegels Idealismus stellte sich doppelt dar: als Theorie des „kollektiven Ganzen, in dem wir leben", und als „Erkenntnis unseres eigenen Seins nach seinem wahren Wert und Gehalt"45. Soweit war Horkheimer bereit, Hegel zu folgen. Aus der offenkundigen Unmöglichkeit jedoch, seine Geschichtskonstruktion insgesamt zu übernehmen, ergab sich für Horkheimer die Problematik eines geschichtsphilosophischen Neuansatzes. Seine Hegel-Interpretation war denn auch zentriert um die Überlegung, daß die „verklärende", von Hegel der Philosophie zugesprochene Rolle gerade mit seiner unaufgebbaren, obschon idealistisch formulierten Einsicht zusammenhängt, daß sich das Wesen des Menschen nicht aus der Innerlichkeit und dem persönlichen Schicksal des einzelnen ergibt, sondern aus der philosophischen Analyse des geschichtlichen, kollektiven Lebens der Völker.
42
43
44 45
MAX HORKHEIMER, Hegel und das Problem der Metaphysik, in: Geschichtspbilosophie\Hegel\ Montaigne. Mit einer Einleitung von ALFRED SCHMIDT, Frankfurt am Main 1971, S. 93. MAX HORKHEIMER, Die gegenwärtige Lage der So^ialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für So^talforschung, 1. c., S. 3. Ibid., S. 4. Ibid., S. 4 f.
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Auf Philosophie, die das besondere mit dem allgemeinen Interesse vermitteln sollte, glaubte die europäische Gesellschaft etwa seit 1850 verzichten zu können, trat sie doch ins Zeitalter des Positivismus ein, der — zumal hinsichtlich der Ökonomie — vom „unmittelbaren Glauben an die prästabilierte Harmonie der Einzelinteressen"46 erfüllt war und sich an den kontinuierlichen Fortschritt von Wissenschaft und Industrie hielt. Die Metaphysik des objektiven Geistes schien unwiederbringlich dahin. Je mehr freilich die gesellschaftliche Praxis die hochgespannten Erwartungen der nachidealistischen Periode enttäuschte, desto häufiger kam es während der ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts zu ebenso bemühten wie schwächlichen Versuchen, Sozialphilosophie auf idealistischer Basis zu restaurieren. Durchweg antipositivistisch orientiert, liefen sie, so Horkheimer, darauf hinaus, „über dem Boden der festzustellenden tatsächlichen Begebenheiten ein höheres eigengesetzliches Seins-, zum mindesten ein Geltungs- oder Sollensreich aufzuweisen, an dem die vergänglichen Menschen Anteil haben, das selbst aber nicht auf natürliche Begebnisse zurückzuführen ist"47. Diese sozialphilosophischen Entwürfe sollten dem Individuum „den Blick in eine überpersonale Sphäre ... eröffnen, die ... wesenhafter, sinnerfüllter ... ist als sein Dasein"48. Mit Hegels Idealismus, hinter dessen inhaltlichem Reichtum sie zurückblieben, hatten sie lediglich die „Verklärung" des Bestehenden gemein. Horkheimer umriß angesichts dieser Situation seinen Denkansatz, indem er den gemeinsamen Mangel der gegen den Positivismus gerichteten sozialphilosophischen Richtungen bezeichnete. Er bestand in ihrer Naivität, einerseits die wissenschaftlich feststellbaren „Tatsächlichkeiten" unbefragt hinzunehmen, andererseits aber zu versuchen, „ihnen mehr oder minder konstruktiv,... philosophierend' Ideen, Wesenheiten, selbständige Sphären des objektiven Geistes, Sinneinheiten, Volksgeister als ebenso ursprüngliche, ja als ,echtere' Seinsbestände"49 gegenüberzustellen. Daß selbst der Positivismus unbeweisbare metaphysische Prämissen enthält, war den neueren Philosophen Grund genug, ihn darin noch zu überbieten. Es entstand derart ein schlechter Relativismus, der „keinen sachlich begründeten Vorzug"50 dieser Theorie gegenüber jener erlaubte. Die Sozialphilosophen sprachen damals vom Lebensprozeß der Menschen, den sie untersuchen sollten, nur „weltanschaulich, thesenhaft, bekenntnishaft" und machten „zwischen den Soziallehren von Auguste Comte, Karl Marx, Max Weber und Max Scheler eher 46
Ibid., S. 6. Ibid., S. 8. 48 Ibid. — HORKHEIMER denkt hier an Autoren wie HERMANN COHEN, MAX SCHELER, NICOLAI HARTMANN und OTHMAR SPANN. 49 Ibid., S. 9. s« Ibid. 47
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den Unterschied von Glaubensakten als von wahren, falschen oder vorerst noch problematischen Theorien". Ein wenig befriedigender Zustand, über den Horkheimer vermittels der dialektischen Methode hinausgelangt ist. An die Stelle der akademisch üblichen Dualismen und säuberlich getrennten Sphären trat bei ihm der konkrete Begriff, der Identität und Differenz von Besonderem und Allgemeinem in sich enthält. Materiale Soziologie und Sozialphilosophie — davon war Horkheimer überzeugt — müssen einander wechselseitig korrigieren und bereichern. Die Frage nach den spezifischen Formen menschlicher Vergesellschaftung schließt allemal die nach ihrem Realitätsgrad und Wert ein. Umgekehrt bedarf die begriffliche Arbeit des Philosophen der in gründlichen Detailstudien gesichteten Materialien. Das Verhältnis von Philosophie und einzelwissenschaftlichen Disziplinen, betont Horkheimer, „darf nicht in dem Sinne gefaßt werden, als ob die Philosophie die entscheidenden Probleme behandle und dabei von Erfahrungswissenschaft unangreifbare Theorien, eigene Wirklichkeitsbegriffe, die Totalität umspannende Systeme konstruiere, während ... die Tatsachenforschung ihre langen, langweiligen, sich in tausend Einzelfragen aufsplitternden Einzelerhebungen anstelle, um schließlich im Chaos des Spezialistentums zu enden"51. Statt dessen kam es Horkheimer darauf an, daß philosophische Theorie und einzelwissenschaftliche Praxis sich fortwährend dialektisch durchdringen und in dieser Wechselbezüglichkeit entfalten. Philosophie ist hier kein von außen an die empirischen Daten herangetragener, fertiger Katalog von Kategorien, welcher der Dialektik des Erkenntnisprozesses (wie der Geschichte) entzogen bleibt. Als begriffliche, auf Erkenntnis des „Wesens" der Erscheinungen abzielende Operation fördert sie die speziellen Untersuchungen und ist dabei „weltoffen genug, um sich selbst von dem Fortgang der konkreten Studien beeindrucken und verändern zu lassen"52. Horkheimer verspürte wenig Neigung, den deklarativen Versicherungen und hohlen Konstruktionen der damaligen Sozialphilosophie weitere hinzuzufügen. Vielmehr schlug er als handfestes Programm vor, „auf Grund aktueller philosophischer Fragestellungen Untersuchungen zu organisieren, zu denen Philosophen, Soziologen, Nationalökonomen, Historiker, Psychologen in dauernder Arbeitsgemeinschaft sich vereinigen und ... ihre aufs Große zielenden philosophischen Fragen an Hand der feinsten wissenschaftlichen Methoden ... verfolgen"53. Dadurch werden jene Fragen nicht dogmatisch beantwortet, „sondern ... selbst dialektisch einbezogen in den empirisch wissenschaftlichen Prozeß, das heißt die Antwort auf sie liegt in dem Fortschritt der sachlichen Erkenntnis, von dem ihre 51
ibid., s. 10.
52
Ibid. Ibid., S. 11.
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Gestalt selbst mitbetroffen wird"54. Was es heißt, philosophiegeschichtlich überkommene Fragestellungen auf wissenschaftliche Weise neu anzugehen, erläuterte Horkheimer an dem alten, immer wieder erörterten Problem, wie sich individuelle Existenz und allgemeine Vernunft, sinnliche Wirklichkeit und Idee, Leben und Geist zueinander verhalten. Historisch-materialistisch formuliert, also nicht mehr „rein" philosophisch, handelt es sich hier „um die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem wirtschaftlichen Leben der Gesellschaft, der psychischen Entwicklung der Individuen und den Veränderungen auf den Kulturgebieten im engeren Sinn"55. Sie ist von Horkheimer und seinen Mitarbeitern stets neu gestellt worden. Ihnen lag daran, den historischen Materialismus, der für sie keine fertige Schablone war, am Stoff zu erproben. Das von Horkheimer 1931 vorgelegte Programm sah vor, „eine Diktatur der planvollen Arbeit über das Nebeneinander von philosophischer Konstruktion und Empirie in der Gesellschaftslehre zu errichten"56. Neben den Buchpublikationen des Instituts diente die Zeitschrift für So^ialforschung seiner Verwirklichung. Im Vorwort von 1932 zum ersten Heft tat Horkheimer dar, daß der Terminus „Sozialforschung" keine Spezialdisziplin bezeichnet, sondern ein synthetisches Prinzip, das „Untersuchungen auf den verschiedensten Sachgebieten und Abstraktionsebenen" unter dem Aspekt zusammenführt, daß sie die Einsicht ins soziale Ganze fördern. Wiederum betonte Horkheimer das Erfordernis, „bei unbedingter empirischer Strenge" im einzelnen ein „theoretisches Zentralproblem" im Auge zu behalten. Unter Rekurs auf die wesenslogische, von Marx im Kapital entfaltete Dialektik galt es, sich „bloßer Tatsachenbeschreibung" ebenso zu entziehen wie „empiriefremder Konstruktion". Erkenntniskritisch setzte Horkheimers Projekt — mit Hegel — voraus, daß „unter der chaotischen Oberfläche der Ereignisse eine dem Begriff zugängliche Struktur wirkender Mächte zu erkennen sei. Geschichte gilt in der Sozialforschung nicht als Erscheinung bloßer Willkür, sondern als von Gesetzen beherrschte Dynamik, ihre Erkenntnis ist daher Wissenschaft".57 Diese verfährt kritisch, indem sie den sinnlichen Augenschein der sozialen Tatsachen von der sie geschichtlich hervorbringenden, ihren Zusammenhang stiftenden Struktur unterscheidet. Angestrebt wurde so von Horkheimer die „Erkenntnis des gesamtgesellschaftlichen Verlaufs"58, das heißt „eine Theorie . . . der gegenwärtigen Epoche"59, die — modern gesprochen — Einheit 54 55 56 57 58 59
Ibid. Ibid., S. 13. Ibid., S. 12. Zeitschrift für So^ialforscbung, Jahrgang I, 1932, Doppelheft 1/2, S. I. Ibid. Ibid., S. III.
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und Differenz „strukturaler" wie „historiographischer" Aussagen gleichermaßen beachtet. Es ging Horkheimer, wie er nicht müde wurde zu versichern, um „die gegenwärtige menschliche Wirklichkeit", nicht um „möglichst große Allgemeinheit und übergreifende Schau"60. Soweit auch die Theorie der Gesellschaft „zusammenfassender Begriffsbildungen" bedurfte, schlössen diese — im Gegensatz zur damaligen Metaphysik — „weitere Aufhellung und berechtigten Widerspruch durch ... empirische Forschung nicht aus"61. So unentbehrlich ein kategoriales Gerippe war, so wenig durfte es die eigentlich „wissenschaftliche Arbeit... abschließend vorwegnehmen und sich an die Stelle der zu lösenden Probleme setzen"62. Zu den von Horkheimer zu Beginn seiner Wirksamkeit hervorgehobenen wissenschaftlichen Kriterien gehörte neben der (für sein Denken charakteristisch bleibenden) doppelten Frontstellung gegenüber flachem Empirismus und leeren Konstruktionen namentlich die Unabhängigkeit von der Politik. Sozialforschung hatte „die Selbständigkeit ihres Erkenntnisanspruchs"63 ohne Rücksicht auf weltanschauliche oder politische Interessen zu wahren. Dies bedeutete, wie Horkheimer unterstrich, keineswegs, daß ihre Vertreter sich von historischer Bedingtheit frei wähnten oder Erkenntnis ihnen autark und konsequenzlos erschien. Geschichte ragt in alle Theorie hinein. Aber die Resultate der Forschung hatten theoretischen Kriterien zu genügen, wenn sie sich praktisch bewähren sollten. Daher auch Horkheimers schroffe Absage an jeglichen Pragmatismus. Wohl hat Marx den Schein voraussetzungslosen Denkens aufgelöst und nachgewiesen, daß auch die Wissenschaft als Produktivkraft und Produktionsmittel in den gesellschaftlichen Lebensprozeß eingeht. Daraus aber folgte für Horkheimer nicht, daß seine Theorie pragmatistisch auszulegen sei. Die materialistische Dialektik ist der Idee objektiver Wahrheit verpflichtet: „Soweit die Fruchtbarkeit einer Erkenntnis bei ihrem Wahrheitsanspruch eine Rolle spielt", ist darunter „eine der Wissenschaft immanente Fruchtbarkeit und keine Übereinstimmung mit äußeren Rücksichten zu verstehen. Die Prüfung der Wahrheit eines Urteils ist etwas anderes als die Prüfung seiner Lebenswichtigkeit. In keinem Fall haben gesellschaftliche Interessen über die Wahrheit zu entscheiden, sondern es gelten Kriterien, die sich ... mit dem theoretischen Fortschritt entwickelt haben. ... Wenn auch die Wissenschaft in die geschichtliche Dynamik einbezogen ist, darf sie darum doch nicht des ihr eigentümlichen Charakters entkleidet und utilitaristisch mißverstanden werden."64 60
Ibid.
« Ibid. 62 Ibid. 63 Ibid. 64 MAX HORKHEIMER, Bemerkungen über Wissenschaft und Krise, in: ibid., S. 1.
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Aus diesem Pathos wissenschaftlicher Objektivität und Wahrheit erklärt sich denn auch Horkheimers beharrliches Bestreben, den authentischen Begriff von „Ideologie" als gesellschaftlich notwendigem Schein sowohl gegen seine „wissenssoziologische" Neutralisierung durch Scheler und vor allem Mannheim zu verteidigen als auch gegen den offiziell-kommunistischen (von Marx nicht weniger weit entfernten) Sprachgebrauch. Schlechter Relativismus dort und politisches Dogma hier sind einander wert. Demgegenüber bilden die Untersuchungen Horkheimers in der Zeitschrift für So^ialforschung über geisteswissenschaftliche, lebens- und existenzphilosophische Gegenstände unüberholte Paradigmata einer durchdachten und geschmeidigen Anwendung der Marxschen Überbau-Lehre. Noch im Jahre 1962 hat Horkheimer auf die unaufhebbare Differenz von Ideologie und Wahrheit hingewiesen, als er schrieb: „Geist ... hängt unlöslich mit dem Willen, den Interessen und Trieben der Menschen, mit ihrer realen Lage zusammen. Aber der Unterschied zwischen dem als Unbedingtem sich aufspreizenden Bedingten einerseits und der Erkenntnis, zu der wir mit unseren besten Kräften jeweils kommen, andererseits, dieser Unterschied fällt damit keineswegs dahin. Es ist der Unterschied von Wahrheit und Unwahrheit. Der Name der Ideologie sollte dem seiner Abhängigkeit nicht bewußten, geschichtlich aber bereits durchschaubaren Wissen, dem vor der fortgeschrittensten Erkenntnis bereits zum Schein herabgesunkenen Meinen, im Gegensatz zur Wahrheit vorbehalten werden. Wertgebung aber, sofern sie glaubt, aus der geschichtlichen Verflechtung sich befreien zu können, oder infolge dieser Verflechtung bloß noch den Weg in Zufälligkeit und Nihilismus offen zu sehen, ist selbst Ideologie in dem engen und prägnanten Sinn."65 Horkheimers ideologiekritisches Generalthema in der Zeitschrift für So^ialforschung, enthalten im Untertitel seiner Studie Egoismus und Freiheitsbewegung, lautet: Anthropologie des bürgerlichen Zeitalters. Deren Resultate mußten aus dem Studium der Geschichte selbst hervorgehen, nicht aus einem ihr aprioristisch vorgeordneten einheitlich-geistigen „Menschenbild". An die Stelle der metaphysischen Rede vom Menschen überhaupt trat bei Horkheimer die nähere Untersuchung dessen, was jeweils das menschliche Wesen ausmacht. „In jeder Epoche", erklärte er, „sind die gesamten in den Menschen entfaltbaren seelischen Kräfte, ... welche ihren ... Leistungen zugrunde liegen, ferner die den gesellschaftlichen und individuellen Lebensprozeß bereichernden seelischen Faktoren zu unterscheiden von den durch die jeweilige gesellschaftliche Gesamtstruktur determinierten und relativ statischen psychischen Verfassungen der Indivi-
65
MAX HORKHEIMER, Ideologie und Handeln, in: HORKHEIMER/ADORNO, Sociologiea II, 1. c.,
S. 47.
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duen, Gruppen, Klassen, Rassen, Nationen, kurzum von ihren Charakteren."66 Mit den Kritikern der politischen Ökonomie erblickte Horkheimer den Schlüssel zur Erklärung des historischen Stufengangs in der Entwicklungsgeschichte der menschlichen Arbeit. Er begriff die Einheit der bürgerlichen Epoche als vermittelt durch die Produktion und den universellen Austausch von Waren, zu denen auch die menschliche Arbeitskraft gehörte. Von hier aus waren letztinstanzlich auch die kulturellen Kategorien und ihr Wandel zu erfassen. Engels hat den inneren Zusammenhang des historischen Materialismus mit den Kategorien der Ricardo-Marxschen Warenanalytik folgendermaßen gekennzeichnet: Die „Bestimmung des Warenwerts durch Arbeit und der nach diesem Wertmaß sich vollziehende freie Austausch der Arbeitsprodukte zwischen gleichberechtigten Warenbesitzern, das sind, wie Marx ... nachgewiesen, die realen Grundlagen, auf denen die gesamte politische, juristische und philosophische Ideologie des modernen Bürgertums sich aufgebaut hat".67 Horkheimer nun hat, ohne diesen ursprünglichen Denkansatz je aufzugeben, die Ideologieforschung insofern sozialpsychologisch bereichert, als er nicht mehr nur Bewußtseinsformen in ihrer Abhängigkeit von der gesellschaftlichen Totalität untersuchte, sondern ebenso den sozial-psychischen Habitus von Individuen, Gruppen und Schichten, ihre — oft vorurteilsvollen — bewußten und unbewußten Verhaltensmuster. VII. Die Idee der „Aufhebbarkeit" des historischen Materialismus als geschichtsphilosophischer Wesenszug der Kritischen Theorie Beschließen wir unsere Betrachtungen damit, daß wir auf den Gedanken hinweisen, der die Kritische Theorie letztlich von jener traditionellen unterscheidet, die seit dem Discours de la methode des Descartes das wissenschaftliche Bewußtsein bestimmt hat: die Abschaffbarkeit der gesellschaftlichen „Naturgesetze". Da die Menschen bis heute, wie Engels schreibt, zwar „ihre Geschichte selbst (machen), aber ... nicht mit Gesamtwillen nach einem Gesamtplan"68, unterliegen sie dem blinden Zwang ökonomischer Mechanismen. Der Marxsche Materialismus ist jedoch eine Theorie auf Widerruf, kein „weltanschauliches" Bekenntnis, sondern die Diagnose eines falschen, aufzuhebenden Zustande. Wenn es ein Spezifikum der 66
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MAX HORKHEIMER, Geschichte und Psychologie, in: Zeitschrift für So^iaiforschung, Jahrgang I, 1. c., S. 133. FRIEDRICH ENGELS, Vorwort von 1885 zu: KARL MARX, Das Elend der Philosophie, Berlin 1971, S. 14. Engels an H. Starkenburg, Brief vom 25. 1. 1894, in: MARX/ENGELS, Ausgewählte Briefe, 1. c., S. 560.
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Alfred Schmidt
Horkheimerschen Marx-Exegese gibt, dann ist es der schwere, hierauf liegende Akzent. In der Determination von Bewußtsein durch gesellschaftliches Sein spiegelt sich die Unbeherrschtheit des Wertgesetzes, das die Menschen zu seinen Agenten degradiert. Künftig dagegen — das pointiert die Kritische Theorie — soll, wie dies schon in Kants Hoffnung durchklingt, daß dereinst vernünftige Weltbürger nach einem verabredeten Plan handeln, Bewußtsein über Sein gebieten. In diesem Sinn hebt der historische Materialismus sich auf. Unaufhebbar ist er insofern, als selbstverständlich auch die sozialistische Gesellschaft einer materiellen, das Bewußtsein tragenden Basis bedarf. Steht diese jedoch, was Marx fordert, „als Produkt frei vergesellschafteter Menschen unter deren bewußter planmäßiger Kontrolle", herrschen „durchsichtig vernünftige Beziehungen" der Individuen „zueinander und zur Natur"69, so bestimmt Vernunft sich selbst.
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KARL MARX, Das Kapital, Band I, Berlin 1955, S. 85.
THOMAS MCCARTHY (Northwestern)
Philosophie und Wissenssoziologie. Zur Aktualität der Kritischen Theorie Von 1930 bis 1933 hat Karl Mannheim an der Frankfurter Universität, in nächster Nähe des Instituts für Sozialforschung, Soziologie gelehrt. Umso mehr waren freilich die Mitglieder dieses Instituts bemüht, ihre Distanz zu Mannheims Wissenssoziologie klar zu machen. Seit Horkheimers und Marcuses Rezensionen von 1929 und 1930 haben sie den „neuen Ideologiebegriff' mehrfach der Kritik unterzogen.1 Und dies aus gutem Grund: schließlich teilte die Kritische Theorie mit Mannheims Wissenssoziologie die Annahmen einer inneren Beziehung zwischen Kultur und Gesellschaft, der Geschichtlichkeit von Lebens- und Denkformen, der sozialen Bedingtheit der Erkenntnis. Als Marxisten wollten sie jedoch an der klaren Unterscheidung zwischen wahrem und falschem Bewußtsein festhalten und vermeiden, aus der Desublimierung des Geistes relativistische Schlußfolgerungen zu ziehen. Obgleich die von der traditionellen Philosophie betonte Unterscheidung zwischen Idealem und Realem nicht mehr aufrechterhalten werden konnte, war es, wie sie meinten, unnötig, in Relativismus auszuweichen; es war aber auch nicht möglich, wie Mannheim hoffte, diesen durch eine flexible Synthese gesellschaftlich bedingter Perspektiven zu überwinden. Nötig war ein Begriff von „Wahrheit", mit dem man zwar die traditionelle Position eines göttlichen Blickpunktes (intellectus originarius) aufgab, aber die traditionelle Differenz zwischen Gültigem und Ungültigem, obgleich in bescheidenerer und subtilerer Form, beibehielt. In 1
Siehe unter anderen H. MARCUSE, „Zur Wahrheitsproblematik der soziologischen Methode", Die Gesellschaft 6 (1929); M. HORKHEIMER, „Ein neuer Ideologiebegriff?", Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung 15 (1930), wieder abgedruckt in: V. MEJA, N. STEHR, (Hrsg.), Der Streit um die Wissenssoziologie, 2 Bde. (Frankfurt, 1982), Bd. II, S. 474-496; K. WITTFOGEL, „Wissen und Gesellschaft", Unter dem Banner des Marxismus 5 (1931); TH. ADORNO, „Über Mannheims Wissenssoziologie", Aufklärung 2 (1953), geschrieben 1937; M. HORKHEIMER, „Ideologie und Handeln", in: K. SPECHT, (Hrsg.), Soziologische Forschung in unserer Zeit. Leopold von Wiese %um 75. Geburtstag (Köln u. Opladen, 1951); „Ideologie", in: Frankfurter Beiträge %ur Soziologie, Bd. IV, Soziologische Exkurse (1956).
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diesem Vortrag möchte ich zeigen, daß die Antwort der Kritischen Theorie auf die Herausforderung durch die Wissenssoziologie auch heute noch relevant ist. Ich beziehe mich vor allem auf Horkheimers Essays in den frühen dreißiger Jahren.2 Ich verfolge keine exegetischen Zwecke. Ich möchte dartun, daß eine bestimmte Version der damals von Horkheimer entwickelten Position im gegenwärtigen Kontext der Debatten über Rationalität und Relativismus sehr wohl verteidigt werden könnte.3 Zu diesem Zwecke werde ich nicht nur beim Aufarbeiten jener Position selektiv verfahren; ich werde sie auch nur im Hinblick auf heutige Diskussionen entfalten. Kurz, ich habe ein systematisches Ziel im Auge: Ich möchte zeigen, daß eine rekonstruierte Version der Horkheimerschen Auffassung nicht nur Licht wirft auf aktuelle Debatten, sondern auch diejenige ist, die in diesen Diskussionen die größte Plausibilität beanspruchen darf. Die neuere angelsächsische Philosophie hat von relativistischer Seite äußere Anstöße nicht nur von der Kulturanthropologie und der Geistesgeschichte empfangen, sondern auch von der Wissenssoziologie. Auch interne Entwicklungen haben in diese Richtung geführt: unter anderen der wachsende Einfluß des späten Wittgenstein, die anhaltende Rezeption Heideggers, die neuere, sehr rapide Aufnahme von Ideen des Poststrukturalismus, die Ausbreitung der postempiristischen Wissenschaftstheorie. Das alles hat dazu beigetragen, subjektzentrierte Ansätze des Philosophierens um ihre Glaubwürdigkeit zu bringen — ganz ähnlich wie das früher durch die Ansätze von Hegel und Marx, Darwin und Freud, durch Historismus und Pragmatismus geschehen ist. Und heute, „im Zwielicht der Subjektivität", gibt es wiederum zahlreiche Todeserklärungen für die Philosophie — das „Ende" bezieht sich manchmal nur auf die Philosophie mit großem „P", d. h. auf die Suche nach Letztbegründungen, Ursprüngen, auf den Begriff der Totalität, und manchmal auf Philosophie in jeder, noch so geläuterten Form.4 Horkheimer und dessen Kollegen forderten in der ersten Runde der Desublimierung des Geistes nicht das Ende, sondern die Aufhebung der Philosophie: Während man die Suche nach Unbedingtheiten tatsächlich aufgeben mußte, war es doch nötig, emphatische Begriffe der Vernunft, der Wahrheit, der Freiheit und Gerechtigkeit beizubehalten. Sie sollten nur 2
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Insbesondere „Ein neuer Ideologiebegriff?", a. a. O., und „Zum Problem der Wahrheit" (1935), wieder abgedruckt in: M. HORKHEIMER, Kritische Theorie, 2 Bde. (Frankfurt, 1968), Bd. I, S. 228-276. Vgl. die Sammelbände herausgegeben von B. WILSON, Rationality (Oxford, 1970); R.FINNEGAN u. R. HORTON, Modes of Thought (London, 1973); M. HOLLIS u. ST. LUKES, Rationality and Relativism (Cambridge, Mass., 1982). Vgl. R. RORTY, Philosophy and the Mirror of Nature (Princeton, 1979) und Consequences of Pragmatism (Minneapolis, 1982).
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in einer deontologisierten und detranszendentalisierten Form rekonstruiert werden, und dazu war die Kooperation zwischen bisher getrennten Forschungsrichtungen erforderlich. Deshalb begriff man die Kritische Theorie als eine „fortwährende dialektische Durchdringung" von Philosophie und Empirie, als eine „philosophisch orientierte Sozialforschung", in der philosophische Fragestellungen die empirischen Untersuchungen inspirieren, und deren Ergebnisse wiederum jene affizieren und ändern sollten.5 Dieser Ansatz mußte etabliert werden im Fahrwasser eines vom Historismus geförderten Geschichtsrelativismus und angesichts eines von der Wissenssoziologie vertretenen soziologistischen Relationismus. Die Bedingungen, unter denen dieses Programm heute erneuert werden müßte, sind nicht so verschieden von der damaligen Konstellation. Barry Barnes und David Bloor haben jüngst ein „starkes Programm" der Wissenssoziologie verkündet. „Wissen" bezieht sich hier auf „jedes kollektiv akzeptierte Wissenssystem", nicht auf das „gerechtfertigte oder gültige Wissen" der Philosophen.6 Während sie Fragen zum epistemologischen Status der Untersuchungsgegenstände ausklammern, sollen alle analysierten Auffassungen auf gleiche Ebene gestellt werden, was die Ursachen für ihre Glaubwürdigkeit anbetrifft.7 Diesem Ansatz zufolge „erfordern alle Wissenssysteme ausnahmslos eine empirische Untersuchung, und sie müssen mithilfe der spezifischen, lokalen Ursachen für ihre Glaubwürdigkeit erklärt werden ohne Ansehung des Status dieses Wissens, wie er vom Soziologen nach eigenen Maßstäben beurteilt würde".8 Wir sollen eben „die kontingenten Determinanten des Wissens unabhängig davon untersuchen, ob die Auffassungen wahr oder die Schlüsse richtig sind".9 Für diese Abstinenz gibt es einen tieferen philosophischen Grund: „Der Relativist steht natürlich, wie jeder andere auch, unter dem Zwang, zwischen verschiedenen Auffassungen zu wählen, einige zu akzeptieren, andere zu verwerfen. Er hat Präferenzen, und diese stimmen normalerweise mit denen anderer, die seine Kultur teilen, überein. Die Worte ,wahr' und ,falsch' versehen ihn mit dem Lexikon, in dem er solche Bewertungen vornehmen kann; Worte wie national* und ,irrational' dienen ähnlichen Zwecken ... Der wesentliche Punkt ist nun die Bereitschaft des Relativi5
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M. HORKHEIMER, „Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung", Frankfurter Universitätsreden, Heft XXXVII (1931); wieder abgedruckt in: DERS., So^ialphilosophische Studien (Frankfurt, 1972), S. 33—46, hier S. 40, S. 45. B. BARNES, D. BLOOR, „Relativism, Rationalism and the Sociology of Knowledge", in: HOLLIS u. LUKES, (Hrsg.), Rationality and Relativism, a. a. O., S. 21 —47, hier S. 22. Ibid., S. 23. Ibid. Ibid.
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sten, hinzunehmen, daß auch seine eigenen Präferenzen nicht in unbedingter oder kontext-unabhängiger Weise gerechtfertigt werden können. Er erkennt in letzter Instanz an, daß die eigenen Rechtfertigungen mit irgendeinem Prinzip oder irgendeiner Tatsachenbehauptung enden, die nur lokale Glaubwürdigkeit beanspruchen können ... Denn der Relativist glaubt nicht, daß sich einige Wissensstandards durch ihre Rationalität von anderen, bloß lokal geltenden Standards unterscheiden lassen. Weil er überzeugt ist, daß es keine kontext-unabhängigen, transkulturell gültigen Rationalitätsstandards gibt, konstituieren für ihn rational motivierte und irrationale Auffassungen keine unterscheidbaren und qualitativ verschiedenen Klassen von Gegenständen. Sie zerfallen nicht in zwei natürliche Klassen von Gegenständen, die den menschlichen Geist auf verschiedene Weise affizieren oder die in verschiedenen Beziehungen zur Realität stehen oder hinsichtlich ihrer Glaubwürdigkeit von verschiedenen sozialen Mustern abhängen. Daraus schließt der Relativist, daß sie in derselben Weise erklärt werden müssen."10 Dieser Ansatz unterläuft die rationalistische Unterscheidung zwischen Gültigkeit und sozialer Geltung (= Glaubwürdigkeit oder faktischer Akzeptanz), wobei die soziale Geltung durch kontingente Determinanten erklärt, die Gültigkeit einer Auffassung aber nur durch Hinweis auf gute Gründe gerechtfertigt werden kann. Barnes und Bloor zufolge gibt es nichts, was so kontingent und gesellschaftlich variabel wäre wie das, was jeweils als guter Grund — und für was er als guter Grund — zählt. Etwas zählt als Evidenz für etwas anderes nur in einem bestimmten Kontext, und deshalb ist diese Relation selbst nur „eine Zielscheibe für soziologische Untersuchungen und Erklärungen."11 Hier kommt die Symbiose zwischen soziologischem Forschungsprogramm und philosophischem Standpunkt zum Vorschein. Diese ist auch typisch für die philosophische Verteidigung des Relativismus, obwohl sie selten so klar hervortritt: Philosophen unterstellen, daß uns die Historiker, Soziologen und Anthropologen schon mit den Beschreibungen diverser Wissenssysteme, die ja den Hintergrund des philosophischen Arguments bilden, versorgen. Freilich müßte jeder Zweifel in einen dieser beiden Partner unser Vertrauen in den jeweils anderen berühren. Wenn der philosophische Relativismus, wie er von Barnes und Bloor verteidigt wird, unhaltbar wäre, würden wir der Unterscheidung zwischen Gültigkeit und sozialer Geltung wohl auch in der Wissenssoziologie Spielraum lassen; wenn es sich umgekehrt herausstellen sollte, daß bewertungsneutrale, rein deskriptive Darstellungen von Wissenssystemen nicht möglich wären, würden wir wohl auch einige der
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Ibid., S. 27 f. Ibid., S. 29.
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üblichen Argumente für den philosophischen Relativismus in Zweifel ziehen. Im folgenden will ich nun zeigen, daß letzteres der Fall ist. Dabei wähle ich den folgenden Weg: Ich werde unter diesem Gesichtspunkt aus Horkheimers frühen Essays ein Argument herauspräparieren, um dieses dann, Schritt für Schritt, in Begriffen der gegenwärtigen Auseinandersetzung zu rekonstruieren. 1. In seiner Rezension von Mannheims „Ideologie und Utopie" aus dem Jahre 1930 vertritt Horkheimer die These, daß der historisch bedingte Charakter des Wissens nicht per se mit dessen Wahrheit unvereinbar ist. Das erscheint nur so vor dem Hintergrund der traditionellen ontologischen und theologischen Begriffe einer ewigen, unveränderlichen Wahrheit.12 Es bedarf aber keiner absoluten Garantie, um sinnvoll zwischen Wahrheit und Irrtum unterscheiden zu können. Wir brauchen einen Wahrheitsbegriff, der mit unserer Endlichkeit und Geschichtlichkeit, mit der Abhängigkeit unserer Gedanken von gesellschaftlich veränderlichen Bedingungen verträglich ist. Dann wären Fehlschläge beim Versuch, die Wahrheit nach absoluten, unbedingten Standards zu messen, nicht relevant. Von solchen Fehlschlägen auf den kognitiven Relativismus als einzige Alternative zu schließen, wäre nur eine Variante des alten Fehlschlusses: „Gott ist tot, alles ist erlaubt." In Horkheimers Worten: „... es ist ebenso gewiß, daß alle unsere Gedanken, die wahren und die falschen, von Bedingungen abhängen, die sich ändern können, wie, daß die Vorstellung einer ewigen, d. h. das Leben aller erkennenden Subjekte überdauernden Wahrheit unvollziehbar ist. Dadurch wird in keiner Weise die Gültigkeit der Wissenschaft berührt ... Wem es in der Wissenschaft auf die Richtigkeit seiner Urteile über innerweltliche Gegenstände ankommt ..., der hat von einer grundsätzlichen Entscheidung über das Problem der absoluten Wahrheit nichts zu hoffen und nichts zu befürchten ... Daß aber die Tatsache der ,Seinsgebundenheit' Einfluß auf den Wahrheitsgehalt eines Urteils haben soll, ist gar nicht zu verstehen — warum sollte die Einsicht nicht gerade so gut seinsgebunden sein wie der Irrtum?"13 Betrachten wir zum Beispiel den Umstand, daß der historisch bedingte Charakter des Wissens, als eine allgemeine Tatsache, das Denken in den Naturwissenschaften gleichermaßen betrifft. Und doch ist schwer zu leugnen, daß in diesem Bereich eine gewisse Unterscheidung zwischen wahren und falschen Aussagen getroffen werden kann — daß naturwissenschaftliches Denken eine gewisse Objektivität und Allgemeinheit erreicht. Das scheint fraglos festzustehen; es fragt sich nur: welche Art von Objektivität, Allgemeinheit und Wahrheit? 12
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„Ein neuer Ideologiebegriff?", in: MEJA u. STEHR, (Hrsg.), Der Streit um die Wissensso^iologie, a. a. O., S. 485. Ibid., S. 485 f.
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Kurzum, es gibt keine direkte Verbindung zwischen Endlichkeit und Geschichtlichkeit einerseits, Relativismus andererseits — obgleich es eine indirekte, vermittelte Beziehung sehr wohl geben mag. Zunächst einmal geht es darum, den Begriff der Wahrheit zu deontologisieren und zu detranszendentalisieren. 2. In seinem Essay „Zum Problem der Wahrheit" von 1935 versucht Horkheimer genau das. Er argumentiert gegen die Gleichsetzung von Fallibilität und Relativität. Zugegeben, daß eine endgültige und zwingende Theorie über die Wirklichkeit unerreichbar ist, bedeutet nicht die Preisgabe der Unterscheidung zwischen „wahr" und „falsch". Wir treffen diese Unterscheidung im Verhältnis zu „den verfügbaren Erkenntnismitteln".14 Der Anspruch, daß eine Auffassung wahr ist, hält in der Gegenwart der Überprüfung anhand von Erfahrung und Praxis stand. Wir wissen, daß wir fehlbar sind, daß das, was dem Test heute standhält, im nächsten Jahrhundert widerlegt werden kann; das hindert uns aber nicht daran, befreit uns nicht einmal davon, hier und jet%t Wahrheitsansprüche zu erheben und zu verteidigen. A behauptet: S ist p. B bestreitet diesen Anspruch. Beide rekurrieren dann, um den Streit beizulegen, auf „Erfahrung und Praxis", auf „die verfügbaren Erkenntnismittel". Dabei mag sich herausstellen, daß es sich tatsächlich so verhält: S ist p. A hatte also recht. Aber B weist dann daraufhin, daß es überhaupt keine absoluten Wahrheitsgarantien gibt. Erfahrungen und Praktiken sind geschichtlich variabel. Wenn uns die Geschichte irgendetwas lehrt, dann dies, daß die im nächsten Jahrhundert verfügbaren Erkenntnismittel andere sein werden als die uns heute zur Verfügung stehenden. Deshalb, so schließt B, solle A seinen Wahrheitsanspruch gefälligst zurückziehen. Ich denke, es ist klar, daß dies ein „non sequitur" ist. As Wahrheitsanspruch (für eine bestimmte Aussage) steht, solange er nicht (als dieser bestimmte Anspruch) widerlegt ist. Wenn Bs Argument ziehen würde, würde daraus ja folgen, daß wir alle Wahrheitsansprüche zurückziehen müßten — das wäre das Ende des Funktionierens jeder Sprache, soweit wir diese kennen oder uns Sprachen überhaupt vorstellen können. Am Ende könnte B darauf beharren, daß wir wenigstens jede Behauptung mit dem Zusatz versehen: „Soweit wir wissen". Aber dann würde der Zusatz keine Funktion erfüllen; unsere Praxis der Unterscheidung zwischen „wahr" und „falsch" würde davon nicht berührt. Unbeschadet des Zusatzes würde das, was vorher akzeptabel war, nachher akzeptabel bleiben. Die abstrakte Anerkennung des Umstandes, daß alle unsere Auffassungen fallibel sind, macht keine rational motivierte Auffassung irgend weniger
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„Zum Problem der Wahrheit", a.a.O., S. 246.
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rational. So Horkheimer: „... die spätere Korrektur bedeutet nicht, daß ein früher Wahres früher unwahr gewesen sei."15 3. Allein, haben wir damit nicht einen anderen Gültigkeitsbegriff adoptiert — Gültigkeit relativ zu einer bestimmten Gruppe an einem bestimmten Ort und zur gegebenen Zeit? Und ist das nicht der Standpunkt der Relativisten? Horkheimer meint nein. Nicht Relativismus ist es, was diese Lage erfordert, sondern die „Unabgeschlossenheit" der „materialistischen Dialektik". Um diese These zu klären, können wir uns kurz anschauen, wie Hilary Putnam Wahrheit in Begriffen einer rational motivierten Akzeptabilität behandelt: „Es ist eine Sache, zu bezweifeln, daß es sinnvoll ist zu fragen, ob unsere Begriffe zu etwas passen, was von allem Begrifflichen unberührt ist — aber dafür zu halten, daß deshalb jedes Begriffssystem so gut ist wie irgendein anderes, ist etwas ganz anderes ... Die Vorstellung zu verwerfen, daß es eine kohärente externe Perspektive gibt, also eine Theorie, die unabhängig von allen möglichen Beobachtern einfach an sich wahr ist, heißt nicht, Wahrheit mit rationaler Akzeptabilität gleichzusetzen. Wahrheit kann nicht einfach rationale Akzeptabilität sein, schon aus einem wesentlichen Grunde nicht: Wahrheit wird einer Aussage als Eigenschaft zugeschrieben, die diese nicht verlieren kann, während eine Rechtfertigung verloren gehen kann ... Wahrheit ist eine Idealisierung von rationaler Akzeptabilität. Wir sprechen so, als gäbe es epistemisch ideale Bedingungen, und wir nennen eine Aussage wahr, wenn sie unter solchen Bedingungen gerechtfertigt sein würde."16 Wenn wir das auf Horkheimers Argument anwenden wollten, müßten wir seine These ändern: „Die spätere Korrektur bedeutet nicht, daß ein früher Wahres früher unwahr gewesen ist" müßte dann heißen: „Die spätere Korrektur bedeutet nicht, daß eine früher gerechtfertigte Auffassung früher ungerechtfertigt gewesen ist" oder anders: „Die spätere Korrektur bedeutet nicht, daß ein einstmals rational akzeptabler Wahrheitsanspruch damals rational unakzeptabel gewesen ist." Das heißt, daß die Auffassung, deren Unwahrheit wir jetzt kennen, unter den früheren Umständen gerechtfertigt oder rational akzeptabel war — aber eben nicht unter den idealen Umständen. Jetzt müssen wir aber den Ausdruck „ideal" näher bestimmen. Kann das irgendetwas anderes bedeuten als „von unserem Standpunkt aus" oder „gemäß unseren Standards und Kriterien"? Wenn wir wie Horkheimer die Hegeische Vorstellung, daß „wir" jemals die Position absoluten Wissens einnehmen können, aufgeben, dann kann unsere Feststellung, daß 15 16
Ibid., S. 247. H. PUTNAM, Reason, Truth and History (Cambridge, 1981), S. 54 f. Vgl. auch DEWEYS Begriff der Wahrheit als „warrented assertability" und HABERMAS' Diskurstheorie der Wahrheit.
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„ihre" Auffassung zwar unter jenen Umständen, aber eben nicht idealiter akzeptabel waren, tatsächlich nur bedeuten, daß das, was „für sie" akzeptabel war, „für uns" nicht akzeptabel ist. Wie Barnes und Bloor dieses Argument formulieren, ist die Unterscheidung zwischen Gültigkeit und sozialer Geltung oder Glaubwürdigkeit nicht absolut, sondern eine lokale Unterscheidung in dem Sinne, daß sie relativ ist zu den akzeptierten Methoden und Grundannahmen der jeweils eigenen Gruppe des bewertenden Soziologen. Etwas anderes zu prätendieren hieße ja, zu unterstellen, daß Gültigkeit und Glaubwürdigkeit im eigenen Fall ausnahmsweise identisch seien.17 So scheinen wir im Kreis gegangen und genau zu dem Punkt zurückgekehrt zu sein, an dem wir dem Relativismus zuerst begegnet sind. Horkheimer vermeidet diesen Zirkel, indem er behauptet, daß die für uns/für sie Beziehung eine dialektische ist: „Die unabgeschlossene Dialektik verliert jedoch darum (daß sie aufhört, ein geschlossenes System zu sein — Th. McC.) nicht den Stempel der Wahrheit. In der Tat bildet das Aufdecken von Bedingtheiten und Einseitigkeiten im fremden und eigenen Denken ein wichtiges Moment des intellektuellen Prozesses. Mit Recht haben Hegel ebenso wie seine materialistischen Nachfolger stets betont, daß dieser kritische und relativierende Zug notwendig zur Erkenntnis gehört. Aber die Gewißheit und Bestätigung der eigenen Überzeugung bedarf nicht der Vorstellung, daß hier nunmehr Begriff und Gegenstand eins geworden seien und das Denken ausruhen könne ... Der abstrakte Vorbehalt, daß sich am eigenen Erkenntnisstand einmal berechtigte Kritik bestätigen wird, daß er der Korrektur ausgesetzt ist, drückt sich bei den Materialisten nicht in der Liberalität gegen widersprechende Meinungen oder gar in skeptischer Unentschiedenheit, sondern in der Wachsamkeit gegen eigene Fehler und in der Beweglichkeit des Denkens aus. Sie verfahren nicht weniger ,objektivistisch' als die reine Logik, wenn sie lehrt, daß die relativistische ,Rede von einer subjektiven Wahrheit, die für den Einen diese, für den Anderen die entgegengesetzte sei, eben als widersinnige gelten müsse' (Husserl, Logische Untersuchungen, ßd. l, S. 115)."18 Die Anrufung von „Dialektik" meint hier zunächst, daß die Beziehung des Soziologen zu dem Wissenssystem, das er untersucht, keineswegs die Beziehung eines neutralen Beobachters zu einer Welt ist, die er von einem archimedischen Punkt außerhalb ihrer beschreibt; ebensowenig ist es eine Beziehung der einfühlenden Identifikation mit einem Subjekt, dessen Welt getreulich nacherlebt werden könnte. Jene Beziehung ähnelt mehr einer dialogischen Beziehung zwischen Subjekten, zwischen „uns" und „ihnen", die nicht nur für verschiedene Standpunkte Raum läßt, sondern auch für deren argumentative Beurteilung. Für sie ist „p" 17 18
„Rationality, Relativism and the Sociology of Knowledge", a.a.O., S. 30. „Zum Problem der Wahrheit", a.a.O., S. 246.
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rational akzeptabel: Die Aussage ist im Lichte „ihrer" Rationalitätsstandards und Wahrheitskriterien durch Erfahrung und Praxis autorisiert. Für uns ist sie nicht rational akzeptabel: „Wir" entdecken „Bedingtheiten und Einseitigkeiten" in ihren Praktiken und Standards. Wir versuchen, ihre Auffassungen unter unseren präsumptiv angemesseneren Gesichtspunkten zu kritisieren und zu relativieren. Das ist aber kein Akt der Beschreibung, sondern ein Stück kritischen Dialogs. Wir können ebenso im Irrtum sein wie sie. Aber diese Möglichkeit schließt nicht schon den skeptischen Vorbehalt ein; sie erinnert uns nur daran, daß die materialistische Dialektik stets offen und unabgeschlossen ist, daß wir „wachsam gegen eigene Fehler" und „beweglich" in unserer Antwort auf gegensätzliche Auffassungen sein müssen. Während wir überzeugt sind, daß „p" nicht rational akzeptabel ist, bleiben wir für Entgegnungen offen, sei es von „ihrer" oder von anderer Seite. 4. Damit scheinen wir freilich die wissenssoziologische Einstellung neutraler Beschreibung und Erklärung nur gegen das hermeneutische Modell des Dialogs eingetauscht zu haben, ohne damit das Ausgangsproblem zu lösen; denn es gibt ja ebensogut hermeneutische Spielarten des Relativismus. Ihnen zufolge ist eine Interpretation notwendig situationsgebunden, das Verstehen von einem bestimmten Standpunkt aus steht auf gleichem Fuß mit dem, was verstanden werden soll. Es gibt keine privilegierte Position außerhalb der Geschichte oder über ihr, von der aus das menschliche Leben betrachtet werden könnte. Zwar ist der Soziologe nicht, wie man fälschlich annehmen mag, ein neutraler Beobachter, der erklärt und Voraussagen macht; aber ebensowenig ist er der souveräne Kritiker, der seiner eigenen kognitiven Überlegenheit sicher sein dürfte. Er ist, wie immer auch nur virtuell, ein Dialogpartner, ein Teilnehmer am Gespräch über die gemeinsamen Probleme des menschlichen Lebens. Horkheimer braucht das nicht, denke ich, platterdings zu verneinen; er müßte aber den relativistischen Schlußfolgerungen aus dieser Position widersprechen. Zuzugeben, daß unser Standpunkt historische Wurzeln hat, bedeutet nicht, ipso facto alle Geltungsansprüche preiszugeben, insbesondere den Wahrheitsanspruch für die Angelegenheit, in der wir soeben Recht und sie Unrecht haben: „Die von der idealistischen Illusion befreite Dialektik überwindet den Widerspruch von Relativismus und Dogmatismus. Indem sie den Fortgang der Kritik und Bestimmung beim eigenen Standpunkt nicht beendet wähnt und diesen somit auch nicht hypostasiert, gibt sie keineswegs die Überzeugung preis, daß ihre Erkenntnisse in dem Gesamtzusammenhang, auf den ihre Urteile und Begriffe bezogen sind, nicht bloß für einzelne Individuen und Gruppen, sondern schlechthin gelten, das heißt, daß die entgegengesetzte Theorie falsch ist."19 19
Ibid., S. 247 f.
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Beispielsweise „in dem Gesamtzusammenhang" der Debatte über die Verdienste wissenschaftlicher im Vergleich zu vorwissenschaftlichen Naturerklärungen würden technische Fortschritte, die mit ersteren verbunden wären, als ein Argument zu ihren Gunsten zählen. In den Worten von Charles Taylor: „Es ist nicht bloßer Zufall, daß es unter uns keine Renaissance-Magier mehr gibt. Es gibt eine innere Verbindung zwischen dem Weltverständnis und der Fähigkeit, technisch über sie zu verfügen, die zurecht jedermanns Aufmerksamkeit auf sich zieht".20 Als Körperwesen, die in die Welt eingreifen, haben wir ein Weltverständnis, das „nicht von der Fähigkeit getrennt werden kann, uns in der Welt zu bewegen und mit den Dingen in ihr umzugehen", das heißt nicht getrennt werden kann vom Handlungswissen. Technische Fortschritte, als „weiterreichende Handlungsanweisungen", können gar nicht anders, als ein Argument darzustellen im Streit zwischen wissenschaftlichen und vorwissenschaftlichen Theorien, denn „sie wecken Aufmerksamkeit und fordern Erklärung" nicht nur von unserem Standpunkt, sondern auch von ihrem,21 das heißt vom Standpunkt jeder Gruppe, die die materiellen Bedingungen ihrer Existenz im aktiven Austausch mit der äußeren Natur reproduzieren muß — also jeder menschlichen Gruppe.22 So könnten wir in unserem, den Zeitenabstand überbrückenden Dialog die Position einnehmen, daß es, in Horkheimers Worten, einen „Fortgang der Kritik und Bestimmung" hinsichtlich unseres Naturverständnisses gegeben hat — wir haben gelernt, wie wir uns in der Welt bewegen und mit den Dingen in ihr umgehen sollen, so daß in diesem Bereich „unsere Erkenntnisse nicht bloß für einzelne Gruppen, sondern schlechthin gelten". Während also, kurzum, die materialistische Dialektik die Annahme eines absoluten Standpunktes ausschließt, zwingt sie uns gleichwohl nicht, den Begriff eines Erkenntnisfortschrittes, wie er mit Hegels Dialektik verknüpft ist, ganz fallen zu lassen. Horkheimer beschreibt Hegels Dialektik folgendermaßen: „In die Erkenntnis der Bedingtheit jeder isolierten Ansicht, in der Ablehnung ihres unbeschränkten Wahrheitsanspruchs wird dieses bedingte Wissen nicht überhaupt zerstört, sondern jeweils als bedingte, einseitige, isolierte Ansicht in das System der Wahrheit aufgenommen ... Hegel hält dem Skeptizismus den Begriff der bestimmten Negation entgegen [, die] fortschreitende Erkenntnis von Einseitigkeiten, ... [die] fortschreitende Eingliederung in das vollständigere Bild des Ganzen ... Wenn das Wahre nach Hegel das Ganze ist, so ist das Ganze nicht etwas von den Teilen in 20
21 22
CHARLES TAYLOR, „Rationality", in: HOLLIS u. LUKES, (Hrsg.), Rationality and Relativism, a.a.O., S. 87-105, hier S. 101. Ibid., S. 101 ff. Vgl. HABERMAS' Darstellung des quasitranszendentalen technischen Erkenntnisinteresses, in: Erkenntnis und Interesse (Frankfurt, 1968).
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ihrer bestimmten Struktur Verschiedenes, sondern der gesamte Gedankengang, der alle beschränkten Vorstellungen jeweils im Bewußtsein ihrer Beschränktheit in sich schließt".23 Horkheimer selbst lehnt freilich diesen Hegeischen Begriff der Dialektik in vielen Hinsichten ab: „die Unfähigkeit des Dogmatismus, der Geschichtlichkeit des eigenen Denkens theoretisch und praktisch zu genügen"24, „die Hypostasierung seines eigenen Systems ..." als „ein letztes, schlechthin ewig gültiges Wissen",25 die „Ansicht des umfassenden Denkens, daß jedem Standpunkt sein partielles Recht und seine letzte Beschränktheit zuzumessen sei".26 Horkheimer kritisiert insbesondere den Idealismus dieser Auffassung: „Indem die Dialektik aus der Verbindung mit dem überspannten Begriff des isolierten, seine Bestimmung aus sich selbst setzenden, in sich vollendeten Denkens gelöst wird, verliert die von ihr bestimmte Theorie notwendig den metaphysischen Charakter der Endgültigkeit, die Weihe einer Offenbarung, und wird zu einem in das Schicksal der Menschen verflochtenen, selbst vergänglichen Element."27 Aber die materialistische Dialektik setzt in veränderter Weise das Projekt doch auch fort; sie will „die Bewegungsformen des fortschreitenden Erkenntnisprozesses" oder „das Zerbrechen und Umstrukturieren fester Systeme und Kategorien" begreifen.273 Ich bin hier nicht an den Details der Umformung der idealistischen in eine materialistische Dialektik interessiert, nur an der allgemeinen Idee, daß irgendeine Erklärung für die „Bewegungsformen des fortschreitenden Erkenntnisprozesses" eine Rolle spielen muß bei der Frage, ob „wir" oder „sie" im Recht sind.28 5. An diesem Punkt konnten die Vertreter eines starken Programms der Wissenssoziologie einwenden, daß nichts den Interpreten daran hindern könne, die Einstellung eines Gesprächs- oder Argumentationsteilnehmers einzunehmen, daß ihn aber ebensowenig dazu nötige. Sie könnten eine Arbeitsteilung vorschlagen zwischen dem Wissenssoziologen, der Wissenssysteme beschreibt und erklärt, und dem kritischen Theoretiker, der sie bewertet — also zwischen dem Soziologen, der die objektivierende Einstellung des Unbeteiligten, und dem Philosophen, der die performative Einstellung des Beteiligten einnimmt. Horkheimer und seine Kollegen haben indessen immer wieder behauptet, daß eine solche Alternative illusionär sei, daß der Soziologe unvermeidlich auch ein Teil des Gegenstandsbereichs 23
„Zum Problem der Wahrheit", a. a. O., S. 236 f. Ibid., S. 238. 25 Ibid. 26 Ibid., S. 241. 27 Ibid., S. 246. 27a lbid., S. 248. 28 Vgl. J. HABERMAS, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus (Frankfurt, 1976). 24
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sei, den er analysiert, und daß die vermeintlich neutrale Einstellung des Wissenssoziologen, der gleichsam von oben auf den Kampfplatz schaut, lediglich ein falsches Bewußtsein signalisiere. Ähnliche Argumente sind auch in der gegenwärtigen Relativismus-Debatte aufgetaucht.29 Das Argument, welches ich hier untersuchen will, ist spezifisch gegen das starke wissenssoziologische Programm gerichtet. Martin Hollis hat behauptet, daß der Soziologe bei der Erklärung der Auffassungen eines Aktors nicht umhin könne, die Gründe, die dieser für seine Auffassung geben könnte, entweder zu bestätigen oder zurückzuweisen.30 Wenn der Soziologe nämlich in der Art von Barnes und Bloor ein starkes Programm verfolgt, sucht er nach Erklärungen in Begriffen von „kontingenten Bedingungen" wie beispielsweise Sozialisationsprozessen, Vorgängen der sozialen Integration und der kulturellen Überlieferung, Herrschaftsbeziehungen, überhaupt Rollen, Institutionen, Interessen und so weiter.31 Es gibt offensichtlich sehr verschiedene Kandidaten für Ursachen des Wissens. Es scheint keine Eigenschaft zu geben, die ihnen gemeinsam ist, außer vielleicht der, daß solche Ursachen nicht zu den Gründen gehören, die die Aktoren selbst für ihre Auffassungen (und das Haben dieser Auffassungen) ins Feld führen würden. Ich möchte der umstrittenen Unterscheidung zwischen Gründen und Ursachen kein besonderes Gewicht beimessen. Es geht hier einfach um konkurrierende Erklärungen dafür, wie ein Aktor dazu kommt, bestimmte Auffassungen zu haben. Der Aktor wird gewöhnlich für das, was er glaubt, Gründe nennen; der Wissenssoziologe wird zufällige Umstände als Ursachen nennen, die wiederum dem Handelnden selbst nur dunkel oder überhaupt nicht bewußt sind. Welche Version soll man vorziehen? Sind vielleicht beide gleichermaßen legitim? Eignen sie sich für verschiedene Zwecke? Die eine nämlich für die Erklärung der Glaubwürdigkeit, die andere für die Erklärung der Gültigkeit einer Auffassung? Hollis hält dafür, daß sich die beiden Erklärungsstrategien zueinander asymmetrisch verhalten. Wenn man zu verstehen versucht, was ein Aktor glaubt und warum er es glaubt, „brauchen wahre und rationale Auffassungen eine andere Sorte von Erklärungen als falsche und irrationale Auffassungen."32 Wenn jemand aus guten Gründen eine 29
30
31 32
Siehe J. HABERMAS, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde. (Frankfurt, 1981), Bd. I, S. 152ff.; meine Kritik, „Reflections on Rationalization in the Theory of Communicative Action", Praxis International, Vol. 4 (1984), S. 182ff.; und seine Replik, „Questions and Counterquestions", Praxis International, Vol. 4 (1984), S. 229ff. M. HOLLIS, „The Social Destruction of Reality", in: HOLLIS u. LUKES, (Hrsg.), a. a. O., S. 67-86. Vgl. BARNES u. BLOOR, a. a. O., S. 23. HOLLIS, a. a. O., S. 75.
Philosophie und Wissenssoziologie
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Auffassung vertritt, dann sind eben diese Gründe eine ausreichende Erklärung. Mit anderen Worten, die Erklärung des Aktors selbst genügt, wenn seine Auffassungen rational motiviert sind. Soweit das nicht der Fall ist, müssen wir uns auf soziale Ursachen beziehen, um die Defekte zu erklären. Ich will nun nicht die Asymmetrie genau in der von Hollis angegebenen Weise verteidigen; Hollis stützt sich nämlich auf einen Begriff von Rationalität „an sich", der mit dem Ausgangspunkt unserer Diskussion unvereinbar ist.33 Man kann aber eine dialektische Version davon entwickeln, welche auf den früheren Stufen unseres Argumentes aufbaut. Wenn „wir" versuchen, „ihre" Auffassungen zu identifizieren und zu erklären, dann dienen uns, jedenfalls im Anfang, die eigenen Standards der Verständlichkeit, die eigenen Gründe, Argumentationsregeln und Wahrheitskriterien als objektive Maßstäbe für das, was verständlich, rational, zwingend und wahr ist — im Gegensatz zu dem, was für die beobachteten Individuen oder Gruppen als verständlich, rational, zwingend und wahr gilt. Auffassungen der ersteren Art sind solche, die wir in vergleichbaren Situationen auch teilen würden, also solche, die wir durch normale Prozesse der Wahrnehmung, der Erkenntnis und des Denkens erklären können. Andererseits erklären wir das Zustandekommen von Auffassungen der letzteren Art, indem wir Abweichungen vom normalen Verlauf kognitiver Prozesse feststellen — Wahrnehmungsstörungen etwa, einen Mangel an Erfahrung oder Information, die Abhängigkeit von konventionell eingewöhnten, aber falschen Denkmustern usw. Wir akzeptieren beispielsweise eine Erklärung der „üblichen" Anpflanzungstechniken, soweit sie sich in induktiver Weise auf Alltagserfahrungen stützt: Diese Jahreszeit, diese Methode, diese Sorte von Saatgut haben sich in der Vergangenheit als erfolgreich erwiesen. Wenn dann freilich der Gartenbau mit Gesängen oder Regelungen sexueller Enthaltsamkeit oder mit anderen „unüblichen" Praktiken verknüpft wird, suchen wir nach einer anderen Art von Erklärung. Wir fragen uns, auf welche kulturellen Überlieferungen sich solche merkwürdigen Praktiken stützen, wie sie sich ganz ohne induktive Bestätigung ihrer Wirksamkeit halten konnten usw. Um das Argument schärfer zu fassen: Dafür, daß wir unsere wohlüberlegten Auffassungen, zum Beispiel die Thesen, die ich gerade vertrete, tatsächlich vertreten, geben wir Erklärungen, die sich mit der Begründung unserer Auffassungen decken. Wenn wir die Tatsache, daß wir solche Auffassungen haben, ausschließlich extern, mit dem Hinweis auf zufällige Umstände erklären würden, würden wir faktisch den Anspruch auf ihre Gültigkeit preisgeben. 33
Siehe ibid., S. 72.
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Und genau das ist der Punkt: Die Gültigkeit einer Auffassung ist mit den Gründen für oder gegen sie intern verknüpft. Da wir nicht sprechen, schreiben, denken, argumentieren oder erklären können, ohne Geltungsansprüche, zum Beispiel Wahrheitsansprüche, zu erheben, können wir nicht anders, als uns in der Dimension von Gründen zu bewegen und unsere eigenen Geltungsansprüche als rational motiviert zu unterstellen. Indem wir „ihre" Auffassungen zu verstehen suchen, kommt die Frage unvermeidlich ins Spiel, ob sie ihre Auffassungen auf Gründe stützen, die „für uns" akzeptabel sind oder nicht. Mehr noch, wenn wir „ihre" Auffassungen, die sich von „unseren" unterscheiden, erklären, anders als sie es tun, haben wir diese eo ipso kritisiert, haben wir implizit gesagt, daß wir Recht haben und sie nicht. Diese implizite Dialektik macht der kritische Theoretiker nur explizit. Seine Erklärung von Wissenssystemen beantwortet direkt die Frage ihrer Gültigkeit und führt systematische Defekte auf zugrunde liegende soziale Bedingungen zurück. 6. Diese Darstellung der Horkheimerschen Position wird denen, die mit seinen frühen Schriften vertraut sind, als etwas blaß, wenn nicht gar irreführend vorkommen. Ich habe versucht, nur den Faden des Arguments zu isolieren, der mir für die gegenwärtige Relativismus-Debatte von besonderem Interesse zu sein schien. Um von hier zu einer lebendigeren Rekonstruktion der Horkheimerschen Theorie weiterzugehen, müßte man mindestens zwei Schritte tun: i) Man müßte den engen Focus auf Fragen des Wissens und der Wahrheit erweitern und andere Geltungsdimensionen einbeziehen — Fragen der Gerechtigkeit, des Glücks und des guten Lebens. Vielleicht kann man das Konzept der „rationalen Akzeptabilität" verwenden, um auch diese Begriffe von ihren ontologischen Konnotationen zu befreien, ohne zugleich Geltungsansprüche zu relativieren. ii) Man müßte auch die vermeintlich wertfreie Generalisierung des Begriffs der Ideologie, die der Wissenssoziologe vornimmt, um die Seinsgebundenheit aller Ideen zu betonen, in bestimmter Hinsicht rückgängig machen. Die marxistische Unterscheidung zwischen „wahr" und „falsch" kann nicht durch die zwischen „endlich" beziehungsweise „geschichtlich situiert" und „unendlich" beziehungsweise „überzeitlich" ersetzt werden. Für die kritische Theorie ist die eigentlich wichtige Unterscheidung die zwischen Einseitigkeiten, die sich aus Standortgebundenheit erklären lassen, und andererseits solchen Deformationen, die sich aus rational ungerechtfertigten Verallgemeinerungen partikularer Interessen ergeben. In Horkheimers Worten: „Wo immer in der Geschichte Nationen oder Klassen ihren Bestand außer mit der blanken Waffe durch moralische, metaphysische, religiöse Ideen gesichert haben, da waren diese Vorstellungen schließlich dem Angriff der Beherrschten ausgesetzt. Der Kampf gegen die kulturellen Stützen gesellschaftlicher
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Zustände pflegt die politische Auflehnung einzuleiten und zu begleiten . . . Daher ist die Entwertung bestimmter Ideen, durch die ein verhaßter Zustand begründet, gestützt und verklärt wird, so alt wie diese Kämpfe selbst."34
34
„Ein neuer Ideologiebegriff?", a. a. O., S. 487.
SEYLA BENHABIB (Boston)
Zur Dialektik von Glück und Vernunft. Max Horkheimers frühe Moralphilosophie I. Die Philosophie der Gegenwart in den angelsächsischen Ländern steht vor einem Scheideweg. Die zeitgenössischen Kritiken der Begründungsprogramme in der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie sowie der Moralphilosophie haben zu einem neuen „Kontextualismus" geführt. Im Bereich der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie läuft diese Entwicklung vom „Kritischen Rationalismus" Karl Poppers zu den „post-empiristischen" Philosophien von Thomas Kühn und Paul Feyerabend.1 Eine ähnliche Entwicklung hat im Bereich der Moralphilosophie im Übergang von den neo-kantischen Ansätzen von John Rawls und Alan Gewirth zum NeoAristotelismus von Alasdair Maclntyre stattgefunden.2 Maclntyre erklärt, die rationalistischen Hoffnungen der Aufklärungsmoral, universalistische Handlungsmaximen zu entdecken und zu begründen, seien gescheitert. Der gemeinsame Nenner dieses neuen Kontextualismus in der theoretischen und praktischen Philosophie ist folgendermaßen zusammenzufassen: Sowohl unsere Erkenntnis als auch unsere Moral entfalten sich innerhalb bestimmter Lebensformen und Sprachspiele bzw. kulturell und historisch spezifischer Praktiken; jeder Versuch, transkontextuelle Geltungs- und Legitimationskriterien zu artikulieren, erscheint daher als fehlgeleitet. Die Tradition der kritischen Theorie von Horkheimer bis Habermas kann sich in diesen konfligierenden Ansätzen der zeitgenössischen Philosophie nicht wiedererkennen. Auf der einen Seite teilt diese Tradition, seit Hegels Kantkritik in der Phänomenologie des Geistes, die Ablehnung von erkenntnistheoretisch und moralisch „Gegebenem" und „Letztinstanzen". Eine weitere Gemeinsamkeit der kritischen Theorie und des neuen Kontextualismus ist auch die Kritik des epistemologischen Bildes des Subjekts als Geist, Bewußtsein oder passivem Beobachter von Tatsachen. Die 1
2
Siehe RICHARD BERNSTEIN, Beyond Objectivism and Relativism, Philadelphia, University of Pennsylvania Press, 1983, S. 51 f. ALASDAIR MAC!NTYRE, After Virtue: A Study in Moral Theory, Notre Dame, University of Notre Dame Press, 1981, S. 35 ff.
Max Horkheimers frühe Moralphilosophie
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kritische Theorie hat mit dem neuen Kontextualismus ferner das Prinzip gemeinsam, daß weder erkenntnistheoretische noch moralische Reflexion voraussetzungslos ist: Die Vernunft und ihre Tätigkeiten entwickeln sich innerhalb des Horizonts von kulturellen und geschichtlichen Voraussetzungen. Auf der anderen Seite aber steht die kritische Theorie in der neokantischen Tradition, insofern sie auf der Würde und Autonomie des reflexiven Subjekts besteht. Die kritische Theorie hält es für möglich, Kriterien zu formulieren, die eine Kritik gesellschaftlicher und geschichtlicher Praktiken ermöglichen können, ohne daß die Philosophie in eine neue prima philosophia münden muß. Das Programm einer kritischen Theorie der Gesellschaft ist durch die Arbeiten der Mitglieder des Instituts für Sozialforschung in den dreißiger Jahren entstanden. Der Entstehungskontext der kritischen Theorie bietet mehr als eine Ähnlichkeit zum gegenwärtigen Scheideweg der Philosophie. In den dreißiger Jahren standen Begründungsphilosophien wie die Husserlsche oder der frühe Positivismus von Carnap den lebensphilosophischen Ansätzen von Bergson, Dilthey, Simmel und Heidegger gegenüber. Man kann heute die Schriften Max Horkheimers aus dieser Periode nur mit einem gewissen ironischen „dejä vu"-Gefühl lesen. Die großen Aufsätze dieser Jahre — „Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung" (1931), „Materialismus und Metaphysik" und „Materialismus und Moral" (1933) und insbesondere „Zum Rationalismusstreit in der gegenwärtigen Philosophie" (1934) und „Zum Problem der Wahrheit" (1935)3 — enthalten erregende Ansätze zur Aufhebung des Gegensatzes zwischen „Rationalismus" oder Begründungsphilosophien auf der einen und Lebensphilosophien auf der anderen Seite. Der Kern der Horkheimerschen Kritik an beiden Positionen ist in diesem Satz enthalten: „Im Gegensatz zum Irrationalismus versucht der Materialismus die Einseitigkeit des analytischen (oder rationalistischen — S. B.) Denkens aufzuheben, ohne es zu verwerfen".4 Ich möchte heute „diese Aufhebung des Rationalismus ohne seine Verwerfung" am Beispiel von Horkheimers Kritik der Kantischen Moral3
4
„Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung" (1931), wiederabgedruckt in: MAX HORKHEIMER, So^talphilosophische Studien, Ffm, Fischer, 1972; „Materialismus und Moral"; „Materialismus und Metaphysik" (1933) wiederabgedruckt in: Zeitschrift für So^ialforschung, hrsg. von MAX HORKHEIMER, photomechanischer Nachdruck, dtv. reprint, München, 1980; hier Jhrg. 2, S. l—33; 162—197 (im folgenden wird diese Ausgabe als ZfS zitiert; die erste Zahl bezieht sich auf den Jahrgang, die zweite auf die Seite); „Zum Rationalismusstreit in der gegenwärtigen Philosophie" (1934), ZfS, 3, 1-53; „Zum Problem der Wahrheit", ZfS, 4, 321-364. M. HORKHEIMER, „Zum Rationalismusstreit in der gegenwärtigen Philosophie", ZfS, Jhrg. 3, 30.
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philosophic erläutern. Diese Kritik hat unter mehreren Gesichtspunkten an systematischem und nicht bloß zeitgeschichtlichem Interesse gewonnen. Erstens bietet sie uns einen Blick auf eine Denkstrategie, die zur Überwindung der Gegensätze in der Ethik zwischen einem rationalistischen NeoKantianismus und einem lebensphilosophischen Kontextualismus führen kann. Zweitens bildet die Einschätzung der Möglichkeiten einer kantischen Ethik einen der Hauptstreitpunkte in dem Paradigmenwechsel der kritischen Theorie von Horkheimer zu Habermas. Drittens drückt sich in Horkheimers Kantkritik auch der Kern einer marxistischen Orthodoxie aus, die ich als „Subjektphilosophie" bezeichnen und kritisieren möchte. Im folgenden werde ich Horkheimers Denkansatz und die Kritik seiner subjektphilosophischen Voraussetzungen behandeln. Der Paradigmenwechsel der kritischen Theorie bildet den Hintergrund dieser Analyse, wird hier aber nicht weiter ausgeführt. 5 II. Wie Alfred Schmidt bemerkt hat: „Von Anbeginn bewegt sich Horkheimers Denken im Medium einer doppelten Frontstellung: gegen ,sinngebende', dogmatisch verkündete Metaphysik und gegen begriffsfeindlichen Positivismus, der jeglichen über das Hier und Jetzt hinausreichenden Sinn abstrakt verneint."6 Horkheimers Kritik der frühbürgerlichen Geschichtsund Moralphilosophie ist in dieser doppelten Frontstellung zu betrachten. Um die frühbürgerliche moralische Anthropologie zu charakterisieren (die Theorien von Hobbes, Machiavelli, Mandeville), benutzt Horkheimer den Begriff „Selbsterhaltung".7 Dieser Begriff hat eine lange Geschichte im Griechischen und mittelalterlichen Denken.8 In der philosophischen Tradition und insbesondere in der Stoa heißt „Selbsterhaltung" die Erhaltung der Gattung und des Individuums durch gattungsgemäße Tätigkeiten. Nur diejenigen Tätigkeiten, die gattungsmäßig sind, tragen zur Selbsterhaltung bei. Selbsterhaltung ist für die philosophische Tradition ein ideologischer Begriff. Der Untergang des ideologischen Weltbildes in der Neuzeit und die Zerstörung der kognitiven Grundlagen einer ontologischen Ethik haben zur Folge, daß der Begriff der Selbsterhaltung seinen alten Sinn verliert und nur noch 5
6
7 8
Ich habe diesen Paradigmenwechsel an anderer Stelle ausführlich behandelt, siehe Critique, Norm and Utopia: Study of the Foundations of Critical Theory, New York, Columbia University Press, 1986. ALFRED SCHMIDT, „Einleitung: Die geistige Physiognomie Max Horkheimers", in: M. HORKHEIMER, Dämmerung (1934), Firn, Fischer, 1974, S. xxii. M. HORKHEIMER, Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie, Ffm, 1930, S. 22 ff. Siehe die Aufsätze in: HANS EBELING, Hrsg., Subjektivität und Selbsterhaltung, Ffm, Suhrkamp, 1976, und insbesondere den Beitrag von HANS BLUMENBERG, „Selbsterhaltung und Beharrung: Zur Konstitution der neuzeitlichen Rationalität", a.a.O., S. 144—207.
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diejenigen Tätigkeiten beschreibt, die den Moralphilosophen zur Erhaltung und Errichtung der bürgerlichen Gesellschaft notwendig zu sein scheinen. Der Begriff der Selbsterhaltung schrumpft auf den des „Selbst-Interesses" zusammen. Um den Vernunftbegriff der Neuzeit zu charakterisieren, verwendet Horkheimer in einer späteren Schrift den Terminus „subjektive Vernunft".9 Dieser ist der „objektiven Vernunft" der Tradition entgegenzusetzen, wonach die Werte und Normen der Lebensführung in einer umfassenden Weltanschauung verankert sind. In diesem Kontext gesehen, entsteht die Kantische Moralphilosophie durch die legitime Suche nach normativen Geltungskriterien in einer entzauberten Welt, bleibt aber in ihren tiefsten Kategorien den Forderungen der Selbsterhaltung des Individuums treu. Die Kantische Moralphilosophie erkennt die Legitimität der Selbsterhaltung dadurch an, daß sie das „eigene Wohl" als Zweck aller menschlichen Tätigkeiten ansieht.10 Dennoch ist in dieser Theorie das Vernunftgesetz dem Zweck der Selbsterhaltung entgegengesetzt. Neigung und Pflicht, die Suche nach individuellem Glück und die Vernunftmoral widersprechen sich. Horkheimer meint, daß die Kantische Moralphilosophie die tiefsten Widersprüche des bürgerlichen Idealismus ausdrückt. Ihre Antinomien entstehen dadurch, daß der idealistische Vernunftbegriff, der zur Überwindung der gegebenen gesellschaftlichen Ordnung führen soll, den sogenannten „Gegebenheiten" der menschlichen Natur verhaftet bleibt. Horkheimers Kritik des Kantischen Dualismus führt nicht zu dem Vorwurf, daß Kants Ethik formalistisch und leer sei. Horkheimer verteidigt den ethischen Formalismus gegenüber Versuchen, wie etwa von Max Scheler, eine „materielle Wertethik" zu entwickeln. In den „Bemerkungen zur philosophischen Anthropologie" von 1935 schreibt er: „Die moderne philosophische Anthropologie gehört zu den späten Versuchen, eine Norm zu finden, die dem Leben des Individuums in der Welt, so wie sie jetzt ist, Sinn verleihen soll"11. Solche Versuche können mehr oder weniger konkretistisch sein: Sie können konkrete Ideale nennen, die sinnstiftenden Wert haben sollen, oder sie können sich mit einer allgemeinen Skizzierung der Menschen, wie sie sein sollen, begnügen. Beide Vorgehensweisen aber teilen einen gemeinsamen Fehler. Zunächst zeigen sie einen gewissen Dogmatismus, der durch die Suche nach Gewißheit, nach einer Formel, motiviert ist. Die Gegenseite dieses Dogmatismus ist ein gewisser Empirismus. Da die Suche nach dem moralisch Absoluten die konkreten Bedingungen der Menschheit vernachlässigt, sieht man 9 10
11
MAX HORKHEIMER, „Zum Begriff der Vernunft", So^ialphilosophische Studien, a. a. O., S. 49. I. KANT, Kritik der praktischen Vernunft, in: Werke in 10 Bänden, hrsg. von WILHELM WEISCHEDEL, Darmstadt, 1969, S. 128. M. HORKHEIMER, „Bemerkungen zur philosophischen Anthropologie", ZfS, 4, 5.
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von dem Gegebenen ab oder rechtfertigt es. In Dämmerung beschreibt Horkheimer diese Koexistenz der metaphysischen Sehnsucht nach Sinn und irdischem Egoismus: „Dieses Haus, dessen Keller ein Schlachthof und dessen Dach eine Kathedrale ist, gewährt in der Tat aus den Fenstern der oberen Stockwerke eine schöne Aussicht auf den gestirnten Himmel"12. Die Ablehnung der sinnstiftenden Metaphysiken und Lebensphilosophien hat Horkheimer nie aufgegeben. Der Denkansatz, der sich in den Schriften der dreißiger Jahre herausgebildet hat, setzt sich auch in der viel späteren The Eclipse of Reason von 1947 fort.13 Auch hier ist die Frontstellung gegenüber dem amerikanischen Pragmatismus auf der einen Seite und einem wiederbelebten Thomismus und Neo-Aristotelismus auf der anderen Seite klar. Worin besteht dann der Kern von Horkheimers Kritik der Kantischen Moralphilosophie? III. Auf den ersten Blick bewegt sich Horkheimers Kritik in dem Aufsatz „Materialismus und Moral" (1933) im Rahmen einer materialistischen Dekonstruktion Kantischer Begriffe mittels Marxscher politischer Ökonomie. Der metaphysische Dualismus dieser Philosophie ist als der Ausdruck eines gesellschaftlichen Dualismus angedeutet. Auch in der bürgerlichen Gesellschaft teilt sich der Mensch in „Bourgeois" und „Citoyen"; ist er zugleich ein egoistisches Individuum und ein Staatsbürger in der politischen Sphäre, deren Anliegen die Errichtung des allgemeinen Wohls sein soll14. Die Stärke der Kantischen Moralphilosophie sieht Horkheimer darin, daß Kant gegen die Utilitaristen, die Eigennutz mit der moralischen Allgemeinheit gleichsetzen, zwischen diesen beiden Prinzipien stark trennt. Aber die Widersprüche zwischen Neigung und Pflicht, der Suche nach individuellem Glück und den Forderungen einer autonomen Vernunftmoral, sind nicht in der menschlichen Verfassung verwurzelt, sondern entstehen aus einer bestimmten gesellschaftlichen Lage. In der bürgerlichen Gesellschaft ist die Vermittlung zwischen individueller Tätigkeit und dem allgemeinen Wohl dem Verstand der Individuen verborgen. Der gesamtgesellschaftliche Prozeß drückt sich als ein Ökonomisches Naturgesetz aus, dem alle zu gehorchen pflegen. Die Forderungen der Allgemeinheit erscheinen wie ein Naturgesetz und bleiben den Individuen selbst undurchsichtig. Diese Analyse, die die Identifizierung der Allgemeinheit mit einem naturgesetzähnlichen Zwang in Frage stellt, trifft eine der wichtigsten Konstruk12 13
14
M. HORKHEIMER, Dämmerung, S. 288. M. HORKHEIMER, The Eclipse of Reason (1947), wiederabgedruckt von Seabury Press, New York, 1974; deutsche Ausgabe, übersetzt von ALFRED SCHMIDT, Kritik der instrumentellen Vernunft, Ffm, Fischer, 1974. M. HORKHEIMER, „Materialismus und Moral", ZfS, 2, 167.
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tionen Kantischer Moralphilosophie. Viele Kommentare haben die Schwierigkeit zu erklären versucht, daß das autonome Vernunftgesetz in Analogie zu einem Naturgesetz15 formuliert wird. In der Grundlegung der Metaphysik der Sitten heißt es: „Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte."16 Diese Formulierung wird oft so gedeutet, daß das Moralgesetz, wie ein Naturgesetz, keine Ausnahmen erlauben und immer und überall gültig sein soll. Horkheimers Analyse beleuchtet die Rigidität und Zwanghaftigkeit, die hinter dieser Formulierung steht. Ein autonom handelnder Mensch ist genau der, der nicht unter dem Zwang der Uniformität handelt, aber fähig ist, die Gegebenheiten durch die Anwendung kritischer Reflexion in Frage zu stellen. Ich möchte Horkheimers Kantkritik in zwei Richtungen erweitern: Zunächst ist Kants Begriff der moralischen Reßexivität und dann sein gesetzförmiges Bild der gesellschaftlichen Allgemeinheit in Frage zu stellen. Die Kantische Moraltheorie setzt die Fähigkeit der Individuen, aufgrund allgemeiner moralischer Prinzipien zu handeln, mit der Fähigkeit gleich, den kategorischen Imperativ zu befolgen. Das Kantische Subjekt reflektiert nicht über den Inhalt dieses moralischen Gesetzes; es wird einfach behauptet, daß das Moralgesetz das Individuum a priori verpflichtet.17 In seiner Moraltheorie fährt Kant deduktiv fort und setzt voraus, daß ich als ein rein rationales Wesen, durch meine eigenen Denkfähigkeiten, Prinzipien entwickeln kann, die ein für allemal für alle rationalen Wesen gelten sollen. Dabei betrachtet Kant die Tätigkeit der moralischen Reflexion wie die von Mathematikern, wo jeder allein arbeitend zur selben Lösung eines Problems gelangt. Kant verwechselt die Angabe einer Prozedur zur Generierung gültiger Handlungsmaximen mit dem Inhalt eines moralischen Gesetzes. Dabei macht er eine doppelte Abstraktion: Erstens abstrahiert er von den konkreten Identitäten der Individuen, die nicht bloß noumenale Wesen, sondern verkörperte Selbste sind; zweitens abstrahiert er von der konkreten Situation des moralisch Handelnden, indem er annimmt, daß die Handlungssituation ohne die Berücksichtigung der Geschichte und Identität des Handelnden beschrieben werden könne, daß alle in der gleichen Situation das Gleiche tun müßten.18 Moralische Reflexion ist aber 15
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H. J. PATON, The Categorical Imperative: A Study in Kant's Moral Philosophy, Philadelphia, University of Pennsylvania Press, 1971, S. 75 ff. I. KANT, Grundlegung der Metaphysik der Sitten, in: Werke in %ehn Bänden, a.a.O., Bd. 6, S. 51. Eine ähnliche Kritik entwickelt E. TUGENDHAT, in: „Zur Entwicklung von moralischen Begründungsstrukturen im modernen Recht", Archiv für Rechts- und So^ialphilosophie, Jhrg. 34(1980), S. Iff. Siehe auch STANLEY CAVELL, The Claims of Resons, Oxford, Oxford University Press, S. 265.
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in erster Linie auch die Fähigkeit, über gegebene Handlungsprinzipien kritisch und unter Berücksichtigung kontextueller Unterschiede nachzudenken. Kants dogmatische Verkürzung des moralischen Reflexionsbegriffs ist auf einen noch problematischeren Ansatz seiner Philosophie zurückzuführen, nämlich, wie Horkheimer mit Recht betont, auf die Identifizierung des Standpunkts der gesellschaftlichen Allgemeinheit mit Gesetzmäßigkeit. Horkheimer merkt an, daß je unverständlicher das gesellschaftliche Zusammensein der Individuen sei, desto mehr erscheine dieses Sein als Naturgesetz, das sich nicht ändern lasse. Kant identifiziert die Allgemeinheit mit dem Zwang eines Vernunftgesetzes. Dabei vernachlässigt er die Vermittlung zwischen dem Ich und dem Wir, also die Frage, wie ich als konkretes Individuum meinen Standpunkt in Einklang mit dem anderer Subjekte bringen kann. Das Kantische Ich gleicht tautologisch einem Wir. Die Herstellung gesellschaftlicher Allgemeinheit kann nur durch eine Begriffstautologie gelöst werden. Horkheimer betont, daß diese Frage von der Moral zur Politik führt, von der individuellen Pflicht zur gesellschaftlichen Gerechtigkeit.19 Genau an diesem Punkt werden die Grenzen der Horkheimerschen Kantkritik sichtbar. Aber bevor ich diese Grenzen beschreibe, möchte ich die Folgen von Horkheimers Kantlektüre für den gegenwärtigen Streit zwischen neokantischen Ethiken auf der einen Seite und ethischem Kontextualismus auf der anderen stichwortartig zusammenfassen. Erstens, und zwar wie die Kontextualisten es verlangen, erklärt Horkheimer die Bedingungen Kantischer Moralphilosophie sowohl durch gesellschaftliche und wirtschaftliche Änderungen als auch durch die kognitive Entwicklung des neuzeitlichen Rationalismus. Er nimmt nicht an, wie es in neo-kantischen Theorien so oft der Fall ist, daß sowohl das moralische Subjekt als auch das Vernunftgesetz geschichtslos seien. Zweitens unterscheidet Horkheimer sehr stark zwischen der metaphysischen Suche nach Sinn und der Frage der Geltung moralischer Normen. In einer entzauberten Welt muß die erste Strategie in Dogmatismus münden. Die Komplexität des modernen Lebens erlaubt nicht die dogmatische Ankündigung konkreter moralischer Gebote, wie manche Neo-Aristoteliker es verlangen.20 Schließlich sieht Horkheimer den wahren Kern der Kantischen Moralphilosophie darin, daß der Standpunkt der Allgemeinheit für die Feststellung gültiger Handlungsmaximen notwendig sei. Wir können moralische 19 20
M. HORKHEIMER, „Materialismus und Moral", ZfS, 2, 175 ff. Auch MAC!NTYRE kann diese Forderungen nach einer konkreten Ethik nicht erfüllen. Seine Definition des „guten Lebens" bleibt abstrakt und ist mit mehreren Arten von moralischer Lebensführung zu vereinbaren; siehe After Virtue, a.a.O., S. 169—189; 203-204.
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Autonomie als die Fähigkeit definieren, in unserem Handeln den Standpunkt der Anderen zu respektieren. Wir müssen jedoch nicht akzeptieren, daß sich die Forderung, „the point of view of the other" (Mead) einzunehmen, nur durch ein dogmatisch abgeleitetes Vernunftgesetz erfüllen läßt. Ich meine, es sind genau diese Denkansätze, die uns mindestens ahnen lassen, was die Horkheimersche Antwort auf den gegenwärtigen Scheideweg der Philosophie sein würde. Freilich bleibt Horkheimers Kantlektüre in den Rahmen einer Subjektphilosophie eingespannt, worauf ich im folgenden eingehen möchte. IV. Nachdem die Interdependenz des moralischen Standpunktes mit der gesellschaftlichen Allgemeinheit klargestellt worden ist, führt Horkheimer Annahmen ein, die aus der marxistischen Orthodoxie stammen. „Alle zielen daraufhin", schreibt er, „daß das Glück, soweit es jedem Menschen im Verhältnis zu den anderen auf Grund seines Schicksals in der Gesellschaft möglich ist, nicht durch zufällige, willkürliche, ihm selbst äußerliche Faktoren bestimmt werde, mit anderen Worten: daß die Ungleichheit in den Lebensbedingungen der Individuen wenigstens nur so groß sei, wie es bei der Aufrechterhaltung der gesamtgesellschaftlichen Versorgung mit Gütern auf der gegebenen Stufe unvermeidlich ist. Das ist der allgemeine Inhalt des Gerechtigkeitsbegriffs .. ."21 Dieser Unterschied zwischen einer quasi-gerechten Ungleichheit, die auf den „unvermeidlichen" Beschränkungen der „Aufrechterhaltung der gesamtgesellschaftlichen Versorgung mit Gütern" beruht,' und einer unnotwendigen „surplus"-Ungleichheit zeigt Horkheimer einer marxistischen Orthodoxie verhaftet. Horkheimer glaubt, es sei möglich zu bestimmen, welche Arten von gesellschaftlicher Ungleichheit durch den Entwicklungsstand der Produktivkräfte bedingt sind und welche Ungleichheiten als „willkürliche" kritisiert werden können. Dabei sind Gerechtigkeitsfragen auf technisch-administrative Entscheidungen reduziert. Horkheimer teilt die Illusionen der sozialistischen Versuche dieses Jahrhunderts und nimmt an, daß es ein soziales Wissen gibt, das den Experten erlaubt, funktionale Notwendigkeiten der Wirtschaft und der Entwicklung „wertneutral" zu bestimmen. Dabei möchte ich weder die Möglichkeit einer Sozialpolitik noch die Relevanz technisch-administrativer Informationen in der Gerechtigkeitsdebatte verleugnen. Ich möchte nur auf den reduktionistischen und letztlich autoritären Ansatz aufmerksam machen, wonach sich Gerechtigkeitsfragen nach der Vergesellschaftung der Produktivkräfte in technische Fragen umwandeln. Selbst wenn wir annehmen, daß Ressourcenknappheit kein Problem mehr darstellt, betrifft distributive Gerechtigkeit u. a. die Verteilung von Rechten auf den Zugang, die Aneignung und Verwendung 21
HORKHEIMER, „Materialismus und Moral", ZfS, 2, 187-188.
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von bestimmten „primären Gütern"22 einer Gesellschaft. Sowohl die Definition dieser „primären Güter", wie z. B. Geld, Ausbildung, Lebenssicherung, Sicherheit, Zugang zu den politischen und öffentlichen Kommunikationsmitteln, als auch die Interpretation dessen, was verschiedene kollektive Gruppen als ihr Recht ansehen, hängen von folgendem ab: Gesellschaftliche Gruppen formulieren ihre Rechte im Lichte ihrer Interessenund Bedürfnisinterpretationen sowie im Licht ihres Verlangens nach einer bestimmten gesellschaftlichen Zukunft. Sowohl diese Bedürfnisse und Interessen als auch die Konzeption der gesellschaftlichen Zukunft betreffen normative Fragen. Sie enthalten Gerechtigkeitsvorstellungen und Begriffe vom guten Leben. Horkheimer, wie Marx vor ihm, scheint zu denken, daß mit der Auflösung der Klassenherrschaft ein gesamtgesellschaftlicher Konsens hergestellt wird. Dabei vernachlässigt er die Gründe gesellschaftlicher Konflikte, deren Ursprünge nicht in der Klassenherrschaft allein, sondern in den Geschlechts-, Kultur- und ethnischen Verhältnissen und Widersprüchen unserer Gesellschaften liegen. Aufgrund dieser Vernachlässigung entsteht der Glaube an eine gesellschaftliche Transparenz und Einstimmigkeit, der auf die Voraussetzung zurückzuführen ist, daß eine Klasse die gesellschaftliche Allgemeinheit als solche vertreten kann. Das nenne ich die „Subjektphilosophie". Der Mythos der klassenlosen Gesellschaft als einer transparenten Einheit, wo alle Fragen der Politik sich in administrative Entscheidungen verwandeln, ist so stark in Horkheimers Denken, daß es ihn zu der These vom „Ende der Moral" führt. Horkheimer schreibt: „... denn die Moral gehört zu der bestimmten Form menschlicher Beziehungen, welche diese auf Grund der Wirtschaftsweise des bürgerlichen Zeitalters angenommen haben. Mit der Veränderung dieser Beziehungen durch ihre vernünftige Regelung tritt sie zum mindesten in den Hintergrund. Die Menschen mögen dann gemeinsam ihre eigenen Schmerzen und Krankheiten bekämpfen — es ist nicht abzusehen, was die von den gegenwärtigen gesellschaftlichen Fesseln befreite Medizin zustande bringen wird —, in der Natur aber herrscht weiter das Leiden und der Tod. Die Solidarität der Menschen ist jedoch ein Teil der Solidarität des Lebens überhaupt"23. In Anlehnung an Schopenhauers Philosophie des Mitleids vertritt Horkheimer die These, daß selbst dann, wenn der Kantische Gegensatz zwischen Glück und Pflicht durch eine gerechtere Gestaltung der Gesellschaft vermindert sein sollte, dennoch Grund zum Mitleid bleibt, weil das Unglück aus unserer Endlichkeit, den Schmerzen und Krankheiten, die nicht
22
23
Ich verwende den Ausdruck von JOHN RAWLS aus A Theory of Justice, Cambridge, Harvard University Press, 1971. M. HORKHEIMER, „Materialismus und Moral", ZfS, 2, 184,
Max Horkheimers frühe Moralphilosophie
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zu überwinden sind, entsteht. Die Dialektik von Glück und Vernunft überdauert die Moral: Sie kann nie in eine Versöhnung umschlagen. Das aufmerksamkeitswürdige an diesen Überlegungen ist nicht Horkheimers Beharren auf dem Mitleid oder unserer Existenz als Kreaturen, sondern die These, daß die Moral mit der vernünftigen Umgestaltung gesellschaftlicher Beziehungen „in den Hintergrund" tritt. Sicher sind sowohl die Definitionen moralischer Fragen als auch moralische Lebensführungsarten und Konfliktlösungsstrategien gesellschaftlich und geschichtlich bestimmt. Die Moral ist ein Aspekt der Historizität von Gesellschaften. Aber die Annahme, daß nicht die Definition der Moral sich ändert, sondern daß die Moral als solche in den Hintergrund tritt, ist eine schlechte Utopie. Ich kann diese Utopie nur im Lichte der subjektphilosophischen Voraussetzungen der Marxschen Theorie erklären, wonach die Überwindung der Klassengesellschaft eine Versöhnung zwischen Individuum und Allgemeinheit: „le volonte de tous" und „le volonte generale", moralischem und politischem Standpunkt, herstellt. Nur in einer solchen Gesellschaft kann ein allgemeiner Konsens über Bedürfnis- und Interesseninterpretationen und die Definition des Gemeinwohles herrschen. Diese Vorstellung impliziert aber nicht nur das Ende der Moral, sondern auch das Ende der Politik.24 Die Subjektphilosophie entsteht mit Marx' materialistischer Aneignung von Hegels These, daß die Geschichte das Produkt eines kollektiven Singulars ist, nämlich des Geists.25 Marx ersetzt den Hegeischen Begriff des Geistes durch den Begriff einer Menschheit, die sich durch ihre produktive Arbeit erzeugt. Während bei Hegel die erinnerte Aneignung dieser Geschichte des Geistes zur Versöhnung führt, wird in der marxistischen Theorie die These entwickelt, daß die Wiederaneignung des entäußerten Reichtums durch die revolutionäre Tätigkeit einer Klasse zu verwirklichen sei. In diesem Prozeß verhält sich die Klasse als ein Kollektivsingular, der die Allgemeinheit als solche vertritt. Die Subjektphilosophie verwechselt den Standpunkt einer Klasse mit dem Standpunkt der Menschheit als solcher. Sie erlaubt uns nicht, zu sehen, daß gesellschaftliche Akteure keine Kollektivsingulare sind, wohl aber Pluralitäten, deren Beziehung zu anderen Pluralitäten nicht deduktiv, sondern nur historisch, durch gemeinsamen Diskurs, Kampf und Solidarität, hergestellt werden kann.
24
25
Siehe H. ARENDT, „Tradition and the Modern Age", Between Past and Present, Cleveland, The World Publishing Co., 1968, S. 20. Diese Analyse habe ich ausgeführt in: „Normative Voraussetzungen von Marxens Methode der Kritik", in: Marxismus und Ethik, hrsg. von G. LOHMANN und E. ANGHERN (im Erscheinen), englische Fassung in: Praxis International, vol. 4, No. 3 (October 1984), 284-299.
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Seyla Benhabib
Die Anerkennung des Prinzips der Pluralität gesellschaftlich kämpfender Akteure verlangt ein neues Moral- und Politik Verständnis. Wenn diese Anerkennung der Pluralität aber nicht zu einem neuen Relativismus führen soll, dann erscheint die prozedurale und kommunikative Umdeutung des Kantischen Universalisierungsprinzips als einzige Lösung. Statt wie Horkheimer anzunehmen, daß der „moral point of view" jemals substantiell für alle verwirklicht werden könnte, müssen wir davon ausgehen, daß dieser Standpunkt nur eine regulative Idee hinsichtlich der konsensuellen Herstellung gültiger Normen bedeuten kann. Das moralisch und gesellschaftlich Allgemeine beschreibt keinen substantiellen Zustand, sondern eine Verfahrensweise, die sowohl zur Enthüllung falscher Allgemeinheit als auch zur Entstehung pluralistischer Kollektivitäten führen kann, ohne daß eine einzige Gruppe als Vertreter des Allgemeinen ausgezeichnet würde. Diese kommunikative Deutung des Universalisierungsprinzips führt zu einer Makroethik der partizipatorischen Demokratie, deren Zweck die weitgehende Beteiligung der Bürger an der Gestaltung des politischen Lebens im Lichte normativer Kriterien der gemeinsam erwünschten Zukunft sein soll. Der veralterte Begriff der klassenlosen Gesellschaft ist durch die Vorstellung einer radikalpluralistisch, partizipatorischen Demokratie zu ersetzen. Es ist meine These, die ich hier nicht ausführen kann, daß die spätere Entwicklung der kritischen Theorie Max Horkheimers die Voraussetzungen der Subjektphilosophie nicht abgelehnt, sondern zur Irrelevanz reduziert hat. Die revolutionären Hoffnungen der dreißiger Jahre haben sich in das utopische Verlangen nach dem ganz Anderen — entweder in der individuellen Psyche wie bei Marcuse oder im Bereich des absoluten Geistes — Kunst und Philosophie — wie bei Adorno und Horkheimer — verwandelt. Max Horkheimer ist es zu verdanken, daß er uns gezeigt hat, wie wir die Aufhebung des Rationalismus ohne seine Verwerfung am Beispiel der Kantischen Ethik vollziehen können. Wir haben ihm ferner zu verdanken, daß er Denkansätze hinterlassen hat, die uns immer noch inspirieren, das Programm der kritischen Theorie fortzusetzen. Meine Kritik seiner subjektphilosophischen Annahmen ist dem Geiste, aber nicht dem Wort seines Werkes verpflichtet.
MARIE FLEMING (London/Ontario)
Habermas, Marx and the Question of Ethics Karl Marx was the self-declared enemy of every form of illusion and mystification, of all myths, ideologies and philosophical ideals. He explicitly denied that communism could be conceived in terms of any sort of "ideal" or "state of affairs" which ought to be brought about.1 The workers, he said, have no "ready-made Utopias" to introduce by popular decree. "They have no ideals to realize".2 What is sometimes overlooked is the fact that Marx devoted his life neither to a defence of communism nor even to an attack on capitalism, but more specifically to a sustained critique of political economy as the self-understanding of bourgeois society. Throughout all his writings his aim was to demystify relationships between human beings, and his penetrating analysis of the abstract categories of political economy was undertaken with a view to uncovering the human realities which lay beneath them. This radical critique of ideological illusions and the honesty which informs this notion of critique I believe to be the enduring legacy of Karl Marx. Despjte this legacy and the wellknown denunciations of moralists and moralizing, however, it is difficult to deny that Marx's passionate commitment to enlightenment and truth and reason may provide grounds for considering him part of a moral tradition. At the same time, it is also difficult, without rejecting the legacy of a radical critique of mystification, to specify what would count as a Marxian morality. The purpose of this paper is not to present a definitive answer, but simply to make a few general observations on the current debate on the question of a Marxist ethics and, in particular, to discuss the extent to which Habermas' formal approach to ethics holds out the promise of advancing the discussion. On the question of ethics, writers on Marx divide into two opposing groups. There is an enduring Western tradition in which Marx is viewed as a theorist who worked from ethical principles, even though these principles remained only implicit in his writings. According to this inter-
1 2
MARX ENGELS Werke 3, p. 35. MARX ENGELS Wirke 17, p. 343.
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pretation, Marx's condemnation of the alienation and inhumanity of the capitalist system rests upon an underlying vision of what would constitute a liberated humanity and a "truly human" society. This view of Marx as a philosophical humanist is being challenged by a number of recent studies defending a Marxist position on historical materialism which one author referred to as a "fundamentalist"3 and another as an "old-fashioned" and "technological"4 interpretation. For the most part, fundamentalists do not engage Marxist humanists, but tend to dismiss the question of morality as a superstructural phenomenon.5 Their arguments are based on the conviction that historical materialism cannot generate standards of morality, since, theoretically and logically, it denies the possibility of providing grounds for any set of eternal standards. From this perspective, right and justice cannot be understood apart from the social structure in which they appear; they are juridical concepts underlying the moral and legal institutions which arise out of historically-based relations of production and fulfill the function of sanctioning those relations.6 What is interesting about this debate is not the radically different and, apparently, irreconcilable positions. On the contrary, there is a striking similarity of approach, since both groups conceptualize morality in terms of substantive norms and attempt to explicate a "true" Marxian position.7 Habermas, I suggest, provides a new perspective from which to examine the question of a Marxist ethics. In the first place, he abandons the search for a true Marx and proposes a reconstruction of historical materialism which, he says, "bedeutet ... daß man [die] Theorie auseinandernimmt und in neuer Form wieder zusammensetzt, um das Ziel, das sie sich gesetzt 3 4 5
6
7
WILLIAM H. SHAW, Marx's Theory of History (Stanford, 1978), p. 6. G. A. COHEN, Karl Marx's Theory of History (Princeton, 1978), pp. x, 29. One notable exception is the study by ALLEN WOOD, Karl Marx (London, 1981) which offers a defence of the philosophical foundations of historical materialism. See the discussion in ALLEN W. WOOD, "Marx's Critical Anthropology: Three Recent Interpretations", Review of Metaphysics, XXVI (September 1972), pp. 118—139; WALTER ADAMSON, Review Essay, History and Theory, XIX (1980), pp. 186—204; HARRY VAN DER LINDEN, "Marx and Morality: An Impossible Synthesis?", Theory and Society, 13 (January 1984), pp. 119 — 135. See also the exchange of views between: ZIYAD I. HUSAMI, "Marx on Distributive Justice", Philosophy and Public Affairs, 8 (Fall 1978), pp. 27-64, and ALLEN W. WOOD, "Marx on Right and Justice: A Reply to Husami", Philosophy and Public Affairs, 8 (Spring 1979), pp. 267-295; Cf. RICHARD W. MILLER, Analysing Marx, Morality, Power and History (Princeton, 1984); Carol C. GOULD, Marx's Social Ontology (Cambridge, Mass., 1978); GEORGE G. BRENKERT, Marx's Ethics of Freedom (London, 1983); MELVIN RADER, Marx's Interpretation of History (New York, 1979). I believe that this statement could be defended despite the fact that the "defence" of MARX offered by several authors is conceived in terms of a revision or even a development of his views.
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hat, besser zu erreichen".8 It is of greater importance, however, that he offers a fundamental re-structuring of the debate through a conceptualization which moves the discussion beyond the question of substantive norms and into a consideration of the procedures through which human beings establish these norms. This perspective has evolved as a logical consequence of two strongly held views. First of all, Habermas' rejection of the notion of a priori knowledge is as final as that of the most "fundamentalist" Marxist. Second, he is equally unyielding in his conviction that it may be possible to establish the nature of the procedures through which we reach agreement on norms. While he concedes that knowledge of such procedures cannot lead to the identification of universally valid norms, he is convinced that we may uncover "necessary" procedures — necessary in the sense that they are immanent in human interaction. Habermas may prefer to think of himself as Hegelian rather than Kantian, but there are good reasons for holding that he has re-directed rather than abandoned the quest for universally valid norms. This thesis I should like to defend elsewhere. Within the short space that is presently available, I should like to examine Habermas' work to the extent that I can suggest the nature and implications of his formal approach to questions of morality. By way of conclusion I shall raise the question of whether he can re-structure the traditional debate on Marxist ethics and at the same time avoid introducing metaphysical elements. Habermas' position on ethics is contingent upon a rational reconstruction of the formal and universal features of using language or what he refers to as a universal communicative competence. This reconstruction is based upon the use of language that is oriented to understanding, since he holds that this use of language represents the original mode from which other uses are derived.9 (I take up this point below.) By communicative competence, he understands the ability of a speaker oriented to mutual understanding to employ a well-formed sentence in relation to reality, that is, — den Aussageinhalt so zu wählen, daß er eine Erfahrung oder Tatsache wiedergibt oder (unter Erfüllung bestimmter Wahrheitsvoraussetzungen) erwähnt (so daß der Hörer das Wissen des Sprechers teilen kann);
8
9
JÜRGEN HABERMAS, "Einleitung: Historischer Materialismus und die Entwicklung normativer Strukturen" in Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus (Frankfurt am Main, 1976), p. 9; also in Communication and the Evolution of Society, trans. THOMAS MCCARTHY (Boston, 1979), p. 95. JÜRGEN HAGERMAS, "Was heißt Universalpragmatik?" in KARL-OTTO APEL (Ed.), Sprachpragmatik und Philosophie (Frankfurt am Main, 1976), pp. 174—175. See also JÜRGEN HABERMAS, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde. (Frankfurt am Main, 1981), l, p. 388.
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— seine Intentionen so zu äußern, daß der sprachliche Ausdruck das Gemeinte wiedergibt (so daß der Hörer dem Sprecher vertrauen kann); — die Sprechhandlung so auszuführen, daß sie anerkannte Normen erfüllt bzw. akzeptierten Selbstbildern entspricht (so daß der Hörer mit dem Sprecher in diesen Werten übereinstimmen kann).10
In this way, speakers, in their utterances, orient themselves simultaneously to three realities: external nature, inner nature and intersubjectivity. A successful utterance must be comprehensible, but it must also "für die Beteiligten als wahr gelten, soweit sie etwas in der Welt darstellt, sie muß als wahrhaftig gelten, soweit sie etwas vom Sprecher Gemeintes ausdrückt, und sie muß als richtig gelten, soweit sie auf gesellschaftlich anerkannte Erwartungen trifft".11 In a speech situation, therefore, the following four validity claims are raised: comprehensibility, truth, truthfulness and Tightness. Within the context of this reconstruction, what is striking about a speech situation is the powerful relationships into which human beings necessarily enter. On one level, participants in discourse must agree to the demands of a relationship in which they confront the external world in their claims to propositional truth. At the same time, they also establish a level of interpersonal relations on the basis of their implicit (or explicit) claims to normative Tightness. As Habermas points out, the truth claim is most conspicuous in the cognitive use of language — reports, explications, narrations, and so on, which emphasize the content of the utterance as a statement or proposition; here only indirect reference is made to the validity of the interpersonal relationship in the context of which the proposition is made. Rightness claims are particularly evident in the interactive use of speech — for example, warnings, commands, promises, requests and refusals, where the truth of the propositional content is implied, but not stressed. As is well known, there has been a controversy concerning whether propositions have performative force and whether the performative use of language can claim any propositional truth. Habermas argues, however, following important insights from Austin, that while some utterances emphasize propositional truth and others emphasize interpersonal relations, every utterance necessarily performs both functions, that every speech action contains a locutionary component (in the form of a sentence containing a proposition) and an illocutionary component (in the form of a performative sentence which establishes the interpersonal relationship). What is referred to here is the "double structure" of speech,
10
"Was heißt Univcrsalpragmatik?", pp. 208-209.
11
Ibid., pp. 207-208.
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that is the notion that every sentence can be linguistically expanded to represent the "standard form": I ... (verb) you that ... (the sentence).12 Several lines of inquiry might be pursued in connection with the two levels of communication which participants in discourse enter through the validity claims of truth and rightness. I should like to emphasize an aspect which, I believe, is not always sufficiently highlighted by Habermas' observers. It is extremely important to note that the normative validity claim of rightness or legitimacy, no less than the truth claim, is universally built into the structures of speech. In fact, speech itself is inconceivable outside a system of values, since every speech act takes place within the context of the "binding force" of recognized norms. If speech acts such as promises, recommendations, prohibitions and so on, are to succeed, the validity claim of rightness must be covered by existing norms, and that means that there must be at least "faktische Anerkennung des Anspruchs, daß diese Normen %u Recht bestehen".111 In speech acts which stress a truth claim for the proposition asserted-reports, explications and so on, the normative validity claim of rightness or appropriateness remains implicit, but these speech acts too must correspond to a recognized context of value orientations, if the interpersonal relations demanded by them are to be brought into existence. In the course of everyday social interaction, Habermas suggests, the rightness validity claim is continually raised, though seldom challenged. Once challenged, however, the matter, if it is to be settled without resort to force, can only be the object of a discourse in which individuals, through their own fallible efforts, strive for a new level of understanding.14 Thus, it becomes clear that, while the rightness claim is raised in all speech acts, the fulfillment of the rightness claim cannot be a sufficient condition for the "acceptability'Of all speech acts, since assumptions about rightness are not context-invariant and can themselves be the object of discourse.15 Habermas sees the source of power of the speaker to move the hearer in "einer reziproken Anerkennung von Geltungsansprüchen" which "einen kognitiven Charakter haben und der Nachprüfung fähig sind".16 Speech
12 13 14
15
16
Ibid., pp. 224-246. Ibid., p. 240. HABERMAS responds to some misperceptions of his views on this and related questions in "A Reply to My Critics" in JOHN B. THOMPSON and DAVID HELD (Eds.), Habermas: Critical Debates (Cambridge, Mass., 1982); for his position on formal pragmatics, see p.269ff. "Was heißt Universalpragmatik?", pp. 250—251; see also his "Some Distinctions in Universal Pragmatics", Theory and Society, 3 (1976), esp., pp. 163 — 164. "Was heißt Universalpragmatik?", p. 251.
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acts represent binding offers in which interpersonal relations are established through the "intersubjective recognition of criticisable validity-claims".17 Sprecher und Hörer erheben mit ihren illokutiven Akten Geltungsansprüche und fordern deren Anerkennung. Diese Anerkennung braucht jedoch nicht irrational zu erfolgen, weil die Geltungsansprüche einen kognitiven Charakter haben und der Nachprüfung fähig sind ... In letzter Instan^ kann der Sprecher illokutiv auf den Hörer und dieser illokutiv wiederum auf den Sprecher einwirken, weil die sprechhandlungstypischen Verpflichtungen mit kognitiv nachprüfbaren Geltungsansprüchen verknüpft sind, d. h. weil die reziproken Bindungen eine rationale Grundlage haben.18
Habermas is suggesting that the interpersonal bond established between speaker and hearer through the use of language is inextricably linked with obligations to defend the universal validity claims of their utterances in a rational manner. "What is peculiar about this mechanism of reaching understanding is that ego can, in a certain sense, rationally motivate alter to accept its offer; that is, ego can motivate alter by its readiness to cover the claim it has raised through providing grounds or reasons."19 Considerations of this kind lead Habermas to claim that "built into" the conditions for communication oriented to understanding is "ein Moment Unbedingtheit"20 in which, among other things, the question of the "Begrundbarkeit" of existing norms may be raised. "Was wir für gerechtfertigt halten, ist aus der Perspektive der ersten Person eine Frage der Begrundbarkeit und nicht eine Funktion von Lebensgewohnheiten."21 It is not my intention to investigate the complex and interesting relationship which Habermas perceives to exist between philosophy and psychology and which, he proposes, should be developed. However, we should note that he views the results of certain research projects in cognitive developmental psychology as representing important evidence in support of the plausibility of his arguments for the existence of a universal (species) capability for abstract reasoning and argumentation.22 In one place, he points to the suggestion of a leading investigator that "die Individuen die höchste Stufe moralischer Überlegung, die sie beherrschen, bevorzugen".23 There are, no doubt, several difficulties that have to be resolved before we can unequivocally say how such "preferences" should be under17 18 19 20
"A Reply to my Critics", p. 269. "Was heißt Universalpragmatik?", p. 251. "A Reply to my Critics", p. 269. JÜRGEN HABERMAS, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln (Frankfurt am Main, 1983), p. 27.
21 22 23
Ibid. Cf. "A Reply to my Critics", pp. 258-261. Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, p. 48.
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stood within the context of formal pragmatics. In particular, we need to explore the nature and meaning of preferences and to consider the ways in which preferences may be environmentally induced. Nonetheless, it is certainly reasonable to suggest that the nature of human beings may be such that, in the absence of constraint, or under conditions of "undistorted communication", we should expect procedures for establishing norms to become increasingly more rational. Habermas also looks to psychology for evidence of the specific, reconstructible, developmental stages through which cognitive and moral competences are acquired. Briefly, he is able to specify three general levels, embracing seven stages, through which individuals develop their capacities for a moral-practical consciousness. At an early, preconventional level, individuals act within a limited framework of reciprocal expectations and justify their actions on the basis of perceptions of the concrete consequences of their actions. At the conventional level, individuals are able to discern a system of societal norms and are able to relate their actions to these norms. The individual has reached the post-conventional level, once he or she has learned to grasp the principles underlying these norms.24 Habermas brings many insights to this discussion and proposes interesting and promising hypotheses. A central argument is that it is through a reconstructible developmental process that the individual acquires the ability, hypothetically, to grasp and to negate validity claims of truth, Tightness, truthfulness and comprehensibility. At this point, external nature, society, inner nature and language no longer present themselves as fixed in their "objectivity, normativity, subjectivity, or intersubjectivity, but become ηοάαΓ. This means, among other things, that norms themselves are "experienced or expressed with a view to the possibility of the negation of the form in which they present themselves".25 The kind of rationalization which Habermas is describing clearly differs from the technical rationality which governs the processes through which individuals come to control external nature. For Habermas, learning processes are not restricted, as they are for "fundamentalist" Marxists, to technical and organizational knowledge — the productive forces. There are good reasons, he says, for assuming "da auch in der Dimension der moralischen Einsicht, des praktischen Wissens, des kommunikativen Handelns und der konsensuellen Regelung von Handlungskonflikten Lernvorg nge stattfinden".26 From this perspective, it is the great weakness 24
25 26
J RGEN HABERMAS, "Moralentwicklung und Ich-Identit t" in Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, pp. 63 — 91. "Some Distinctions in Universal Pragmatics", p. 165. "Einleitung: Historischer Materialismus und die Entwicklung normativer Strukturen", pp. 11 — 12: Communication and the Evolution of Society, pp. 97 — 98.
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of fundamentalist Marxists, as it was for Marx himself, that the technical rationality implicit in the development of the productive forces, is offered as the explanation for changes in the relations of production. Without developing Habermas' views on this point, we can suggest that, while culture retains its place in the superstructure, the learning processes associated with the rationality implicit in the communicative process would appear to be necessary to the resolution of unresolved system problems which have their origins in the economy. Marx, says Habermas, instinctively knew the meaning of the relationship between the instrumental action contained in work and the communicative processes of social interaction, and it was in fact this knowledge which informed his notion of critique. Nonetheless, Marx failed to recognize the importance of the insight for the theory of historical materialism, and this confusion in his own theoretical self-understanding led him to reduce interaction to work and to present them in their collapsed state as social practice (Praxis).27 What Habermas wants to reconstruct is the Marx who instinctively knew the meaning of the relationship between work and interaction, but at the same time, a Marx with a higher level of theoretical self-understanding. The position could be defended, I believe, that Habermas re-structures the debate on the question of a Marxist ethics through a conceptualization which holds out the possibility of accommodating the demands of historical materialism, but which, at the same time, recognizes that Marx viewed societal development in moral terms. Habermas would, I believe, still defend a claim which he made several years ago: Marx begreift freilich die Sittliche Totalität als Gesellschaft, in der Menschen produzieren, um durch Aneignung einer externen Natur ihr Leben zu reproduzieren. Sittlichkeit ist ein aus kultureller Überlieferung gezimmerter institutioneller Rahmen, aber eben ein Rahmen für Produktionsprozesse. Die Dialektik der Sittlichkeit, die sich auf der Basis der gesellschaftlichen Arbeit vollzieht, übernimmt Marx als Bewegungsgesetz eines definierten Streites zwischen bestimmten Parteien. Der Streit wird stets um die Organisation der Aneignung der gesellschaftlich erzeugten Produkte geführt, während die streitenden Parteien durch ihre Stellung im Produktionsprozeß, nämlich als Klassen, bestimmt sind. Als Bewegung des Klassenantagonismus ist die Dialektik der Sittlichkeit an die Entwicklung des Systems der gesellschaftlichen Arbeit gebunden. Die Aufhebung der Abstraktion, nämlich die kritischrevolutionäre Versöhnung der entfremdeten Parteien, gelingt nur relativ zum Entwicklungsstand der Produktivkräfte.28
The formal approach to ethics does not yield substantive norms, but rather reconstructs the procedures through which we arrive at agreement on 27 28
JÜRGEN HABERMAS, Erkenntnis und Interesse (Frankfurt am Main, 1973), pp. 85 — 87. Ibid., p. 79.
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such norms. As we discussed above, these procedures have been discovered by Habermas within the context of a rational reconstruction of the formal and universal features of the use of language oriented to understanding. We also saw that this use of language is held to be the original mode from which other uses are derived. Thus, it would appear to follow that reaching agreement on norms within a speech situation oriented to understanding may be considered the original mode of coming to agreement on norms. There are, moreover, certain specific requirements which must be met. For example, participants must suppose that the conditions for an unlimited and unconstrained discourse obtain and that they, as participants, are sufficiently free from external and internal constraints, so as to be able to come to a genuine (unforced) consensus on the basis of what is to be decided by them to be the "unforced force" of the better argument. It also must be supposed that each participant has an effective equality of chances to present his or her point of view and that each assumes responsibility for the validity claims which are raised.29 The reciprocity which characterizes the relation between participants in dialogue is in principle egalitarian, and it is from this relation, Habermas suggests, that we derive the notion of the universalization of normative validity claims and the ideas of freedom and equality. In the case of Tightness, agreement is oriented to what would constitute a norm universally valid for all participants. In Habermas' words: The point of discourse-ethical universalisation consists rather in this, that only through the communicative structure of a moral argumentation involving all those affected is the exchange of roles of each with every other forced upon us. Only an actually carried out discourse offers any guarantee of the possibility of objecting to any norm that does not fulfil the following condition: that the consequences and side-effects for the satisfaction of the interests of every individual, which are expected to result from a general observance of the norm, can be accepted with good reason by //.30
Habermas denies that the rationality implicit in communication oriented to understanding can be understood as a value. Not only do individuals not have to come to an agreement about the worth of communicative rationality, but a decision for such rationality is not even possible, since we are "always already orientated to those validity-claims, on the intersubjective recognition of which possible consensus depends".31 Habermas is not content, however, simply to uncover the necessary presuppositions made by participants in dialogue. His reflections lead him 29
30 31
See JÜRGEN HABERMAS, Legitmation Crisis (Boston, 1975), p. 89; "A Reply to my Critics", pp. 254-255; Theorie und Praxis (Frankfurt am Main, 1971), pp. 23-26. "A Reply to my Critics", p. 257. Ibid.t p. 227; cf. Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, p. 194.
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to view the actual speech situation as an "eigentümlich irreale Form der Kommunikation",32 a. phenomenon which he characterizes as an "ideale Sprechsituation".33 This might lead one to assume that Habermas is extrapolating from the empirical evidence and constructing a theoretical model against which the actual might be evaluated. Thus we might be tempted to charge him with mystification. But whether or not the charge can be sustained, we would be completely wrong in our assumption that Habermas himself believes that he has constructed such a theoretical model. He explicitly denies that the ideal speech situation is a "bloßes Konstrukt" and insists that it is "eine in Diskursen unvermeidliche reziprok vorgenommene Unterstellung". Even if the supposition is made counterfactually, it is "eine im Kommunikationsvorgang operativ wirksame Fiktion". Therefore, he says, "Ich spreche ... lieber von einer Antizipation, von einem Vorgriff auf eine ideale Sprechsituation".34 He seems to be claiming that, because of the assumptions that are intrinsic to discourse, participants can only proceed with their discourse within the context of an anticipation of ideal conditions. Even though Habermas does not view his "ideal speech situation" as a mere construct, I am not yet persuaded that his position is sound. While it is not my intention to pursue the question at this time, it may be of more than passing interest to note that he was once tempted to envision a form of life from possibilities which he saw inherent in the "ideal speech situation". "Keine historische Gesellschaft," he wrote, deckt sich mit der Lebensform, die wir mit Bezugnahme auf die ideale Sprechsituation grundsätzlich charakterisieren können. Die ideale Sprechsituation wäre am ehesten mit einem transzendentalen Schein zu vergleichen, wenn nicht dieser Schein, statt sich einer unzulässigen Übertragung (wie beim erfahrungsfreien Gebrauch der Verstandeskategorien) zu verdanken, zugleich konstitutive Bedingung vernünftiger Rede wäre. Der Vorgriff auf die ideale Sprechsituation hat für jede mögliche Kommunikation die Bedeutung eines konstitutiven Scheins, der zugleich Vorschein einer Lebensform ist.35
Habermas has since retracted this position and has acknowledged that it is not possible to derive the standards for "something like an ideal form of life" from the discourse ethic. What the discourse ethic can offer us, he says, is a "guiding thread" through which we can develop "the formal idea of a society in which all potentially important decision-making processes are linked to institutionalised forms of discursive will-formation". 32 33
34 35
Theorie und Praxis, p. 25. JÜRGEN HABERMAS "Wahrheitstheorien" in Wirklichkeit und Reflexion. Walter Schul^ 60. Geburtstag (Pfullingen, 1973), p. 258. Ibid. Ibid., p. 259.
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This "formal idea" of a society whose procedures for arriving at agreement on Tightness have become increasingly more rational does not constitute the ideal of a form of life. Habermas agrees fully with a critic who states that "there can be no such ideal".36 He has also disavowed any attempt which might be imputed to him to propose a "rationalistic Utopian society." "I do not," he says, "regard the fully transparent society as an ideal, nor do I wish to suggest any other ideal."37 Even as he retreats behind his earlier claims, however, Habermas insists that "the ideal speech situation has its place in the theory of truth".38 This "place", I would suggest, needs re-examination. The entire structure of Habermas' arguments rests upon his reconstruction of the use of language oriented to understanding. The project is not free from conceptual difficulties, and it is heavily dependent upon research which remains to be carried out. This is not unknown to Habermas. He takes a position, however, which is of fundamental importance and which, if it is not satisfactorily defended, threatens the entire structure from its very foundations. He maintains that language oriented to understanding is the original mode of language use from which other uses are derived. In an attempt to defend his position, he refers to Austin's distinction between Allocutions and perlocutions to show that speech employed for instrumental or strategic purposes is not meaningful within the internal structure of the speech act, but derives its meaning from a context which is external to the speech act. Another important consideration is that the success of speech acts with the "nonillocutionary aim of influencing hearers" is contingent upon their employment of the mode of communication oriented to understanding, for the hearer must be able to understand what the speaker is saying, if a strategically acting speaker is to succeed in bringing about the desired result.39 But such arguments can be compelling, only if we do not challenge the decision to search out an original mode of language use as a valid way of proceeding. It is not clear to me what would constitute a justification for taking this approach, for we would have to admit that the very act of searching out an original mode carries with it certain specific normative assumptions and not only places limits on what can be discovered, but also shapes the direction of the discussion. To conceptualize the problem in this way means that a logic of analysis is adopted which almost certainly leads to an identification of "ideal" structures against which "parasitic" forms can be evaluated.
36 37 38 39
HABERMAS is replying to WELLMER; "A Reply to my Critics", pp. 261—262. Ibid., p. 235; see also Theorie des kommunikativen Handelns, 2, p. 143. "A Reply to my Critics", p. 235. Theorie des kommunikativen Handelns, l, pp. 388 — 394.
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Habermas' assumption concerning an original mode of language use means that he must screen out not only non-intentional perlocutions, but intentional perlocutions as well. With regard to the former, we might suggest that, if all speech is necessarily susceptible to distortion and if, indeed, undistorted speech can be no more than a limit concept,40 the possibility of distortion may be written into speech as an essential part of its nature. And with regard to the latter, if the strategic use of speech necessarily employs the structures of language oriented to understanding, we may wonder whether it is an essential part of the nature of language oriented to understanding that it is inherently capable of accommodating strategic speech. We need to know what, precisely, Habermas means when he says that "ich den Typus des auf Verständigung abzielenden Handelns für fundamental halte".41 The major difficulty is that, so far, Habermas has based his analysis on a use of language which he can claim only to have shown to be logically prior to other uses, while his position would also appear to demand some empirical support. These questions need to be explored, but we must be open to the possibility that, while Habermas' conceptualization of the question of ethics opens up so many fruitful avenues for discussion, the approach which he adopts may lead him to an ahistorical construct of a "pure" speech.
40
41
HABERMAS appears to be conceding this point to ALBRECHT WELLMER in "A Reply to my Critics", pp. 261 —262; he may also be moving toward Wellmer's view that the notion can be applied only in a limited way and to clearly specified cases. "Was heißt Universalpragmatik?", p. 174.
PAVEL PETR (Melbourne)
Negation, Subjekt—Objekt, Praxisbezug: Dialektik in Frankfurt, Prag und Moskau Die Philosophie eines Marxisten ist praxisbezogen. Die Worte „es kommt aber darauf an" in der elften Feuerbachthese sind wohl so zu verstehen, daß die Philosophen sowohl die Verpflichtung als auch die reale Möglichkeit haben, an einer Veränderung der Welt mitzuwirken. Bereits in der Einleitung zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie hieß es: „auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift"1. Die Praxisbezogenheit der marxistischen Philosophie ist eine dialektische; sie schließt auch die Umkehrung ein. Die Praxis einer Gesellschaft, die sich als sozialistisch versteht, ist theoriebezogen. Einer marxistischen Gesellschaftspraxis entspricht eine marxistische Gesellschaftstheorie. Da Marx die Frage nach dem Primat zugunsten des Objekts entscheidet, muß man bei der Theorie ein Eingehen auf die Bedürfnisse der gegebenen gesellschaftlichen Praxis erwarten. Bereits hier hat es die Dialektik in sich. Verschiedenartig beantwortbare, vielfach unbeantwortete Fragen drängen sich auf. Wie, durch wessen Vermittlung und auf welche konkrete Art ergreift die auf Gewalt aspirierende Theorie die Massen? Wenn es darauf ankommt, daß die Philosophen zur Weltveränderung beitragen: wie macht man das, konkret, innerhalb einer gegebenen Gesellschaftsstruktur? Wie definiert man, wer Philosoph ist, wie viele nehmen teil, wer strukturiert und organisiert die Philosophenschicht? Mit welchen Mitteln soll die Objektveränderung durchgeführt werden, unter Anwendung welcher Methoden, wie schnell? Wie und durch wen projiziert die jeweilige Gesellschaft ihre Bedürfnisse? Wieviel Raum für Spontaneität wird dabei erwogen? Auf Grund welcher Kriterien wird bestimmt, wer diese Bedürfnisse artikulieren und wer die Richtigkeit dieser Artikulierung nachprüfen soll? Schließlich umfaßt der Begriff des Veränderns selbst ein recht breites Spektrum: Unter diesem Stichwort kann auch eine Praxis untergebracht werden, bei der eine 1
K. MARX — F. ENGELS, Die heilige Familie und andere philosophische Frühschriften, Berlin 1953, S. 20.
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Pavel Petr
uneingeschränkt herrschende Macht all das abschafft, was nicht konform gehen will — auch das heißt: die Welt verändern. Damit soll angedeutet werden: Die Marxsche philosophische Theorie ist in einigen wichtigen Aspekten offen genug, um als Grundlage zu dienen für unterschiedliche Weiterentwicklungen, die sich mit gutem Recht marxistisch nennen können. Als Vorbedingung dafür wollen wir stillschweigend akzeptieren, daß zu einer jeweiligen, als relativ selbständiges Staatsgebilde auftretenden (und nach eigenem Verständnis marxistischen Prinzipien folgenden) Gesellschaftseinheit nicht eine Pluralität von Theorien, sondern eine mehr oder weniger homogene und als Leitbild figurierende Philosophie gehört. Der Ausgangspunkt für unsere Betrachtung ist der tschechoslowakische Versuch, in dem Jahrzehnt vor 1968 für die eigene, als sozialistisch aufgefaßte gesellschaftliche Praxis eine Theorie zu formulieren. Unsere Aufmerksamkeit beschränkt sich dabei auf einige wenige Aspekte der Dialektik. Das sowjetische Modell Auf die Komplexität der Voraussetzungen, unter denen sich die Philosophen der Tschechoslowakei an eine solche Theorie heranarbeiteten, kann hier nicht im einzelnen eingegangen werden. Auf eines nur soll hingewiesen werden: Ein kleines, spätkapitalistisches Industrieland mit abendländischen Traditionen wurde 1948 in die sowjetische Einflußsphäre eingegliedert und einer Staatsphilosophie unterworfen, deren Entwicklung von der Basis einer Großmacht mit vorwiegend byzantinischen Traditionen und einer völlig anderen ökonomischen Geschichte bestimmt worden war. Raum für Eigenentwicklungen wurde zunächst nicht gewährt. Die Geschichte der sowjetischen Dialektikauffassung, welche vorerst zu übernehmen war, ist von ihrer eigenen Praxisbezogenheit her zu verstehen. Zur Verdeutlichung drei kurzgefaßte Beispiele: Negation der Negation, Widerspiegelung und Dialektik der Natur. Lenin erwähnt die Negation der Negation in seinen vorrevolutionären Schriften: in einem Aufsatz über die Volkstümler und Struve (1895) und in der Arbeit „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück" (1904); des weiteren in seinem Karl-Marx-Artikel, als er flüchtig „einige Züge der Dialektik"2 aufzählt. Bei Stalin ist dieses Gesetz verschwunden. Seine normierende Darstellung von 1938 gehörte zur Theorie für die Praxis eines Großreichs, das zu konsolidieren und zu regieren war. Die Antizipation neuer Strukturen theoretisch zu legitimieren schien untragbar, Keime des Neuen wurden als gefährdend eingestuft, die Praxis legte nahe, das 2
W. I. LENIN, Werke Bd. 21, Berlin 1960, S. 42.
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Erreichte im Interesse der Stabilisierung durch Modifikationen der Theorie zu stützen. Das neue Netz regierender Parteiorganisationen zum Beispiel, Negation des alten Verwaltungssystems, durfte nicht selbst als negierbar aufgefaßt werden. Andere Kategorien gerieten in den Vordergrund. Für die Praxis der Stalinjahre boten sich statt der Negation der Negation besser geeignete Kategorienpaare an: antagonistische und nichtantagonistische Widersprüche, Kritik und Selbstkritik. Wenn die Dialektik der sozialistischen Entwicklung von Kritik und Selbstkritik bewegt wird, kann die Parteiautorität in einem immer noch als dialektisch hingestellten System die Konstante abgeben, die die Richtigkeit des Ablaufs der Geschichtsdialektik überwacht und Abweichungen mit Sanktionen belegt. Die stalinistische Erosion der kritischen und korrektiven Elemente der dialektischen Theorie ermöglichte die Verwandlung dieser Theorie in eine dirigistische Staatsideologie, deren Autoritätsbasis sich vom Denken zum Glauben verschob. Auf die Nähe der Stalinschen Kategorien Möglichkeit und Wirklichkeit zur thomistischen Scholastik und den Umstand, daß der dialektische Materialismus die gesellschaftliche Funktion einer Staatsreligion ausübte, ist bereits überzeugend hingewiesen worden3. Ad maiorem gloriam der Parteiführung wurden auch das Netz der Gewerkschaften und die Kunst dazu angehalten, ihre Unabhängigkeit als gesellschaftsdialektische Elemente aufzugeben. Im Gefolge dieser Veränderungen wurden selektiv Theoriebegriffe ebenfalls einem Prozeß unterworfen, in dessen Verlauf aus praxisbezogenen Termini sinnentleerte Chiffren einer Dogmatik entstanden. Begriffe wie Arbeiterklasse, Freiheit, Konterrevolution sind rituell geworden. Ob ein Parteibeschluß tatsächlich die Interessen der Arbeiterklasse wahrnimmt, ob die ihn formulierenden Ideologen wirklich Repräsentanten des Klassenstandpunkts der Arbeiter sind, ob die in Verfassungen sozialistischer Länder garantierten Freiheiten in Anspruch genommen werden können, steht nicht mehr zur Debatte; hinter der im innenpolitischen Kontext gebrauchten Bezeichnung Konterrevolutionär steht in der etablierten Sowjetgesellschaft eine Lesart von „Revolution", die zu der Realität einer Revolution in keiner Verbindung mehr steht. Gerade die in der Marxschen Philosophie unverzichtbar eingebaute Verknüpfung der Theorie mit der Praxis mußte in der Sowjetgesellschaft paradoxerweise dazu beitragen, daß die Praxis von der Theorie entfremdet 3
Vgl. GUSTAV A. WETTER, Der dialektische Materialismus, Freiburg 1956, S. 576; A. SCHMIDT, in: Existentialismus und Marxismus, Frankfurt 1965, S. 103 f.; AGNES HELLER, in: F. FEHER — A. HELLER — G. MARKUS, Dictatorship over Needs, Oxford 1983, bes. S. 188 f. und 198 f. Vgl. auch H. MARCUSE, Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, Neuwied 1964, S. 96: „Die ritualisierte Sprache hält am ursprünglichen Inhalt der Marxschen Theorie als an einer Wahrheit fest, die gegen allen Beweis des Gegenteils geglaubt und verordnet werden muß".
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wurde. Stalins Bestimmung der Forderungen dieser Praxis erforderte die Neutralisierung der Sprengkraft der kritischen Theorie der Dialektik, der Verzicht auf eine als wahr erklärte Theorie war jedoch zu vermeiden. Die Lösung fand sich in der Wiederaufnahme der Glaubenstradition unter neuem Vorzeichen. Dem denkenden Individualsubjekt wird die Mühe und Verantwortung des kritischen Denkens und der konstanten Überprüfung abgenommen und durch die Exegese seitens eines als Repräsentanten des Kollektivsubjekts sich darstellenden souveränen Herrschers ersetzt, dessen Übersicht über alle Zusammenhänge die wachsende Diskrepanz zwischen Wort und Sache als tiefere Weisheit erscheinen läßt. Der Inhalt eines Begriffs wird Sache der Verkündigung. So konnte auch nach Stalin, als Machtstrukturen abgesichert und die Gefahr gebannt war, daß die Dialektik in der Sowjetunion auf das System selbst angewandt werden könnte, auf die Worte Negation der Negation zurückgegriffen werden, um sie als Lippenbekenntnis und Glaubensformel zu gebrauchen, so wie andere Klassikerzitate auch. Die Wiederaufnahme der Negation der Negation in den Kanon der sowjetischen Dialektik sieht folgendermaßen aus: Nach M. N. Rutkewitsch ist das Gesetz der Negation der Negation ein „sehr allgemeines, aber nicht allgemeinstes Gesetz. Es soll im Unterschied zu den beiden anderen Grundgesetzen nur die progressive Entwicklung charakterisieren, nicht die Entwicklung überhaupt"4. Etwas schwer tut man sich eben doch. Schließlich findet ein 1973 entstandenes sowjetisches Werk die folgende salomonische Formulierung: „Der grundlegende und spezifische Unterschied im Wirken aller Gesetze der Dialektik im Kommunismus besteht darin, daß sie die schon existierenden Grundlagen des gesellschaftlichen Fortschritts nicht zerstören, sondern ihre ständige Vervollkommnung fordern"5. Für den Bereich der sowjetischen Gesellschaft wird hier also immer noch wesentlich auf der stalinistischen Reduktion der Dialektik auf die Selbstkritik der Partei beharrt. Der Gebrauch des Begriffs „Widerspiegelung" (otrazenie bei Lenin) liefert einen weiteren Beleg für die Entfremdung zwischen Wort und Sache in der sowjetisch dominierten marxistischen Terminologie. Bei Engels wird damit weniger ein Spiegelbild als ein Isomorphismus bezeichnet, etwa wie die Wiedergabe einer Landschaft auf der Landkarte. Lenin gebraucht diese Bezeichnung, um die Art des Erkennens zu charakterisieren, erklärt aber nicht genau, was er eigentlich meint6. Die von Lenin 4
5 6
Zusammengefaßt in: Geschichte der marxistischen Dialektik. Die Leninsche Etappe, Berlin 1976, S. 296. Ebenda, S. 297. N. LOBKOWICZ, Widerspiegelung, in: Marxismus im Systemvergleich — Ideologie und Philosophie, Bd. 3, Sp. 229 und 231.
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hergeleitete und unter Stalin allzuwörtlich verstandene Widerspiegelungstheorie ist vielfach kritisiert worden: Iring Fetscher wies darauf hin, daß sie für die aktive Rolle des Denkens keinen Raum läßt, Predrag Vranicki stieß sich daran, daß die Philosophie infolgedessen ein Abbild des Bestehenden repräsentieren sollte, Gajo Petrovic nannte sie vulgärmaterialistisch und mechanisch7. Man könnte die Gegenargumente weiter häufen: Der im Begriff der Spiegelung, des Abbilds enthaltene Parallelismus kann schwer mit dem Phänomen der Kreativität vereinbart werden, sowohl was die Künste als auch die Fähigkeit angeht, Neues zu produzieren — das zu Produzierende muß schon im Kopf existieren, um überhaupt produziert werden zu können. Alle diese Einwände übersehen freilich, daß die sowjetische Philosophie mit jener oben illustrierten Trennung von Wort und Bedeutung operiert. Sie verwendet, auch heute noch, Formulierungen wie aktive Rolle des Subjekts in aktiver, tätiger Widerspiegelung8; der merkwürdige Spiegel, der so etwas vermag, ist eben ein qualitativ neuer, sowjetischer Spiegel. Die Konsequenzen sind nicht nur negativ, indem etwa dem Subjekt seine Aktivität genau abgemessen wird, so daß es in der Tat nur spiegelnd nach Instruktionen zu handeln hat; zugleich bietet sich hier nämlich die latente Möglichkeit, diese relative Offenheit des Wortspektrums unter vielleicht veränderten, für die Zukunft erhofften Verhältnissen zu nutzen. Dann dürfte man unter Umständen in der Widerspiegelungs- oder Abbildtheorie sogar solche Fragen unterbringen können wie: warum haben verschiedene Klassen zur selben Zeit verschiedenes Bewußtsein? oder: wie ist es zum Übergang von Newton zu Einstein gekommen?9 Diese Offenheit hat ihre Grenzen. Sie liegen bei der (von der Sowjetphilosophie nie fallengelassenen) Annahme, daß die Natur, die objektive und vom Menschen unabhängig existierende Welt nach ihren eigenen, vom Menschen unabhängigen Gesetzen funktioniert, während der Mensch im Prozeß seiner Erkenntnis von außen, widerspiegelnd, an diese Objektwelt herantritt. Die Voraussetzung dafür ist, daß es eine vom Menschen unabhängige Dialektik der Natur gibt, eine Auffassung, die sich auf einige Stellen bei Engels beruft. Daß es bei Marx nie um Natur an sich, sondern immer um Natur für den Menschen geht und daß der Gebrauch des Begriffs Dialektik bei Engels zweideutig ist, indem er damit sowohl Gesetze des Seins als auch Formen des Reflektierens bezeichnet10, ist hinreichend bekannt. Im Zusammenhang unserer Blickrichtung, nämlich 7
8 9 10
Vgl. D. WITTICH — K. GÖSSLER — K. WAGNER, Marxistisch-leninistische Erkenntnistheorie, Berlin 1980, S. 153 ff. Ebenda. J. ISRAEL, Der Begriff Dialektik, Reinbek 1979, S. 89 f. Vgl. A. SCHMIDT, Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx, Frankfurt 1962; RUDI
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der Betrachtung marxistischer Philosophien jeweils als Theorien für eine bestimmte Praxis, wollen wir uns jedoch weniger auf die Haltbarkeit von Behauptungen konzentrieren, als vielmehr auf die politisch-historischen Folgen ihrer Akzeptanz. Sowohl die sowjetische als auch die DDR-Philosophie gehen bis heute nicht nur davon aus, daß es eine vom Menschen unabhängige Naturdialektik gibt, sondern auch, daß es eine vom Subjekt unabhängige Dialektik der Gesellschaft gibt, deren Gesetze wie Naturgesetze wirken. In dieser Hinsicht hat sich zwischen Stalins „Ökonomischen Problemen des Sozialismus in der UdSSR" und den letzten Ausgaben des „Philosophischen Wörterbuchs" von Klaus und Buhr nichts geändert. Für die gesellschaftliche Praxis ergibt sich daraus: Wenn historische Gesetze Naturgesetze sind, kann sie das Subjekt nur einmal entdecken. Da aber die Kommunistische Partei der Sowjetunion und ihre Führung als erste Repräsentanten der Arbeiterklasse, also der geschichtlichen Zukunft, das fortgeschrittenste Stadium dieses Erkennungsprozesses vertreten, muß eingesehen werden, daß ihre Erkenntnisse der historischen Wahrheit entsprechen. Ihre daraufhin getroffenen Maßnahmen sind als naturgesetzartig zu akzeptieren — erkannt kann ja nur werden, was bereits objektiv in der Natur existiert. Das läuft auf theoretischen Rückhalt für konsequenten administrativen Zentralismus und Dirigismus hinaus. So erhält auch willkürlicher Parteisubjektivismus seine theoretische Begründung. Den Massen kann zugleich nahegelegt werden, unter „Einsicht in die Notwendigkeit eines quasi natürlichen Entwicklungsganges der Ereignisse"11 ihre Bereitschaft zu Opfern zu erhöhen. Die These, daß die Partei von der Erkenntnis objektiver Gesetze ausgeht, legitimiert Maßnahmen für das gesamte Sowjetsystem, einschließlich aller Randgebiete; der erreichte Zustand ist als qualitativ unveränderbar anzusehen, da eherne Gesetze am Werke sind. Das Eingreifen eines außerhalb des Machtzentrums stehenden gesellschaftlichen Subjekts kann daher nur gegen das ein für allemal erkannte Interesse der Arbeiterklasse, also der Zukunft der Menschheit, verstoßen. Die Generallinie repräsentiert die objektive Wahrheit, Fraktionen vertreten widernatürliche Standpunkte. Es ist zu betonen, daß es sich hierbei keineswegs um bloße stalinistische Deformationen handelt. Karl Marx selbst dachte, im Sinne der das 19. Jahrhundert beherrschenden Traditionen, in globalem Maßstab, sowohl was die Klassenstruktur als auch was Geschichtsepochen angeht. Wenn also in
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NETZSCH, in: H. MEHRINGER — G. MERGNER (Hg.), Debatte um Engels, Bd. l, Reinbek 1973, S. 57 f. O. NEGT, Marxismus als Legitimationswissenschaft. Zur Genese der stalinistischen Philosophie, in: N. BUCHARIN — A. DEBORIN, Kontroversen über dialektischen und mechanistischen Materialismus, Frankfurt 1974, S. 36.
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der sowjetischen Praxis auf der allgemeinen Verbindlichkeit der Erkenntnisse und Beschlüsse der zentralen Parteiführung beharrt wird, ist die Berufung auf Marxsche Theorien wohl vertretbar. Albrecht Wellmer hat festgestellt, daß noch auf einem weiteren Gebiet die Praxis von Stalins Sowjetunion nicht als Deformation infolge Untreue oder Unfähigkeit, sondern als vertretbare Weiterführung Marxscher Konzepte zu erkennen ist. Dessen zunächst von Hegel inspirierte Arbeitstheorie enthält bereits die Keime für Stalins Lesart, nämlich die Interpretation der Arbeit als zweckrationaler technischer Verfügung über Naturprozesse. Marx' Theorie der Arbeit wäre dann jener Punkt, „an dem sich der Umschlag der dialektischen Geschichtslogik des absoluten Geistes in eine Entwicklungsmechanik des Vulgärmarxismus ankündigt"12. Die Hintansetzung des Subjekts in diesen Auffassungen liefert den theoretischen Hintergrund für Achtlosigkeit im Umgang mit dem Einzelmenschen, dessen Gewicht gering erscheint im Vergleich mit der Wichtigkeit objektiver, naturgesetzlicher Prozesse. Nicht-Menschlichkeit kann in Un-Menschlichkeit übergehen, Manipulation ist legitimiert, ein Parteibeschluß erhält die Funktion einer technischen Norm, und ein Schriftsteller wird zum „Ingenieur der menschlichen Seele". Prag Die Theorie des Prager Reformmarxismus nahm ihren Marxismus ernst. Ihre Bezogenheit auf die bestehende und die für die unmittelbare Zukunft gewünschte Praxis ist deutlich erkennbar. Wichtige Aspekte des Vorgefundenen wurden nicht in Frage gestellt: daß die Tschechoslowakei zur sowjetischen Sphäre gehört, militärisch mit Moskau liiert bleibt, Teil des RGW-Systems und getrennt vom konvertiblen Währungssystem des Westens ist. Die als sozialistisch verstandene Umwandlung der Gesellschaft, einschließlich dessen, was man sozialistisches Eigentum an Produktionsmitteln nannte, sowie die führende Rolle der Kommunistischen Partei sollten nicht rückgängig gemacht werden. Die angestrebten Änderungen wurden als Reformen verstanden; man akzeptierte die sowjetisch-amerikanische Dichotomie und sah ein, daß grundlegende Änderungen nicht ohne einen Weltkonflikt möglich sind, den man nicht wünschte. Das System sollte also im wesentlichen bestehen bleiben, jedoch menschlicher gemacht werden, und zwar nicht nur durch Abschaffung dessen, was man die Methoden der Zeit des Personenkults nannte, sondern auch durch Reduktion der Bürokratie und ihrer Anonymität. Die Notwendigkeit der Zensur wurde in Frage gestellt, und zwar mit der Begründung, der Sozialismus 12
A. WELLMER, Kritische Gesellschaftstheorie und Positivismus, Frankfurt 1977 (zuerst 1969), S. 68.
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sei überzeugend genug, um sich zu behaupten. Auf ökonomischem Gebiet sollten Eigentumsverhältnisse im wesentlichen unverändert bleiben, jedoch mehr Raum geschaffen werden für Privatinitiativen und wirksame Arbeitervertretung. Im Verhältnis zur Sowjetunion schließlich sollten Möglichkeiten gefunden werden für einige Selbständigkeit auf Grund nationalspezifischer Traditionen und Bedürfnisse. Schon diese verkürzte Skizze dürfte auf den ersten Blick den gemeinsamen theoretischen Nenner erkennen lassen, um den es ging: mehr Freiraum und höheren Stellenwert für das Subjekt. Karel Kosiks „Dialektik des Konkreten"13,1960—1961 entstanden, fügt sich deutlich in diesen gesellschaftlichen Wirklichkeitskontext ein als eine davon ausgehende und darauf bezogene theoretische Stellungnahme. Kosik wendet sich gegen die Annahme einer „autonome [n] Existenz der Produkte des Menschen und die Reduzierung des Menschen auf das Niveau der utilitaristischen Praxis" (19) als fetischistische „Pseudokonkretheit", die man durch das Denken aufheben muß, um zur Konkretheit zu gelangen. „Die Dialektik ist das kritische Denken, das ,die Sache selbst' ergreifen will und systematisch fragt, wie man zum Ergreifen der Wirklichkeit kommen kann" (15). Die Dialektik ist für Kosik also sowohl kritisches Denken, als auch auf die Praxis bezogen. „Damit die Welt ,kritisch' erklärt werden kann, muß sich die Erklärung selbst auf den Boden der revolutionären Praxis stellen" (17). Was als Polemik gegen den Strukturalismus formuliert ist, trifft auch sowjetische Auffassungen: „Wenn die Erkenntnis die Destruktion der Pseudokonkretheit nicht vollbracht ... hat, ... gerät sie in den Bann fetischistischer Anschauungen ... Die gesellschaftliche Wirklichkeit wird ... als Summe autonomer Strukturen aufgefaßt, die sich gegenseitig beeinflussen. Das Subjekt ist verschwunden, ... der Mensch als gegenständlich-praktisches Subjekt ist ersetzt durch ein mythologisiertes, verdinglichtes, fetischisiertes Subjekt: die autonome Bewegung der Struktur", die gesellschaftliche Wirklichkeit werde dann „nur in der Form des Objektes, fertiger Ergebnisse und Fakten, nicht aber subjektiv als gegenständliche menschliche Praxis" (57) gesehen. Der zentrale Punkt von Kosiks Dialektikauffassung ist die Ablehnung einer subjektlosen Dialektik. Die Subjekt-Objekt-Dialektik ist ihm notwendiger Bestandteil jeder Dialektik überhaupt. „Was verwirklicht der Mensch in der Geschichte? ... Den Gang der Notwendigkeit? In der Geschichte realisiert der Mensch sich selbst. Nicht nur, daß er vor der Geschichte und unabhängig von ihr nicht weiß, wer er ist; sondern erst in der Geschichte ist er überhaupt Mensch" (233 f.). „Die objektive gesellschaftliche Substanz 13
K. KOSIK., Dialektik des Konkreten. Aus dem Tschechischen von M. HOFFMANN, Frankfurt 1973 (zuerst 1967). Ziffern nach Zitaten im Text bezeichnen Seiten dieser Ausgabe.
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in der Gestalt der materiellen Produktionskräfte, der Sprache und der Denkformen ist vom Willen und Bewußtsein der Einzelnen unabhängig, existiert aber nur durch ihre Tätigkeit, ihr Denken und ihre Sprache" (235). „Die Menschen handeln in den Verhältnissen, und im praktischen Handeln geben sie ihnen Bedeutung" (238). Von den Implikationen dieses Konzepts ist festzuhalten: Im Vergleich zu den oben dargelegten sowjetischen Theorien liegt die Betonung auf der lebendigen und schöpferischen Tätigkeit des Subjekts, wobei dieses Subjekt zwar als ein gesellschaftliches, jedoch zugleich als ein individuelles verstanden wird. Die Nichtanerkennung einer unabhängigen Dialektik der Natur muß zugleich bedeuten, daß sich gesellschaftliche Prozesse weder als Naturprozesse abspielen noch daß sie ein für allemal entdeckbar und zentral lenkbar sind — ein für die gesellschaftliche Praxis folgenreicher Schluß. Einen hohen Stellenwert in Kosiks Dialektikauffassung erhält die Kunst. „Das Kunstwerk ist zweifellos gesellschaftlich bedingt. Aber das nichtkritische Denken verwandelt diese Beziehung in den bloßen Zusammenhang von gesellschaftlicher Wirklichkeit und Kunst und verzerrt damit sowohl den Charakter der Kunst als auch den der gesellschaftlichen Wirklichkeit" (136). Das Kunstwerk ist eine Bedeutungsstruktur, „deren Konkretheit in ihrer Existenz als einem Moment der gesellschaftlichen Wirklichkeit beruht", es ist nicht Zeugnis oder Spiegelung einer Wirklichkeit außerhalb seiner selbst, sondern „ein konstitutives Element der Menschheit, der Klasse und des Volkes" (136 — 138). Seine Natur ist „seine Fähigkeit, sich zu konkretisieren und zu überleben" (138). Kreativität als integraler Bestandteil der objektiven Welt: in diesem Postulat ist einer der wichtigsten Unterschiede zwischen sowjetischen und reformmarxistischen Marxismusvarianten enthalten. Die einen orientieren sich auf Stabilisierung, die anderen auf Selbständigkeit und Erneuerung. Die Einbeziehung der Kunst als eines Gebietes, auf dem theoretische Fragen von zentraler Bedeutung aufgeworfen werden, war ein spezifisches Merkmal der Prager Reformbewegung. Hier kam manches zusammen. Vor allem: Kunstwerke sind nicht auf theoretisch relevante Aspekte reduzierbar, sondern vielschichtig; sie vermitteln zusätzliche menschliche Dimensionen, schöpfen aus dem Reichtum des Spektrums individueller Subjekte jenseits von Gesetzlichkeit und Prozeßbewegungen. In der Tschechoslowakei gab es diesbezüglich bereits eine Tradition: In der 1918 gegründeten Ersten Republik hatten sich besonders viele modernistische Kunsttheoretiker und Künstler zum Marxismus bekannt oder waren der kommunistischen Bewegung nahe gewesen, so daß in ihren Werken Fragen der Wechselbeziehungen zwischen marxistischer Philosophie und Kunst naturgemäß eine bedeutende Rolle gespielt hatten. Außerdem blieb in den Jahren des sogenannten Personenkults, des strengen politischen Gehör-
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sams, gerade auf dem Gebiet der Kunst, in Bild und Metapher, noch immer etwas Raum für oppositionelle Haltungen, übrigens von den Autoritäten durchaus erkannt und in seiner Funktion als Sicherheitsventil weitgehend geschätzt. Auch die langwährende Tradition, daß die tschechischen Schriftsteller sich als Gewissen der Nation verstehen und in Oppositionsbewegungen politisches Gewicht haben, wäre zu vermerken. Im Verlauf der Prager Reformbestrebungen diente die erhöhte Aufmerksamkeit für Fragen der Kunst als Vorstoß in einer zusätzlichen Richtung: Die Versuche, ein breites Spektrum moderner Kunstbewegungen als innerhalb sozialistischer Kultur und Gesellschaft verwertbares Erbgut zu interpretieren, zielten auf eine theoretische Begründung des Rechts auf pluralistische Aneignung des kulturellen Erbes hin und enthielten so implizite eine Kritik jedes starren zentralistischen Führungsanspruchs. Das entsprach auch dem Grundkonzept des erklärten Ernstnehmens des Marxismus als der fortschrittlichsten Ideologie, einer Ideologie, die dementsprechend die Fähigkeit haben oder entwickeln mußte, mit der modernen Kunst, der elektronischen Datenverarbeitung oder der modernen Genetik zu Rande zu kommen. Hierher gehören zum Beispiel Kalivodas Bemühungen um die Integrierung des Strukturalismus und der Psychoanalyse oder Chvatiks Schriften über den Prager Strukturalismus und die künstlerische Avantgarde14. Auch bei Kosik sind Tendenzen zur Erweiterung des verwertbaren Erbespektrums zu beobachten. Den Strukturalismus lehnt er zwar ab, versucht jedoch andererseits, Husserl, Heidegger und den Existentialismus für eine marxistische Theorie nutzbar zu machen. Es sei vermerkt, daß Kosik das Thema der Entfremdung nur am Rande streift, ein Thema, dem Vertreter verwandter Positionen, wie die jugoslawische Praxisgruppe oder Ernst Fischer, erhöhte Aufmerksamkeit widmen und das auch im Prager Reformprozeß kurz nach der Entstehung von Kosiks Arbeit, nämlich nach der Kafka-Konferenz des Jahres 1963, zur Debatte stehen sollte. Kosiks Argumentation konzentriert sich vorerst auf die große Perspektive, indem er seine Geschichtskonzeption von der Voraussetzung einer künftigen kommunistischen Gesellschaft her aufbaut. Hier bietet er Neues mit seinem Versuch, eine Synthese der ideologischen und der objektiv natürlichen Konzeption zustandezubringen15, wobei er alle Zweifel an der Theorie vom Fortschritt in der Geschichte als romantisch ablehnt. Der in diesen Haltungen zum Ausdruck kommende Optimismus läßt sich ebenfalls in den Zusammenhang des von uns hier vertretenen Praxisbezugs seiner Theorie einordnen. Dahinter steht die Überzeugung, daß die 14
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Vgl. R. KALIVODA, Der Marxismus und die moderne geistige Wirklichkeit, Frankfurt 1970; K. CHVATIK, Strukturalismus und Avantgarde, München 1970. S. A. HELLER, On the New Adventures of the Dialectic, Telos 31 (1977), S. 142.
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marxistische Denkreform dann zur materiellen Gewalt werden wird, wenn sie sich als die richtige Variante durchsetzt, zwar kraft ihrer Richtigkeit, doch durchaus auch unter Benutzung des ideologischen Verbreitungs- und Verwaltungsnetzes der regierenden Macht. Die führende Rolle der Partei ist Voraussetzung, man muß ihr nur die richtige Theorie liefern, damit sie diese Rolle mit Recht ausübt. Diese Denkweise hat auch den Umstand zur Voraussetzung, daß philosophische und literarische Werke zwar genehmigt werden mußten und auch retrospektiv gefährlich werden konnten, daß aber zugleich alles zum Druck Durchgesetzte die Aura einer überpersönlichen, gesellschaftlich wirksamen Tat erwarb. Die Zuversicht der Prager Reformmarxisten, daß ihre Theorien die zeitgemäße Weiterführung des Marxismus repräsentieren, führte zu letzten Endes unüberwindlichen taktischen Schwierigkeiten gegenüber der Moskauer Machtzentrale. Diese ergaben sich einerseits daraus, daß im Moskauer Verständnis der Marxismus eine einheitliche, allgemein verbindliche Ideologie darstellt und daß dementsprechend entweder Prag anerkennt, daß Moskau recht hat, oder Moskau anerkennen muß, daß Prag recht hat; die These ernstnehmend, daß es sich bei der marxistischen Theorie primär um maximalen Wahrheitsgehalt handeln muß, haben manche Vertreter der Prager Reformtheorie naiverweise das letztere erwartet, wenn auch möglicherweise nur für den Bereich der Tschechoslowakei selbst. Andererseits bestand das Problem darin, daß sich die Prager Theorie in ihrer Präsentation ungewollt im provokativen Kontrast darstellte. Wenn sich der Prager Sozialismus als Sozialismus mit menschlichem Antlitz vorstellt, bleibt nur die Schlußfolgerung, daß das Antlitz des sowjetischen Sozialismus unmenschlich ist. Wenn die Prager Theorien zeitgemäß, wirklich dialektisch und daher wahrhaft marxistisch sind, ergibt sich daraus, daß die Moskauer Theorien als unzeitgemäß, undialektisch und daher unmarxistisch einzustufen sind. Auch wenn man davon absieht, daß solche Implikationen für die Sowjetunion vom Standpunkt ihrer Praxis her unannehmbar bleiben mußten, bleibt die Frage offen, ob diese Projektion theoretisch richtig war angesichts der Tatsache, daß das sowjetische Modell als Theorie für die sowjetische Praxis seine Überlebensfähigkeit erwiesen hat. Die Prager Theorien sind bekanntlich nicht zur materiellen Gewalt geworden. Sie haben es nicht vermocht, gegenüber der Praxis der Panzer von 1968 ihre Richtigkeit zu beweisen. Frankfurt Die Beziehungen zwischen den Theorien der Prager Reformmarxisten und jenen der Frankfurter Schule sind vielfach verschlungen. Neben parallelen Fragestellungen ließen sich auch Momente aufzeigen, wo die Bereicherung durch Widerspruch geschah.
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Die wichtigste Entsprechung, nämlich die von Vertretern der Frankfurter Schule wiederholt aufgegriffene Polemik gegen naturdialektische Auffassungen, findet sich bereits in Lukacs' „Geschichte und Klassenbewußtsein" vorgeformt. Zu Engels' „Anti-Dühring" heißt es da: „die wesentlichste Wechselwirkung: die dialektische Beziehung des Objekts und Subjekts im Geschichtsprozeß wird nicht einmal erwähnt"16. Der frühe Horkheimer spricht vom „freien, das gesellschaftliche Leben bewußt gestaltenden Subjekt ... dieses Selbst ist nichts anderes als die ihr Sein selbst regelnde, rational organisierte sozialistische Gesellschaft"17 — in einem Kontext, wo von Kapitalismus, Sozialismus, Proletariat und Klassenkampf (jedoch nicht von einer Diktatur des Proletariats) die Rede ist, sowie von Raum für schöpferische Initiative auf Grund spezifischer historischer und struktureller Bedingungen. Jürgen Habermas kritisiert (1957) Lenins Abbildtheorie wie folgt: „Subjekt und Objekt verhalten sich im Erkenntnisprozeß undialektisch ... weder die Entwicklung der Natur noch deren Erkenntnis sind durch das lebendige Tun der Menschen vermittelt. Die Einheit von Subjekt und Objekt ist in Ansehung der Natur und der Naturerkenntnis ebenso aufgehoben wie die Einheit von Theorie und Praxis in Ansehung der Geschichte"18. In seinem Aufsatz über „Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik" (1963) bekräftigt er, „daß der von Subjekten veranstaltete Forschungsprozeß dem objektiven Zusammenhang, der erkannt werden soll, durch die Akte des Erkennens hindurch selber zugehört"19; im selben Aufsatz führt er noch aus, daß das Objekt der Erkenntnis über das Subjekt vermittelt, das Subjekt selbst aber Teil der zu erkennenden Objektivität ist. Neben Alfred Schmidt, der seine Opposition gegen das Konzept der Naturdialektik etwa zur selben Zeit wie Kosik entwickelt haben muß20, sei abschließend nur noch Herbert Marcuse mit seiner Verurteilung einer „subjektunabhängigen ,Naturdialektik', einer enthistorisierten, versteinerten Dialektik"21 erwähnt. Eine andere Entsprechung hängt damit zusammen, daß die den beiden Schulen gemeinsame Ablehnung einer Philosophie, welche das Subjekt verdrängt, auf vergleichbare ethische Impulse zurückgeht. Dem Menschlichen, der Humanität soll ihr Recht werden, die Kritik gilt der Vorherr16 17
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G. LUKACS, Werke, Bd. 2, Neuwied 1968, S. 173. Erstveröffentlichung: Zürich 1934, zitiert nach: M. HORKHEIMER, Notizen 1959 — 1960 und Dämmerung. Notizen in Deutschland, Frankfurt 1974, S. 270. J. HABERMAS, Theorie und Praxis, 4. Aufl., Frankfurt 1971, S. 396. TH. W. ADORNO u. a., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Neuwied 1972, S. 156. S. Anm. 10. Vgl. H. MARCUSE, Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, Neuwied 1964, S. 140 ff.
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schaft entmenschlichter Bewegungsprozesse. Frankfurt konzentriert sich, besonders in der unmittelbaren Nachkriegsphase, auf eine „Kritik der instrumenteilen Vernunft"; in der „Dialektik der Aufklärung" wird Stellung genommen gegen die Wissenschaft als technische Übung, die von der Reflexion über die eigenen Ziele weit entfernt ist22. Zugleich beginnt sich in dieser Zeit jedoch die Orientierung auf eine verändernde Praxis zu verlieren. Die Kritik der „verwalteten Welt" wird resignativ, und die Kritik der technischen Zivilisation kann — besonders bei Herbert Marcuse, wie Lucio Colletti zeigt23 — als eine Ablehnung der Technik, Industrie und Wissenschaft überhaupt interpretiert werden, also als eine mit den Denkansätzen der Frankfurter Schule unvereinbare Maschinenstürmerei. Eine weitere wichtige Entsprechung findet sich in der Suche nach einer aktualisierenden Umwandlung der überholten Elemente der Marxschen Lehre unter gleichzeitiger Beharrung auf der marxistischen Theorie als Ganzem24. Das Unbehagen der Frankfurter Denker betraf vor allem den Umstand, daß es im Westen zu keiner Revolution gekommen war; die Arbeiterklasse des zwanzigsten Jahrhunderts entspricht nicht mehr dem armen und freien Lohnarbeiter, sondern ist ökonomisch differenziert und weitgehend im System integriert. „... der größere Teil der arbeitenden Klassen wurde zu einem positiven Bestandteil der etablierten Gesellschaft gemacht... Die Entwicklung der kapitalistischen Produktivität brachte ... die Entwicklung des revolutionären Bewußtseins zum Stillstand" (Herbert Marcuse)25. Dafür kam es zu Revolutionen in weniger entwickelten Ländern, wonach sich dort der Sozialismus auf den Weg der Industrialisierung begab26. Daraus ergab sich die Notwendigkeit, den Theoriebegriff des Klassenkampfes neu zu durchdenken, um seiner Latenz beziehungsweise seinen neuen Formen gerecht zu werden. Hinzu trat das Unbehagen an wesentlichen Elementen der sowjetischen Auffassungen, wie dem Beharren auf ursprünglichen Bezeichnungen wie eben Klassenkampf oder proletarische Revolution trotz des Verschwindens ihrer Praxissubstanz. Auch in Prag versuchte man, den Marxismus zu bewahren, ohne dessen überholte Elemente mitzuschleppen. Die theoretischen wie praktischen Reformbestrebungen zielten jedoch mehr darauf hin, sich von solchen Momenten der sowjetischen Weiterentwicklung zu distanzieren, die auf die Spezifik der ökonomisch-politischen Geschichte und die nicht-abendländischen Tra22 23 24
25 26
M. HORKHEIMER - TH. W. ADORNO, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt 1969, S. 92. L. COLLETTI, Marxismus und Dialektik, Frankfurt 1977 (Original: 1974), S. 67 f. Entwicklungen nach 1968, also nach dem Ende der Prager Reformversuche, werden hierbei nicht berücksichtigt. H. MARCUSE, Vernunft und Revolution, Neuwied 1972, S. 372. Vgl. ALBRECHT WELLMER, Kommunikation und Emanzipation, in: U. JAEGGI — A. HONNETH (Hg.), Theorien des historischen Materialismus, Frankfurt 1977, S. 472 f.
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ditionen des Landes der siegreichen Revolution zurückzuführen sind. Da man dabei davon ausging, daß die Tschechoslowakei unwiderruflich zu den Ländern gehört, in denen die Umwälzung bereits stattgefunden hatte, gerieten Fragen nach der Möglichkeit einer Revolution in industriell entwickelten Ländern in den Hintergrund. Neu in den Vordergrund traten in Prag Ethik und teilweise Anthropologie, unter gleichzeitiger Verdrängung der Kategorie der Basis; in diesem Punkt berührt sich dann Kosik wiederum mit den Verfassern der „Dialektik der Aufklärung". Eine letzte Gemeinsamkeit, die hier noch angeführt werden soll, besteht darin, daß beide Auffassungen die Dialektik als kritische Theorie verstehen. Kosiks Denken ist, in enger Entsprechung zu Adorno, stark ideologiekritisch gefärbt. Zugleich ist allerdings ein nicht unwesentlicher Unterschied zwischen beiden zu verzeichnen. Kosiks Ideologiekfitik ist zugleich praxisbezogen. Seine Ablehnung strukturalistischer wie auch sowjetischer Variationen falscher Konkretheit ist, wie wir bereits auszuführen versuchten, gekoppelt mit dem Vertrauen in die Anwendbarkeit und Wirksamkeit der Theorie in der gesellschaftlichen Praxis. Fassen wir kurz die Entwicklung der Frankfurter Konzepte ins Auge, so ergibt sich etwa das folgende Bild: Mitte der dreißiger Jahre ist bei Horkheimer die Orientierung auf die verändernde Praxis sowie auf die Einheit von Theorie und Praxis zu verzeichnen. Zugleich kann man in bezug auf die Subjekt-Objekt-Dialektik bereits in diesem Stadium gedankliche Krisenpunkte feststellen. Kosik kritisiert die Auffassung Horkheimers und Marcuses, daß die Philosophie durch die Verwirklichung der Vernunft gegenstandslos würde. „In der dynamischen Terminologie verbirgt sich ein statischer Inhalt; die Vernunft ist historisch und dialektisch nur bis ... zur Epoche der Wende, nach der sie sich in überhistorische und nichtdialektische Vernunft verwandelt" (168). Auch die Frankfurter Theorie, daß die Philosophie durch Verwandlung in eine dialektische Gesellschaftstheorie aufgehoben wird, kritisiert er als undialektisch, denn so wäre die Praxis „nicht mehr die Sphäre der Vermenschlichung des Menschen, nicht mehr die Bildung der gesellschaftlich-menschlichen Wirklichkeit und zugleich das Offensein des Menschen gegenüber dem Sein und der Wahrheit der Dinge, sondern Verschlossenheit" (173) — „der Mensch wird zum Gefangenen seiner Gesellschaftlichkeit" (174). Mit dem Schwinden der Zuversicht, daß sich die Theorie wirksam anwenden läßt, verzichtet die Frankfurter Schule auf das Proletariat als Subjekt für verändernde Praxis. Sie konzentriert sich, nachdem sie sich auf diese Weise konkreter, wenn auch suspekter Bezugspunkte entledigt hat, auf generelle kritische Negation. In Marcuses „Vernunft und Revolution" liest man: „Die Methode der Dialektik ist eine Totalität, worin ,die
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Negation und Zerstörung des Bestehenden' in jedem Begriff erscheint"27. Diese Entwicklungstendenz kulminiert in der Negativen Dialektik Adornos, die eine Dialektik des Denkens allein bleibt. Sie versteht sich als „Negation der Negation, welche nicht in Position übergeht. Dialektik ist das Selbstbewußtsein des objektiven Verblendungszusammenhangs, nicht bereits diesem entronnen"28. Eine Negation ohne Aufhebung also, eine totale Negation, allerdings ohne einen Bezug zur geschichtlich-gesellschaftlichen Praxis. Als die zur Zeit einzig noch legitime Praxis bezeichnet Adorno die Theorie29, verzichtet allerdings auch hier auf mögliche Orientierungspunkte: er akzeptiert weder eine Theorie des Fortschritts noch letzten Endes das Konzept der Geschichte selbst. Die einzige Möglichkeit der Philosophie sieht er in der ständigen Negation aller Versuche, Identität, Systeme, Perspektiven und Traditionen konzeptuell zu etablieren. Eine Dialektik kommt ans Ende ihres Weges: sie lehnt es ab, den Schritt von der Negation zur Position zu tun. Es wäre zu fragen, inwieweit hier noch von Dialektik die Rede sein kann. Später folgt noch der Versuch, ein neues Subjekt der Veränderung zu finden: Studenten, Wissenschaftler, Intellektuelle. Deren Rebellion ist dann, hierin keineswegs im Widerspruch zu den Frankfurter Ideen, Negation ohne positives Programm, Destruktion ohne Konstruktion. Ein Weg über den Status quo hinaus öffnet sich nicht. So kann dieser Protest nicht nur toleriert, sondern auch integriert werden. Übrigens ist die Ineffizienz einer bloß negativen Haltung bereits 1930 im Schicksal einer literarischen Gestalt antizipiert worden. In Thomas Manns Novelle „Mario und der Zauberer" findet sich ein Herr aus Rom ein, der sich der hypnotischen Gewalt des Zauberers Cipolla entgegenstellt. In der Negation ist seine Stellungnahme eindeutig und klar umrissen. Eine Gegenposition bringt er jedoch nicht mit. Es steht fest, was er nicht will, sein Wollen beschränkt sich auf das Nichtwollen. In der Konfrontation, der Praxis, zieht er dann den kürzeren. Er scheitert, wie Thomas Mann klarmacht, an der „Negativität seiner Kampfposition"30. Die Differenzen zwischen den drei hier herangezogenen Dialektikmodellen sind wesentlich mit dem gesellschaftlichen, politisch-historischen Unterschied zwischen den Herrschaftssystemen erklärbar, in denen sie entstanden sind und sich entwickelt haben. Es ist dabei notwendig, diesen 27
S. 353.
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TH. W. ADORNO, Negative Dialektik, in: Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt 1973 (zuerst 1966), S. 398. H. SCHWEPPENHÄUSER bezeichnet dies merkwürdigerweise als ein authentisch marxistisches Element AoORNOscher Theorie (s. T. KOCH u. a., Negative Dialektik und die Idee der Versöhnung, Stuttgart 1973, S. 69 und 88). TH. MANN, Sämtliche Erzählungen, Frankfurt 1963, S. 558.
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Praxisbezug in seiner Gesamtheit zu erfassen, indem ihm zusammen mit dem gegebenen Zustand auch die Perspektive zuzuordnen ist, und zwar sowohl die real gegebene als auch die als möglich gedachte Perspektive. Hier bleibt Raum für überprüfendes Weiterdenken. Das Prager Modell entstand auf dem Hintergrund einer als real angenommenen Perspektive praktischer Anwendbarkeit. Daß sie sich als vorläufig irreal erwiesen hat, steht in diesem Zusammenhang auf einem anderen Blatt. Das Frankfurter Modell weist ebenfalls einen Praxisbezug auf: einen Praxisbezug per negationem, auf eine Gesellschaft, in der die reale Perspektive einer Veränderung im Marxschen Sinne innerhalb des gegebenen Perspektivhorizonts nicht mehr gegeben ist. Es läßt aber dabei, sowohl an seiner resignativen Färbung wie auch an seinen theoretischen Innovationen, die relative Freiheit von Bindungen ablesen, den Mangel an Zwang zum Zielgerichtetsein, als dessen Folge sich Möglichkeiten öffnen, welche den praxisabhängigen, auf unmittelbare konkrete Durchführbarkeit gebundenen Modellen von Moskau und Prag verschlossen blieben. Damit ist nicht nur eine gewisse suchende Verlorenheit verknüpft, sondern zugleich der Raum für eine entscheidende Freiheit zum Verlassen festgefahrener methodischer Ansätze, zum schöpferisch kritischen Denken. Auch dies ist eine Perspektive, vielleicht eine von entscheidender Wichtigkeit: den Freiraum innerhalb der gegebenen gesellschaftlichen Praxis nutzend, die Möglichkeiten wahrzunehmen für die Entwicklung eines zukünftigen, heute noch nicht antizipierbaren Neuen.
DICK HOWARD (Stony Brook/New York)
Hermeneutik und kritische Theorie: Aufklärung als Politik 1. Die Frage der Begründung einer Politik In einem als Anhang zu Bernsteins Beyond Objectivism and Relativism gedruckten Brief nennt Gadamer den Unterschied zwischen ihm und Habermas einen politischen. Es handelt sich hierbei selbstverständlich weder um einen parteipolitischen noch um einen weltanschaulichen Unterschied. Es geht vielmehr um die Bedingungen der Möglichkeit einer praktischen Philosophie. Habermas meint, moderne Gesellschaften seien nicht mehr diejenigen sittlichen Einheiten, die einen unvermittelten Übergang von der Ethik zur Politik ermöglichen. Statt dessen ist unter heutigen Bedingungen ein Übergang von der praktischen Philosophie zur Sozialwissenschaft erforderlich. Gadamer lehnt diese Analyse ab. Er betont, daß soziale Solidaritäten existieren; wir leben nicht in einer von Sozialingenieuren oder Tyrannen beherrschten Gesellschaft. „Plato hat das sehr gut gesehen: es gibt keine noch so verdorbene Stadt, in der nicht doch noch etwas von der wahren Stadt wirklich ist." Und, fährt Gadamer fort, „darauf beruht, meine ich, die Möglichkeit der praktischen Philosophie", d. h. die phronesis.^ Die Frage ist, wie man die eine oder die andere dieser Behauptungen begründet. Das Buch von Bernstein ist ein bemerkenswerter Versuch, die verschiedenen Fäden der gegenwärtigen Philosophie durch eine Analyse der Modernität, die er mit dem Begriff der „Cartesianischen Angst" bezeichnet, zusammenzufassen. Derjenige, der die kritische Theorie der frühen Frankfurter Schule kennt, erkennt hier den Versuch, Horkheimers Unterscheidung zwischen traditioneller und kritischer Theorie immanent zu begründen. Obwohl sie sich in Methoden und Darstellungsweisen unterscheiden, teilen Bernstein und Horkheimer ein politisches Ziel: in Bernsteins Worten, ohne die „theoretische Selbstsicherheit oder das revolutionäre Selbstvertrauen" von Marx dennoch uns „der praktischen Aufgabe zu widmen, die 1
RICHARD J. BERNSTEIN, Beyond Objectivism and Relativism. Science, Hermeneutics and Praxis (Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 1983), S. 264.
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Solidarität, die Teilnahme und das reziproke Urteil aller" weiterzutreiben, um wirklich jenseits des Objektivismus und Relativismus zu gelangen.2 Leider haben weder Horkheimer noch Bernstein diesen politischen Imperativ philosophisch begründet. Es wäre allerdings falsch, das Verhältnis zwischen kritischer und hermeneutischer Theorie so zu beschreiben, als ob die erstere eine vollkommen moderne Theorie sei, während die letztere durch ihre Beschränkung auf Tradition und Vorurteil eine nur externe und irrational begründbare Theorie wäre. Gadamers Antwort auf eine derartige Kritik nimmt vielmehr explizit auf Horkheimer und Adorno's Dialektik der Aufklärung und Lukacs' Geschichte und Klassenbewußtsein bezug.3 Er versucht, den echt-geschichtlichen Charakter einer philosophisch-begründeten Hermeneutik, die nicht in die Naivitäten des 19. Jahrhunderts zurückfällt, aufzuzeigen. Er schreibt: „Ein wirklich historisches Denken muß die eigene Geschichtlichkeit mitdenken ... Der wahre historische Gegenstand ist kein Gegenstand, sondern die Einheit des Einen und Anderen, ein Verhältnis, in dem die Wirklichkeit der Geschichte ebenso wie die Wirklichkeit des geschichtlichen Verstehens besteht. Eine sachangemessene Hermeneutik hätte im Verstehen selbst die Wirklichkeit der Geschichte aufzuweisen."4 Das immanente Verhältnis des geschichtlichen Verstehens und des geschichtlich gegebenen Gegenstandes erlaubt es nicht, sich bei der Erklärung der Genesis oder Gültigkeit des hermeneutischen Wissens auf externe Normen zu berufen. Wir begegnen hier noch einmal der Frage der Begründung einer modernen Philosophie.5 Der Preis dieser Umwandlung der Hermeneutik in eine moderne Philosophie wird damit bezahlt, daß die ontologische Tarnung der Begründungsfrage bloßgelegt wird. Gadamers Herme-
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Ibid., S. 231. HANS-GEORG GADAMER, Wahrheit und Methode, vierte Auflage (Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck, 1975), S. 258, 259. GADAMER kritisiert den Versuch von HORKHEIMER und ADORNO, den Begriff der Aufklärung bis zur Odyssee geltend zu machen. Damit verwirft er implizit den Begriff der „instrumentellen Vernunft", zu dem wir später kommen werden. Ibid., S. 283. Die moderne Hermeneutik will keine Bewußtseinsphilosophie wie den Historismus, DILTHEYS Einfühlungsphilosophie oder die soziologische Methode des Verstehens aufbauen. Sie verstrickt sich dann in einen Zirkel, aus dem sie dadurch herauskommt, indem sie die Paradoxie der eigenen Lage in eine ontologische Tugend verwandelt. Wir können die Frage der Begründung darum nicht stellen, weil diese Begründungen unser Sein-alsFrage begründen. Wir können die Frage des Ursprungs nicht stellen, da wir immer schon unterwegs sind. Ob dieser Zirkel sich als ontologisch versteht (GADAMER) oder linguistisch (APEL), das Dilemma bleibt dasselbe. Die Philosophie darf aber nicht die Frage der Begründung ausschließen, ohne sich dem Vorwurf des Irrationalismus auszusetzen.
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neutik, wie die Politik der kritischen Theorie, muß philosophisch begründet werden. Vom Standpunkt der politischen Theorie erinnert Gadamers Beschreibung einer „sachangemessenen Hermeneutik" an Hegels Behauptung, die echte Geschichte sei nur diejenige der Staaten.6 Die kritische Theorie sowie die Hermeneutik stammen aus dieser Tradition des Deutschen Idealismus. Die Kantische Kritik baute auf eine Paradoxie, die sich in der Ambiguität des Genitivs im Titel ausdrückt. Wer kritisiert? Die Vernunft? Wie legitimiert sich diese Kritik? Oder aber, wird die Vernunft kritisiert? Aber wer oder was kritisiert? Mit welcher Begründung kritisiert er oder es? Oder kritisiert man die Behauptung, es gäbe so etwas wie eine „reine" Vernunft? Aber wie ist es dann mit der Kritik der „praktischen" Vernunft? Hegel löst die Schwierigkeiten dadurch, daß er die Kritik sowohl als Begründung der Möglichkeit von Erfahrung wie der Möglichkeit von Erkenntnis auffaßt. Damit aber wird Epistemologie Ontologie. Aber, fragt die ontologische Logik Hegels, „Womit muß der Anfang der Wissenschaft gemacht werden?"7 Das heißt, die Frage der Begründung und die Frage des Anfangs sind immanent miteinander verbunden.8 So aber scheint die Politik ausgeschlossen. Insofern ist Hegel nur konsequent, wenn er seine Staatstheorie in die Weltgeschichte als Weltgericht ein- und ausmünden läßt.9 Doch kommen wir nun zur kritischen Theorie und zu Marx. Die kritische Theorie der 30er Jahre war nur ein Tarnname oder eine Chiffre für den Marxismus. Horkheimers Antrittsvorlesung von 1933 als Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung erklärt die 6
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HEGEL behauptet z. B.: „Völker können ohne Staat ein langes Leben fortgeführt haben, ehe sie dazu kommen, diese ihre Bestimmung zu erreichen, und darin selbst eine bedeutende Ausbildung nach gewissen Richtungen hin erlangt haben." Er erklärt weiter: „Aber der Staat erst führt einen Inhalt herbei, der für die Prosa der Geschichte nicht nur geeignet ist, sondern sie selbst mit erzeugt. Statt nur subjektiver, für das Bedürfnis des Augenblicks genügender Befehle des Regierens erfordert ein festwerdendes, zu Staate sich erhebendes Gemeinwesen Gebote, Gesetze, allgemeine und allgemeingültige Bestimmungen und erzeugt damit sowohl einen Vortrag als ein Interesse von verständigen, in sich bestimmten und in ihren Resultaten dauernden Taten und Begebenheiten ..." Philosophie der Geschichte, in Werke, Bd. 12 (Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag, 1970), S. 82, 83. Wissenschaft der Logik, in Werke, Bd. 5, Seite 65 ff. HEGELS berühmte Vorrede zur Rechtsphilosophie drückt gerade diese politische Impotenz der Philosophie aus. „Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug." (Werke, Bd. 7, S. 28). Eine interessante Deutung dieses Problems seitens der kritischen Theorie findet sich bei J. HABERMAS, „Hegels Kritik der Französischen Revolution", in Theorie und Praxis (Neuwied: Luchterhand, 1963). Ibid., Paragraph 340.
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Entstehung der Sozialphilosophie aus dem Deutschen Idealismus, ohne Marx auch nur zu erwähnen. Aber Horkheimers konkrete Vorschläge interdisziplinärer Untersuchungen waren ganz orthodox.10 Marx brauchte sich nicht die Frage der Begründung zu stellen. Seine Doktorarbeit ging davon aus, daß die Philosophie als solche in der Hegeischen Philosophie aufgehoben und vollendet worden ist. Die nächste Aufgabe war nun das „Weltlich-werden" dieser vollendeten Philosophie. Zwei Jahre später entdeckte Marx das Verwirklichungsfeld der Philosophie in der bürgerlichen Gesellschaft (in „Zur Judenfrage") und im Proletariat den Vollzieher und die Begründung dieser Aktion (in „Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie"}. Aber fast ein Jahrhundert später stellten die Machtergreifung des Faschismus und die Erfahrungen der russischen Revolution diese theoretischen Behauptungen in Frage. Ohne die Marxsche Garantie — entweder als proletarische Praxis oder als eine historische oder ökonomische Notwendigkeit der Umwälzung der bürgerlichen Gesellschaft — findet sich die kritische Theorie in genau der gleichen Lage wie die moderne Hermeneutik. Eine solche kritische Theorie hält fest an der Marxischen Theorie der immanenten Krisenhaftigkeit der kapitalistischen Gesellschaft, ohne aber ihre politische Praxis theoretisch oder materialistisch begründen zu können. Es entsteht also die Tendenz, empirische Evidenz mit metaphysischen Behauptungen zu verschmelzen in einem aussichtslosen Versuch, ein neues revolutionäres Subjekt hervorzuzaubern — z. B. neue arbeitende Klassen oder die Dritte Welt, die Peripherie, oder sonstweiche Koalitionen. Solche Versuche scheitern immer, aus Gründen, die sich hermeneutisch nennen lassen. Die Krise soll „immer-schon" da sein, aber die praktische politische Lösung ist nirgendwo begründet. Dieser kritischen Theorie geht es nicht besser als Gadamers angenommener, aber unbegründeter Möglichkeit der Phronesis in einer sittlichen Gemeinschaft. 2. Die Politik der Theorie In ihren definitorischen Essais der 30er Jahre versuchen Horkheimer und Marcuse nicht nur die „Bedingungen der Möglichkeit", sondern auch 10
HORKHEIMER versucht, sowohl dem Idealismus als auch einem groben Materialismus auszuweichen. Z. B., „Anders verhält es sich, wenn man die Frage in folgender Weise genauer stellt: welche Zusammenhänge lassen sich bei einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe, in einer bestimmten Zeitspanne, in bestimmten Ländern nachweisen zwischen der Rolle dieser Gruppe im Wirtschaftsprozeß, der Veränderung in der psychischen Struktur ihrer einzelnen Mitglieder und den auf sie als Gesamtheit im Ganzen der Gesellschaft wirkenden und von ihr hervorgebrachten Gedanken und Einrichtungen." „Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung," in MAX HORKHEIMER, Soyalphilosophiscbe Studien (Frankfurt am Main: Fischer Verlag, 1972), S. 44.
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diejenigen der Notwendigkeit der kritischen Theorie zu erklären. Dieser Versuch, eine objektive mit einer subjektiven Begründung zusammenzubringen, bedeutet, daß eine Hermeneutik mit einer revolutionären Praxis ins Auge gefaßt worden ist. Dieser doppelte Imperativ erklärt den Sinn, in dem Marx das transzendentalphilosophische quid juris umdeutet und aufhebt. Aber obwohl Horkheimer sich dieser philosophischen Forderung bewußt ist, weiß er nicht, wie er ihr gerecht werden kann. Zum Beispiel, als Horkheimer in einer Ergänzung zum ersten Aufsatz zur kritischen und traditionellen Theorie zurückkommt, nachdem sein erster Aufsatz heftige Diskussionen ausgelöst hatte, zeigt sich seine theoretische Verlegenheit in der bloß pathetischen Erklärung: „Aber wenn seine Begriffe, die gesellschaftlichen Bewegungen entstammen, heute eitel klingen, weil nicht viel mehr hinter ihm steht als seine Verfolger, so wird sich die Wahrheit doch herausstellen; denn das Ziel einer vernünftigen Gesellschaft, das heute freilich nur in der Phantasie aufgehoben scheint, ist in jedem Menschen wirklich angelegt."11 Der einzige angeführte Grund für diesen Glauben ist soziologisch, nicht philosophisch. Horkheimer redet von einem „existentiellen Urteil", das sich von dem „kategoriellen" des Feudalismus und dem „hypothetischen" oder „disjunktiven" des modernen Kapitalismus unterscheidet. Aber eine soziologische Begründung dieses Typs ist eher „traditionell", das Korrelat eines „cartesianischen" Subjektivismus, der als traditioneller verworfen worden war. Horkheimers Glaube kann besser durch eine gewisse Hermeneutik begründet werden! Statt wie Horkheimer von einer sozialen Theorie zu reden, stützt Marcuse seine Argumentation darauf, daß die Philosophie von Anfang an mit der menschlichen Natur zusammengewachsen sei. „Die Philosophie wollte die letzten und allgemeinsten Gründe des Seins erforschen. Unter dem Titel Vernunft hat sie die Idee eines eigentlichen Seins gedacht, in dem alle entscheidenden Gegensätze (zwischen Subjekt und Objekt, Wesen und Erscheinung, Denken und Sein) vereinigt sind. Mit dieser Idee war die Überzeugung verbunden, daß das Seiende nicht unmittelbar schon vernünftig sei, sondern erst zur Vernunft gebracht werden müsse. Die Vernunft soll die höchste Möglichkeit des Menschen und des seienden selbst darstellen. Beides gehört zusammen."12 Dieser Marcusische Idealismus beweist aber nur die Notwendigkeit, daß die Philosophie kritisch sein müsse; daß die Philosophie auch sozial oder gar politisch sein müsse, ist damit noch nicht ausgemacht. Marcuse gibt zu, daß die Verwirklichung der Vernunft nicht die Aufgabe der Philosophie sei. Der Marxismus erwartete vielmehr diese Verwirklichung vom Proletariat. Das Ausbleiben 11
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„Philosophie und kritische Theorie", in Zeitschrift für Sozialforschung, Bd. 6, S. 630. (Nachdruck bei: Deutscher Taschenbuchverlag, München, 1980.) HERBERT MARCUSE, „Philosophie und kritische Theorie", in ibid., S. 632.
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dieser Verwirklichung bestätigt das kritische Wesen der Philosophie. Damit ist aber nur die subjektive Möglichkeit der philosophischen Kritik begründet; ihre objektive Notwendigkeit bleibt zu zeigen. Die kritische Philosophie ohne das Proletariat muß eine eigene Methode entwickeln, um entmystifizierende mit positiver Kritik zusammenzubringen. In „Zum Begriff des Wesens" erklärt Marcuse seinen Begriff einer kritischen Methode. „Denn in die Grundfragen der Metaphysik nach einer letzten Einheit, Wahrheit und Allgemeinheit des Seins ist zu viel von den wirklichen Kämpfen und Sehnsüchten der Menschen eingegangen, als daß dies nicht noch in den abgeleiteten Formen zum Ausdruck käme, in denen die Tradition diese Fragen festgehalten hat."13 Die Analyse — die man eine hermeneutische nennen könnte — von solchen Begriffen entdeckt die „Phantasie" und „Sehnsucht" nach „materiellem Glück", die die Menschlichkeit des Menschen ausmachen. So fragt sich z. B. Marcuse, warum Descartes eine mechanistische Philosophie, eine analytische Geometrie sowie ein Essai über die Mechanik mit einer Philosophie verbindet, die sich auf das ego cogito gründet. Marcuse sieht hierin nicht die „Erbsünde" der subjektivistischen und dualistischen modernen Philosophie. Er ist eher der Auffassung, daß Descartes einen Bereich der Freiheit und der Autonomie gegenüber der mechanisch-rationalistischen Welt zu bewahren versucht hat. Der berühmte Satz, sich selbst eher als der Fortuna zu bemächtigen, sei nicht das Aufgeben der Freiheit, sondern der paradoxe Versuch, die Freiheit zu verteidigen. In gleicher Weise versucht Marcuse in seinem Essai „Über den affirmativen Charakter der Kultur" nicht nur eine Kritik der entfremdeten und wirklichkeitsfremden bürgerlichen Kultur; er insistiert auch auf Stendhals „promesse de bonheur", das den Traum der Freiheit wachhält, auch wenn die materiellen Bedingungen ihrer Möglichkeit nicht vorhanden sind. In dieser Weise versucht die kritische Theorie, eine hermeneutische Begründung von Horkheimers „Phantasie" und „existentiellem Urteil" zu liefern. Das Problem besteht aber darin, daß diese Mischung aus Hermeneutik und kritischer Theorie in einer Bewußtseinsphilosophie verfangen bleibt. Solch eine Theorie begründet nicht die notwendige Empfänglichkeit der Welt für die Ergebnisse der Phantasie oder des „existentiellen" Urteils. Diese Schwierigkeit entspricht genau derjenigen, die sich in der Kritik der reinen Vernunft zeigte, da Kant nicht zeigen konnte, warum die sinnliche Mannigfaltigkeit für die Kategorien des Verstandes empfänglich sein solle.14 Hegels Annahme, das Wirkliche sei auch das Rationale, versucht, diesem Imperativ gerecht zu werden. Marx' Kapital — oder auch seine 13 14
„Zum Begriff des Wesens", in Zeitschrift für So^ialforschtmg, op. dt., Bd. 5, 1936, S. 1. Vgl. die Darstellung von GEORGE SCHRADER, „The Status of Teleological Judgement in the Critical Philosophy", Kantstudien, 45, 1953-54, S. 204-235. In meinem Buch Von
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Logik der Entfremdung — stellt konkret dar, was Hegel nur annehmen konnte. Der nächste Schritt ist in Lukacs' Geschichte und Klassenbewußtsein vollzogen worden. Die Logik der Entfremdung oder die Logik der Ware und ihr „Fetischismus" erklären die Entstehung desjenigen, was Lukacs eine „zweite Natur" nennt. Die Durchbrechung des Bannes dieser zweiten Natur ist vom klassenbewußten Proletariat abhängig. Aber die kritische Theorie der 30er Jahre durfte nicht mehr selbstverständlich die Existenz eines Proletariats voraussetzen. Also versucht sie, Marxens „Kritik der politischen Ökonomie" in eine „Kritik der instrumenteilen Vernunft" zu übersetzen. Moderne Verhältnisse sind dadurch gekennzeichnet, daß das „falsche Bewußtsein" eines scheinbar-autonomen und affirmativen Subjekts entweder zum analytischen Verstand wird, dessen „passive Aktivität" Sartre als „Serialität" beschreibt15, oder im Schein einer „affirmativen Kultur" seine Abhängigkeit dadurch maskiert, daß es Träume gegen irdisches Glück tauscht. Die Analyse der modernen Welt als einer von der instrumentellen Vernunft beherrschten schafft die Bedingungen der Möglichkeit einer Überwindung des Dualismus, gegen den eine Philosophie des Subjekts erfolglos anrennen muß. In diesem Sinne haben die kritische Philosophie und die soziale Wirklichkeit eine homologe Struktur. Die kritische Theorie darf nun sowohl eine subjektive als auch eine objektive Notwendigkeit behaupten. 3. Die fehlende Theorie des Politischen Die Kritik der instrumentellen Vernunft ist allerdings auf eine Paradoxie gebaut. Die kritische Theorie als eine philosophische konnte die Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeit begründen, ohne aber diejenigen ihrer Notwendigkeit herauszuarbeiten. Der Übergang zur sozialen Theorie und zur Kritik der instrumentellen Vernunft versuchte, diese Schwierigkeit dadurch zu überwinden, daß die Empfänglichkeit der Welt für theoretische Begriffe dargestellt wurde. Dieser sozialphilosophische Vorschlag ist aus ähnlichen Gründen abzulehnen16: er erklärt nicht die Bedingungen der Möglichkeit gerade der kritischen Philosophie, mit der die Frage erst
15 16
Marx s^u Kant (Albany, N. Y.: State University of New York Press, 1985) versuche ich (im vierten Kapitel), eine „Logik der Empfänglichkeit" auszuarbeiten. Vgl. J.-P. SARTRE, Critique de la raison dialectique (Paris: Gallimard, 1960), passim. Es gibt auch immanente Schwierigkeiten dieser Theorie, die im letzten Kapitel von HABERMAS' Theorie des kommunikativen Handelns ausgearbeitet sind. Mit einem Wort, eine gesellschaftliche Totalität darf nicht auf eine einzige Vernunftform reduziert werden. Neben der instrumentellen muß auch kommunikative (und auch vielleicht emanzipative) Vernunft vorhanden sein. Ansonsten wird die Gesellschaft von zentrifugalen Kräften auseinandergerissen, wenn die individuellen Atome auf Kosten der Zerstörung des Mechanismus der gesamten gesellschaftlichen Reproduktion sich selbst zu erhalten versuchen.
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anfing. Die praktischen Resultate dieses Zirkels von Paradoxien zeigen sich deutlich in Marcuses Eindimensionalem Menschen. Marcuse konnte nur Begriffe wie eine qualitative Physik, den Aufstand der Außenseiter oder die große Verweigerung einführen. Die Gründe dieser Übertreibungen liegen darin, daß die Kritik der instrumentellen Vernunft zu viel leistet: sie zerstört die Frage, auf der die Theorie selbst begründet war. Marcuses Begriffsradikalismus entstand deshalb, weil er eine der wichtigsten Voraussetzungen der kritischen Theorie nicht beachtete. Wenn die eindimensionale Gesellschaft die Totalität wäre, dann gäbe es keinen Standpunkt, von dem aus Kritik möglich wäre, und keinen Archimedischen Punkt, von dem aus sie transformiert werden könnte. Wie in dem berühmten Aphorismus von Adorno, „Das Ganze ist das Unwahre", nimmt Marcuses Analyse die Gültigkeit der Theorie der instrumentellen Vernunft an; die Schwierigkeiten, die dann in seinen Resultaten auftauchen, sind also auch Schwierigkeiten dieser vorausgesetzten Theorie. Der Versuch, einen Archimedischen Punkt zu finden, muß in Paradoxien enden, da er eine Externalität, ein Ding oder einen Ort frei vom Bann der instrumentellen oder eindimensionalen Vernunft annimmt. Damit wird eine Philosophie des Subjekts wiedereingeführt. Lukacs' Begriff der Totalität, mit dem er die theoretischen und praktischen Konsequenzen der Verdinglichung vermeiden wollte, wäre eine Alternative ... nur nahm Lukacs' Hegelscher Marxismus an, daß das Proletariat als Subjekt-Objekt der Geschichte die moderne Totalität darstelle. Die Kritik der instrumentellen Vernunft kann so etwas nicht mehr behaupten. Marcuse weiß, daß der Standpunkt der Totalität wieder eingeführt werden muß. Die Theorie der instrumentellen Vernunft beschreibt eine desintegrierte Gesellschaft, innerhalb deren die abstrakten Individuen versuchen, ihre bloße Existenz zu erhalten. Es entsteht eine Inkohärenz des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses, die immer krisenhafter wird. Je irrationaler das Ganze, je mehr wird die Rationalität periphere Eigenschaft der Außenseiter, die die gesellschaftliche Integration verweigern. Aber wenn die Totalität wirklich total ist, dann werden diese Außenseiter zu Innenseitern, Mitglieder, die notwendig sind, wenn das System reibungslos funktionieren soll. Dieser dialektische Umschlag heißt bei Paul Piccone die „Dialektik der Negativität".17 Entweder ist die instrumentelle Verdinglichung total — und dann wird die Kritik bestenfalls immanent 17
PICCONE entwickelt seine Theorie in mehreren Aufsätzen in der Zeitschrift Telos, deren Herausgeber er ist. Die politischen Folgen dieser Theorie sind sehr problematisch, z. B. die Behauptung, daß die feministische Bewegung darum notwendig ist, damit die erweiterte Reproduktion des Kapitalismus stattfinden kann. Man muß annehmen, daß entweder die Kapitalisten oder aber das System selbst hyper-rational und machiavelistisch ist — d. h. man nimmt eine Teleologie an, die sich nicht begründen läßt.
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und letztlich affirmativ; oder die Kritik ist irgendwo und irgendwie außerhalb der Totalität begründet — und dann gibt es keine Sicherheit, daß die Resultate der Kritik von den beabsichtigten Akteuren empfangen werden. Das heißt, entweder schließt die Möglichkeit der kritischen Theorie ihre erhofften politischen Resultate aus, oder es lassen sich diese politischen Resultate theoretisch nicht begründen. Der Grund dieser Schwierigkeit besteht darin, daß die kritische Theorie einen zu engen Begriff der bürgerlichen Gesellschaft von Marx übernommen hat. Hegel wußte, daß die moderne bürgerliche Gesellschaft ein Problem darstellt; und er versuchte, dies Problem auf der Ebene des politischen Staates zu lösen. Marx aber übernahm Hegels Problem als Lösung. Nachdem er die moderne bürgerliche Gesellschaft mit der kapitalistischen Ökonomie gleichgesetzt hatte, konnte Marx eine Theorie der politischen Ökonomie entwickeln, die darlegte, wie die kapitalistische Gesellschaft die objektiven und die subjektiven Möglichkeiten ihres eigenen Untergangs immer wieder produziert und reproduziert. Marx konnte aber die praktische Notwendigkeit, daß diese theoretische Möglichkeit wirklich realisiert würde, nicht anzeigen. Eine theoretische Schlußfolgerung daraus zieht Adornos Negative Dialektik: „Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward."18 Eine politische Schlußfolgerung daraus muß aber nicht auf den Pessimismus der Dialektik der Aufklärung hinauslaufen. Wenn die moderne bürgerliche Gesellschaft nicht mit der kapitalistischen Ökonomie gleichgesetzt wird, darf man den Standpunkt der Totalität anders einführen. Horkheimer und Adorno begreifen die Aufklärung vom Standpunkt der Philosophie des Subjekts aus. Einen anderen Standpunkt nahm schon Kant ein, als er von der „Idee ... einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" redete. Bei Kant stellte sich die Schaffung einer bürgerlichen Gesellschaft als das Problem der Modernität dar.19 18
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THEODOR W. ADORNO, Negative Dialektik, in Gesammelte Schriften, Band 6 (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1973), S. 15. HABERMAS' Darstellung der philosophischen Grundlage des Marxismus (in Erkenntnis und Interesse) drückt diese Schwierigkeit damit aus, daß er die Notwendigkeit eines Fichteschen Moments im Marxismus behauptet. Weil das Ich wirklich nur als der Akt des Verhaltens zu einer Welt existiert, darf man nicht bei dem Kantischen „Ich denke" der transzendentalen Einheit der Apperzeption, die die Mannigfaltigkeit vereint und als meine affirmiert, stehenbleiben. Man muß ein Moment der Intersubjektivität, das nicht mit der Philosophie des Bewußtseins kompatibel ist, annehmen. Dies „Fichtesche" Moment wird dann bei MARX als das Phänomen des Klassenbewußtseins dargestellt. „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht", in Werke, Band VIII, Fünfter und Sechster Satz, S. 22, 23. Eine vollständige Darstellung von KANTS politischer Theorie findet sich in meinem Aufsatz „Kant's Theory and (its) Politics", in Man and
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Kants Lösung dieses Problems dreht sich um das Phänomen, das die Geschichtswissenschaftler, sich des Paradoxen bewußt, den „aufgeklärten Despotismus" nennen. Der Zirkel dieses paradoxen Ausdrucks ist bekannt ..., aber dieser Zirkel ist kein hermeneutischer, sondern ein politischer. Die Gleichstellung der modernen Gesellschaft mit der kapitalistischen (oder sogar sozialistischen) Ökonomie ist falsch. Die klassische Frage des „Guten Lebens" im Stadtstaat ist nicht restlos untergegangen. Im Gegenteil, sie wird von der Modernität akuter gestellt, da die Moderne alle traditionellen Institutionen zum Verschwinden gebracht hat. Dieses unwiderlegbare Faktum wird von dem Ökonomismus, der subjektiven oder der objektiven instrumenteilen Vernunft zu Unrecht verkannt. 4. Hermeneutik und kritische Theorie als Methodologien Die Notwendigkeit einer subjektiven und einer objektiven Begründung einer der Moderne adäquaten Philosophie stellt eine paradoxe „Dialektik" dar. Entweder die eine oder die andere dieser Begründungen, aber nicht beide zusammen können aufgezeigt werden. Ohne die Darstellung der Bedingungen ihrer Möglichkeit verliert die Philosophie aber ihre Rechtfertigung. Die Modernität hat die Selbstanzweifelung in die Philosophie eingeführt. Damit wird die subjektive Seite stärker herausgearbeitet. Wenn aber die Bezweifelung zur Angst wird, dann versucht sich die Philosophie irgendwie in der objektiven Welt zu verankern. Damit aber opfert die Philosophie ihr Selbst, um sich selbst zu erhalten. Die andere Möglichkeit wäre eine ontologische „Identitätsphilosophie", die die Besonderheit der Welt nur unter die Gesetzmäßigkeit der philosophischen Vernunft subsumiert. Aber der daraus entstehende Monismus wird leicht ein Solipsismus, wenn nicht gar eine Schizophrenie. D. h., eine Bewußtseinsphilosophie kann sich nicht begründen, ohne die Welt zu verlieren; oder sie kann nicht die Welt begründen, ohne sich selbst zu verlieren. Wenn nun die moderne Gesellschaft als politisch begriffen wird, dann kann der Streit zwischen der kritischen Theorie und der Hermeneutik geschlichtet werden: Beide haben recht..., aber aus unzulänglichen Gründen! Daß das Politische als Frage in der modernen Gesellschaft immanent ist, bedeutet, daß Gadamers Behauptung hinsichtlich der Möglichkeit des politischen Urteils und der praktischen Phronesis sich rechtfertigen läßt. Die Schwierigkeit aber besteht darin, aufzuzeigen, wann und wie diese Pbronesis funktioniert. Dazu brauchen wir zugleich eine Theorie, die gerade dasjenige Besondere ausgrenzen kann, das ein politisches Urteil notwendig macht; und auch eine Theorie der Urteilskraft, die die Subsumption, World, Fall, 1984, und ausführlicher in meinem Buch From Marx to Kant (Albany: State University of New York Press, 1985).
Hermeneutik und kritische Theorie: Aufklärung als Politik
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durch die die „Identitätsphilosophie" das Andere ins Gleiche reduziert, vermeidet. Eine kritische Theorie hätte nach dem Modell des Verhältnisses von Adornos Negativer Dialektik zu seiner Ästhetik zu verfahren. Das „existentielle Urteil", die „Mimesis" und die „Phantasie" lassen sich durch die Immanenz der politischen Frage in der Modernität begründen. Dies ist aber nur der erste Schritt. Die politischen Ziele, die bei Bernstein und Horkheimer als Telos funktionieren, lassen sich darum nicht begründen, weil beide die Marxsche Gleichstellung der bürgerlichen Gesellschaft mit der kapitalistischen Ökonomie unterschreiben, ohne die eigentliche politische Frage — wie sich der Zusammenhalt einer Gesellschaft theoretisch und institutionell verstehen läßt — zu stellen. Politische Fragen entstehen praktisch nur dann, wenn besondere Ereignisse oder Institutionen Kräfte freisetzen, deren Unterdrükkung soziales Unrecht wäre. Diese Besonderheiten verlangen ein politisches Urteilen, das auch Phronesis genannt werden darf. Damit wird die Möglichkeit der Politik durch ihre Notwendigkeit ersetzt, das Besondere wird in die Totalität wieder eingegliedert, ohne daß die zwei Pole verschmelzen oder aber unvermittelbar einander entfremdet werden. Hermeneutik und kritische Theorie lassen sich als zwei Pole oder Momente einer Methodologie verstehen. Hermeneutik erklärt die notwendige Empfänglichkeit der Welt für die Besonderheiten, deren Möglichkeit von der kritischen Theorie begründet worden ist. Kritische Theorie funktioniert als das politische Moment, das die Besonderheit ausgrenzt; Hermeneutik bringt das philosophische Moment, dessen Allgemeinheit die notwendige Begründung der vorgeschlagenen Politik sichert. Ihr Verhältnis ist ein inklusives; ausgeschlossen ist nur der — von der ersten Generation der kritischen Theorie angenommene — ökonomistische Marxismus, der die Immanenz der politischen Frage in der modernen Gesellschaft verneint. Inklusion bedeutet aber nicht Identität. Jedes Moment hat seinen legitimen Ort. Hiermit aber wird die Hermeneutik sowie die kritische Theorie umgedeutet. Keine darf als traditionelle oder ontologische Philosophie verstanden werden. Jede wird zum methodologischen Moment innerhalb einer Theorie der Modernität. In diesem Sinne hat Bernstein völlig recht, wenn er Gadamers Politik kritisiert. Gadamer ist politisch ein naif ..., aber warum soll man ihn wie einen politischen Philosophen behandeln? Die politische Philosophie einer nicht-ökonomistischen kritischen Theorie zeigt der Hermeneutik ihre Grenzen, so wie die Hermeneutik der kritischen Theorie die ihrigen anweist. Daraus entsteht keine „kantische" dialektische Schlichtung eines unausweichbaren Streits der Ideen20. Die philosophische 20
Ich denke hier an HANS SANERS Kants Weg vom Krieg %um Frieden (München: R. Piper. 1967), ein ideenloses Buch, das Kant einen Begriff der Politik (und einen des Friedens)
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Schlichtung des Streits zwischen Hermeneutik und kritischer Theorie hängt letzten Endes davon ab, daß ihre politische Notwendigkeit aufgezeigt wird. Das Verhältnis von Philosophie und Politik wird dann durch die methodologische Vermittlung der Hermeneutik und der kritischen Theorie artikuliert.
unterstellt, der ahistorisch und auch philosophisch leer ist. Wie oben angedeutet, versuche ich eine andere Darstellung von Kants Politik in Systematic Politics. From Marx to Kant.
HOTIMIR BURGER (Zagreb)
Anthropologie als Anhaltspunkt der Kritischen Theorie Die Beziehung der Kritischen Theorie zur Antropologie, ebenso wie ihre Beziehung zur Philosophie überhaupt, ist nicht eindeutig. Sie kritisiert einerseits radikal den anthropologischen Standpunkt in der Philosophie der Gegenwart, andererseits aber versucht sie, für die Theorie, für die Forschung und für den eigenen emanzipatorischen Anspruch die praktischen und theoretischen Potentiale der anthropologischen Position zu bewahren. Daraus stammt der Versuch der Kritischen Theorie, die Anthropologie in das eigene emanzipatorische Programm zu integrieren. In dieser Hinsicht reproduziert die Kritische Theorie die im Marxismus von Anfang an enthaltene implizite oder explizite Polemik gegen die Anthropologie. Wenn man aber von einer gewissen Veränderung oder Entwicklung dieses Verhältnisses innerhalb der Kritischen Theorie sprechen kann, so geht diese Entwicklung den genau umgekehrten Weg, als es bei Marx der Fall war. In seinem Kapital und in der Kritik der politischen Ökonomie überhaupt wird der anthropologische Aspekt dieses Werkes erst durch sorgfältige und präzise Analyse und Rekonstruktion der Implikationen und Voraussetzungen sichtbar. Im Kapital erscheint der anthropologische Aspekt erst dort, wo man über die Grenzen des Systems des Kapitals sprechen kann, und auch an der Stelle, wo man die letzte Garantie für den revolutionären Anspruch finden will; er ist aber als Grundlage der Kritik der politischen Ökonomie nicht selbstverständlich. Marx' Frühschriften, besonders die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte, bekommen aber die volle Tiefe und Prägnanz ihrer theoretischen und praktischen Inspirationen eben durch die Gegenüberstellung der bei Feuerbach erarbeiteten anthropologischen Position mit der Hegeischen Philosophie und der politischen Ökonomie als identischer Versionen des bürgerlichen Lebens. Für den jungen Marx ist die Anthropologie, oder besser der anthropologische Aspekt seiner Theorie, ein Bestandteil des umfassenden theoretischen und praktischen Programms, das er in den vierziger Jahren in Paris „theoretischer Humanismus" genannt hat. In seinem anthropologischen Aspekt beginnt dieses Programm als Atheismus. An die Stelle von Gott stellt er den Menschen, und als Theorie erforscht er nicht nur das Wesen
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des Menschen oder seine Natur, sondern auch seine aktuelle geschichtliche Gestalt. Er schließt daher auch die Kritik der politischen Ökonomie als eine Analyse, Rekonstruktion und Kritik der bestimmten (bürgerlichen) Version des Menschen ein. Den praktischen Aspekt desselben Programms stellt der praktische Humanismus oder Kommunismus dar; dieser soll die Begrenzungen einer solchen Menschenversion praktisch überwinden. Die beiden Aspekte des Humanismus müßten durch den positiven, den durch sich selbst vermittelten Humanismus überwunden werden. Diese Konzeption im Ganzen ist aber auf einer dynamischen Auffassung des Wesens des Menschen gegründet. Es wird wesentlich geschichtlich und geschichtsproduktiv aufgefaßt. Schon Marx' damaliger Standpunkt schließt deswegen zugleich eine kritische Stellung zur Anthropologie als einer verselbständigten und ungeschichtlichen Theorie des Menschen ein. Als einen Rahmen des Marxschen Menschenverständnisses und seiner Theorie im Ganzen kann man deshalb das dialogische Verhältnis einer Theorie des Subjektes zur Theorie der Menschennatur oder Anthropologie sehen. Wie immer die Natur des Menschen durch das Subjekt negiert oder beherrscht sein mag, die ganze Theorie setzt doch als letzten Bezugspunkt — so auch im Kapital — immer die kritisch verstandene Anthropologie voraus. Der größte Teil der unmittelbaren Nachfolger von Marx hat bekanntlich dieses dialogische Verhältnis zwischen Natur und Subjekt verkannt. Ein solches lebendiges Verhältnis zur Anthropologie hat schon Engels vernachlässigt. So ist — um nur dies zu erwähnen — seine Skizze der Entstehung des Menschen durch die Arbeit eigentlich nur eine Theorie oder eine Darstellung der Entstehung des Menschen als eines Subjektes der Arbeit; als solches verdankt der Mensch seine Existenz und seine Konstitution der Arbeit, aber zu schnell wird dieses Subjekt mit dem Menschen schlechthin identifiziert. Es ist eigentlich nur ein Funktionär der Arbeit oder ihre ,Charaktermaske', die aber alle anderen menschlichen Potenzen, die im Arbeitsprozeß nicht erscheinen können, vollkommen verhüllt hat. Eine solche Stellungnahme charakterisiert auch den jungen Lukacs, sie wird aber bei ihm in größerem Maße durch die Hegeische Philosophie und einige Motive der Philosophie der Gegenwart unterstützt. Ein Problem ersten Ranges ist für Lukacs die Genesis des Subjekts der Geschichte, das auf das Proletariat reduziert wird, und auch — nicht so explizit — die Genesis des Kapitals. Sein Verhältnis zur Anthropologie endet daher hauptsächlich in der Kritik ihrer Ungeschichtlichkeit. Er polemisiert darum gegen die romantischen Interpretationen des Menschen (Jacobi, Schiller) wie auch gegen die Denker, die der anthropologischen Position nahe stehen (Lassalle, Tolstoj, Husserl usw.). Lukacs selber strebt zu einer radikal-ethischen, d. h. subjektivistischen Interpretation des Menschenproblems.
Anthropologie als Anhaltspunkt der Kritischen Theorie
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In ihrer frühen Frankfurter Phase stand die Kritische Theorie unter einem ziemlich starken Einfluß dieser Version des Marxismus — besonders jener von Lukacs und Korsch. Aber wie man aus Horkheimers Programmrede aus dem Jahre 1931 „Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung"1 sehen kann, war schon die Anfangsposition ziemlich andersartig. Die Orientierung an der Thematisierung des Glücks des Individuums und seiner Aussichten in der bestehenden Gesellschaft wie auch die Artikulation der Theorie als „einer fortwährenden dialektischen Durchdringung und Entwicklung von philosophischer Theorie und einzelwissenschaftlicher Praxis"2 verlangten ein anderes Verhältnis zur Anthropologie. Obwohl also die Kritische Theorie in dieser Periode die Hegeische Philosophie als Vorbild hat und obwohl man sie den dominanten theoretischen Aspekt in der Geschichtsphilosophie findet — weil sie in den historischen Reflexionen und in der wissenschaftlichen Forschung die wesentlichen Züge der bestehenden Welt beleuchten will —, konnte sich die Kritische Theorie schon an ihrem Anfang nicht nur negativ oder kritisch zur Anthropologie verhalten. Ihr Interesse am Individuum hat sie schon sehr früh durch die Rezeption der psychoanalytischen Problematik konkretisiert — damit hat sich bekanntlich zuerst im sozialpsychologischen und später auch im sozialanthropologischen Sinne E. Fromm befaßt. Andererseits haben Marcuses Schriften, wie „Neue Quellen zur Grundlegung des Historischen Materialismus", „Über die philosophischen Grundlagen des wirtschaftswissenschaftlichen Arbeitsbegriffs" und andere, schon eine der Anthropologie nahe Marxismusinterpretation dargestellt, und dies war bereits eine Alternative zur ursprünglichen Position der Frankfurter Schule. Horkheimers Aufsatz „Bemerkungen zur philosophischen Anthropologie" (aus dem Jahre 1935) kündigt also im Grunde drei Möglichkeiten der Beziehung der Kritischen Theorie zur Anthropologie an: die negative schlechthin, die kritisch rekonstruktive und eine Stellung, die wir agitatorisch zu nennen wagen und die sich in der Intention äußert, die Anthropologie in gewissem Sinne als revolutionäre Potenz zu artikulieren. Dieser Aufsatz von Horkheimer enthält jedenfalls ziemlich betont die klassischen marxistischen Einwände gegen den ungeschichtlichen und undialektischen Charakter der Anthropologie als solcher; in Horkheimers Kontext betrifft das Scheler, Nietzsche und Husserl. Horkheimer widerlegt die These von der ewigen Natur des Menschen und von der zeitlosen Bestimmung des Menschen. Sein Argument ist negativ: Wenn wir die einheitliche Bestimmung des Menschen nicht einmal in einer Epoche feststellen kön1
2
In: MAX HORKHEIMER, So^ialphilosophische Studien. Aufsätze, Reden und 1930-1972, hrsg. von W. BREDE, Frankfurt a. M. 1981. a.a.O., S. 40.
Vorträge
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nen, wie könnten wir dann überhaupt von der ewigen und unveränderlichen Natur des Menschen sprechen? Und die These von der Unveränderlichkeit dieser Natur hat — politisch und emanzipatorisch gesehen — einen reaktionären Charakter. Daher stammt Horkheimers Diktum: „Die gegen notwendige historische Veränderungen seit je erhobene Rede, daß die Natur des Menschen dawider sei, soll endlich verstummen."3 Schon hier aber ist Horkheimer nicht so streng in seiner Kritik der Anthropologie; er erlaubt, daß man doch von gewissen Grenzen und Begrenzungen des Menschen sprechen kann und soll — wenn schon nicht über feste Bestimmungen des Menschen —, weil ihre Vernachlässigung sich rächt. Er bestätigt sogar die Unentbehrlichkeit der Anthropologie; wie vor ihm schon Borkenau4, so sieht jetzt Horkheimer diese geschichtlich, aus der Perspektive des Zerfalls der feudalen Ordnungen und aus dem Bedürfnis, die neuen Prinzipien des Handelns aus der Anthropologie abzuleiten.5 Als mögliche Quelle der Erklärungsprinzipien des Handelns wird die Anthropologie nach Horkheimers Auffassung überschätzt, aber gleichwohl thematisiert er sie nicht mehr nur kritisch oder negativ. Außerdem stellt Horkheimer in dieser Schrift fest, daß die Anthropologie die Einsicht ermöglicht, daß einige ökonomische Mechanismen die Entwicklung bestimmter menschlicher Qualitäten verursacht haben und daß der Übergang in die spätkapitalistische Phase des Wirtschaftssystems durch die Veränderung des Menschen charakterisiert wird.6 Diese Feststellungen suggerieren einen allgemeinen Schluß: die großen geschichtlichen Wandlungen verändern den Sinn der anthropologischen Kategorien7. Die Anthropologie wird damit historisiert, und man spricht nicht mehr über den Menschen überhaupt, sondern über „historisch bestimmte Menschen und Menschengruppen". Und das emanzipatorische oder revolutionäre Moment der Anthropologie wird durch die als eminent anthropologisch aufgefaßte Frage hervorgehoben: „wie eine Wirklichkeit, die als unmenschlich erscheint, weil alle menschlichen Fähigkeiten, die wir lieben, in ihr verkommen und ersticken, zu überwinden sei"8. 3
4 5 6 7
8
MAX HORKHEIMER, Kritische Theorie. Eine Dokumentation, hrsg. von A. SCHMIDT, Frankfurt a. M. 1968, Bd. I, S. 227. In seinem Buch Der Übergang vom feudalen %um bürgerlichen Weltbild, Paris 1934. HORKHEIMER, Kritische Theorie, a. a. O., S. 203. a.a.O., S. 224-225. a. a. O., S. 223. — In solchem Kontext wendet HORKHEIMER den Begriff „der bürgerliche Charakter" an, der aus der Sozialpsychologie übernommen wird. Nach dem Text seines Aufsatzes „Egoismus und Freiheitsbewegung. Zur Anthropologie des bürgerlichen Zeitalters" (aus dem Jahre 1936) soll die Anthropologie den bürgerlichen Charakter thematisieren, und in seinem Verständnis „sind die revolutionären Perioden als Schlüssel zu den normalen zu nehmen". a.a.O., S. 210.
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Also praktisch und revolutionär aufgefaßt, wird die Anthropologie in der Kritischen Theorie nicht entwickelt. Der Gedanke aber über Veränderung und Veränderlichkeit des Menschen in der Geschichte wird vielfältig artikuliert und entwickelt. Er macht in Schriften wie „Dialektik der Aufklärung', „Kritik der instrumenteilen Vernunft", „Vom Begriff des Menschen" und „Negative Dialektik" von Horkheimer und Adorno, wie auch in anderen Schriften der beiden Autoren, nie Grundlage der entwickelten Kritischen Theorie aus. Auf dieser Grundlage wird ein Versuch der Kritik der „naturalistischen Anthropologie" und des Ontologismus in den heutigen Menschenauffassungen durchgeführt. Derselbe Grundsatz stellt andererseits den Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Forschung (über Autorität und Familie z. B.) und der konkreten Analysen der geschichtlichen Phänomene dar. Das ist eigentlich der theoretische Horizont und Gedankenkontext, in dem die Kritische Theorie als „dialektische Anthropologie" aufgefaßt wird9. Der nähere Gegenstand der Analyse und Kritik wird so die Konstitution des Subjekts, der instrumentellen Vernunft, des begrifflichen Denkens mit seinem principium identitatis und mit seiner quantifizierenden Reduktion. Wie immer geschichtlich aufgefaßt, konnte und mußte die Natur des Menschen die Grundlage einer so radikalen Kritik sein, weil sich diese Kritik nicht mehr in der Gesellschaft selbst begründet finden konnte10. Phänomene wie Faschismus und Stalinismus haben die Gesellschaft als eine solche Grundlage suspendiert. Die Dialektik der Aufklärung stellt insofern einen Versuch dar, an den Ursprung des modernen Lebens selbst heranzukommen, und die theoretische Bewußtmachung dieses Prozesses trägt den Namen „Urgeschichte der Subjektivität". Es geht hier um die Genesis des Selbst, die als Beherrschung geschieht. Und als Beherrschung nicht nur der äußeren, sondern auch der inneren Natur wird sie zur Negation des Selbst bzw. des Subjekts. Denn das Selbst, das beherrscht wird, hat sein Wesentliches verloren — die Spontaneität. In dieser Periode ihrer Tätigkeit sieht die Kritische Theorie die für ihr Engagement anfänglich anregend wirkende Alternative „Fortschritt oder Barbarei" als kaum noch aussichtsreich. Im Faschismus gibt es nur noch Barbarei, und die Kräfte des Fortschritts geraten in die Klemme. Der Faschismus ist eine retrograde Entwicklungsstufe des gesellschaftlichen Lebens, die jetzt als in der Logik des Kapitalismus angelegte Möglichkeit gesehen wird. Die radikalste Fassung einer solchen Auffassung findet man 9 10
HoRKHEiMER-AooRNO, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a. M. 1969, S. 7. Sehr ausführlich darüber in: GERD-WALTER KÜSTERS. Kritikbegriff der Kritischen Theorie Max Horkheimers, Frankfurt a. M. 1980. Sonst sehr inhaltsreiches Werk, trifft aber nicht die Sache selbst, da der Verfasser die Kritische Theorie als solche mit der „dialektischen Anthropologie" identifiziert.
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bei W. Benjamin. Mit dem Aufkommen des Faschismus wird der Fortschritt unterbrochen; suspendiert wird auch die Dialektik von Herr und Knecht — weil weder der Knecht noch der Herr in ihrer Bildung und Emanzipation fortschreiten. Beide geraten in eine kulturelle, menschliche und geschichtliche Sackgasse. Die Fortsetzung dieser Analysen und dieser Kritik stellt Horkheimers Versuch dar, die etablierte Vernunft als instrumenteil und dadurch als reduziert aufzufassen und zu enthüllen. Wenn man aber die Vernunft als solche oder eine ihrer Versionen in Frage stellt, dann bleibt als einziger Gegenbegriff die Natur. Daher spricht Horkheimer hier vom „Aufstand der Natur" gegen die Herrschaft der instrumentellen Vernunft und von der Erneuerung der Bedeutung der Natur als „Text ..., der von der Philosophie zu interpretieren ist und der, richtig gelesen, eine Geschichte unendlichen Leidens entfalten wird"11. Jenen aber, die darin einen Konservatismus der Kritischen Theorie sehen möchten (wie später Rohrmoser12), erklärt er eindeutig den vernünftigen Charakter seiner Einstellung: „Der einzige Weg, der Natur beizustehen, liegt darin, ihr scheinbares Gegenteil zu entfesseln, das unabhängige Denken."13 Und in seiner wiederholten Thematisierung der Vernunft (in „Zum Begriff der Vernunft") konstatiert er: Mit der Verselbständigung des Subjekts, mit „seiner Distanzierung von der Welt als bloßem Material entsteht im Widerspruch zu jener umspannenden, dem Objekt und Subjekt gleichermaßen eigenen Vernunft die formale, ungebundene, ihrer selbst gewisse ratio"14. Diese Absonderung der Vernunft ist also „aus dem gesamten Lebensprozeß der Menschheit zu entwickeln als ein bloß partielles, als die endliche beschränkte Reflexion, die der Kritik unterliegt"15. Solche Vernunft und solche Reflexion reduzieren auf einen „begrenzten subjektiven Geist" etwas, was man nicht reduzieren kann. Erst daraus kann man feststellen, daß diese Gestalt der Vernunft ihre Grundlage nicht in sich selbst hat, sondern daß sie „in sehr hohem Maß der Teilung der Arbeit, dem Prozeß der Auseinandersetzung von Mensch und Natur ihr unabhängiges Dasein verdankt".16 Der Mensch und die Natur werden daher die Relata, auf die die Kritik sich stützen muß. „Die subjektive, formale Vernunft, der alles zum Mittel wird, ist die des Menschen, der den anderen und der Natur bloß entgegensteht, weil ohne Durchgang durch die Entzweiung 11
12 13 14 15 16
MAX HORKHEIMER, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, hrsg. von A. SCHMIDT, Frankfurt a. M. 1967, S. 122. G. ROHRMOSER, Das Elend der kritischen Theorie, Rombach, Freiburg u. Bremen 1970. Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, a. a. O., S. 123. Soayalphilosophische Studien, a. a. O., S. 47. a.a.O., S. 56. a. a. O., S. 56 f.
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die Versöhnung sich nicht ereignen kann."17 Und die Überwindung der Entzweiung wird wieder in demselben Zirkel möglich: ,,[e]rst wenn die Beziehung von Mensch und Mensch und damit auch die von Mensch zu Natur anders gestaltet ist als in der Periode der Herrschaft und Vereinzelung"18. Das aber bedeutet — Marx aber auch Kant paraphrasierend — die Gestaltung „eines gesellschaftlichen Zustandes, in dem der eine dem anderen nicht zum Mittel wird", was „die Erfüllung des Begriffs der Vernunft, der in der Spaltung von objektiver Wahrheit und funktionellem Denken jetzt verloren zu gehen droht"19, bedeutet. Adornos Kritik des begrifflichen Denkens beziehungsweise des Satzes der Identität, seine vertiefte Analyse der Verdinglichung, seine Entscheidung für die Kontingenz gegenüber der Notwendigkeit in der Geschichte, für das Individuelle gegenüber dem logisch und gesellschaftlich Allgemeinen, für die Versöhnung der Natur mit der Kultur, seine Thematisierung des Verhältnisses von Mimesis und Reflexion, des Kunstschönen und des Naturschönen20 stellt eine weitere und tiefere Entwicklung der gemeinsamen Einsichten aus der Dialektik der Aufklärung und der von Horkheimer entwickelten Gedanken dar. Aber für Adorno ist nicht nur die instrumenteile Vernunft reduktiv, sondern auch der Begriff als solcher. Adorno bemüht sich daher um „Entzauberung des Begriffs"21. Das problematische am Begriff ist das Prinzip der Identität. Die Identität ist „die Urform der Ideologie", und die Ideologiekritik ist daher nichts Marginales oder „Innerwissenschaftliches, auf den objektiven Geist und die Produkte des subjektiven Beschränktes, sondern philosophisch zentral: Kritik des konstitutiven Bewußtseins selbst"22. Die Identität enthüllt Adorno als scheinbare, fiktive Identität, weil sie als identisch auch das Negative erklärt. Das gelingt ihr vermittels einer Universalisierung des Quantitativen auf Kosten des Qualitativen. Es ist dies die Stelle, wo die Analyse und Kritik des Identitätsprinzips sich mit der Analyse des Tausches bzw. mit dem Begriff des Tauschwerts verbindet23. In diesen verschiedenen Problemen sieht Adorno eine Reduktion der Natur auf den Geist, der Sache auf den Begriff — was zu überwinden wäre, aber „ohne Opfer und Rache"24. Auch die Kultur wird in solchem 17 18 19 20
21 22 23 24
a.a.O., S. 57. a.a.O. a.a.O. Sehr detailliert und mit explizit „apologetischer Absicht" gezeigt in: ALLO ALLKEMPER, Rettung und Utopie. Studien zu Adorno, Paderborn usw. 1981. TH. W. ADORNO, Negative Dialektik, Frankfurt a. M. 1975, S. 24, a.a.O., S. 151. A. SOHN-RETHEL, Wertform und Denkform, Frankfurt a. M. 1971. Negative Dialektik, a. a. O., S. 145.
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Kontext zur Ideologie — weil sie auf ihre Aufgabe der Entbarbarisierung verzichtet. Sie selbst wird so zur Barbarei. Wie früher Horkheimer so betont auch Adorno, daß es bei ihm nicht um die „Kritik des Subjekts" im Namen „der vorgeschichtlichen, animalischen Impulse" geht. Es geht um Aufhebung der Besonderung und Verselbständigung des Subjekts — weil „ohne Selbst kein Glück". Selbst Autarkie des Geistes kann nur durch den Geist selbst überwunden werden; nur durch ein Mehr, nicht ein Minder an Vernunft können die Wunden, die das Werkzeug „Vernunft" im unvernünftigen Ganzen der Menschheit geschlagen hat, geheilt werden.25 Darum soll man auf ein „Eingedenken der Natur im Subjekt"26 rechnen, des archaischen Impulses, der aus der Periode vor der Konstitution des Ich stammt. Es geht also um den Wiederaufbau des Verhältnisses zur Natur, eines Verhältnisses, das abgebrochen wurde und abgebrochen ist. Dieser Wiederaufbau geschieht aber wieder geschichtlich. Dieser Impuls regt nämlich die Freiheit an, diese terminiert aber wieder in der Stärkung des Ich.27 In solchem sich selbst reflektierenden Subjekt lassen sich Mimesis und Ratio als Verschiedenheiten auffassen, und einzig in der individuellen Erfahrung durchdringen sich die mimetisch-somatischen Reaktionen mit den kognitiven. Sie mahnen den Geist daran, was er im Wahn seiner Autarkie verdrängt hat, und verlangen seine Reflexion als Selbstkritik. Diese Reaktionen bilden einen Anlaß von außen, der für die Durchbrechung dieses Bannkreises der fixierten Identität notwendig wird. Dieser Anlaß überlebt im Subjekt sonst nur negativ in unerfüllbaren Bedürfnissen, in sehnsüchtigen Träumen, im Phantasieren, im Leiden, das seine Aufhebung verlangt. „Das leibhafte Moment meldet der Erkenntnis an, daß Leiden nicht sein, daß es anders werden solle."28 Alle diese Momente wie Subjekt, Leiden, Ich, Mimesis und Ratio usw. haben aber in letzter Instanz ihren Ort und ihr fundamentum inconcussum im Menschen, und zwar im einzelnen Menschen als dem individuellen Subjekt. Der Grund, weshalb sich Adorno für den einzelnen Menschen entscheidet, liegt einfach darin, daß sich der Geist einzig im einzelnen Menschen seiner hypostasierten Trennung von der Natur bewußt werden kann. Adornos Kritik der Hegeischen Hypostasierung des begrifflich und gesellschaftlich Allgemeinen gründet eben auf der Feststellung einer Substantialisierung und der daraus sich ergebenden Verselbständigung des Allgemeinen.29 25
ADORNO, Noten %ur Literatur I, Frankfurt a. M. 1958, S. 186.
26
Dialektik der Aufklärung, a. a. O., S. 47. Negative Dialektik, a.a.O., S. 221.
27
28
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a. a. O., S. 203. Aus dieser Perspektive kritisiert ADORNO auch BRECHTS Meinung (in „Lob der Partei"), daß der Einzelne nur ein Auge hat und die Partei tausend. ADORNOS Kommentar lautet: Tausend Präparierte sehen weniger als einer, der es nicht ist.
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Im Unterschied zu dieser äußersten Radikalisierung der kritisch-anthropologischen Position bei Adorno befaßt sich Horkheimer in seinen späten Aufsätzen nicht mehr nur mit der Kritik der instrumentellen Vernunft und des Subjekts. Einerseits versucht er immer wieder, eine kritische Stellung zur „naturalistischen Anthropologie" und zum Ontologismus lebendig zu halten. Er versucht aber auch erneut, über den Begriff des Menschen zu sprechen („Zum Begriff des Menschen", 1957) und die Veränderungen30, die die moderne Geschichte an den Menschen bewirkt hat, festzustellen und zu betrachten. Gegenüber der „ontologischen Richtung" in der Gegenwartsphilosophie, die für den sogenannten „echten Menschen" optiert, betont er wieder die Tatsache, daß die Naturbeherrschung den Menschen nicht zu ihm selbst geführt hat, sondern daß das Bestehende seine objektive Gewalt behalten hat; dieser Gewalt gegenüber fühlt sich der Mensch machtlos, und seine Erfahrung endet somit wieder — echt anthropologisch formuliert — im Leiden.31 Eine solche polemische Beziehung zur Wirklichkeit und zu den Theorien, die sie reproduzieren, faßt Horkheimer als „theoretische Besinnung" auf, die für die eigene Stärkung alle geistigen Potenzen der Tradition anwenden will. Sie wendet sich sogar der Theologie zu, weil in ihr eine wieder anthropologisch aufgefaßte Erkenntnis über die unauflösbare Verwicklung der menschlichen Freiheit und Bedingtheit verwurzelt ist32. Das dieser theologischen Einsicht analoge Verhältnis in der gegenwärtigen Welt ist dem Charakter nach säkularisiert und wird als „Wechselwirkung" der zeitgenössischen übermächtigen Gesellschaft (mit ihren Institutionen) und den Individuen bestimmt. In diesem Zusammenhang lautet die wiederholte Deutung solcher Übermächte im Menschen entlastend: „Die Erkenntnis, daß der Mensch gesellschaftlich und geschichtlich vermittelt ist, führt nicht zur Resignation, denn immer noch ist umgekehrt die Geschichte ebenso auch auf die Menschen angewiesen."33 Der Gegenstand von Horkheimers Analyse ist daher nicht nur der Mensch in seinen Wandlungen, sondern auch „die prägenden Gewalten ..., von denen die Menschen im guten wie im schlechten Sinn gemodelt 30
31 32 33
Offensichtlich nimmt auch J. HABERMAS zur Anthropologie einen ähnlichen Standpunkt ein. In seiner Theorie des kommunikativen Handelns (Ffm 1981), wie schon früher im Buch Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, spricht er von Anthropologisch tief sitzenden Strukturen" (Theorie des kommunikativen Handelns, II, S. 462) als für das geschichtliche Leben bestimmend. Und als eine Fortsetzung und zugleich als einen neuen Anlaß zur Anthropologie innerhalb der Kritischen Theorie ist der Versuch von H. JOAS und A. HONNETH im Buch Soziales Handeln und menschliche Natur, Frankfurt a. M. u. New York 1980, zu sehen. Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, a.a.O., S. 179. a.a.O., S. 181. a.a.O., S. 182.
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und getrieben werden"34. Geprägt und gemodelt wird z. B. die Familie, d. h. die Beziehung von Kindern und Eltern, durch die Industrialisierung des Lebens. Aber durch Veränderungen solchen Typs werden nicht die traditionellen Wahrheiten der Anthropologie widerlegt — z. B. die These, daß der Mensch „compositum ex anima et corpore" sei; nur der Sinn dieser Wahrheiten ändert sich. Andererseits aber ermöglicht das die Behauptung, daß jede Veränderung der Gesellschaft als Ganzer neue anthropologische und psychologische Unterarten produziert, und unverändert durch die Zeiten bleibt nur der „überwältigende körperliche Schmerz und alle äußersten Situationen, in denen der Mensch nicht über sich Herr ist und aus dem geistigen, in Gesellschaft einbezogenen Dasein in die Natur zurückgestoßen wird"35. Das gesellschaftliche Ganze hört nur in dem Maße auf, das Wesen seiner Individuen zu bestimmen, als deren vernünftige Spontaneität das Prinzip ihres Daseins wird36. Der anthropologische Charakter dieser Betrachtungen der modernen Gesellschaft ist auch in Horkheimers These sichtbar, daß mit der Etablierung der Technik ein rasches Eingliedern der Jugend in die grundlegenden reproduktiven und leitenden Funktionen der Gesellschaft möglich wird, was eine neue Qualität bedeutet37. Auch das Vermindern und sogar Verschwinden des Unterschiedes zwischen Stadt und Land wird als eine neue anthropologische Qualität gedeutet; die Menschen sind auf diese Weise gleich geworden, aber sie sind einander nicht näher gekommen, weil sie sich mehr und mehr als Maschinen verhalten. So ergibt sich immer wieder der schon bekannte Schluß: „Die menschlichen Züge spiegeln die Änderungen der Gesellschaft wider, die noch nicht zum Frieden mit sich selbst gekommen ist."38 Die Veränderungen des Menschen darf man also heute nicht — wie Marx es noch konnte — eo ipso als einen Progreß auffassen, und zwar weil das Ganze die Richtung verloren hat: „... in rastloser Bewegung dient es anstatt den Menschen sich selbst"39; die große Philosophie aber vermag sich nur „durch die Denunziation der Verhältnisse, die ihr zuwider sind . . . zum Positiven zu bekennen"; sie spricht, „hierin der Theologie verwandt, das Negative, das Grauen und das Unrecht solchen Geschehens aus". Weil — so meint Horkheimer hier — „vielleicht aus dem präzisen Wissen um das Falsche das Richtige sich durchsetzen [kann]"40. 34 35 36 37
38 39
40
a.a.O. a.a.O., S. 187. a.a.O., S. 187f. a.a.O., S. 191. — Im Unterschied zum späten Mittelalter, wo statt der jungen Feldherren alte und kluge Menschen in der Bürokratie und als Eigentümer entscheidend wurden. a.a.O., S. 197. a. a. O., S. 198. a.a.O., S. 201-202.
Anthropologie als Anhaltspunkt der Kritischen Theorie
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Als Anregung, sich einer solchen Wirklichkeit zu widersetzen, kann sogar der Pessimismus wirken, aber nur jener, mit dem sich eine unpessimistische Praxis verbinden kann und der so produktiv wird41. Die gesellschaftliche Utopie ist nicht mehr Grundlage der Kritik und Ablehnung des Bestehenden; es ist auch nicht mehr das wahre Wesen des Menschen, sondern es sind seine wahren Möglichkeiten: „Es gilt die Ordnung herzustellen, die der wahren Anlage der Menschen am besten entspricht."42 Es wird möglich, diesen Anspruch zu stellen, denn das „übermenschliche soziale Wesen wird von den Menschen erzeugt; ohne ihre Aktivität und gegen ihren Willen vermöchte es nichts, es ist nur stark durch ihre Kraft und wirkt doch auf alle Einzelnen zurück"43. Der Mensch also „kann sich von der Verknechtung frei machen, indem er sich als den Urheber aller Hirngespinste erkennt und weiß, daß aus seinem Willen selbst die Ziele stammen"44. Aber mit solchen Einsichten bewaffnet, hat der Mensch immer mit sich selbst und mit der Welt, die er selbst geschaffen hat, zu tun. Und das kann ebensowohl belastend als auch emanzipatorisch wirken. Nun aber geht aus diesen Ausführungen klar hervor, daß die Kritische Theorie von Horkheimer und Adorno den anthropologischen Standpunkt weder vermeiden noch vernachlässigen konnte. Denn eine radikale kritische Betrachtung der Gesellschaft endet nicht in der Geschichte als solcher, wenn sie in jeder gesellschaftlichen und geschichtlichen Bildung den Menschen als den Urheber erkennt. So ist die Geschichte als Grundlage der Kritik artikuliert, aber gleichfalls ist der aus der Geschichte hervorgehende Relativismus vermieden worden. Das Interesse für einen wie immer undogmatischen anthropologischen Standpunkt kommt somit aus dem Bedürfnis, sich in der Geschichte und in ihren Phänomenen besser zu orientieren und nicht, um bei ihm (dem Standpunkt) zu bleiben. Allerdings war dieser Rückzug der Kritischen Theorie in die Anthropologie (und in sogenannte „große Philosophie") stets von einer emanzipatorischen Absicht geleitet. In dieser — wie Hegel es sagen würde — Erinnerung wurden immer breitere Regionen des geschichtlichen Lebens als möglicher Standpunkt der Kritik zerstört, weil durch die geschichtliche Dialektik kompromittiert. Dieser emanzipatorische Elan ist deswegen im Menschen als solchem und in dem gegenüber der ideologisierten, institutionalisierten, verdinglichten und pervertierten geschichtlichen Realität erkennbaren, kritisch aufgefaßten anthropologischen Horizont verwurzelt. Dieser Horizont gilt aber nicht als Zufluchtsort und Schutzort 41 42 43 44
Soyalphilosophiscbe Studien, a.a.O., S. 143 — 144. a.a.O., S. 116. Im Aufsatz „Zum Begriff der Freiheit". a. a. O., S. 77. Im Aufsatz „Schopenhauer und die Gesellschaft". a. a. O., S. 67. Im Aufsatz „Ideologie und Handeln".
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Hotimir Burger
vor dem gesellschaftlichen und geschichtlichen Leiden, sondern als Anhaltspunkt eines wahrhaft emanzipatorischen Impulses, der in noch nicht realisierten Möglichkeiten des Menschen verankert ist. Es ist aber auch ein Beleg dafür, daß man nach einem noch so tiefen Denken immer wieder auf dieselbe menschliche Grundlage kommen muß. Dieser Horizont ist deswegen auch ein Rahmen des Verständnisses und der Kritik der gesamten modernen und vormodernen Geschichte. Diese Artikulation der Anthropologie in der Kritischen Theorie zeigt andererseits, wie nötig und inwiefern möglich es ist, im Rahmen einer emanzipatorischen und kritischen Theorie überhaupt beide Fronten offen zu halten: die gegenüber der Realität, durch Forschung und Kritik, und die gegenüber den fundamentalen theoretischen und philosophischen Fragen, die es im neuen Kontext immer wieder zu stellen und zu entwickeln gilt. Denn in eben dem Maße, in dem sie die Selbstverständlichkeit der eigenen Begründung als Kritik durch die bestehende Gesellschaft in Frage gestellt hat und insofern auch die Konstitution des Subjekts als solchen kritisch zu beleuchten versuchte, mußte die Kritische Theorie eine noch tiefere Kritik der logischen und methodologischen Verfassung der traditionellen Theorie unternehmen, als es im bekannten Aufsatz von Horkheimer (aus dem Jahre 1936) ausgeführt wurde. Dadurch erst ist die Kritische Theorie auf die Ebene gekommen, auf der sie gleichberechtigt mit der sogenannten „großen Philosophie"45 die großen Gedankenprojekte wie die Kantische Thematisierung der Anthropologie im Gegensatz zu seinen Analysen des Subjekts in den kritischen Schriften, wie die späte Schellingsche Philosophie, Kierkegaards Kritik der Hegeischen Philosophie, die Marxsche These von der Aufhebung der Philosophie, Nietzsches Kritik des begrifflichen Denkens usw. fortsetzen konnte. Die differentia specifica Kritischer Theorie zu all dieser Philosophie bleibt eben ihre explizite und konsequente Intention zur Emanzipation und Kritik oder zur Emanzipation durch Kritik. Dadurch bleibt sie aber auf dem Weg, den besonders energisch Karl Marx gewiesen hat.
45
Insofern war es immer wichtig, den Unterschied zur Existenzphilosophie (besonders zu HEIDEGGER) hervorzuheben, die manche von den erwähnten Problemen thematisiert hat. Darüber: H. MÖRCHEN, Macht und Herrschaft im Denken von Heidegger und Adorno, Stuttgart 1980, und DERS., Adorno und Heidegger. Untersuchung zu einer philosophischen Kommunikationsverweigerung, Stuttgart 1981.
III. Arbeitsgruppe Gesellschaftstheorie
ANDREW AR
(New York)
Autoritärer Sozialismus und die Frankfurter Schule Der Vortrag wird sich kritisch mit einigen der Positionen und Analysen auseinandersetzen, die die Hauptvertreter der Frankfurter Schule gegenüber der Sowjetunion und dem sowjetischen Gesellschaftstypus entwickelt haben. Meiner Überzeugung nach kann keine Makrotheorie der modernen Welt ernst genommen werden, die nicht im Prinzip oder aus politischen Gründen eine angemessene Bestimmung des autoritären Staatssozialismus vornehmen kann. Darüberhinaus wird es keine genuine Kommunikation zwischen den Oppositionsbewegungen im Westen und Osten geben, solange eine der beiden Seiten einer Gesellschaftstheorie zuneigt, die sich unsensibel oder einfach apologetisch verhält gegenüber den Unrechtsformen und Unfreiheiten der jeweils anderen Seite. Ich unterstelle dabei, daß alle Formen der klassischen marxistischen Theorie, besonders aber deren gemeinsame philosophisch-historische, klassen- und staatstheoretische sowie schließlich politökonomische Grundannahmen, zu einem solchen theoretischen und politischen Versagen angesichts des sowjetischen Gesellschaftstyps geführt haben. In diesem Kontext scheint eine erneute Überprüfung der wichtigsten Werke der Frankfurter Schule besonders lohnenswert, weil einerseits eine Kritik orthodox-marxistischer Grundannahmen, also eine Art von Selbstkritik des Marxismus, von Anfang an für die Frankfurter Schule konstitutiv war, und andererseits der Kampf gegen den „autoritären Staat" die Grundlage all ihrer politischen Erfahrungen war. Das tatsächliche Ergebnis dieser kritischen Konfrontation mit dem autoritären Staatssozialismus war jedoch auf allen Stufen höchst ambivalent, und die Entwicklung einer angemessenen, in der Tradition der Frankfurter Schule begründeten Theorie bleibt eine offene Aufgabe. Es ist möglich, die Stufen der Auseinandersetzung der kritischen Theorie mit dem autoritären Sozialismus in den folgenden Schritten zu rekonstruieren: 1. die Theorie des rückständigen Sozialismus (1932 oder 1929 bis 1937); 2. die Theorie des deformierten Sozialismus (1937 bis 1939); 3. die Theorie der autoritären Konvergenz oder des „Staatskapitalismus" (1940—1941); 4. immanente Kritik und Rückkehr zur Orthodoxie (Marcuses Soviet Marxism); und schließlich 5. die theoretischen Anfänge einer zweiten Version der modernen Gesellschaft (in einigen Arbeiten des Starnberger
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Max-Planck-Instituts). Meiner Meinung nach mußten die Theorien der 1., 2. und 4. Stufe unter anderem aufgrund ihrer mehr oder weniger versteckten Orthodoxie scheitern, während die Theorie der 3. Stufe aufgrund der Annahmen scheitert, die sie mit der späteren Totalitarismustheorie teilt. Dabei muß freilich betont werden, daß die auf der 3. Stufe entwickelte Theorie den interessanten, von F. Pollock unternommenen Versuch einer politischen Krisentheorie enthielt, welche allerdings an einer Unklarheit über das eigentliche Objekt der Analyse litt. In jedem Fall werden die Möglichkeiten einer fruchtbaren Fortsetzung dieser Analysen in dem Augenblick untergraben, in dem eine negative Geschichtsphilosophie die Gesellschaftstheorie in dieser ihrer zentralen Rolle im Rahmen der kritischen Theorie verdrängt hatte. Die auf Stufe 5 entwickelte Theorie enthält schließlich, weil sie mit den normativen und theoretischen Grundannahmen des orthodoxen Marxismus am entschiedensten gebrochen hat, die beste Möglichkeit der Ausarbeitung einer angemessenen Theorie; nur ist das aufgrund eines beinah unerklärbaren Desinteresses an diesem Gegenstand als auch aufgrund gewisser evolutionstheoretischer Voraussetzungen, die die Einordnung des sowjetischen Gesellschaftstypus erschweren, bisher nicht geschehen. Diese Voraussetzungen erlauben nur mit großen Schwierigkeiten die Ausarbeitung der Simultaneität von Modernität und Nichtmodernität dieses Gesellschaftstypus. Nichtdestoweniger enthalten die neuen Arbeiten von Habermas viele Elemente, die sich als fruchtbar erweisen können für eine kritische Theorie des autoritären Staatssozialismus. In der Folge werde ich zunächst die Stufe 3 der Konfrontation der Frankfurter Schule mit dem Gesellschaftssystem sowjetischer Prägung rekonstruieren und mich dann mit der Möglichkeit befassen, ob die Stufe 5 die fruchtbaren Untersuchungsstränge, die sich aus diesem früheren Kontext ergeben, fortzusetzen und zu komplementieren vermag. Abgesehen davon, daß ich zu wenig Zeit habe, traf ich diese Auswahl, weil unser Interesse an den anderen drei Stufen heute in erster Linie nur noch ein historisches sein dürfte. Da sie die unhaltbaren Annahmen klassischer progressistischer und trotzkistischer Auffassungen gemeinsam haben, geben die frühesten Arbeiten Horkheimers und seiner Kollegen sowie auch die des späteren Marcuse kaum etwas her für eine aktuelle Theoriekonstruktion. Die politischen Gründe für die Auswahl, die sie getroffen haben, die Kontexte des deutschen Nationalsozialismus und des amerikanischen McCarthyismus, könnten vielleicht immer mit Nutzen erforscht werden von einer Wissenschaftssoziologie, die darüber hinaus dazu beitragen könnte, ein paar neue Spielarten der Selbstmystifikation in bezug auf den Charakter der Sowjetgesellschaft aufzuklären; doch würde diese Methode nur wenig Licht werfen auf das, was da mystifiziert wird. Schließlich wäre eine Kritik der ideologischen Dimensionen der hier angesprochenen Methoden heute
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ausschließlich dann relevant, wenn die Wendung der emanzipatorischen Dimensionen der Analysen Frankfurter Typs, selbst in ihren schwächsten Momenten, gegen deren innere Vergewaltigung und Kapitulation im Rahmen der gegebenen Theorien ein Unterfangen wäre, das in bezug auf die inneren Widersprüche einiger gegenwärtiger gesellschaftlicher Phänomene, wie z. B. soziale Bewegungen, sinnvoll sein könnte; doch wäre in unserem postmarxistischen kulturellen Kontext — Ost und West — ein solches Unterfangen weitgehend ohne Sinn, zumindest zum jetzigen Zeitpunkt. Zweifellos hatte die Methode, deren sich Horkheimer und implizit Pollock um 1940 bedienten, ihre politischen Hintergründe (die Säuberungen, gefolgt vom Pakt und vom deutschen und russischen Einmarsch in Polen) wie auch ihre ideologischen Zusammenhänge (Horkheimers vorübergehende Hinwendung zu einer von Ausschüssen gesteuerten Demokratie, Pollocks residuale Hoffnungen auf eine liberale Demokratie). Ich könnte zeigen — will es hier aber nicht tun —, daß die neuen politischen Erkenntnisse, empirisch gesehen, tatsächlich eine bessere Grundlage für eine Analyse der Sowjetgesellschaft bilden als sämtliche früheren, mit Planwirtschaft und Staatseigentum verbundenen Illusionen, und daß die Hinwendungen zu verschiedenen Spielarten demokratischer Theorie wichtige normative Fortschritte für die Theoriekritik darstellen. Am wichtigsten ist hier, daß diese doppelte — empirische wie normative — Befreiung der Theorie mit einer wirklich neuartigen Bemühung um eine Theoriekonstruktion verknüpft war. Horkheimers „Autoritärer Staat" (1940)! und Pollocks „Staatskapitalismus" (194l)2 waren die ersten Arbeiten der eigentlichen Frankfurter Schule, die einige neue Einsichten in die Sowjetgesellschaft vermittelten. Beide waren bezeichnenderweise entstanden zwischen der deutsch-russischen Teilung Polens und dem deutschen Einmarsch in die Sowjetunion, aber nur eine von ihnen brach offen das frühere und spätere „kritische Schweigen" der Theoriekritik. Während jedoch leider Horkheimers ausdrückliche Identifizierung der Sowjetunion (.integral etatism') als „konsequenteste Version des autoritären Staates" nicht verbunden war mit einer ausgearbeiteten theoretischen Konstruktion, leugnete Pollock anscheinend die Anwendbarkeit seines interessanten theoretischen Modells auf das Gesellschaftssystem der Sowjetunion. Trotzdem ist es sicher gerechtfertigt, beide Arbeiten so zu behandeln, als beschäftigten sie sich mit demselben theoretischen Gegenstand. Zunächst einmal mußte Horkheimer Pollocks Modell als Entwicklung der wirtschaftlichen Aspekte seiner eigenen Beweisführung sehen, soweit sie sich auf den autoritären Staat bezog, wie er 1 2
M. HORKHEIMER, Kritische Theorie der Gesellschaft, Band III, Frankfurt, 1968. Studies in Philosophy and Social Science, vol. XI. 1941, H 2.
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sich der Tendenz nach im Nazideutschland verwirklichte, in der Sowjetunion aber nahezu schon vollständig ausgebildet war. Pollock selber3 war der Auffassung, daß das System der wirtschaftlichen Verteilung in der Sowjetunion seinem Modell am weitesten angenähert war. Wichtiger noch: Sein spezifischer Grund4, die Sowjetunion aus seiner Beweisführung auszuklammern, nämlich die Abschaffung des Privateigentums und der privaten Eigentümer, ist ziemlich irrelevant vom Standpunkt seiner eigenen These aus, die das durchgehend etatistische Element und das Entstehen einer neuen, auf Politik basierenden Form sozialer Schichtung betont. Zieht man den residualen Status aller kapitalistischen Elemente in dem Modell in Betracht, dann war es lediglich die Bezeichnung „Staatskapitalismus" (von vielen als contradictio in ad/ecto5 empfunden), die auf die Sowjetunion nicht anwendbar war, nicht aber Pollocks Konzept. Man könnte, wie Franz Neumann, berechtigterweise den Gedanken anzweifeln, daß im Nationalsozialismus kapitalistische Elemente nur residual gewesen seien. Dann aber würde der Schluß noch unausweichlicher, daß die Theorie des „Staatskapitalismus" in erster Linie relevant war für die Sowjetgesellschaft, was zu jenem Zeitpunkt Horkheimers Position war, der natürlich (anders als Neumann) die Entwicklung Nazideutschlands in der gleichen Richtung hervorhob. Von hier aus ist es möglich, Horkheimer und Pollock, gemeinsam mit Bruno Rizzi, Max Schachtmann, James Burnham und Dwight McDonald, zu den linken Stammvätern des späteren Totalitarismus-Paradigmas zu zählen. Die vom frühen Frankfurter (oder besser New Yorker) Institut vertretene Version dieses Paradigmas kann folgendermaßen zusammengefaßt werden: Staatskapitalismus = integraler Etatismus = Staatssozialismus, seiner residualen, unwesentlichen privatkapitalistischen Elemente entkleidet, war eine neue, antagonistische, industrielle Gesellschaftsformation, die in der Sowjetunion bereits existierte (hier war Pollock inkonsequent), im Nazideutschland als starke Tendenz vorhanden und in allen kapitalistischen Ländern eine sehr reale Möglichkeit war, die, wenigstens nach Horkheimers Vorstellung, nur vermieden oder beseitigt werden konnte durch soziale Revolution. Nach Pollocks in dieser Hinsicht grundsätzlich anderen Gedankengängen war der Staatskapitalismus als wirtschaftliches Endergebnis beinahe unvermeidbar, implizierte jedoch nicht notwendigerweise den autoritären Staat. Die „totalitaristische" Variante konnte ihrerseits nur durch das Auftreten und den Sieg einer demokratischen Variante desselben Systems vermieden werden. 3 4
5
Ibidem., S. 211, Anm. 1. Ibidem, S. 211, Anm. 1. POLLOCK sagt nur: „It is somewhat doubtful whether our model of state capitalism fits the Soviet Union in its present phase." F. NEUMANN, Behemoth, New York, 1942.
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Im Augenblick befasse ich mich lediglich mit der Relevanz von Pollocks Modell für die Sowjetunion, deren soziale Struktur und deren Entwicklungsmöglichkeiten. Horkheimer, der aus der Tatsache, daß überhaupt ein totalitärer Staat entstanden war, das Veralten des historischen Materialismus, wie man ihn bis dahin verstanden hatte, ableitete, war nicht in der Lage, in diesem Zusammenhang eine neue kritische Methodologie vorzuschlagen; er setzte seine Hoffnungen auf eine ziemlich unbestimmte totale Revolution, bei der es sich nur um die Kehrseite seiner späteren historisch-philosophischen Verzweiflung handelte. Pollock, der in der Ablehnung der Kritik der politischen Ökonomie mit Horkheimer übereinstimmte (und so auch von Neumann verstanden wurde), skizzierte seinerseits jedoch die Grundzüge einer neuen kritischen Theorie in Form einer Kritik der Politik. Nach seiner Auffassung mußte die neue Gesellschaft nicht als „das Millennium" (Neumann) im Sinne einer unveränderbaren, absolut dauerhaften und anscheinend ewigen Form sozialen Lebens gesehen werden. Das Nichtvorhandensein ökonomischer Widersprüche mußte nicht das Nichtvorhandensein fundamentaler politischer und sozialer Spannungen, ja Konflikte bedeuten. Pollocks Modell des Staatskapitalismus hatte dementsprechend einen doppelten Zweck: den Charakter eines völlig neuen Typs gesellschaftlicher Struktur zu bestimmen und gleichzeitig deren selbstauferlegte Grenzen zu erforschen. Nach Pollock bezeichnet der Staatskapitalismus eine vollkommen neue historische Epoche, „den Übergang von einer vorwiegend wirtschaftlich bestimmten zu einer essentiell politischen Ära". Das neue System bringt einen neuen Apparat von Regeln hervor, die zwar, oberflächlich gesehen, wirtschaftlich, in Wahrheit jedoch politisch bedingt sind. Pollock betonte nachdrücklich, es sei das definierende Kennzeichen der neuen gesellschaftlichen Formation, daß der Markt ersetzt werde durch ein System zentralisierter Planung (in der ersten Version der These) oder politischer Kommandos (in der zweiten, angemesseneren Version)6, durch welche Produktion, Verbrauch, Sparmaßnahmen und Investitionen geregelt würden. Mit Anklängen an Kautsky und Lenin argumentierte Pollock, daß der Staatskapitalismus mit seiner Fähigkeit, systematisches Management und industrielle Rationalisierung über die durch die Fabrik gesetzten Grenzen hinaus zu erweitern, eine auf die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit ausgedehnte Verallgemeinerung der Struktur des modernen Riesenunternehmens darstelle. Hier tritt jedoch an die Stelle der Herstellung von Waren die Herstellung für den Verbrauch, und jeglicher Aspekt der Herstellung, einschließlich der Investitionen, wird rigoros kontrolliert. Weder übermä6
F. POLLOCK, Is National Socialism a New Order, Studies in Philosophy and Social Science, vol. XI. 1941, H 3.
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ßiges Sparen noch übermäßige Investitionen können Störungen in größerem Ausmaß verursachen. Fehler können durch Planungsorgane aufgespürt und ihre Konsequenzen über die gesamte Wirtschaft verteilt werden. Auch Distributionsprobleme sollen sich, so wird angenommen, mit derselben Leichtigkeit lösen lassen. Es ist nicht erforderlich, post festum Käufer zu suchen, öffentlicher wie privater Bedarf werden zusammen mit den für ihre Deckung bereitzustellenden Mitteln von vornherein festgelegt. Weil er wahrscheinlich sich auf diese Diagnose nicht so ganz verlassen möchte, fügte Pollock die Möglichkeit eines ergänzenden Verbrauchermarktes mit einer relativ freien Preisbewegung hinzu, der als eventuelles Korrektiv für Planungsfehler in bezug auf den individuellen Bedarf zu dienen hatte. Auf diese Weise nahm er zusammen mit dem starren, zentralisierten Modell eines Kommandosystems gleichzeitig einige der späteren Formen des Krisenmanagements vorweg. Heute ist es aufgrund unserer späteren Erfahrungen mit der Sowjetunion und osteuropäischen Ländern nicht schwer zu erkennen, wie gründlich Pollock die Produktions- und Verteilungsprobleme zentralisierter Kommandosysteme unterschätzt hat. Trotzdem sind die Gründe für seinen Irrtum interessant. Während er die eine Hälfte des orthodoxen marxistischen Planungsdogmas, diejenige, die dessen notwendige Verbindung mit einer freien und nicht von Antagonismen beherrschten Gesellschaft betrifft, offenbar aufgegeben hat, hält er ebenso offensichtlich an der anderen Hälfte fest, nämlich der Möglichkeit, sämtliche Aspekte von „Produktionsanarchie" mittels globaler Planung auszuschalten. Ebenso wichtig war der Umstand, daß er, während er sein theoretisches Modell an der Sowjetunion ausrichtete, mit der er sich seit 1928 beschäftigt hatte, seine Vorstellungen vom wirtschaftlichen Funktionieren eines derartigen Modells aber aus anderer Quelle bezogen hatte. Stark beeindruckt von dem Erfolg der „unvollendeten" Variante des Staatskapitalismus im Nazideutschland, die Probleme der wirtschaftlichen Erholung und Vollbeschäftigung zu lösen, nachdem die Marktwirtschaft dieses nicht fertiggebracht hatte, neigte er dazu, diesen Erfolg restlos dem Instrumentarium der Wirtschaftslenkung zuzuschreiben. Anstatt den neuen Typ des Experimentierens mit zentralen Steuerungsfunktionen im Kontext eines kapitalistischen Wirtschaftssystems zu erkennen, nahm er fälschlicherweise an, daß die totale Verwirklichung des politischen Primats vom wirtschaftlichen Standpunkt aus sogar noch rationaler zum Ziel führen müsse. Es sind solche Zusammenhänge, in denen Pollocks Protototalitarismus-These, während sie die Identität des tatsächlichen historischen Gegenstandes seiner Analyse ziemlich im unklaren läßt, ihm schlechte Dienste erweist. Zweifellos war Pollock sich bewußt, daß es Kritik an der Planwirtschaft gab, Kritik, die sich auf Probleme mit der Information, der Kostenkalkulation, der Motivierung und dem technischem Fortschritt bezog. Aber er
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hatte nahezu unbegrenztes Vertrauen zu den Fähigkeiten von Planungstechniken, mit den drei ersten dieser Probleme fertigzuwerden, und glaubte außerdem, die Rüstungsproduktion könne als Motor für den technischen Fortschritt an die Stelle des Konkurrenzkampfes treten. Daher seine Schlußfolgerung: Der Staatskapitalismus hatte keine immanenten wirtschaftlichen Grenzen, diejenigen, die an seinen dynamischen Möglichkeiten interessiert sind, müssen anderswo suchen. Natürlich impliziert die Lösung von Wirtschaftsproblemen in Pollocks Darstellung kaum die erstrebenswerte Gesellschaft. Er ist sich klar darüber, daß die totalitäre Variante des Staatskapitalismus dem Menschen hohe Kosten abfordert: Terror, Manipulierung, Atomisierung von Gruppen und Individuen, Verlust von Rechten, die unter dem Kapitalismus bereits gewonnen worden waren, und das Anwachsen der Kriegsgefahr. Der Staatskapitalismus, so wirtschaftlich stabil er sein mag, ist eine durch und durch von Antagonismen beherrschte Gesellschaftsform. Deshalb ist es theoretisch eine Notwendigkeit und normativ eine Verpflichtung für den kritischen Theoretiker, nach seinen eventuellen Begrenzungen zu suchen. Pollock war einer der ersten, der in bezug auf das neue Gesellschaftssystem einen solchen Versuch unternahm, und es gelang ihm in der Tat, einige Ansätze zu einer politischen Krisentheorie zu entwickeln. Nach Pollock liefert die autoritäre Variante des Staatskapitalismus den Rahmen, innerhalb dessen sich eine neue politische, bürokratisch herrschende Klasse konstituiert. Diese Klasse ist nun aber nicht ganz und gar einheitlich; entscheidende Differenzen und Konflikte ergeben sich aus „unterschiedlichen Positionen innerhalb der Verwaltung, aus unterschiedlichen Programmen für die Erhaltung oder Ausdehnung von Macht oder aus dem Kampf um das Monopol der Kontrolle". „Schlechte Kompromisse und ständige Auseinandersetzungen" können das Ergebnis sein. Während „das Klasseninteresse an der Erhaltung des neuen Status quo" dazu neigt, diese Klasse zu einer einheitlichen Front gegen die Außenwelt zusammenzuschließen, und Gegensätze im allgemeinen ausgeglichen werden, „ehe sie sich zu einer Bedrohung für das System auswachsen können", finden die Differenzen und Konflikte dennoch Eingang in die Plankonstruktion. Unter solchen Bedingungen stellt Pollock in auffallendem Widerspruch zu seinen optimistischen Annahmen hinsichtlich global zentralisierter Planung fest, könne „kein genereller Plan für die optimale Anwendung und Entwicklung der vorhandenen Produktionskräfte entwickelt werden". Das Planungsgremium wird so „zu einer Arena des Kampfes zwischen gesellschaftlichen Kräften". Diese Erkenntnis veranlaßt Pollock zu einer weiteren Revision seiner Auffassung von der Planwirtschaft, einer Revision, die seine Analyse in ihrer Gesamtheit in Frage zu stellen scheint: „Planung in einer antagonistischen Gesellschaft ist lediglich in einem technischen Sinn dasselbe Instrument, das in einer Gesellschaft angewendet wird, in
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welcher Interessenharmonie herrscht." Leider läßt nicht nur seine Analyse der Wirtschaft in bestehenden, auf Planwirtschaft basierenden Gesellschaftssystemen diese Einschränkung aus, er untersucht auch nicht die sozialen und politischen Konsequenzen der „Planung" innerhalb einer antagonistischen Gesellschaft. Trotzdem ist, nachdem er die Einheit der politischen und der wirtschaftlichen Sphäre im Rahmen des Staatskapitalismus postuliert hat, seine auf politische Spannungen einerseits und wirtschaftliche Stabilität andererseits abhebende Darstellung begrifflich nicht überzeugend. Da er stark beeindruckt war von der Fähigkeit solcher Systeme, mit den für den liberalen Kapitalismus kennzeichnenden wirtschaftlichen Problemen fertigzuwerden, erkannte er nicht genau, daß der Preis, der dafür zu zahlen war, in für die neue Formation spezifischen, politisch-wirtschaftlichen Problemen bestehen würde („Rationalitätsdefizite"). So sind wir schließlich mit der Folgerung konfrontiert, daß politische Spannungen und Konflikte, so dramatisch sie auch sein mögen, innerhalb der politischen Sphäre oder des politischen Subsystems unter Verschluß gehalten werden können. Indessen liefert uns Pollock doch eine Kette von Argumenten, die sich auf Krisenerscheinungen beziehen, die letzten Endes in der antagonistischen Struktur der neuen Gesellschaft und im Widerstand von unten wurzeln und die die Stabilität des staatskapitalistischen Systems in ihrer Gesamtheit bedrohen könnten. Als Wirtschaftsform in Friedenszeiten verliert ein solches System leicht die spezifische Motivierung für technischen Fortschritt, die es hat, nämlich den Konkurrenzkampf im militärischen Bereich. Man könnte natürlich versuchen, das durch Motivierungen zu ersetzen, die mit einer Anhebung des Lebensstandards zu tun haben. Wo aber die totalitäre Variante des Staatskapitalismus herrscht, könnte ein spektakuläres Ansteigen des Lebensstandards, verbunden mit „mehr Freizeit, mehr beruflichen Fachkenntnissen, mehr Gelegenheit zu kritischem Denken" sich als gefährlich für die geistige Abhängigkeit der Massen erweisen. Die herrschende Gruppe könnte deshalb beschließen, den Lebensstandard niedrig zu halten (hier zeigen sich „die politischen Begrenzungen der Produktivität" in einem solchen System) und „technischen Stillstand" dadurch zu vermeiden, daß sie „ein Wettrüsten" aufrechterhält und „die Angst vor einer drohenden Aggression von außen" nicht einschlafen läßt. Es war umstritten in den vierziger Jahren, und das bleibt es auch in den achtziger Jahren, ob das Argument, daß totalitärer Staatskapitalismus „als Friedenswirtschaft nicht überleben" könne, auch auf die Sowjetunion anwendbar ist. Die Tatsache, daß Pollock über die Sowjetunion schrieb, ohne das in vollem Umfang zuzugeben (vielleicht nicht einmal sich selbst gegenüber), ist in der Tat eine Bestätigung für die Relevanz dieses Arguments, da in diesem Fall kein Verdacht auf ideologische Verzerrungen
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bestehen kann. Interessant genug ist es, daß sowohl er wie Horkheimer „freundlich-feindliche Blöcke" voraussagten, die einander bedrohen und sich an einem unbegrenzten Wettrüsten beteiligen würden, eine Weltherrschaft nur dem Anschein nach anstrebend, beziehungsweise einen über die ganze Welt verbreiteten Staatskapitalismus, der sich de facto nicht verwirklichen ließe.7 Obwohl Pollocks Postulat des notwendigerweise militaristischen Charakters des totalitären Staatskapitalismus sich direkt auf den Nationalsozialismus bezog, besteht kein Grund (auf der Basis seiner These), diese Argumentation nicht auch auf die Sowjetunion anzuwenden, es sei denn natürlich, man hält diese Gesellschaft für frei von Antagonismen, für demokratisch oder für beides. Was diese Punkte betrifft, gibt es keinerlei Veranlassung für die Annahme, Pollock habe Horkheimers in „Der autoritäre Staat" formulierte Einstellung nicht geteilt. Dementsprechend wohnt dem Absolutismus der Sowjetbürokratie, auch wenn er zum Teil in einer kriegsmäßigen Situation entstand, die ihm von anderen aufgezwungen worden war, ein tiefgehendes Interesse an der Aufrechterhaltung und Ausweitung dieser Situation inne. Intern anscheinend stabilisierbar, drückt der totalitäre Staatskapitalismus seinen inneren Antagonismus in der Form von Wettrüsten und Kriegsdrohung aus. Es ist zum großen Teil gerechtfertigt, wenn Kritiker wie F. Neumann behaupteten, daß die Theorie des Staatskapitalismus (wie die späteren Totalitarismus-Paradigmen), welche Absichten der Autor auch immer verfolgt haben mochte, letzten Endes eine voll stabilisierbare soziale Ordnung unterstellte, deren Antagonismen unterdrückt und eingedämmt werden konnten. Ohne die klassisch-marxistische Revolutionstheorie anzuwenden — wie etwa Horkheimer, der das ohne theoretische Rechtfertigung, aber auch ohne eine Theorie tat, die Krisen auch auf dem Niveau der Sozialintegration sucht —, versuchte Pollock dennoch, die selbstauferlegten Grenzen des Staatskapitalismus zu erforschen. Doch als ihm das nicht gelang, verwies er die einzigen relevanten Widersprüche des Systems in die internationale Arena. Das bedeutete aber, daß im Prinzip die Niederlage des totalitären Staatskapitalismus und die Befreiung seiner Untertanen nur durch den Sieg demokratischer Gesellschaften herbeigeführt werden konnten, die ihren totalitären Gegnern jedoch nur dann gewachsen sein konnten, wenn sie selber staatskapitalistische Wirtschaftsstrukturen übernahmen. Tatsächlich war auch diese Schlußfolgerung wieder nur aufs Nazideutschland gemünzt, dessen Einmarsch in die Sowjetunion Pollock vor einer schwierigen theoretischen und politischen Entscheidung bewahrte. In der Nachkriegszeit schien die sowjetische Entwicklung die ursprüngliche Diagnose zweifellos zu bestätigen; zu jenem Zeitpunkt aber konnten die 7
HORKHEIMER, op. cit., S. 60.
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westlichen Demokratien gegenüber der überlebenden Form des totalitären Staatskapitalismus, die inzwischen Osteuropa in Besitz genommen hatte, ebensowenig noch als Befreiungsträger auftreten wie auch der Atomkrieg kein akzeptables Mittel zu solcher Befreiung war. Weder Pollock noch Horkheimer haben sich jemals wieder mit der Untersuchung der Sowjetgesellschaft beschäftigt, und der Grund dafür ist wohl offensichtlich. Es war ihnen einfach zu verhaßt, über die Möglichkeit des unbegrenzten Überlebens eines derartigen Gesellschaftssystems nachzudenken, dessen Kritisierung offenbar nur den konservativsten und kriegerischsten Elementen in den westlichen Gesellschaften Auftrieb geben konnte, ohne zur Befreiung irgendeines Menschen etwas beitragen zu können. In einem vor kurzem unternommenen Versuch, „die Aufgaben einer kritischen Gesellschaftstheorie" zu umreißen, weist Jürgen Habermas auf die um 1940—41 im Institut geführte Diskussion über die „Integrationsformen postliberaler Gesellschaften" als auf einen der wesentlichen Bereiche theoretischer Kontinuität und Erneuerung hin.8 Indem er zu Anfang die Pollock-Horkheimersche These vom autoritären Staat als Grundlage für fundamentale Ähnlichkeiten zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und dem stalinistischen Rußland und die orthodoxere These Neumann-Kirchheimers, die die weiterbestehende strukturelle Identität des ersteren mit anderen monopolkapitalistischen Gesellschaften behauptet, nebeneinander stellt, arbeitet Habermas so etwas wie einen Kompromiß heraus. Nach seiner Konzeption handelt es sich tatsächlich um zwei moderne gesellschaftliche Formationen, die am Ende der liberalen Ära zutage treten, um den staatlich beherrschten Spätkapitalismus, deren totalitäre, aus der politischen Kultur heraus erklärbare Variante das Nazideutschland darstellt, und um den „bürokratischen Sozialismus", dessen Frühform der Stalinismus darstellt. Die Beweisführung übernimmt Pollocks These der Zweiteilung staatlich gelenkter Formationen, allerdings nicht auf der Basis des ursprünglichen Gegensatzes zwischen Demokratie und Totalitarismus, sondern eher des Gegensatzes zwischen Kapitalismus und Nichtkapitalismus. Darüber hinaus läßt Habermas Raum für Pollocks Vorstellung vom Hervortreten eines historisch neuartigen Typus moderner, staatsgelenkter sozialer Formationen, selbst wenn er, Neumann folgend, das Nazideutschland trotz seines autoritären Charakters in diese Kategorie nicht einbezieht. Der Vorteil gegenüber der Position Pollocks, wie sie hier beschrieben wurde, liegt auf der Hand: Habermas' Typologie vermeidet die Verwirrungen, die mit der Behandlung zweier verschiedener ökonomischer Strukturen und Verhaltenstypen im Rahmen eines einzigen Konzeptes zusammenhängen. Doch sollte auch auf einen Nachteil hingewiesen wer8
Theorie des Kommunikativen Handelns, Band II, Frankfurt, 1981, S. 555 — 556.
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den: Die neue Position neigt dazu, die wichtigen Phänomene im politischen, juristischen und kulturellen Bereich, die der Stalinismus und der Nazismus gemeinsam haben und auf die mit Recht von Theoretikern wie Horkheimer und Arendt hingewiesen wird, theoretisch herunterzuspielen. Zweifellos stellt Habermas' Arbeit eine Fortsetzung Pollocks auch noch in anderer Weise dar. Für staatlich organisierte, spätkapitalistische Systeme sucht er nicht so sehr nach einer wirtschaftlichen als vielmehr nach einer politischen Krisentheorie, nämlich Krise des Krisenmanagements, um einen Begriff C. Offes zu verwenden. Auch hier geht die neue Position über die alte hinaus, weil sie unabhängiger ist vom wirtschaftlichen Determinismus Pollocks als auch Neumanns, die den impliziten Glauben miteinander teilten, daß ausschließlich immanente wirtschaftliche Widersprüche für soziale Krisen relevant seien, Habermas' Theorie, die er in den frühen siebziger Jahren mit seinen Starnberger Kollegen entwickelte9, ging außerdem über die ältere Frankfurter Kritik an einer total verwalteten Kultur (die auch Pollock 1941 in vereinfachter Form vertrat) hinaus zugunsten der Analyse von Legitimations- und Motivationsproblemen, später auch von Sozialpathologien. Obwohl es verlockend erscheint, die Konzepte einer solchen Theorie auf Gesellschaften sowjetischen Typs anzuwenden10, will ich mich hier nur auf die neueste Auseinandersetzung mit dem „bürokratischen Sozialismus" konzentrieren, die Teil der Habermasschen Bemühung ist, diesen Traditionsaspekt der Kritischen Theorie zu erneuern. Um Habermas' kurzes, aber komplexes Argument stark zu simplifizieren: Seine These scheint gleichzeitig den Parallelismus von „bürokratischem Sozialismus" und Spätkapitalismus auf der Ebene der Systemintegration als auch deren partielle, aber sehr wichtige Asymmetrie auf der Ebene der sozialen Integration zu erfassen. (1) Auf der ersten Ebene konzentriert sich Habermas auf das Hervortreten einer autonomen Wirtschaft und eines unabhängigen Verwaltungssystems, die beide als zweckrationale Subsysteme der modernen Gesellschaft die alternativen Zentren gesellschaftlicher Steuerungsprozesse darstellen. Er weist ferner auf das Vertrauen auf den Output der jeweils anderen zielrationellen Subsysteme hin — den Staat beim Staatskapitalismus, den Markt beim „bürokratischen Sozialismus"; schließlich erwähnt er die Oszillation zwischen markt- und staatsorientierten Strategien als ein gemeinsames Symptom für fundamental ungelöste Rationalitätsdefizite in beiden Gesellschaftssystemen. 9
10
J. HABERMAS, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt, 1973. C. OFFE, Strukturprobleme des kapitalistischen Staates, Frankfurt, 1972. Ich habe schon solche Versuche gemacht, in einer sehr vorläufigen Weise: A. ARATO, Critical Sociology and Authoritarian State Socialism, in HABERMAS: Critical Debates, London, 1982.
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Zweifellos ist die Argumentation, soweit sie sich auf die Parallelen zwischen den beiden Formen der Systemintegration bezieht, nicht ganz überzeugend. Leider läßt sich Habermas (wenn auch nicht konsequent)11 von Pollock und Horkheimer in die Irre führen, wenn er den „bürokratischen Sozialismus" als einen Nachfolger des liberalen Kapitalismus darstellt. Das Ergebnis ist, daß er als den historischen Hintergrund der Sowjetunion eine bereits modernisierte Gesellschaft voraussetzt und das erheblich niedrigere Differenzierungsniveau, das für diese Gesellschaft kennzeichnend ist, außer acht läßt — niedriger im Vergleich zum Kapitalismus. Aus diesem Grunde kann er nicht wahrnehmen, daß das ParteiStaat-Kontrollzentrum nicht identisch ist mit der administrativen Sphäre einer modernen Gesellschaft; es ist weder zielrationell noch bürokratisch in Webers Sinn. Sein Niveau der Durchdringung anderer sozialer Sphären ist weit höher (Offes positive Unterordnung) als dasjenige der Wirtschaft unter dem Spätkapitalismus (negative Unterordnung). So erscheinen auch die Formen des Krisenmanagements auf verschiedenen Stufen: das Management der Rationalitätsprobleme einer „gemischten" Wirtschaft unter dem Spätkapitalismus im Gegensatz zu den Formen des eventuellen Übergangs zu einer (sehr unterschiedlichen) „gemischten" Wirtschaft unter dem „bürokratischen Sozialismus".12 (2) Habermas versucht wenigstens einige der strukturellen Differenzen zwischen den beiden Systemen auf der Ebene der sozialen Integration zu behandeln.13 Nach seiner Auffassung offenbart sich die Durchdringung der Lebenswelt durch systemimmanente Imperative durch zwei fundamental verschiedene Gruppen von Institutionen, unter dem Kapitalismus die Privat haushalte und unter dem „bürokratischen Sozialismus" die Mitgliedschaften in öffentlichen Organisationen. Für Habermas ist der Unterschied fundamental; die Verdinglichung der privaten Sphäre unter dem Kapitalismus schließt die weitgehende, aber nie ganz vollendete Ersetzung kommunikativer Beziehungen durch instrumentale oder strategische ein, während diejenige der öffentlichen Sphäre unter dem „bürokratischen Sozialismus" die Schaffung pseudo-kommunikativer Beziehungen, pseudodemokratischer Assoziationsformen einschließt, die administrative Operationen unter einer demokratischen Maske verbergen und das System in der Verkleidung als Lebenswelt erscheinen lassen. 11
12 13
In einer Antwort auf meine Thesen betrachtet HABERMAS Kapitalismus und bürokratischen Sozialismus als zwei Modernisierungspfade der vorkapitalistischen Gesellschaften. Unter diesem Gesichtspunkt ist der sowjetische Gesellschaftstyp kein Nachfolger des liberalen Kapitalismus und ist nicht unbedingt ein Zeitgenosse des Spätkapitalismus. J. HABERMAS, A Reply to My Critics, HABERMAS: Crit. Deb. I. SZELENYI, R. MANCHIN, Eastern Europe in the Crisis of Transition, ms. Theorie des kommunikativen Handelns, S. 566 — 567; Reply, S. 283.
Autoritärer Sozialismus und die Frankfurter Schule
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Ich möchte hier eine mögliche Implikation der Habermasschen Analyse hervorheben. Da die soziokulturellen Strukturen des Kapitalismus notwendigerweise geprägt sind von einer Spannung zwischen Lebenswelt und System, ist nach Habermas die Beziehung zwischen ihnen stabilisierbar „als formal organisierte, dem Recht unterliegende Aktionsbereiche".14 Während Verrechtlichung eine Schlüsselform der Durchdringung der Lebenswelt durch die Medien Geld und Macht ist, fördert sie auch die Modernisierung des Lebens im Gefolge der Schaffung von Rechtsinstitutionen, die, wenigstens im Prinzip, für eine nicht-administrative, nichthierarchische Benutzung durch soziale Gruppierungen geeignet sind.15 Wenn auf der anderen Seite im Falle von „bürokratisch-sozialistischen" Gesellschaften die Reduzierung der Lebenswelt zum System in einem Zusammenhang auftritt, in welchem das Funktionieren des Systems sich als kommunikative Struktur der Lebenswelt tarnt, müssen pseudodemokratische Organisationen gesehen werden als Substitute für die Mechanismen gesetzlicher Regulierungen, die jedoch nur die „Bürokratisierung", nicht aber die Modernisierung der Lebenswelt herbeizuführen vermögen. Während das formelle Recht die Verwaltung mit Formen von postkonventionellem Moralbewußtsein verbindet, sind die offiziellen Organisationen vom Typ der Sowjetgesellschaften lediglich getarnte Vertretungen administrativer Gewalt. Wenn daher die für spätkapitalistische Gesellschaften spezifischen Konflikte in einem beträchtlichen Ausmaß den Widerstand modernisierter, potentiell demokratischer Komponenten der Lebenswelt gegen die Verdinglichung einschließen, sollten die wirklich charakteristischen Konflikte innerhalb der entwickelen Formen des „bürokratischen Sozialismus" nach dieser Argumentation auf den Rebellionen noch traditionsbewußter oder der Tradition wieder zugeführter Lebenswelten gegen Pseudo-Demokratisierung, Pseudo-Politisierung begründet sein. Während zudem die Legitimation einer spätkapitalistischen Gesellschaft angesichts der moralischen Potentiale einer modernisierten Lebenswelt nur demokratisch sein kann, muß die Legitimation von Gesellschaften sowjetischen Typs nachdrücklich auf die Tradition zurückgreifen, wenn die pseudodemokratischen Züge des kollektiven Lebens erst einmal voll durchschaubar geworden sind. Habermas selber scheint auf eine andere Interpretationslinie hinzuweisen, wenn er die mögliche Relevanz demokratischer Herausforderungen unter dem „bürokratischen Sozialismus" hervorhebt; die Projekte einer demokratischen Gewerkschaftsbewegung und der inneren Demokratisierung der Partei werden in spezifischem Bezug auf den Fall Polen erwähnt. 14 15
Reply, ibidem. Theorie des kommunikativen Handelns, S. 536 — 539.
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Nach Habermas stellt dies jedoch eine Abweichung vom nicht-demokratischen Muster dar, die auf der nationalen Besonderheit und vor allem auf der politischen Kultur des Landes basiert. Solche Herausforderungen sind indessen nicht historisch auf Polen begrenzt gewesen; zudem ist die politische Kultur Polens im ganzen stärker traditions- als demokratieorientiert. Wenn es eine Entwicklung in Richtung auf die Demokratie hin gegeben hat, lag das an den in den letzten drei Jahrzehnten gesammelten, wichtigen Lebenserfahrungen. Auf der Grundlage von Habermas' Rekonzeptualisierung des Problems der sozialen Integration unter dem „bürokratischen Sozialismus" läßt sich zeigen, daß die Modernisierung der Lebenswelt, soweit sie die Entwicklung reflexiver Beziehungen zur Tradition einschließt, durch die Strukturen pseudo-kommunikativer öffentlicher Sphären in diesen Gesellschaften nicht gefördert wird. Aber auf der Basis unserer historischen Erfahrungen ist es offensichtlich, daß diese Strukturen nicht immer fähig sind, solche Modernisierungsprozesse zu blockieren. Was notwendig zu sein scheint, ist die schwierige Herausbildung von oppositionellen, wahrhaft demokratischen Öffentlichkeiten, die fähig sind, Alternativen zu bieten zu einer Sozialisierung entweder durch Zwangsmitgliedschaften oder durch die Atomisierung privater Haushalte.
JOHANN P. ARNASON (Melbourne)
Die Dialektik der Aufklärung und die postfimktionalistische Gesellschaftstheorie 1. Horkheimer und Adorno wollten durch ihre Kritik an der Aufklärung „einen positiven Begriff von ihr vorbereiten, der sie aus ihrer Verstrickung in blinder Herrschaft löst."1 Die konstruktive Wende, die in der Vorrede zur Dialektik der Aufklärung auf diese unmißverständliche Weise angekündigt wurde, ist bekanntlich ausgeblieben; in späteren Arbeiten der beiden Autoren ist es nicht etwa ein „positiver Begriff, der den Ton angibt, sondern eine weitere Radikalisierung der These, das Denken sei „in Wahrheit ein negatives Element" (201). Das gilt sowohl für Adornos negative Dialektik wie auch für die negative Theologie des späten Horkheimer. Es drängt sich daher die Vermutung auf, daß das ursprüngliche Theorieprogramm durch die vorbereitende Kritik nicht abgesichert, sondern unterminiert wurde; die Hoffnung auf selbstheilende Kräfte der Aufklärung hat offenbar den Einsichten in umfassendere und tieferliegende Zusammenhänge des Zivilisationsprozesses nicht standgehalten. Wenn dem aber so ist, hat die These von einer „Dialektik der Aufklärung" unter der Hand einen nicht unerheblichen Bedeutungswandel durchgemacht: im Mittelpunkt stehen nicht mehr innere Spannungen und Widersprüche der Aufklärung, die durch Selbstkritik zu diagnostizieren und eventuell durch Selbstkorrektur zu überwinden wären, sondern die zwischen blinder Heteronomie und illusorischer Autonomie oszillierende Verflechtung der aufklärerischen Bestrebungen mit der Eigenlogik eines Prozesses, den sie weder initiiert haben noch unter Kontrolle bringen können. Die in der Vorrede formulierte Grundannahme, „daß die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken unabtrennbar ist" (3), muß unter diesem Blickwinkel vermessen erscheinen; vertretbar ist allenfalls die viel bescheidenere Idee einer „Verweigerung des Mittuns am schlechten Bestehenden" (19l).2 1
2
MAX HORKHEIMER/THEODOR W. ADORNO, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt 1971, S. 5; die im Text angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf diese Ausgabe. Es ist heute wohl nicht mehr umstritten, daß sich in der Dialektik der Aufklärung eine Geschichtsauffassung durchgesetzt hat, deren Grundzüge schon in ADORNOS frühen
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Es geht also nicht einfach um ein der Aufklärung innewohnendes „rückläufiges Moment" (3) und eine darauf bezogene Reflexion, sondern um einen über sie hinaus greifenden Gesamtprozeß — ein „Verhängnis, das Vernunft allein nicht wenden kann" (201) —, von dem sie sich höchstens punktuell und defensiv distanzieren kann. In diesem Sinne sind auch die Wechselbeziehungen zwischen Aufkärung und Mythos zu verstehen. Man kann weder die anfängliche Verbundenheit der Aufklärung mit dem Mythos noch die am Ende unausweichliche Rückkehr zu ihm auf eine interne Paradoxie zurückführen; im Mythos versinnbildlicht sich vielmehr der Schicksalszusammenhang, dem die Aufklärung ausgeliefert ist und in den sie sich durch ihre Alleinherrschaftsansprüche nur noch tiefer verstrickt. Wie ist aber dieser Entstehungs-, Funktions- und Verfallskontext der Aufklärung näher zu bestimmen? An der Wirkungsgeschichte des Buches sind mehrere Interpretationsvorschläge beteiligt, die sich zwar überschneiden, aber nicht in allen Punkten zusammenfallen. Es liegt nahe, die dominante Tendenz der Geschichte mit dem als Antwort auf den Naturzwang entstandenen, aber in eine sublimierte Form des Naturzwangs umschlagenden Projekt der Naturbeherrschung zu identifizieren. Plausibel ist jedoch auch die These, daß Horkheimer und Adorno ihre Kritik primär gegen ein auf Machtausübung und -Steigerung programmiertes Rationalitätsmuster richten, in dem nicht bloß die immanente Logik der Naturbeherrschung zum Ausdruck kommt, sondern auch ihre kulturelle Verabsolutierung. Es lassen sich ferner Textstellen anführen, die sich vor allem auf die westliche Zivilisation und die ihr zugrundeliegende Maxime der Selbsterhaltung beziehen. Dagegen kann man wiederum einwenden, daß in Wirklichkeit nicht die ganze Bahn dieser Zivilisation thematisiert wird, sondern in erster Linie die bürgerliche Epoche — einschließlich ihrer Vorgeschichte und ihrer selbstzerstörerischen Spätphase. Und schließlich enthalten die „Aufzeichnungen und Entwürfe" am Ende des Buches kritische Bemerkungen zur Geschichtsphilosophie, die dem Fortschrittsund Vernunftglauben das Konzept einer Naturgeschichte entgegensetzen, in der die distinktiv menschlichen Errungenschaften nur das letzte und destruktivste Stadium markieren. Mit allen diesen Lesarten vereinbar, wenngleich nicht immer explizit verbunden ist der kritische Topos, die Dialektik der Aufklärung habe sich den Zugang zu spezifisch gesellschaftstheoretischen Problemen verbaut. Dies läßt sich prima facie schwerlich bestreiten; ob man das soziale Handeln und seine Entwicklungstendenzen durch Sachzwänge der Naturbeziehung oder durch eine kulturell kodifizierte Logik der Herrschaft erklären will,
Arbeiten formuliert wurden; die optimistischere Position, die trotz aller Selbstkritik noch in der Vorrede anklingt, hat dagegen vor allem HORKHEIMER vertreten.
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von dem Eigenwert und der Eigengesetzlichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse ist jedenfalls wenig übriggeblieben. Auf eine „Verdrängung des Sozialen" (A. Honneth) läuft sowohl die Auffassung der Gesellschaft als einer „Natur, die sich selbst zerfleischt" (226), wie auch die Ableitung des Zivilisationsprozesses aus dem Geiste des „erbarmungslosen Fortschritts" (41) hinaus. 2. Trotz dieser eindeutig reduktionistischen Stellungnahme enthält die Dialektik der Aufklärung, wie ich im folgenden zeigen möchte, gesellschaftstheoretisch relevante Argumente und Fragestellungen, die in der bisherigen Rezeption meistens vernachlässigt wurden und erst im Kontext der heutigen Theoriediskussion in der Soziologie zu voller Geltung kommen können. In der letzteren sind m. E. positive Konvergenzen von viel geringerer Bedeutung als eine gemeinsame kritische Stoßrichtung, die freilich sehr verschiedene Strategien und alternative Interpretationsansätze zuläßt. Gegenstand der Kritik ist das funktionalistische Gesellschaftsbild; darunter verstehe ich, kurz ausgedrückt, die These, soziales Handeln sei primär durch Bedürfnisse, Imperative oder Reproduktionszwänge sozialer Systeme zu erklären. Der so definierte Funktionalismus bringt offensichtlich eine weitverbreitete und tief verwurzelte Denkweise zum Ausdruck, die insbesondere sonstige Gegensätze zwischen marxistischen und nichtmarxistischen Theorien überbrückt. In der Dialektik der Aufklärung werden — um die Ergebnisse der folgenden Analyse vorwegzunehmen — die Grundannahmen dieser Tradition zugleich radikalisiert und relativiert; der Versuch, letztendliche und häufig verschwiegene Voraussetzungen des funktionalistischen Ansatzes auf die Spitze zu treiben, läßt andererseits die irreduzibel überschüssigen Bestimmungen des sozialen Lebens klarer hervortreten, von denen die Kritik des Funktionalismus ausgehen muß. An diesen ambivalenten und unabgeschlossenen Reflexionsprozeß kann auch eine Theorie der Moderne anknüpfen, die die Verabsolutierung der funktionalen Bestimmungen und die Radikalisierung der transfunktionalen als gleichermaßen konstitutiv für die moderne Welt sieht. So gesehen wäre die Dialektik der Aufklärung eine Art Gedankenexperiment. Das entspricht sicherlich nicht dem Selbstverständnis der Autoren, aber „die hermeneutische Bedeutung des Zeitenabstandes" (Gadamer) sollte auch in diesem Falle berücksichtigt werden; die von einer akuten Zivilisationskrise inspirierte negative Geschichtsphilosophie erscheint heute als ein selektives Zuendedenken von Tendenzen, die mittlerweile auch andere Erscheinungsformen angenommen haben und einer komplexeren Interpretation bedürfen. Zunächst müssen wir aber den Begriff einer „postfunktionalistischen Gesellschaftstheorie" präzisieren. In der heutigen Funktionalismuskritik lassen sich, wenn ich recht sehe, drei Argumentationsstrategien unterschei-
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den. Erstens wird der funktionalen Analyse vorgeworfen, sie erfasse nur einen Teilaspekt der sozialen Wirklichkeit. Theoriegeschichtlich gesehen steckt dahinter die Einsicht, die sich in Durkheims späteren Arbeiten zunehmend durchgesetzt hat: die Gesellschaft ist mehr als ein „System von Organen und Funktionen", und eine Theorie, die die funktionalen Zusammenhänge verabsolutiert, beschränkt sich damit auf die Oberfläche, bzw. die Außenseite des sozialen Lebens. Auf dieser Linie liegen vor allem die Arbeiten von Habermas und Touraine. Als transfunktionales Moment des Sozialen gilt im ersten Fall der „Verständigungsmechanismus", d. h. eine handlungsorientierende und -koordinierende Grundstruktur, die die progressive Annäherung des sozialen Nexus an einen rationalen Konsensus ermöglicht, im zweiten die „Historizität", d. h. die Fähigkeit der Gesellschaft, sich von ihren eigenen Strukturen zu distanzieren und sie durch alternative Modelle in Frage zu stellen. Zweitens wird versucht, das funktionalistische Begriffsschema von innen aufzulockern und die Wechselbeziehungen zwischen seinen Bestandteilen zu ändern. Luhmann und Bourdieu haben — jeder auf seine Weise — diese immanente Kritik, die strenggenommen eher als neofunktionalistisch zu bezeichnen wäre, am eindrucksvollsten formuliert. In beiden Fällen werden von dem ursprünglichen Programm des Funktionalismus Abstriche gemacht, um ein jeweils anders verstandenes Kernstück schärfer zu profilieren. Luhmann gelangt durch die Neubestimmung des Systembegriffs und des Funktionsbegriffs sowie des Verhältnisses zwischen ihnen zu einem flexibleren Gesellschaftsbild, muß aber zugleich die traditionellen Erklärungsansprüche der funktionalen Analyse weitgehend revozieren: Bourdieu möchte der funktionalen Betrachtungsweise ihre Erklärungskraft dadurch erhalten, daß er sie enger an das Konzept des interessengeleiteten Handelns anschließt und den Systembegriff entsprechend aufweicht. Als dritte — und in unserem Zusammenhang weniger relevante — Alternative wäre noch eine Tendenz zu nennen, die sich in der neueren Parsons-Rezeption durchsetzt. Die systematischste und detaillierteste Fassung der funktionalistischen Theorie wird umgepolt und der Primat der Handlungstheorie wiederhergestellt; aus den funktionalen Determinanten des Handelns werden bloße Koordinaten des Handlungsraums. Die „Rückkehr des Aktors" (Touraine), d. h. die Wiederaufnahme und Weiterentwicklung der handlungstheoretischen Perspektive, drängt sich aus einleuchtenden Gründen auf, wenn die Abkehr vom Funktionalismus — oder zumindest von seiner bisher dominanten Version — durch eine umfassende Rekonstruktion der Gesellschaftstheorie besiegelt werden soll. Sie ist aber nicht der einzige Weg aus der Grundlagenkrise. Eine andere Strategie, die sich u. U. mit der erstgenannten verbinden kann, gründet sich auf Differenzierungen des Systembegriffs, die vor allem drei wichtige Innovationen zur Folge haben: die Weltbezüge des Systems werden auf
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abstraktere und variationsfähigere Bestimmungen gebracht, seine internen Spannungen und Polarisierungen werden gegenüber den integrativen Aspekten stärker akzentuiert, und sein selbstreferentieller Charakter — anders ausgedrückt: seine Selbstbestimmungs- und Selbstveränderungsfähigkeit — wird in den Vordergrund gestellt. Es gibt außerdem noch einen, in der gegenwärtigen Diskussion weniger effektvoll vertretenen, aber in unserem Zusammenhang, d. h. als Bezugspunkt für die Auseinandersetzung mit Adorno und Horkheimer, besonders relevanten Zweig der postfunktionalistischen Theoriebildung. Die kulturellen und politischen Komponenten des Sozialen werden in dieser Perspektive als verschiedene, aber wechselseitig sich bedingende Aspekte der Selbstkonstitution der Gesellschaft betrachtet; daraus ergibt sich noch keine Festlegung auf handlungs- oder systemtheoretische Begriffe, wohl aber die elastischere Verfahrensvorschrift, daß man soziale Verhältnisse gleichzeitig als Sinnund Machtzusammenhänge analysieren sollte.3 3. Wenn wir aber zunächst eine Verbindungslinie zwischen der Dialektik der Aufklärung und der funktionalistischen Tradition ziehen wollen, bildet die Thematik der Selbsterhaltung den geeignetsten Ausgangspunkt; der Versuch, die Strukturprinzipien der Gesellschaft und die treibenden Kräfte der Geschichte auf diesen gemeinsamen Nenner zurückzuführen, scheint sich zumindest mit dem Konzept des grenzerhaltenden und selbstgesteuerten Systems zu berühren. Wie weit die Affinität reicht, soll im folgenden näher untersucht werden. Die Anspielung auf einen spezifischen Selbsterhaltungsimperativ der westlichen Zivilisation, der in dem spinozistischen Theorem des „conatus sese conservandi" seinen adäquatesten Ausdruck gefunden haben soll (29), hätte der Analyse eine kulturtheoretische Wendung geben können. Dieser Weg wird jedoch sogleich durch reduktionistische Postulate blockiert; die Aufgaben und Strategien der Selbsterhaltung werden unter Ausklammerung aller soziokulturellen Determinanten aus dem Grundverhältnis zwischen Mensch und Natur deduziert. Auf die infrakulturelle Faktizität des Naturzwanges antwortet das transkulturelle Projekt der Naturbeherrschung. Die menschliche Gattung kann demnach ihre ursprüngliche und letztendliche Ohnmacht gegenüber der Natur nur dadurch kompensieren, daß sie sich im Inneren wie im Äußeren der allumfassenden Herrschaftsapparatur unterwirft; die „Anerkennung der Macht als des Prinzips aller Beziehungen" (12) ist die conditio sine qua non für die Selbstbehauptung des Individuums und des Kollektivs, aber auch der Auftakt zu einem 3
Repräsentativ für diese Problematik sind die Arbeiten von CORNELIUS CASTORIADIS und CLAUDE LEFORT; anregende, aber auf halbem Wege stehengebliebene Hinweise finden sich auch bei G. BALANDIER, Sens et puissance, Paris 1971.
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Rückbildungsprozeß, der die Anpassungsfähigkeit in Destruktivität verkehrt und am Ende nur noch die Frage offen läßt, ob die Menschheit zuerst sich selbst oder ihre naturgegebene Umwelt zerstören wird. Aus der Verinnerlichung und Potenzierung des Naturzwanges durch die Naturbeherrschung „wären auch Formen der Wirtschaft, der Herrschaft, der Kultur abzuleiten" (200). Der Funktionskreis der Selbsterhaltung umfaßt demzufolge die Totalität der menschlichen Welt und bestimmt zugleich die konkrete Gestalt der verschiedenen Lebensordnungen. Auf diese Weise werden von vornherein die Gegenargumente ausgeschaltet, denen sich der soziozentrische, bzw. auf einer „oversocialized conception of man" basierende Funktionalismus ausgesetzt hat. Die Überbetonung des sozialen Systems und seiner Reproduktion provoziert den Einwand, natürliche Dispositionen und kulturelle Kompetenzen der Individuen seien nicht a priori mit seiner Logik koordiniert; bei Horkheimer und Adorno steht dagegen die durch Polarisierung vermittelte Gleichschaltung von Natur und Kultur im Zentrum des Modells. Die Intention, die funktionalistische Betrachtungsweise zu radikalisieren, steht somit außer Zweifel; zu fragen wäre noch, ob sie sich auf eine angemessene Begrifflichkeit stützt. Daß das nicht der Fall ist, hat Jürgen Habermas in seiner Theorie des kommunikativen Handelns nachzuweisen versucht. Seiner Darstellung zufolge haben Adorno und Horkheimer mit ihrer Kritik der Naturbeherrschung und der instrumenteilen Vernunft einen Wesenszug der einseitig entfalteten Moderne getroffen und zugleich eine auf Weber und Lukacs zurückgehende Argumentationslinie insofern radikalisiert, als sie jede Vorstellung von einem gegen Verdinglichung immunen Kern der Subjektivität aufgegeben haben; aus der Perspektive, die sie einnehmen, können sie aber die übermächtig gewordenen „technischen Apparaturen" nur als Erscheinungsformen einer verabsolutierten Zweckrationalität deuten und nicht als verselbständigte, mediengesteuerte Subsysteme. In der Unfähigkeit, den handlungstheoretischen Bezugsrahmen durch systemtheoretische Begriffe zu erweitern, zeigt sich — so Habermas — letztlich dieselbe Bindung an die bewußtseinsphilosophische Tradition, bzw. an das Modell der monologischen Konfrontation zwischen Subjekt und Objekt, die auch den Blick auf die kommunikativen Beziehungen zwischen Subjekten und damit auf die einzige tragfähige Basis der Gesellschafts- und Zivilisationskritik verstellt hat.4 Hier interessiert uns vor allem der erstgenannte Aspekt; ich möchte im folgenden darlegen, daß der implizite Handlungsbegriff der Dialektik der Aufklärung nicht in der verabsolutierten Zweckrationalität aufgeht und daß gerade die Momente, die Habermas ausblendet, den Ausgangspunkt für ein System4
Vgl. J. HABERMAS, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. l, Frankfurt 1981, S. 489 — 534.
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konzept sui generis bilden, das trotz aller Vereinfachungen und Verkürzungen Fragen aufwirft, die für die heutige Systemtheorie noch aktuell sind. Zur Klärung des Handlungsbegriffs, auf den die Kritik der Naturbeherrschung verweist, müssen wir kurz auf marxistische Hintergründe und neomarxistische Parallelen eingehen. Für das Marxsche Paradigma der Produktion ist, wie insbesondere die Analyse des Arbeitsbegriffs zeigt, ein teleologischer Handlungsbegriff konstitutiv; der zwecktätige Eingriff gilt als die differentia specifica der menschlichen Aneignung der Natur. Darüber hinaus finden sich bei Marx verstreute und mehrdeutige Hinweise auf weitere Dimensionen des Handelns; sie stimmen zumindest darin überein, daß zum Kontext der produktiven Tätigkeit sowohl Weltoffenheit als Selbstverwirklichung gehören. Diese Problematik ist später in erster Linie von der freilich alles andere als homogenen Praxis-Philosophie rezipiert worden. Der Handlungsbegriff, der dabei anvisiert wurde, ist zu vage geblieben, um mit utilitaristischen und normativistischen Theorien ernsthaft konkurrieren zu können; es zeichnen sich allenfalls Leitmotive ab, die noch zu präzisieren wären. Von dem ideologischen Grundmuster wird in dieser Perspektive ebensowenig abstrahiert wie in anderen Handlungstheorien; es erscheint aber nicht als eine in sich geschlossene Kernstruktur, sondern als Bestandteil eines umfassenderen Relationsgefüges. Im Hinblick auf die Welt ist demnach das Handeln nicht nur als zweckgerichtete Bewirkung von Veränderungen zu verstehen, sondern darüber hinaus als Strukturierung eines Kontextes, bzw. als Weiterbestimmung des Unterbestimmten; im Hinblick auf das Handlungssubjekt impliziert es die Entfaltung von Fähigkeiten, die über jede spezifische Handlungskonstellation hinausgreifen. Auf beiden Seiten sind die Strukturen des Handelns mit Interpretationsmustern unauflöslich verschränkt. Es läßt sich nun m. E. zeigen, daß die Dialektik der Aufklärung mit einer negativen Fassung dieses Handlungsbegriffs arbeitet. Die radikale Umwertung des Marxschen Arbeitsbegriffs, die sich aus der zivilisationskritischen Wende ergibt, erfaßt auch seine weniger expliziten Konnotationen. Das auf Unterwerfung und Verfügbarmachung zielende Handeln ist — so Adorno und Horkheimer — mit einer zugleich elementareren und umfassenderen Naturbeziehung verbunden, die durch den Fortschritt der Naturbeherrschung nicht restlos eliminiert, sondern umfunktioniert wird und zur Potenzierung ihres Gegenteils beiträgt. Es handelt sich um die Erfahrung des unmittelbaren Naturzwanges, in der sich gleichzeitig die „Verschlungenheit des Natürlichen gegenüber dem einzelnen Glied" und die „Transzendenz des Unbekannten gegenüber dem Bekannten" (17) manifestiert. Die Differenz zwischen dem beherrschten Teil und dem unbeherrschten Ganzen der Natur, die den „Kern des Symbolischen" (19) und folglich auch die Voraussetzung der auf symbolischen Grundlagen ruhenden Kultur bildet, wird inhaltlich gesehen vor allem durch imaginäre
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Projektionen der Macht bewältigt, die dann in einem zweiten Schritt als Leitbilder in die Strategien der reellen Machtausübung einbezogen werden.5 „Die Gottesebenbildlichkeit des Menschen besteht in der Souveränität übers Dasein, im Blick des Herrn, im Kommando" (12); das zu voller Reife gelangte Subjekt der Herrschaft begreift sich als „Ebenbild der unsichtbaren Macht". In diesem Sinne ist es auch zu verstehen, wenn Adorno und Horkheimer die Aufklärung als die „radikal gewordene mythische Angst" bezeichnen (18). Die Selbstbehauptung der menschlichen Gattung gegenüber der Natur gipfelt in dem Versuch, das ursprüngliche Abhängigkeitsverhältnis umzukehren und einen uneingeschränkten, letztlich auf mythische Vorbilder zurückgehenden Machtanspruch geltend zu machen, der die Natur als Ganzes dem „Maß von Berechenbarkeit und Nützlichkeit" (9) unterwirft. Anders ausgedrückt: hinter dem manifesten Projekt einer totalen Entzauberung der Welt steckt das latente Phantasma einer totalen Macht. So gesehen berührt sich die Aufklärung nicht nur am Anfang und am Ende mit dem Mythos; auch der ganze Aufklärungsprozeß ist „Arbeit am Mythos" (Hans Blumenberg), Transformation eines mythischen Substrats: „Allen Stoff empfängt sie (d. h. die Aufklärung, J. P. A.) von den Mythen, um sie zu zerstören, und als Richtende gerät sie in den mythischen Bann" (24). Die so verstandene Dialektik von Aufklärung und Mythos verweist auf eine ebenso destruktive Dialektik von Handlungszielen und Handlungshorizonten, die den vordergründigen Primat der Zwecktätigkeit durch vollständige Sinnentleerung letztlich in sein Gegenteil verkehrt. Noch deutlicher werden die Parallelen und Kontraste zur Praxis-Philosophie, wenn wir einen Blick auf die subjektive Seite des Zivilisationsprozesses werfen. Adorno und Horkheimer erklären den scheinbaren — genauer: reell vorgespiegelten — Automatismus der expandierenden Naturbeherrschung als Resultat einer permanent erneuerten, aber nie vollständigen Absorption von Wesenskräften der Gattung, die gleichzeitig den Bezugsrahmen der bloßen Selbsterhaltung transzendieren. Mimesis und Denken 5
Für die Theorie der primitiven Religion, die in der Dialektik der Aufklärung skizziert wird, sind offenbar die Arbeiten DURKHEIMS und seiner Schüler von erstrangiger Bedeutung gewesen; direkt zitiert werden allerdings nur die „Theorie generale de la magie" von HUBERT und MAUSS sowie der von DURKHEIM und MAUSS gemeinsam verfaßte Aufsatz über primitive Formen der Klassifikation. Diese Rezeption schließt grundsätzliche Differenzen nicht aus. Anders als DURKHEIM bestehen ADORNO und HORKHEIMER auf der konstitutiven Bedeutung der Naturbeziehung für die primitive Religion, interpretieren sie aber anders als die von DURKHEIM kritisierten naturalistischen Religionstheorien. Betont wird in der Dialektik der Aufklärung die Erfahrung der Natur als eines ambivalenten Ganzen, das zugleich als totaler Verweisungszusammenhang und als unumschränkte Macht erscheint.
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sind die beiden Aspekte der Subjektivität, die auf diese Weise an der Logik der Naturbeherrschung teilhaben, ohne in ihr aufzugehen. Es handelt sich trotz aller grundsätzlichen Affinitäten und möglichen Kombinationen um zwei gleichermaßen fundamentale Bestimmungen. Die Mimesis ist — aus der Sicht heutiger Kontroversen — nicht „der Statthalter der Vernunft", sondern „das Andere der Vernunft", und dies sowohl im Sinne einer notwendigen Ergänzung wie auch eines potentiellen Gegenpols. Nur die Subsumtion unter das Projekt der Selbsterhaltung bringt beide auf einen gemeinsamen Nenner und beschränkt sie zugleich auf spezifische funktionale Leistungen. Das Denken ist notwendig, „um im Fluß des Erscheinenden das Identische festzuhalten, im Wechsel der Exemplare dieselbe Gattung, in den veränderten Situationen dasselbe Ding" (220). Ohne diese Kompetenz wäre Naturbeherrschung ebensowenig möglich wie ohne die Anpassungs- und Assimilationsfähigkeit, in der das mimetische Vermögen zum Ausdruck kommt. „Nachahmung tritt in den Dienst der Herrschaft ..." (53). Weder Mimesis noch Begriff lassen sich jedoch restlos instrumentalisieren; auf beide paßt die Charakterisierung des Denkens als des Knechts, „dem der Herr nicht nach Belieben Einhalt tun kann (36). Diese residuale Autonomie liegt allen kulturellen Phänomenen zugrunde, die das Kontinuum der „reflexionslosen Selbsterhaltung" durchbrechen. Die Paradoxie solcher emanzipatorischen Bestrebungen besteht darin, daß jeder konkrete und strukturierte Ausdruck auf die Mithilfe des identifizierenden Denkens und des sich selbst kontrollierenden Subjekts angewiesen ist und sich daher ipso facto der Assimilierung durch Mechanismen der Herrschaft aussetzt. 4. Zu belegen ist noch die oben aufgestellte These, in der Dialektik der Aufklärung sei eine spezifische Strategie der Vermittlung zwischen Handlungstheorie und Systemtheorie zumindest angedeutet worden. Hergestellt wird die Verbindung primär durch das Konzept der Macht als des „Prinzips aller Beziehungen", d. h. als einer sowohl handlungsorientierenden wie auch systembildenden Instanz. Es ist in diesem Kontext nicht mehr sinnvoll, zwischen Macht und Herrschaft zu unterscheiden, da der Legitimitätsaspekt, der in einer anderen Theorietradition als konstitutives Moment der Herrschaft gilt, zu einem Derivat der omnipräsenten Macht herabgesetzt wird. Daß aber die abwechselnd als Macht und Herrschaft bezeichnete letztendliche Determinante auch einer systemischen Logik gehorcht, zeigt sich vor allem in der zunehmenden Distanz zwischen dem Prinzip und seinen unmittelbaren Trägern. Wenn die postliberalen Diktatoren nur „Leerstellen" sind, „auf die gerade die Macht gefallen ist" (211), kulminiert darin ein gattungsgeschichtlicher Trend, der schon in
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den Ausgangsbedingungen des Zivilisationsprozesses angelegt ist und auf alle Bereiche des sozialen Lebens übergreift. Habermas meint, die Konstruktion eines einheitlichen Grundmusters der Herrschaft, das die diversen Formen der Kontrolle über Dinge und Menschen umfassen soll, sei „beinahe ein analytischer Satz"; es handle sich in beiden Fällen um „dieselbe Struktur von Gewaltausübung."6 Für Adorno und Horkheimer ist aber die These, die Herrschaft über die Natur werde innerhalb der Gesellschaft reproduziert, keine rein analytische Aussage, sondern die Zusammenfassung einer komplexen Interpretation, die Naturbeherrschung und soziale Herrschaft nicht auf eine vorgegebene gemeinsame Elementarform reduziert, sondern die Entstehung eines radikalisierenden und vereinfachenden Mechanismus durch die Kombination der beiden Grundverhältnisse erklärt. Die äußerliche und innerliche Anpassung der Menschen an die Imperative der Herrschaft, die auch eine entsprechende Organisation ihrer sozialen Beziehungen einschließt, geht — wie wir gesehen haben — weit über unmittelbar-praktische Notwendigkeiten hinaus; sie orientiert sich an imaginären Leitbildern, die letztlich in der Naturbeziehung verwurzelt sind. Umgekehrt ermöglicht die soziale Herrschaft, bzw. die „Distanz zur Sache, die der Herr durch den Beherrschten gewinnt", ein distanzierteres Verhältnis zur Natur und dadurch die Entwicklung des abstrakten Denkens (16). Die transsubjektive Form, die die Logik der Herrschaft damit annimmt, ist die Bedingung der Möglichkeit des wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts. Eine Parallele dazu bildet wiederum auf der gesellschaftlichen Seite die schrittweise Verlagerung der Machtausübung auf abstraktere, vordergründig nivellierende Instanzen. Die Tendenz zur Entpersönlichung ist schon durch die ursprüngliche Einheit von Herrschaft und Kollektivität vorgezeichnet; dieser Doppelcharakter des Sozialen, den — so Adorno und Horkheimer — Durkheim und seine Schüler verkannt haben, erklärt die Diskrepanz zwischen latenten und manifesten Funktionen der Macht: „Was allen durch die wenigen geschieht, vollzieht sich stets als Überwältigung Einzelner durch Viele" (23). Die Verschmelzung von Herrschaft und Gesellschaft muß aber auch als ein langwieriger Prozeß betrachtet werden, zu dessen Meilensteinen sowohl „die Verkleidung der Herrschaft in Produktion" (155) wie ihre Verdinglichung zu Warenwirtschaft, Gesetz und Organisation (36) gehören. Einbezogen wird auch die Kultur, deren geschichtliche Funktion nach Adorno und Horkheimer in der „Steigerung der Organisation" (199) liegt. Die in organisatorische Rationalität umgesetzte Herrschaft ist darüber hinaus imstande, Gegentendenzen und oppositionelle Gedanken zu neutralisieren und umzufunktionieren; diese wiederholte
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HABERMAS, Theorie des kommunikativen Handelns l, S. 508.
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„Verwandlung der Idee in Herrschaft" spielt in der Geschichte der Hochkulturen eine zentrale Rolle. Diese Machttheorie ist nicht zuletzt als Genealogie der totalitären Herrschaft konzipiert; als solche wirft sie aber Fragen auf, die in der Dialektik der Aufklärung unbeantwortet bleiben. Einerseits soll die totale Konzentration der Macht, -die die Vermittlung durch Gesetz, Tausch und Diskussion nicht mehr zuläßt, keine Rückkehr zur unmittelbar-persönlichen Herrschaft bedeuten (die Führerpersönlichkeiten sind, wie wir gesehen haben, „Leerstellen"), sondern vielmehr die Vollendung der Realabstraktion, die sich jetzt von den früher notwendigen konkreten Grundlagen loslösen kann; andererseits fällt die total verselbständigte Macht tendenziell mit der kalkulierenden Vernunft zusammen: „Die totalitäre Ordnung aber setzt kalkulierendes Denken ganz in seine Rechte ein und hält sich an die Wissenschaft als solche" (78). Hier tritt die Paradoxie eines überdehnten Machtbegriffs offen zutage. Inhaltliche Bestimmungen der Macht — es ist in diesem Zusammenhang unwichtig, ob wir den Machtbegriff primär im Hinblick auf Fähigkeiten des Handlungssubjekts oder intersubjektive Handlungsverflechtungen definieren — ergeben sich aus der Verknüpfung mit anderen Aspekten des sozialen Lebens; wenn aber dieser Kontext a priori entwertet und sein Verhältnis zu den Machtstrukturen nur als fortschreitende Absorption in Betracht gezogen wird, muß die Durchsetzung der Macht als des „Prinzips aller Beziehungen" schließlich zu ihrer Verflüchtigung führen. Andererseits ist der Machtbegriff der Dialektik der Aufklärung trotz dieses gravierenden Mangels zielsicher genug, um eine Fragestellung zu antizipieren, die als Leitfaden für die Auseinandersetzung mit der heutigen Systemtheorie dienen könnte. Die für das System konstitutive Beziehung zu einem Anderen, dessen Eigengesetzlichkeiten und Autonomieansprüche der Systemlogik tendenziell untergeordnet und nach ihrer Maßgabe umfunktioniert werden, erinnert an den Begriff der Subsumtion, den Marx in einem engeren Sinne gebraucht hat. Für solche Vorgänge hat aber die Systemtheorie bisher keinen angemessenen Begriffsapparat entwickelt; sie konzentriert sich im wesentlichen auf die Selbstbehauptung gegenüber der Umwelt und die Selbstreproduktion einer vorgegebenen internen Struktur (von weiteren Differenzierungen auf beiden Seiten, wie sie etwa im Parsonsschen Vierfunktionenschema vorgenommen werden, können wir hier absehen). Darin drücken sich gerade die identitätslogischen Grundannahmen aus, die die Kritik der Naturbeherrschung und des subsumierenden Denkens in Frage gestellt hat.7 7
Bei dem französischen Systemtheoretiker YVES BAREL (Le paradoxe et le Systeme, Grenoble 1979, und La marginalite sociale, Paris 1982) finden sich interessante Überlegungen, die die
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5. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Imperative der Selbsterhaltung sich in erster Linie durch zunehmend abstrakter werdende Machtstrukturen Geltung verschaffen; richtungweisend für die Entwicklung der letzteren ist das totalisierende und homogenisierende Kulturmuster der kalkulierenden Vernunft, in dem sie sogar am Ende aufzugehen scheinen. Gerade die Verabsolutierung des Selbsterhaltungsprinzips lenkt aber, wie ich schon angedeutet habe, den Blick auf Voraussetzungen, die es weder definitiv aufheben noch vollständig einholen kann. Das betrifft nicht nur den anthropologischen Hintergrund, als dessen elementarste Bestimmungen Mimesis und Denken eingeführt wurden; die Selbstrelativierung der Selbsterhaltung kommt auch auf der Ebene der sozialen Strukturen zum Vorschein. Wir müssen daher die Problematik der Kulturmuster und der Machtstrukturen noch unter diesem Blickwinkel betrachten und eventuelle Berührungspunkte mit der postfunktionalistischen Thematik der kulturellen und politischen Selbstkonstitution präzisieren. Der auf Maximierung der rationalen Herrschaft zielende Zivilisationsprozeß ist, wie gezeigt, eine permanente Transformation des urgeschichtlichen, mythisch-irrationalen Substrats. Die Genealogie der Kultur, in der die primitive Religion als Ausgangsbedingung und zugleich als Interpretationsschlüssel figuriert, lehnt sich in vielem an die Theorien der DurkheimSchule an, obwohl der Säkularisierungsprozeß als Ganzes anders gedeutet wird: für Adorno und Horkheimer handelt es sich nicht um die Wiederaneignung und Rationalisierung einer ursprünglich nach außen projizierten Selbstdarstellung, sondern um den letztendlich vergeblichen Versuch, die ursprüngliche Naturverfallenheit durch eine kulturell potenzierte Machtsteigerung zu überwinden. Auf die Anfänge rekurrieren indessen auch diejenigen, die den Primat der Bedürfnisse gegen die Zwänge der Zivilisation geltend machen: „Gleichgültig, welche Fülle der Qual den Menschen in ihr widerfuhr, sie vermögen doch kein Glück zu denken, das nicht vom Bilde jener Urgeschichte zehrte" (59). Die affirmative und die kritische Transformation des urgeschichtlichen Erbes konvergieren aber darin, daß die Tendenz zur Selbstauflösung, die in der archaischen Angleichung an die Natur, bzw. der symbolischen Integration in den Naturzusammenhang zum Ausdruck kommt, in mehr oder weniger offen konkurrierende Projekte der Selbstbestimmung umschlägt. Damit ist schon ein erster Schritt über das Konzept der einfachen Selbsterhaltung hinaus getan; er führt, wie wir noch sehen werden, zu weiteren Differenzierungen. Im Zentrum des Säkularisierungsprozesses stehen die verschiedenen Abwandlungen des Opfers. Aus diesem religiösen Urphänomen werden
identitätslogischen Prämissen des überlieferten Systembegriffs problematisieren, ohne jedoch an die Fragestellung der kritischen Theorie direkt anzuknüpfen.
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die Verhaltensmuster abgeleitet, die den Umgang der Menschen miteinander und mit sich selbst bestimmen. „Die Geschichte der Zivilisation ist die Geschichte der Introversion des Opfers" (51). Postuliert wird eine „Transformation des Opfers in Subjektivität" (52) sowie eine Vorwegnahme der diskursiven Logik durch die „Substitution beim Opfer" (13). Last but not least wird der Tausch als „Säkularisierung des Opfers" erklärt und dieses wiederum rückblickend als „das magische Schema rationalen Tausches" gedeutet (47). Die Anklänge an die von Hubert und Mauss entwickelte Theorie des Opfers sind unverkennbar.8 Für diese beiden Autoren waren die Opferrituale deshalb so wichtig, weil sie der Beziehung des Kollektivs zum Heiligen und damit auch zu sich selbst konkrete Gestalt verleihen. Im Opfer manifestiert sich demnach nicht nur die Ambivalenz des Sakralen, sondern auch eine mannigfaltige Ambivalenz des darauf bezogenen Handelns; Gewaltausübung und Kommunikation mit dem Göttlichen, desinteressiertes und interessengeleitetes Handeln, magische und kalkulierende Handlungsorientierungen, Gottesdienst und Gotteszwang verschränken sich zu einem Ganzen. Adorno und Horkheimer ersetzen, wie gesagt, die Selbstbeziehung der Gesellschaft durch eine originäre Naturbeziehung, betonen aber auch unter dieser Voraussetzung die ambivalente Schlüsselstellung des Opfers. In der ritualisierten „Selbstpreisgabe des Einzelnen", die das ursprüngliche Kernstück der Opferhandlung bildet, steckt — wie sie zeigen möchten — ein Moment der rationalen Berechnung, das als Organisationsprinzip auf die Gesellschaft angewendet und von den Individuen verinnerlicht werden kann. Wenn aber das rationalisierte Opfer — als erzwungene oder selbstauferlegte Entsagung — zur Grundstruktur der Zivilisation gehört, liegt die Frage nahe, ob das Prinzip des Opfers nicht — im Sinne des Postulats, daß Aufklärung mehr ist als Aufklärung — auf die Spitze und damit über sich selbst hinaus getrieben werden kann. Die vollendete Entsagung wäre der aufgeklärte Verzicht auf die verdinglichten Errungenschaften der Aufklärung. Konkretisiert wird diese Perspektive in einer kurzen Skizze des historischen Prozesses, den wir bereits als „Verwandlung der Idee in Herrschaft" kennengelernt haben (189 — 192). Obwohl Max Weber hier namentlich nicht genannt wird, wollen Adorno und Horkheimer offensichtlich eine Kernthese seiner Religionssoziologie relativieren: die Denkweise, die Weber als „religiöse Weltablehnung" bezeichnet hat, soll als ein abgeleitetes und reaktives Phänomen erklärt werden. Metaphysische und religiöse Erlösungslehren — Vedantismus, Stoizismus, Christentum und Buddhismus werden als repräsentative Beispiele genannt — wären demzu8
H. HUBERT — M. MAUSS, „Essai sur la nature et la fonction du sacrifice", in MARCEL MAUSS, Oeuvres, t. l, Paris 1968, S. 193-307.
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folge erst durch „Verrat . . . an revolutionärer Opposition gegen die herrschende Wirklichkeit" (189) entstanden. „Die vom Bestehenden distanzierende Idee geht über in Religion" (190). Adorno und Horkheimer haben diese Hypothese freilich weder präzisiert noch durch konkrete historische Untersuchungen belegt; sie läßt nichtsdestoweniger durchblicken, auf welchem Wege die Problematik der Selbstbestimmung — im Unterschied zur bloßen Selbsterhaltung — hätte weiterentwickelt werden können. Wenn die dominanten hochkulturellen Traditionen (bzw. die Weltbildstrukturen, die ihnen zugrunde liegen) sich durch Abwehr und Umlenkung radikaler Autonomiebestrebungen konstituieren, ist die Heteronomie, die in metaphysischen und religiösen Deutungssystemen kodifiziert wird, mehr als „reflexionslose Selbsterhaltung"; um die Alternativen ausschalten zu können, muß sie vielmehr die Selbstbestimmungsfähigkeit der Gesellschaft in ihr Gegenteil verkehren. Und wie die Diversität der erwähnten Traditionen zeigt, ist diese Metamorphose mit einem Variationsspielraum vereinbar, den das Selbsterhaltungskonzept nicht erfassen kann. Im Lichte der bisherigen Forschungsergebnisse ist diese Deutung der Weltbildtransformationen, die in entwickelten Hochkulturen stattgefunden haben, sicherlich zu einfach; sie wäre trotzdem ein möglicher Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen gewesen. Adorno und Horkheimer haben jedoch das Thema deswegen nicht weiter verfolgt, weil sie von vornherein die kalkulierende Vernunft zum universalen Telos der Kultur erhoben und damit alle zivilisations- und traditionsspezifischen Variationen a priori entwertet hatten. Diese These ist aber nicht einfach als Rückkehr zum Selbsterhaltungskonzept zu verstehen. Die Vernunft, die „keine inhaltlichen Ziele setzt" (81) und „nicht mehr Affinität zur Gewalt als zur Vermittlung" (79) hat, ist kein direkter Ausdruck des Selbsterhaltungsprinzips; sie ist vielmehr ein Gleichschaltungs- und Entdifferenzierungsmechanismus, der den Kontrast zwischen der bloßen Reproduktion des Bestehenden und den in ihr nicht aufgehenden Fähigkeiten und Tätigkeiten entschärft. Der Primat der Selbsterhaltung kann nur unter Zuhilfenahme eines anderen Prinzips wiederhergestellt werden, dessen spezifischer Beitrag aber gerade in der pauschalen Neutralisierung aller spezifischen Bestimmungen besteht. Auf die Vorherrschaft der kalkulierenden Vernunft läuft, wie wir gesehen haben, letztlich auch die machttheoretische Seite der Analyse hinaus. Dennoch schließt die reduktionistische Gesamtperspektive gewisse Nuancierungen und Kontrapunkte nicht aus, die die Grenzen des Selbsterhaltungskonzepts auch auf diesem Gebiet überschreiten. So gesehen weist der Strukturwandel der Macht dieselbe — wenngleich weniger ausgeprägte — Ambivalenz auf wie die Entwicklung der Kultur. Dadurch erklärt sich nicht zuletzt die zweischneidige Rolle des Tauschprinzips, die in vielen Interpretationen der Dialektik der Aufklärung einseitig gedeutet wird. Nach
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Habermas ist das Tauschprinzip „lediglich die historische Gestalt, in der das identifizierende Denken seine welthistorische Wirkung entfaltet"; auch A. Honneth sieht in dem Warentausch „nur die geschichtlich entfaltete Handlungsfigur instrumenteller Rationalität."9 Daß das Tauschprinzip für Adorno und Horkheimer im Endeffekt vorrangig diese Wirkung gehabt hat, steht außer Zweifel; darüber sollte jedoch die weniger durchschlagende Kehrseite nicht vergessen werden. Der Tauschmechanismus ist ein „Instrument des Privilegs in der Gleichheit" (188); er gehört zu den vermittelnden Instanzen, die die Macht einerseits effektiver organisieren, andererseits Beschränkungen unterwerfen. Andere Institutionen derselben Art sind mit ihm eng verknüpft: „Mit dem Umweg über den Markt im Innern der Nationen verschwinden auch die geistigen Vermittlungen, darunter das Recht" (204); auch das „Medium der bürgerlich traditionellen Intelligenz, die Diskussion" (187), steht und fällt mit dem Tauschprinzip. Gewiß kann man aus der Dialektik der Aufklärung keinen Begriff der kommunikativen Rationalität herausholen; doch sind die verstreuten Bemerkungen zum Tauschprinzip konsistent genug, um eine Dialektik der Konkurrenz und der Anerkennung anzudeuten. Einerseits ist die Institutionalisierung des Tausches von Anfang an mit der Strategie des ungleichen Tausches unzertrennlich verbunden; das Medium der letzteren ist die List als „der rational gewordene Trotz" (55). Andererseits bringt der Wettstreit der strategisch handelnden Subjekte die Strukturen der Macht in Bewegung und legt einen Zwischenraum frei, in dem sich das Prinzip der wechselseitigen Anerkennung und das Medium der Diskussion etablieren können. Eine explizite und konsequente Reduktion des Tauschprinzips auf die instrumentelle Vernunft kann man somit Adorno und Horkheimer nicht zuschreiben. Das Gesamtbild ist trotzdem eindeutig: die Logik der Intersubjektivität kann gegenüber der Logik der Naturbeherrschung nur einen subalternen Status beanspruchen und muß in der postliberalen Moderne auch darauf verzichten. Mit der tendenziellen Abschaffung der intersubjektiven Vermittlungen steigert sich der Primat der kalkulierenden Vernunft zu einer Alleinherrschaft. Soweit aber versucht wird, diesen Prozeß auf der Ebene der Machtstrukturen näher zu beschreiben, dient dazu eine genauso reduktionistische Denkfigur: „ausschließlicher Besitz, Aneignung, Macht ohne Grenzen, um jeden Preis" (151). Das Konzept einer unmittelbaren und an keine Spielregeln gebundenen Gewaltausübung, die alle Differenzen zwischen politischen und ökonomischen Formen der Macht einebnet, ist die letzte Rückzugsposition, die der Macht noch ein Eigengewicht zugesteht; es ist aber zu inhaltsleer, um als theoretisches Konstruk9
HABERMAS, Theorie des kommunikativen Handelns l, S. 506; AXEL HONNETH, Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kritischen Geselschaftstheorie, Frankfurt/M. 1985.
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tionsprinzip mit der kalkulierenden Vernunft ernsthaft konkurrieren zu können. Es ist im Rahmen dieses Aufsatzes nicht möglich, den Beitrag der Dialektik der Aufklärung zur Analyse der Wechselbeziehungen zwischen Kultur und Macht eingehender zu diskutieren. Zum Schluß möchte ich aber auf einige Lücken und Kurzschlüsse der von Adorno und Horkheimer formulierten Gegenwartsdiagnose hinweisen, die mit grundbegrifflichen Vorentscheidungen zusammenhängen. Daß der Faschismus und nicht etwa die andere, komplexere, dauerhaftere und anpassungsfähigere Form der totalitären Herrschaft — der Stalinismus — als Schlüsselphänomen des zwanzigsten Jahrhunderts gilt, erklärt sich ohne Zweifel z. T. durch die Bindung an ein vereinfachendes Modell des Ineinandergreifens von kulturellen und politischen Determinanten. Eng verbunden mit der Unterschätzung des Stalinismus ist die Ausklammerung eines Vorgangs, mit dem sich einige spätere Analysen des Totalitarismus ausführlich beschäftigt haben: der Instrumentalisierung und Entmündigung sozialer Bewegungen im Zuge der postrevolutionären Verstaatlichung. Adorno und Horkheimer haben diesen Problemkomplex dadurch neutralisiert, daß sie schon die geschichtsphilosophischen Grundprämissen, an denen sich die wichtigsten Emanzipationsbewegungen der Moderne orientierten, als Kapitulation der Kultur vor der Macht deuteten. Demnach war es das proton pseudos der klassischen Geschichtsphilosophie, daß sie „die humanen Ideen als wirkende Mächte in die Geschichte selbst verlegte und diese mit deren Triumph endigen ließ ..." (200). Und schließlich wird zwar der Imperialismus als „die furchtbarste Gestalt der Ratio" bezeichnet (80), aber seine vielfältigen Beziehungen zu einer teils einseitig rationalisierten, teils remythologisierten Idee der Revolution werden nicht einmal ansatzweise thematisiert.
IRING FETSCHER (Frankfurt)
Zur kritischen Theorie der Sozialwissenschaften in Adornos „Minima Moralia" Mit dem Ersten Weltkrieg war für bewußte Zeitgenossen die Epoche der „stabilen Bürgerlichkeit" definitiv zuendegegangen. Propheten eines Zeitalters krisenhaften Verfalls und des „Untergangs" prägten das Gegenwartsbewußtsein. Angehörigen marginalisierter Schichten des deutschen Bildungsbürgertums, deren moralische und kulturelle Wertmaßstäbe an der deutschen Klassik in Literatur und Philosophie sich gebildet hatten, suchten in den Theorien von Marx und Freud wie in den subtilen Diagnosen eines Nietzsche und in der Kritik von Karl Kraus Mittel der Orientierung. Bei Ernst Bloch und Walter Benjamin kam eine — zumindest implizite — Aufnahme alttestamentarisch-jüdischer Traditionen hinzu. Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse — die drei bekanntesten der Denker, die retrospektiv als „Frankfurter Schule" apostrophiert zu werden pflegen, obwohl sie gewiß eigenständige Persönlichkeiten waren, die alles andere als eine „Schulbildung" sich wünschten, verdankten ihre Orientierung in erster Linie Karl Marx und dem „westlichen Marxismus" wie ihn Lukacs und Karl Korsch entwickelt hatten. Keiner von ihnen konnte und wollte sich einer der „marxistischen Parteien" anschließen. Zunächst weil deren intellektuelles Niveau ihnen unzulänglich erschien, später auch und vor allem, weil die Wirklichkeit des „real existierenden Sozialismus" den emanzipatorischen Idealen total widersprach, die sie dem Werk von Marx entnommen hatten. Die „deutsche Revolution" von 1918 mußte sie gleichfalls enttäuschen, weil sie keine wirklich entschiedene Wende gebracht hatte. Die Oktoberrevolution schien zwar anfangs eine Botschaft der Hoffnung zu bringen, hielt aber der näheren Betrachtung selbst eines so wohlwollenden Beobachters wie Walter Benjamin im Grunde nicht stand. Zu sehr widersprach schon der „Sieg des Sozialismus" in einem ökonomisch und kulturell so rückständigen Land wie dem zaristischen Rußland allen marxistischen Thesen. Schon während der zwanziger Jahre hatte Karl Korsch, der den „Frankfurtern" geistig nahestand, nicht zwar die Revolution, wohl aber ihre Selbstanpreisung als „sozialistisch" kritisiert. Friedrich Pollock beschrieb zwar (1929) im zweiten Band der Schriften des „Instituts für Sozialforschung" die
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„planwirtschaftlichen Versuche in der Sowjetunion" (1917 — 1927) mit großem Wohlwollen, aber das war noch vor der definitiven Etablierung der Stalinschen Monokratie der vereinigten Apparate von Partei und Staat und zur Zeit der Direktion des Instituts durch den österreichischen sozialistischen Historiker Carl Grünberg. Obgleich doch die „Kritik der politischen Ökonomie" den Kern der wissenschaftlichen Arbeit von Marx bildet, spielte deren Studium, Weiterbildung und Aktualisierung im Frankfurter Institut für Sozialforschung nach 1929 nur eine periphere Rolle. Henryk Grossmanns „Akkumulationsund Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems" war 1929 als erster Band der Studien des Instituts erschienen, ihm ist keine gleich bedeutsame wirtschaftswissenschaftliche Studie gefolgt. Das Motto dieses Buches erinnert an die Marxsche Prognose des bevorstehenden Untergangs der kapitalistischen Produktionsweise und dokumentiert zugleich den Bildungshintergrund, der wie selbstverständlich die Mitglieder des Instituts untereinander verband: „Einst wird kommen der Tag, da die heilige Ilios hinsinkt" (Ilias 4). Die geistige Entwicklung von Max Horkbeimer, Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse wurde — von außen — durch die historischen Umstände und — von innen — durch eine immer differenziertere und kritischere Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Philosophie und Sozialwissenschaft auf der einen Seite und dem „orthodoxen Marxismus" auf der anderen bestimmt. Zugleich nahmen sie aus beiden Wissensgebieten wesentliche Gedankengänge und Reflexionen auf. Die beinahe gleichzeitige Entstehung des „Stalinismus" in der Sowjetunion und des deutschen Faschismus zwang ihnen eine gründliche Revision nicht so sehr ihres kritischen Werkzeuges als vor allem ihrer unkritischen Hoffnungen auf. Dabei beschäftigte sie der Faschismus weit intensiver als die Analyse des Sowjetsystems, dem allein Marcuse 1958 eine größere Studie gewidmet hat1. Etwas vereinfacht könnte man sagen, daß sie die von Lukacs und Korsch aufbereitete Theorie von Marx zusammen mit Einsichten von Sigmund Freud angesichts der bedrückenden Erfahrungen mit dem Faschismus, dem Stalinismus und der amerikanischen Konsumgesellschaft zur „kritischen Theorie" verarbeiteten. Die objektive Lage ließ sie — auf absehbare Zeit zumindest — an jeder Hoffnung auf eine entschiedene „Transzendierung des Status Quo" verzweifeln. In dieser „dunklen Zeit" erschien ihnen die Bewahrung wenigstens des Gedankens an eine andere, freiheitlichere Gesellschaft und Kultur als einzig sinnvolle Aufgabe für kritische Intellektuelle. 1
HERBERT MARCUSE, Sovjet Marxism, a critical analysis, Studies of the Russian Institute Columbia University, New York 1958. Deutsch: Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, Neuwied und Berlin 1964.
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Man kann daher — jedenfalls für Horkheimer und Adorno — sagen, daß sie angesichts des Stalinismus und des Faschismus sowie der weitgehenden Integration der Arbeiter in die amerikanische Gesellschaft die Verbindung der Marxschen Kritik mit der Hoffnung auf eine „Emanzipation der Arbeiterklasse" durch eine genuine Revolution aufgaben. Walter Benjamin dechiffrierte den Glauben der Sozialdemokraten wie der Bolschewiki an den „unaufhaltsamen Fortschritt" als illusorische Geschichtsmetaphysik und kritisierte ihn vom Standpunkt eines jüdischen Messianismus, der den Einbruch des „ganz Anderen" in den kontinuierlichen Ablauf des Geschehens pointiert. Horkheimer und Adorno interpretierten das Versagen des „realen Proletariats" an der ihm von Marx vorgezeichneten Aufgabe mit Hilfe psychoanalytischer Methoden und auf Grund empirischer Erhebungen. Fest steht für sie alle, daß die dem Vulgärmarxismus zugrundeliegende Geschichtsphilosophie unhaltbar ist. Sie erblickten in ihr ein unüberwundenes Erbe der Hegeischen Metaphysik, das dem Wissenschaftsanspruch einer „materialistischen Geschichtstheorie" widerspricht. Hinsichtlich der Frage, was denn an die Stelle des offensichtlich illusorischen Konzepts einer „proletarischen Revolution" als Medium der Emanzipation der Menschheit treten sollte, war Herbert Marcuse bereit, mit dem Gedanken eines „anderen revolutionären Subjekts" — sei es nun die rebellische Jugend der Mittelschichten hochindustrialisierter Länder oder die bäuerliche Massenbewegung in der „Dritten Welt" — zu experimentieren. Mit einer an Diltbeys Hermeneutik gemahnenden Methode suchte er den „historischen Sinn" vorhandener Bewegungen als möglichen Beitrag zum Emanzipationsprozeß zu interpretieren. Horkheimer und Adorno setzten zwar eher auf kritische Intellektuelle, wußten aber sehr wohl, daß auch sie in den „Verblendungszusammenhang" der Gesellschaft gebannt sind. In „Traditionelle und kritische Theorie" (1937) schreibt Horkheimer: „Der Gelehrte und seine Wissenschaft sind in den gesellschaftlichen Apparat eingespannt, ihre Leistung ist ein Moment der Selbsterhaltung, der fortwährenden Reproduktion des Bestehenden, gleichviel, was sie sich selbst für einen Reim darauf machen. Sie müssen nur ihrem ,Begriff entsprechen, das heißt Theorie in dem Sinn herstellen, wie er oben beschrieben wurde" (d. h. traditionelle Theorie — z. B. der Sozialwissenschaft im Stile Max Webers).2 Die eminente Bedeutug „kritischer Intelligenz" als Träger zumindest der Hoffnung auf künftige Emanzipation hat auch in der Folge zu einer immer stärkeren Konzentration der Bemühungen von Adorno und Habermas aus einer Steigerung des Selbstbewußtseins des Wissenschaftssystems 2
MAX HORKHEIMER, Kritische Theorie, eine Dokumentation. Hrg. v. ALFRED SCHMIDT, Frankfurt 1968, Bd. II, S. 145.
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und seiner immenanten dialektischen Widersprüche stringent jene Perspektive aufweisen zu können, die von der Marxschen Geschichtsphilosophie vergeblich anvisiert wurde. Zuletzt tritt dann an die Stelle der Marxschen Erwartung eines „Weltlichwerdens der Philosophie" und ihrer „Verwirklichung", die zugleich ihre „Aufhebung" und die des Proletariats wäre, ein „Philosophischwerden der Wissenschaft", das deren Dienstbarkeit gegenüber dem Status Quo sprengt. Wenn die Marxsche Kritik sozusagen „zu flach" erst bei der entfalteten kapitalistischen Produktionsweise ansetzt, so versuchen die „Frankfurter" mit unterschiedlichen Mitteln, gleichsam weiter zurück zu fragen und die „Dialektik der Aufklärung" beim aufklärerischen Mythos (Odysseus) beginnend bis hin zum Mythischen in aller bisherigen Aufklärung zu kritisieren. Am Ende dieses selbstkritischen Prozesses sollte dann wohl eine Theorie stehen, die es nicht nur den kritischen Intellektuellen erlaubt, eine Welt ohne Ausbeutung und Herrschaft zu inaugurieren. Trotz aller Modifikation in ihrer Entwicklung hat die Theorie der Frankfurter diesen letztlich „utopischen Fluchtpunkt" nie vollständig aufgeben wollen. Die Vorstellung einer künftigen, befreiten Gesellschaft war für Horkheimer, Adorno und Marcuse nie eine Welt „befreiter Produktivkräfte", sondern eine verwirklichter Humanität. Sie würde sich fundamental von der Klassengesellschaft mit ihrer Ausbeutung, ihrem Konkurrenzkampf, ihrem Futterneid, ihrer Brutalität, Lieblosigkeit und Isoliertheit der zu Monaden vereinsamten Individuen unterscheiden, und doch nicht mit einem entindividualisierten Kollektiv zusammenfallen. Einen ahndenden Vorgriff auf jene — vielleicht gar nicht realisierbare — humanere Zukunft erblickten sie in den Werken großer, vollendeter Kunst. Wenn es darum ging, angesichts der immer weiter um sich greifenden Barbarei die Erinnerung an die Perspektive auf „bessere Möglichkeiten" menschlicher Existenz wachzuhalten, dann konnte das nur im selektiven Rückgriff auf Vergangenheit geschehen. Die Geschichtslosigkeit, die heutzutage so gern von „Neokonservativen" beklagt wird, Adorno hat sie im Unterschied zu jenen seit jeher als Signum der siegreichen industriekapitalistischen Gesellschaft diagnostiziert: „Das Gedächtnis wird als unberechenbar, unzuverlässig, irrational tabuiert. Die daraus folgende intellektuelle Kurzatmigkeit, die im Ausfall der historischen Dimension des Bewußtseins sich vollendet, setzt unmittelbar die synthetische Apperzeption herab, die Kant zufolge, von der ,Reproduktion der Einbildung', dem Erinnern, nicht zu trennen ist"3. Ohne Erinnern kann aber die Perspektive auf eine „Transzendenz" der existierenden, schlechten Aktualität nicht aufrechterhalten werden. 3
THEODOR W. ADORNO, Minima Moralia, Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt 1951, S. 225f.
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„Eingedenken", „Erinnern", „bewußt halten", „in Evidenz halten", in solchen Formeln drückt Adorno immer wieder die wichtigste Aufgabe kritischer Intellektueller aus, die in finsterer Zeit zu Statthaltern humaner Möglichkeiten, nicht aber zu Beauftragten des Weltgeistes werden können. Ähnlich wie/. P. Sartre in seinem „Plaidoyer pour les intellectuels"4 sehen auch Horkheimer und Adorno in der Durchbrechung ihrer arbeitsteiligen Spezialisierung und der Bewußtlosigkeit ihres Verhaltens gegenüber dem „Ganzen" den ersten Schritt, der den Wissenschaftler und Gelehrten (traditioneller Art) zum kritischen Intellektuellen macht. Will man die „kritische Theorie" in ihrer historisch-sozialen Verortung richtig verstehen, so muß am Anfang diese Einsicht in den Bruch mit der Illusion von der revolutionären Rolle des Industrieproletariats stehen. Im Gegensatz zum Leninismus folgern aber die „Frankfurter" daraus nicht, daß es einer Elite von geschichtsbewußten Intellektuellen zukomme, sich an die Spitze der Arbeiterbewegung zu stellen und ihr das „richtige Klassenbewußtsein" zu vermitteln, um so dafür zu sorgen, daß der historische Fortschritt sich vollendet. Zu sehr ist Horkheimer mit Marx davon überzeugt, daß Emanzipation nicht durch eine noch so aufgeklärte Führung oktroyiert werden kann, und zu deutlich ist ihm die Tatsache bewußt, daß selbst kritische Intellektuelle von dem „totalen Verblendungszusammenhang" mitbetroffen sind, der alle Menschen in den entwickelten industriekapitalistischen Gesellschaften in ihrem Bann hält. Marx hatte in der 3. Feuerbachthese behauptet, daß in der „revolutionären Praxis" das „Sichverändern" mit der Veränderung der Umstände zusammenfallen werde. Die Revolution sollte gleichsam das Dilemma des älteren Materialismus überwinden, der die vollständige Geprägtheit der Menschen durch ihre materiellen Lebensverhältnisse behauptet hatte5. Lukacs hatte in Verlängerung dieses Gedan4
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JEAN-PAUL SARTRE, Plaidoyer pour les Intellectuels, Paris 1972 (drei in Tokyo und Kyoto im Herbst 1965 gehaltene Vorlesungen). In der „dritten Feuerbachthese" hieß es: „Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefaßt und rationell verstanden werden". FRIEDRICH ENGELS, der die Thesen erstmals edierte, hat sie redaktionell „bis zur Unkenntlichkeit" entstellt und aus dem zitierten Satz den folgenden gemacht: „Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit kann nur als umwälzende Praxis gefaßt und rationell verstanden werden". Damit ist die Pointe — nämlich das Verändern der Umstände und die Selbst Veränderung in einem und demselben Akt — verlorengegangen und aus der „revolutionären", die etwas unklare „umwälzende" Praxis geworden. Wie ernst es im übrigen MARX mit dem Gedanken war, geht auch daraus hervor, daß er ihn in der „Deutschen Ideologie" noch zwei Mal wiederholt hat: „die Revolution (ist) nicht nur nötig, weil die herrschende Klasse auf keine andre Weise gestürzt werden kann, sondern auch, weil die stürzende Klasse (also das Proletariat, IF) nur in einer Revolution dahin kommen kann, sich den ganzen alten Dreck vom Halse zu schaffen und zu einer neuen Begründung der Gesell-
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kens im Industrieproletariat das „Subjekt-Objekt" der Geschichte erkannt, das durch seine Verwandlung von der „Klasse an sich" zur „Klasse für sich" zugleich sich selbst und damit die Gesamtgesellschaft befreien werde; mit einer Selbstverwandlung würde zugleich die Klassengesellschaft aus den Angeln gehoben. Mit dem Wegfall des Industrieproletariats als „identischem Subjekt-Objekt" der Geschichte, muß daher das von Marx in der dritten Feuerbachthese charakterisierte Dilemma wieder auftauchen: wie sollen sich Menschen aus dem totalen Verblendungszusammenhang befreien können, in den sie (auch als Wissenschaftler und Intellektuelle) eingeschlossen sind? Der kritischen Theorie fällt die Aufgabe zu, durch die Verwandlung des theoretischen Wissens selbst die Emanzipation zu inaugurieren. Sozialwissenschaft muß sich reflektierend philosophisch werden, um die Aufhebung zu denken und damit wenigstens theoretisch möglich zu machen. Nicht ganz ohne Grund hat Lukacs den Frankfurtern vorgeworfen, sie fielen von der Stufe der Marxschen Theorie auf die der linken Hegelianer zurück, deren Überzeugung auch der junge Marx noch geteilt hatte: „Unser Wahlspruch muß also sein: Reform des Bewußtseins . . durch Analysierung des mystischen sich selbst unklaren Bewußtseins . . Es wird sich dann zeigen, daß die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von dem sie nur das Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen"6. Wenn es letztlich darauf ankommt, die bürgerliche Kultur nicht zu zerstören, sondern die von ihr verratenen älteren Hoffnungen (ihre „Wahrheit") zu erfüllen, dann darf sie andrerseits aber auch nicht — obendrein in ihrer depravierten späten Gestalt — unkritisch rezipiert und als „Erbe" einfach eingestrichen werden. Gerade dazu aber neigen die lange Zeit von ihr Ausgeschlossenen. „Die Wilden sind nicht bessere Menschen" stellt Adorno lapidar fest und verweist auf den Eifer, mit dem „Siamesen in Oxford und allgemein beflissene Kunsthistoriker und Musikologen kleinbürgerlicher Herkunft" dazu neigen, und bereit sind, „mit der Aneignung des je zu Lernenden, Neuen einen unmäßigen Respekt vor dem Etablierten, Geltenden, Anerkannten zu verbinden"7. Ähnliches lasse sich auch den deutschen Proletariern nachsagen, die „wie die Bebels" voller Eifer die Kultur „als Tatsache hinnehmen, mit ihr sich identifizieren und damit freilich ihren Sinn verkehren"7. Adorno ahnt auch schon, daß selbst die Rezeption des Marxismus durch die kolonisierten Völker in Übersee „die an sich längst an der Zeit" sei,
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schaft befähigt zu werden" (MEW Bd. 3, S. 70). Und noch einmal: „In der revolutionären Tätigkeit fällt das Sich-Verändern mit dem Verändern (MEGA: Umändern) der Umstände zusammen" (S. 195). KARL MARX in den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern" 1844, S. 39, MEW Bd. l, S. 345. ADORNO, Minima Moralia, a. a. O., S. 85, S. 86.
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nur dazu führen werde, die „Produktion und den Verkehr zu steigern" und den Lebensstandard bescheiden anzuheben7. Aber auch umgekehrt sollten die Menschen der industriellen Metropolen sich „von den vorkapitalistischen Völkern keine Wunder erwarten", sondern vielmehr „vor deren Nüchternheit, ihrem faulen Sinn fürs Bewährte und für die Erfolge des Abendlandes auf der Hut sein"7. Dieser etwa vor vierzig Jahren formulierte Satz klingt unwahrscheinlich aktuell und läßt sich ebensogut auf die immer wieder enttäuschten Erwartungen und Hoffnungen jener „Tiermondisten" beziehen, die in den sechziger und siebziger Jahren nacheinander das Heil aus Kuba, dem südamerikanischen Dschungel, Vietnam oder von der PLO erhofften oder auch auf jene, die sich aus Ekel vor der Industriezivilisation indischen Gurus verschreiben, die längst die Geschäftstüchtigkeit jener Quaksalber gelernt haben, die in Europa und den USA aus der Verwirrung des Publikums ihren Gewinn ziehen. Vermutlich dachte Adorno 1945 eher an Max Schelers vor 1933 viel diskutierte These von der Notwendigkeit einer Synthese abendländischen und asiatischen Denkens8. Nach der Über8
MAX SCHELER hat in seiner Schrift „Erkenntnis und Arbeit" (1926) den Gedanken eines „kulturellen Ausgleichs" zwischen dem abendländischen und dem asiatischen Denken skizziert, der heute wieder diskutiert wird. Dort heißt es u. a.: „Haben die großen Kulturkreise in ihrer bisherigen Geschichte die drei Arten des Wissens je einseitig entwickelt — so Indien das Erlösungswissen und die vitalseelische Technik der Machtgewinnung des Menschen über sich selbst; China und Griechenland das Bildungswissen; das Abendland seit dem Beginn des 12. Jahrhunderts das Arbeitswissen der positiven Fachwissenschaften —, so ist nunmehr die Weltstunde gekommen, da sich eine Ausgleichung und zugleich eine Ergänzung dieser einseitigen Richtungen des Geistes anbahnen muß. Unter dem Zeichen dieses Ausgleichs und dieser Ergänzung ... wird die Zukunft der menschlichen Kultur stehen. Die Fackel, die gewaltige Lebensfackel der Weltorientierung, die zuerst die ... Naturwissenschaft angezündet hat ... wird keine Romantik, keine christliche und keine indische Romantik je wieder löschen. Und doch muß anerkannt sein, daß diese Flammen niemals und zu keiner Zeit ihres möglichen Fortschreitens unserem Seelenkern, d. h. der geistigen Person im Menschen das Licht und die Führungskraft durch das Leben geben werden, von dessen stillem Glühen sie selbst wiederum sich allein nähren kann: die Humanitas und das Wissen, das sie fordert. Ja der Mensch könnte auch bei idealer Vollendung dieses positivwissenscbaftlich-tecbniscben Prozesses als Geistwesen noch absolut leer bleiben, er könnte bis %u einer Barbarei ^urücksinken, im Verhältnis zu der alle sogenannten Naturvölker .Hellenen' wären! ... die wissenschaftlich systematisch unterbaute Barbarei wäre sogar die furchtbarste aller nur denkbaren Barbareien" (Mxx SCHELER, die Wissensformen und die Gesellschaft, Leipzig 1926 S. 257 f.). Bis auf die metaphysisch-religiöse Sprache stimmt SCHELERS Diagnose insoweit mit der späteren der „Frankfurter" und ihrer Positivismus- und Pragmatismuskritik überein. Völlig andere Wege geht der religiöse Denker Scheler allerdings bei seinem „TherapieVorschlag": „auch die .humanistische' Idee des Bildungswissens — wie sie auf deutschem Boden Goethe am erhabensten selbst verkörpert — muß sich der Idee des Erlösungswissens noch unterordnen und in letzter Abzweckung ihr dienen. Denn alles Wissen ist in letzter Linie von der Gottheit und für die Gottheit" (a. a. O.).
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zeugung von Horkheimer und Adorno kann aber die Kraft zur Umkehr und zur Korrektur allein aus dem gleichen Traditionszusammenhang kommen, der zum entfesselten Industrialismus, zum Positivismus und Konsumismus geführt hat: „Unversöhnlichkeit der Gesinnung ist das Gegenteil von Wildheit", „sie setzt Erfahrung, historisches Gedächtnis, Nervosität des Gedankens und vor allem ein gründliches Maß von Überdruß voraus. Immer wieder hat sich beobachten lassen, wie solche, die blutjung und nichtsahnend in radikale Gruppen sich einreihten, überliefen, sobald sie einmal der Kraft der Tradition gewahr wurden. Man muß diese in sich selber haben, um sie recht zu hassen"9. Damit erklärt sich das Kritik- und Erkenntnisprivileg des — durch den Antisemitismus vollends an den Rand der Gesellschaft gedrängten — jüdischen Bildungsbürgers. Auch wenn Marx in seinen Frühschriften zugleich mit seiner Hoffnung auf die revolutionäre Aktion des Proletariats dessen Verstümmelung durch seine soziale Lage deutlich gemacht hat, tendierten marxistische Ideologen doch immer wieder zu einer Glorifizierung und Idealisierung der Arbeiterklasse, die sie allerdings keineswegs an deren Instrumentalisierung hinderte. Adorno illustriert die Beschädigungen der Psyche der Arbeiter u. a. an deren Sprache: „In der Sprache der Unterworfenen .. hat einzig Herrschaft ihren Ausdruck hinterlassen und sie noch der Gerechtigkeit beraubt, die das unverstümmelte, autonome Wort all denen verheißt, die frei genug sind, ohne Rancune es zu sagen. Die proletarische Sprache ist vom Hunger diktiert ... Der Arme ... nimmt den Mund voll, der nichts zu beißen hat. So rächt er sich an der Sprache. Er schändet den Sprachleib, den sie ihn nicht lieben lassen, und wiederholt mit ohnmächtiger Stärke die Schande, die ihm selber angetan ward. Selbst das Beste der Dialekte des Berliner Nordens oder der Cockneys, Schlagfertigkeit und Mutterwitz, krankt noch daran, daß es, um verzweifelte Situationen ohne Verzweiflung überstehen zu können, mit dem Feinde zugleich auch sich selbst verlacht und so dem Weltlauf recht gibt"9. Man sieht, wie weit Adorno von jenem „Proletkult" entfernt ist, der auch bei uns in den sechziger Jahren von einigen pädagogischen Ideologen bis zur Perhorreszierung der Hochsprache getrieben wurde. Jürgen Habermas hat an solche Reflexionen anknüpfend in der an der Logik von Sprache selbst orientierten kommunikativen Kompetenz so etwas wie den Maßstab gelingender Emanzipation aufgesucht. Derartige Kritik am „real existierenden Proletariat" wird von den Ideologen der Arbeiterparteien — Adorno denkt nicht nur an die Kommunisten
9
Eine derartige Aussage — so würde ADORNO sagen — ist philosophisch nicht mehr verantwortbar und orientiert sich an einem, letztlich willkürlichen, Rückgriff auf eine absolute Tradition. ADORNO, Minima Moralia, S. 85.
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— seit jeher verpönt. Der „offizielle Optimismus" dieser Ideologen ist ihm ein Indiz „für den Verfall der Arbeiterbewegung"10. „Heute, da die Position des Gegners und seine Verfügung übers Bewußtsein der Massen unendlich verstärkt sind (gemeint: im Vergleich zur Zeit von Marx und Engels), gilt der Versuch, durch Kündigung des Einverständnisses dies Bewußtsein jäh zu verändern, für reaktionär. Jeder macht sich verdächtig, der mit der Kritik am Kapitalismus die am Proletariat verbindet, das mehr und mehr die kapitalistischen Entwicklungstendenzen selbst reflektiert. Über die Klassengrenzen hinweg ist das negative Element des Gedankens verpönt. Die Weisheit des Kaisers Wilhelm ,Schwarzseher dulde ich nicht', ist in die Reihen jener eingedrungen, die er zerschmettern wollte"11. Von Kommunisten wie von Apologeten des Industriekapitalismus wird „positives Denken" verlangt, Kritik wird nur dann noch akzeptiert, wenn sie „aufbauend" ist! An die Stelle einer aufmerksamen Analyse der sozialen Verhältnisse ist bei den Anhängern der organisierten Arbeiterbewegung (hier denkt Adorno offensichtlich nur an die Kommunistische Partei) die ängstliche Beachtung noch der leisesten Andeutungen in den Reden der Führer getreten, denen die Linientreuen sich beflissen anpassen12. Der „Hurrapatriotismus" der Kommunisten reduziert sich auf den „Glauben an Macht und Größe der Organisation an sich, ohne Bereitschaft zum eignen Tun, ja durchtränkt mit der destruktiven Überzeugung, Spontaneität sei zwar nicht mehr möglich, aber am Ende gewinne doch die Rote Armee"13. „Der linke Optimismus wiederholt den tückischen bürgerlichen Aberglauben, man solle den Teufel nicht an die Wand malen, sondern sich ans Positive halten"13. Auch mit dieser Feststellung hat Adorno 1945 künftigen Ereignissen — z. B. der Schdanowtschina in der Sowjetunion (1946-1953) - vorgegriffen. Auch wenn Adorno kritischen Intellektuellen die Aufgabe zuschreibt, in „finsterer Zeit" wenigstens das Bewußtsein der schlechten sozialen Realität und der Denkmöglichkeit einer besseren wachzuhalten, dann ist er doch zugleich darum bemüht, jede Annäherung an eine Elitekonzeption zu vermeiden. Dem Intellektuellen mag zwar ein Erkenntnisprivileg zukommen, Führungsansprüche gegenüber anderen lassen sich daraus keineswegs ableiten. Zunächst einmal ist die Mehrheit der in intellektuellen Berufen Tätigen in spätkapitalistischen wie totalitären Staaten weithin in die Gesellschaft integriert. Dem Intellektuellen wird „bedeutet, daß er sich als autonomes Wesen auszumerzen habe, wenn er etwas erreichen — unter die Angestellten des zum Supertrust zusammengeschlossenen Lebens aufge10 11 12 13
a. a. a. a.
a. a. a. a.
O., O., O., O.,
S. 206. S. 207. S. 208. S. 208.
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nommen werden will. Der Renitente, der nicht kapituliert und mit Haut und Haaren sich gleichschaltet, ist preisgegeben den Schocks, welche die zu Riesenblöcken aufgetürmte Dingwelt all dem erteilt, was sich nicht selber zum Ding macht. Die Verhaltensweise aber mit der der Intellektuelle ohnmächtig in der Maschinerie des allseitig entwickelten und allein anerkannten Warenverhältnisses auf den Schock reagiert, ist die Panik"14. Diejenigen aber, die bewußt nicht mitmachen, geraten stets in die Gefahr, „daß sie sich für besser halten als die anderen und ihre Kritik der Gesellschaft mißbrauchen als Ideologie für ihr privates Interesse"^. Unter „privatem Interesse" muß man hier auch das Herrschafts- und Leitungsinteresse verstehen. Es hilft also nichts, auch die in intellektuellen Berufen Tätigen, ja sogar die kritischen Intellektuellen bleiben „verstrickt", ihr einziges Glück besteht in der winzigen Freiheit, die im Erkennen als solchem liegt"16. Dabei kann ihnen nicht verborgen bleiben, daß sie am sittlich-kulturellen Verfall teilhaben. Ihre Sprache z. B. trägt — ohne, daß sie es wissen — Züge der Kulturindustrie und unterscheidet sie von der edlen Prosa eines Jacob Grimm oder Bachofen. „Die Absenz einer jeden objektiv verbindlichen Sitte zwingt uns auf Schritt und Tritt zu Verhaltensweisen, Reden und Berechnungen, die nach dem Maß des Humanen barbarisch und selbst nach dem bedenklichen der guten Gesellschaft taktlos sind"17. Das Konkurren^prin^ip, das im Oligopolkapitalismus zwischen den Großunternehmungen mehr und mehr dahinschwindet, wanderte „in die Beschaffenheit der sich stoßenden und drängenden Atome ein", ist gleichsam in Anthropologie übergegangen"^·1. Die Entwicklung der sozialen Beziehungen auch unter Arbeitern führte weg von der Klassensolidarität hin zum „individuellen Futterneid", oder exakter zur Prestigekonkurrenz der Konsumenten, deren notwendig frustrierenden Charakter Fred Hirsch so ausgezeichnet und präzise beschrieben hat18. Adorno hat hinter den Phänomenen von Statussymbol und Prestigekonkurren^ die Verwandlung der Güter in schließlich nur noch als Waren (als Tauschwerte) erstrebte diagnostiziert: „Im Bereich des nicht zur nackten Lebenserhaltung Notwendigen werden tendenziell die Tauschwerte als solche, abgelöst, genossen; ein Phänomen, das in der empirischen Soziologie unter Termini wie Statussymbol und Prestige auftritt, ohne damit objektiv begriffen zu sein"19. Das Prinzip desolidarisie14 15 16 17
18
19
THEODOR W. ADORNO, Prismen, Kulturkritik und Gesellschaft, Frankfurt 1955, S. 113. ADORNO, Minima Moralia, S. 30. a. a. O., S. 31. a. a. O., S. 32. FRED HIRSCH, Social Limits to Growth, Cambridge Mass. 1976, deutsch: Die sozialen Grenzen des Wachstums, eine ökonomische Analyse der Wachstumskrise, Reinbek 1980. THEODOR W. ADORNO, Spätkapitalismus und Industriegesellschaft, Gesammelte Schriften Bd. 8, Frankfurt 1972, S. 326.
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render Konkurrenz gilt natürlich auch für Intellektuelle, an deren Wettbewerb übrigens Rousseau dieses Phänomen überhaupt zuerst entdeckt hat (in seinem „Ersten Discours" 1750)20. Dennoch sind kritische Intellektuelle „die letzten Feinde der Bürger und die letzten Bürger zugleich. Indem sie überhaupt noch Denken gegenüber der nackten Reproduktion des Daseins sich gestatten, verhalten sie sich als Privilegierte; indem sie es beim Denken belassen, deklarieren sie die Nichtigkeit ihres Privilegs"7·^. Adorno spricht damit jenes abwertende Urteil selbst aus, mit dem rebellische Studenten in den sechziger Jahren ihn treffen zu können glaubten. Der eben von ihm zitierte Satz ist die prägnanteste Form für die paradoxe Stellung des kritischen Intellektuellen zur sozialen Wirklichkeit — heute —. „Es gibt aus der Verstricktheit keinen Ausweg", fährt Adorno fort, „das einzige, was sich verantworten läßt, ist, den ideologischen Mißbrauch der eignen Existenz sich zu versagen und im übrigen privat bescheiden, unscheinbar und unprätentiös sich zu benehmen, wie es längst nicht mehr die gute Erziehung wohl aber die Scham darüber gebietet, daß einem in der Hölle noch die Luft zum atmen bleibt"22. Diese 1944 geschriebenen Sätze konnten — nachdem das Grauen der Vernichtungslager in seinem ganzen Umfang bekannt wurde — doppelte Gültigkeit für sich beanspruchen. Scham, so läßt sich generell sagen, müssen Intellektuelle darüber empfinden, daß sie zwar Kritiker aber zugleich auch immer Nutznießer dieser Gesellschaft sind, ohne die Kraft zu haben, sie zu verändern und damit ihre Privilegien aufzuheben. Jean-Paul Sartre hat in seinem „Plaidoyer pour les Intellectuels" (1972) mit anderen Erkenntnismitteln ähnliche Überlegungen angestellt wie Adorno 1944. Er unterscheidet zwischen dem „Techniker des praktischen Wissens", der an seine Spezialfunktion im arbeitsteiligen Prozeß der Gesellschaft gebunden ist und diese nicht überschreitet, und dem „wahren" Intellektuellen, der kritisch gegenüber dem Ganzen der Gesellschaft Stellung bezieht. Der gleiche (oder ein analoger?) Widerspruch ist — nach Sartre — auch im Intellektuellen selbst angelegt, der einerseits durch seine wissenschaftliche Ausbildung auf „universale 20
21 22
Vgl. JEAN JACQUES ROUSSEAU: „la depravation (est) reelle, et nos ämes se sont corrompues ä mesure que nos sciences et nos arts se sont avances ä la perfection ... les maux causes par notre vaine curiosite sont aussi vieux que le monde. L'elevation et l'abaissement journaliers des eaux de l'Ocean n'on pas ete plus regulierement assujettis au cours de l'astre que nous eclaire pendant la nuit, que le sort des moeurs et de la probite au progres des sciences et des arts. On a vu la vertu s'enfuir ä mesure que leur lumiere s'elevait sur notre horizon, et le meme phenomene s'est observe dans tous les temps et dans tous les lieux" (Discours sur les sciences et les arts, Ed. K. WEIGAND, Hamburg 1955, S. 14). ADORNO, Minima Moralia, S. 32f. a. a. O., S. 33.
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Wahrheiten" orientiert ist und zugleich durch seine soziale Partialfunktion an die Partikularitäten der bestehenden (Klassen-)Gesellschaft gebunden bleibt: „Die Aufgabe des Intellektuellen ist es, seinen Widerspruch für alle zu durchleben (d. h. durch die Anwendung von Wahrheitsmethoden auf Illusionen und Lügen). Durch seine Widersprüche wird er zum Wächter der Demokratie, er protestiert gegen den abstrakten Charakter der Bürgerlichen Demokratie', nicht weil er sie aufheben möchte, sondern weil er sie durch die konkreten Rechte der sozialistischen Demokratie vervollständigen will, indem er in jeder Demokratie die funktionale Wahrheit der Freiheit bewahrt"23. Freilich wird sogleich auch der fundamentale Unterschied der Sartreschen Perspektive für die Teilnahme des „wahren" Intellektuellen am historischen Emanzipationsprozeß sichtbar, wenn man ihre Beziehung zum Proletariat und zur Arbeiterbewegung ins Auge faßt. „Indem er seine dialektische Methode anwendend die allgemeinen Forderungen durch das Besondere hindurch erfaßt und das Universelle auf eine Bewegung des Einzelnen (le singulier) zur Verallgemeinerung reduziert, kann der als Bewußtwerdung seines konstitutiven Widerspruchs definierte Intellektuelle zum Bewußtwerden des Proletariats beitragen"^. Das Industrieproletariat bleibt also für Sartre 1972 noch Subjekt künftiger Emanzipation. Die Intellektuellen sollen auf zweierlei Weise den Prozeß der Bewußtwerdung der revolutionären Klasse fördern: indem sie sich in den Massenorganisationen der Arbeiterklasse „mit einem Maximum an Disziplin und einem Minimum an möglicher Kritik" betätigen und indem andere zugleich außerhalb dieser Organisationen „mit einem Minimum an Disziplin und einem Maximum an möglicher Kritik" aktiv sind25. Sartre dürfte bei diesen Ausführungen übrigens eher an die Kommunistische Partei Italiens als an die Frankreichs gedacht haben, aber selbst in ihrem Fall schien ihm der zweite Typus von Intellektuellen unentbehrlich, der von außen kommend, durch seine Kritik korrigierend und modifizierend auf den Kurs der Organisation einwirken kann. Mit der „orthodoxen" leninistischen Parteikonzeption ist freilich dieser kritische Sympathisant nicht gut zu vereinbaren. Sartre ist denn auch nicht bei dieser Position stehengeblieben, vom Mythos der „revolutionären Klasse" freilich hat er sich nie ganz frei gemacht. Sehr vorsichtig deutet dagegen Adorno die Funktion jener kritischen Intellektuellen für die Gesellschaft an: „sie sind (nämlich) zugleich Nutznießer der schlechten Gesellschaft und doch diejenigen, von deren gesellschaftlich unnützer Arbeit es weithin abhängt, ob eine von Nützlichkeit emanzipierte Gesellschaft gelingt ... (Der Intellektuelle) ... erfährt dra23 24 25
J. P. SARTRE, Plaidoyer pöur les Intellectuels, a. a. O., S. 82f. SARTRE, a. a. O., S. 70. SARTRE, a. a. O., S. 75.
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stisch als Lebensfrage die schmähliche Alternative, vor welche insgeheim der späte Kapitalismus all seine Angehörigen stellt: auch ein Erwachsener zu werden oder ein Kind zu bleiben"26. Die praktische Opposition reduziert sich damit auf die Weigerung, „auch Erwachsener" zu werden, das heißt ein funktional integrierter Bestandteil des „herrschenden Systems". Der oft zitierte Satz Adornos „es gibt kein richtiges Leben im falschen" (ein Gedanke, den Adorno „spät, nachdem er ihn ausgedrückt hatte" in Nietzsche wiedergefunden haben will27) steht am Ende einer langen Ausführung über die Rolle der Intellektuellen, von denen er verlangt, „in Eviden^ %u halten und auszudrücken, daß das Privateigentum einem nicht mehr gehört, in dem Sinn, daß die Fülle der Konsumgüter potentiell so groß geworden ist, daß kein Individuum mehr das Recht hat, an das Prinzip ihrer Beschränkung sich zu klammern"28. Zugleich aber müsse man „dennoch Eigentum haben, wenn man nicht in jene Abhängigkeit und Not geraten wolle, die dem blinden Fortbestand der Besitzverhältnisse zugute kommt"28. Der Leninismus entkommt diesem Dilemma — wenigstens scheinbar —, indem er dem „Berufsrevolutionär" gleichsam die Teilhabe am „kollektiven Eigentum" der Partei verschafft, so daß er in gewisser Weise doch schon ein „richtiges Leben" (nämlich eins ohne Privat eigen26 27
28
ADORNO, Minima Moralia, S. 247 f. ADORNO: „Mit der Weisheit, wie wir sie konzipierten, will es nicht mehr so ganz stimmen, weil der Begriff des richtigen Lebens heute problematisch geworden ist. Die Möglichkeit, es zu verwirklichen, findet sich nicht in der heutigen Gesellschaft, wie sie überhaupt wohl bis zu dieser Stunde unerfüllt blieb; aber dennoch hat die Anstrengung des Begriffs es vermocht, den Menschen die Idee von einem richtigen Leben zu übermitteln. Ein Gedanke kommt hier zum Tragen, den ich erst spät, nachdem ich ihn ausgedrückt hatte, voller Stol^ bei Nietzsche wiederfand: kein richtiges Leben ist im falschen möglich" (Philosophische Terminologie (Vorlesungen) Bd. l, Frankfurt 1973, S. 133). Sieht man sich bei NIETZSCHE um, so findet man am ehesten in „Menschliches Allzumenschliches" eine Andeutung des von ADORNO formulierten Gedankens: „Das ganze menschliche Leben ist tief in die Unwahrheit eingesenkt; der einzelne kann es nicht aus diesem Brunnen herausziehen^ ohne dabei seiner Vergangenheit aus tiefstem Grunde gram zu werden, ohne seine gegenwärtigen Motive, wie die der Ehre, ungereimt zu finden und den Leidenschaften, welche zur Zukunft und zu einem Glück in derselben hindrängen, Hohn und Verachtung entgegenzustellen. Ist es wahr, bliebe einzig noch eine Denkweise übrig, welche als persönliches Ergebnis die Verzweiflung, als theoretisches eine Philosophie der Zerstörung nach sich %öge? —" (Werke Ed. SCHLECHTA Bd. I, S. 472f.). Kennzeichnend für NIETZSCHE (und ADORNO?) ist es, daß eine Alternative zur Befreiung des Einzelnen — nämlich die gemeinsame Befreiung aller — auch theoretisch nicht mehr in Betracht gezogen wird. Allerdings will ADORNO — im Unterschied zu NIETZSCHE — an dem „Gedanken des richtigen Lebens" festhalten: „Dialektik hat heute ihren Schauplatz in der Spannung zwischen der Einsicht in die ganz unmögliche Darstellung eines richtigen Lebens und zugleich des Bewußtseins davon, wie es sein könnte" (Phils. Terminologie Bd. I, S. 133). ADORNO, Minima Moralia, S. 58 f.
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turn) mitten im „falschen" führen kann. Im Unterschied zu einer vulgärmaterialistischen These resultiert für Adorno aus äußerer sozialer Not keineswegs der Impuls für radikale strukturelle Veränderung der Gesellschaft. Die Paradoxie seiner Aussage geht sogar noch weiter, indem nämlich die „Geringschätzung des Eigentums" zu liebloser Nichtachtung für die Dinge „führt", die „notwendig auch gegen die Menschen sich kehrt", umgekehrt aber auch die Rechtfertigung des Eigentums um jener Achtung für die Dinge und die Menschen willen sofort in eine „Ideologie für die, welche mit schlechtem Gewissen das Ihre behalten wollen", sich verwandelt. Erst hierauf folgt der Stoßseufzer: „es gibt kein richtiges Leben im falschen". Mit anderen Worten: weder Privateigentum noch Eigentumslosigkeit befreit den einzelnen kritischen Intellektuellen von seiner Verstricktheit in die schlechte Gesellschaft, die er doch so entschieden verurteilt und verändern möchte. Parallel mit ihrer Kritik am Proletariat und dem offensichtlich versäumten „Kairos" (Tillich) für eine emanzipatorische Revolution, entwerfen Walter Benjamin, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno eine Kritik am Konzept des linearen Fortschritts, der zunehmend undialektisch und positivistisch verstanden das Denken der Arbeiterbewegung bestimmte. Hier, im Zusammenhang mit ihrer radikaleren Kritik des Fortschritts antizipieren die „Frankfurter" eine Kritik an der Naturzerstörung durch den Industrialismus, wie sie erst in den vergangenen zehn Jahren größere Beachtung gefunden hat. Wenn es eine Verbindung zwischen Marxismus und Ökologie geben sollte, dann wird sie auch an diese Überlegungen anknüpfen können. War nicht nur Herbert Marcuse, sondern auch Adorno und Benjamin schon mit den „Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie" von Marx vertraut gewesen, so hätten sie dort einen deutlichen Hinweis auf den ambivalenten Charakter des Fortschritts finden können, der freilich bei Marx nur konstatiert wird, um schließlich doch in die optimistische Antizipation einer „emanzipierten Gesellschaft" zu münden, die jenen Antagonismus definitiv hinter sich läßt. Die „Kosten" des Fortschritts machten offenbar Marx keine Kopfschmerzen, wie sonst hätte er mehrfach auf die Beschreibungen inhumaner Aspekte der Entwicklung das Zitat aus Goethes „West-Östlichem-Diwan" folgen lassen können; „Sollte diese Qual uns quälen, da sie unsre Lust vermehrt? Hat nicht Myriaden Seelen Timurs Herrschaft aufgezehrt?"29
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Der Vers folgt einmal auf die Beschreibung der Auswirkungen der „britischen Herrschaft in Indien", das andere Mal auf eine Unfallstatistik in britischen Bergwerken, die Jahr für
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In den „Grundrissen" beschreibt Marx die Herausbildung des Weltmarktes mit seiner universellen Arbeitsteilung und Entfremdung als einen — wenngleich ambivalenten — Fortschritt, weil er im Unterschied zum „Idiotismus des Landlebens" die weltweite Verbindung aller Menschen miteinander zustandegebracht habe. Zur Beurteilung dieses Prozesses schließt er dann die folgende Überlegung an: „Auf früheren Stufen der Entwicklung erscheint das Individuum voller, weil es eben die Fülle seiner Beziehungen noch nicht herausgearbeitet und als von ihm unabhängige gesellschaftliche Mächte und Verhältnisse sich gegenübergestellt hat. So lächerlich es ist, sich nach jener ursprünglichen Fülle zurückzusehnen, so lächerlich ist der Glaube, bei jener vollen Entleerung stehenbleiben %u müssen. Über den Gegensat^ gegen jene romantische Ansicht ist die bürgerliche nie herausgekommen und darum wird jene als berechtigter Gegensatz sie bis an ihr seliges Ende begleiten"30. Nirgends hat Marx seine Beurteilung des Geschichtsprozesses — jenseits von romantischer Nostalgie und positivistischer Hinnahme der Gegebenheiten — deutlicher charakterisiert als hier. Es gibt wenige Prognosen von Marx, die so präzise sich bewahrheitet haben wie die von der „berechtigten" Wiederkehr nostalgischer Sehnsüchte während der gesamten Dauer der bürgerlichen industriellen Produktionsweise. Adorno freilich, der keine realistische Erwartung auf eine bevorstehende Emanzipation der Menschheit mehr hegt, kommt zu dem resignativen Resultat, das wie eine Antwort auf das (ihm unbekannte) Marx-Zitat klingt: „Zwischen der Lust an der Leere und der Lüge der Fülle läßt der herrschende Stand des Geistes (!) kein Drittes mehr zu"31. Marxisten werden vermutlich die Formulierung „Stand des Geistes" problematisieren und fragen, ob damit der „Stand der gesellschaftlichen Verhältnisse" gemeint sei. Die Kritik des spätbürgerlichen wie vulgärmarxistischen Fortschrittsbegriffs wird erstmals in aller Radikalität von Walter Benjamin formuliert. Sie wurde in einem Typoskript 1942 veröffentlicht, das das Institut für Sozialforschung zum Gedächtnis an ihn herausgab. Dort heißt es: „Es gibt nichts, was die deutsche Arbeiterschaft in dem Grade korrumpiert hat wie die Meinung, sie schwimme mit dem Strom. Die technische Entwicklung galt ihr als Gefalle des Stromes, mit dem sie zu schwimmen meinte. Von da war es nur ein Schritt zu der Illusion, die Fabrikarbeit ... stelle eine politische Leistung dar. Die alte protestantische Werkmoral feierte in säkularisierter Gestalt ihre Auferstehung. Das Gothaer Programm trägt bereits Spuren dieser Verwirrung ... Unbeschadet (der Marxschen Kritik,
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Jahr über tausend Opfer verzeichnet: MEW Bd. 9, S. 132f., MEGA, II. Abteilung Bd. 3,1, S. 326 f. KARL MARX, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1953, S. 80. ADORNO, Minima Moralia, S. 116.
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IF) ... greift die Konfusion weiter um sich, und bald darauf verkündet Josef Dietzgen: ,Arbeit heißt der Heiland der neuen Zeit. In der Verbesserung ... der Arbeit ... besteht der Reichtum, der jetzt vollbringen kann, was bisher kein Erlöser vollbracht hat'. Dieser vulgärmarxistische Begriff von dem, was die Arbeit ist, hält sich bei der Frage nicht lange auf, wie ihr Produkt den Arbeitern selbst anschlägt, solange sie nicht darüber verfügen können. Er will nur die Fortschritte der Naturbeherrschung, nicht die Rückschritte der Gesellschaft wahrhaben. Er weist schon die technokratischen Züge auf, die später im Faschismus begegnen werden. Zu diesen gehört ein Begriff der Natur, der auf unheilvolle Art sich von dem in den sozialistischen Utopien des Vormärz abhebt. Die Arbeit, wie sie nunmehr verstanden wird, läuft auf die Ausbeutung der Natur hinaus, welche man mit naiver Genugtuung der Ausbeutung des Proletariats gegenüberstellt. Mit dieser positivistischen Konzeption verglichen, erweisen die Phantastereien ... eines Fourier ... ihren überraschend gesunden Sinn. Nach Fourier sollte ... die Arbeit, weit entfernt, die Natur auszubeuten, von den Schöpfungen sie entbinden, ... die als mögliche in ihrem Schöße schlummern"^2. Damit deutet Benjamin nicht mehr und nicht weniger an als die Utopie einer „anderen Technik", die eine Art „Versöhnung mit der Natur" erlauben würde, wie sie in unseren Tagen ökologische Theoretiker wie Klaus-Michael Meyer-Abich und andere postuliert haben33. Theodor W. Adorno und Horkheimer greifen den Benjaminschen Gedanken auf, wobei Horkheimer stärker die Tierquälerei als eine markante Form der Gleichgültigkeit gegenüber der Natur betont, die lediglich noch als Ausbeutungsobjekt erscheint: „Die moderne Gleichgültigkeitgegenüber der Natur ist in der Tat nur eine Variante der pragmatischen Einstellung, die für die abendländische Zivilisation insgesamt typisch ist. Die Formen sind verschieden. Der frühe Trapper sah in den Prärien und Bergen nur die Aussicht auf gute Jagd; der moderne Geschäftsmann sieht in der Landschaft eine günstige Gelegenheit für das Aufstellen von Zigarettenreklame. Das Schicksal der Tiere in unserer Welt wird durch eine Notiz symbolisiert, die vor einigen Jahren durch die Zeitungen ging. Sie berichtete, daß Landungen von Flugzeugen in Afrika oft durch Herden von Elefanten und anderen Tieren behindert würden. Die Tiere werden hier einfach als Verkehrshindernisse betrachtet. Diese Vorstellung vom Menschen als dem Herrn läßt sich bis auf die ersten Kapitel der Genesis zurückverfolgen ... Papst Pius IX ließ nicht zu, daß in Rom eine Gesellschaft zur Verhinderung von Grausamkeit an Tieren gegründet wurde, weil, wie er erklärte, die Theologie lehrt, daß der Mensch einem Tier 32
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WALTER BENJAMIN, Illuminationen, Frankfurt 1961, S. 274. Erstpublikation in „Walter Benjamin zum Gedächtnis", Institut für Sozialforschung o. O. 1942, S. 8 f. KLAUS MICHAEL MEYER-ABICH, Wege zum Frieden mit der Natur, praktische Naturphilosophie für die Umweltpolitik, München 1984.
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gegenüber nicht verpflichtet ist" 34. Adorno hat in einem Essay über „Statik und Dynamik als soziologische Kategorien" Charakteristika einer „anderen Technik" angedeutet, die vom Zwang der existierenden Produktionsweise (wie der „Systemkonkurrenz") befreit, einer qualitativen Veränderung der Lebensverhältnisse dienen würde: „Konkret heißt Dynamik in der Geschichte bis heute, zunehmende Beherrschung äußerer und innerer Natur. Ihr Zug ist eindimensional, geht %u Lasten der Möglichkeiten, die der Naturbeherrschung Zuliebe nicht entwickelt werden; stur, manisch das Eine verfolgend, verschlingt die losgelassene Dynamik alles andere ... Die Rationalisierung der Arbeitsprozesse könnte, anstatt primär auf Produktivität', ebenso auf die menschenwürdige Gestaltung der Arbeit selbst, die Erfüllung und Differenzierung genuiner Bedürfnisse, die Bewahrung der Natur und ihrer qualitativen Mannigfaltigkeit inmitten ihrer Bearbeitung für menschliche Zwecke sich richten."^ Und Adorno fügt — ganz im Geiste marxistischer Kapitalismuskritik — hinzu: „Die immanente Entfaltung der Produktivkräfte, die menschliche Arbeit bis zu einem Grenzwert überflüssig macht, birgt das Potential von Änderung; die Abnahme der Quantität von Arbeit, die technisch heute bereits minimal sein könnte, eröffnet eine neue gesellschaftliche Qualität, die sich nicht auf einsinnigen Fortschritt %u beschränken brauchte, wenn nicht einstweilen die Drohung, die eben daraus den Produktionsverhältnissen erwächst, das Gesamtsystem dazu verhielte, in seine bornierte Tendenz, unerbittlich sich zu verbeißen. Vollbeschäftigung wird %um Ideal, wo Arbeit nicht länger das Maß aller Dinge sein müßte"^. Auch mit diesem Gedanken kommt Adorno einer Überlegung von Marx nahe, die ihm offenbar als Text unbekannt war. Was Marx 1857/58 noch als künftig antizipiert, das ist freilich — nach Adorno — inzwischen aktuelle Möglichkeit geworden. Bei Marx heißt es: „Sobald die Arbeit in unmittelbarer Form aufgehört hat, die große Quelle des Reichtums zu sein, hört und muß aufhören die Arbeitszeit sein Maß %u sein und daher der Tauschwert (das Maß) des Gebrauchswerts. Die Surplusarbeit der Masse hat aufgehört, Bedingung für die Entwicklung des allgemeinen Reichtums zu sein, ebenso wie die Nichtarbeit der Wenigen für die Entwicklung der allgemeinen Mächte des menschlichen Kopfes. Damit bricht die auf dem Tauschwert beruhende Produktion ^usammen, und der unmittelbare materielle Produktionsprozeß erhält selbst die Form der Notdürftigkeit und Gegensätzlichkeit abgestreift. Die freie Entwicklung der Individualitäten, und daher nicht das Reduzieren der notwendigen Arbeitszeit um Surplusarbeit %u setzen, sondern überhaupt die Reduktion der notwendigen Arbeit der Gesellschaft zu einem Minimum, der dann die künstlerische, wissenschaftliche etc. Ausbildung der Individuen durch die für sie alle freigewordene Zeit und geschaffenen Mittel ent-
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MAX HORKHEIMER, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt 1967, S. 102f. THEODOR W. ADORNO, Gesellschaftstheorie und Kulturkritik, Frankfurt 1975, S. 43f.
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spricht"^. Voraussetzung für diese Überwindung der ökonomischen Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise ist allerdings nicht nur — wie einige Interpreten angenommen haben — der hohe Stand der technischen Entwicklung der Produktivkräfte, diese stellt nämlich nur „die materiellen Mittel (bereit), um sie in die Luft zu sprengen" (a. a. O. S. 582). Die Befreiung selbst setzt die „Aneignung der Surplusarbeit" durch die „Arbeitermassen" voraus37. Dann wird „keine surpluslabour vom Kapital verwertet werden" können, und es ist „dann keineswegs mehr die Arbeitszeit sondern die disposable time das Maß des Reichtums ,.."37. Mit anderen Worten: das „Wertgesetz" gilt in einer postkapitalistischen „freien Assoziation der Produzenten" nicht mehr. An die Stelle des historisch vergangenen Maßstabes für „Reichtum" wird dann die „disposable time" aller Gesellschaftsglieder Gradmesser sozialen Wohlstands sein. In den „Minima Moralia" konfrontiert Adorno die Verherrlichung der „Dynamik" und den Wachstumsfetischismus der kapitalistischen wie der „real existierenden sozialistischen Gesellschaften" einem qualitativen Konzept emanzipatorischer Entwicklung, das über jenem vergessen oder verdrängt wurde: „Zart wäre einzig das Gröbste: daß keiner mehr hungern soll. Alles andere setzt für einen Zustand, der nach menschlichen Bedürfnissen^ zu bestimmen wäre, ein menschliches Verhalten an, das am Modell der Produktion als Selbstzweck gebildet ist. In das Wunschbild des ungehemmten, kraftstrotzenden, schöpferischen Menschen ist eben der Fetischismus der Ware eingesickert, der in der bürgerlichen Gesellschaft Hemmung, Ohnmacht, die Sterilität des Immergleichen mit sich führt. Der Begriff der Dynamik, der zur bürgerlichen ,Geschichtslosigkeit* komplementär gehört, wird zum Absoluten erhöht, während er doch als anthropologischer Reflex der Produktionsgesetze in der emanzipierten Gesellschaft selber dem Bedürfnis kritisch konfrontiert werden müßte. Die Vorstellung vom fessellosen Tun, dem ununterbrochenen Zeugen, der pausbäckigen Unersättlichkeit, der Freiheit als Hochbetrieb zehrt von jenem bürgerlichen Naturbegriff, der von jeher einzig dazu getaugt hat, die gesellschaftliche Gewalt als unabänderliche, als ein Stück gesunder Ewigkeit zu proklamieren ... Nicht das Erschlaffen der Menschheit in Wohlleben ist zu fürchten (hier scheint Adorno an Nietzsches Sozialismuskritik sich zu erinnern, IF), sondern die wüste Erweiterung des in Allnatur vermummten Gesellschaftlichen, Kollektivität als blinde Wut des Machens. Die naiv unterstellte Eindeutigkeit der Entwicklungstendenz auf 36 37 38
KARL MARX, MEGA 2. Abteilung Bd. 1,2, S. 581 f. a.a.O. Was ADORNO „menschliche Bedürfnisse" nennt, wird von MARX mit „Bedürfnisse gesellschaftlich entwickelter Individuen" bezeichnet in beiden Fällen sind damit natürlich nicht die Bedürfnisse gemeint, die unter Bedingungen der kalkulierten Knappheit in einer antagonistischen Klassengesellschaft entstehen.
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Steigerung der Produktion ist selber ein Stück jener Bürgerlichkeit, die Entwicklung nach einer Richtung nur %uläßt, weil sie als Totalität zusammengeschlossen, von Quantifizierung beherrscht, der qualitativen Differenz, feindlich ist. Denkt man die emanzipierte Gesellschaft als Emanzipation gerade von solcher Totalität, dann werden Fluchtlinien sichtbar, die mit der Steigerung der Produktion und ihren menschlichen Spiegelungen wenig gemein haben"39. Und deutlicher noch fügt Adorno hinzu: „Vielleicht wird die wahre Gesellschaft (eine Bezeichnung, die Adorno nur selten und vermutlich mit einem gewissen Unbehagen benützt) der Entfaltung überdrüssig und läßt aus Freiheit Möglichkeiten ungenützt, anstatt unter irrem Zwang auf fremde Sterne einzustürmen"*®. Der Unterschied zu Marx, der immerhin gegen Sismondi Ricardos Eintreten für „die Produktion um der Produktion willen" verteidigt hat, weil sie im Grunde die Entfaltung der im Menschen schlummernden Kräfte (wenn auch in entfremdeter Form) bedeute41, ist dennoch nur einer der Akzentuierung. Auch Marx stellt sich eine emanzipierte Gesellschaft als befreit von jenem Zwang zu ständig „erweiterter Reproduktion" vor, seine Idealvorstellung von humanem Glück — so dürfte es Adorno sehen — bleibt allerdings noch allzusehr im Banne bürgerlicher Vorstellungen befangen. Die „allseitig entfalteten", kreativen Individuen, die gemeinsam als „general intellect", ihre gesellschaftlichen Lebensprozesse kontrollieren, ähneln noch allzusehr jenen Genies, von denen seit der Renaissance die Denker des Bürgertums träumten. Einen Satz wie den folgenden hätte daher Marx kaum schreiben können: „Einer Menschheit, welche Not nicht mehr kennt, dämmert gar etwas von dem Wahnhaften, Vergeblichen all der Veranstaltungen, welche bis dahin getroffen wurden, um der Not zu entgehen, und welche die Not mit dem Reichtum erweitert reproduzierten"42. Damit deutet Adorno an, daß — selbst im Fall einer gelingenden Emanzipation — der Weg zu diesem Ziel im Rückblick als sinnlose 39 40 41
42
ADORNO, Minima Moralia, S. 296 f. a.a.O. Nicht die ins Unbegrenzte gehende Steigerung der materiellen Produktion wohl aber eine ins Utopische weisende Steigerung der individuellen Fähigkeiten zu kreativem Tun und Genießen scheint MARX für die Zukunft der emanzipierten Menschheit vorzuschweben. Vgl. z. B.: „Als das rastlose Streben nach der allgemeinen Form des Reichtums treibt aber das Kapital die Arbeit über die Grenzen seiner Naturbedürftigkeit hinaus und schafft so die materiellen Elemente für die Entwicklung der reichen Individualität, die ebenso allseitig in ihrer Produktion als Konsumtion ist und deren Arbeit daher auch nicht mehr als Arbeit, sondern als volle Entwicklung der Tätigkeit selbst erscheint, in der die Naturnotwendigkeit in ihrer unmittelbaren Form verschwunden ist; weil an die Stelle des Naturbedürfnisses ein geschichtlich erzeugtes getreten ist..." MEGA 2. Abteilung Bd. 1,1, S. 241. Der „befreite Mensch" ist für MARX ein „allseitig tätiger" und „allseitig genießender", „rien faire comme une bete" käme ihm nicht in den Sinn. ADORNO, Minima Moralia, S. 297.
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Anstrengung erscheinen könnte: „Rien faire comme une bete, auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen, ,sein, sonst nichts, ohne alle weitere Bestimmung und Erfüllung' könnte an Stelle von Prozeß, Tun, Erfüllen treten und so wahrhaft das Versprechen der dialektischen Logik einlösen, in ihren Ursprung zu münden"43. Nimmt man diese Aussage wörtlich, dann wären wir über Marx, Hegel und Kant zu Rousseau zurückgekehrt, der den zivilisatorischen Fortschritt — wenigstens seit dem Untergang des „goldenen Hirtenzeitalters" — für einen einzigen Verfallsprozeß hielt, der im Interesse von Natur und Tugend besser unterblieben wäre, aber fataler Weise nicht aufgehalten werden konnte. In einer Kritik an Aldous Huxleys „Brave New World" erläutert Adorno jene Veränderungen auch der Bedürfnisse der Menschen, die Marx als die „gesellschaftlich entwickelter Individuen" apostrophiert hatte und die gerade nicht die der in den zeitgenössischen Gesellschaften Lebenden sind: „Die Undurchdringlichkeit von echtem und falschem Bedürfnis gehört wesentlich zur gegenwärtigen Phase. In ihr bilden die Reproduktion des Lebens und dessen Unterdrückung eine Einheit, die %war als Geset^ des Ganzen, doch nicht im einzelnen durchschaubar ist. Einmal wird sich rasch zeigen, daß die Menschen den Schund, den die Kulturindustrie, und die jämmerliche Erstklassigkeit, die ihnen die handfeste liefert, nicht brauchen. Der Gedanke etwa, das Kino sei neben Wohnung und Nahrung zur Reproduktion der Arbeitskraft notwendig, ist ,wahr' nur in einer Welt, welche die Menschen auf die Reproduktion der Arbeitskraft zurichtet und ihre Bedürfnisse zur Harmonie mit dem Interesse von Angebot und gesellschaftlicher Kontrolle zwingt ... Ist der Mangel verschwunden, so wird die Relation von Bedürfnis und Befriedigung sich verändern. Heute ist der Zwang, fürs Bedürfnis in seiner durch den Markt vermittelten und dann eingefrorenen Form %u produzieren, eines der Hauptmittel, alle bei der Stange zu halten. Es darf nichts gedacht, geschrieben, getan und gemacht werden, was über einen Zustand hinausginge, der sich weitgehend durch die Bedürfnisse der ihr Ausgelieferten hindurch an der Macht hält"**. Die Herrschaft der bestehenden Gesellschaftsordnung stabilisiert sich psychisch durch die den Individuen „vermittelten" Bedürfnisse. Was Fred Hirsch am Beispiel der notwendig stets frustrierten Bedürfnisse nach „positionellen Gütern" illustriert hat, beschreibt Adorno wie folgt: „die gegenwärtige Gesellschaft hat den ihr immanenten Bedürfnissen weithin die Befriedigung versagt, dafür aber die Produktion durch den Verweis eben auf die Bedürfnisse in ihrem Bannkreis festgehalten"45. In einer „wahren Gesellschaft" würde nicht nur der hergebrachte „Antagonismus von Produktion und Konsum", sondern auch deren „jüngste staatska43
44 45
a. a. O., S. 298. THEODOR W. ADORNO, Prismen, a. a. O., S. 131 f. ADORNO, a. a. O., S. 132
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pitalistische Einheit" aufgehoben. Sie würde mit der Idee von KARL KRAUS konvergieren, daß „Gott den Menschen nicht als Konsumenten und Produzenten erschaffen hat, sondern als Mensch"45. Daß etwas unnütz sei, ist dann keine Schande mehr. Anpassung verliert ihren Sinn. Die Produktivität wird nun erst im eigentlichen, nicht entstellten Sinn aufs Bedürfnis wirken: nicht indem sie das unbefriedigte mit Unnützem sich stillen läßt, sondern indem das gestillte vermag, zur Welt sich zu verhalten, ohne sich durch universale Nützlichkeit zuzurichten"46. Man darf hinzufügen: auch ohne die Natur in Hinblick auf ihre totale Vernutzung zugrunderichten zu müssen. Vor einer reaktionären Technikfeindschaft und Kulturkritik ist Adorno durch die Einsicht gefeit, daß nicht „die Technik" und ihr angebliches „Wesen", was immer es sein könnte, sondern die durch die gesellschaftlichen Verhältnisse (die Struktur der ökonomischen Zwänge) geprägte Gestalt der Produktion zu entfremdeten Formen von Arbeit und Konsum geführt hat. Gegen Aldous Huxley gewendet stellt er daher fest: „Wessen er die Technik berichtigt, das liegt nicht, wie er es den romantischen Philistern glaubt, in ihrem eigenen Sinne, der Abschaffung der Arbeit, sondern folgt, wie es übrigens im Roman durchschimmert, aus ihrer Verfilmung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen der Produktion. Selbst die Unvereinbarkeit von Kunst und Massenproduktion heute rührt nicht von der Technik als solcher her, sondern davon, daß diese, unterm Diktat jener sinnwidrig fortgesetzten Verhältnisse, den Anspruch von Individuation, nach Benjamins Wort die ,Aura', festhalten muß, den sie nicht einlösen kann. Noch die Verselbständigung des Mittels, die Huxley an der Technik rügt, entzieht nicht notwendig den Zwecken das Ihre. Auf dem bewußtlosen Weg des Bewußtseins, gerade in der Kunst, vermag das blinde Spiel mit Mitteln Zwecke zu setzen und zu entfalten. Das Verhältnis von Mittel und Zweck, von Humanität und Technik läßt sich nicht nach ontologischen Prioritäten regeln"47. Daß Huxley auch theoretisch keinen Ausweg sieht, sondern letztlich durch seine „schwarze Utopie" nur das Bestehende bestätigt, führt Adorno darauf zurück, daß er von einem eindeutigen (Marcuse wird sagen: „eindimensionalen") Fortschrittsbegriff ausgeht, der zu einer Unausweichlichkeit führen muß, und weil er nicht erkennt, daß „jene Beschränktheit der Produktionsverhältnisse, die profitbedingte Inthronisierung des Produktionsapparates als Eigenschaft der technischen und menschlichen Produktivkräfte an sich zurückgespiegelt wird"47. Mit anderen Worten: Huxley erliegt dem Schein, der die bestehende Gestalt der Technik als deren unveränderliches „Wesen" hinstellt, statt zu erkennen, daß diese Gestalt Produkt der Produktionsverhältnisse ist und — zusammen mit ihnen — verändert werden könnte. 46 47
ADORNO, a. a. O., S. 133. ADORNO, a. a. O., S. 137f.
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An diese Erklärung der aktuellen Gestalt der Produktionstechnik sind jene zu erinnern, die Benjamin und Adorno unbesehen den „konservativen Zivilisationskritikern" zurechnen wollen. Gewiß hat Adorno z. B. auch auf die verrohende Auswirkung des Umgangs mit technischen Apparaten verwiesen, aber jene Auswirkungen sind sowohl eingebettet in eine die Einzelnen immer mehr zu „Monaden" machende Gesellschaftsstruktur als auch bedingt durch eben jene Gestalt von Technik, die, auf maximale Verbilligung (und daher Vereinfachung, Primhivierung des Umgangs mit ihr) zielend, damit jeweils auch Vergröberung produzieren muß. Erst in solcher Einbettung in das Ganze der Gesellschaft wie der von ihr geprägten psychischen Beschaffenheit der Menschen kann ein Satz wie der folgende richtig verstanden werden: „Welchen Chauffierenden hätten nicht schon die Kräfte seines Motors in Versuchung geführt, das Ungeziefer der Straße, Passanten, Kinder und Radfahrer zuschanden zu fahren? In den Bewegungen, welche die Maschinen von den sie Bedienenden verlangen, liegt schon das Gewaltsame, Zuschlagende, stoßweise Unaufhörliche der faschistischen Mißhandlungen"48. Am Beispiel der „Roboterbomben" Hitlers, die wir heute vermutlich „Marschflugkörper" nennen würden, illustriert Adorno die Verwandlung subjektloser ökonomischer Produktion (die Charakterisierung der kapitalistischen Produktionsweise als subjektlose Totalität wird von Adorno wie allen übrigen „Hegel-Marxisten" nicht wie von Althusser allein als epochenmachender Erkenntnisfortschritt angesehen, sondern zugleich als implizierte Kritik und Indiz der historischen Begrenztheit dieser Produktionsweise) in ein ebensolches Destruktionsmittel: „Hätte Hegels Geschichtsphilosophie diese Zeit eingeschlossen, so hätten Hitlers Roboterbomben, neben dem frühen Tod Alexanders und ähnlichen Bildern, ihre Stelle gefunden unter den ausgewählten empirischen Tatsachen, in denen der Stand des Weltgeistes unmittelbar symbolisch sich ausdrückt. Wie der Faschismus selber sind die Robots lanciert zugleich und subjektlos. Wie jener vereinen sie die äußerste technische Perfektion mit vollkommener Blindheit. Wie jener erregen sie das tödlichste Entsetzen und sind ganz vergeblich. ,Ich hab den Weltgeist gesehen' nicht zu Pferde, aber auf Flügeln und ohne Kopf, und das widerlegt zugleich Hegels Geschichtsphilosophie"49. In einem erst 1982 erstmals deutsch veröffentlichten Text (einer Vorarbeit zum Kapital aus den Jahren 1861/1863) spricht Marx davon, daß „mit der Maschinerie — und dem auf sie gegründeten mechanischen Atelier — die Herrschaft der vergangenen Arbeit über die lebendige nicht nur soziale — sondern sozusagen technologische Wahrheit" erhält50. In dem subjektlosen Destruktionsmittel der 48 49 50
ADORNO, Minima Moralia, S. 60. ADORNO, a. a. O., S. 90f. KARL MARX, MEGA 2. Abteilung Bd. 3,6, S. 2059.
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„Roboterbombe" oder der Marschflugkörper, die sich selbst in ihr Ziel steuern, verwirklicht sich jene Herrschaft vergangener, vergegenständlichter Arbeit (d. h. ihrer Resultate) gegenüber den lebendigen Menschen auf eine womöglich noch handgreiflichere und vor allem gefährlichere Weise als im „mechanischen Atelier", der automatischen Fabrik. Die Perspektive einer „durch Computerversehen" ausgelösten kriegerischen Katastrophe, die heute nicht mehr nur ein Hirngespinst von Science-Fiction Autoren ist, spitzt diese Aussicht noch weiter zu. Die Rekapitulation der kritischen Theorie Adornos und einiger Überlegungen Benjamins verdeutlicht zugleich deren Aktualität und deren Schwächen. Die „Lehre vom richtigen Leben" in den „Minima Moralia" erschöpft sich zwar keineswegs in der bekannten These, daß es „im falschen kein richtiges" gebe, vermag aber auch den Weg zu einem richtigen Leben in einer richtigen (oder „wahren") Gesellschaft nicht zu weisen, weil weit und breit ein „revolutionäres Subjekt" nicht bereitsteht. Ja schlimmer noch, mit dem Fortschritt der Selbstzerstörung, die der Spätkapitalismus an der bürgerlichen Kultur und Moral vollzieht, schwinden auch mehr und mehr jene ich-starken, selbständigen Individuen dahin, die allein noch wenigstens die Erinnerung an das „Andere", jenseits des totalen Verblendungszusammenhangs zu bewahren imstande wären. Herbert Marcuse freilich, der mehr als es Adorno recht war, vom improvisationsfreudigen Optimismus seines amerikanischen Exils in sich aufgenommen hatte, setzte seine Erwartungen auf die rebellische Jugend der Metropolen und auf Befreiungsbewegungen der „Dritten Welt". Jetzt, nachdem die überhöhten Hoffnungen auf dieses problematische „revolutionäre Subjekt" weltweit resignativer Nüchternheit Platz gemacht haben, könnten die „Reflexionen" Adornos „aus dem beschädigten Leben" uns wieder stärker ansprechen und jenen Willen zum „Standhalten" fördern, der so dringend notwendig ist, wenn wir uns nicht der „Fatalität der angeblichen Sachzwänge" ausliefern wollen. Ökosozialisten könnten — im Anschluß an Adorno — eine differenzierte Kritik der aktuellen Gestalt der Technik entwickeln, die vor der Verteufelung von Vernunft und Wissenschaft gefeit ist; Ökolibertäre vielleicht sich auf die von Adorno wiederholt beschriebene Bedeutung des Marktes für die Herausbildung selbständiger Individualitäten berufen. Wir alle aber werden durch die unerbittliche Schärfe von Adornos kritischem Denken zu einer Korrektur unserer Hoffnungen und Entwürfe gezwungen, selbst da, wo wir ihm nicht zu folgen vermögen.
FURIO CERUTTI (Florenz)
Philosophie und Sozialforschung. Zum ursprünglichen Programm der kritischen Theorie Wenn im Mittelpunkt meiner Beschäftigung mit der kritischen Theorie ihre ursprüngliche, klassische Gestalt steht, so hat diese Option zwei Gründe. Erstens wurde in jener Gestalt eine Innovation versucht, die sie interessant macht: Die philosophische Problematik einer krisenhaften Zeit, für die etwa Geschichte und Klassenbewußtsein, Sein und Zeit und Les deux sources de la morale et de la religion Zeugen standen, wird weder empiristisch verleugnet noch ökonomizistisch verkürzt, sondern voll aufgenommen; nur werden die Antworten mit nicht rein philosophischen Mitteln, sondern im Rahmen einer Theorie der Gesellschaft gesucht, die mit dem substantiellen Beitrag sowohl der Psychoanalyse wie auch der empirischen Sozialwissenschaften rechnet. Diese in Verbindung mit der Sozialforschung wirksame Anknüpfung an ihre geschichtliche Zeit macht den eigentümlichen Charakter der kritischen Theorie aus. Sie ist keine Philosophie im herkömmlichen Sinn, sie gibt nicht vor, zeitlose Wahrheiten über das Sein, das Wesen, den Menschen oder die Wahrheitskriterien selbst auszusprechen. Anders als im Falle einer Philosophie, läßt sich also die Frage nach der Bewährung ihres Forschungsprogramms stellen: sowohl nach der Bestätigung/Falsifizierung ihrer theoretischen Annahmen über den Weltlauf wie nach der Tauglichkeit der verwendeten analytischen Apparatur. Diese nicht philosophische Theorie mit philosophischen Ansprüchen bleibt in der Entwicklung der Frankfurter Gruppe ein unicum; schon mit der Dialektik der Aufklärung gewinnt die Philosophie ihre autarkisch dominierende Stellung zurück, mit Eclipse of Reason wird die kritische Theorie wieder gänzlich eine Philosophie unter anderen. Dies leitet zum zweiten Grund meiner Option über. In der Entfaltung und schließlich in der Aufgabe ihrer klassischen Gestalt hat sich — wie ich meine — das Schicksal der kritischen Theorie überhaupt entschieden. Die in der Dialektik der Aufklärung erarbeiteten Ansichten über Geschichte, Individuum und Kultur wurden später nicht wesentlich modifiziert. Mit ihnen identisch
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ist das Bild der kritischen Theorie, das in die Geschichte der Philosophie und der Gesellschaftskritik dieses Jahrhunderts bereits eingegangen ist. Das trifft auf Horkheimer und Adorno, z. T. auf Herbert Marcuse zu; Erich Fromm war schon früher andere Wege gegangen. Die wechselvolle Entwicklung jener klassischen Gestalt legt also die Wurzeln der späteren, besser bekannten und öffentlich eher wirkungsreichen Phasen frei. Ihre Rekonstruktion muß streng historisch verfahren. Die kritische Theorie der dreißiger und vierziger Jahre samt ihren Spätphasen ist ein abgeschlossenes Stück Geschichte, gezeichnet durch den Bruch der Jahre 1939—1942, der am Schluß der vorliegenden Arbeit kurz skizziert werden soll. Über Habermas' Theorie des kommunikativen Handelns zu diskutieren, als wäre sie die jüngste Episode einer internen Frankfurter Theorieentwicklung, ist höchst fragwürdig. Habermas selbst hat sich — mit Recht — gegen die Annahme eines einheitlichen Schulzusammenhangs ausgesprochen. Seine Anknüpfung an Intentionen der ursprünglichen kritischen Theorie ist durch die Ausarbeitung eines grundlegenden Paradigmawechsels in der Begriffsbildung sowie durch eine differenzierte Rekonstruktion der Entwicklungsphasen der „Frankfurter Schule" hindurchgegangen1. Rekonstruktion und Kritik so anzusetzen, als wären Positionen der dreißiger bzw. der siebziger Jahre nur verschieden akzentuierte Momente innerhalb ein und derselben philosophischen Tradition, würde bedeuten, eher geistesgeschichtlich als materialistisch zu verfahren. Das ist zumal bei Theorien, die ihre Beziehung zu der jeweils eigenen geschichtlichen Zeit bewußt in die Reflexion aufnehmen, gänzlich ungeeignet. Dagegen muß mit klärender Naivität erinnert werden, daß heute von einer ganz anderen realgeschichtlichen Grundlage heraus philosophiert wird als zur Zeit des Faschismus und der zwar niedergehenden, aber noch vorhandenen revolutionären Arbeiterbewegung. Nicht minder wichtig ist der Umstand, daß sich Ansätze und Strukturen sowohl der Philosophie wie auch der Sozialwissenschaften entscheidend geändert haben. Über kritische Theorie wird ergiebiger diskutiert, wenn man von den Sachverhalten der Gegenwart, statt von der intellektuellen Überlieferung ausgeht. Aus diesen Gründen würde ich eine Untersuchung der klassischen Frankfurter Theorie für verfehlt halten, die zugleich und unvermittelt Vergleich mit und Kritik der heutigen Versuche sein möchte. Deshalb beziehe ich mich in diesem Beitrag ausschließlich auf die kritische Theorie der dreißiger und vierziger Jahre, gelegentlich auf ihre Fortsetzung bei Horkheimer und Adorno. Freilich hat diese Beschränkung auf eine histori1
In einer größeren Untersuchung, die die gesamte Entwicklung der Zeitschrift für So^ta/forschung (im folgenden ZfS) zum Gegenstand hat und demnächst abgeschlossen werden soll, werde ich auch HABERMAS' Rekonstruktionsversuch mit der ihm gebührenden Ausführlichkeit diskutieren.
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sehe Rekonstruktion nur methodischen Wert. Es geht darum, den Versuch nachzuzeichnen, die Moderne an einem Wendepunkt (Krise des Liberalismus und der Arbeiterbewegung, Entstehung des Faschismus) zu begreifen; den Versuch also, den begrifflichen Apparat bereitzustellen, um die Rückschläge nicht minder als die Entfaltung des Emanzipationspotentials der Moderne in den Griff zu bekommen bzw. um sich ihres problematischen, doch vernünftigen Schicksals zu vergewissern. Diese Aufgabenstellung hat an Aktualität nicht verloren, so sehr sich heute — angesichts der nuklearen Bedrohung und des weltweiten Ausmaßes an Hunger und Armut — das Problem eines vernünftigen Abschlusses der Moderne noch schärfer stellt. Aus jenem historisch gewordenen Lösungsvorschlag, aus dem unerfüllt gebliebenen Forschungsprogramm der alten kritischen Theorie können wir vielleicht etwas lernen; vielleicht sind ihre Defizite heute noch vorhanden und nicht ganz als solche erkannt. Die Aporien einer Theorietradition zu erkennen, erlaubt uns selektiv und mit der gebotenen historischen Distanz an sie anzuknüpfen. Andererseits weist diese Tradition begriffliche Ansätze und Forschungsstandards vor, die nicht unterschritten werden dürfen, wenn ihre Intention bewahrt und fortgeführt werden soll. Ich erinnere etwa an den Darstellungsstil Max Horkheimers: In seiner Fortführung der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie, ebensosehr aber in seiner an Nietzsche geschulten Kritik der bürgerlichen Lebensform, werden die abstrakten ökonomischen und soziologischen Kategorien stets mit einer quasi phänomenologischen Sensibilität für das Glück und Unglück der Individuen im Alltag und mit einem nicht bloß illustrativen Rekurs auf historische Ereignisse und Gestalten durchdrungen. Allgemeine Strukturen stehen bei ihm kaum als solche da, sondern sind mit dem Besonderen vermittelt; nicht so sehr mit der Geschichte (als hypostasierter Kollektivsingular besteht sie für den Materialisten Horkheimer nicht), als vielmehr mit den Geschichten von Individuen und Gruppen. Dieser Darstellungsstil ist aber nicht allein eine Eigentümlichkeit des Schriftstellers Horkheimer, sondern es kommt darin die theoretische Anlage der klassischen, kritischen Theorie zum Ausdruck. Als begreifendes Denken legt sie ihre Bindung an die Zeitdimensionen sowie ihren Stoffgehalt jenseits aller Transzendentalität frei, denn sie ist als materialistische Theorie am „Glück der Allgemeinheit" interessiert. Obwohl ihr Materialismus antimetaphysisch und antiszientistisch orientiert ist, setzt sie ihre Aussagen der Bewährung sowohl durch sozialwissenschaftliche Erkenntnisprozesse wie durch die unmittelbar erfahrenen geschichtlichen Abläufe aus. Wir fragen nach ihren Entstehungsbedingungen und nach ihrer Forschungsweise, weil wir wissen möchten, ob ihr materialistisch dichter Darstellungsstil unwiederbringlich verloren ist oder noch als standard gelten kann. Sicherlich war er nur für die dreißiger Jahre kennzeichnend,
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denn die spätere, eher mit dem Namen Adornos verbundene Version der Theorie war anders angelegt, et pour cause. Ohne den Unterschied zum Gegensatz aufzubauschen, möchte ich — zur Veranschaulichung und zur Frühdatierung dieses Unterschieds — ein Zitat aus einer Gesprächsnotiz zwischen Horkheimer und Adorno bringen, nicht datiert, aber wahrscheinlich 1939 aufgezeichnet. Horkheimer begründet seinen Verzicht, einen eigenen philosophischen Standpunkt zu vertreten, weil er keinen besonderen Grund dazu sehe, erwidert sodann Adornos Plädoyer für eine zwischen Realismus und Nominalismus vermittelnde Dialektik mit den Worten: „Bei Ihrem Vorschlag verweisen Sie immer auf das X, das sie Dialektik nennen, während ich immerhin auf den Fortgang der wissenschaftlichen Untersuchung verweise, was doch wenigstens nicht ganz so unbestimmt ist".2 I. Worin lag nun der Sinn des originären Zusammenhangs von Philosophie und Sozialforschung? In den programmatischen Schriften Horkheimers aus den Jahren 1931—32, sodann in den Jahrgängen der ZfS bis 1938 und in Autorität und Familie stellt dieser institutionalisierte Zusammenhang eine sowohl erkenntnistheoretische wie auch ideologiekritische Maßnahme dar. Das theoretische Denken ist nur ein spezifisches Moment in der Anstrengung der Menschen zur Naturbeherrschung und zur Regelung ihres Zusammenlebens und kann keine davon abgelöste Sphäre für sich beanspruchen. Diesen Umstand nimmt die Theorie, die um eine vernünftige Neuordnung der bisher antagonistischen Gesellschaft bemüht ist, bewußt in ihre Selbstreflexion auf. Sie ist deshalb an einer wahren Erkenntnis der tatsächlichen Lage der Menschen in ihrer Entstehungsgeschichte und in ihren zukünftigen Chancen interessiert. Zu diesem Zweck ist die kritische Theorie erkenntnistheoretisch mit einer gleichsam kantianischen Rezeptivität für Erfahrung ausgestattet, zumal (aber nicht nur) für die methodisch stimulierte und geregelte Erfahrung der gesellschaftlichen Welt durch die Sozialwissenschaften. Ideologiekritisch ist aber die Verbindung von Philosophie und Sozialforschung insofern, als dadurch eine Tendenz bekämpft werden soll, die in der Philosophie und in der allgemeinen Soziologie der Zwischenkriegszeit vorherrschte: die Tendenz, die bestehende Lage der Menschen für unveränderlich zu erklären und — sei es in einer Ontologie, sei es in der philosophischen Antropologie — daraus eine naturhafte, ewige Wesenheit zu machen. Nicht anders als mit dieser wie auch immer gearteten Metaphysik verhält es sich letzten Endes mit dem Positivismus, der in seiner Tatsachenverehrung die Chancen kritischen Denkens verleugnet. 2
Max-Horkheimer-Archiv der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt a. M., IX, 213, 6 a.
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In der Verbindung von Philosophie und Sozialforschung arbeitet das Frankfurter Institut an einer „Theorie des historischen Verlaufs der gegenwärtigen Epoche". In dieser Aufgabenstellung sind miteingeschlossen: a) das praktisch-materialistische Interesse an Erkenntnis und Veränderung des gegenwärtigen Zustande; b) die geschichtstheoretische Zuversicht, daß die Gegenwart einen historisch-prozeßartigen Charakter hat, daß in ihr also die Möglichkeit (aber auch nur die Möglichkeit) zur künftigen Geschichte einer zu sich und zur Vernunft gekommenen Menschheit angelegt ist; c) die wissenschaftstheoretische Überzeugung, daß diese nicht utopische Möglichkeit und die ihr widerstrebenden Prozesse wissenschaftlich adäquat erfaßt werden können, und zwar in einer umfassenden, doch empirisch abgestützten Theoriebildung. Die in dieser Theoriebildung wirksame „Intention auf Totalität" (ein Wort Lukacs') soll allerdings Intention bleiben. Weder ist für Horkheimer und seine Mitarbeiter die Garantie für eine gesetzmäßige Verwirklichung der erst in der Gegenwart vorhandenen Möglichkeit gegeben; noch ist eine lückenlose, die Totalität des Wirklichen umschließende begriffliche Konstruktion denkbar. Im Gegensatz zu Geschichte und Klassenbewußtsein, wo doch zum Schluß die Intention auf die Totalität bei einer identitätsphilosophischen Verschmelzung von Subjekt und Objekt landet, bleibt in der kritischen Theorie die geschichtliche Dialektik offen, unabgeschlossen und unabschließbar. Wahrzeichen dieser materialistisch gebrochenen Totalität ist das Angewiesensein der philosophischen Begriffsbildung auf die Sozialforschung, auf die Empirie. Die Verbindung von Philosophie und Sozialforschung ist aber noch unter einem anderen Aspekt zu betrachten. Sie ist auch als Eingriff in die Lage zu verstehen, die damals durch die Krise des Marxismus (sowohl des sowjetisch dogmatisierten wie auch des kritischen) und die Niederlage der Arbeiterbewegung im Westen gekennzeichnet war. Jene Verbindung ist demgegenüber ein Versuch, in der wirklichen Entwicklung wieder Fuß zu fassen, statt den Weg zur ideologischen Erstarrung oder die Flucht nach vorne in die Spekulation vor dem Versagen der europäischen Revolution zu wählen, wie Lukacs 1923 mit seiner Konstruktion des identischen SubjektObjekts und seiner überspannten Parteikonzeption. Der Rekurs auf die Tiefenpsychologie etwa will u. a. eine Erklärung dafür finden, warum die deutschen Arbeiter 1914 und dann wieder 1932—33 sich anders verhielten als in den Erwartungen der Marxisten. Dabei geht die behauptete Treue zum Marxismus, vor allem in der Wiederaufnahme der Kritik der politischen Ökonomie, mit dessen Revision einher. Die Sozialpsychologie und die Kulturtheorie, die in den ersten Jahrgängen der ZfS tentativ entwickelt
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werden, sollen z. B. die ökonomische Borniertheit der marxistischen Tradition abbauen helfen. Das vorhin angedeutete kantianische Element in der kritischen Theorie ist zugleich ein Rückgriff auf die kantianischen Aspekte bei Marx, auf seinen Versuch, die Theorie der Geschichte nicht in idealistischer Abgeschiedenheit leerlaufen zu lassen, sondern aus der immanenten, kritischen Darstellung einer Gesellschaftswissenschaft (bei Marx: der politischen Ökonomie) zu entwickeln. Der so umrissene Zusammenhang von Philosophie und Sozialforschung wirft methodologische Fragen auf. Sie sind z. T. in der jüngsten Literatur zur alten kritischen Theorie entfaltet worden. Ich gebe deshalb hier nur eine zusammenfassende Formulierung. Was heißt eigentlich Sozialforschung in der Institutssprache? Daß ihre Bedeutung nicht auf quantitative Analysen, gar auf Statistik zusammenschrumpfen darf, ist jedem Leser der programmatischen Schriften sowie der beiden großen Untersuchungen über Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches und über Autorität und Familie bekannt. Ebenfalls bekannt ist der methodologische Pluralismus, der in den Untersuchungen deshalb — wie ich meine — sich geltend machen kann, weil ein starker begrifflicher Kopf an der Schaltstelle der vielfältigen Methoden sitzt. Schärfer stellt sich die Frage, inwieweit in der Frankfurter Theorie die etablierte Sozialforschung, also die Sozialwissenschaften, in ihrem gegebenen Zustand unbesehen aufgenommen oder aber von innen her umstrukturiert wurden, etwa in der Richtung, die die dialektische Darstellung der politischen Ökonomie bei Marx bestimmt; oder, si parva licet componere magnis, wie es später in den Skalen der Authoritarian Personality geschah. Auch abgesehen von solchen weit auseinanderliegenden Modellen, setzen die Bemühungen zur Umstrukturierung bereits bei Fromm und Horkheimer ein, als sie versuchten, aus der Psychoanalyse (die aber keine empirische Sozialwissenschaft ist) die Grundlinien einer Sozialpsychologie herauszudestillieren. Wie weit gingen diese Bemühungen? Wie weit konnten sie damals gehen? Eine weitere, noch schwerwiegendere Frage blieb im Forschungsprogramm undiskutiert (Andeutungen finden sich erst in Traditionelle und kritische Theorie}: Wie weit läßt sich legitimerweise ein Kooperationsplan unter Disziplinen aufstellen, die doch in der Konstituierung ihres jeweiligen Gegenstandes ganz verschiedene Wege gehen, wie politische Ökonomie, Psychologie, Soziologie, von der Philosophie ganz zu schweigen? Und zum Schluß wäre noch die übergreifende Frage zu diskutieren: Wie wird der Begriff der Empirie bestimmt? Ist die methodisch institutionalisierte Sozialforschung der einzige oder zumindest der Hauptzugang dazu? Ich neige zu einer negativen Antwort; im Falle Horkheimer etwa ist von seinem theoretischen Produktionsprozeß die unmittelbare persönliche Erfahrung (manifest vorhanden in Dämmerung, aber unterschwellig auch in den Aufsätzen) nicht wegzudenken.
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Salopp gesagt war ihm das tägliche Zeitunglesen nicht minder wichtig als die Ergebnisse der Enqueten. Antworten auf diese Fragen zur Methode und zum wissenschaftstheoretischen Status der kritischen Theorie lassen sich im Rahmen dieser Arbeit nicht entwickeln. Daß sie aber keine auf sich selbst gestellte Geschichtsphilosophie war, sondern auf — wie auch immer vermittelte — empirische Erkenntnisse reagierte, kann bereits an ihren sachlichen Aussagen abgelesen werden, d. h. an den entscheidenden Modifikationen, die sie an überlieferten Positionen des Marxismus, kritischen Marxismus eingeschlossen, vornehmen mußte: 1. Die ökonomische Analyse hat ihr gezeigt, daß die Voraussetzungen für eine vernünftige Neuordnung der Gesellschaft durch die Planwirtschaft vorhanden sind, sogar ohne revolutionäre Aufhebung des Kapitalismus; entscheidend ist der (fehlende) politische Wille. Die Frage, warum dieser Wille nicht zustande kommt und wie er sich herausbilden könnte, wird aber weniger in einer politischen Theorie als in Untersuchungen über den kulturellen Kitt der Gesellschaft analysiert. 2. Zur Widerlegung des ideologischen Bildes einer einheitlichen Gesellschaft und eines einheitlichen Menschen hat die analytische Sozialpsychologie ihre historisch gegliederte Charakterlehre beigesteuert. An einer im Vergleich zu Freud modifizierten Trieblehre sowie an der Theorie der Familie als psychologischer Agentur der Gesellschaft hat sie außerdem die Mechanismen aufgewiesen, die die unterdrückten Klassen an einer folgerichtigen Behauptung ihrer Bedürfnisse und Interessen hindern. 3. Die stricto sensu soziologischen Untersuchungen über Arbeiter und Angestellte, über Arbeitslose und über die wechselnde Familienstruktur haben gezeigt, daß die in der marxistischen Tradition angenommene Abfolge von sozialer Krise und revolutionärer Einstellung der Unterdrückten problematisch geworden ist. Das Problem des Subjekts der geschichtlichen Veränderung ist neu zu stellen. 4. Die musik- und literaturtheoretischen Beiträge visieren eine Neufassung des marxistischen Topos von Basis und Überbau an. Destruiert wird der regressive Kulturbegriff der sozialdemokratischen Tradition; ihm stellt Walter Benjamin das politisierende Potential der Massenkunst entgegen. Aus ihrer Vermählung mit der Sozialforschung gewinnt also die materialistische Theorie sachliche Ergebnisse, durch die sich die Theorie problematisieren lassen muß. Dabei entsteht in ihrer Begriffsbildung ein Konkretionsgrad, welcher aus der Bezeichnung „Materialismus" das Doktrinäre und Ideologische abstreift. Es bleibt nur das übrig, was Adorno später Vorrang des Objekts nannte. Wer die ersten Jahrgänge der ZfS durchliest, gewinnt — den Differenzen unter den Autoren und den Aporien in Methode und Programm zum Trotz — den Eindruck, daß die verschiedenen einzelwissenschaftlichen Beiträge zu einer Theorie verschmelzen, die
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die eigene Epoche als Krisenzusammenhang begreift und sich demnach als Krisentheorie konstituiert. Diese Krise hat einen Namen: sie ist die Krise des Liberalismus, die als Krise der ganzen bürgerlichen Moderne aufgefaßt wird. Sie tritt mit der monopolistischen Phase des Kapitalismus ein und sanktioniert die Unmöglichkeit einer Restauration der in wirtschaftlicher, politischer und kultureller Hinsicht zerfallenen alten Ordnung. Es ist aber eine Krise mit noch offenem Ausgang, so schlecht die Zeichen nach der Entstehung der totalitären Regimes auch stehen mögen. Aber die liberalen Ideen von Glück, Gleichheit, Gerechtigkeit, vor allem die Vorstellung einer freien Entfaltung der Individuen können noch von den „vorwärtsstrebenden Gruppen" (Horkheimer) übernommen und kraft der Kritik der politischen Ökonomie zu historisch konkreten, nicht lediglich proklamierten Zielen neuer theoretischer und praktischer Anstrengungen gemacht werden. Die Kritik der liberalen Vernunft bedeutet nicht das Ende der modernen Vernunft, sondern ihre kritische und krisenhafte Kontinuität, denn die Krise war auch Bedingung für die Entstehung der kritischen Theorie, die eine rationalere Gesellschaft entwerfen und die an deren Aufbau arbeitenden Kräfte anleiten kann.3 Das Urteil über die Chancen eines revolutionären Ausgangs aus der Krise des Liberalismus war also in der kritischen Theorie von Anbeginn hypothetisch; daß sie auch mit einer Barbarei enden konnte, war'nicht, wie im Linkskommunismus der zwanziger Jahre, eine rhetorische Formel, sondern galt als reale Möglichkeit, so sehr die Frankfurter Gruppe auch auf den Sozialismus hoffte. Es ist zu fragen, ob das Institut mit dem geeigneten Instrumentarium ausgestattet war, um die Chancen der einen und der anderen Lösung zu ergründen, um eventuell noch seine eigenen Erwartungen konkret zu gestalten. So bedeutend im Vergleich mit dem orthodoxen und kritischen Marxismus die Ausweitung des sozialwissenschaftlichen Instrumentariums, die Schärfung des analytischen Blicks war, so wurden dennoch einige Forschungsrichtungen ausgeblendet, die in der zeitgenössischen wissenschaftlichen Tätigkeit — mit größerer oder kleinerer Relevanz — durchaus vorhanden waren. Es überrascht etwa, daß in einem marxistisch orientierten Institut die Soziologie der industriellen Arbeit keine Aufnahme fand, zumal in Zeiten wie in den dreißiger Jahren, als die massiv fortschreitende Taylorisierung einschneidend auf Zusammensetzung und Bewußtsein der Arbeiterklasse einwirkte. Erst später, in der zweiten Phase der klassischen kritischen Theorie, rückt der Problemkreis von Arbeitsteilung und -disziplin in das Blickfeld Horkheimers; übrigens angeregt durch die Kritik an 3
Ausführlich dazu mein Aufsatz Max Horkheimer e la crisi del liberalismo, in der Zeitschrift Materiali per una storia del pensiero giuridico, Bologna 1985, 1.
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der ausgebliebenen Revolutionierung der Arbeitsorganisation der Sowjetunion. Gewiß, die industrielle Arbeiterklasse büßte schon damals ihre Rolle als revolutionäres Subjekt langsam ein; andererseits war der Blick der „Sozialforschung" eher auf Kulturprozesse, in traditioneller Sprache: auf die Reproduktionssphäre gerichtet. Dennoch liegt hier ein Indiz dafür, daß die kritische Theorie zwar, in der verklausulierten Sprache einer Emigrantenzeitschrift, von „fortschrittlichen Gruppen" redete, auf eine soziologische Analyse deren Bestands und Wandels aber verzichtete. Dieses Indiz gewinnt an Bedeutung, wenn man sich das noch gewichtigere Ausbleiben eines weiteren wissenschaftlichen Gesichtspunkts vor Augen führt. Überraschend ist nicht so sehr die fehlende Aufnahme der damals noch nicht ganz entwickelten politischen Soziologie, sondern das Ausblenden jeglicher staatsrechtlichen Überlegung. Anders gesagt: Die Formen der Politik finden wenig Beachtung in einer Theorie, die an ihrem durch die Ökonomie bedingten Inhalt und an der kulturellen Vermittlung und Verlagerung dieses Inhalts interessiert ist. Wirtschaft und Gesellschaft saugen die Politik auf, als wären die institutionellen Spielregeln ohne Einfluß auf den Verlauf des Spiels selbst. Dieser Umstand hatte theoretische sowie — ironischerweise — politische Gründe. Einerseits blieb, an dieser Stelle ganz orthodox, die kritische Theorie einem freilich vorherrschenden Traditionsstrang des Marxismus verhaftet: Die politischen und rechtlichen Formen sind bloßer Ausdruck der Klassenverhältnisse und gelten im Verhältnis zu den tieferliegenden Gesellschaftsprozessen als sekundär. Diese Orthodoxie wirkte auch in einer Theorie nach, die durch ihre Ausarbeitung der Sozialpsychologie und Kultursoziologie den ökonomistisch verkürzten Gesellschaftsbegriff gesprengt hatte. Zu vermuten ist außerdem, daß eine gewisse Berührungsangst vor Positionen a la Carl Schmitt die führende Gruppe des Instituts davon abhielt, einen Begriff der relativen Selbständigkeit (bis hin zur Eigenlogik) der politisch-rechtlichen Formen zu entwickeln, was nun ein ganz anderes Ding als ein hypostasierter „Begriff des Politischen" ist. Andererseits schien nicht nur die Krise der Weimarer Institutionen, die Hitler zur Machtergreifung verholfen hatten, jene traditionalistische Optik zu verstärken, sondern die bis hin zu den Moskauer Prozessen im Institut geltende epocbe in der Beurteilung des sowjetischen Experiments ließ Kategorien wie Demokratie und Diktatur, Bürgerrechte und Gewaltenteilung, Repräsentanz und Kontrolle über Regierungsorgane als politisch inopportun und unzeitgemäß erscheinen; entscheidend war nur, ob bei dem Experiment mehr Gerechtigkeit herauskommt. Die Vernachlässigung der politischen Theorie schwächt nicht nur das analytische Vermögen der kritischen Theorie ab; so konnte sie weder die Krise der Weimarer Republik erklären, noch ihren Fokus auf die politi-
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sehen Prozesse im Frankreich des Front populaire und im Amerika der Rooseveltschen Reformen richten. Sondern damit setzten sie sich außerstande, die konkreten institutionellen „Spielregeln" (im Sinne N. Bobbios) zu erforschen, die in den Auseinandersetzungen um eine vernünftige Gesellschaft, um einen demokratischen, unbürokratischen Kommunismus (der der Frankfurter Gruppe irgendwie vorschwebte), zu walten haben. Das Bild dieser Gesellschaft blieb weitgehend unbestimmt. Ebenso blieben die realen Bedingungen und Kräfte des antifaschistischen Kampfes sowohl in den europäischen Ländern wie im internationalen Kontext ungeklärt. Übrig blieb nur der Appell an den Einzelnen als Freiheitskämpfer und an das kritische Denken, das im Institut seine Stätte hatte, oft in bitterer Polemik gegen andere Richtungen.4 Diese ausgebliebene Fortführung der kritischen Theorie auf dem Terrain einer Theorie der Politik hätte wahrscheinlich — soweit man hier kontrafaktisch weiterdenken darf — zu ihrer partiellen Revision führen müssen. Sie hätte, wie eben angedeutet, die unkritisch utopischen Elemente (z. B. das organizistische Wunschbild der künftigen Gesellschaft) ablegen müssen, die ihrer kritischen Radikalität mangels einer Analyse der politischen Bedingungen und Spielregeln anhafteten. Ich meine die Elemente, die später, sobald die darin implizierten Erwartungen durch Krieg, Judenausrottung etc. zunichte gemacht wurden, in das Bild der total verwalteten Welt (s. unten) umschlagen mußten. Diese partielle Revision war als Möglichkeit durchaus im Programm einer Verbindung von Philosophie und Sozialforschung eingeschlossen, weshalb mein Argument als immanente Kritik verstanden werden sollte. Daß sie nicht stattfand, war — wie wir bald sehen werden — mit ein Grund dafür, daß jene programmatische Verbindung später fallen gelassen wurde. Es darf allerdings bei alledem das historische und psychologisch einfühlende Verständnis für die dramatischen Hindernisse nicht verloren gehen, die bei einer linksintellektuellen Emigrantengruppe einer nüchternen Analyse der politischen Entwicklungen im Wege standen: sie hießen Machtergreifung, Ausrottung der deutschen Linken und später der Juden, appeasement, Austrofaschismus, dann Anschluß, Stalinscher Terror. Ich habe dabei nur Ereignisse bis 1938 genannt. Mit denen von 1939 an wird in der kritischen Theorie, in ihren 4
Es darf aber die erstaunliche, kulturpolitische Leistung nicht vergessen werden, die dem Institut erlaubte, in zumindest drei Ländern (Schweiz, Frankreich, vor allem natürlich den USA) Fuß zu fassen und diese anerkannte Stellung auszunutzen, um Dutzenden von deutschen Exilintellektuellen sowohl zum physischen Überleben wie auch zur geistigen Tätigkeit (zuweilen durch akademische Integration untermauert) zu verhelfen. Die Breite dieser Leistung, die beim Durchblättern des Institutsbriefwechsels im Frankfurter Horkheimer-Archiv auffällt und einer detaillierten historischen Untersuchung wert ist, stellt die sowieso aufgebauschten „Streitfälle" wie die Benjamin-Affäre ganz in den Schatten.
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sachlichen Aussagen noch eher als in ihrem methodologischen Vorgehen, eine entscheidende Wende eingeleitet.5 II. Die Wende in der Weltgeschichte (Weltkrieg, Sieg des Faschismus in ganz Europa, Endphase der Judenverfolgung) spiegelt sich zerfasernd in der kritischen Theorie wider. Einerseits werden neue wissenschaftliche Gesichtspunkte wirksam (Rechtstheorie, politische Soziologie, Massenkommunikationsforschung); sie wirken aber nur bedingt auf die Theorieproduktion ein und tendieren eher zu selbständigen Ausarbeitungen (s. etwa Neumanns Behemoth}. Andererseits tragen sowohl die neuen politischen Entwicklungen wie die neuen Erkenntnisse, etwa auf dem Gebiet der Massenkultur, dazu bei, Gegenstand und Tendenz der Theoriebildung Horkheimers, Pollocks und Adornos zu verschieben. Ich fasse die schwerwiegendsten Verschiebungen im Geschichtsbild der Institutsgruppe zusammen. Die Krise des Liberalismus und ihre monopolkapitalistische Entwicklung stehen nicht mehr zu einem vernünftigen Neubeginn offen, sondern die Krise wird zu einem erschreckenden Dauerzustand hypostasiert. Die Planwirtschaft liefert das Instrumentarium nicht zu einer egalitären Wirtschaftsordnung, sondern zur Formierung der autoritären Staaten und zur staatskapitalistischen Disziplinierung der Massen. Damit erlangt übrigens das Politische, in Pollocks Worten „the power motive", einen eigentümlichen Primat vor dem Ökonomischen, vor „the profit motive". Als fast hoffnungslos wird nunmehr offen das Schicksal des integralen Etatismus in der Sowjetunion erklärt: aber sogar der amerikanische trend zum Staatskapitalismus ist vor der faschistischen Gefahr nicht gefeit. Der Reichtum der Gesellschaft, die Vervielfältigung ihrer Kommunikationsmittel, führt nicht zur revolutionären Politisierung der Massen, sondern zu einer weiteren Fetischisierung von Werten und von persönlichen Beziehungen, in den demokratischen nicht minder als in den totalitären Staaten. Massengesellschaft und Massenkultur lassen dem Individuum keinen Freiraum für Freiheit und Glück. Aus der Barbarei kann sich nur das Denken einzelner Theoretiker und der Wille einzelner Märtyrer retten. Der Liberalismus läßt sich nicht in seinem freiheitlichen Kern fortführen, er war 5
Ich kann leider meinen Abriß der kritischen Theorie bis 1938 nicht mit Traditionelle und kritische Theorie abrunden. Eine Auseinandersetzung mit Horkheimers Aufsatz, wenn sie seiner Fülle adäquat sein will, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Andererseits scheint mir diese Schrift, dem terminologischen novum („kritische Theorie") zum Trotz, nicht so sehr ein Bruch mit früheren Positionen zu sein, als vielmehr ihr Abschluß und ihre differenziertere Darlegung, auch im Hinblick auf das Verhältnis der kritischen Theorie zum empirischen Wissen — freilich jetzt mit dem Hauptakzent auf der begrifflichen Konstruktion.
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bloß Zwischenspiel und hat selbst, durch seine ökonomische Dynamik, konsequent zum autoritären Staat geführt. Das von ihm proklamierte allgemeine Gesetz ist durch die Generalklausel der faschistischen Rechtsordnung verdrängt worden; die auch politisch wirksame Vermittlungsfunktion des Geldes ist durch unmittelbaren Führerbefehl abgelöst worden. Angesichts dieser Ergebnisse zerfällt das ursprüngliche Integrationsmodell von Philosophie und Sozialforschung. Es war von Anbeginn in einem offen-dialektischen Verständnis der Gegenwart als Geschichte eingebettet. Wo diese zum Stillstand der Barbarei kommt, muß das Projekt fallen, an der sozialwissenschaftlichen Empirie das Befreiungspotential der Menschen nachzuweisen und die widerspruchsvollen modi von dessen Entfaltung zu erforschen. Es geht nicht mehr, wie zehn Jahre zuvor, um den noch unentschiedenen Ausgang aus der Krise der liberalen Moderne, sondern es geht schlechthin um die Wurzeln der ganzen westlichen Kultur. Sie lassen sich nur im philosophischen Rahmen einer, wie es 1944 in der Vorrede zur Dialektik der Aufklärung heißt, „dialektische[n] Anthropologie" ans Licht rücken. Und schon zwei Jahre vor dem opus magnum hatte Horkheimer in Vernunft und Selbsterhaltung^ den restlosen Zerfall der Vernunft festgestellt. In seinem Forschungsprogramm des vorigen Jahrzehnts hingegen lieferte die kritische und krisenreiche Kontinuität der modernen Vernunft nicht nur die Chance für eine bessere Gesellschaft, sondern bildet zugleich die wissenschaftstheoretische Bedingung der Möglichkeit einer Integration von Philosophie und Sozialforschung. Aus der Integration von Philosophie und Sozialforschung wurde im späteren Leben des Instituts unter Horkheimer und Adorno (soweit empirische Untersuchungen überhaupt noch betrieben wurden) bestenfalls eine friedliche Koexistenz: jede Disziplin ging ihren eigenen Weg. Das ist gewiß ein pauschales Urteil. Die Möglichkeit zu einem differenzierteren ist an dieser Stelle nicht gegeben. Eine neue produktive Integrationsphase wäre nur möglich gewesen, wenn die philosophische Kanonisierung der kritischen Theorie nicht so katastrophal-resignativ ausgefallen wäre, wenn sie sich offener und rezeptiver für neue Lebensformen auch nach Ausschwitz gezeigt hätte. Was hätten aber damals die Frankfurter Theoretiker sehen und einsehen können und sollen? Stichwortartig: erstens, daß Planungs- und Sozialpolitik sich, obwohl problematisch, mit einer nicht lediglich residualen Freiheit vertragen können; daß es dabei viel, wenn auch nicht gänzlich, auf die Formen der Politik, auf demokratische Institutionen und Aufklärungsprozesse ankommt. Daß zweitens in Massengesellschaften ein postliberales Individuum sich herausbildet, daß sogar im 6
Das war bezeichnenderweise die erste Arbeit, die HORKHEIMER in enger Zusammenarbeit mit ADORNO verfaßte. Einige Zwischenfassungen geben sogar doppelte Autorschaft an (s. Max-Horkheimer-Archiv, XI, 15).
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bürokratischen Sozialismus ein kollektives Widerstands- und Emanzipationspotential entstehen kann. Drittens, daß die wissenschaftlich-technische Rationalität nicht restlos instrumental und dezisionistisch angelegt ist, daß es so etwas wie eine, zwar schwache, Dialektik der Rationalisierungsprozesse gibt. Einsichten dieser Art fehlen freilich nicht in den späteren Schriften, vor allem in denen Adornos. Zum Durchbruch kommen sie allerdings erst im Werk von Jürgen Habermas, das ich aber, wegen der eingangs gestellten Überlegungen, nicht als eine (geistesgeschichtlich fingierte) Fortführung oder Wiederaufnahme der kritischen Theorie der dreißiger Jahre verstanden wissen möchte7. Im alten Institut, bis hin zu den sechziger Jahren, wurden Erkenntnisse und Einsichten nicht in eine Revision des 1942 — 44 festgesetzten Weltbildes umgesetzt: des Bildes der verwalteten Welt. Allein die Galileische Einsicht „eppur si muove" (und sie dreht sich doch) hätte ein neues emphatisches Interesse an der wissenschaftlichen Erforschung der Empirie zeitigen können. Es ist freilich nicht meine These, daß das Heil der Philosophie schlechthin in ihrer Verbindung mit empirischen Untersuchungen besteht; noch bin ich der Ansicht, daß der Alleingang der Philosophie bei Horkheimer (und Adorno) in den vierziger Jahren lediglich eine Katastrophentheorie nach Art der von diesen Autoren verpönten Kulturkritik erzeugt hat, obwohl Elemente dieser Tendenz nicht fehlten. Das Dritte Reich und der Weltkrieg waren ja für die Kultur eine Katastrophe. Diese ist auch später als Gefahr der nuklearen global confrontation nie aus unserem Horizont verschwunden. So bleibt Horkheimers und Adornos Rekonstruktion des fatalen Zusammenhangs von Vernunft und Selbsterhaltung, von Aufklärung und Barbarei eine — nicht bloß historisch gewordene — Vorarbeit, um jene aktuelle Gefahr aus dem Feld unserer Reflexion nicht länger zu verdrängen. Nur halte ich auch in dieser Hinsicht, nach dem alten Spruch Horkheimers, vom „Fortgang der wissenschaftlichen Untersuchung" mehr als von einem geschichtsphilosophisch beflügelten, selbstgenügsamen Festhalten an der Utopie. 7
HABERMAS' systematischen Versuch, eine kritische Theorie der Gesellschaft in der Form einer Theorie des kommunikativen Handelns zu entwickeln, habe ich in meinem Aufsatz Habermas und Marx in Leviathan 1983, 3, diskutiert.
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Franz Neumann in der Emigration: 1933 — 1942 Franz Neumanns klassisch gewordene Studie über den Nationalsozialismus, Behemoth, stammt aus der Zeit, die er von 1937 bis 1942 bei dem Institute for Social Research in New York verbracht hat. Die Studie gehört also zuerst zur Analyse des Nationalsozialismus, mit der sich zwischen 1939 und 1942 viele Mitglieder des Instituts befaßt haben, u. a. Horkheimer, Gurland, Pollock und Marcuse.1 Weil es dabei darum ging, die Frage zu beantworten, was für eine Ordnung im damaligen Deutschland herrschte, spielte das Problem der Kontinuität eine wichtige Rolle — platt formuliert, ging es um eine neue Ordnung von Politik und Ökonomie, oder vielmehr um eine neue Phase des Kapitalismus? Infolgedessen wird Behemoth seitdem zumeist aus dem Blickwinkel gelesen, der Nationalsozialismus sei eine Fortsetzung des Monopolkapitalismus; und die von Neumann kritisierte Gegenposition, daß der Nationalsozialismus vielmehr als eine neue Wirtschaftsordnung zu betrachten sei, hat sich nicht durchgesetzt. Immerhin ist für die Debatte entscheidend, wie man kapitalistische Wirtschaftsordnung konzipiert, und damit wie marxistische Kategorien auf zeitgenössischen Entwicklungen anzuwenden sind. Behemoth wird daher als neo-marxistischer Ansatz aufgewertet und damit als Beitrag zur Arbeit der Frankfurter Schule gelesen. Ich möchte diesem Weg nicht folgen. Franz Neumann ist zwar eine Randfigur des Instituts, dessen Arbeit sich unabhängig vom Institut entwickelt hat; Behemoth als Produkt des Instituts zu lesen wäre irreführend. Obwohl das Buch innerhalb eine Institutsdiskussion zustande gekommen ist, gehört seine Struktur zu Problemen, mit denen sich Neumann seit Jahren befaßt hatte, und die aus dem Bereich der Rechts- und Staatslehre stammen. Neumann zieht den Schluß, die NS Ordnung sei wirtschaftlich als ein „totalitäre Monopolkapitalismus" zu betrachten.2 Nach marxistischem Muster wäre das bestimmend, und bei vielen seiner Zeitgenossen war diese Schlußfolgerung tatsächlich bestimmend für die damalige deut1
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Eine Sammlung wichtiger Aufsätze ist bei H. DUBIEL, A. SÖLLNER (Hrsg.), Wirtschaft, Recht und Staat im Nationalsozialismus, Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1984, zu finden. F. NEUMANN, Behemoth, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt 1977, S. 313.
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sehe Gesellschaftsordnung. Bei der Analyse der Politik, des Rechts und Gesetzes zeigt Neumann eher Verlegenheit, für ihn spielt die Wirtschaftsordnung letztlich keine entscheidende Rolle — dafür ist er zu rigoros —, weil es auf der Hand liegt, daß marxistische Rezepte bei Staat und Recht hier keine Lösung liefern. Er ist auf jeden Fall nicht über den Marxismus dorthin gekommen, wie unten zu beweisen ist, er erkennt aber ganz klar, daß alle üblichen Kategorien der Staatslehre vor den Problemen, die eine nationalsozialistische Staatsordnung für die Theorie darstellt, scheitern. Einerseits lehnt er marxistische Schlußfolgerungen ab, andrerseits stellt er fest, von Staat und Recht könne man hier nicht ohne weiteres reden. Zur Frage: was denn für eine Ordnung in Deutschland im Jahre 1942 herrscht? bietet er zum Schluß keine eindeutige Antwort. Dieser Vortrag nimmt diese Frage und deren Antwort auf und stellt sich zwei Aufgaben: erstens zu demonstrieren, warum diese Frage als Ordnungsfrage zustande gekommen ist, und zweitens, warum Neumann zu dieser Frage am Ende eine ambivalente Position bezieht. Einige biographische Bemerkungen können anfangs eingeführt werden. Franz Neumann ist 1900 in Katowitz, Oberschlesien, geboren. Er studierte Jura und Staatslehre ab 1918 in Breslau, Leipzig, Rostock und Frankfurt a. M., wo er 1923 mit einer Dissertation über das Verhältnis von Staat und Strafe promovierte. Unter seinen Lehrern befanden sich Franz Oppenheimer, Hugo Sinzheimer, Hermann Heller und Carl Schmitt. 1923 ist er Assistent bei Hugo Sinzheimer in Frankfurt geworden, bevor er 1927 nach Berlin übersiedelte und eine Praxis als Arbeitsrechtsanwalt gründete. Er war als Anwalt für die Baugewerkschaft tätig, dann für die SPD, ab 1929 lehrte er auch bei der Hochschule für Politik. Er hat in dieser Zeit eine Reihe von arbeite- und verfassungsrechtlichen Aufsätzen veröffentlicht, wovon „Die soziale Bedeutung der Grundrechte in der Weimarer Verfassung" (1930) und „Über die Voraussetzungen und den Rechtsbegriffeiner Wirtschaftsverfassung" (1931) noch am allgemeinsten von Interesse sind.3 Themen wie Koalitionsrecht, Regulierung von Monopolen und Rechtsprechung im Arbeitsgericht bilden hier Gegenstände seiner Bemühungen. Nach der Machtergreifung ist er April 1933 als Jude und sozialistischer Anwalt verhaftet worden. Im Mai ist es ihm gelungen, der Verhaftung zu entkommen, und er ging nach England. Dort hat er bald ein Stipendium bekommen, das ihm ermöglichte, bei Laski und Mannheim an der London School of Economics zu studieren. 1936 hat er eine zweite Dissertation, The Governance of the Rule of Law, verfaßt, nachdem er inzwischen einige 3
WOLFGANG LUTHARDT hat eine Bibliographie der wichtigen Schriften NEUMANNS zusammengestellt; siehe F. NEUMANN, Wirtschaft, Staat, Demokratie. Aufsätze 1930—1954, Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1978 S. 460-67.
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Aufsätze über Faschismus, Gewerkschaften und Staatstheorie veröffentlicht hatte. Obwohl er Pläne hatte, seine Arbeit in England fortzusetzen, fand er dort das geistige wie politische Klima dafür eher ungünstig;4 er ging also nach Amerika und nahm eine Stelle bei dem Institute for Social Research an. 1942—45 arbeitete er im Office of Strategie Services,5 danach bei dem State Department, bevor er 1947 eine Stelle in der Columbia University annahm. 1950 wurde er Professor of Public Law and Government bei Columbia, bevor er 1954 bei einem Autounfall starb. 1957 hat sein Freund Herbert Marcuse (inzwischen mit der Witwe Neumanns verheiratet) eine Sammlung von Neumanns Aufsätzen unter dem Titel The Democratic and Authoritarian State herausgegeben; und als Verfasser dieser Aufsätze und des Behemoths sind weiterhin der Name und die Bedeutung Franz Neumanns bekannt geworden. Von den elf Aufsätzen, die Marcuse zusammengestellt hat, stammen nur zwei aus der Zeit vor 1942, und diese sind ohnehin aus der Institutszeit, nämlich 1937 und 1940.6 Kein Wunder also, wenn Behemoth heute als Produkt des Instituts gelesen wird. Martin Jay ist in seiner Geschichte des Instituts der Meinung, erst nach 1942 habe Neumann das „Primat der Politik" entdeckt; dagegen soll Neumann bis zu diesem Punkt eher typisch für das Institut sein, indem er wie andere den politischen Bereich unterschätzt.7 Es kann sein, daß 1942 einen Wendepunkt in der intellektuellen Entwicklung von Neumann bildet — diese Hypothese wird hier aber nicht nachgeprüft werden. Es wird lediglich betont, daß man aus den späteren Schriften Neumanns, die uns bei Democratic and Authoritarian State zur Verfügung stehen, schwerlich die bestimmenden Momente in Behemoth wird identifizieren können. Vergleicht man aber den Text mit den Arbeiten, die in den 20er Jahren angefangen wurden, bekommt man ein ganz anderes Bild. Die Gedanken, mit denen sich Neumann beim Niederschreiben des Behemoths befaßte, sind einerseits von den Debatten der 20er Jahre geprägt, andererseits spielt Neumanns kritische Auseinandersetzung mit der liberalen Staatslehre eine herausragende Rolle. Die praktischen und theoretischen Probleme, die hier nacheinander stehen, sind in der Tat eng verwandt, 4
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NEUMANN beschreibt die politische Atmosphäre dieser Zeit in seinem Aufsatz „The Social Sciences", in F. NEUMANN et. al., The Cultural Migration, University of Pennsylvania Press, Philadelphia 1953, S. 17. Mit u. a. CARL SCHORSKE, LEONARD KRIEGER, FRANKLIN FORD, H. STUART HUGHES und HERBERT MARCUSE: vgl. H. S. HUGHES, „Franz Neumann between Marxism and Liberal Democracy", in D. FLEMING, B. BAILYN (Hrsg.): The Intellectual Migration. Europe and America 1930- 1960, Harvard University Press, Cambridge (Mass.) 1969, S. 460. „The Change in the Function of Law in Modern Society" und „Types of Natural Law". Beide sind erst in der Zeitschrift für So^ialforschung veröffentlicht worden. M. JAY, The Dialectical Imagination, Heinemann, London 1973, S. 118.
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indem Neumann die Entfaltung des Monopolkapitalismus schon in den Weimarer Jahren als Untergrabung des Rechtsstaats betrachtet hat. Demgemäß hat er kurz nach seiner Ankunft in London einen Antrag für ein Stipendium eingereicht, in dem er ankündigte, er wolle ein Buch über Staat und Monopol schreiben. Die Inhaltsbeschreibung hebt Themen wie die Basis des freien Wettbewerbs, deren Änderung unter Einfluß von Monopolen und Zweck und Natur des Staatsinterventionismus hervor.8 Das Buch hat er nicht geschrieben; statt dessen hat er drei Jahre bei der LSE studiert, wo er Governance of the Rule of Law schrieb. Als er diese Arbeit fertig hatte, also kurz vor seiner Reise nach New York, hat er noch ein Buch vorgeschlagen: Law as an Integrating and Disintegrating Element in Modern Society. A Sociological Analysis in the Forces which Strengthen or Weaken Rational Elements in Law. Dieses Buch ist ebenfalls nicht geschrieben worden; die Zusammenfassung, die Neumann eingereicht hat, bietet uns aber einige Stellen, die nicht ohne Bedeutung sind. Er beabsichtigte, mit einer Analyse der Rechtsideen des klassischen Liberalismus anzufangen; hieraus wird klar, daß die rechtsstaatliche Idee (general rule of law) in der Integration der Gesellschaft die leitende Rolle spielt. Integration als Technik wäre bei Familie, Partei, Ware und Arbeitsmarkt zu demonstrieren.9 Daraus wird sich zeigen, daß das Prinzip der Allgemeinheit (oder Norm) im Laufe des 19. Jhdts. nicht mehr mit Gerechtigkeit, sondern fortan mit Berechenbarkeit verknüpft wird. „Rationales Recht" ist nach Neumann eine Rechtsform, die als allgemeine Rechtsherrschaft der Willkür individueller Befehle gegenübersteht. Demnach ist das 20. Jhdt. dadurch charakterisiert, daß sich irrationale Elemente entwickeln. Gegenstand der Untersuchung ist es festzustellen, welche sozialpolitischen Tendenzen diese Entwicklungen hervorbringen. Zum Schluß muß im totalitären Staat ... die Frage untersucht werden, ob rationales Recht integrative Funktionen besitzt, oder, ob die Herrschaft des Gesetzes nicht notwendigerweise zur Desintegration führen muß.10
Hier (1936) sind deutliche Grundgedanken seiner späteren Analyse des Nationalsozialismus enthalten. Wie zu zeigen ist, bilden solche rechtliche Fragen den Drehpunkt des Behemoths, und, von Passagen in Governance of the Rule of Law abgesehen, die im Behemoth wiederholt werden, reicht eine bestimmte Verwandtschaft von Governance bis zum Behemoth. Obwohl die Arbeit von 1936 eher rechtsphilosophisch, die von 1942 eher politischsoziologisch zusammengestellt sind, drehen sich beide Studien um Fragen 8 9 10
Brief von F. NEUMANN an die Royal Society, 22. 7. 33. F. NEUMANN, Buchprospekt, um 1936. idem. Absat2 5.
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des Staats, des Rechts, der Gerechtigkeit als politische Ordnung und der sozialen Integration. „Integration" ist ein Leitbegriff Neumanns.11 Hinter seinen arbeitsrechtlichen Studien steht die Annahme, ein gewisser Grad von Integration sei notwendig, wenn eine kapitalistisch gesteuerte Wirtschaftsordnung funktionieren soll. Wie oben angedeutet, liefert das Rechtssystem eine rationale Basis in der Form der Berechenbarkeit, die aber durch die Entwicklung des Monopolkapitalismus modifiziert wird. Sein Idealbild vom Konkurrenzkapitalismus sowie die Verzerrungen, die mit dem Monopolkapitalismus eingeführt wurden, sind in einem Aufsatz von 1931 zu finden. Freie Unternehmer sind ersetzt worden, Vertragsfreiheit und Gewerbefreiheit sind dagegen rechtlich gesichert. Der Markt ist aber nicht mehr autonom, sondern vom Staatsinteventionismus gelenkt; es folgt daraus, daß auf weite Strecken die Selbststeuerung der Wirtschaft ausgeschaltet worden ist. Damit sind aber rechtliche Garantien wie Vertragsfreiheit formal geworden, weil das Wirtschaftssubjekt nicht mehr der individuelle freie Unternehmer ist, sondern ein Monopolträger. So kommen wir zu dem Ergebnis, daß die rechtlichen Sicherungen für das Funktionieren der kapitalistischen Wirtschaft, Vertragsfreiheit und Gewerbefreiheit, nur in einer freien Marktwirtschaft ihren Sinn haben, weil nur in dieser Vertrags- und Gewerbefreiheit nicht nur rechtliche, sondern auch faktische Freiheiten darstellen. Im Zeitalter des Monopolkapitalismus dagegen verlieren die rechtlichen Freiheiten der kapitalistischen Wirtschaft ihre Bedeutung.12
Dieses Verständnis (auf einer allgemeinen Ebene) des Monopolkapitalismus reicht aber nicht aus, um die Notwendigkeit einer Wirtschaftsverfassung zu begründen. Der Widerspruch zwischen Verfassungsform und Verfassungswirklichkeit im damaligen Deutschland bildet auch einen wesentlichen Grund. Neumann nennt fünf verfassungspolitische Probleme der Gegenwart: 1. Die Entwicklung einer Art von Pluralismus, die demokratische Institutionen untergräbt, indem Parteien, Verbände und Gewerkschaften die Macht über die staatliche Willensbildung angeeignet haben. 2. Die Justiz untergräbt das Parlament als Gesetzgeber durch die Anmaßung eines Prüfungsrechts und damit die Herausbildung des Richterstands als ein Oberhaus, das ohnehin keine demokratische Basis besitzt. 3. Die steigende Autonomie der öffentlichen Wirtschaft, von Schmitt und Popitz Polykratie genannt. 11
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,Integration' soll hier nicht mit der Voraussetzung der Notwendigkeit von .Homogenität' verwechselt werden. Diese kennzeichnet die Überlegungen CARL SCHMITTS; obwohl NEUMANN viel von SCHMITT verwendet hat, übernimmt er diese Kernfrage nicht. „Über die Voraussetzungen und den Rechtsbegriff einer Wirtschaftsverfassung", in NEUMANN, Wirtschaft, Staat, Demokratie, op. dt., S. 80.
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4. Die Lahmlegung des Parlaments durch den Föderalismus. Hier vereinigen sich die Tendenzen von Pluralismus und Polykratie, wobei sich die Länder der Beherrschung durch das Parlament entziehen. 5. Schließlich hat das Parlament die Kontrolle über die Verwaltung verloren, mit dem Resultat, daß Verwaltungsorgane bürokratisiert werden und sich gegenüber demokratischen Formen verselbständigen.13 Diese Einschätzung der Verfassungsprobleme der späten Weimarer Zeit stimmen mit der von Carl Schmitt überein. Mehr noch: die Entwicklung des Pluralismus, die Ansprüche der Interessengruppen auf Staatsmacht, wurde von Schmitt als ein Bildungsmoment des „totalen Staates" genannt. Es muß daran erinnert werden, daß „total" als Bezeichnung des Staates oder der Parteien erst durch Schmitt eingeführt worden ist. Der Begriff folgt in den 30er Jahren zwei Entwicklungslinien, die politisch entgegengesetzt sind. Erstens ist „total" ein Begriff des nationalsozialistischen Selbstverständnisses. Von Ernst Jünger geprägt, ist „totale Mobilmachung" ein Kernstück dieses Selbstverständnisses geworden, eine Zusammenknüpfung von Bewegung, Volk und die später so benannte „Wehrwirtschaft".14 Hierzu gehört auch der Begriff „totaler Staat" als Kritik und Abwertung des liberalen Staates, „der Staat ohne Substanz": Totaler Staat ist die Entgegensetzung gegen den liberalen Staat, es ist der Staat mit umfassender inhaltlicher Fülle im Gegensatz zum inhaltlichen entleerten, durch Autonomisierungen, d. h. juristische Sicherungen vorausgesetzter Eigengesetzlichkeiten minimalisierten und nihilisierten liberalen Staat. Der totale Staat ist eine Formel, die dazu dienen sollte, einer noch an die liberale Begriffswelt gewöhnten politische Welt durch Setzung des reinen Gegenbildes den Anbruch eines neuen Staates anzukündigen und zu verdeutlichen.15
Im Laufe der Zeit ist der Begriff „Staat" als liberales Überbleibsel auch verworfen worden, statt dessen dienten eine unbestimmte Gliederung von Führer, Volk und Bewegung als zentrale Begriffe der neuen Ordnung. Trotz der Anpassungsbereitschaft, die Schmitt in den ersten Jahren der NSZeit gezeigt hat, war es ihm auch klar, daß diese Gliederung wesentliche Probleme einfach verwischte, und er ist zum Teil deswegen schließlich
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op. cit., S. 82-3. E. JÜNGER, „Die totale Mobilmachung", in E. JÜNGER (Hrsg.): Krieg und Krieger, Berlin 1930, S. 14—16. Eine Auslegung des Begriffs .Wehrwirtschaft' ist in H. HUNKE, Grundlage der deutschen Volks- und Wehrwirtschaft, Berlin 1938, zu finden. E. FORSTHOFF, Der totale Staat, Hanseatische Verlagsanstalt, Hamburg 1933. FORSTHOFF war ein Schüler von SCHMITT, und zusammen mit E. R. HUBER hat er sich in dieser Zeit bemüht, eine nationalsozialistische Staatslehre zu entwickeln.
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kritisiert und verfolgt worden.16 Ab 1936 ist es nicht mehr gerechtfertigt, Schmitt als „Kronjurist des Nationalsozialismus" zu bezeichnen, weil er in diesem Bereich wegen „liberalistischer Neigungen" verdächtig geworden war. Zweitens ist „total" eine Prägung, die auch Kritiker des Nationalsozialismus angewendet haben, und in diesem Sinne kennen wir den Gebrauch noch heute. Ausgelöst von den verfassungsrechtlichen Thesen Schmitts, die Neumann aufgenommen hat,17 gewann das Wort eher negativen Inhalt, indem hier die Abschaffung der privaten und öffentlichen Freiheiten und die Rolle des Befehls in der Lenkung der Politik und Wirtschaft betont werden. Bald gewann diese Anwendung allgemeineren Gebrauch, ein Mittel einer Kritik, die gleichzeitig gegen die Sowjetunion sowie gegen das nationalsozialistische Deutschland gerichtet werden konnte. Das tat Borkenau zum Beispiel in seinem Buch The Totalitarian Enemy, wo der Nationalsozialismus als „brauner Bolschewismus" gedeutet wird.18 Neumanns Benutzung dieses Wortes folgte diesem Weg nicht, vielmehr suchte er einen Mittelweg. Wie Carl Schmitt hat er den Zerfall einer rechtsstaatlichen Ordnung in der Weimarer Zeit betont, und er hatte weiterhin die liberale Staatsordnung nur insofern verteidigt, als sie gewisse Rechte und eine Form von Gerechtigkeit noch bieten kann. Eine bedingungslose Verteidigung des Rechtsstaats hatte er nicht vor; seine Schwierigkeit war aber, daß seine Kritik in vielen Punkten mit der von Carl Schmitt sich decken könnte, nur seine Stellung dazu ist anders. Andererseits ist er nicht geneigt, eine Kritik des Nationalsozialismus als Staatsordnung aus einer Analyse der Sowjetunion herzuleiten, wie Borkenau es getan hat. „Totalitarismus" bleibt also für Neumann ein kritischer Punkt, der nie eindeutig geschlossen werden soll, oder auch konsequent geschlossen werden könnte. 1934 hat Neumann eine Zusammenfassung des rechtsstaatlichen Erbes der Weimarer Jahre unter dem Titel „Rechtsstaat, Gewaltenteilung und Sozialismus" geschrieben; der Aufsatz ist unter einem Decknamen bei der emigrierten Zeitschrift für Sozialismus erschienen. Das oben angedeutete Problem wird am Anfang offen erklärt: Die Zerstörung aller rechtsstaatlichen Garantien durch das faschistische System zwingt uns zu einer Prüfung, ob und inwieweit der Rechtsstaatsgedanke mit dem sozialistisch-marxistischen Ideenkreis vereinbar ist.19 16
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Vgl. J.W. BENDERSKY, Carl Schmitt. Theorist for the Reich, Princeton University Press, Princeton N.J. 1983, S. 222ff. Und auch ohne Bedenken benutzt hat, wie ein Brief aus dem Jahr 1932 von NEUMANN an SCHMITT beweist — BENDERSKY, op. cit., S. 277. F. BORKENAU, The Totalitarian Enemy, Faber and Faber, London 1940, Kap. 2. Wirtschaft, Staat, Demokratie, op. cit., S. 124.
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Hier wiederholt sich die Kritik, die uns schon bei dem Aufsatz von 1931 über eine Wirtschaftsverfassung bekannt geworden ist. Rationales Recht und damit Gesetzesnormen werden durch monopolistische Mächte verdrängt, der Rechtsstaat wird unterminiert und zerfällt. „Leopold Franz" beschreibt in diesem Aufsatz den Versuch, den Neumann und Heller zusammen gemacht haben, die Idee eines sozialen Rechtsstaates verfassungsrechtlich zu verwirklichen. Ein Jahr später scheint er seine Stellung diesem Versuch gegenüber geändert zu haben; in derselben Zeitschrift unter demselben Decknamen veröffentlichte Neumann eine Auseinandersetzung zum Problem der Staatstheorie. Mit Recht stellt er fest, die deutsche marxistische Tradition habe nichts Großes auf diesem Gebiet gemacht — abgesehen von Renner und anderen österreichischen Marxisten ist in Deutschland die Frage von Strafrecht und Strafvollstreckung eher Anfang und Ende rechtstheoretischer Fragen. Nur Heller hat sich damit befaßt, und seine Bemühungen sind, nach Leopold Franz, eine Weiterführung der deutschen idealistischen Tradition, die in nicht — und auch antimarxistische Schlußfolgerungen mündet, wo Heller eine Widerlegung der marxistischen Lehre vom Staat als Klassenherrschaft entwickelt.20 Harold Laski dagegen findet er „positiv", sein Buch The State in Theory and Practice bietet eine Analyse dieser Klassenherrschaft nach marxistischem Muster; der Widerspruch von Macht und Recht innerhalb der bürgerlichen Staatsordnung, wie auch die Äquivalenz von Staat und Regierung, wird von Laski betont. Man könnte aus diesem und anderen zeitgenössischen Veröffentlichungen Neumanns entnehmen, daß er seine früheren rechtsstaatlichen Ansichten als fehlerhaft betrachtete, daß er in England unter dem Einfluß von Laski Marxist geworden ist und sich damit von den Prinzipien eines Hellers distanzierte. Dabei wäre ein Bruch zwischen Neumanns Orientierung zur Weimarer Zeit und seiner späteren Analyse des Nationalsozialismus erklärt. Wenn wir uns direkt Arbeiten von Laski zuwenden, finden wir zwar eine Kritik des Rechtsstaats, die mit Neumanns zu vergleichen ist; seine Kritik an dem Begriff „Souveränität" läuft immerhin weit über Neumanns Ansichten hinaus. Die Unvollkommenheit der Begriffe wie „Recht als Befehl" oder parlamentarische Souveränität führt Laski zum Schluß, solche Ideen seien entweder leer oder nutzlos. Dabei verwischt er den Unterschied zwischen juristischer und politischer Theorie, wie Deane festgestellt hat.21 Nach Laski verschwindet Souveränität unter einer Menge von Interessen und politischen Entscheidungsinstanzen; es wäre besser, meinte Laski, 20
21
NEUMANN, „Zur marxistischen Staatstheorie", in Wirtschaft, Staat, Demokratie, op. cit., S. 135-6. H. A. DEANE: The Political Ideas of Harold J. Laski, Columbia University Press, New York 1955, S. 15.
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Souveränität zu vergessen und weiterhin den Begriff „Macht" zu benutzen.22 Für die neue Ausgabe des Grammar of Politics fügt Laski 1937 ein Einleitungskapitel ein — „The Crisis in the Theory of the State" —, in dem er seine staatstheoretischen Ansichten in eine „critique of the liberal theory of the state"23 einreiht und den Schluß daraus zieht, daß The state ... is, in fact, the supreme coercive power in any given political society; but it is, in fact, used to protect and promote in that society the interest of those who own its instruments of production. The state expresses a will to maintain a given system of class relations.24
Laskis staatstheoretische Ansichten sind zwar von einer gewissen Radikalität geprägt; ob man sie mit Recht „marxistisch" nennt, weil er von Klassen und Produktionsinstrumenten schreibt, sei dahingestellt. Seine Schriften wiederholen solche Verallgemeinerungen, ohne eine tiefere Analyse des Phänomens „Staat" zu bieten, sei es rechtshistorischer oder zeitgenössischer Art. Neumann ist Laskis radikale Ablehnung des Begriffs „Souveränität" nicht gefolgt. Als Akademiker konnte Laski solche Stellungnahmen ohne Konsequenz aufnehmen; Neumann war dagegen Rechtsanwalt. Der Rechtsstaat mag ihm nicht konfliktfrei vorgekommen sein, aber er hat in Weimar um Rechte gekämpft und keine ablehnende Stellung genommen. Auf diesem Hintergrund mußte Laskis Meinung, daß der liberale Staat auf leeren Formeln aufgebaut sei, stark an die Meinung Carl Schmitts erinnern. In England ist Neumann auch Akademiker geworden; wir finden aber am Anfang der Auseinandersetzung mit dem Rechtsstaat, die er im Governance of the Rule of Law liefert, die Feststellung, daß Die Schlußfolgerung, die gezogen wird — daß nämlich das Recht als solches, wie es in der englischen Lehre von der Rule of Law und in der deutschen Lehre vom Rechtsstaat ausgebildet wurde, nur ein Minimum an Freiheit garantiert und daß die Erlangung von Freiheit immer das Resultat politischen Kampfes ist — diese Schlußfolgerung scheint nicht allzu großes Gewicht zu haben. Doch immerhin: das Recht enthält eine .negative' Garantie, die, wie Hegel in seiner Rechtsphilosophie formuliert hat, zwar nicht absolut gesetzt, aber die auch nicht einfach weggeworfen werden sollte.25
Die Kritik Neumanns an dem rechtsstaatlichen Rechtsbegriff setzt den Begriff als einen problematischen, aber immerhin auch wesentlichen Ge22
23 24
25
H. J. LASKI, The Grammar of Politics, vierte Ausgabe, George Allen and Unwin, London 1937, S. 44-5. Das Buch ist erst 1925 erschienen. idem., S. iii. idem. LASKI betrachtet die Beiträge von MARX und ENGELS, und insbesondere LENINS Staat und Revolution, als entscheidend für die Kritik der liberalen Theorie. Die Herrschaft des Gesetzes (dt. Übersetzung der noch unveröffentlichten Dissertation), Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1980, S. 13.
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genstand einer Untersuchung voraus. Hier finden wir keine starre Ablehnung des Souveränitätsbegriffs; er bietet damit eine gründliche Auseinandersetzung. Im Gegensatz zu Laski hebt Neumann die Verbindung von Staat und Souveränität hervor; erst mit der Anwesenheit von Souveränität, meint Neumann, ist es möglich, vom Staat im modernen Sinne zu reden. Dieser moderne Staat zeigt weiter zwei Eigenschaften: eine Sphäre der staatlichen Souveränität und eine Sphäre, die davon frei bleibt. Die zweite Sphäre bildet eine Begrenzung der Staatsgewalt aus und wird von Menschenrechten konstituiert — Menschenrechte, die durch allgemeine Normen hergestellt sind. Dabei entsteht ein Widerspruch zwischen Recht und Macht, zwischen den zwei staatlichen Sphären. Letzten Endes hält Neumann die Herrschaft allgemeiner Legalität für selbstzerstörend, weil ein Versuch, Gleichheit innerhalb einer ungleichen Gesellschaft aufrechtzuerhalten, notwendigerweise scheitern muß. „Wir nehmen an", folgert Neumann, „daß jede generelle Norm, die das Handeln des Staates begrenzen soll ... zur Desintegration des status quo beiträgt."26 Neumann sucht desintegrative Tendenzen innerhalb der Rechtsordnung einer modernen Gesellschaft, anstatt, wie mit Laski, einfach das Ende des Rechtsstaates anzukündigen. Die Selbstdarstellung der Rechtsstaatsordnung als rational und berechenbar hält Neumann für falsch, das bedeutet aber nicht, daß Rechtsstaatlichkeit nur Schein ist, oder, daß sie überhaupt nicht existiert. Die moderne Gesellschaft ist konflikterfüllt und zeigt auch desintegrative Tendenzen; ein gewisses Maß an Ordnung herrscht immerhin, also ein gewisses Maß an Integration. Die Auswertung dieser bedingten Stabilität bildet den Gegenstand von Neumanns Überlegungen. Der erste Teil der Dissertation ist eine Auslegung von zentralen Begriffen wie Freiheit, Staat, Recht und Macht. Hier spielt Webers Rechtssoziologie eine wichtige Rolle, wie auch die Kritik, die Neumann gegen eine reine Rechtslehre entwickelt. Die Freiheit, räsonniert Neumann, setzt die Wahl zwischen mindestens zwei Möglichkeiten voraus und ist damit eng mit Konkurrenzchancen verbunden. Deshalb wird der rechtstheoretische Begriff soziologisch untermauert — die Verwirklichung der gesellschaftlichen Freiheit und die Rechte, die damit zusammenhängen, setzen eine wirtschaftliche Basis voraus, die die Monopole verdrängt haben. Statt diesen Ansatz direkt zu entwickeln, wendet sich Neumann dann an historische Theorien, die solche rechtspolitischen Fragen erörtert haben. Der zweite Teil umfaßt etwa 120 Seiten in der deutschen Version und bietet eine Art von historischer Befragung verschiedener Theoretiker zum Thema Souveränität und Gesetzesherrschaft. Diese Darlegung ist leider, wie Neu-
26
op. cit., S. 18.
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mann am Anfang mit Recht bemerkt, mit den zwei anderen Teilen nur partiell integriert und bietet eher eine Grundlegung oder Evidenz für das Argument der Dissertation, statt dieses Argument weiterzuführen. Dies tut Neumann in Teil III, wo er sich mit der Gesetzesherrschaft im 19. und 20. Jahrhundert befaßt. Die Folgerungen aus Teil I sind wieder aufgenommen und zuerst thesenartig zusammengefaßt: 1. Das Rechtssystem des 19. Jhdts. zentriert sich im Begriff der persönlichen, politischen und ökonomischen Freiheit, der vorstaatlich vorgestellt wird. 2. Diese Freiheit wird durch formal-rationale Gesetze garantiert, die von unabhängigen Richtern angewendet werden. 3. Das Rechtssystem bezog sich i) auf ein System freier Konkurrenz, das seinen rechtlichen Ausdruck in der Vertrags- und Handelsfreiheit fand; ii) sozial auf Verhältnisse, wo die Arbeiterklasse als Bewegung nicht vorkommt, weshalb es möglich wird, Klassenkonflikte zu ignorieren; iii) politisch auf ein System der Trennung und Verteilung von Gewalten. 4. Der Idee der Nation spielte hierbei das entscheidende integrierende Moment.27 Der Ausübung dieser Prinzipien folgt Neumann bis in die Weimarer Zeit, wo es erst klar wird, daß die Bedingungen solch einer Rechtsordnung nicht mehr existieren bzw. unterminiert sind. Charakteristisch für diese Zeit ist die Entfaltung rechtstheoretischer Auseinandersetzungen, z. B. um die Bedeutung der Gesetze der Weimarer Verfassung als „allgemeine Gesetze" — ein Standpunkt, den Carl Schmitt bezogen und dabei die Funktion der Rechtssprechung hervorgehoben hat. Der Verfall des Rechtsstaats und seiner Prinzipien wird hier erörtert, ohne eine Alternative zu identifizieren. Die Ordnung der Weimarer Zeit ist also eine Verfallsform der Rechtsstaatsordnung, nicht die Entwicklung einer spezifischen neuen Form. Die Kernfrage wird also: stellt die nationalsozialistische Ordnung eine wesentliche Änderung dieser Bedingungen dar? Ist der nationalsozialistische Staat ein Rechtsstaat? Drei Züge lassen dies bezweifeln: die persönliche Herrschaftsausübung, retroaktive Gesetzgebung und die sogenannten „völkischen" Leitgedanken der Rechtssprechung.28 Auf juristischem Gebiet hat Neumann hier keine eindeutige Antwort auf die Frage, was Nationalsozialismus für eine Rechtsordnung sei. Wichtig hier zu bemerken bleiben die Art und Weise, wie er das Problem stellt, und die Methoden, mit denen er nach einer Lösung sucht. Rechtsstaatliche Kategorien bilden seine Analytik; und die Geschichte, die er beschreibt, 27 28
op. cit., S. 210-11. op. cit., S. 349-51.
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stellt die Änderung und Modifikation dieser Kategorien durch die sozialen und politischen Mächte der kapitalistischen Gesellschaft dar. Der Staat aber bleibt, also auch die Souveränität. Es gibt desintegrative Züge, Desintegration als Zustand ist aber noch nicht erreicht. Auch unter dem Nationalsozialismus bleibt Rechtsstaatlichkeit formal bestehen; eine nationalsozialistische Rechtslehre gab es nicht, die systematisch die Basis eines alternativen Rechtssystems stiften könnte.29 Kurz nach dem Abschluß dieser Dissertation ist Neumann nach New York gegangen, wo er sich mit Überlegungen noch befaßte und wo er 1937 einige Thesen aus der Dissertation in der Zeitschrift für So^ialforschung veröffentlichte. Wie oben am Anfang auch beschrieben, ist sein Buch Behemoth 1942 erschienen, das diese Überlegungen noch weiterführte. Was bedeutet der Titel? In der jüdischen Eschatologie ... sind Behemoth und Leviathan die Namen zweier Ungeheuer. Behemoth beherrscht das Land (die Wüste), Leviathan die See ... Beide sind Ungeheuer des Chaos. ... Da wir glauben, daß der Nationalsozialismus ein Unstaat ist oder sich dazu entwickelt, ein Chaos, eine Herrschaft der Gesetzlosigkeit und Anarchie, welche die Rechte wie die Würde des Menschen „verschlungen" hat und dabei ist, die Welt durch die Obergewalt über riesige Landmassen in ein Chaos zu verwandeln, scheint uns dies der richtige Name für das nationalsozialistische System.30
Neumann bemerkt hier auch, daß Hobbes seiner Analyse des Staats als politisches Zwangssystem den Namen Leviathan gegeben hat.31 Demgegenüber stellte Hobbes Behemoth or the Long Parliament, wo die Umstände des englischen Bürgerkriegs als Unstaat, Chaos, behandelt werden: „ein Zustand der Gesetzlosigkeit, des Aufruhrs und der Anarchie". Die Gesetzlosigkeit, die Neumann in Behemoth darlegt, wird dadurch gekennzeichnet, daß hier die Gesetze und Rechte der Rechtsstaatsordnung nicht mehr herrschen. Die Begriffe, mit denen die Weimarer Zeit gearbeitet hat, scheinen nicht mehr zu taugen; Rechtsstaatlichkeit ist abwesend. Was denn ist statt dessen anwesend? Hier finden wir bei Neumann keine eindeutige Antwort. Nach einem Abriß der Weimarer Zeit und der Entstehung des Nationalsozialismus nähert sich Neumann dem Phänomen Nationalsozialismus durch einen Versuch, eine bestimmte ideologische Richtung ausfindig zu machen. Wie fast alle Versuche, eine überzeugende und spezifische nationalsozialistische Ideologie zu umreißen, ist das Resultat etwas flickwerkartig. Die Aussagen Schmitts über die frühen Phasen der NS-Zeit 29
30 31
„Der Funktionswandel des Gesetzes im Recht der bürgerlichen Gesellschaft", Zeitschrift für Soyalfonchung, Jg. 6 (1937), S. 542-96. Behemoth, op. cit., S. 16. SCHMITT hatte 1937 seinen eigenen Leviathan veröffentlicht.
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wurden von Neumann eingeführt, obwohl er vorher die Veränderungen der NS-Ideologie betont hatte32 und auch festgestellt hatte, daß der Nationalsozialismus keine konsistente Theorie der Gesellschaft habe. Neumanns Bemerkungen zur NS-Ideologie betonen verfassungsrechtliche Fragen, wie die Staatsform und die Kritik an der liberalen Staatstheorie. Hier spielen Schmitts Ansichten eine wichtige Rolle, bevor Neumann sich dann zur Beziehung Partei — Staat wendet. Hier genießt die Partei eine Sonderstellung; obwohl kein Staatsorgan, werden zum Beispiel Parteibeamte juristisch als Staatsbeamte behandelt. Parteieigentum ist nicht zu versteuern, und die Partei ist für die Handlung ihrer Mitglieder nicht verantwortlich, wie es bei Staatsbeamten und privaten Körperschaften der Fall war. Die Rechtsstellung der Partei läßt sich nicht mit den Begriffen unserer traditionellen Verfassungslehre definieren. Walter Buch, oberster Parteirichter und als solcher einer der Herren über Leben und Tod, vergleicht die Partei mit dem Staat selbst. Träfe dieser Vergleich zu, dann gäbe es eine absurde Situation, denn das würde die Existenz eines dualistischen Systems bedeuten, zweier koexistierender souveräner Gewalten, die beide Loyalität beanspruchen und zweierlei Recht schaffen.33
Hier wird eine Dualität in Neumanns Analyse sichtbar; für ihn ist es theoretisch unannehmbar, daß auf die Dauer zwei Mächte Souveränität beanspruchen, die Idee selbst ist ein Widerspruch des Begriffs Souveränität. Die Partei aber übt Rechte aus, die normalerweise, d. h. rechtsstaatlich, das Monopol des Staats sind — wie z. B. Rechtsprechung oder auch Strafvollzug. Dem Titel des Buchs gemäß, nähert sich dieser Zustand dem der Anarchie, dem Chaos. Nichts wäre einfacher, diese Widersprüche als Zeichen der Abwesenheit von jeglichen Rechtsnormen oder auch der Rechtsordnung zu deuten. Dies tut Neumann aber nicht. Er steht noch am Anfang seiner Analyse, sein Zweck ist offensichtlich nicht, Nationalsozialismus als eine „gesetzlose Ordnung" zu erklären, sonst wäre das Buch bloß eine Beschreibung dieser Unordnung geworden. Mehr noch — genau an diesem Punkt kritisiert Neumann die Analyse des NS-Staats als einen .Doppelstaat'. Diese These hat Fraenkel in seinem gleichnamigen Buch 1941 vertreten, wonach die Rechtsordnung Deutschlands von zwei Staaten aufrechterhalten sei: einerseits von einem normativen Staat, der Kontinuität auf der Ebene von Gesetzgebung und Rechtsprechung vorzeigt, dessen Prinzipien aus allgemeinen Normen ableitbar sind; andererseits von einem prärogativen Staat, der jederzeit plötzlich eingeschaltet worden ist, um bestimmte Handlungen, Personen oder Institutionen von der Gewaltausübung des normativen Staats freizusetzen. 32 33
Behemoth, op. cit., S. 67. op. cit., S. 103.
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Hier, meinte Fraenkel, gab es zwei Staatsordnungen, die sich gegenseitig ablösten.34 Wiederholt lehnte Neumann diese Lösung ab.35 Hinter dieser Ablehnung lassen sich rechtsstaatliche Gedanken vermuten — nur ist Neumann auch nicht bereit, das nationalsozialistische Deutschland für einen Rechtsstaat zu erklären. So eine Feststellung mag wohl irgendwie bemerkenswert klingen, es ist aber hier wichtig zu betonen, daß Fraenkel einen Weg gezeigt hatte, das Chaos einer Rechtsordnung zu beschreiben. Diesem Weg folgte Neumann nicht; mehr noch, die Begründung, die er dafür gibt, setzt die Existenz oder Gültigkeit von rechtsstaatlichen Kategorien als Untersuchungsmittel voraus. Die Analyse der Wirtschaftsordnung, der Neumann viele Seiten des Behemoths gewidmet hat, stellt ähnliche Schwierigkeiten dar. Die Wirtschaft bietet die Kräfte, die die nationalsozialistische Gesellschaft zusammenhalten. Was für eine Wirtschaft also leistet diese integrative Funktion? Es gäbe eine wachsende Tendenz, den kapitalistischen Charakter des Nationalsozialismus zu leugnen. Er wird als ein System des braunen Bolschewismus, des Staatskapitalismus, des bürokratischen Kollektivismus oder der Herrschaft der Managerbürokratie bezeichnet. Diese theoretische Schule glaubt, daß es in Deutschland keine Unternehmer mehr gibt, sondern nur noch Manager, daß es keine Gewerbe- und Vertragsfreiheit und keine Investitionsfreiheit mehr gibt; daß der Markt und mit ihm die Marktgesetze aufgehoben wurden.36
Hier argumentiert Neumann gegen die Auffassung Pollocks, daß in Deutschland eine Befehlswirtschaft herrsche, die „über Mittel verfügt, um die wirtschaftlichen Ursachen von Depression, kumulativer destruktiver Prozesse und Unterbeschäftigung von Kapital und Arbeit auszuschalten."37 Nach Pollock hat die Politik einen Primat über die Wirtschaft gewonnen, der dauerhaft und bedingt erfolgreich sei. Ein wirtschaftlicher Zusammenbruch der NS-Ordnung sei nicht zu erwarten, eine gewisse Stabilität und Planmäßigkeit hat sich in Deutschland entwickelt. Neumann glaubt dagegen, daß kapitalistische Verhältnisse die Bewegung der deutschen Wirtschaft immer noch kontrollieren, und damit ist diese Ordnung immer noch von kapitalistischen Widersprüchen geprägt. Die Wirtschaft des nationalsozialistischen Deutschlands ist also eine „privatkapitalistische Ökonomie, die durch einen totalitären Staat reglementiert wird. Als den
34 35
36 37
E. FRAENKEL, The Dual State, Oxford University Press, New York 1941. Z.B. S. 103, 541. Behemoth, op. eh., S. 272—3. E. POLLOCK, „Ist der Nationalsozialismus eine neue Ordnung?" in H. DUBIEL, A. SÖLLNER op. cit., S. 125.
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besten Namen, sie zu beschreiben, schlagen wir totalitärer Monopolkapitalismus' vor."38 Die Analyse, die diese Feststellung unterstützt, basiert weitgehend auf institutionellen Strukturen der Kartelle und Monopole und versucht dabei eine Kontinuität mit der Wirtschaftsordnung der 30er Jahre aufzuzeigen. Neumann schenkt dynamischen Aspekten wenig Beachtung, weil er seine Bemühungen eher seiner eigenen Beweisführung widmet. Es kann hier nebenbei bemerkt werden, daß die Klassen, die fortan die Gesellschaft beherrschen, nicht direkt aus dem Bereich der Wirtschaft abgeleitet worden sind. Statt dessen wird die Gesellschaft durch eine Bürokratie beherrscht, oder genauer, die Gesellschaft befindet sich in einem Prozeß der Bürokratisierung.39 Die Fülle von Ideen und Information, die Neumann in Behemoth darstellt, wie auch die Schärfe und Genauigkeit seiner Analyse, hat das Buch zum Klassiker gemacht. Eine gründliche Darstellung der verschiedenen Aspekte des Buches kann hier nicht angefangen werden; was hier eher beabsichtigt ist, ist die Rolle bestimmter staatsrechtlicher Fragen und Kategorien für Neumanns Analyse hervorzuheben. Das Schlußkapitel betont die Irrelevanz üblicher rechtsstaatlicher Ansätze, ob liberal, ob konservativ, ob marxistisch. Keine nationalsozialistische politische Theorie läßt sich beweisen; wie fängt man also mit der Analyse eines solchen Systems an, das keine systematische Selbsterklärung besitzt? Auch das bietet ein wichtiges Problem sozial wissenschaftlicher Methodologie, das Neumann aufnimmt. Neumann ist der Meinung, in Deutschland gäbe es kein Reich von Recht und Gesetz, deshalb lehnt er die These eines Doppelstaates ab. Hier also herrscht kein Rechtsstaat. Herrscht also das Chaos? Ich wage zu behaupten, daß wir es hier mit einer Gesellschaftsform zu tun haben, in der die herrschenden Gruppen die übrige Bevölkerung direkt kontrollieren — ohne die Vermittlung durch den wenigstens rationalen, bisher als Staat bekannten Zwangsapparat. Noch ist diese neue soziale Form nicht voll verwirklicht, aber die Tendenz ist vorhanden, und sie bestimmt das eigentliche Wesen des Regimes.40
Also doch eine Art einer neuen Ordnung. Eine Ordnung, in der Rechtsstaatlichkeit abwesend ist, deren Zerfall, vom Monopolkapitalismus vorangetrieben worden, nun vollkommen und zum Ende gekommen ist. Es genügt aber nicht, eine neue Ordnung durch die Abwesenheit früherer Merkmale zu charakterisieren, weil wir dadurch nur feststellen können, daß die Begriffe, an denen wir uns sonst orientieren, nichts mehr zu bieten 38 39 40
Behemoth, op. eh., S. 313. op. cit., S. 429. op. cit., S. 543.
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haben. Die NS-Zeit daher als Chaos zu erklären heißt nur, daß wir andere Begriffe brauchen, um eine neue Ordnung ausfindig zu machen. Solche Begriffe bietet Neumann nicht; er bleibt bei den Prinzipien, die er in seinen früheren Arbeiten entwickelt hat. Nur stellt er zum Ende fest, daß diese Prinzipien keine Lösung zum Problem der Gesellschaftsordnung weiterhin bieten; die integrativen Funktionen verschwinden wieder in einer Menge von Tatbeständen der Gesetzlosigkeit und des Chaos.
ZORAN DJINDJIC (Belgrad)
Kontinuität der Liberalismuskritik von Marx bis zur Frankfurter Schule Als ich Anfang der 70er Jahre als Philosophiestudent des dritten Semesters per Anhalter nach Frankfurt kam, tat ich es in der Absicht, die Frankfurter Schule zu besuchen. Tatsächlich, möge das heute auch noch so sonderbar klingen, stellten sich junge Menschen in Belgrad noch einige Jahre später unter diesem Begriff eine lebendige Diskussions- und Arbeitsgemeinschaft vor, die „auf den Spuren" (das war ein damals beliebter Ausdruck) von Horkheimer und Adorno eine Form der Wissenschaft mit einer Organisationsform der Arbeit und des persönlichen Lebens in Einklang bringt. „Kritisch" war der gemeinsame Nenner dieses Vorhabens, die Skala, auf der sich die erwähnten Gestalten frei bewegten, der eigenen Zugehörigkeit zum Ganzen immer bewußt. Man solle, so haben wir damals geglaubt, die „Kritik" im philosophischen Denken,in der institutionellen Organisation der Forschung und im eigenen Leben praktizieren. Frankfurt galt als Ort, an dem sich diese diffuse kritische Atmosphäre zu einer Lokation, zu einer „Schule" eben, verdichtete. Die „kritische Gesellschaftstheorie" hatte die schwierige Aufgabe, solch einen intensiven und unklaren Anspruch mit ihrem breiten Schatten abzudecken. Wir waren überzeugt davon, daß dieser Schatten beliebig ausgedehnt werden könne, da er einer mächtigen Lichtquelle, der Marxschen Theorie nämlich, seine Breite und Dichte verdankte. M. a. W. war die Frankfurter Schule für uns eine Fortsetzung des Marxismus, und zwar die einzig legitime. Vor allem die Schriften Adornos besaßen einen stilistischen Glanz, den der Marxismus höchst nötig hatte, ganz besonders in Jugoslawien. Es gab mindestens zwei Gründe dafür, warum die Theorie der Frankfurter Schule gerade dem jugoslawischen Marxismus im entscheidenden Moment als Hilfe in der Not Unterstützung leistete: die politische Begeisterung für den Sozialismus war abgekühlt, der Glaube an eine „dialektische Notwendigkeit" längst zerfallen. Man benötigte eine Begründung der Emanzipationstheorie, die der Logik des nicht-mehr-naiven Bewußtseins gewachsen wäre. Auf der anderen Seite bekam die Marxistische Theorie aufgrund der Aufgeschlossenheit Jugoslawiens gegenüber dem Westen eine gefährliche Konkurrenz, vor allem mit der Philosophie
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Heideggers und der immer populärer werdenden analytischen Philosophie. Wenn man es als nicht-parteiischer Intellektueller vermeiden wollte, als philosophischer Plebejer und Ideologe zu gelten, mußte man imstande sein, der komplexen Argumentation des Gegners eine eigene, vor allem sprachlich differenzierte Weltauffassung entgegenzusetzen. Die Frankfurter Schule vermochte, wie gesagt, beides zu leisten: eine Begründung des „emanzipatorischen Interesses" und eine überzeugende Kritik der philosophischen Konkurrenz. Es ist fast überflüssig zu erwähnen, daß sich für uns, wie für die frühe Frankfurter Schule, die ganze nicht-eigene Philosophie in zwei Lager teilte: Positivismus und Metaphysik. Schon die sprachliche Benennung machte die Trennungslinie unüberwindbar und schloß jeden Erfahrungsaustausch aus. Denn die Grenze zu den Anderen war nicht nur eine philosophische, sondern im gleichen Maße eine ideologische und politische (unbeachtet der Tatsache, daß sich alle drei „Richtungen" gleichermaßen zur politischen Opposition zählten, jedoch nicht alle zu der Opposition von links). An diesem Tatbestand hat sich seitdem wenig geändert; am schmalen Band jugoslawischer Philosophie wird nach wie vor aus drei verschiedenen Richtungen gezogen, eine Versöhnung ist nicht in Sicht. Nun kehren wir zum eigentlichen Thema zurück. Worin schlug sich die erwähnte Verbindung zwischen dem Marxismus und der Frankfurter Schule in der jugoslawischen Philosophie nieder? Dieses Verhältnis läßt sich auf verschiedenen Ebenen verfolgen. Methodisch drückte es sich in der Betonung der normativen Grundlage jeder Sozialtheorie aus. Diese methodische Grundannahme war in zwei Hinsichten kritisch ausgerichtet: einmal gegenüber dem orthodoxen Marxismus, der dazu neigte, das „emanzipatorische Interesse" in terms einer objektivistischen Geschichtstheorie auszulegen, zum anderen gegenüber dem „Positivismus", welcher „das Bestehende" durch die angebliche Wertfreiheit seiner Methode bejahte. Auf etwas konkreterer Ebene folgte daraus das Primat der Kultur und Politik: eine kritische Gesellschaftstheorie sollte nicht länger auf eine Kritik der politischen Ökonomie reduziert werden. Auf noch konkreterer Ebene bot uns der Marxismus der Frankfurter Schule eine Reihe „dialektischer Begriffe", mit deren Hilfe sich eine kritische Sozialtheorie aufbauen ließ. Der Begriff des „Warenfetischismus", befreit aus der ökonomischen Verkürzung, war einfach ein Mädchen für alles. Dazu kamen „Entfremdung", „notwendiger Schein", „instrumentelle Vernunft" und selbstverständlich der Unterschied zwischen der traditionellen und der kritischen Theorie. Man könnte auf jeder erwähnten Ebene der Theoriebildung die Rezeption der Frankfurter Schule in der jugoslawischen Philosophie rekonstruieren; als Resultat würde ein interessantes Bild entstehen, voll von inneren Spannungen und individuellen Unterschieden, die sich um die Philosophie-
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Zentren Belgrad, Zagreb und Ljubljana gruppierten. Uns interessiert jedoch das Gemeinsame an dieser Rezeption, der Rahmen, in dem sie sich bewegte und der häufig einer Selbstverständlichkeit glich, einer Annahme, nach deren Voraussetzungen man selten fragte. Die „Kritik des Bestehenden", gleichgültig welche konkreten Züge und welchen konkreten Gegenstand sie hatte, war immer auf einen idealen Pol der Kritik ausgerichtet, sozusagen als ihr negatives Apriori; die Funktion der Abgrenzung zum Negativen erfüllte der Begriff des Bürgerlichen. Alle denkbaren ideologiekritischen Perspektiven wurden durch den zentralen Gegensatz zwischen dem Bürgerlichen und dem Sozialistischen vereinigt. Sogar der Stalinismus war für viele bloße Fortsetzung der jakobinischen, d. h. bürgerlichen politischen Tradition, die mit dem Sozialismus gar nichts zu tun hat. Es wurde leidenschaftlich diskutiert, in welchen konkreten Schritten der Warenaustausch und die Marktwirtschaft beseitigt werden sollten. Die Emanzipation war identisch mit der unmittelbaren Selbstbestimmung der Menschen. Solche fundamentalistischen Träume sind für die meisten, die in dieser Szene ihre theoretische und politische Sozialisation erlebten, schon ausgeträumt; die Ideen von der Gesellschaft als „Assoziation der freien Produzenten", von der unmittelbaren Demokratie und der Eroberung der „entfremdeten Geschichtslogik" können nur noch wenige erwärmen. Und trotzdem herrscht um den Begriff der bürgerlichen Gesellschaft keine Klarheit. Um ihretwillen wäre es notwendig, das Verhältnis zwischen dem Marxismus und der Frankfurter Schule auch in dieser Hinsicht zu rekonstruieren, nämlich als eine Kontinuität der Kritik der bürgerlichen Gesellschaft. Die folgenden Ausführungen verstehe ich als einen bescheidenen Beitrag zur Klärung dieser Kontinuität. In seiner materialistischen Geschichtsauffassung deutete Marx die Menschheitsgeschichte als eine Resultante des Zusammenwirkens von „Produktivkräften" und „Produktionsverhältnissen". Dabei wurde die entscheidende Rolle desjenigen dunklen Bereichs hervorgehoben, in welchem die Menschheit mit der „äußeren Natur" zusammentrifft: Die Grammatik der Geschichtssprache bildet sich nach der materialistischen Geschichtsphilosophie in der Region der gesellschaftlichen Arbeit aus, und dieser kommt in einem doppelten Sinne systematische Bedeutung zu. Zum ersten läuft die materielle Geschichte der Menschengattung als eine Folge der ökonomischen Gesellschaftsformationen ab, zum zweiten muß das theoretische Verständnis der Geschichtssprache zunächst zu ihrem grammatikalischen Ursprung vordringen. Die Rekonstruktion des Geschichts- und Weltaufbaus muß daher die Form einer Theorie der materiellen Produktion annehmen, zumindest wenn es sich um die Grundlagenprobleme der Sozialtheorie handelt. Das was sich die Philosophen unter dem Begriff des menschlichen Wesens zusammengegaukelt haben, versichern uns Marx und Engels in dem berühmten Diktum aus der „Deutschen Ideologie", läßt
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sich durch zwei einfache Fragen vollkommen entziffern, und zwar durch die Fragen nach dem, was die Menschen in einer Epoche materiell herstellen, und nach dem, wie sie es tun. Eine so gewaltig verkürzte Interpretation des Marxschen Ansatzes weckt Skepsis: Wie kann man sich für eine solche Geschichtsauffassung erwärmen oder gar begeistern, und was hat die subtile, teilweise manieristischdekadente Sichtweise der Frankfurter Philosophen mit einer solchen Position zu tun? Die Frage ist zweifellos plausibel, nur daß sie aus dem Zentrum des Problemzusammenhangs selbst hervorgeht und nicht etwa aus dem Interpretationszusammenhang. Das heißt, daß die skizzierte materialistische Geschichtsauffassung begeisterungsfähig ist und war und daß die Frankfurter Schule sie in der zuvor angeführten Form rezipiert hat. Die grundlegenden Prämissen der materialistischen Geschichtsphilosophie bestimmen die Position der Frankfurter Schule bis in die Nachkriegsjahre. Wie ist das zu erklären? Um die Auslegung zu vereinfachen, werde ich die erste These meines Vertrags plakativ formulieren. Hinter der ökonomistischen und objektivistischen Fassade der materialistischen Geschichtsauffassung verbirgt sich die „größte" Philosophie der Subjektivität (man könnte auch sagen: Metaphysik der Subjektivität) seit Fichtes Begründung der absoluten Setzung des Subjekts. Die Begeisterung für die materialistische Auffassung, und das kann ich aus eigener Erfahrung mitteilen, ist eigentlich eine verdeckte Begeisterung für die Metaphysik der Subjektivität. Die Frankfurter Schule unterscheidet sich von dem übrigen Marxismus darin, daß sie sich vor den Konsequenzen dieser Position nicht a priori gescheut hat. Sie hat sich von der Fassade nicht irritieren lassen und hat sich vorgenommen, die vernachlässigten Räume des riesigen Gebäudes zu besetzen und zu renovieren. In ihnen fand das Horkheimersche Projekt eines interdisziplinären Materialismus sein Domizil, und in ihnen wurde die frühe Frankfurter Schule untergebracht. Wenn sich der Charakter einer Sozialtheorie, welche nach eigenem Bekenntnis von dem Interesse an der Emanzipation geleitet ist, an ihrem Begriff der Emanzipation erkennen läßt, dann läßt sich am Charakter der frühen Frankfurter Schule nicht zweifeln: „Die wahre menschliche Freiheit ist weder mit der Unbedingtheit noch mit der bloßen Willkür gleichzusetzen, sondern ist identisch mit der Beherrschung der Natur in und außer uns durch vernünftigen Entschluß."1 In Anlehnung an Marx wird die Emanzipation als rationale Selbstbestimmung, als Ausweitung der rationalen Kontrolle in allen Lebensbereichen definiert. „Die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, die planmäßige Leitung der Produktion, die Naturbeherrschung ins Ungemessene" — so Horkheimer — , verbunden mit dem 1
M. HORKHEIMER, Kritische Theorie //, Frankfurt 1968, S. 199.
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„Ende der Ausbeutung", markieren den Anfang der wirklichen Geschichte der Menschengattung.2 Der Umstand, daß die Frankfurter Schule die Marxsche Metaphysik der Subjektivität rezipiert hat, wäre an sich kein neuralgischer Punkt. Aufgrund der Frage nach der normativen Grundlage einer kritischen Gesellschaftstheorie hat sie zur Klärung wichtiger Voraussetzungen des Marxismus beigetragen. Obwohl auch sie mit den geschichtsphilosophischen Attitüden sehr unvorsichtig umgegangen ist, war sie zweifelsohne weniger naiv als ihre theoretischen Vorgänger aus der gleichen Tradition. Das Hauptproblem liegt nun aber darin, daß die Marxsche Metaphysik der Subjektivität keineswegs von schweren Widersprüchen frei war und daß die frühe Frankfurter Schule diese als theoretische Selbstverständlichkeiten übernommen hatte. Es ist recht einfach zu erraten, daß die Grundschwierigkeiten einer Philosophie der Subjektivität um eben den Subjektbegriff angesiedelt sind. Aber diesmal meine ich nicht dieses Hauptproblem der Position von Marx und der frühen Frankfurter Schule, nämlich das Problem der Begründung des Emanzipationsinteresses. Ihm versucht Marx mit dem emphatischen Rekurs auf „das Gattungswesen" (definiert als „freie, bewußte, gegenständliche Tätigkeit") auszuweichen. Das ist natürlich genausowenig eine Begründung wie die Behauptung von Horkheimer: „... das Ziel einer vernünftigen Gesellschaft... ist in jedem Menschen wirklich angelegt" (Trad, u. kr. Th., KT II, S. 199). Selten sind die Stellen, an denen diese materialistische Subjektivitätsphilosophie ihren Subjektbegriff überhaupt offenlegt, wenn auch so dogmatisch wie in dem zitierten Satz. Sie benutzt ihn lieber als eine Voraussetzung, die nirgendwo expliziert wird. Noch mehr als bei Marx bleibt der Subjektbegriff der Frankfurter Schule eine unbesetzte Stelle, sozusagen ein harter, undurchsichtiger Punkt, in dessen magnetischem Feld sich die kritische Gesellschaftstheorie bewegt, unfähig sich seiner Faszination zu entreißen. Aber, wie gesagt, die Begründungsprobleme einer Emanzipationstheorie, welche die Form einer Philosophie der Subjektivität hat, lassen wir hier beiseite. Zum eigentlichen Thema, dem Verhältnis zwischen der bürgerlichen Gesellschaft und der kritischen Gesellschaftstheorie, kommen wir mit Hilfe der Frage nach der Entstehungsgeschichte des Subjektbegriffs und nicht durch die Frage nach seiner Begründung. Diese Entstehungsgeschichte — und das ist meine zentrale These — weist eine doppelte, sich gegenseitig bedingende interpretative Verblendung auf: ihre zwei Pole sind der Subjektbegriff und der Begriff der bürgerlichen Gesellschaft. 2
M. HORKHEIMER, „Autoritärer Staat", in: Wirtschaft, Recht und Staat im Nationalsozialismus, Hrsg. H. DUBIEL und A. SÖLLNER, Frankfurt 1981, S. 67.
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Der Subjektbegriff der kritischen Gesellschaftstheorie — bestimmt als vernünftiger Entschluß, Autonomie und Selbstbestimmung, rationale Beherrschung und Planung usw. — ist ein eminentes Produkt der europäischen Neuzeit und als solches in der Subjektivitätsphilosophie von Descartes bis Hegel dokumentiert. In seiner Emanzipationstheorie universalisiert Marx diese Bestimmungen und reißt sie aus ihrem historischen Kontext, der sich in seiner eigenen Widersprüchlichkeit gerade zu einer solchen Operation anbietet. Dieser historische Zusammenhang, die bürgerliche Zivilisation, bleibt nach der Destillation als eine leere Hülle zurück. Die bürgerliche Zivilisation der europäischen Neuzeit ist demnach sowohl für Marx als auch für die Frankfurter Schule nur eine Folie der kapitalistischen Produktionsweise, ein institutioneller Rahmen, in dem sich der Industrialisierungsprozeß abspielt, der die eigentliche Geschichte des Geschichtssubjekts ausmacht. „Die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft ist in ihrer Produktionsweise beschlossen" schreibt Horkheimer im Aufsatz „Autoritärer Staat"3 und weiß sich dabei mit der Marxschen Theorie der Moderne in vollkommener Einigkeit. Das institutionelle System der bürgerlichen Gesellschaft ist nichts anderes als „ein ideologischer Deckmantel für die Herrschaft der Bourgeoisie" (Franz Neumann, „Der Funktionswandel des Gesetzes im Recht der bürgerlichen Gesellschaft", ZfSf VI, 3, 1937) und dient ausschließlich ihrer Stabilisierung. Die behauptete Kongruenz von Produktionsweise, politischer Macht und ihrer rechtlich-kulturellen Rechtfertigung scheitert als heuristisches Erkenntnismittel an jedem beliebigen historischen Gegenstand. Als geschichtsphilosophische Behauptung läßt sie sich jedoch nicht falsifizieren: Die Unfähigkeit der Theorie, mit einer angemessenen Erkenntnis an die Gesellschaft heranzutreten, wird der Gesellschaft zur Last gelegt, die der Voraussetzung der Theorie nach ohnehin irrational und entfremdet ist. Der herausdestillierte Subjektbegriff befestigt nachhaltig diesen Zusammenhang; die kritische Gesellschaftstheorie hält ihn der historischen Wirklichkeit als einen entlarvenden Spiegel vor, und diese erscheint, wie erwartet, als Versagen, Nichtigkeit, Ekel. Nicht ein einziges Mal wird in der kritischen Gesellschaftstheorie die Frage gestellt, ob die Emanzipation, verstanden als reflektierte Gemeinschaft autonomer Individuen, überhaupt einen kognitiven Sinn außerhalb der bürgerlichen Zivilisation hat, d. h. ob beim Zerfall des „ideologischen Deckmantels" die wahre Wirklichkeit als totale Emanzipation und nicht etwa als totaler Schrecken zum Vorschein kommt. In Anlehnung an einen transzendental gesicherten Subjektbegriff spielt Marx die Grundwerte der
3
Ibid., S. 69.
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bürgerlichen Zivilisation gegen ihren eigenen historischen Ursprung aus, im fatalen Glauben, diese Werte behielten ihre Substanz, auch wenn sie geschichtsphilosophisch radikalisiert werden. Diesen historischen Ursprung politisiert er im polemischen Begriff der bürgerlichen Gesellschaft, die so zu einer partiellen Position in den Tagesauseinandersetzungen wurde. Die Kritik der bürgerlichen Zivilisation hat sowohl bei Marx als auch bei der Frankfurter Schule die Form einer Kritik des Liberalismus. Die bürgerliche Zivilisation können wir verkürzt als eine sozial-ökonomische und kulturelle Lebensform definieren, die im 13. und 14. Jahrhundert in Europa entsteht und sich etwa in folgenden Prozessen niederschlägt: Individualisierung, Trennung von Privatem und Öffentlichem, Trennung von Recht und Moral, funktionale Differenzierung des gesellschaftlichen Lebens in mehr oder weniger autonomen Subsystemen und Differenzierung des Handelns in Sphären mit relativ eigenständigen Gesetzmäßigkeiten. Dieser Begriff der bürgerlichen Zivilisation ist allerdings kein systematischer; er ist nicht völlig gedeckt, weder von der historischen Realität noch von den proklamierten Zielen. Er ist eine unruhige Einheit aller genannten Momente, aber wie gesagt, eine Einheit ohne Synthese. Als einen doktrinären Ausdruck dieser Unmöglichkeit der Synthese können wir den Liberalismus verstehen. Er repräsentiert den Verzicht auf die totale Emanzipation und die Unumgänglichkeit der Entfremdung. Als solcher ist er ein natürlicher Gegner der kritischen Gesellschaftstheorie. Es ist nicht nötig, an die Marxsche Liberalismuskritik zu erinnern (etwa in „Zur Judenfrage"); seine Meinung über die Trennungen, auf welchen die postfeudale Welt beruht, ist genügend bekannt: „Denn diese Zerrissenheit, diese Niedertracht, dies Sklaventum der bürgerlichen Gesellschaft ist das Naturfundament, worauf der moderne Staat ruht ..." (MEW l, S. 401). Die frühe Frankfurter Schule kann diese Kritik der bürgerlichen Gesellschaft mit einer zeitgemäßen Kategorie erweitern, mit dem Faschismusbegriff: „Der Faschismus ist die Wahrheit der modernen Gesellschaft"4, schreibt Horkheimer bei Ausbruch des Weltkrieges. Die totalitäre Ordnung ist demnach nichts anderes als ein Liberalismus ohne Hemmungen (ibid.), oder, wie Marcuse in seinem berühmten Aufsatz feststellt: ,,[E]s ist der Liberalismus selbst, der den total-autoritären Staat aus sich ,erzeugt': als seine eigene Vollendung auf einer fortgeschrittenen Stufe der Entwicklung."4\ Damit die Gleichung vom Liberalismus und von der totalitären Ordnung aufgehen kann, muß ersterer auf den Kapitalismus reduziert werden, 4 41
M. HORKHEIMER, „Die Juden und Europa", ibid., S. 34. H. MARCUSE, Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung, in: ders., Kultur und Gesellschaft I, Frankfurt a. M. 1965, S. 32.
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denn auch für eine dialektische Beweismethode ist es ein hartes Stück Arbeit, plausibel zu machen, daß der Liberalismus gerade in Deutschland, wo es gar keinen gab, eine Ursache des Faschismus gewesen sei. Die Faschismusanalysen der Frankfurter Schule aus diesen Jahren zeigen jedoch, daß der Faschismusbegriff nicht einfach eine Kritik des kapitalistischen Systems beinhaltet, sondern eine ungebrochene Liberalismuskritik im Sinne von Marx. M. a. W. halten die Autoren der Frankfurter Schule dem Liberalismus nicht vor, daß er die früher erwähnten Trennungen, welche den Machtmißbrauch erschweren sollten, nicht konsequent genug verteidigt hat, sondern sie halten dem faschistischen Staat vor, er habe diese Trennungen nur scheinbar aufgehoben: „Mit dem Heraufkommen des Faschismus sind die für die liberalistische Epoche charakteristischen Dualismen, wie Individuum und Gesellschaft, privates und öffentliches Leben, Gesetz und Moral, Wirtschaft und Politik nicht überwunden, nicht aufgehoben, sondern zugedeckt worden" (Vorwort zu „Studies in Philosophy and Social Science", IX, 2 (1941), S. 195; Übersetzung von mir). Daraus folgt, daß der Kampf gegen die totalitäre Ordnung gar nicht im Namen der liberalistischen Werte geführt werden kann: „Heute gegen den Faschismus auf die liberalistische Denkart des 19. Jh. sich berpfen, heißt, an die Instanz appellieren, durch die er gesiegt hat".5 Damit der Faschismus zum Kristallisationspunkt, zur notwendigen Konsequenz der europäischen Geschichte stilisiert werden kann, muß er als Keim des Übels in die vermeintliche Blüte der bürgerlichen Gesellschaft zurückprojiziert werden: „Die Ordnung, die 1789 als fortschrittliche ihren Weg antrat, trug von Beginn an die Tendenz zum Nationalsozialismus in sich."6 Die ^Dialektik der Aufklärung" radikalisiert diesen letzten Satz. Nicht die neuzeitliche Aufklärung ist die Wiege des Unheils, sondern die gesamte Geschichte der bürgerlichen Zivilisation ist von seinem Anwachsen gezeichnet. Wie entwickeln nun die Autoren der „Dialektik der Aufklärung" den Begriff der bürgerlichen Zivilisation, in einer Phase, in der die Metaphysik der Subjektivität sich in den eigenen Trümern nicht mehr wiedererkennen will? Ist die enttäuschte Metaphysik der Subjektivität keine Metaphysik der Subjektivität mehr? Das Buch „Dialektik der Aufklärung" bringt keinen Beweis dafür: Der sozio-kulturelle Zusammenhang der europäischen Neuzeit wird hier nicht thematisiert, um an ihm als einer empirischen Instanz die frühe Emanzipationstheorie zu kontrollieren und nach den Ursachen für ihren Zusammenbruch zu suchen; die bürgerliche Zivilisation ist wieder nur eine Bühne, auf der das universalisierte Subjekt agiert, diesmal als
5 6
Ibid., S. 50. Ibid., S. 47.
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negativer Held. Den Anfang der Dialektik des Übels lokalisieren Horkheimer und Adorno an der Grenze, an der das Nomadentum aufhört. In Odysseus sehen sie das „Urbild ... des bürgerlichen Individuums"7, wobei die Geschichte zum bloßen unruhigen Meer seiner Abenteuer degradiert wird. Die bürgerliche Zivilisation ist sozusagen ins Anthropologische gerückt, die entscheidende Zäsur ist diejenige zwischen dem Zivilisierten und dem Magier8. Die europäische Neuzeit, in der eigentlich das Individuum wie auch die Maßstäbe für die Messung seines Scheiterns erst entstanden sind, ist für die „Dialektik der Aufklärung" nur eine Etappe auf dem Weg des Versagens: Zwischen Odysseus und Juliette liegt der Leerlauf der geschichtlichen Zeit, beide Figuren sind zwei Gestalten des gleichen, des bürgerlichen Subjekts. Der normative Absolutismus der frühen Frankfurter Schule lebt hier ungebrochen weiter. In der späten Position von Horkheimer und Adorno wird er nicht gemildert, sondern lediglich in einer Form präsentiert, die ihn ins Esoterische hebt und so dem politischen Diskurs entzieht. In dieser späten Sozialreflexion wird die Identität als der „universale Zwangsapparat" (Adorno) bezeichnet und die falsche Identität von Gesellschaft und Subjekt beklagt. Diese Theorie stellt sich eindeutig auf die Seite des Individuums, sie verteidigt das Nichtidentische und konstatiert mit Besorgnis die Auflösung des Individuums in den Industriegesellschaften. Schwierig wird es bei der Frage, welchen historischen Status das Individuelle und das Nichtidentische haben, in welcher Epoche oder Lebensform sie zuhause sind. Eine Reinterpretation des Begriffs der bürgerlichen Zivilisation und des Liberalismus wäre hier fällig, aber dann bliebe die kritische Gesellschaftstheorie ohne ihren dialektischen Kontrapunkt. Denn sie ist eine unbeirrte Kritik, die in gleichem Maße die Entstehung des Individuums wie auch seine Auflösung betrifft. Eine Versöhnung mit dem „Bestehenden" kann ihr niemand vorwerfen. Für unser Thema ist es wichtig, daß in den Nachkriegsschriften von Adorno, Horkheimer und Marcuse keine grundlegende Revision der Auffassung der 40er Jahre in bezug auf die bürgerliche Zivilisation stattfindet. Die Frankfurter Schule nimmt somit an dem doppelten Defizit des Marxismus teil: In ihrer Erkenntnisperspektive ist sie durch einen geschichtsphilosophischen Begriff der modernen Gesellschaft, d. h. der europäischen Neuzeit, blockiert. In ihren Kategorien ist weder der soziale Wandel, noch der komplexe Aufbau der modernen Welt erfaßbar. In der Handlungsperspektive zwingt die Theorie der Frankfurter Schule zum Moralismus: In den entwickelten Industriegesellschaften kann sie keine Strategie entwikkeln, die die Lage der empirischen Menschen betrifft. 7 8
M. HORKHEIMER, TH. ADORNO, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt 1971, S. 42. Ibid., S. 12.
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Zoran Djindjic
Der Zusammenhang zwischen Liberalismuskritik und beiden Defiziten ist aber besonders in den antiliberalen Gesellschaften des realen Sozialismus unverkennbar. Für die Autoren der Frankfurter Schule, die die Aufstände in Ungarn, Polen und der Tschechoslowakei noch erlebt haben, mußte es als ein hoffnungsloser Anachronismus erscheinen, daß diese Emanzipationsbewegungen ihre Programme in den Kategorien der bürgerlichen Zivilisation ausgedrückt haben.
STANISLAW CZERNIAK (Warszawa)
Die Ideologielehre Max Horkheimers (1930-1938) und ihre paradigmatische Bedeutung für die frühe Frankfurter Schule I. Drei Typen des Ideologiebegriffes In den letzten zwei Jahrhunderten hat es verschiedene Versuche zur Klärung des Ideologiebegriffes und zahlreiche Ansätze zur Ideologietheorie gegeben. Ich unterscheide in diesem Problemfeld drei Auslegungstraditionen. In der ersten Tradition wird der Terminus Ideologie auf die Ideen bezogen, denen man das Charakteristikum einer „Seinsbezogenheit" zuspricht (ich bediene mich hier einer Redeweise Mannheims), und die ideologische Analyse ist folglich ein Inbegriff von Beschreibungs- und Erklärungsmustern dieses Phänomens. Das Folgeproblem, wie man eigentlich die Kategorie des Seins begreift, ist, von dieser Taxonomieproblematik her gesehen, insofern zweitrangig, als man in die besprochene Tradition sowohl Philosophen wie Destutt de Tracy, der unter dem Begriff „Ideologieforschung" eine Prozedur der Beziehung des Ideenreiches zur physiologischen Seite der psychischen und kognitiven Akte verstand, als auch Karl Marx und seine Schüler einbeziehen kann, die die Bedingtheit der Ideen vom gesellschaftlichen Sein behaupteten, das sie als ein Bündel von Gruppeninteressen (und den ihnen entsprechenden Institutionen) der Teilnehmer am gesellschaftlichen Arbeitsprozeß interpretierten. Im Hinblick auf unseren Differenzierungsversuch ist es auch nicht entscheidend, wie man eine vorliegende „Seinsbezogenheit" der Ideen erklären würde. Den Terminus Ideologie verwenden in diesem Kontext nämlich neben den Interpreten, die an der kausalen Seinsbedingtheit der Ideenproduktion festhalten und von der reduktionistischen These des dem gesellschaftlichen Sein gegenüber ephiphänomenalen Charakters der Ideen ausgehen (vide Vulgärmarxisten), auch die Antireduktionisten, die ausschließlich den Ausdrucksformen der sozialen Eigenschaften des Erkenntnissubjektes innerhalb der Struktur seiner Erkenntnisse phänomenologisch nachgingen und oft einer Frage nach dem ontologischen Sinn dieses Konnexes aus wichen (Scheler).
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Das Wort Ideologie tritt schließlich im philosophischen Vokabular sowohl dieser Ideologieforscher auf, die, wie die Mehrheit der Marxisten, die notwendige Bedingung des Verstehens von Ideeninhalten im Rückschluß auf däi^gqsellschaftliche Sein ihrer Träger erkennen als auch bei denjenigen Theoretikern des Ideologischen, die diesen Aspekt völlig ausklammern und sich ausschließlich mit den gesellschaftlichen Mechanismen der Ideenauslese und Ideenverbreitung in den Prozessen der Wissensentwicklung beschäftigen (Scheler). Was die Tragfähigkeit der ideologischen Analysen angeht, sind die Vertreter dieser Tradition uneinig. Nach ihrer extremsten Version werden alle Ideenkomplexe zum Ideologischen gestempelt, weil davon ausgegangen wird, daß jede Idee als Fragment eines ideellen Überbaus der gesellschaftlichen Basis angesehen werden kann. Nach der gemäßigteren Version wird als das eigentliche Medium der Ideologie das Alltagsbewußtsein und alle Formen des Selbstbewußtseins von Individuen und Gruppen (einschließlich der sog. Human- und Sozialwissenschaften) angenommen, als unideologisch par excellence gelten dagegen kognitive Resultate der Natur- und analytischen Wissenschaften (so stellte sich, grob ausgedrückt, der Standpunkt Mannheims dar). Nach der ersten Auslegungsformel werden Ideen als Fragment oder vermittelter Ausdruck der gesellschaftlichen Wirklichkeit erfaßt. Die zweite und dritte Interpretationstradition setzt Ideologien mit denjenigen Ideen gleich, die bestimmte Funktionen in bezug auf individuelle, im besonderen aber auf soziale Handlungen ausüben. Als ideologisch wird nicht jede Idee betrachtet, sondern nur eine solche, die (laut der zweiten Tradition) einen instrumentellen Einfluß auf menschliche Handlungen nimmt, oder aber (im Lichte der dritten Formel) sich nicht als erfolgreiche, geschichtsadäquate Orientierungsperspektive innerhalb der gesellschaftlichen Praxis bewähren kann. Ungeachtet mancher Affinitäten unterscheidet sich die zweite, eine instrumentalistische, von der dritten, einer pragmatistischen Tradition. In beiden Fällen wird zwar das Ideologische auf die menschlichen Verhaltensweisen bezogen, die Instrumentalisten in der Ideologietheorie heben aber im allgemeinen besonders das Moment des ideenhaft vermittelten, auf das menschliche Handeln wirkenden Zwanges hervor, die dritte Tradition hingegen setzt sich über die Handlungssteuerungsprobleme und die mit ihnen einhergehenden Indoktrinationstechniken hinweg und lenkt ihre Aufmerksamkeit auf Erfolgsdefizite bei Handlungen, die durch Ideen motiviert werden, welche mit dem gesellschaftlichen Kontext dieser Handlungen nicht im Einklang stehen und den rationellen Ablauf von Handlungen (ich meine dabei die Erreichung von festgesetzten Handlungszielen bei einer gewissen Wahl der Mittel) vereiteln oder stören und gefährden. Anders gesagt, zur Ideologie wird eine Idee, die ihre strategischen und heuristischen Funktionen einzubüßen beginnt, d. h. zur
Die Ideologielehre Max Horkheimers (1930-1938)
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erfolgreichen Bewältigung der praktischen Probleme nicht mehr beiträgt und den Handlungsakteuren keine neuen, praktisch relevanten und unter gegebenen gesellschaftlichen Umständen anwendbaren und plausiblen Handlungsmuster nahelegt. Diese Kennzeichnung wird besonders für die Ideen reserviert, die „anachronistischen" Charakter aufweisen und zum schieren Ornament des gesellschaftlichen Lebens entarten. Die zweite Tradition macht von diesem Gedankengang keinen Gebrauch und konzentriert sich auf das Problem a) der Funktionen, welche die Ideen in Handlungskontexten ausüben, und b) der Arten des Eingreifens des Ideologischen in die Handlungsabläufe. Als ideologisch werden hier Ideen beschrieben, welche als Druck- und Zwangsmittel in den sozialen Interaktionen fungieren oder welche die Einzelnen als Verdrängungsmittel innerhalb ihres emotionalen Ökosystems (z. B. gegen eigene Triebreaktionen) verwenden. In diesem Bedeutungsfeld wird der Begriff Ideologie oft in Zusammenhang mit psychologischen Kategorien wie Handlungsrationalisierungen oder Interessenlegitimationen gebracht. Ideologischen Charakter trägt ein intellektueller Eingriff, der den Handlungen eine Auslegung beimißt, die ihre wirklichen Motive versteckt (vide Derivaten- und Residuentheorie von V. Pareto). Ideologisch wird demnach jede Kunst des Selbstbetruges sowie die der Verzerrung des Selbstbildes von Einzelnen und Gruppen. Im Gegensatz zur dritten Tradition werden in dieser Interpretationsperspektive alle wertphilosophischen Maßstäbe des Ideologischen suspendiert. Der Instrumentalist fragt nicht nach der „Wertbilanz" der pragmatistisch verstandenen Vorteile und Nachteile einer Handlung für den ideologisch motivierten (oder gesteuerten) Handelnden. Zum Gegenstand der Analyse werden in diesem Kontext eher die ideologisch gesteuerte Handlung selber und ihre verschiedenen soziologischen und psychologischen Komponenten. Es ist nun offensichtlich, daß aus der vorgeschlagenen Differenzierung keine logische Trennbarkeit der Kategorien hervorgeht. Konkrete Ideen können zugleich sozusagen in allen Schattierungen ihrer ideologischen Brauchbarkeit im Spiel sein. Die rudimentäre Weltanschauung z. B. (Ideologie III) kann ihren Dienst auch als Instrument der Indoktrination der Einzelnen und Gruppen leisten (Ideologie II), und die Mannheimsche „Aspektstruktur" (Ideologie im ersten Sinne als eine für das bestimmte gesellschaftliche Subjekt typische Art der kognitiven Strukturierung des empirischen Materials) kann sowohl praktisch völlig untauglich für ihre Träger sein (Ideologie III) als auch sich nachträglich als Handlungslegitimation als nützlich erweisen (Ideologie II). Dasselbe gilt auch für das bibliographische Material der Ideologiedebattengeschichte. Bei den Klassikern der Ideologietheorie (z. B. bei Mannheim) sind unterschiedliche, sich theoretisch nicht deckende Ebenen der Analyse auffindbar. Intellektuelle Moden (Beispiel: Psychoanalyse) oder
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evoluierende Formationen der philosophischen Reflexion (Beispiel: Positivismus) haben ihrerseits den Ideologie-Analysen das Gepräge der jeweiligen Epoche der Kultur- und Philosophiegeschichte gegeben, und wenn man etwa die einschlägigen Passagen bei Hobbes, Marx, Nietzsche oder Sorel vergleicht, ist es leicht nachprüfbar, daß die instrumentalistischen Auslegungen des Ideologiebegriffes in der Problemgeschichte inhaltlich voneinander stark variierten. II. Zur Rekonstruktion der Horkheimerschen Ideologielehre Im frühen Werk M. Horkheimers kann man Zitatbelege für alle drei vorgeführten Auslegungskanons vorfinden. Da sie in thematisch oft voneinander abgekoppelten Kontexten verflochten sind, tragen die folgenden Ausführungen einen typisch rekonstruktiven Charakter und versuchen nicht so sehr die Horkheimersche Ideologietheorie darzustellen, als vielmehr unter Berücksichtigung der vielspurigen Ideologiedebatte im Hintergrund auf das philosophische Umgehen Horkheimers mit dem Begriff Ideologie aufmerksam zu machen und die Verankerung seiner Konzeptionen in diesen Traditionen aufzuhellen. In den „Anfängen der bürgerlichen Geschichtsphilosophie" betont Horkheimer, daß es „gerade das Problem der Ideologie sei", den „Inhalt der religiösen, metaphysischen, moralischen Vorstellungen ... aus der Struktur der betreffenden Gesellschaft zu erklären"1. Und weiter schreibt er: „[Man kann] Inhalt und Art der geistigen Verfassung von Menschen nicht verstehen ... ohne Kenntnis der besonderen Stellung der Gruppe, der sie im gesellschaftlichen Produktionsprozeß angehören"2. Auf einen ähnlichen Aspekt des Ideologiephänomens weist auch eine andere Bemerkung des zitierten Textes hin, daß nämlich das Problem der Ideologie mit „der Beziehung als falsch erkannter herrschender Vorstellungen auf die geschichtliche Situation"3 zu identifizieren sei. In demselben Essay unterstreicht Horkheimer seinen antisubjektivistischen Standpunkt in der Ideologiedebatte. Indem er die Grundlagen der Hobbesschen Sozialphilosophie kritisch überprüft, äußert er die Meinung, daß das Ideologische an Ideen nicht als reiner Ausdruck der menschlichen Neigung gelten kann, unter Umständen die Erkenntnisse zu verzerren oder die Wahrheit zu verheimlichen. Die Ideologie ist nicht auf Lügen bzw. auf die aus Gewinn- oder Machtsucht produzierten Täuschungen zurückführbar. Die mittelalterliche Religion, und da irrte Hobbes, war nicht eine Phantasieausgeburt von raffinierten, habsüchtigen Pfaffen, son1 2 3
M. HORKHEIMER, Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1930, S. 72. Ibid., S. 73. Ibid.
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dern sie verkörperte „die Gestalt der mittelalterlichen Vernunft", weil „in dieser Religiosität ... Erkenntnis und Ideologie ziemlich ungeschieden enthalten [sind]"4. Wie leicht ersichtlich, knüpft hier Horkheimer an die erste Ideologieinterpretation an. Nur im Rahmen dieser Tradition ist es übrigens sinnvoll, einen Streit mit dem Subjektivismus in der Ideologiedebatte zu entfachen. Innerhalb der zweiten Tradition z. B. wäre eine solche antisubjektivistische Polemik philosophisch unartikulierbar, da hier eben sozial-psychologische, also zum Teil auch subjektive Faktoren der Ideologieentstehung im Bereich des menschlichen Denkens und Handelns berücksichtigt werden müssen. Zu Ideologien im zweiten Sinne werden ja oft vorsätzliche Lügen. Ein Ideologieforscher untersucht in diesem Falle nicht die gesellschaftlichen Quellen, Gestalten und Ausprägungen des Falschen, sondern die psychologisch wirksamen Mechanismen, die es ermöglichen, daß das Falsche sich als prägnanter Faktor des gesellschaftlichen Lebens etabliert. In den Werken Horkheimers kann man auch die pragmatistische Formel der Ideologie verorten. Als Beispiel dafür kann ein Kontext dienen, in dem von einer Naturrechttheorie die Rede ist, „an der starr festgehalten wurde, ohne die staatliche Wirklichkeit fortwährend mit der Zielvorstellung zu konfrontieren", was sie „schließlich zur reinen Ideologie gemacht [hat]"5. Die theoretisch wichtigste Rolle spielen aber im frühen Werk Horkheimers besonders die Bezüge, die er auf die instrumentalistische Auslegung des Ideologiebegriffes nimmt, und hier stößt man auch auf die originalsten Gedankenfunde. Den einschlägigen Standpunkt Horkheimers kann man auf folgende Hauptpunkte zurückführen: 1. Ideologisch sind „alle Verhaltensweisen der Menschen, welche die wahre Natur der auf Gegensätze aufgebauten Gesellschaft verhüllen"6. Ideologie gehört zu den Ideen, die Einzelne oder Gruppen in Konfliktsituationen bilden und in ihren Dienst nehmen. Sie dienen entweder der Tarnung der Konfliktsituation selber oder aber der Reinterpretation ihrer einzelnen Aspekte. Sie können ihre Rolle als Instrument der Negation des Konfliktbestehens oder als Motiv der Verleugnung des vorher anerkannten Inhalts eigener Interessen verrichten. 2. Eine „ideologische Funktion" wird nach Horkheimer nicht nur von ideellen Medien getragen. Ideologische Funktionen können auch bestimmte Handlungen übernehmen. Als Ideologien im engeren Sinne wären Ideen zu beschreiben, die als Produkte eines „ideologischen Appara-
4 5 6
Ibid., S. 74. Ibid., S. 90. M. HORKHEIMER, Bemerkungen über Wissenschaft und Krise, in: Zeitschrift für Sozialforschung (im folgenden ZfSF) 1/1932, S. 5.
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tes" entstehen7, d. h. von einer ausgesonderten Institution produziert werden, die in der betroffenen Gesellschaft die Realisierung von ideologischen Funktionen überwacht. Der ideologische Apparat konstituiert sich im Laufe der allmählich wachsenden gesellschaftlichen Antagonismen und Spannungen. Er gestaltet sich im Angesicht von besonders scharfen Interessenwidersprüchen zwischen den beteiligten gesellschaftlichen Gruppen, in einer Situation also, in der diese Widersprüche auch vom „durchschnittlichen Auge" durchdrungen werden8. Die Macht des ideologischen Apparates ist eine abhängige Variable des Inhomogenitätsmaßes, das den gesellschaftlichen Interessenraum kennzeichnet. „Je mehr das römische Imperium von sprengenden Tendenzen bedroht war, um so brutaler versuchten die Kaiser den alten Staatskult zu erneuern und damit das untergrabene Gefühl der Einheit herzustellen"9. 3. Ideologische Funktion pflegen sowohl objektiv richtige als auch falsche oder gefälschte Meinungen zu erfüllen. Horkheimer betont also, daß „manche Illusionen ... keine Ideologie [sind]"10, da nicht jede von ihnen unter dem Druck der Konfliktsituation entsteht. Die institutionalisierten ideologischen Funktionen kann auch die Wissenschaft ausüben. Auch in diesem Falle jedoch (der obigen Voraussetzung gemäß) braucht die Ideologiehaftigkeit der Wissenschaft keineswegs darin zu bestehen, daß „sie falsche Urteile enthält", sondern z. B. „in ihrer mangelnden Klarheit, ihrer Ratlosigkeit, ihrer verhüllenden Sprache ... und vor allem in dem, wovor sie die Augen verschließt"11. Dieses Beispiel legt die Unterschiede nahe, welche zwischen einer Ideologie im strengen Sinne und einer ideologischen Funktion, resp. zwischen ideologisch geprägten Ideen und den Handlungen, die einen objektiv ideologischen Sinn enthalten, bestehen. (Das Verschweigen ist keine ideologisch gefärbte Idee, sondern eine ideologisch motivierte Handlung.) 4. Man kann mehrere Strategien nennen, die es ermöglichen, das verletzte Interessengleichgewicht wiederherzustellen. Im allgemeinen beruht dieses ideologische Verfahren darauf, daß, wie erwähnt, das Bewußtsein der Konfliktsituation verdrängt oder aber eine Reinterpretation der Interessen vorgenommen oder aufgezwungen wird. Als klassisches Beispiel der ideologischen Neutralisierung des Konfliktbewußtseins stellt Horkheimer die metaphysische Reflexion hin, die „von den Ursachen der gesellschaftlichen Krise [ablenkt] und sogar die Mittel zu ihrer Erforschung [entwertet]"12. 7
Vgl. ibid.
8
Vgl. ibid. Ibid., S. 5 f. Ibid., S. 5. Vgl. ibid. S. 6. Ibid., S. 5.
9 10 11 12
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Die ideologische Verzerrung des Interessenbewußtseins spricht Horkheimer hingegen z. B. der Reformation mit ihrem sittlichen Rigorismus und Askesekult zu. Die Verbreitung von asketischen Verhaltensweisen lag im Interesse der gesellschaftlichen Oligarchien des aufkommenden Kapitalismus, die die Mentalität der Massen nach den Erfordernissen der Manufakturtechnik zurechtstutzen wollten, widersprach aber den faktischen Interessen des Kleinbürgertums. Denn im Interessenbereich des letzteren lag nicht die Alltagsaskese, sondern „das gemeinsame Handeln"13 im sozialen Kampf um die Verteilung des gesellschaftlichen Gesamtproduktes. Die Situation der ideologischen Einflußnahme auf die Artikulation von Gruppeninteressen kann man mit folgendem Schema illustrieren: Gruppeninteresse X \ / Ideologische Gruppeninteresse ' Mitteilung
Ideologische Rollen
Unter das Schema fallen die Eigenarten der ideologischen Aktivitäten von Cola di Rienzo, Savonarola, Luther oder Robespierre, derer Geschicke und Taten sich Horkheimer in „Egoismus und Freiheitsbewegung" annimmt. Alle diese Reformatoren des politischen und religiösen Lebens befanden sich nämlich in einer Doppelrelation, die sie einerseits mit den von ihnen faktisch vertretenen Interessen der herrschenden Eliten und andererseits mit den ihrerseits zum Gegenstand der ideologischen Manipulation gemachten Interessen der Massen eingingen. Die Sonderstellung der ideologischen Tätigkeit bestand hier nicht nur darin, daß man das eine Interesse vertreten, das andere verzerren wollte, sondern auch in der Verschleierung dieser Dualität, um die Adressaten der ideologischen Mitteilung dazu zu bringen, daß sie sich freiwillig der Indoktrinationen unterzögen. Als Resultat dieser internen Spannung innerhalb des ideologischen Handlungsfeldes hebt Horkheimer die Irrationalisierung der Einstellung der Massen den Ideologen gegenüber hervor, die um ihr Vertrauen mit den Kunstgriffen der Massenpsychologie werben. Spannungen sind hier Zeichen einer einzigartigen Dialektik der Artikulation und Verheimlichung im Ideologischen. Der Ideologe artikuliert gewisse Interessen, indem er das Bewußtsein von Trägern der konkurrierenden Interessen deformiert, und die Ausduckswahrheit pflegt hier mit der Verlogenheit der Mystfikationen einherzugehen14. 5. Die ideologische Situation ist durch zwei wesentliche Eigenschaften gekennzeichnet, und zwar durch Zwang und das falsche Bewußtsein, das legitimierende und rationalisierende Funktionen im Handlungsspielraum ausübt. Rationalisierungen und Legitimationen erscheinen als Techniken 13 14
M. HORKHEIMER, Egoismus und Freiheitsbewegung, ZfSF 5/1936, S. 168. Vgl. ibid., S. 169.
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des „Fertigwerdens" der Einzelnen und Gruppen mit dem internen oder äußeren Zwang. Interesse X
Zwang
Steuerung
/ Ideologische Mitteilung Interesse
Falsches Bewußtsein
Legitimationen Rationalisierungen
Im allgemeinen ändern die Menschen eigene Interpretationen ihrer Interessen nicht aus freiem Willen. Der Ideologe muß sie also zu diesem Zweck unter den ideologischen Zwang setzen, dem sich nicht selten auch physischer Zwang anschließt. Den psychischen Zwang hat z. B. die ideologische Rede der Reformatoren in Anspruch genommen15, die mit Spannungen aufgeladene Predigt, welche vor den Gläubigen das Bild des in ihnen steckenden Bösen, der ihnen folglich drohenden Höllenstrafen und schließlich der erlösenden Segnung der asketischen Haltung entfaltet. Dem Druck der Bilder und Metaphern stand hier auch der institutionell gesicherte Zwang zur Seite, denn in vielen Gegenden stand in den protestantischen Gemeinden die Teilnahme an Gottesdiensten, wie Horkheimer unterstreicht, unter Sanktionen16. Andererseits aber verfälscht eine ideologisch motivierte Reinterpretation der Interessen deren Bild. Das falsche Bewußtsein wird also in diesem Argumentationsrahmen zum unumgänglichen Korrelat der Ideologie. Die Ideologie selber, wie wir wissen, kann wahre und auch falsche Urteile enthalten, die Auswirkungen der ideologischen Indoktrination führen hingegen notwendigerweise zum falschen Bewußtsein. Die ideologische Situation läßt also in den historischen Beschreibungen Horkheimers den wichtigen Zusammenhang zwischen dem gesellschaftlich geübten Zwang und den gesellschaftlichen Illusionen zutage treten und zeigt, wie sich hier die Mechanismen der gesellschaftlichen Steuerung mit den Akten der Rationalisierungen ergänzen. Horkheimer hebt hervor, daß ein Erfolg der ideologischen Vermittlung nicht vollkommen wird, wenn der äußere Druck (die ideologische Rede) nicht in den internen Druck der Rationalisierungen umgesetzt wird, d. h. wenn die ideologische Indoktrination keine Verlängerung in den psychologischen Sanktionsmustern findet, die den Bestand der ideologischen Bewußtseinsverzerrungen gewährleisten sollen17.
15 16 17
Vgl. ibid., S. 191. Vgl. ibid., S. 195. Vgl. ibid., S. 188-189.
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6. Die Konzeption Horkheimers wirft einige offene Fragen auf. In welchem Maße z. B., so läßt sich fragen, wirkt sich das Selbstbewußtsein der Funktionäre des ideologischen Apparates auf die Tragweite der ideologischen Mitteilung aus? Es handelt sich wohlgemerkt dabei nicht nur um einen trivialen Zusammenhang, der darin bestünde, daß das Zureden um so erfolgreicher wäre, um so restloser sich sein Subjekt mit seiner Rolle identifizierte, sondern auch darum, daß (da der Ideologe die von ihm vertretenen Interessen innerhalb seines Wirkungsfeldes nicht offen thematisieren kann) sein Verhältnis zu seinen ideologischen Auftraggebern selber zu einem Gebiet der legitimierenden Verfahren wird. Legitimationen zu eigenem Gebrauch bringen auch Ideologen hervor. Die Ideologietheorie muß also folglich ideologische Prozesse innerhalb des ideologischen Apparates zu ihrem Gegenstand machen. Damit hängt die Rolle zusammen, welche in der Ausbreitung von Ideologien ihre Medien spielen. Sind sie nur ein neutrales Instrument der Vermittlung oder kreieren sie Formen und Inhalte des Ideologischen mit? Es taucht hier das einst von M. McLuhan diskutierte Problem eines Propagandawertes der einzelnen Massenmedien und der mit ihnen gekoppelten Informationstechniken auf. Ein anderes Problem ist die Frage, wie sich die interne Struktur der ideologischen Situation ändern würde, wenn die Ideologie unmittelbar nicht als Instrument der Interessenkonfliktmediatisierung eingriffe, sondern als Mahnung und Hinweis auf die verkannten Interessen der ganzen Gemeinschaft sich anböte. Was geschähe, wenn die ideologische Rede einen direkten Bezug auf die Gattungsinteressen nähme? Könnte man unter solchen Umständen noch über das falsche Bewußtsein reden? Die ideologisch herbeigeführte Wiederentdeckung eines Gattungsinteresses könnte doch die subjektive Anerkennung der Konvergenz dieses Interesses mit den partikularen Standpunkten nach sich ziehen. Ideologie trüge also zur Interessentransparenz bei. Andererseits aber bestünden in dem strikt ideologischen Argumentationsfeld der Zwang und seine aufklärenden Funktionen fort. Das Problem könnte man auch wie folgt ausdrücken: Produziert der ideologische Zwang das falsche Bewußtsein auch im Falle der objektiven Interesseneinheit von beteiligten Parteien? Die Antwort auf diese Frage versuchte, wie bekannt, J. Habermas in seiner Konzeption der transzendentalen Bedingungen praktischer Diskurse zu geben. Im Lichte seines Standpunktes ist das Ideologische in Verletzungen dessen verankert, was man als Rahmen des gesellschaftlichen Konsenses beschreibt. Nur dort, wo die Einzelnen ihre Interessen durch freie Argumentationen auslegen und gegenseitig abstimmen, kann es zur Entstehung von universalen Interessen kommen. Das Gattungsinteresse, das sich nicht auf diesem Wege des konsensintendierenden Argumentierens herauskristallisiert, existiert eben nicht und kann höchstens zum Gegenstand einer sich als gemeinnützlich hinstellenden ideologischen Zumutung stilisiert
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werden. Indem man es ex cathedra für universal erklärt, verfällt man zwangsläufig ins Ideologische, und zwar auch dann, wenn es sich nachträglich erweisen ließe, daß der mögliche Konsens mit der ideologischen Mitteilung zusammenfiele. Und schließlich entsteht die Frage nach der Klärung dessen, was man als Zusammenspiel von Präsentation und Verdrängung mit der Kreation im ideologischen Spannungsfeld beschreiben könnte. Horkheimer geht davon aus, daß menschliche Interessen eine gewisse anthropologische oder geschichtlich vorgegebene Invariante darstellen, welche die Ideologien ihrerseits ausdrücken oder entstellen. Es werden hier zwei Typen von Umständen außer acht gelassen, die das Problembild komplizieren könnten. Es ist nämlich eine Situation nicht auszuschließen, in der die Akte des ideologischen Druckes Sensibilität für gewisse Interessen auf beiden Seiten der ideologischen Barrikade erhöhen oder sogar erwecken. Ideologie kann in manchen Fällen zum Instrument der „Interesseninduktion" aufrücken, und da sie ursprünglich ideologisch nicht mitintendiert waren, können sie nicht sofort durch den ideologischen Apparat aufgefangen werden. Diese ideologisch bedingte Interessenkreation könnte sich zum anderen auch mit den Entfremdungserscheinungen innerhalb des ideologischen Apparates verbinden. Horkheimer setzt voraus, daß die Ideologen keine eigenen, unter Umständen auch ideologiefeindlichen Interessen entwickeln. Aber erst ein Vergleich von vertretenen, manipulierten und mitkreierten Interessen würde zu einem adäquaten Bild der Homogenität des ideologischen Apparates angesichts der ihm begegneten praktischen Aufgaben verhelfen. III. Die paradigmatische Bedeutung der Horkheimerschen Ideologielehre für die frühe Frankfurter Schule War die Horkheimersche Konzeption der Ideologie ein Paradigma im soziologischen Sinne18, d. h. hat sie eine integrierende Funktion auf dem Gebiet der philosophischen Reflexion der Denker, die man der Frankfurter Schule zurechnet, ausgeübt? Diese Frage bejaht H. Dubiel, indem er den Zusammenhang zwischen der „konzeptuellen Vorgabe" (das Horkheimersche Konzept der Ideologie) und „der fachwissenschaftlichen Spezifikation" feststellt (er versteht darunter den Gebrauch, welchen in der uns interessierenden Zeitspanne L. Löwenthal und P. L. Landsberg in ihren in der Zeitschrift für Sozialforschung veröffentlichten Essays von der Ideologieproblematik gemacht haben). Nach Auffassung Dubiels a) haben die obengenannten Denker die Horkheimersche Ideologiedefinition pau18
Vgl. M. MASTERMAN, Die Natur eines Paradigmas, in: I. Lakatos, A. MUSGRAVE, Kritik und Erkenntnisfortschritt, Braunschweig 1974, S. 61—66.
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schal übernommen; b) verwendeten sie sie in dem Kontext einer Ideologiekritik, die Horkheimer für das wesentlichste Gebiet der Ideologiedebatte angesehen haben sollte; c) entwickelten sie Unterdisziplinen, in denen sie sich des von Horkheimer etablierten Begriffsinstrumentariums bedienten19. Im Falle Löwenthals wurde Horkheimers ideologietheoretischer Ansatz in die Sprache der Einzelanalysen der Literaturkritik übertragen; Landsberg untersuchte im Hintergrund der neuesten anthropologischen und biologischen Forschungen die gesellschaftlichen Funktionen von Rassenideologien. In einer zum Teil polemischen Anknüpfung an die These Dubiels möchte ich im folgenden einen kurzen Überblick über die einschlägigen Passagen bei Löwenthal und Landsberg geben und zum Schluß das Begriffsgefüge: „die paradigmatische Funktion der Horkheimerschen Ideologielehre" summarisch kommentieren. 1. Nun ist es unzweifelhaft, daß sowohl Löwenthal als auch Landsberg eine Definition des Ideologischen anwenden, die auf den Horkheimerschen Standpunkt zurückzuweisen scheint. Löwenthal schreibt über „die ideologische Vertuschung der gesellschaftlichen Gegensätze"20; Landsberg, mehr allgemein, über die „soziale Funktion", die Ideologien „in der Gesellschaft und in ihren Kämpfen" ausüben21. Wir haben es hier mit dem Ideologiebegriff II zu tun. Landsberg knüpft nur an diese Interpretation des Ideologischen an; Löwenthal greift in seiner Schrift „Zur gesellschaftlichen Lage der Literatur" auch auf das erste Definitionsmuster zurück, indem er das Problem der Art und Weise aufgreift, in der sich die soziale Struktur im literarischen Gewebe der einzelnen Kunstwerke manifestieren kann. Weder bei Löwenthal noch bei Landsberg hingegen taucht die pragmatistische Interpretation der Ideologie auf. Die Tatsache, daß Löwenthal zwei verschiedene Topoi der Ideologiedebatte aufnimmt, hat zur Folge, daß er in seinen Forschungen mehrdimensionell verfährt. Einerseits betreibt er eine Literatursoziologie unter dem Zeichen der Wissenssoziologie Mannheims, indem er die gesellschaftlichen Bedingtheiten der schönen Literatur (am Beispiel der literarischen Form, des Motivs und des Stoffes) aufspürt. Von diesem analytischen Blickpunkt her trägt die Literatur das ideologische Gewand dadurch, daß im literarischen Material auch ohne Wissen der Autoren und unabhängig von ihren Intentionen sich neben anderen „Wirklichkeiten" (z. B. der subjektiven Wirklichkeit des Schaffenden) die Sphäre der gesellschaftlichen Gruppeninteressen oder aber die Hauptzüge der
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Vgl. H. DUBIEL, Wissenschaftsorganisation und politische Erfahrung, F. a. M. 1978, S. 178-180. L. LÖWENTHAL, Zur gesellschaftlichen Lage der Literatur, ZfSF 1/1932, S. 95. P. L. LANDSBERG, Rassenideologie und Rassenwissenschaft, ZfSF 2/1933, S. 388.
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gesellschaftlichen Struktur (der die subjektive Wirklichkeit der Autoren angehört) ausdrücken können. Aus den Ausführungen Dubiels, der nur über die „ideologiekritischen" Interessen Löwenthals spricht, ginge hervor, daß auch die Analyse dieses Typs sich als eine Art Ideologiekritik ausgibt, Löwenthal selber nennt sie aber „Ideologieforschung"22. Und in der Tat, die Literatursoziologie, welche z. B. den Zusammenhang zwischen der dialogischen Narration in der deutschen Prosa des XIX. Jahrhunderts und der ökonomischen Lage des Bürgertums erschließt, „kritisiert" nicht die bürgerliche Ideologie anhand anderer ideologischer oder außerideologischer weltanschaulicher Positionen, sondern untersucht (mittels der wissenssoziologischen Operation der sog. „Zurechnung"23) ausgewählte Bedingtheiten und Korrelationen zwischen zwei Bezugsebenen (Literatur und Gesellschaft). Als Kritiker der Ideologie tritt Löwenthal dagegen andererseits in seiner Schrift „Das Individuum in der individualistischen Gesellschaft. Bemerkungen über Ibsen" auf, hier aber beschäftigt er sich schon mit einer anderen Funktion der Literatur. Sie wird nämlich nicht mehr als eines der vielen Medien der gesellschaftlichen „Einflüsse" in Betracht gezogen, sondern als Instrument einer gegen das Ideologische schlechthin gerichteten Bloßlegung anerkannt. Im Werk Ibsens will Löwenthal eine verkappte Diagnose unlösbarer Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft wie auch der Kluft zwischen der liberalistischen Ideologie und der Erfahrung der in der liberalistisch gestalteten Welt lebenden Menschen gewahr werden.24 Die Funktion der Ideologiekritik wird in dieser Problemfassung von der Literatur selbst übernommen, und die Literaturkritik artikuliert nur nachträglich das an literarischen Werken anhaftende kritische Potential. Löwenthal geht hier eigentlich über die Grenzen der frühen Horkheimerschen Ideologielehre hinaus, denn Horkheimer griff in ihrem Rahmen die Problematik der Ideologiekritik und ihrer Instrumente direkt nicht auf. Erst aus den philosophischen Grundfesten der „Traditionellen und kritischen Theorie" (1937) geht hervor, daß Horkheimer von Positionen eines Diagnostikers der Verwicklungen des Wissens (Ideologie I) und eines Analytikers der gesellschaftlichen Funktion der Ideen (Ideologie II) zu einer totalen philosophischen Kritik der angetroffenen gesellschaftlichen Wirklichkeit übergeht. Die Funktionen, welche Horkheimer der Philosophie schlechthin oder der kritischen Theorie nun zuschreibt, erblickt Löwenthal in den geistigen Potenzen der schönen Literatur selber. Denn auch das literarische Kunstwerk (dieselbe Idee taucht oft beim späten 22 23 24
L. LÖWENTHAL, op. cit., S. 95. Vgl. M. KRÜGER, Wissenssoziologie, Stuttgart 1981, S. 96-106. L. LÖWENTHAL, Das Individuum in der individualistischen Gesellschaft. Bemerkungen über Ibsen, ZfSF 5/1936, S. 321 -361.
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Marcuse auf) kann man nach seiner Auffassung als Instrument der Emanzipation der Menschheit von den Widersprüchen der um solche Werte wie Wettbewerb und Aneignung von Sachgütern organisierten Gesellschaft ansehen. Bei Löwenthal ist dagegen ein Analogon zur Horkheimerschen Reformationsanalyse zu finden. Löwenthal baut das Schema (S. 291) aus, indem er ihm die Form eines Dreiecksverhältnisses zwischen den ideologischen Mitteilungen und der Literaturkritik (die hier als einzigartige Formel des ideologischen Zwanges durch Lektüremuster ins Spiel gebracht wird) aufprägt. Interesse X \ / Das literaritische Werk Interesse '
Literaturkritik
Literatur, anders als es bei der ideologischen Rede der Fall war, geht ihrer ideologischen Funktion nicht unmittelbar, sondern durch Vermittlung des literarischen Marktes nach, der den Lesern ideologisch erwünschte Lektüreschemata aufzwingen will. Am Beispiel der „Auffassung Dostojewskis im Vorkriegsdeutschland" zeigt Löwenthal, wie die Literaturkritik das deutsche Kleinbürgertum in die Lektüre des russischen Schriftstellers einübte, d.h. ihm die ideologisch abgesicherten Antworten auf seine existentiellen Nöte nahelegte, die es im Werk von Dostojewski entdecken sollte25. Im Vergleich zu Löwenthal verwendet Landsberg eine ziemlich enge Applikationsprozedur. Auf der Folie der Rassenideologien zeigt und kritisiert er zugleich die von ihnen verrichteten Legitimationsfunktionen. Seine Argumentationen werden im Rahmen der instrumentalistischen Analyse (Ideologie II) ausgeführt und theoretisch bereichern sie den Horkheimerschen Ansatz kaum. 2. Was den „paradigmatischen" Sinn der Horkheimerschen Ideologielehre anbelangt, fällt es vor allem auf, daß weder Löwenthal noch Landsberg die Ideologie-Äußerungen Horkheimers zitieren. Die Texte von Horkheimer spielen hier keine Rolle eines klassisch-paradigmatischen Bezugspunktes. Das würde für eine These sprechen, daß die von uns dargelegten Applikationen der Horkheimerschen Kategorien keinem theoretischen Diskurs angehören, dessen Gesamtsubjekt die von uns besprochene philosophische Schule wäre. Beide Denker beziehen ihre Forschungspositionen sozusagen programmatisch außerhalb des Gebietes ideologietheoretischer Überlegungen. Es besteht eigentlich nur ein wichtiger Berührungspunkt zwischen 25
Vgl. L. LÖWENTHAL, Die Auffassung Dostojewskis im Vorkriegsdeutschland, ZfSF 3/ 1934, S. 343-381.
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der Horkheimerschen und ihren eigenen Konzeptionen, und zwar im Ideologiebegriff selbst. Sie greifen jedoch auf den ideologietheoretischen Ansatz Horkheimers sowie auf die vielen von ihm aufgeworfenen Forschungsfragen nicht zurück. Löwenthal und Landsberg setzen wichtige theoretische Grundpositionen zur Natur des Ideologischen von vornherein voraus, die sie in ihrer Forschungspraxis nicht thematisieren, und ihre ganze interpretatorische Leistung trägt ausschließlich einen subdisziplinären Charakter. Löwenthal interessiert sich nicht für das Problem „des Ideologischen" schlechthin, sondern nur für das Ideologische auf dem Gebiet der Literatur. Er führt sozusagen Feldforschungen mit den übernommenen Begriffsmitteln aus. Der Gang dieser Forschungen folgte, wie es scheint, der allgemeinen Evolution der Horkheimerschen Philosophie (siehe eine Akzentverschiebung bei Löwenthal, auf die wir aufmerksam machten), es mangelt aber hier an sichtbaren Rückkopplungen, und die Theorie wird bei konkreten Forschungsproblemen als eine Berufungsinstanz nicht herangezogen. Man dürfte in diesem Falle etwa nur über eine gemeinsame philosophische Optik reden. Als das paradigmatische Bindeglied gilt nicht so sehr die Struktur einer Ideologietheorie, als vielmehr die philosophisch-politischen Präferenzen und die mit ihnen verknüpften kategorial-terminologischen Optionen. Gemeinsame Problemlösungsstrategien sind in dem zitierten bibliographischen Material schwer zu finden. Man ist sich nur über die Bestimmungen der Begriffe und ihre Forschungsrelevanz einig. Der Terminus Paradigma hat hier mithin einen mehr kategorial-hermeneutischen als theoretisch-heuristischen Sinn. Die gemeinsam anerkannte kategoriale Basis soll den Applikationsversuchen dienen. Die Applikationen selber gestalten aber die Theorie kaum mit, sondern tragen nur zu ihrer Verbreitung bei, und ihre theoretische Bedeutung begrenzt sich auf die subdisziplinären Einzelforschungen. Die Frage, ob sich dies auch für andere philosophisch-theoretische Affinitäten der Mitglieder der Frankfurter Schule verallgemeinern ließe (Dubiel nennt neben der Ideologietheorie auch Sozialpsychologie und Faschismustheorie als paradigmatisches Forschungsfeld der Frankfurter), bleibt offen und würde nach weiteren Untersuchungen verlangen. Vielversprechendes Objekt der Analyse scheinen in diesem Kontext die der Identität der Kritischen Theorie gewidmeten Essays von Horkheimer und Marcuse zu sein. Beide Denker treten als Verfechter derselben philosophischen Konzeption auf. Es bietet sich also die Frage an, ob wir hier eine völlig einheitliche Auslegung der Idee einer Kritischen Theorie vorfinden.
LOLLE NAUTA (Groningen)
Heuristischer Wert und Unwert der Dialektik l.a) An die Geschichte der Philosophie sollte man nicht herangehen, ohne sowohl eine Außenperspektive als auch eine Innenperspektive anzulegen. Bei der Analyse einer philosophischen Position in der Vergangenheit handelt es sich erstens natürlich um die Frage, welche Probleme der betreffende Philosoph sich zu lösen vornahm und welche logischen und konzeptuellen Mittel ihm dabei zur Verfügung standen. Hier sollte man so viel wie möglich vermeiden, Probleme unserer Zeit an ihn heranzutragen. Vielleicht existierten diese Probleme für ihn gar nicht und wenn schon, dann vielleicht in ganz anderer Form. Nicht alle Rätsel sind ewig. Die Idee, daß jede Zeit ihre eigene Antwort auf dieselben überhistorischen Fragen zu geben hat, ist selber eine zeitgebundene Konzeption. Nachdem aber die Innenperspektive eines Philosophen so historisch adäquat rekonstruiert worden ist, sind zeitgemäße Fragen angebracht. Der Anspruch, daß diese Fragen auch damals auf der Tagesordnung standen, braucht gar nicht erst erhoben zu werden, um sie trotzdem stellen zu dürfen. Es ist ja möglich, daß bestimmte historische Lösungen in der Außenperspektive, zurückblickend von heutigen Fragen her, problematisch erscheinen müssen. Besonders bei Denkern oder Philosophen, die heutzutage einflußreich sind, ist eine solche Außenperspektive angebracht. Spätere Entwicklungen können einen nun einmal besonders hellhörig machen für die Beschränkungen, denen ein Theoretiker damals unterlag, und mit Fortschrittsoptimismus braucht eine solche Retrospektive gar nichts zu tun zu haben. Wer z. B. meint, Marx und Engels hätten unsere Ökologieprobleme schon lösen sollen, macht einen Fehler in seiner Rekonstruktion der Innenperspektive. Wer aber glaubt, das historisch-materialistische Paradigma sei gegen ökologische Fragen gefeit, vernachlässigt die Notwendigkeit einer Außenperspektive und verändert die Geschichte der Philosophie in ein Museum, dem jede Anregung für die Gegenwart fehlt. Sein Philosoph ist, mit den Worten von Marx, ein toter Hund. b) Dem folgenden Referat liegt eine These über die Dialektik zugrunde, die ohne die Differenz von Innen- und Außenperspektive leicht mißverstanden werden kann. Ich will nämlich die Behauptung verteidigen, daß dem
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materialistischen Programm von Marx und Engels, dank der Übernahme der dialektischen Methode von Hegel, bestimmte idealistische Prämissen zugrunde gelegen haben. Von einer Innenperspektive her gesehen, ist eine derartige Behauptung geradezu widersinnig. Marx und Engels meinten ja, gerade die dialektische Methode verschaffe ihnen die Möglichkeit, die wirklichen Bewegungsformen der Geschichte aufzudecken. Dabei sind sie sich der „Mystifikation, welche die Dialektik in Hegels Händen erleidet", scharf bewußt. Daß man die idealistische Dialektik „umstülpen [muß], um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken" (26,1, S. 27) — ist seitdem so oft wiederholt worden, daß es für die meisten marxistischen Theoretiker eine pure Selbstverständlichkeit ist. Von der Innenperspektive her gesehen, hätten Marx und Engels ohne die dialektische Methode ihr materialistisches Programm nie auf die Beine stellen können. Deckt man die von ihnen vorgenommene Theoriebildung aber von der Außenperspektive auf, die sich am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts ergibt, dann sieht das Panorama auf einmal ganz anders aus. Wir kennen heute die ideologische und repressive Wirkung, die von dem teleologischen Geschichtsbild ausging, das Marx und Engels von Hegel übernommen haben. So unterschiedliche Denker wie Popper und Althusser haben hier schwerwiegende Bedenken angemeldet. Welche Rolle der „Mythos der menschlichen Selbstidentität" — eine Voraussetzung, die Marx und Engels gleichermaßen mit Hegel teilen — in der marxistischen Theorie gespielt hat, ist von Kolakowski aufgedeckt worden. Man braucht dessen mangelndes Interesse an Forschungsprogrammen historisch-materialistischer Art nicht zu teilen, um trotzdem die Berechtigung seiner Kritik anerkennen zu können. Und ein letztes Beispiel: Colletti hat in hochinteressanten und von den heutigen „Frankfurtern" ungenügend berücksichtigten Untersuchungen gezeigt, welche spezifisch idealistischen Annahmen, aus Hegels Logik stammend, dem dialektischen Materialismus von Engels bis Lenin und Stalin eigen sind. Dieselbe dialektische Methode, die Marx und Engels zu ihrer Kritik an der deutschen idealistischen Philosophie und der englischen politischen Ökonomie befähigte, erweist sich im nachhinein als Träger idealistischer Prämissen, die sie in methodologischer und konzeptueller Hinsicht zu Kindern ihrer Zeit stempeln. 2.a) Wenn diese These, die ich im vorigen nur exemplifiziert und nicht bewiesen habe, zu Recht besteht, dann bedeutet das für die Frankfurter der ersten Generation eine mit erheblichen philosophischen Schwierigkeiten belastete philosophische Ausgangsposition. Verglichen mit dem reifen Marx und Engels, wiegt bei ihnen einerseits das Hegeische Erbe schwerer. Ihre Kritik am Paradigma der Zweiten Internationale wird ja von einer Re-Hegelianisierung des Marxismus getragen, die Lukacs bewirkt hat.
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Andererseits aber geben Frankfurter wie Fromm und Horkheimer sich nicht mit Hegel und Lukäcs zufrieden. Das Institut für Sozialforschung initiiert ein interdisziplinäres materialistisches Forschungsprogramm, das Einsichten zu gewinnen sucht in „den systematischen Zusammenhang zwischen .seelischem Apparat' und gesellschaftlicher Entwicklung" (11, S. 8), die man bei Hegel und Lukäcs nicht findet. Die frühen Frankfurter befinden sich in Einklang mit der Hegel-Kritik von Marx und Engels. Vorausgesetzt, daß die idealistischen Prämissen des dialektischen Paradigmas die Ausführung des materialistischen Programms frustrieren würden, ist davon jedoch wenig zu merken. Im Gegenteil. Wenn man die Rede Horkheimers studiert, womit er die Leitung des Instituts übernimmt, so ist sonnenklar, daß er die neuen Pläne fast nahtlos aus der Konzeption Hegels ableiten zu können meint. Die zentrale Frage, die von Horkheimer herausgearbeitet wird, betrifft den Zusammenhang „zwischen dem wirtschaftlichen Leben der Gesellschaft, der psychischen Entwicklung der Individuen und den Veränderungen auf den Kulturgebieten im engeren Sinn" (14, S. 43). Darauf sollen sich die kommenden Untersuchungen empirisch und theoretisch konzentrieren, und damit wird de facto die „paradigm-shift", die die Frankfurter Schule im westlichen Marxismus bewirkt hat, eingeleitet. In diesem selben Zusammenhang heißt es nun: „Der Vorsatz, die Beziehungen zwischen diesen drei Verläufen zu erforschen, ist nichts als eine den zur Verfügung stehenden Methoden wie dem Stand unseres Wissens angepaßtere Formulierung der alten Frage nach dem Zusammenhang von besonderer Existenz und allgemeiner Vernunft, von Realität und Idee, von Leben und Geist, nur eben auf die neue Problemkonstellation bezogen" (id.). Hegel steht Pate. Die Sprache, in der das neue Programm formuliert wird, ist bloß etwas differenzierter als die Sprache des deutschen philosophischen Erbes. Eine Diskontinuität zwischen der früheren philosophischen Tradition und der neu zu etablierenden gibt es in sprachlicher Hinsicht nicht. b) Wie das zu erklären ist, läßt sich an dem frühen Aufsatz „Geschichte und Psychologie" verdeutlichen. Horkheimer schreibt hier über die Art und Weise, wie Marx und Engels die Dialektik in einem materialistischen Sinne übernommen haben, und stellt dann fest, daß nach ihnen im Gegensatz zu Hegel „der Geschichte nichts zugrunde [liegt]" (15, S. 130). Einen Geist, der zu sich kommen würde, gibt es einfach nicht. Zugleich aber schreibt Horkheimer auf derselben Seite, daß die geschichtlichen Aktoren „eingespannt [sind] in geschichtliche Bildungen, die ihre eigene Dynamik haben". So gesehen kann anscheinend in einem positiven Sinne von etwas der Geschichte Zugrundeliegendem gesprochen werden, und die Erklärung dieser allein in der Außenperspektive sich ergebenden Inkonsequenz ist klar. Horkheimer ist, wie fast alle Marxisten seiner Zeit, einverstanden mit dem Gedanken von Marx, daß man die Dialektik von Hegel
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übernehmen kann, ohne den damit implizierten philosophischen Inhalten auch nur in irgendeiner Weise beizupflichten. Von seiner Innenperspektive her schiebt er den philosophischen Idealismus ebenso radikal beiseite wie seine großen Vorgänger. Es fallt ihm nicht ein, außer methodische und inhaltliche Aspekte auch sprachliche Aspekte an der Sache, um die es ihm geht, zu unterscheiden. Dafür ist es einfach noch zu früh. Die vielen schon klar zutage tretenden Risse im historischmaterialistischen Paradigma der zwanziger Jahre bleiben noch vom gemeinsamen „universe of discourse" überdeckt. Die Kluft, die die Marxisten von Hegel scheidet, ist statt logisch-konzeptueller inhaltlicher Natur. 3.a) Bezüglich der dialektischen Methode sind in den letzten Jahrzehnten interessante Untersuchungen durchgeführt worden. Was die logisch-historischen Aspekte angeht, verweise ich auf die grundlegenden Arbeiten von E. M. Barth. Im Umkreis des Kritischen Rationalismus findet man ausführliche methodologische und ideologiekritische Analysen des Dialektik-Problems. Und das eng mit dem dialektischen Denken verbundene Subjekt-Objekt-Modell ist bekanntlich von Habermas ausführlich analysiert worden. Hier möchte ich die wissenschafts-praktische Frage nach dem heuristischen Wert einer Gesellschaftstheorie, die mit dialektischen Prämissen arbeitet, aufwerfen. Ich lasse also die Probleme, die sich z. B. aus der logischen Unvollständigkeit einer dialektischen Theorie ergeben, beiseite und stelle nur die Frage, inwieweit die Theorie für das Ziel, wozu sie geschaffen wurde, de facto geeignet ist. Welche Forschungsziele werden von einem Dialektiker, ob er nun Hegelianer oder Marxist ist, angestrebt, und inwieweit kann er diese Ziele mit seiner Theorie erreichen? Bei der Frage nach dem heuristischen Wert einer wissenschaftlichen oder philosophischen Theorie handelt es sich um ihr Forschungspotential. Einerseits handelt es sich dabei um ihr Vermögen, Phänomene, die außer der Sichtweite vorhergehender Theoretiker bleiben mußten, zu erklären und zu artikulieren. Andererseits steht dabei die Frage zur Debatte, welche Phänomene außerhalb seiner eigenen Theoriedomäne bleiben müssen und unmöglich von der eigenen Theorie anvisiert werden können. Es mag klar sein, daß es der letzten Frage in unserer Zeit, wo so viel von Rekonstruktion der marxistischen Theorie die Rede ist, nicht an Aktualität fehlt. Besonders ein Nachgehen dieser Frage in bezug auf die Rolle der Dialektik in der Frankfurter Schule kann für uns lehrreich sein. b) Wenn man von der Außenperspektive her die Theorien Hegels und Marxens als soziologische Theorien avant la lettre auffaßt, dann genügen m. E. bezüglich der heuristischen Ziele, die man sich steckte, im großen und ganzen zwei Feststellungen.
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Die erste betrifft die globalen Ziele von Hegel und Marx. Ihre Theorie soll imstande sein, Veränderungsprozesse zu beschreiben. Die Dialektik ist für Hegel ein Instrument, Bewußtseinskategorien zu historisieren und entwicklungsgeschichtlich zu verstehen. Was für uns — Nachfahren sowohl von Mead und Piaget als auch von Simmel und Elias — zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist, war in der Zeit der Entstehung des philosophischen Idealismus eine aufregende Entdeckung: Das Bewußtsein ist eine intersubjektive und historische Kategorie, dem Menschen nicht eigen wie etwas fix und fertiges, sondern immer in einem Prozeß der Entwicklung begriffen. Die dialektische Methode gab Hegel ein geeignetes Muster an die Hand, um diese Entwicklung zu beschreiben. Gegensätze, wie man sie tatsächlich in der Geschichte der Zivilisation wahrnehmen kann, konnten so erfaßt werden (These, Antithese). Der Zusammenhang von Bewußtseinsphänomenen mit ihrem historischen Kontext konnte in der Weise betont werden (Totalität). Und überdies war Hegel so imstande, eine aufsteigende Linie zu verzeichnen: Gegensätze werden in einer solchen Weise transformiert, daß das Positive aus einem früheren Stadium bewahrt bleibt (aufheben). Dem Weltgeist fehlt die menschliche Fähigkeit des Vergessens. Diesen heuristischen Wert besitzt die Dialektik ebenfalls für Marx. Oft hat er zum Ausdruck gebracht, es Hegel zu verdanken, daß er den Kapitalismus als Resultat eines historischen Prozesses erfassen konnte. Die Dialektik verschafft Marx und Engels das Mittel, die versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zu bringen, daß man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt. Die Dialektik ist revolutionär. Außer realen Widersprüchen deckt sie auch neue Möglichkeiten auf. Bei Hegel und Marx ist auch klar, daß die Dialektik nicht nur die globale Aufgabe einer Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung zu erfüllen hat. Sie hat zweitens auch ein spezifisches, für uns noch immer aktuelles Problem zu lösen. Eine dialektische Theorie muß die Frage beantworten, wie angesichts einer fast unendlichen Zahl von individuellen Zielen trotzdem eine Koordinierung aller dieser Handlungen möglich ist. Die von der Dialektik beschriebene Entwicklung ist nicht auf individueller Ebene geplant worden, sondern vollzieht sich hinterrücks. Gerade dadurch, daß Individuen und Gruppen oder Klassen ihre kurzsichtigen und eigennützigen Interessen verfolgen, leisten sie der Weltgeschichte ihren Beitrag, wie es schon von Kant erkannt wurde. Das in einer dialektischen Theorie vorgezeichnete Entwicklungsmodell soll etwas von dem sichtbar machen, was Smith „the invisible hand" nannte. Das liberale Modell läuft ja letzten Endes auf das Bekenntnis hinaus, daß man den zur Erklärung der Weltgeschichte herangezogenen Plan überhaupt nicht einsehen oder studieren kann — und diesem Paradox will der Dialektiker abhelfen. Ob es nun der Weltgeist ist oder die
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sich entwickelnden Produktionsweisen; beiden „Instanzen" fallt dieselbe Aufgabe anheim: dafür zu sorgen, daß das Gewimmel der Akteure sich zu einem vernünftigen Schauspiel entwickelt. Oder in unseren Worten: Eine dialektische Theorie stellt den Versuch dar, die Innen- und Außenperspektive des Handelns zugleich in den Griff zu bekommen (13, passim). Der Hegeische Weltgeist ist ein auf seine eigene Vorgeschichte zurückblickendes Etwas. Marx bezeichnet seine dank der kapitalistischen Produktionsweise gewonnene Einsicht in das menschliche Wesen als ein dialektisches Verständnis. Sein geschichtlicher Standort befähigt ihn, zurückblickend die ganze Menschheitsgeschichte als eine Stufenfolge verschiedener Produktionsweisen zu interpretieren. Dank der dialektischen Methode wurde außer Hegel auch er auserkoren, Sprachrohr des von ihm so schnöde behandelten Weltgeistes zu sein. Eine doppelte List sozusagen. c) Will die dialektische Methode ihre heuristische Aufgabe erfüllen, so braucht sie ein Modell. Der Theoretiker vermag Prozesse gesellschaftlicher Differenzierung und Koordinierung nicht zu beschreiben ohne ein Vorbild, auf dessen Geleit er sein Unternehmen vollbringen kann. Dieses Modell entnimmt der Dialektiker der Welt des organischen Lebens. Natürlich kann man nicht sagen, daß alle historischen Analysen von Marx und Hegel davon die Spuren tragen. Viele, gerade von ihren mehr spezifischen historischen Untersuchungen, werden kaum davon berührt. Insoweit sie aber eine dialektische Betrachtungsweise ins Spiel bringen, ist die Modellfunktion der organischen Welt unverkennbar, und das ist nicht zufällig. Man war überhaupt noch nicht daran gewöhnt, gesellschaftliche Verhältnisse als historisch gewordene zu betrachten und hatte in der organischen Welt Entwicklungsprozesse tagtäglich greifbar vor sich. Um das eigene soziale Milieu geschichtlich zu relativieren, braucht es schon eine gewisse Außenperspektive, eine Art „Zwang", das Eigene mal mit fremden Augen zu betrachten. Organische Veränderung dagegen kann man jeden Tag mühelos an den Pflanzen, Tieren und last but not least am eigenen Körper studieren. Einen Dezentrierungsprozeß braucht man da überhaupt nicht. Hinzu kommt, daß das Studium der organischen Welt im achtzehnten Jahrhundert an Popularität sehr gewann. Nicht nur der individuelle Organismus, sondern Pflanzen- und Tierreich als solche wurden immer mehr experimentell beobachtet und theoretisch analysiert. Die Verwissenschaftlichung der Biologie war unterwegs. Einige Beispiele dieser Modellfunktion mögen genügen. Eine vollständige Beschreibung der „Grammatik" des Modells, der Regeln, denen es zu folgen Anlaß gibt, wäre nur in einer Spezialstudie möglich. Von einem lebendigen Organismus können wir lernen, wie jedes Teilchen mit dem Ganzen zusammenhängt. Die „positivistische" oder „empiristische" Isolierung eines organischen Phänomens verfehlt dessen spezifi-
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sehe Funktion. Hieraus wird klar, wie zentral der dialektische Begriff der Totalität ist. Es braucht gar nicht wunderzunehmen, wenn ein Analytiker wie G. A. Cohen das historisch-materialistische Paradigma auf orthodoxe Weise rekonstruieren kann. Und daß damit die Dialektik wie spurlos verschwunden erscheint, ist in diesem Zusammenhang nur lehrreich. Ein Organismus, ob Pflanze oder Tier, konfrontiert uns auch mit dem merkwürdigen Tatbestand, daß das Endresultat gewissermaßen schon im Anfangsstadium enthalten ist. Die Eichel „ist" die potentielle Eiche, sagt Aristoteles schon, dessen logische Einsichten auch für Hegel maßgebend sind. Entwicklungsprozesse sind in einer solchen Weise zu beschreiben, daß der „Clou" sozusagen immer wieder dabei herauskommt. Die Dinge sind nicht so, wie sie erscheinen, um es in der Sprache, die Idealisten und Marxisten verbindet, auszudrücken. Die Wahrheit ist das Ganze, sagt Hegel in der Phänomenologie, und er fügt erläuternd hinzu, daß dieses Ganze nichts anderes ist als das Wesen, das seine Verwirklichung im Laufe eines Entwicklungsprozesses erreicht (25, S. 175) — eine Bemerkung, die auf die Eiche wie auf den Geist gleichermaßen zutrifft. Der Geist ist ja gewissermaßen nichts anderes als der Name für diejenigen Dezentrierungsprozesse, die man mit Hilfe eines organischen Modells in den Griff bekommen kann. Sogar die Art und Weise, wie der Entwicklungsprozeß geschildert wird, wird so verständlich. Wie sieht die Welt in einer Entwicklungsperspektive aus? Ihre Geschichte verläuft sprunghaft. Die biologischen Ursachen dieses Entwicklungsmechanismus liegen noch im Dunkeln. Auch die menschliche Position wird noch nicht als letztes Glied einer evolutionären Kette gedeutet. Soviel ist aber klar, daß in der organischen Welt niedrige Stadien durch qualitativ höhere abgelöst werden. Positive Elemente des vorhergehenden Stadiums bleiben im nächsten aufbewahrt und bekommen neue Funktionen. Die Geschichte der menschlichen Zivilisation scheint auf dieselbe Art und Weise zu verlaufen. Auch wenn hier die vorhergehenden Stadien höchstens als Trümmer bewahrt bleiben, die Dezentrierung setzt sich — über die Köpfe von Ägyptern, Römern und Germanen hinweg — als eine sprunghafte Zunahme von Selbstbewußtsein und Freiheit fort. So gesehen ergibt sich in bezug auf das Denken von Hegel und Marx ein ambivalentes Bild. Beide betrachten es als ihre Aufgabe, die menschliche Geschichte sozusagen in ihr eigenes Recht zu setzen und von ihrer Naturwüchsigkeit zu befreien. Dieses Unternehmen aber führen sie durch mit Hilfe eines Modells, das der Natur entlehnt wurde. Die Einsicht in den geschichtlichen Charakter gesellschaftlicher Verhältnisse wird entwickelt mit Hilfe einer Methode, die Reste eines naturwüchsigen Verständnisses unvermeidlich mit sich trägt.
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4.a) Nach diesen vorbereitenden Bemerkungen ist es nun möglich, die Geschichte des Instituts für Sozialforschung von der Außenperspektive her zu betrachten. Innenperspektivisch gesehen, so haben wir festgestellt, läßt sich das neue Programm des interdisziplinären Materialismus fast bruchlos aus Hegel ableiten. Wie aber entwickelt sich das Panorama von der Außenperspektive her? Dubiel und Söllner unterscheiden drei Schwerpunkte in den Faschismusuntersuchungen des Instituts: „a/ ein sozialpsychologischer, b/ ein ideologiekritisch-kulturkritischer sowie c/ ein politisch-ökonomischer" (19, S. 9). Ich möchte die These verteidigen, daß für heutige Faschismus- und Rassismusanalysen gerade die sozialpsychologischen Untersuchungen wichtig geworden sind, wichtiger als z. B. die kulturkritischen Analysen von Horkheimer und Adorno. Zugleich aber ist in der letzten Zeit von mehreren Autoren darauf hingewiesen worden, daß dieser Teil relativ unvermittelt neben den politisch-ökonomischen und kulturphilosophischen Untersuchungen steht. Von einer Integration war kaum die Rede. Die Untersuchungen zum autoritären Persönlichkeitssyndrom haben sich sogar von der Frankfurter Tradition abgelöst und eine selbständige Forschungstradition sozialpsychologischer Art eingeleitet. Warum ist das der Fall? Was hat sich da, wissenschafts- und philosophiehistorisch gesehen, abgespielt? b) Um das zu verstehen, müssen wir uns den Begriff der Verdinglichung Lukacs' in Erinnerung rufen, der von Habermas eingehend analysiert worden ist. Dieser Begriff bildet den Nukleus des dialektischen Systems von Lukacs. Dabei dehnt er einerseits das Reifikationskonzept von Marx aus: auch die von Weber analysierten Rationalisierungsprozesse fallen darunter. Andererseits aber hält Lukacs an der ökonomischen Verankerung der Verdinglichung im Sinne von Marx fest. In Habermas' Worten: „... die in der kapitalistischen Gesellschaft dominierende Gegenständlichkeitsform präjudiziert die Weltbezüge, die Art und Weise, in der sprach- und handlungsfähige Subjekte sich auf etwas in der objektiven, der sozialen und ihrer jeweils subjektiven Welt beziehen können" (13,1, S. 475). Die kulturphilosophischen oder, wie wir jetzt sagen würden, sozialpsychologischen Analysen von Lukacs bleiben an die politische Ökonomie gekoppelt, und dies hat wiederum zur Folge, daß sie dialektisch interpretierbar bleiben. Bei Marx schaffen die im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft — man achte auf die organische Metapher! — sich entwickelnden Produktivkräfte zugleich die materiellen Bedingungen zur Auflösung der bürgerlichen Produktionsverhältnisse. Die vorgeschichtliche Gesellschaft bildet die Geburtsstätte der geschichtlichen. Bei Lukacs wird diese These auf der MikroEbene des individuellen Handelns gewissermaßen spezifiziert. So wie „das Wesen" der Gesellschaft sich auf der Makro-Ebene für einen neuen Sprung bereithält, so wird auch der Arbeiter letzten Endes von den Verdinglichungsprozessen nicht tangiert. Die von der Verdinglichung herbeige-
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führte Spaltung zwischen Subjekt und Objekt ist zugleich der Anknüpfungspunkt für Bewußtwerdung und Revolution. Auch auf der MikroEbene reifen die Samen, die aufspringen werden, wenn die Zeit dafür reif ist. Die Seele des Arbeiters verkrüppelt, sagt Lukäcs; sein menschliches Wesen aber wird nicht zur Ware verwandelt (13, I, S. 492). Genau an diesem Punkt sehen sich die Frankfurter genötigt, wie Habermas wiederum gezeigt hat, das dialektische Modell aufzugeben, und wir können jetzt einen spezifischen Grund dafür angeben. Daß hier politische Ursachen eine Rolle spielen — das Ausbleiben der Revolution in Deutschland —, steht selbstverständlich außer Frage. Daß bei Lukäcs der Leninismus mitspielt, braucht man ebensowenig zu bezweifeln. Aussagen über das Wesen des Arbeiters können den opportunistischen Entscheidungen des Politbüros willkommene Schützenhilfe leisten. Aber methodologisch gesehen ist hier noch etwas anderes wichtig: Eine Theorie der Gesellschaft, die sich auf ein organisches Entwicklungsmodell festgelegt hat, ist außerstande, Lernprozesse zu erklären, und gerade mit Lernproblemen setzen sich die Frankfurter in zunehmendem Maße auseinander. Von der Untersuchung über die Lage der „Arbeiter und Angestellten am Vorabend des Dritten Reiches" angefangen bis zu den in Amerika stattfindenden Untersuchungen über die autoritäre Persönlichkeit handelt es sich letzten Endes immer wieder um dasselbe Problem: Es werden die Verhaltensweisen und Sozialisationsbedingungen von Menschen untersucht, die an entscheidenden Schaltstellen ihres Handelns nicht mehr imstande sind, aus neuen Erfahrungen zu lernen. In zunehmendem Maße konzentriert man sich auf die Erforschung von Lernblockaden, auf die Untersuchung empirischer Phänomene, die bis dahin im Nebel des dialektischen „universe of discourse" nur verschwommen sichtbar gewesen sind. Und in dem Maße, in dem die Vertreter der kritischen Theorie sich diese Probleme zu eigen machen, sehen sie sich auf empirischer Ebene genötigt, dialektische Denkfiguren aufzugeben. Denn bezüglich Lernmöglichkeiten und Lernblockaden hat eine dialektische Theorie überhaupt nichts zu bieten. Sie ist konzeptuell gesehen nach einfachen organischen Prozessen modelliert, und eine Pflanze lernt nicht. Sie wächst bloß. Sie befolgt nur ihr von vornherein festgelegtes Programm. Dieses Programm kann unterbrochen oder abgebrochen werden — eine Pflanze kann sterben an Wassermangel z. B. —, aber ändern kann es seine Ausführung oder Ausrichtung nicht. Diese Möglichkeit ist nur jenen organischen Wesen vorbehalten, die lernen, sich irren und sich verfahren können. Es ist, wie gesagt, schon vieles am dialektischen Denken bemängelt worden, aber genau hier liegt, heuristisch gesehen, der wunde Punkt. In einer dialektischen Theorie gibt es keinen Platz für Lernblockaden. Gerade in dieser Hinsicht behandeln dialektische Theoretiker die Gesellschaft, die sie als eine geschichtliche verstehen möchten, als eine naturwüchsige.
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Selbstverständlich kann von der Natur auf der Makro-Ebene in einem übertragenen Sinne gesagt werden, daß sie lernt. Sie entwickelt sich ja, wie es auch der Dialektiker mit seinen qualitativen Sprüngen zum Ausdruck bringen will. Auf der Mikro-Ebene hat aber das Modell für Lernen keinen Platz. Die dialektischen Denkfiguren bei Hegel und Marx bieten dem Individuum keine Möglichkeit, Kurskorrekturen vorzunehmen und sein Handeln durch Lernen zu verbessern. Das Erobern von mehr Freiheit, oder das Sichaneignen fremder Produkte; es sind Prozesse, wovon nur eine gewisse methodologische Struktur beschrieben wird. Was sich wirklich abspielt, bleibt in dialektischen Nebel gehüllt. c) Dies geht auch hervor aus der Art und Weise, wie Horkheimer am Beginn der dreißiger Jahre eine Ortsbestimmung der Psychologie vornimmt. Die Dialektik der Produktionskräfte und Produktionsverhältnisse, so sagt er, betrifft nur die strukturelle Komponente der Geschichte. Aus dieser Dialektik können keine Gesetze für das Handeln abgeleitet werden. Handeln, so Horkheimer, ist historisch kontingent, und für die von der Psychologie untersuchten Tatbestände gilt dasselbe. Diese Tatbestände stehen zwar im Rahmen des historisch-materialistischen Paradigmas, aber die Verbindung damit bleibt eine zufällige (15; 16; 5, S. 367 — 425). Sie können daraus nicht abgeleitet werden, und ob sie Konsequenzen für die strukturellen Sätze auf der Makro-Ebene haben können, scheint mir zweifelhaft. Ohne es zu merken, hat Horkheimer Dynamit unter die dialektischen Denkfiguren gelegt. d) Damit wir uns genauer vergegenwärtigen können, warum das so ist, möchte ich einen individuellen Fall anführen, der als exemplarisch für die von den Frankfurtern untersuchten Individuen und Gruppen gelten kann. Stellen wir uns einen Handwerker aus München vor, Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre. Er könnte sich in der folgenden Weise äußern. Hören Sie mal zu. Als Schmied habe ich immer schwer arbeiten müssen; genauso übrigens wie mein Vater und Großvater. Meine Familie hat immer anständig gelebt und hat dadurch immer für sich selbst sorgen können: wir hatten zu essen; die Kinder konnten zur Schule, und auch die Kirche kriegte etwas ab. Schulden hatten wir nie, und es gelang uns sogar, ab und zu etwas auf die Seite zu legen. Aber was ist jetzt los? Während ich noch schwerer schufte als mein Vater und meine Frau und der älteste Sohn mithelfen, verdiene ich immer weniger. Ich mußte eine neue Maschine kaufen. Bald ist die nächste Rate fällig, aber ich sehe gar nicht, wie ich die Bank bezahlen soll. Diese jüdischen Wucherer werden immer schlimmer. Meine Ausgaben nehmen zu, während ich für meine Produkte immer weniger kriege. Oder besser gesagt, ich empfange ungefähr dieselben Beträge wie früher, aber ich kann für das Geld immer weniger kaufen. Manchmal
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reicht es bloß noch fürs Essen; an neue Kleidung können wir ja schon gar nicht mehr denken. So, wozu lohnt sich das Arbeiten überhaupt? Schau Dir die Leute mal an, die ans Nichtstun gewohnt sind. Jeden Tag Feierabend! Wo bekommen die ihr Geld eigentlich her, und warum macht die Regierung da gar nichts? Hinzu kommt noch, daß die meisten dieser Taugenichtse, die vom Gelde anderer Leute zehren, nicht mal Deutsche sind! Wieso sollten die das Recht haben, Leuten, die sich nie etwas zu Schulden haben kommen lassen, ihr gutes Geld wegzunehmen? Künstler und Schauspieler benehmen sich manchmal genau so. Man sieht sie bloß flanieren; anstrengen tun die sich nie.
Die Moral dieses Mini-Monologs ist klar: Wer tüchtig arbeitet, wird dafür belohnt. Das ist es, was der Sozialisationsprozeß diesem Handwerker beigebracht hat und dies nicht in der Form eines theoretischen Wissens. Er verfügt nur über wenig Ausbildung. Er hat es gelernt in der Form von Lebensregeln, die er mit anderen teilt. Und es ist dieser spezifische Regelkomplex, der Schaden nimmt. Die Welt ist nicht mehr in Ordnung. Der Regelkomplex vermittelte zwischen dem „Subjekt" und dessen „sozialökonomischer Position" im System, und er kann jetzt diese Transformation nicht mehr vollbringen. Neue Interpretationen sind nicht vorhanden. Der Handwerker hat auch kaum politische Erfahrung. Er hat sich nie so recht getraut, einer sozialistischen Partei beizutreten. Der Pfarrer hat ihm da mal abgeraten, und viel Zivilkourage hat er sowieso nicht. So ist eine reale Lernblockade entstanden. Menschen wie er sehen sich immer mehr an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Es fehlt ihnen nicht nur das ökonomische, sondern auch das kulturelle Kapital, neue Perspektiven zu eröffnen und eine Änderung der Richtung ihres Lebens vorzunehmen. e) Wir können also in unserer Untersuchung bezüglich der heuristischen Rolle der Dialektik einen weiteren Schritt tun: Die „Bewegungsfiguren" des dialektischen Denkens, die spezifischen Konfigurationen, die da abgebildet werden, verschleiern kulturell bedingte Regelkomplexe. Auch die Art und Weise, wie Hegel das Verhältnis von Herr und Knecht beschreibt, macht dies schon deutlich. Wenn man hier genau zusieht, entdeckt man, wie kulturell bedingte Verhaltensweisen (der Knecht, der eine menschliche Natur entwickelt z. B.) hier im ideologischen Sinne uminterpretiert werden. Eine solche Einsicht ist in der Retrospektive den Frankfurtern wie Fromm, Horkheimer und Adorno zu verdanken, die Mechanismen der Transformation aufgedeckt haben, die für das heutige Verständnis von rassistischen Phänomenen unentbehrlich sind. Wie sehr ihr Forschungsprogramm einen Schritt vorwärts bedeutete, sieht man z. B. an den mehr orthodoxen Untersuchungen von Neumann in „Behemoth". Neumann berücksichtigt diese auf der Mikro-Ebene des individuellen Handelns
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aufgedeckten Befunde überhaupt nicht und kann z. B. schreiben, daß das Deutsche Volk den Nationalsozialismus eigentlich gar nicht wollte. Eine solche Bemerkung wird man aus dem Munde von Horkheimer, Fromm, Adorno oder Marcuse nicht hören. Diese Naivität ist ihnen versagt. In ihrem Forschungsprogramm ist es ihnen gelungen, den dialektischen Subjektbegriff radikal zu historisieren. Es gelingt ihnen, nach den Worten von Adorno, die Gesellschaft auf dem Boden der menschlichen Seele wiederzufinden (21, S. 230). Weil sie aber auf der Ebene der Philosophie an der Dialektik festhalten, vermögen sie eine Theorie des Faschismus gar nicht zu entwickeln. Eine dialektische Theorie ist nämlich nicht bloß außerstande, kulturelle Regelkomplexe auf der Mikro-Ebene zu beschreiben. Es fehlt ihr auch die Möglichkeit, das Phänomen, das von Barrington Moore „the expropriation of moral outrage" genannt wurde, zu analysieren. Sie verfügt nicht über die konzeptuellen Mittel, um die Makrobedingungen von Lernblockaden oder Lernperspektiven zu untersuchen. Weil sie das Phänomen des Lernens auf der Mikro-Ebene gar nicht kennt, braucht sie sich auch um diese Art von Transformationen überhaupt nicht zu kümmern. Der Handwerker ist nämlich gar kein Nazi. Er ist bloß anfällig für Autorität. Wegen seiner bitteren Enttäuschungen sind seine latenten Ressentiments gegen Außenseiter leicht zu mobilisieren. Weil sein Arbeitsethos gar keine Erfolge mehr zeitigt, kann er leicht dazu verführt werden, Tüchtigkeit und militärische Tugenden zu verherrlichen usw. Das heißt, daß er bloß die Disposition zum Faschismus hat. Damit er realiter zum Faschisten wird, dafür braucht es eine herrschende Elite, die über genügend Gewaltmittel verfügt, um sich seiner kulturellen Rückständigkeit zu bedienen. Menschen können ja — Marx wußte es schon — nicht nur ökonomisch, sondern auch kulturell ausgebeutet werden. In der „Dialektik der Aufklärung", dessen „Elemente des Antisemitismus" die Untersuchungen über die autoritäre Persönlichkeit erläutern sollen, findet man aber darüber kein Wort. Es fehlt der Dialektik genau dasjenige, wofür sie entworfen wurde: zu erklären, wie es möglich ist, daß individuelles Handeln sozial und politisch koordiniert wird. Hegel mußte schon mit seiner List der Vernunft auf eine Handlungsmetapher (von Eliten?) zurückgreifen. Horkheimer und Adorno tun im Grunde genau dasselbe. Kultur und Gesellschaft werden mit Begriffen des psychoanalytisch gedeuteten Handelns beschrieben. Der Geist hat sich freudianisch kostümiert. Ihre List aber bleibt tückisch: Während die Konzepte der Welt des Handelns entnommen sind, ist das individuelle Handeln aus der Theorie ganz und gar verschwunden. Der dialektischen Kulturtheorie fehlen die Mittel, um zwischen Kulturinhalten, die Menschen sich in Freiheit angeeignet haben, und solchen, die ihnen mit Gewalt aufgezwun-
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gen sind, zu unterscheiden. Die ganze Gesellschaft erscheint als eine manipulierte. Die Art und Weise, wie kulturelle Rückständigkeit und politische Macht in einander transformiert werden können, wird von Adorno und Horkheimer nicht untersucht. Aber gerade diese Transformationen, für den Spätkapitalismus genauso bezeichnend wie für manche Formen des real existierenden Sozialismus, sollten für diejenigen Sozialwissenschaftler, die das Programm der kritischen Theorie weiterführen möchten, Priorität haben. Die Proletarier von gestern sind die kulturell Rückständigen von heute. Für denjenigen, der bereit ist, dialektische Prämissen im historisch-materialistischen Paradigma radikal auszuschalten, eröffnen sich aufregende Perspektiven. Bibliographie 1 THEODOR ADORNO u. a., Der autoritäre Charakter, 2 Bde, Amsterdam 1968. 2 BARRINGTON MOORE, JR., Injustice. The social Bases of Obedience & Revolt., N. York 1978. 3 ELSE M. BARTH, Reconstruction of Hegelian and other Idealist Logic in Germany around 1810; in: (4), S. 46-65. 4 W. BECKER, W. ESSLER (Hrsg.), Konzepte der Dialektik, F. a. M. 1981. 5 WOLFGANG BONSS, AXEL HONNETH (Hg.), Sozialforschung als Kritik. Zum sozialwissenschaftlichen Potential der kritischen Theorie, F. a. M. 1982. 6 G. A. COHEN, Karl Marx's Theory of History, a Defence, Oxford 1978. 7 Lucio COLLETTI, From Rousseau to Lenin, Studies in Ideology and Society, London 1972. 8 Lucio COLLETTI, Marxism and Hegel, London 1979. 9 HELMUT DUBIEL, Wissenschaftsorganisation und Politische Erfahrung, F. a. M. 1981. 10 The Empire Strikes Back, Race und Racism in Britain, CENTRE FOR CONTEMPORARY CULTURAL STUDIES, Birmingham 1982. 11 ERICH FROMM, Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches, herausgeg. v. W. BONSS, Stuttgart 1980. 12 J. HABERMAS, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, F. a. M. 1976. 13 J. HABERMAS, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., F. a. M. 1981. 14 M. HORKHEIMER, Die Gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung; in (20), S. 33—46. 15 M. HORKHEIMER, Geschichte und Psychologie, ZfS, I, S. 125 — 144. 16 M. HORKHEIMER, Materialismus und Moral, ZfS, II, S. 161 — 197. 17 M. HORKHEIMER (Hrsg.), Studien über Autorität und Familie, Paris 1936. 18 M. HORKHEIMER, THEOD. ADORNO, Dialektik der Aufklärung, Amsterdam 1947. 19 HORKHEIMER, POLLOCK, NEUMANN, KIRCHHEIMER, GURLAND, MARCUSE, Wirtschaft, Recht und Staat im Nationalsozialismus, Analysen des Instituts für Sozialforschung 39-42, herausgeg. v. H. DUBIEL und A. SÖLLNER, F. a. M. 1981. 20 M. HORKHEIMER, Sozialphilosophische Studien, F. a. M. 1971. 21 M. JAY, The Dialectical Imagination, Boston-Toronto 1973.
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22 S. KOENIS, Filosofie en Wetenschap in de Frankfurter Schule, Kennis en Methode, VI1I, 4, 1984. 23 LESZEK KOLAKOWSKI, Main Currents of Marxism, 3 Vols., Oxford 1978. 24 GEORG LUKÄCS, Geschichte und Klassenbewußtsein, Berlin 1923. 25 MAURICE MANDELBAUM, History, Man and Reason, Baltimore and London 1981. 26 KARL MARX, Das Kapital, 3 Bde., Berlin 1973. 27 L. W. NAUTA, De Gerealiseerde Utopie en Andere Sociaal-filosofische Stukken, Adam 1981. 28 L. W. NAUTA, Historical Roots of the Concept of Autonomy in Western Philosophy, Praxis international, Vol. 4, No. 4, 1985. 29 OSKAR NEGT, ALEX. KLUGE, Geschichte und Eigensinn, F. a. M. 1981. 30 FRANZ NEUMANN, Behemoth, Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933 — 1944, F. a. M. 1977. 31 K. R. POPPER, The Poverty of Historicism, London 1961. 32 K. R. POPPER, What is Dialectic; in: Conjectures and Refutations, N. York 1965, S. 312-335.
JOSE MARIA RIPALDA (Madrid)
Das gesellschaftliche Subjekt in der Frankfurter Schule und heute Die Frankfurter wurden zur Zeit der Studentenrevolte wegen ihrer Kompromisse mit der bestehenden Macht diskreditiert. Alte Zeiten. Heute stehen manche ihrer Kritiker nicht besser da, vor allem der Marxismus. Was ich hier beabsichtige ist kein eigentlicher Beitrag, sondern die Aufstellung eines Fragezeichens, das uns, ebenso wie die Frankfurter, tief unterhalb der politischen Fronten, sogar tief unterhalb der ideologischen Machtkämpfe trifft. Hoffentlich taugt es als Diskussionsanregung. Vor dem Blick des Philosophiehistorikers — und die unerbittliche Zeit erlaubt immer weniger eine gleichzeitigere Perspektive — taucht gewaltig die ungeheure Anstrengung, die Qualität und der Reichtum jener Theorie auf, die am Rande der Universität, in der Mitte einer glänzenden Gruppe von Intellektuellen, die beste Seite der deutschen Kultur des 20. Jahrhunderts schrieb. Ihr lebendiges Gesicht verschwindet aber. Wenn ich mich auf den westlichen Mittelmeerraum beziehe — Spanien, Frankreich, Italien — klingen immer noch manche Namen nach, aber vor allem im Leerlauf des Hochschulmechanismus. Marcuse wird nicht mehr sozusagen massenwirksam rezipiert; Adorno und Horkheimer sind kein Tip mehr für Eingeweihte. Andere Namen sind von den Studenten gefragt: Foucault, Lacan, Derrida, Deleuze, Cacciari; auch ältere Namen feiern ihre Auferstehung aus der vernichtenden Kritik durch die Frankfurter, wie Heidegger, oder aus der Vergessenheit, wie Rosenzweig. Die vielfache Grenze auch jenes negativen Denkens erweist sich im nicht-suspendiert-gebliebenen, der Sache des „Nihilismus". Adornos aphoristischen Stil nachahmend, könnte man sagen, daß das negative Denken etwas verneint, das es nach ihm auf jene Art nicht mehr gibt. Es ist vor allem die Zeit- und Gruppengebundenheit eines Kategorienkorpus, die sich jetzt erweist: Aufklärung, Vernunft, Rettung, Herrschaft, Subjekt-Objekt, Abstraktion, Reflexion, Ganzes-Besonderes, Entzweiung, Entfremdung, Versöhnung, Bürger. All diese knüpfen an die deutsche Klassik an. Die Wichtigste unter ihnen ist für unser Thema die Kategorie des Subjekts, die auch für den Marxismus von zentraler Bedeutung ist, gerade was sein größtes Scheitern betrifft. Aber dies ist nicht das einzige bedrohte Erbe, denn auch andere
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Frankfurter Kategorien späteren Ursprungs klingen nicht mehr wasserdicht, vor allem die der „Kritik", „Utopie", „gesellschaftlich", „Repression". An der Kritik dieser letzten Kategorie knüpft direkt die ebenfalls kritische Theorie von Foucault an, von deren Geschichte der Sexualität die Bände 2 und 3 1984 erschienen sind. Am Anfang des zweiten Bandes, L'usage des plaisirs, gesteht Foucault die Absicht, den Entwurf einer Wissenschaft des Subjekts um die Frage der Sexualität zu zentrieren1. Das Interesse konzentriert sich nicht auf das virtuell politische Subjekt der Sexualität im Faschismus, nämlich auf die autoritäre Persönlichkeit, sondern auf eine Genealogie des Subjekts. Vorausgesetzt wird, daß die Sexualität keine Invariante ist, die verschiedenen geschichtlichen Formen der Unterdrückung ausgesetzt wäre; im Gegenteil, sie selbst sei eine geschichtliche Größe; die Repressionsformen sind ihr nicht äußerlich, sozusagen durch „die Gesellschaft" auferlegt. Selbst Begriffe wie Streben (,desir') lassen sich als geschichtlich entstanden aufweisen. Foucault will also aus einer Anerkennung der eigenen Erfahrung der Macht in der Geschichte, den eigenen Willen zur Macht befreien. Und was er für eine Theorie der Geschichte angemessen findet, ist nicht eine List der Vernunft, sondern die vielfache Verstrickung, offene flüssige Strategien, rationelle Techniken, welche die Konstituierung der Wissenschaften, die Machtausübung und die eigene Triebökonomie gleichzeitig, aber weder homogen, noch aus einer empirisch erfaßbaren oder deduktiv bestimmbaren Mitte konstituieren. Hier ein ausdrücklicher Bezug auf einen Frankfurter: Benjamins Aufsatz zu Baudelaire. Die Frage nach den Eigenschaften der „autoritären Persönlichkeit", sogar nach dem „eindimensionalen Menschen", verliert an Relevanz, wenn man das Reich Napoleons III. oder ... Reagans Wählerschaft analysieren will. Die sexuelle „Repression" erklärt hier wenig, muß eher erklärt werden, denn diese Kategorie, in der Freud sowohl innerpersönliche wie gesellschaftliche Elemente zusammenschmolz, erweist sich als sehr konservativ in ihrer Festigkeit und Homogenität, verdächtig in ihrer fortschrittlichen Aufnahme, als ob man sich von außen — als bewußte Opfer — betrachten könnte. Es erscheint zunächst ehrlicher, die Hypothese einer Macht von unten und nicht von oben, als strategische Gesamtlage und nicht als Repression anzuwenden. Man müßte mit der Macht eine ähnliche Operation unternehmen wie Freud mit der Sexualität und ihren Schatten überallhin verfolgen; auch in die Auflehnung gegen sie. Im 2. Kapitel von La volonte de savoir hat Foucault den „rationalen Diskurs" über Sexualität einer historischen Politik, Wirtschaft und Technik zugeordnet und das Schweigen über Sexualität nicht der offenen Rede entgegengesetzt, sondern verschiedenen Arten des Schweigens, der Vertei1
M. Foucault, L'usage des plaisirs, Paris 1984. S. 17.
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lung der autorisierten Rede, den diskursiven Strategien — wieso können diese mit der „Repression" wachsen? — und institutionellen Einrichtungen, der Verwissenschaftlichung und Zersplitterung des Diskurses über Sexualität; Sexualisierung der Macht, Intensivierung des Körpers als Wissenschaft und Machtmedium — nicht nur Repression —, „Perversion" der bürgerlichen Moral gegen die Puritanismuslegende, Katalysierung und Ausstellung aller Arten von Vergnügungen — die Sexshops sind nichts Abnormes — treten auf den Plan; die Wahrheit wird in der Beichte erzwungen und erst so ermöglicht, und die Beichte bleibt Hauptartefakt der Verwissenschaftlichung des Diskurses über das Geschlecht. Sie machte aus dem Sex den Hauptort der Wahrheit; der Wahrheit wegen wurde das Geschlecht mit Angst und verheimlichtem Vergnügen umgeben und potenziert. Die „Befreiung" der Sexualität schwächt nicht unbedingt Herrschaft, sondern zeugt auch von ihrem Anwesen. Dieser unheimliche Wille zur Wahrheit, zur Macht, deutet an, daß die „diskursiv-juristische Auffassung" der Macht (La volonte de savoir, Kap. 4) daneben greift, vor allem weil etwa seit dem 18. Jahrhundert die Macht nicht mehr nach dem Modell des Rechts ausgeübt wird. Man kann nicht einmal mehr von einem herrschenden Diskurs reden, sondern nur noch von diskursiven Elementen, die in dieser oder jener Strategie, von der einen oder anderen Partei ergriffen werden. Die Erotisierung der Familie als ihre virtuelle Auflösung ist keine unbedingt „emanzipierende" Tat, sondern das Sicheinnisten der Macht in die Verfassung der Körper; die „überrepressive Entsublimierung", deren gesellschaftliche Wirksamkeit kulturell greifbar ist, wird eher am Rande von der „repressiven Sublimierung" begleitet. Der Rassismus, als nicht so extreme Form des Stolzes auf den eigenen Körper und den der Nachkommenschaft, ersetzte virtuell bei der Bourgeoisie den Blutstolz der Adligen und garantierte die unendliche Ausdehnung des eigenen Willens zur Macht. Die Repressionstheorie von Wilhelm Reich, ausdrücklich erwähnt am Ende des 4. Kapitels, verliert noch mehr an Plausibilität, wenn man berücksichtigt, daß die obere Bourgeoisie dem Inzesttabu nicht gehorcht. Wenn die Macht die Körper besetzt, wird sie die Körper nicht mehr von außen bedrohen, sondern das Leben zu bestimmen trachten. Die Strafe wird nicht mehr Todesstrafe, sondern — wenn nötig völker-mörderische — Lebensstrafe sein; die Macht spricht nicht mehr durch das blutige Recht, sondern durch Besetzung des Körpers und Potenzierung der Sexualität. Horkheimers Utopie einer nicht entstellten Menschheit (am Ende des Exkurs' über Sade in der Dialektik der Aufklärung} setzt zu viel voraus, als daß dieses Programm nicht immer schon derselben schleichenden Macht anheimgefallen wäre, die es zu bekämpfen sich vorgenommen hatla. Die la
Cfr. MASSIMO CACCIARI, Progetto. In: Laboratorio Politico, l (1981). S. 88-119.
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Frage der instrumenteilen Vernunft und des von ihr Ausgeschlossenen vermag nicht in ihrem immanenten Spiel die ungeheure geschichtliche Macht aufzunehmen, die sie selbst erzeugte. Darum erscheint mir auch die Erledigung von Nietzsche als Positivist, am Ende von Erkenntnis und Interesse, unbefriedigend, denn sein Naturalismus hat den Sinn geschärft für eine ungeheure Produktivität, die sich auf keine transzendentale oder metaphysische Instanz festlegen läßt. Der beständige Verweis von Foucault auf eine „naturalistisch" — wie Habermas von Nietzsche sagt — verstandene Geschichte ohne viel mehr Sicherheit als die der eigenen leidenden und trotzigen Erfahrung mit der Macht, wird annehmbarer für die, welche nicht mehr bereit sind, sich selbst außerhalb — oder, wenn man will, unterhalb — der Machtausübung zu betrachten. „Daß Erkenntnistheorie nur als Gesellschaftstheorie durchgeführt werden kann"2 sagt wenig darüber, was „Gesellschaftstheorie" ist. Schwerlich wird man sie durch „Selbstreflexion" konstituieren. Die 1984 erschienenen Vorlesungen von Jacques Derrida an der Baskischen Universität3 sprechen, am Beispiel Kafkas, von der Undurchsichtigkeit eines Textes vor der Selbstreflexion. Freuds Totem und Tabu erzählte die Genealogie des Gesetzes als fiktiven Anfang, die Selbstreflexion würde ihn nie erreichen; Freuds Selbstreflexion, auf welche Erkenntnis und Interesse wiederholt anspielte, macht doch halt vor dem Gesetz, das die Konstituierung des Textes im voraus bestimmt. Gerade der aphoristische Stil von Horkheimer und Adorno zeugt von einer Auflehnung gegen das Kontinuum der bestehenden Macht weit über das Kategoriensystem hinaus, das sie in Anspruch nehmen. Wie einst Ernst Jünger sagte: „In einer Prosa, die auf Konklusionen verzichtet, müssen die Sätze wie Samenkörner sein"4. Auf diese Art antwortet, etwa in Adornos Kafkaaufsatz, der Erfahrung des Zerfalls, der Zerstörung und Auflehnung, auch eine Auflockerung des Subjektkonstrukts. Die Konzentrationslager hat man nach außerhalb verschoben, an die Peripherie, und man kann sie vergessen. Trotzdem, sagte Alfred Andersch, „solange sich hinter den Begriffen der Freiheit und des Humanismus die Atombombe verbirgt, hinter der sozialen Gerechtigkeit das größte Landheer der Welt, und hinter dem Begriff Nation der faschistische Galgen, solange werden uns diese Begriffe selbst als ihres festen Inhalts beraubt und tief verdächtig gelten."5 Und auch andere Begriffe. Diese Haltung schreibt sich übrigens in die „nihilistische" Wende seit dem 19. Jahrhundert ein. Koeppens Tauben 2 3 4
5
JÜRGEN HABERMAS, Erkenntnis und Interesse. 2Frankfurt, 1973. S. 353. JACQUES DERRIDA, La Filosofia como Institution. Barcelona, 1984. Zit. in KLAUS SCHERPE, „Schützt Humanismus denn vor gar nichts!" Alfred Andersch im Kontext. In: Nachkriegsliteratur in Westdeutschland. Bd. 2. Berlin 1984. S. 19. Op. dt., S. 12.
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im Gras kann von keiner transzendentalen Operation, und sei sie auch noch so bescheiden, wieder aufgefangen werden, wie Klaus R. Scherpe vor kurzem gezeigt hat.6 Man kann bei Koeppen nicht mehr von Entfremdung reden, wie es Marcuse und wohl auch Adorno getan hätten und der Großteil der Kritiker ohnehin getan haben; die Gesellschaft kann nicht subjektiv zentriert werden, und hier stimmt Scherpe mit der romanischen Philosophie der Gegenwart überein; die Gewaltverhältnisse selbst, unter denen man lebt, erleuchten grell die Verzweiflung ihrer gemilderten Wiederholung, welche die Identität unter dem Zwang ihres Gesetzes sowohl wieder aufrichtet als auch zerstört. Dieser Erfahrung versuchte auch die klassische Frankfurter Schule gerecht zu werden. Ihr entspricht positiv Benjamins „Jetztzeit", oder der Rückgriff auf die Vergangenheit, um unterdrückte und vorenthaltene Lebenskräfte in der Erinnerung zu retten7. Gewiß ist diese hinreißende Augenblicklichkeit der Geschichte viel schielender, als in Benjamins Entwürfen zu Tage treten konnte; der Dezisionismus lauert mit der Katastrophe in der Tasche von Carl Schmitt, und die Nachkriegszeit brachte anders geartete Augenblicke; solche der Katastrophe, der Lähmung und der Geschichtslosigkeit. Trotzdem; die Wahrnehmung der Möglichkeiten des Augenblicks, zurückgenommen aus dem ideologischen Verlauf, das eigensinnige „Zeichenlesen", von dem Alfred Andersch in bezug auf Benjamins Passagen* sprach, spielen auf eine Befreiung an, die nicht unbedingt „vernichtend" sein muß, trotz Manns Doktor Faustus. Der ganzen Frankfurter Schule ist eine Doppeldeutigkeit eigen, die ihre Aneignung heute erleichtert; sie verfügte nicht über fertige Theorien, und man kann immer wieder zu ihr zurückkehren, wenn man jenes Zitat von Kandinsky voraussetzt, das Adorno in seinem Schönbergaufsatz erwähnte: die endlich gelungene Form ist der Anfang ihrer Zerstörung. Die Frankfurter fanden sie nie ganz, und auch deswegen sind sie nicht reine Trümmer vor dem Blick des Engels. Vielleicht gilt es heute die Verzweiflung am Großen durch die Abwendung von jeder Rettung und Erlösung ins Positive zu wenden. Der Abschied von der Utopie ist die Nacht, und sie ist nicht Erlösung, aber langsam brauchen wir keine mehr. Der Nihilismus ist unser Normalzustand geworden und ist kein Nihilismus mehr. Horkheimer wußte davon. Er fand sich damit nur nicht ab.
6
7 8
KLAUS R. SCHERPE, Ideologie im Verhältnis %ur Literatur: Versuch einer methodischen Orientierung am Beispiel von Wolfgang Koeppens Roman „Tauben im Gras". In: The German Quarterly, 57 (1984). S. 6-26. Cfr. FABRIZIO DESIDERI, Advocem ,Jet^eit". In: Nuova Corrente, 28 (1981). S. 581—596. Mein Lesebuch. Frankfurt, 1978. S. 13.
IV. Arbeitsgruppe Ästhetik
VIKTOR ZMEGAO (Zagreb)
Adorno und die Wiener Moderne der J ahrhundertwende Für Hans Mayer In der bereits sehr umfangreichen Literatur über Adorno gibt es nur ganz wenige Arbeiten, die sich in der Argumentation auf lebensgeschichtliche Daten einlassen; zu stark ist die Befürchtung, der Ruch des Anekdotischen könnte die gedankliche Leistung kompromittieren. In der Beurteilung dieser Frage sollte freilich als alleiniges Kriterium die Funktionalität von Daten innerhalb eines Begründungszusammenhanges gelten. Der folgende Versuch über Adornos Kunstauffassung und bestimmte ästhetische Theoreme der Wiener Jahrhundertwende dürfte jedenfalls an der Legitimität biographischer Momente keinen Zweifel lassen. Die einleitenden Erkundungen zu unserem Thema können sich zudem auf den Autor selbst berufen, auf authentische Äußerungen, die seinen persönlichen Beziehungen zu Wien und dessen künstlerischer Moderne besonderes Gewicht verleihen. An einer bisher kaum beachteten Stelle, in der Vorrede zu dem 1968 veröffentlichten Buch über Alban Berg, bezeichnet Adorno sich selbst als einen „Musiker der zweiten Wiener Schule".1 Diese Zuordnung mag auch manchen Kenner seines Werkes überraschen. Sie ist verständlich, wenn man bedenkt, daß die zeitweilig dominierende Beschäftigung mit Musik nicht nur wissenschaftlichen und kulturphilosophischen Interessen entsprach, sondern auch kreativen Neigungen: Adorno war auch Musiker im engeren Sinne des Wortes, Komponist und geschulter Pianist. Im Gegensatz zum Musiktheoretiker hielt allerdings der praktizierende Musiker seine Neigungen von öffentlicher oder gar berufsmäßiger Ausübung fern. Allenfalls können die Anleitungen im Buch Der getreue Korrepetitor sowie in der gemeinsam mit Hanns Eisler verfaßten Studie Komposition für den Film als Eingriffe in die musikalische Praxis angesehen werden. Entscheidend ist der Umstand, daß gerade die Bindung an die Sphäre der Musik eine enge Beziehung zur österreichischen Kultur begründet hat. Bleibende 1
TH. W. ADORNO: Berg. Der Meister des kleinsten Übergangs, Wien 1968, S. 3.
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Erkenntnisse und Erfahrungen gewann er, nachdem er in Frankfurt über ein Problem in Husserls Philosophie promoviert hatte, um die Mitte der zwanziger Jahre in Wien. Als Komponist und Musikanalytiker war er Schüler von Alban Berg, Klavierunterricht auf fortgeschrittener Stufe nahm er bei Eduard Steuermann. Das ganze Jahr 1925 verbrachte er in Wien. Längere Aufenthalte hat es nach dieser Zeit nicht mehr gegeben, so daß Martin Jay in seiner Geschichte der Frankfurter Schule etwas zu großzügig rechnet, wenn er von drei österreichischen Jahren Adornos spricht.2 Unter den wenigen — schriftstellerisch durchgearbeiteten — Lebenszeugnissen ist sicherlich nicht zufällig eines der eindringlichsten und umfangreichsten das private Kapitel der schon erwähnten BergMonographie; es trägt den Titel Erinnerung und entwirft ein erzählendes Porträt des Wiener Komponisten, a la recherche du temps perdu. Die Atmosphäre und kulturelle Bedeutung Wiens gehören indes, als ein Teil persönlicher Erfahrung, zur Grundierung auch mehrerer anderer Essays, etwa in den Versuchen über Mahler, Schreker und Webern aus den Bänden Klangfiguren und Quasi una fantasia, vor allem aber im Essay Wien (der erstmals 1960 in der Wiener Zeitschrift Forum erschien), einem Versuch über die Kulturgeschichte der Stadt und deren Musik seit der Jahrhundertwende. Auch das Porträt Wiens könnte man gleich der Strawinsky-Studie aus Quasi una fantasia ein „dialektisches" Bild nennen. In Adornos Skizze treten die widersprüchlichen Züge der Stadt hervor, in der er selbst seine stärksten musikalischen Eindrücke empfing und fraglos auch bleibende literarische. Neben Schönberg und den anderen Meistern der zweiten Wiener Schule wird am häufigsten Karl Kraus genannt. Die künstlerische und intellektuelle Strenge, welche die Wiener Musik von Mahler bis Webern ebenso kennzeichnet wie etwa die Bestrebungen von Adolf Loos in der Architektur und Karl Kraus in der Publizistik, wird von Adorno als eine Form des Widerstands gegen den ästhetischen Kulinarismus des Wiener Milieus vor dem Ersten Weltkrieg gedeutet, eines Widerstands, der freilich ohne die Traditionen dieses Milieus kaum vorstellbar gewesen wäre. In das Bildnis Alban Bergs aus dem Kapitel Erinnerung fließen eigene Züge des Verfassers allerdings nur sparsam ein. So erfährt man über die literarischen Erfahrungen Adornos lediglich im Zusammenhang mit dem Unterricht bei Berg. Erwartungsgemäß spielen Kraus und Hofmannsthal dabei eine Rolle. Beide Autoren haben ihn auch später noch beschäftigt, beiden ist je ein Essay gewidmet: von Hofmannsthal handelt der 1942 im Exil entstandene essayistische Kommentar zum Briefwechsel zwischen 2
M. JAY: Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923-1950, Frankfurt am Main 1976, S. 42. Vgl. den Briefwechsel ADORNOS mit KRENEK, hrsg. von W. ROGGE, Frankfurt am Main 1974, u. a. S. 236.
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George und dem Wiener Dichter, von Karl Kraus die 1965 veröffentlichte kleine Studie über das Buch Sittlichkeit und Kriminalität. Das im Gegensatz zur Haltung des Lehrers offenbar schon damals differenziertere Urteil des Schülers ist folgender Passage der Erinnerung zu entnehmen: „Bergs Stellung zu Kraus war die uneingeschränkter Verehrung; wann immer ich in Wien war, haben wir gemeinsam jede erreichbare KrausVorlesung besucht. Doch glaube ich nicht, daß er damals mit ihm, den er gut kannte, selbst zusammenkam, abgeneigt der Sphäre zudringlicher Bewunderung. [...] Die Beziehung zu Kraus war die zur Autorität; für Berg, ähnlich wie für den Georgekreis, war das Wort Meister auf einen Künstler noch unerschüttert anwendbar. Einmal redete ich von Hofmannsthal und dem Turm und von der Möglichkeit, das Trauerspiel, in der Fassung der Neuen Deutschen Beiträge, zu komponieren. Heute noch meine ich, ihm wäre kein Stoff so sehr auf den Leib geschrieben gewesen wie dieser oder der verwandte des Kaspar Hauser. Aber als getreuer Leser der Fackel wollte er mit Hofmannsthal nichts zu schaffen haben und hätte nicht um die Burg zugegeben, daß jener eine andere Seite hatte als die der Salzburger Festspiele."3 Welche andere Seite des Wiener Autors Adorno im Sinn gehabt haben mag, wird noch später zu erörtern sein. Beachtung fordert ferner die Tatsache, daß Adornos literarische Präferenzen — und erst recht seine musikalischen — bis zuletzt die prägende Wirkung Wiens erkennen ließen. Sein Kanon war weitgehend derjenige der radikalen künstlerischen Kreise in Österreich, so daß im Hinblick auf die ästhetische Erfahrungsgrundlage die Frankfurter Schule, wenn man so will, eine Fortsetzung der zweiten Wiener Schule ist. Auffallend, wenn auch weniger bekannt, ist der Umstand, daß Adorno sein Leben lang in seiner literarischen Orientierung gerade jene Autoren bevorzugte, die vom Schönberg-Kreis oder von Karl Kraus besonders geschätzt wurden. Das herausragende Beispiel ist Stefan George, ein Dichter, der trotz mancher gerade aus Adornos Sicht höchst problematischer Züge sowohl als Lyriker wie auch als sozialgeschichtliches Phänomen den Theoretiker ungemein faszinierte. Es gibt bei Adorno kaum eine Erörterung über Lyrik, in der nicht auch von George die Rede wäre. Zu bedenken ist dabei die Rolle, die Georges Dichtung im musikalischen Schaffen Schönbergs und Weberns spielte, man denke nur an Schönbergs Lieder op. 15, nach Georges Buch der hängenden Gärten, oder die Gesangssätze des II. Streichquartetts. Von George führt der Weg zurück zum französischen Symbolismus, zu Baudelaire vor allem, den Alban Berg in der Übertragung Georges vertonte (Der Wein, Kon^ertarie mit Orchester} und der für Adorno, wie auch für Benjamin, zu den Schlüsselgestalten der europäischen Moderne zählte.
ADORNO: Berg, S. 32 f.
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Auch das sehr ausgeprägte Interesse für Paul Valery ist in Zusammenhang mit der von Baudelaire und Mallarme herkommenden Traditionslinie zu sehen. Die Aufmerksamkeit, die Adorno einem weiteren deutschen Autor der Jahrhundertwende, dem Lyriker und Essayisten Rudolf Borchardt, entgegenbrachte, wäre vollends ohne die Bindung dieses Dichters an George und später an Hofmannsthal kaum zu erklären. Das Interesse für die kritische Substanz der Wiener literarischen Moderne, das Adorno so nachhaltig bekundete, hängt nicht zuletzt mit dem gesamten Habitus seines Denkens zusammen, dessen Verankerung in einer bestimmten philosophisch-essayistischen Tradition evident ist. Die Denkund Darbietungsform, der ein großer Teil seines Gesamtwerks angehört, ist bedingt als unakademisch zu bezeichnen. Mit Recht nennt Habermas4 den neben Herbert Marcuse bekanntesten Vertreter der Frankfurter Schule einen Schriftsteller unter den Philosophen. Nach Hegels Tod, erläutert Habermas, seien Schriftsteller an die Plätze der großen Philosophen getreten: Kierkegaard (dem gewiß nicht zufällig Adornos erstes Buch gilt) habe sich selbst als einen religiösen Schriftsteller bezeichnet, Nietzsche als einen philosophischen. Und in dieser Überlieferungslinie sei auch Walter Benjamin zu sehen, der mit seiner bewußt unakademischen bzw. unsystematischen Schreibweise Adorno sichtlich beeinflußt habe. Daher sei es keineswegs verfehlt oder ungerecht, in der Sammlung von Aphorismen und Kurzessays Minima Moralin Adornos eigentliches Hauptwerk zu erblicken. Diesen denkerischen Kontext hat auch Adorno selbst betont. In der Einleitung zur ersten Ausgabe von Benjamins Schriften, 1955, entwirft er eine Charakteristik seines Freundes, welche die „induktive", vom einprägsamen Detail ausgehende Reflexions form der Einbahnstraße und anderer Arbeiten in Zusammenhang mit der Überlieferung des aphoristischen Denkens in Deutschlang bringt. „War Benjamins Dissertation einem zentralen theoretischen Aspekt der frühen deutschen Romantik gewidmet, so ist er in einem Friedrich Schlegel und Novalis sein Leben lang verpflichtet geblieben, in der Konzeption des Fragments als philosophischer Form, die gerade als brüchige und unvollständige etwas von jener Kraft des Universalen festhält, welche im umfassenden Entwurf sich verflüchtigt."5 Im Hinblick auf unser Thema ist vor allem der Umstand maßgeblich, daß hier Philosophiegeschichte und Literarhistorie konvergieren. Die von Adorno und Habermas angedeutete deutsche Tradition läßt sich indes noch umfassender benennen. Sie setzt noch vor dem frühromantischen 4
5
Über Theodor W. Adorno. Mit Beiträgen von K. Oppens u. a., Frankfurt am Main 1968, S. 36. ADORNO: Über Walter Benjamin, hrsg. von R. TIEDEMANN, Frankfurt am Main 1970, S. 37.
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Athenäum-Kreis mit dem aufklärerischen Skeptizismus in den aphoristischen Aufzeichnungen Lichtenbergs ein. Theoreme der Aufklärung sind — in einer sich immer mehr differenzierenden Überlieferung — auch dem romantischen Fragment eigen, ebenso der zeitlich folgenden jungdeutschen Essayistik, etwa bei Heine und Borne. Entscheidend für die Entwicklung im ausgehenden 19. und im 20. Jahrhundert sind allerdings erst die Wirkungen, die von Schopenhauer und vor allem von Nietzsche ausgingen. Ohne Nietzsches Praxis einer philosophischen Schriftstellerei kann man sich die Hinwendung zu einer unakademischen, wenn nicht gar antiakademischen Denkweise kaum vorstellen. Außer Zweifel ist dabei, daß namentlich die literarische Rhetorik Nietzsches ausschlaggebend war, nicht so sehr der einzelne Gedanke. Daher überrascht es nicht, daß sehr unterschiedliche Autoren unter diesem Gesichtspunkt versammelt werden können. In der deutschsprachigen Literatur sind es so unterschiedliche wie z. B. Simmel, Kraus, Polgar, Hofmannsthal, Benjamin, Bloch und aus der Frankfurter Schule Adorno und Horkheimer. Die Tradition des, herkömmliche Systematik vermeidenden, gleichsam punktuellen Denkens hat besonders die Schreibweise (und das heißt stets auch die Denkweise) Benjamins und Adornos geprägt. Die Abneigung gegenüber dem systematisch angelegten Denkgebäude, hinter dem immer auch schon Gewalt vermutet wird, sowie der Glaube an das analytische Vermögen, das am anschaulich erfahrenen Detail die Erkenntnis gesellschaftlicher Zusammenhänge entfaltet, sind von den Autoren selbst dargelegt worden. Ernst Bloch sprach 1928 aus Anlaß des Erscheinens von Benjamins Einbahnstraße von einer „Revueform in der Philosophie". Kleine Formen wie Sinnspruch, Unterweisung, Dialog, Traktat seien immer schon, betont Bloch, Ausdruck legitimen Philosophierens gewesen, lange vor der Zeit der großen Systeme. In der Gegenwart habe jedoch die Zersplitterung der Systeme besondere Bedeutung. „Nun zieht, mit dem bürgerlichen Vernunftprinzip a priori, auch das System ab, das seinen idealistischen Zusammenhang einzig aus diesem Vernunftprinzip bestritten und entwickelt hatte. Das geschlossene Lehrgebäude vergeht im selben Akt wie der abstrakt-geschlossene Kalkül des Bürgertums; dergestalt, daß Nietzsche das System sogar ,Wille zur Unehrlichkeit' taufen konnte."6 In diesem Kontext sieht Bloch Benjamins Annäherung an die Form des philosophischen Notats, die als „überlegte Improvisation" erscheint, „als Abfall des gesprungenen Zusammenhangs, als Folge von Träumen, Aphorismen, Losungen, zwischen denen höchstens quere Wahlverwandtschaft wünscht, da zu sein".7 Blochs Diagnose trifft ohne Einschränkung auch 6 7
E. BLOCH: Erbschaft dieser Zeit, Frankfurt am Main 1973, S. 369. Ebenda.
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auf Adornos kurze Prosa zu — wobei weniger die Abhängigkeit oder Unabhängigkeit der Zeitgenossen voneinander von Interesse ist als vielmehr die gemeinsame literarisch-philosophische Herkunft. Die Wiener Komponente — die durch das Interesse für Kraus und Hofmannsthal auch bei Benjamin vertreten ist — hat bisher erstaunlich wenig Beachtung gefunden. Der italienische Adorno-Kenner Carlo Pettazzi hat offenbar als erster auf die Beziehungen zu Wien und das Verhältnis zu Karl Kraus hingewiesen. Die Ergebnisse seiner Mailänder Dissertation Ricercbe sulla formatierte del pensiero ßlosofico di Th. W. Adorno von 1973 faßt sein Beitrag zum Adorno-Sonderband von Text + Kritik zusammen. Pettazzi beschränkt sich jedoch im wesentlichen darauf, den Frankfurter Autor als Bewunderer und wohl auch stilistischen Schüler des Sprachmeisters Kraus zu interpretieren. Die Stadt der Sozialdemokratie, die Stadt Otto Bauers, Karl Renners und Max Adlers sei Adorno offensichtlich fremd geblieben; gegolten habe fast nur die ästhetische Kultur. In literarischer Hinsicht sei Kraus maßgebend geworden. „Der Haß gegen die Phrase, die bis zur Artistik gesteigerte syntaktische Komposition, die Vorliebe für den Aphorismus und den prägnanten Ausdruck, all das verbindet die Sprache der ,Minima Moralia' mit der Prosa jenes Autors, der die Nächte damit zubrachte, die dreiste Dirne Sprache wieder zur Jungfrau zu machen."8 Pettazzi zitiert auch Adornos mit seltener Emphase vorgebrachtes Lob des Schriftstellers, „der in der sprachlichen Kraft der Einzelformulierung, der Prägnanz der Details, auch dem Reichtum an syntaktischen Formen von keinem seiner deutschen und österreichischen Zeitgenossen übertroffen ward". Hinzuzufügen wäre allerdings, daß Adorno an dieser Stelle seines Essays über Sittlichkeit und Kriminalität auf den eigentümlichen Umstand aufmerksam macht, daß Kraus sich in seiner Prosa den großen Formen gegenüber gleichgültig verhielt. Zu erklären sei das aus der Methode der immanenten Kritik, deren sich Kraus zumeist bediente.9 Wichtig ist diese Feststellung schon deshalb, weil sie zugleich eine versteckte Selbstdeutung enthält: denn auch Adornos Essayistik und Aphoristik entzündet sich vorwiegend an der Einzelerfahrung, am bezeichnenden Detail, am Zitat. Auch darin, daß die begriffliche Formulierung oft jäh in ein prägnantes Bild umschlägt, die Metapher den Gedanken abschließt und gleichsam versiegelt, ist er sowohl Kraus als auch Benjamin verwandt. Feststellungen dieser Art bleiben jedoch vage, solange sie nicht durch den Nachweis konkreter Übereinstimmungen gestützt erscheinen, vor allem im Bereich der gedanklichen Substanz. Pettazzi beschränkt sich hier 8
9
C. PETTAZZI. Studien zu Leben und Werk Adornos bis 1938, in: Theodor W. Adorno. Sonderband der Reihe Text + Kritik, hrsg. von H. L. ARNOLD, München 1977, S. 25. ADORNO: Noten zur Literatur III, Frankfurt am Main 1965, S. 75 f.
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freilich auf die Vermutung, die Themen der verstümmelten Natur und der Regression gesellschaftlicher Formen, die zu den leitenden Motiven der Dialektik der Aufklärung gehören, seien eine eigentümliche Version der Kulturkritik von Kraus. Es überrascht, daß Pettazzi das Thema der Kunst, vorrangig für Kraus und erst recht für Adorno, außer acht läßt. Dabei tritt gerade in den von ihm zitierten Minima Moralia eine Kunstauffassung zutage, die auf frappante Weise die Nähe zu Karl Kraus vor Augen führt. Der erste und im doppelten Sinne führende aphoristische Satz in der 143. Aufzeichnung der Minima Moralia lautet lapidar: „Aufgabe von Kunst heute ist es, Chaos in die Ordnung zu bringen." Die vermutlich formal gemeinte Überschrift „In nuce" kann man ruhig auf die Bedeutung dieses Gedankens für die gesamte Ästhetik Adornos beziehen: Im weitesten Sinne des Wortes ist Kunst, moderne autonome Kunst, für Adorno bekanntlich eine Form des Widerstandes gegen den Zwang der Gesellschaft in allen Erscheinungsarten der Herrschaft und damit eine Verkörperung ersehnter Freiheit. Der Begriff „Chaos" ist bewußt paradox, denn die „Unordnung" beruht zugleich auf höchster Ordnung, nämlich auf der durchdachten künstlerischen Stimmigkeit des Werkes. „Chaotisch" kann die ästhetische Ordnung somit nur im Gegensatz zu den scheinbaren Ordnungen sozialer Gebilde sein — eine andere Bedeutung ist von der Sache her ausgeschlossen. Daß das Kunstwerk unter den Gesichtspunkten seiner Immanenz, d. h. der Organisation seiner Elemente, eine Ordnung darstellt, erhellt aus dem zweiten Aphorismus des 143. Stückes: „Künstlerische Produktivität ist das Vermögen der Willkür im Unwillkürlichen." Willkür ist hier das alte Wort für die Verfügungsgewalt des kreativen Subjekts über das Material, und es ist keine belanglose Koinzidenz, daß Adorno hier einen Ausdruck gebraucht, der in einer entscheidenden Formulierung Friedrich Schlegels vorkommt: im 116. Athenäums-Fragment, wo die Ausdrucksfreiheit des emanzipierten Künstlers (Dichters) mit den Worten beschworen wird, es gebe für ihn nur ein Gesetz, nämlich daß seine „Willkür" kein „Gesetz über sich leide".10 Auch die von Adorno hier angedeutete dialektische Spannung zwischen der „Willkür" und dem „Unwillkürlichen" ist romantischen Ursprungs; man findet sie abermals in einer Maxime des jungen Friedrich Schlegel: „In jedem guten Gedicht muß alles Absicht, und alles Instinkt sein. Dadurch wird es idealisch."11 Die Terminologie sollte nicht daran hindern, zu erkennen, daß die erwähnten Postulate des ausgehenden 18. Jahrhunderts bereits die Anfänge jener Moderne signalisieren, die als Makroepoche in Adornos Geschichtstheorie eine maßgebliche Rolle spielt. 10 11
F. SCHLEGEL: Kritische Schriften, hrsg. von W. RASCH, München 1964, S. 39. Ebenda, S. 7.
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Erst auf dem Hintergrund einer so angelegten modernistischen Ästhetik ist der oben artikulierte Gegensat2 begreifbar, die Opposition von Ordnung und Chaos, die nicht rein poetologisch, sondern vielmehr geschichtsphilosophisch begründet ist. Im Grunde handelt es sich bei diesem Gedanken um eine Ergänzung zu der wohl am häufigsten zitierten Maxime der Minima Moralin., die lautet „Das Ganze ist das Unwahre" (Schlußsatz des 29. Stücks). Der ein Theorem Hegels weiterführende und korrigierende Satz12 zielt nicht auf eine metaphysisch gedachte Totalität, sondern auf das jeweils ideologisch gefügte Ganze der Gesellschaft — eben die in dieser Totalität enthaltene scheinhafte Ordnung. Das „Chaos", das von der Kunst, vor allem aber von der Kunst der Moderne ausgeht, hat seine Wahrheit darin, daß es die Ordnung des unwahren Ganzen sprengt und widerlegt. Am lapidarsten hat Adorno diese Auffassung in einem Satz der Ästhetischen Theorie ausgedrückt: „Dissonanz ist die Wahrheit über Harmonie."13 Chaos in die Ordnung zu bringen bedeutet nichts anderes, als die Wahrheit über die Harmonie durch die Dissonanz auszusagen. Eine systematische Lektüre der Aphorismenbände von Kraus läßt erkennen, wo der Ursprung mancher Maximen dieser Ästhetik vermutlich zu suchen ist: im Wien der Zeit nach der Jahrhundertwende. Der 1912 erschienene Band Pro domo et mundo enthält an exponierter Stelle folgenden Gedanken: „Kunst bringt das Leben in Unordnung. Die Dichter der Menschheit stellen immer wieder das Chaos her."14 Die Übereinstimmung zwischen den Aufzeichnungen von Kraus und von Adorno ist nahezu wörtlich. Daß es sich keineswegs um eine beiläufige Ähnlichkeit handelt, wird aus den verwandten Denkkontexten deutlich. Auch Kraus vertrat — in seiner poetischen Praxis allerdings nur teilweise — eine spezifisch modernistische Poetik der Verfremdung und Verunsicherung, eine Kunstkonzeption, die nicht idealistische Überhöhung und harmonische Sublimierung anstrebt, sondern Irritation, Störung von Wahrnehmungs- und Denkklischees. Daß die Dissonanz die Wahrheit über die Harmonie sei, könnte ebensogut bei Kraus stehen. Und in der Tat, der Gedanke findet sich in einer analogen Formulierung ebenfalls unter den Aphorismen von Pro domo et mundo: „Die Verzerrung der Realität im Bericht ist der wahrheitsgetreue
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13 14
Zur Interpretation vgl. F. GRENZ: Adornos Philosophie in Grundbegriffen, Frankfurt am Main 1974, S. 133. Auch in der Ästhetischen Theorie kehrt der Gedanke wieder: „Die ästhetische Ganzheit ist die Antithesis des unwahren Ganzen" (S. 429 der Erstausgabe). ADORNO: Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main 1970, S. 168. K. KRAUS: Beim Wort genommen (Dritter Band der Werke, hrsg. von H. FISCHER), München 1955, S. 279. — Vgl. J. QUACK. Bemerkungen zum Sprachverständnis von Karl Kraus, Bonn 1976. Das Buch enthält einen Exkurs über KRAUS und ADORNO, geht aber auf die ästhetische Problematik kaum ein.
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Bericht über die Realität."15 Die Begründung für diese Sicht der Dinge ist in dem vorausgehenden aphoristischen Satz enthalten, in einem Notat, das ebenfalls zentralen Gedankengängen entspricht. Gemeint ist der Satz: „Die Phrase und die Sache sind eins." In einer Welt, in der die Phrasen, d. h. gelenkte Sprache, die Dinge beherrschen und förmlich verdecken, ist vermeintliche Objektivität, die Rede davon, „was der Fall ist", bereits Teilnahme am ideologischen Trug. Auszubrechen ist aus diesem Kreis nur mit Hilfe der von Kraus formulierten Paradoxie, wonach nur die Verzerrung der Realität, d. h. die bewußte Abweichung vom Faktischen und von der Phrase, einen Ausblick auf die Wahrheit garantiert. Die gleiche dialektische Denkfigur liegt einem Aper$u der Minima Moralia über die Psychoanalyse zugrunde: „An der Psychoanalyse ist nichts wahr als ihre Übertreibungen" (29. Stück). Übertragen auf die Kunst, heißt das, die Kunst könne der heutigen Welt nur beikommen, indem sie auf herkömmliche Wiedergabe der Realität oder auf vorgegebene Ordnungsmuster verzichtet und es mit dem „Chaos" der Störung hält. Darin, daß es auf eine „Ästhetik der Opposition" ankommt (um es mit einem Begriff aus der Literaturtheorie Lotmans16 zu benennen), decken sich die Thesen von Kraus und Adorno. Dennoch ist der Unterschied zwischen den beiden Aussagen zu beachten. In Adornos Aphorismus über Kunst und Chaos ist ausdrücklich von der Kunst heute die Rede, es kann also kein Zweifel daran sein, daß die Stelle im Zusammenhang von Adornos Auffassungen von Modernität gesehen werden muß. Der Text des Wiener Autors erweckt dagegen den Eindruck, es handle sich um einen Wesenszug der Kunst aller Zeiten: es heißt ja, die Dichter der Menschheit stellten immer wieder das Chaos her. Trotzdem darf man annehmen, daß auch bei Kraus eine relativierende, historische Sicht den Hintergrund bildet. Unmittelbar vor dem zitierten Gedanken „Kunst bringt das Leben in Unordnung ..." findet sich nämlich folgendes Notat: „Weh der Zeit, in welcher Kunst die Erde nicht unsicher macht und vor dem Abgrund, der den Künstler vom Menschen trennt, dem Künstler schwindlig wird und nicht dem Menschen!"17 Die Ästhetik der verunsichernden Schocks ist folglich nicht allen Zeitaltern eigen, aber sie wird aus der Sicht des Autors als ein Imperativ an die Kunst überhaupt empfunden. Die Auffassung von Kraus ist insofern generalisierend, als sie die eigentümlichen, „destruktiven" Folgen der Kunst zu einer Forderung an große Kunst macht, zu einem Postulat, ohne daß die besonderen Bedin-
15 16
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Ebenda, S. 229. J. M. LOTMAN: Die Struktur des künstlerischen Textes, hrsg. von R. GRÜBEL, Frankfurt am Main, S. 436 ff. Beim Wort genommen, S. 279.
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gungen gesellschaftlicher Natur bedacht würden, die ein solches modernes Verständnis von Kunst erst begründen. Anderseits ist in diesem Kontext daran zu erinnern, daß auch bei Adorno die Grenze zwischen den Kunstwerken der Moderne und der Kunst vormoderner Zeiten nicht immer deutlich gezogen erscheint. Namentlich Hans Robert Jauß hat auf die daraus entspringenden theoretischen Antinomien hingewiesen.18 So ist etwa in der These der Ästhetischen Theorie, alle Kunstwerke, auch die affirmativen, seien „a priori polemisch"19, sicherlich eine Grenzüberschreitung zu der Vergangenheit hin zu erblicken, zu den Zeitaltern vorautonomer, naiv affirmativer Kunst. Außer allem Zweifel ist dagegen ein anderer Unterschied zwischen Adorno und Kraus. Ungebrochen behauptet sich bei dem älteren Autor die Verherrlichung des Künstlers, vor allem in dem oben angeführten Wort von dem „Abgrund, der den Künstler vom Menschen trennt" und der den Künstler nicht schwindlig machen dürfe. Zu erkennen ist darin fraglos die seit dem 18. Jahrhundert und vollends seit der Romantik sich steigernde Selbstgewißheit des autonomen Künstlers, jenes idolatrische Verständnis, das seinen prägnantesten Ausdruck wohl im Urteil Friedrich Schlegels fand, die Künstler seien der Gipfel der Menschheit: Was die Menschen unter den anderen Bildungen der Erde, das seien die Künstler unter den Menschen.20 Adorno ist hingegen weit davon entfernt, den modernen Künstlermythos zu überliefern. Im Lichte der Kritischen Theorie tritt vielmehr die widerspruchsvolle Position des Künstlers in Erscheinung, das Wechselspiel seiner Rollen in der Gesellschaft, sein Sozialcharakter, der keine blinde Affirmation erlaubt. Wenn es — nach einem Gedanken der Minima Moralia — kein richtiges Leben gibt im falschen, dann kann auch die Existenz des Künstlers nicht als etwas Absolutes gelten, das frei wäre von den Antinomien der Gesellschaft. Kein Wunder, daß sich im Umkreis dieser Gedankengänge Adornos Kritik an Kraus entzündet. Eine der ganz wenigen kritischen Stellen unter den zahlreichen Kraus-Nennungen in Adornos Schriften findet sich in den Minima Moralia (134. Stück), in den Reflexionen über „Juvenals Irrtum", d. h. über die Schwierigkeit, eine Satire zu schreiben. Die Satire setzt ein gesichertes Feindbild voraus, ungetrübte Gewißheit darüber, was gut und was verwerflich sei, kurz: einen Horizont, der das Selbstverständliche kennt. Heute, meint Adorno, müssen solche Voraussetzungen als eine Form von Blindheit gelten. Die Kraft, die Kraus aus einem ungebrochenen 18
19 20
H. R. jAuß: Negativität und ästhetische Erfahrung. Adornos ästhetische Theorie in der Retrospektive. In: Materialien zur ästhetischen Theorie. Th. W. Adornos Konstruktion der Moderne, hrsg. von B. LINDNER und W. M. LÜDKE, Frankfurt am Main 1980. Ästhetische Theorie, S. 264. Kritische Schriften, S. 93.
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Dualismus für seine Satiren zieht, ist zugleich auch seine Schwäche. „... kein Witz von Karl Kraus zaudert in der Entscheidung darüber, wer anständig und wer ein Schurke, was Geist und was Dummheit, was Sprache und was Zeitung sei."21 Die Satire des Wiener Autors, die ihren Humanismus als invariant setzt, nimmt gerade dadurch restaurative Züge an. Es ist kennzeichnend, daß Adornos Solidarität mit Kraus dort ihre Grenzen hat, wo Kraus einer unreflektierten Positivität das Wort redet und daher der Urteilsbildung einer negativen Dialektik nichts mehr zu sagen hat. Höchste Anerkennung fand dagegen bei Adorno bis zuletzt Kraus' Gesellschaftskritik im Bereich der Sexualmoral, vor allem in Sittlichkeit und Kriminalität, wie auch seine Kritik der Sprachpraxis, eine kritische Leistung, angesichts deren Adorno nicht zögerte, von einem Modell für die Wissenschaft zu sprechen. In seiner Einleitung zum Sammelband Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie heißt es im Hinblick auf die Methoden soziologischer Forschung: „Sein Werk mag keine Wissenschaft sein, aber ihm müßte eine gleichen, die auf den Namen Anspruch hätte."22 Es gilt hier darzustellen, was Adorno der geistigen Kultur der Wiener Jahrhundertwende verdankt, freilich ohne kleinliches Interesse an dem Nachweis sogenannter Einflüsse. Im übrigen hat er selbst die in Wien empfangenen Impulse — von der Musik bis zur Psychoanalyse, auf die gesondert einzugehen wäre — stets dankbar vermerkt.23 Sollte an der Authentizität der Beziehungen Adornos zu Kraus noch Zweifel sein, so kann dieser durch eine Bemerkung aus der Ästhetischen Theorie beseitigt werden. Es wird dort dargelegt, der Gedanke, Kunst habe Chaos in die Ordnung zu bringen, sei wohl zuerst von Kraus ausgesprochen worden. Auf die Kenntnisse, die Adorno von Kraus gehabt haben muß, fällt hier ein klares Licht. Von Interesse ist aber namentlich der Umstand, daß Adorno an dieser Stelle — ohne sein eigenes Notat aus den Minima Moralia zu erwähnen — geradezu von einem modernen ästhetischen Topos spricht: „Mehrfach ist, zuerst wohl von Karl Kraus, ausgesprochen worden, daß, in der totalen Gesellschaft, Kunst eher Chaos in die Ordnung zu bringen habe als das Gegenteil."24 Ein Hinweis auf andere Autoren enthält die 21 22
23
24
Vgl. dazu auch BENJAMINS Versuch über KRAUS. TH. W. ADORNO, u. a.: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Neuwied und Berlin 1969, S. 58. Es ist evident, daß namentlich die sprachspielerischen Neigungen Adornos sowie seine Art, Kritik mit metaphorischer Phantasie zu verbinden, Anregungen von Kraus empfangen haben. Zu vergleichen wären etwa ADORNOS Einfalle im Essay Satzzeichen (Noten %ur Literatur I) mit KRAUS' Aufsätzen zur Sprachkritik (Die Sprache. — Zweiter Band der Werke, München 1954). Ästhetische Theorie, S. 144.
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Stelle allerdings nicht, so daß man hier auf Vermutungen angewiesen ist. Es dürfte sich indes, entgegen den Andeutungen Adornos, durchaus um eine Prägung Wiener bzw. Frankfurter Provenienz handeln. Überblickt man nämlich die Kunsttheorie und Programmatik vom Naturalismus bis zum Expressionismus, so erscheint diese Auffassung eher isoliert. (Die dadaistischen Proklamationen, wenige Jahre nach Kraus' Maximen veröffentlicht, scheiden in diesem Zusammenhang aus, denn in ihnen sind Kunst und Realität gleichermaßen abgewertet, und gerade der emphatische Kunstbegriff, der ja noch die Sicht von Karl Kraus beherrscht, wird hier zur Zielscheibene des Spottes.) Ihren Inhalt verdankt die Chaos-Maxime bei Adorno, und zum Teil sicherlich auch bei Kraus, der Praxis unkonventioneller Expressivität in den Jahren um 1910: in den Partituren Schönbergs, den Gedichten Trakls, der Malerei der „Brücke" und des „Blauen Reiters". Hier gilt es wohl, zwischen der Substanz der Werke und dem Wortlaut der Programme zu unterscheiden. Adorno selbst spielt auf diesen Unterschied an, wenn er in einem rückblickenden Aufsatz aus dem Jahre 1950 erklärt, „daß der Expressionismus große, bleibende Kunstwerke hervorbrachte, deren Begriff vielleicht mit seinem eigenen unvereinbar ist".25 Eine Sichtung der expositorischen Schriften der Bewegung zeigt jedenfalls, daß die — an zahlreichen Stellen vorkommende — entsprechende Denkfigur an der herkömmlichen Gegenüberstellung von chaotischer Realität und strukturierender, formschaffender Kunst festhält. In einer der bedeutendsten Thesenschriften des Expressionismus, in der Rede für die Zukunft von Kurt Pinthus, geschrieben im Sommer 1918, wird die Natur, die empirische Realität als Umwelt des Menschen, ausdrücklich als das „Chaotische, Unbekannte" gedeutet, im Gegensatz zum Geist und dessen ,,ordnende[r] ... Kraft". Die Kunst aber gilt als der sinnfälligste Ausdruck der kreativen, wesentlich amimetischen Macht des Geistes.26 Viel eher wäre es möglich, die ästhetischen Maximen Kraus' und Adornos mit der Kunsttheorie einiger Zeitgenossen in Verbindung zu bringen, von denen sicherlich weder der ältere noch der jüngere Autor Kenntnis gehabt haben. Gemeint sind die Vertreter des sogenannten Formalismus in der russischen Literaturtheorie in den Jahren vor und nach 1917. Die Kunst, und namentlich die moderne Kunst, ist nach dem rezeptionsästhetischen Verständnis der „Formalen Schule" ein Umgang mit Zeichensystemen, der zum Ziel hat, die eingefahrenen, automatisierten Wahrnehmungsformen zu stören und eine neue, spontane Perzeption der Dinge zu 25
26
TH. W. ADORNO: Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft, Frankfurt am Main 1971, S. 26. K. PINTHUS: Rede für die Zukunft, in: Die Erhebung. Jahrbuch für neue Dichtung und Wertung, hrsg. von A. Wolfenstein, Berlin (1919), namentlich S. 410 ff.
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ermöglichen. Semiotisch gesprochen: durch einen Entropie-Effekt wird der Informationswert der Zeichen erhöht, durch Irritation der Erwartung Bedeutung geschaffen. In Viktor Sklovskijs grundlegendem Aufsatz Kunst als Verfahren heißt es: „Ziel der Kunst ist es, ein Empfinden des Gegenstandes zu vermitteln, als Sehen, und nicht als Wiedererkennen; das Verfahren der Kunst ist das Verfahren der ,Verfremdung' der Dinge und das Verfahren der erschwerten Form, ein Verfahren, das die Schwierigkeit und Länge der Wahrnehmung steigert .. ,"27 Nichts anderes ist im Grunde in der Ästhetik des Chaos intendiert. Ordnung ist in beiden Fällen die Bezeichnung für einen Stand der Dinge, der nicht in Frage gestellt erscheint, einen Stand kommunikativer Selbstverständlichkeit, ob es sich nun um Stumpfheit der Sinne handelt oder um das Unvermögen, in den zur zweiten Natur gewordenen gesellschaftlichen Verhältnissen die keineswegs natürliche Konvention zu erkennen. Das von den Künstlern erzeugte Chaos, das komponierte Chaos sozusagen, empfängt dagegen seinen Sinn aus dem Widerstand gegen Regularitäten, die Monotonie und Stumpfheit erzeugen. In einem weiteren sehr gewichtigen Fragenkomplex ist die Verwandtschaft zwischen der Kritischen Theorie und dem gedanklichen Potential der Wiener Jahrhundertwende nicht weniger offenbar. Es geht hier vor allem um die Besinnung darüber, in welchem Maße auch die Kunst selbst als etwas Selbstverständliches, immer und überall Gültiges anzusehen sei. Der geschichtsphilosophischen, von Hegel ausgehenden Frage nach dem „Ende der Kunst" tritt eine andere, aktuell moralisch akzentuierte zur Seite: die Frage, ob der „schöne Schein" der Kunst sich mit ruhigem Gewissen behaupten dürfe angesichts des realen Leides und Elends in der Welt. In den letzten Jahrzehnten ist dieses Dilemma des künstlerischen Schaffens ins allgemeine Bewußtsein gedrungen, spätestens seit der Breitenwirkung von Hermann Hesses Romanen und Essays, Herbert Marcuses Kulturkritik sowie Jean-Paul Sartres politischer Philosophie. In seiner bekannten, 1937 im Exil entstandenen Abhandlung Über den affirmativen Charakter der Kultur unterzieht Marcuse den besonderen, von der Realität nicht unmittelbar berührten Schein-Charakter der Kunst einer grundsätzlichen Kritik. Da diese unter logischen Gesichtspunkten als autonom interpretiert werden kann, läßt sie sich in der Regel mit jeder Wirklichkeit in Einklang bringen, ja sogar ideologisch mißbrauchen. „Die Schönheit der Kunst ist — anders als die Wahrheit der Theorie — verträglich mit der schlechten Gegenwart: in ihr kann sie Glück gewähren."28 In einer späteren Schrift Marcuses heißt es: „Der affirmative Charakter der 27 28
Texte der russischen Formalisten, Bd. I, hrsg. von J. STRIEDTER, München 1969, S. 15. H. MARCUSE: Kultur und Gesellschaft I, Frankfurt am Main 1965, S. 86.
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Kunst gründete weniger darin, daß sie von der Wirklichkeit abgehoben war, als in der Leichtigkeit, mit der sie mit der gegebenen Wirklichkeit versöhnt werden konnte, sich als deren Dekor verwenden und als unverbindlicher, aber lohnender Wert weitergeben und erfahren ließ .. ,"29 Der Zwiespalt zwischen dem Glück, das dem Hervorbringen und dem Erfahren von Kunst eignet, und der Gewißheit, daß dieses Glück in einem sinnlosen Widerspruch zu allem unsublimierten Leid steht, hat gerade bei besonders sensiblen Künstlern so etwas wie einen moralistischen Komplex bewirkt, gleichsam ein eigentümlich schlechtes Gewissen. Ein kulturgeschichtlich sehr bezeichnendes Beispiel findet sich beim Goethe der frühen Weimarer Periode. Von einer Dienstreise, auf die er das Manuskript der Iphigenie mitgenommen hatte, schreibt er im März 1779 an Frau von Stein: „Hier will das Drama gar nicht fort, es ist verflucht, der König von Tauris soll reden als wenn kein Strumpfwürcker in Apolde hungerte."30 Goethe ist der erste europäische Klassiker im Zeitalter ästhetischer Autonomie. Eine solche Äußerung wäre in vorautonomen Epochen kaum denkbar gewesen. Erst ein Bewußtsein, das, von der Heteronomie dienender Kunst befreit, das künstlerische Schaffen als persönliche Erfüllung erfuhr, konnte den Gegensatz zwischen harmonischem Schein und dissonanter Realität als eine wirkliche Problematik erleben. In unserer Zeit drückte Sartre dieses „schlechte Gewissen" des Literaten in zugespitzter Form aus, als er behauptete, angesichts eines hungernden Kindes habe ein Roman kein Gewicht.31 Die differenzierenden Äußerungen im selben Kontext zeigen jedoch, daß es sich auch hier trotz aller politischen Emphase um einen eigentümlichen Moralismus handelt, nicht viel anders als bei Goethe, keineswegs um die Erneuerung einer puritanischen Ideologie der Kunstfeindlichkeit. Gewicht und Bedeutung eines literarischen Werkes, ergänzt Sartre, können nicht von Ort und Zeit der Lektüre getrennt betrachtet werden: In einem Land, in dem Unterdrückung herrscht, bedeutet Kafka sehr viel, Robbe-Grillet dagegen wenig. Sartres Thesen aus den sechziger Jahren waren damals bei weitem nicht die radikalsten. Eine extreme Position im Rahmen der dargelegten Problematik hatte in den Nachkriegs Jahren Adorno bezogen. In seinem 1949 geschriebenen Aufsatz Kulturkrttik und Gesellschaft finden sich die oft, aber nicht immer genau zitierten Sätze: „Noch das äußerste Bewußtsein vom Verhängnis droht zum Geschwätz zu entarten. Kulturkritik findet 29 30
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H. MARCUSE: Konterrevolution und Revolte, Frankfurt am Main 1973, S. 115. Goethes Briefe (Hamburger Ausgabe in 4 Bänden), hrsg. von K. R. MANDELKOW, Bd. I, Hamburg 1962, S. 264. Vgl. dazu ferner die Ausprägung dieses Motivs in der Romantik, vor allem bei WACKENRODER in der Figur Berglingers. J. P. SARTRE: Was kann Literatur? Interviews, Reden, Texte 1960 — 1976, hrsg. von T. KÖNIG, Reinbek bei Hamburg 1979, S. 65.
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sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben."32 Eingeschränkt hat Adorno diese Auffassung erst anderthalb Jahrzehnte später, in der Negativen Dialektik, und zwar auf eine für ihn bezeichnende Weise: Der Dialektik der kulturellen Konventionen setzt er die Dialektik des nackten subjektiven Ausdrucks entgegen. Das Leid in der Welt habe ebensoviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; daher mag es falsch gewesen sein zu behaupten, nach Auschwitz ließen sich keine Gedichte mehr schreiben.33 Weniger beachtet wurde eines der in diesen Zusammenhang gehörenden Denkmotive der Minima Moralia. Die folgende Stelle, viel weniger provokant formuliert als die oben genannte, macht die verborgene Beziehung zu Goethes Zweifel erkennbar. „Was an Schönem unterm Grauen noch gedeiht, ist Hohn und häßlich bei sich selber. Dennoch steht seine ephemere Gestalt für die Vermeidbarkeit des Grauens ein. Etwas von dieser Paradoxie liegt auf dem Grunde aller Kunst; heute kommt sie daran zutage, daß Kunst überhaupt noch existiert. Die festgehaltene Idee des Schönen verlangt, Glück zu verwerfen und zugleich zu behaupten" (77. Stück). Die Frage, ob Adorno die Tradition seiner Thesen gekannt hat, ist belanglos. Im Hinblick auf sein Moderneverständnis, das weitgehend von den Konstellationen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestimmt ist, verdient jedoch der Umstand Aufmerksamkeit, daß die moralische Dialektik von Kunst und Realität zum Gedankenhorizont dieser Moderne gehört und daß der Anteil der Wiener Moderne abermals sehr ausgeprägt ist. Der wichtigste Autor ist diesmal Hugo von Hofmannsthal, der in Dichtungen und Briefen am eindringlichsten die Zweifel an einer rein ästhetischen Lebenshaltung ausgedrückt hat und stellenweise sogar zu radikalen Fragestellungen vorgestoßen ist. Tagebuchaufzeichnungen wie auch Briefe aus der Zeit um die Jahrhundertwende, vor allem die Korrespondenz mit Beer-Hofmann und dem Grafen Kessler, enthalten zahlreiche Zeugnisse dieser Art. Komprimiert findet sich die gesamte Problematik in einer Eintragung aus dem Jahre 1893, die den erstaunlichen Weitblick des jungen Autors bekundet: „Lebensangst. Zweifel an der Existenzberechtigung der Kunst gegenüber dem Elend der Welt."34 Daß es sich nicht um einen flüchtigen Einfall einer impressionistischen Sensibilität handelt, 32
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Aufgenommen in den Essayband Prismen, Frankfurt am Main 1955 (Taschenbuchausgabe DTV, München 1963, S. 26). TH. W. ADORNO: Negative Dialektik, in: Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt am Main 1973, S. 355. H. v. HOFMANNSTHAL: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Reden und Aufsätze III, Frankfurt am Main 1980, S. 363.
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sondern um eine leitmotivische Antinomie, zeigt ein Notat aus dem Jahre 1905. Es hält einen Augenblick des Bewußtseins fest, den quälenden Gedanken, daß die gerade verflossenen friedlichen Augenblicke, der Kunst gewidmet, für viele Menschen in aller Welt gleichzeitig unsägliches Leid bedeuten. Der impressionistische Augenblick wird hier zum geschichtsphilosophischen Motiv. Die Eintragung trägt die lapidare Überschrift Welt^ustand. „Während ich hier in Lueg am Rande des Waldes über dem leuchtenden See sitze und schreibe, ereignet sich in der Welt dieses: In Venezuela läßt der Diktator Castro in den überfüllten Gefängnissen erwürgen und zu Tode martern: die Leiche eines Verbrechers bleibt an den lebenden jungen Obersten X. so lange angekettet, bis der Oberst wahnsinnig wird. In Baku schießen seit acht Tagen die Armenier und Tartaren aufeinander, werfen Frauen und Kinder in die Flammen der Häuser, das Ganze erleuchten auf Meilen die roten Riesenflammen der brennenden Petroleumlager. [...] Und die Gefängnisse! die unschuldig Verurteilten! und die sogenannten Schuldigen! und die Armenviertel von London und New York .. ."35 Die eigentümliche Simultaneitätserfahrung nicht weniger als die an Adorno erinnernde gesellschaftshistorische Substanz machen diese Aufzeichnung zu einem der unbekannten Schlüsseltexte der Moderne. Der geschichtliche Abstand, der Adorno von den Wiener Autoren trennt, ist wohl am genauesten an den Gedanken über die Zukunft der Kunst zu ermessen. In Hofmannsthals Gedanken erscheint die Kunst gleichsam einer Zerreißprobe ausgesetzt, doch Wert und Weiterleben ästhetischer Kreativität stehen außer Frage. Von einem Ende der Kunst, einer gesellschaftlichen Aufhebung dieser Tätigkeit ist nirgendwo die Rede. Auch bei Karl Kraus nicht: Die Würde, ja die Selbstverständlichkeit der Kunst galten ihm als unantastbar. Ein Epigramm, das ein Xenion Goethes auf sehr bezeichnende Weise abwandelt, begreift die Kunst stolz, aber keineswegs aufklärerisch als eine mythische Instanz, der Wissenschaft — anders als bei Goethe — weit überlegen. „Wer Kunst und Religion besitzt, der hat auch Wissenschaft. / Wer diese beiden nicht besitzt, der habe Wissenschaft."36 Ein Ende der Kunst hätte sich Kraus nur zugleich mit dem Untergang der Menschheit vorstellen können, einem realen Untergang. Einen metaphorischen könne, ja müsse die Kunst überleben, heißt es in einer für unser Thema besonders wichtigen Aufzeichnung: denn ihr Sinn ist, Negation zu sein, Absage an die Machenschaften der Zeit. „Kunst kann nur von der Absage kommen. Nur vom Aufschrei, nicht von der Beruhigung. Die Kunst, zum Tröste gerufen, verläßt mit einem Fluch das Sterbezimmer der Menschheit. Sie geht durch Hoffnungsloses zur
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Ebenda, S. 462. K. KRAUS: Worte in Versen I, Leipzig 1916, S. 21.
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Erfüllung."37 Knapper und einprägsamer läßt sich der Kerngedanke von Adornos Ästhetik der Negativität nicht formulieren. Wohin Kraus dem Vertreter der Kritischen Theorie nicht gefolgt wäre, ist leicht zu erschließen. Die „Erfüllung", von der Kraus spricht, ist der Sieg der Kunst über das schlechte Heute, gewiß nicht deren Auflösung. Adorno, der die Kunst sozialgeschichtlich konkreter begreift und sie zu den Erscheinungsformen des objektiven Geistes zählt, entwirft dagegen in einer utopischen Projektion ihr Ende. Im Gegensatz zu Hegel, der nur einen Bedeutungsverlust diagnostizierte, ist bei Adorno von einem qualitativen Endpunkt die Rede. Solange die Menschheit in einem unbefriedeten Zustand verharrt, ist die Kunst notwendig als Gegenentwurf. „Erst einer befriedeten Menschheit würde die Kunst absterben", heißt es in der Philosophie der neuen Musiki Ihr Tod heute wäre bloß ein Sieg des „bloßen Daseins" über das Bewußtsein, das ihm Widerstand leistet. Der Sinn dieses Widerstandes offenbar sich heute am deutlichsten in der Dialektik der Funktionalität. „Das Pseudos des von Intellektuellen proklamierten Endes der Kunst liegt in der Frage nach ihrem Wozu, ihrer Legitimation vor der Praxis jetzt und hier. Aber die Funktion der Kunst in der gänzlich funktionalen Welt ist ihre Funktionslosigkeit ..." — so die Formulierung der Ästhetischen Theorie.39 Der entscheidende Unterschied zwischen der Kulturkritik der Wiener und dem geschichtsphilosophischen Entwurf Adornos ist durch die historische und damit relativierende Sicht der Kritischen Theorie gegeben. Während für die älteren Autoren die Kunst offenbar ein anthropologisches Apriori ist, erscheint sie bei Adorno als etwas Befristetes, etwas, worauf der Mensch paradoxerweise gerade in einem utopischen Zustand der Humanität verzichten könnte. Der Mensch würde damit das aufgeben, was etwa Schiller als Kern der humanen Anlage betrachtet hat. Es bleibt allerdings offen, wie radikal der vermutlich vom jungen Marx inspirierte Gedanke Adornos zu verstehen ist: Meint er ein völliges Absterben der Kunst oder lediglich die Aufhebung des modernen, autonomen Kunstbegriffes? Allein die Beantwortung dieser Frage würde die Suspension jenes Bilderverbots voraussetzen, das bei Adorno über die utopische Rede verhängt ist. Nur an ganz wenigen Stellen in Adornos Schriften wird die kritische Negation modifiziert durch Andeutungen positiver utopischer Inhalte. Zu nennen ist namentlich der Essay Fortschritt von 1962, ein geschichtsphilosophischer Versuch, der Fortschrittsvorstellungen, „imagines" entwirft, die sich nur demjenigen seltsam ausnehmen mögen, der nicht den Anteil 37 38 39
K. KRAUS: Auswahl aus dem Werk, Auswahl von H. FISCHER, München 1957, S. 149. TH. W. ADORNO: Philosophie der neuen Musik, Tübingen 1949, S. 9. Ästhetische Theorie, S. 475.
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der Wiener Moderne an der geistigen Bildung Adornos berücksichtigt. Bilder humanen Fortschritts sind nach Adorno in manchen keineswegs obsoleten Vorstellungen der Jahrhundertwende zu erkennen, so in der jugendstilhaften imago von „Dekadenz", das heißt von „extremer Individuation". Der Irrationalismus dieser Dekadenz widerlegte die Unvernunft der herrschenden Vernunft.40 Als Kronzeugen einer Sensibilität, die die Stumpfheit der Menschen einst ablösen könnte, zitiert Adorno abermals einen Wiener Autor — den in den ersten Jahrzehnten nach 1945 nahezu vergessenen Peter Altenberg. Der Wiener Bohemien — zitiert aus einer von Karl Kraus edierten Auswahl — erscheint, keinesfalls überraschend, als einer der kulturkritischen Aszendenten der Kritischen Theorie. Man darf vermuten, daß er für Adorno auch selbst eine imago darstellte, ein Bild von jenem Wien, dem er einen Teil seiner Identität verdankte.
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TH. W. ADORNO: Stichworte. Kritische Modelle 2, Frankfurt am Main 1969, S. 38. - Die Beziehungen zwischen künstlerischer Originalität (bzw. Innovation) und ökonomischer Struktur in der Warengesellschaft werden von ADORNO nur relativ flüchtig behandelt. Vgl. vor allem die Ästhetische Theorie, S. 39 ff. und 257 ff. Die entsprechenden Passagen aus BENJAMINS Zentralpark gehören in diesen Zusammenhang und mögen anregend gewirkt haben. ADORNO, der sonst mit Hinweisen auf Wiener Autoren nicht geizte, hatte offenbar keine Kenntnis davon, daß ein weiterer Österreicher, HERMANN BAHR, in seinem Essayband Inventur (Berlin 1912) eine höchst erwägenswerte Theorie der Beziehungen zwischen Ökonomik und ästhetischer Innovation (und damit eine Theorie künstlerischer Entwicklung in der Moderne) entworfen hatte. Die Analogien der Ansätze von BAHR und von ADORNO wären gesondert zu untersuchen. Vgl. zu BAHRS Studien V. ZMEGA£ (Hrsg.): Deutsche Literatur der Jahrhundertwende (Neue Wissenschaftliche Bibliothek, 113), Königstein/Ts. 1981, S. XVIII ff.
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Adornos Literaturkonzept Adornos Literaturkonzept ist Teil seiner umfassenderen Kunstanschauung, Ausdruck einer geschlossenen Ästhetik und Reflexion einer kulturkritischen Philosophie. Es läßt sich darüber hinaus nicht von den musikalischen Schriften, von den soziologischen Studien und moralphilosophischen Überlegungen trennen. Vor allem aber erweist sich Adornos Bestimmung der Literatur als künstlerisches Selbstverständnis. Nicht nur im Bereich der Musik meldet sich ein praktizierender Künstler zu Wort. Die unter dem musikalisch-literarischen Teil gesammelten Essays Noten %ur Literatur (I—III) müssen im Einklang mit seinem in den Jahren 1954—1958 geschriebenen Aufsatz „Der Essay als Form" entsprechend künstlerisch, d. h. gestalterisch, kompositorisch und schöpferisch gedeutet werden. Der Verfasser der Noten %ur Literatur war Schriftsteller und Komponist. Das bedeutet, daß eine Kongruenz von Aussage und Form angestrebt wird, die ihrerseits eine besondere Form der Erkenntnis des Ausgesagten verlangt. Für Adorno gilt es, die Gesetzmäßigkeit einer immanenten Wesensform zu erkennen. Gedichtetes will interpretiert werden. Die Dichtung wird von Adorno als künstlerische Ausdrucksform bekräftigt. Im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen stellt er sie nicht in Frage. Das dichterische Kunstwerk bedeutet ihm wesensgemäß Wahrheit in Transformation. Die auslegende Entdeckung des dichterischen Wahrheitsgehalts ist so gleichsam ein Nachvollzug seiner künstlerischen Form. Das scheint zunächst wie die anglo-amerikanische Schule des New Criticism auf eine dichtungswissenschaftlich-werkimmanente Interpretation zu deuten. Doch Adornos Konzept eines autonomen Kunstwerks bleibt gleichwohl offener. In seinem Essay „Parataxis. Zur späten Lyrik Hölderlins" (in Noten %ur Literatur III} erklärt er: Wie ... das Hegeische Modell der immanenten Analyse nicht bei sich selbst verbleibt, sondern mit der eigenen Kraft des Gegenstandes diesen durchbricht; über die monadologische Geschlossenheit des Einzelbegriffs hinaustreibt, indem es diesen achtet, so dürfte es auch um die immanente Analyse von Dichtungen stehen. Worauf diese zielen und worauf Philosophie zielt, ist das Gleiche, der Wahrheitsgehalt. (160)
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Gemeint ist nicht die Genesis der Dichtung, nicht ihre historische, sozialpolitische Kontextualisierung, sondern speziell das sprachlich Geformte, das über die subjektiven Intentionen des Autors hinausragt. Der „Wahrheitsgehalt" kann sich in einem dichterischen Kunstwerk formal objektiv ergeben. In diesem Sinn entwirft Adorno durchaus eine Metaphysik der Dichtung. In der Philosophie muß sich die Suche nach Wahrheit anders vollziehen; sie äußert sich wesensgemäß in unterschiedlicher Form. Daß auch die Philosophie über ihre eigene, angemessene Ausdrucks-, d. h. Gedankenform, über ihre immanente „Wahrheitsgestalt" verfügt, ist für Adorno eine Selbstverständlichkeit. Hier liegen grundsätzliche Gemeinsamkeiten: Der Künstler und Philosoph Adorno befaßt sich gleichermaßen mit Formen der Wahrheit. In seiner Philosophie der Kunst, in der Ästhetischen Theorie heißt es unmißverständlich: „Wahrheit ist einzig als Gewordenes." (12) Gewordenes als Negation des Seins gilt indes auch für die dichterische Form der Wahrheit: Die Kunstwerke negieren ihren Ursprung, weisen über ihn hinaus. Als Grundgedanke der Adornoschen Literaturinterpretation wirkt ein Wahrheitsgehalt-Konzept, das man als aufklärerisch bezeichnen kann. Wahre Erkenntnis, die Erkenntnis des Wahren bedeuten Adorno ein Hinausragen über Ursprung und Form, das gleichwohl ohne sie unmöglich wäre. Insofern gelten auch für ihn die Worte Wittgensteins, der am Ende seines Tractatus logico-philosophicus bemerkt: Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie — auf ihnen — über sie hinausgestiegen ist. (Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.) (115)
Wohlgemerkt: das betrifft Ursprung und Form des dichterischen Werks. Dessen metaphysischer Wahrheitsgehalt bleibt dennoch von seiner sprachlichen Transformation abhängig. Würde man Wittgensteins § 6.54 zu Ende zitieren, träte der Konflikt (zwischen Philosophie und Dichtung) in aller Deutlichkeit zutage. „Er muß diese Sätze überwinden", bestimmt der Sprachphilosoph, „dann sieht er die Welt richtig." (ebd.) Die Dichter sind keine Sprachphilosophen, und der Sprachkünstler Adorno bleibt der Scheinkunst Dichtung im ästhetischen Feingefühl sinnlich verhaftet. Er möchte die Sprache Goethes oder Hölderlins, Eichendorffs oder Valerys nicht „überwinden". In seiner „Rede über ein imaginäres Feuilleton" (1963) bezeichnet Adorno als die „Anständigkeit" (111,47) des Kunstwerks, daß es die Sache selbst realisiert. Er will dessen künstlerische Formqualitäten nicht konsumieren, sie dürfen Adorno nicht als ästhetische Feinschmekkereien gelten. Seine Sensibilität verlangt vielmehr — und darin dürfte sich der Widerspruch der Adornoschen Werkimmanenz auflösen — , daß sich das Kunstwerk auf sich selbst als Schein besinnt. Es ist eine wesensgemäße Eigenprojektion der Dichtung, die er als aufklärerischen Wahr-
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heitsgehalt verlangt. Die dichterischen Sätze, die nicht überwunden werden sollen, sind eben diejenigen, die sich dichterisch selbst überwinden. Die Transzendenz ist immanent, die Metaphysis dem sinnlich-ästhetischen Werkkörper inhärent. Es läßt sich nicht bestreiten, daß hier deutliche Goethe-Töne angestimmt werden und daß infolgedessen eine gewisse Ähnlichkeit mit der „Kunst der Interpretation" Emil Staigers nicht von der Hand zu weisen ist. Wir wiederholen: In seinen Noten %ur Literatur geraten Adornos Essays zur literarischen Kunstform. Der Interpret agiert als Künstler, reiht sich der künstlerischen Gattungsform ein. Auch das ist „Immanenz". In „Voraussetzungen" (1960) betont Adorno, daß es in der Kunst kein rationales Verstehen geben kann. Statt dessen ist ein „Mitvollzug" der „Spannungen" (138) nötig, der keine Übersetzung in Begriffe erlaubt. Verstehen heißt „Teil" der „immanenten Bewegung" (ebd.) eines Kunstwerks werden. Die Analogie zur Musik wird bei einem solchen Interpretationskonzept offenkundig. Auch dabei fällt es schwer, nicht an Staigers „Zeit als Einbildungskraft des Dichters" und „Dichtung und Musik" zu denken. Adornos Literatur- und Kunstkonzept bleibt klassisch orientiert. Dabei läuft es Gefahr, ein elitäres Verständnis des sprachlichen Kunstwerks zu vermitteln. Adorno verlangt den aktiven Mitvollzug an der Dichtung. Doch eine solche schöpferische Teilnahme an der künstlerischen Aussage bleibt einer Minderheit vorbehalten. Sie setzt eine künstlerische Sensibilität im Interpreten voraus. Eine solche Kunst der Interpretation orientiert sich an einem Literaturkonzept, dessen Charakter ausschließlich ist. Es bezieht sich auf eine sogenannte hohe Dichtung klassischer Provenienz. Für Adorno ermöglicht erst die Subjektivierung die Objektivation der Kunst. (142) Mit anderen Worten: Er propagiert den programmatischen Ausgleich der Klassik zwischen Subjekt und Objekt, und zwar speziell als formale Leistung. Verstehen bedeutet Adorno „die Philosophie der Kunst" (138), die sich als formale Vermittlung erweist. Es überrascht somit keineswegs, daß in Adornos Ästhetischer Theorie der klassische Augenblick Goethescher Prägung, der ja auch im Werk Emil Staigers eine alles überragende Rolle spielt, erneut zentrale Bedeutung gewinnt. „Jedes Kunstwerk", heißt es da, „ist ein Augenblick; jedes gelungene ein Einstand ...". (17) Es ist schlechterdings unmöglich, die konservativen Züge des Adornoschen Literaturkonzepts zu übersehen. Doch nichts wäre falscher, als daraus ein klassizistisches Epigonentum ablesen zu wollen. Im Gegensatz zu Staiger versteht es Adorno, das klassische Erbe seiner Literaturästhetik mit soziologischen und kulturpolitischen Analysen zu verbinden. Seine Kritik an der „Kulturindustrie" (11,67) und „Konsumentenkultur" (11,69) zieht sich wie ein roter Faden durch die Noten %ur Literatur. Dabei greift er insbesondere das Konzept einer Kommunikation als Ästhetisierung des bürgerlichen Tauschprinzips an. Das literarische Kunstwerk bildet gerade in seiner
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autonomen Eigenschaft eine Gegenkraft, die sich nicht nur dem individuellen Zwangskonsum widersetzt, sondern in der Sprachwerdung des Subjekts eine objektiv erscheinende Wahrheit erkennbar macht. Als objektive Sprachgestalt verfügt das literarische Ich über ein immanentes Gesetz, das dem kapitalistischen Tauschkonsum Widerstand leistet. So jedenfalls will es Adorno. Für ihn fallen in den entscheidenden literarischen Werken Marcuses „pleasure"- und „performance-principle" zusammen. Das Verstehen einer solchen Literatur ist immer auch Leistung, nicht bloßer Lustgewinn. Indes weiß Adorno sehr wohl, daß auch ein autonomes Werk auf dem Literaturmarkt, in der Kulturindustrie Warencharakter annimmt. (Vgl. „Valerys Abweichungen", 11,61.) Längst sind nicht nur die Autoren, sondern auch die Wörter zu „Warenzeichen" (11,218) geworden. Auch der geistige Ausverkauf, auch der Widerstand gegen den Konsum läßt sich noch verkaufen. Die ästhetische Gegenkraft hat sich in doppelter Hinsicht als Illusion erwiesen. Sie wird auch von Adorno als Geste durchschaut. In seinem Lukacs-Essay „Erpreßte Versöhnung" wird das „Ästhetische als Individuiertes" zur „Ausnahme" (11,181) erklärt, die überhaupt Voraussetzung für „Gestaltetes" bleibt. Dieser Ausnahmecharakter des literarischen Werks wird anderenorts („Voraussetzungen") geradewegs als „Moment des Absurden" (111,139) bezeichnet. So bedeutet für Adorno die literarische Form eine „konstitutive Subjektivität" (111,150), deren Ausnahmecharakter die Gesetzmäßigkeit des Zufälligen gegen die Regelmäßigkeit des sozial Vorbestimmten und Konsumierbaren verteidigt. Zwischen Kommunikation und Ausdruck entsteht eine autonome Sprache des literarischen Produkts. Ein Formalismus gibt sich kund, der gerade in solcher Spannung realistisch genannt zu werden verdient. Zu Recht erinnert Adorno wiederholt daran, daß die gegenständliche und sozialpolitische Welt unerreichbar geworden sind. Die Dichtung befaßt sich mit einer „zerfallenen Realität". (111,144) Der sprachliche Konflikt zwischen Kommunikation und Ausdruck reflektiert die individuelle Wahrnehmung der Wirklichkeit im außerliterarischen Bereich. Eine solche Kunst erlaubt kein rationales Verstehen, sondern sucht den aktiven Mitvollzug einer Spannung, die als Teil ihrer immanenten Bewegung verstanden wird. Dementsprechend kann das literarische Werk nicht länger Ausdruck einer ungebrochenen Individualität sein. Der Austausch subjektiver Meinungen und Erfahrungen wird so theoretisch verunmöglicht. Das Individuum als Keimzelle bürgerlicher Wirtschaft („Sittlichkeit und Kriminalität. Zum elften Band der Werke von Karl Kraus", 111,68) wird in literarischen Kunstwerken nicht verdoppelt; es sollte mit ihm infolgedessen auch nicht mehr gehandelt werden können. Gleichwohl wird die sprachästhetische Subjektivierung des Realitätsschwunds als formalistischer Realismus nach wie vor in der zeitgenössischen Kulturindustrie erfolgreich vermarktet.
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Wenn es also in der Ästhetischen Theorie heißt: „Die ungelösten Antagonismen der Realität kehren wieder in den Kunstwerken als die immanenten Probleme ihrer Form" (16), so wehrt sich Adorno dagegen, daß Konflikte konsumiert statt gelöst werden. Indes ist es nicht die Aufgabe der Kunst, gesellschaftspolitische oder philosophische Probleme zu lösen. Sie ist nicht mehr und nicht weniger als eine autonome Perspektive der Wirklichkeit. (11,168) Konsum bedeutet Adorno passiver Verbrauch, geistig-sinnliche Hingabe an einen Reiz, ohne Erkenntnis der Totalität. Als Interpret und Schöpfer ist ihm das Kulinarische der literarischen Kunst keineswegs fremd. Doch der Genuß erweist sich für ihn als ein ästhetisches Denken. Seine Literaturbetrachtung bleibt stets philosophisch, so wie seine Philosophie literarisch bestimmt bleibt. In seiner „Rede über Lyrik und Gesellschaft" (1957) spricht er absichtsvoll von der „denkenden Bestimmung" des Kunstwerks. (1,75) Das Innere des literarischen Werks, seine formale Immanenz ist für diesen Interpreten paradoxerweise außen. Die Literatur ist ihm die Kunst einer gedachten Form, einer Denkform, die sich von außerliterarischen Reflexionen unterscheidet. Das Gedachte erscheint und will als Schein erkannt und verstanden werden. An die Stelle des passiven Konsums soll infolgedessen der aktive Mitvollzug des Gedachten treten. Die Veräußerlichung der literarischen Werkimmanenz ist die Erkenntnis ihres sozialhistorischen Gehalts. Adornos Literaturkonzept beinhaltet die Geschichte gattungsbezogener gesellschaftspolitischer Denkformen. Die Noten %ur Literatur bieten ausführliche, auf konkrete Werke bezogene Genrebestimmungen. Der erste Band befaßt sich nicht nur mit der „epischen Naivität" und dem „zeitgenössischen Roman", außerdem kommt es wiederholt zu Ausführungen über das Wesen der „Lyrik". Programmatisch handelt die Eingangsstudie vom „Essay als Form". Im zweiten Band widmet er zwei Untersuchungen dem Drama {Faust und Becketts Endspiel"), doch scheint ihn diese Gattungsform insgesamt weniger zu interessieren. Bei diesen Bestimmungen orientiert sich Adorno erwartungsgemäß an kulturgeschichtlicher, d. h. sozialpolitischer Philosophie. So bedeutet ihm die Literatur eine genreorientierte „denkende Bestimmung". (1,75) Das heißt: Für Adorno ist das Denken selbst ein ästhetischer Vorgang. Die Literatur ist für ihn insgesamt eine von vielen Denkformen. An diesen verschiedenen Manifestationen einer Denkästhetik interessiert ihn vor allem der gesellschaftliche Gehalt. Dabei kommt es zu keiner simplifizierenden Gegenüberstellung von Individuum und Gesellschaft, von Subjekt und Objekt. Zwar bildet und lebt die Gesellschaft durch Individuen (und umgekehrt), doch literarästhetisch sieht er die Sprache einer literarischen Form als „Subjekt". In der Lyrik beispielsweise spricht er von der tiefsten gesellschaftlichen Verbürgung, „wo das Subjekt ... zum Einstand mit der Sprache selber kommt". (1,85) Erscheinungsformen der Gedanken sind die eigentliche Grundlage des Adornoschen Literatur-
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konzepts. Auch als Interpret sprachlicher Kunstwerke, auch als literarischer Autor bleibt Adorno Philosoph und Soziologe. Literatur wird ihm so zur Erscheinungsform einer gedanklichen Reflexion, speziell zur Ästhetik des Widerstands. Die andauernde Polemik gegen den Warenkonsum ist Teil einer solchen Abgrenzung. Indes — und dies sei mit gebührendem Respekt gesagt — weist auch Adornos Ästhetik einer widerständlichen Werkimmanenz Züge einer Fetischisierung auf. Literarische Werke von Rang lassen sich nicht konsumieren, behauptet Adorno, weil sie sich in ihrer Wesensform dem Verbrauch widersetzen. Darin ist er sich einig mit den Banausen: Eine solche Literatur, eine solche Kunst ist nicht zu gebrauchen. Und doch — auch das soll nicht mehr als der Ansatz einer Gegenüberlegung sein — scheinen sich literarische Formen, ja ganze Schulen und Stilepochen historisch zu „verbrauchen". Der Naturalismus, der Expressionismus, der Symbolismus: sie alle sind heute „verbraucht", „überholt". Es ist eine große Frage, ob sich nicht auch Gedanken, Ideen und Philosophien in entsprechender Weise „konsumieren" lassen. Das „ewig Gültige" und klassisch „Zeitlose" verfügt bekanntlich über seine eigene Geschichte. Hier wäre allenfalls der Fetischismus im Adornoschen Literaturkonzept aufzufinden. In seinem 1962 erschienenen Essay „Titel" und in dem vier Jahre zuvor geschriebenen Beitrag „Bibliographische Grillen" nimmt Adorno auf das Eigenleben der Bücher Bezug. Er befaßt sich dabei mit der äußeren Erscheinungsform, der (wenn man so sagen kann) Produktionsgestalt des Werks. Adorno lamentiert den Verfall des Buches. Häufig vermißt er das Erscheinungsdatum auf der Titelseite, auch das für ihn ein Zeichen der Austauschbarkeit des Werks. Bucheinbände werden als Ausdruck des Konsumguts zur bloßen Reklame für das Buch. Adorno kritisiert die falsche Form des zeitgenössischen Buchs; er hält an einer überholten, verbrauchten „klassischen Erscheinungsform" fest. Seine Haltung ist die einer konservativen Opposition. Die Verpackung, die äußerliche Präsentation des Buchs ist Teil des philosophischen Literaturkonzepts Adornos. Seine Philosophie befaßt sich mit dem Verhältnis des Inhalts zur Form in allen Erscheinungsarten des Werks. Die eigenen Noten %ur Literatur geben sich bereits im Titel als widerständliche, gedankenästhetische Kunstform zu erkennen. Auch Adorno praktiziert mit seinen Essays eine Ästhetik des Widerstands gegen den Konsum. Der literatursoziologische Tatbestand des Warencharakters eines Buchs wird indes durch solche Formhürden nicht beseitigt. Durch Form allein lassen sich geistesgeschichtliche und literarhistorische Entwicklungen nicht aufhalten, wobei billigerweise hinzugefügt werden muß, daß Adorno selbstverständlich das „Beharren auf der Formimmanenz des Kunstwerks" nicht als das „Anpreisen unveräußerlicher, aber lädierter Ideen" (111,177) begreift. Die Form soll vielmehr als Reflexion gesellschaftlicher, kultureller Veränderungen gedeutet werden. Dennoch: Die philoso-
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phische Feindschaft gegen Kommunikation im Namen einer Metaphysik der Kunst bleibt problematisch. Sie beschränkt das Verständnis der Literatur auf eine Weise, die nicht nur von den Frankfurter Studenten als elitär empfunden wurde. Es läßt sich nicht bestreiten, daß Adornos Literaturkonzept sehr vieles ausschließt, was für die gegenwärtige und die zukünftige Literatur von überragender Bedeutung ist. In „Die Wunde Heine" weist Adorno zu Recht darauf hin, daß „der Begriff des Existentiellen ... sorgfältig von der realen Existenz der Menschen" (1,147) reingehalten wird. Entspechendes ließe sich über seine eigenen Vorstellungen vom „Existentiellen" und der „realen Existenz" des literarischen Kunstwerks sagen. Die literarische Ware Adorno reflektiert den Warencharakter der Literatur; sie überwindet ihn nicht, sondern lamentiert ihn und sucht nach innerwerklichen formalen Widerständen, die sich dem Konsumgut einverleiben. An der „realen Existenz" des literarischen Werks ändert das wenig. Ein anderer Satz, aus dem Karl-Kraus-Essay „Sittlichkeit und Kriminalität", behält seine Gültigkeit, wenn er auf Adornos Literaturbetrachtung angewendet wird: Immanente Kritik ist bei [ihm] mehr als Methode. Sie bedingt die Wahl des Gegenstands seiner Fehde mit dem bürgerlichen Kommerzialismus. (111,60)
Der im Vortrag aus dem Jahr 1962 wiederholte Satz, „nach Auschwitz noch Lyrik zu schreiben, sei barbarisch" (111,125), weist seinerseits die historischen Grenzen moralphilosophischer Überlegungen nach: Die Lyrik nach Auschwitz (Celan) ist nicht barbarisch. Wohl aber deutet sich hier bei Adorno die Einsicht an, daß eine werkimmanente Formbewältigung Auschwitzs in der Tat barbarisch sein müßte. Die umfassenderen Konsequenzen für seine ästhetische Theorie der Werkimmanenz zieht er jedoch nicht. Im Mittelpunkt der Adornoschen Literaturbetrachtung steht, was er als das Kennzeichen der Philosophie Ernst Blochs ausweist: „Metaphysik als Phänomenologie des Imaginären". (11,146) Wie Bloch leistet Adorno eine „theoretische Rettung des Scheins" (11,136), und wie bei Bloch ist diese Rettung zugleich die „eigene Verteidigung", (ebd.) Der Schein ist dabei selbstverständlich nicht abwertendes Gegenteil zum Sein, sondern künstlerischer Gehalt, der nicht identisch sein kann mit der realen Gesellschaft. Schein ist Ästhetik, Ästhetik die formale Vermittlung von Erkenntnis. Literarischer Schein wird sozialpolitisch und historisch als Ausdruck eines gültigen Bewußtseins verstanden. Die „Weltlosigkeit der neuen Kunst" nennt Adorno in seinem Lukacs-Essay „beides, Wahrheit und Schein der losgelösten Subjektivität". (11,165) Aus solchem Verständnis leitet er den formalen Widerstand der Werkimmanenz ab. Der literarische Schein bedeutet eine Verwandlung der Wirklichkeit in die autonome Perspektive eines Reflexionsmusters. Aus der historischen Subjektivität entfaltet sich so ein ästhetisches Gebilde, ein durchkomponiert formaler Schein, etwas
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„Individuiertes", das die Wesens- und Eigenart des Werks selbst ausmacht. Als einzig mögliche Ästhetik heute bezeichnet Adorno in „Valerys Abweichungen" die Fähigkeit, Kunstwerke von innen, in der Logik ihres Produziertseins zu sehen — eine Einheit von Vollzug und Reflexion, die sich weder hinter Naivität verschanzt, noch ihre konkreten Bestimmungen eilfertig in den allgemeinen Begriff verflüchtigt ... (43)
Dabei ist, wie man sieht, für Adorno selbstverständlich, daß der Werkcharakter „von innen" die äußeren, d. h. gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen integriert. Die „Logik des Produziertseins" ist keine Abschachtelung von den geschichtlichen Kräften, die das Werk in hohem Maße mitbestimmen. Vielmehr werden auch diese Einwirkungen ästhetisch, d. h. in ihrer sinnlich-gedanklichen Erscheinungsform gelesen und gedeutet. In seiner Ästhetischen Theorie erklärt Adorno unmißverständlich: Die Grundschichten der Erfahrung, welche die Kunst motivieren, sind der gegenständlichen Welt, vor der sie zurückzucken, verwandt. Die ungelösten Antagonismen der Realität kehren wieder in den Kunstwerken als die immanenten Probleme ihrer Form. (16)
Diese Übersetzung der geschichtlichen Stunde, genauer: des „Stands zur geschichtlichen Stunde" (vgl. S. 15), bedeutet eine formale „Individuierung", bildet das Muster einer „Wahrheit ... als Gewordenes". (12) Der Adornosche Schein ist somit nicht länger das klassisch Schöne und ewig Wahre, sondern die immanente Gesetzlichkeit einer gewordenen Wahrheit, der Reflexionsentwurf einer geschichtlichen Einsicht. Die historisch entstandene, formal durchkomponierte „Wahrheit" gehört in den Bereich der „Phänomenologie des Imaginären". Die aber läßt sich für Adorno allein als Metaphysik begreifen, denn eine Kunst, die sich in ihrer Gegensätzlichkeit der empirischen Welt als gleichbedeutend Seiendes präsentiert, tendiert „a priori ... zur Affirmation". (10) Ihre Metaphysik ist als Opposition, als Ästhetik des Widerstands zu begreifen. Bei alledem läßt sich nicht leugnen, daß Adornos Literaturkonzept insgesamt recht enggefaßt bleibt. In seinen Noten %ur Literatur befaßt er sich mit den großen deutschen und französischen Dichtern. Abgesehen von Beckett spielt die anglo-amerikanische Literatur in seiner „Kunst der Interpretation" so gut wie keine Rolle. Von den insgesamt 26 Essays befassen sich 15 mit allgemein literarästhetischen oder umfassenderen literaturgeschichtlichen Themen. Die philosophische oder theoretische Erörterung literarischer Phänomene behält die Oberhand. Um so erstaunlicher ist es, daß Adorno den Begriff der Literatur oder des Literarischen auf die Ausdrucksform eines ästhetischen Widerstands beschränkt. Seine Vorstellung der Literatur bleibt im wesentlichen das klassische Konzept der Dichtung. Adorno befaßt sich mit sogenannter hoher Literatur. Sein
Adornos Literaturkonzept
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Leser erfahrt wenig über Unterhaltungs-, Trivial- oder Gebrauchsliteratur, weil sie für ihn der ästhetischen Legitimation entbehren. Wie bezeichnend klingt das 1962 in einem Radio vortrag abgelegte Bekenntnis („Engagement", 111,134—135): „An der Zeit sind nicht die politischen Kunstwerke, aber in die autonomen ist die Politik eingewandert, und dort am weitesten, wo sie politisch tot sich stellen ...". Die autonome Literatur gilt ihm als politische (Gegen-)Kraft, das sprachliche Kunstwerk ist selbst politischen Wesens. Die Umkehrung einer solchen Vorstellung muß ihm deshalb fremd bleiben, ein Widerstand gegen die Ästhetik selbst, gegen die schöne Form der Vielschichtigkeit, gegen das kulinarische Alibi einer gedankensprachlichen Komposition. Die politische und philosophische Verdächtigung der Kommunikation, deren ästhetische Verächtlichmachung scheint so symptomatisch wie die auffällige Seltenheit seiner Ausführungen über das Drama. Wie andere Literaturwissenschaftler, deren Ästhetik in wesentlichen Zügen der deutschen Klassik verhaftet bleibt, scheut Adorno die systematische Auseinandersetzung mit der deutschen Gegenwartsliteratur. Das unvollendet gebliebene große Werk Ästhetische Theorie legt deutlich dar, worum es Adorno auch in seiner Literaturbetrachtung stets gegangen ist: um eine (in seinem eigenen Verständnis) essayistische Philosophie der Kunst. Seine Aufsätze zur Literatur, die selber sprachformale Kunstwerke sind, kennzeichnen sich durch ihren argumentativen, philosophisch ausgerichteten Charakter. Die ästhetischen und moralischen Werte sind vorgefaßt, sie werden nurmehr ausgelegt, an bestimmten, aus solchem Grund gewählten Werken veranschaulicht. Es ist im Grunde eine bestimmte Betrachtungsweise, die sich in den Noten %ur Literatur belegt und zu legitimieren sucht. Darin gleicht Adorno anderen großen Literaturkritikern und -theoretikern. So ist es nicht verwunderlich, daß seine Auseinandersetzung mit Lukacs aus dem Jahr 1958 („Erpreßte Versöhnung", II, 152—187) zu einem Höhepunkt der eigenen literarästhetischen Essayistik wird. Bei dieser Gelegenheit bemängelt er insbesondere die literarisch unkundige Schreibweise des marxistischen Literatursoziologen und erklärt sogleich verallgemeinernd, in programmatischer Absicht einer „Ästhetischen Theorie": Stilistische Gleichgültigkeit ist übrigens stets fast ein Symptom dogmatischer Verhärtung des Inhalts. (156)
Erwartungsgemäß führt die kritische Besprechung des Lukacsschen Werks Wider den mißverstandenen Realismus zu eigenen kunstanschaulichen Bekenntnissen. Dazu gehört die folgende Bestimmung des Ästhetischen: . . . Kunst selber hat gegenüber dem bloß Seienden, wofern sie es nicht, kunstfremd, bloß verdoppelt, zum Wesen, Wesen und Bild zu sein. Dadurch erst konstituiert sich das Ästhetische ... (164)
Kaum versteckt in dieser Definitionsrüge ist die problematische Erhöhung der Kunst über das „bloß Seiende". Abschätzig spricht Adorno von der
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„bloßen Verdoppelung" des Seienden in einer „kunstfremden" Kunst. Ist es wirklich nur banausisch, darauf hinzuweisen, daß es bislang keiner wie auch immer gearteten Kunst gelungen ist, eine „Verdoppelung des Seins" herbeizuführen? In dem herablassenden Begriff des „bloß Seienden" gibt sich ein Literatur- und Kunstverständnis kund, das in einem Zeitalter der totalen Gefährdung des „bloß Seienden" höchst fragwürdig geworden ist. Die Konsumgesellschaft mag das (Adornosche) Wesen der Literatur gefährden, indes leben wir im Bewußtsein einer weitaus umfassenderen Zerstörung menschlicher Kultur. Adornos Literaturkonzept hängt unvermittelt mit einem qualitativen Kunstbegriff zusammen, der das „Wesen" des Ästhetischen zu bewahrheiten hat. Angesichts der auch von ihm ausdrücklich zur Kenntnis genommenen Ungewißheit, „ob Kunst überhaupt noch möglich sei" (Ästhetische Theorie, 10), entzündet sich für Adorno „die Frage . . . an dem, was sie einmal war." (ebd.) Das gilt in hohem Maß auch für seine Literaturbetrachtung. Sie ist historisch, dialektisch und wendet sich letztlich als Methodologie wider sich selbst. Adornos Noten %ur Literatur sind, in Abwandlung einer ihrer Titelthemen, ein „Versuch, das Endspiel zu verstehen". Am Ende ist der Formalismus Adornos in seinem Selbstverständnis als wahrer Realismus seinerseits zur Ideologie geworden. Insofern sind Adorno und Lukacs in der Tat paradigmatische Gegenspieler. Adornos ästhetische Theorie sucht eine Verdoppelung eigener Art: nicht des „bloß Seienden", sondern der Kunst. So erklärt er: ... im Prozeß kritischen Selbstbewußtseins vermöchte Ästhetik nochmals an die Kunst heranzureichen, wenn anders sie je dazu fähig war. (505)
Das ist seine Apologia der Kritik als Philosophie, der Literaturbetrachtung als ästhetischer Theorie, der Kunst der Interpretation. Der Begriff der Literaturkritik ist im deutschsprachigen Kulturleben noch immer umstritten. Mit dem Selbstverständnis des anglo-amerikanischen Kritikers haben die deutschen Kollegen nur wenig gemein. Für Adorno sind die kritischen Werte untrennbarer Bestandteil der Werkimmanenz. Die Ästhetik vermittelt nicht nur ein kulinarisches, sondern darin Inbegriffen auch ein kritisches Erlebnis. So möchte Adorno die eigenen Interpretationen literarischer Kunstwerke verstanden wissen: Verstanden werden Kunstwerke erst, wo ihre Erfahrung die Alternative von wahr und unwahr erreicht oder, als deren Vorstufe, die von richtig und falsch. Kritik tritt nicht äußerlich zur ästhetischen Erfahrung hinzu sondern ist ihr immanent. (515)
Kritisches Verstehen bedeutet ihm eine ästhetische Erfahrung. Seine Ästhetische Theorie ist mithin ein philosophisches Werk, das die Theorie des Verstehens zum Inhalt hat. Dabei ist Wahrheit etwas Gewordenes, etwas ästhetisch Sichtbargemachtes, ein Kunstwerk. Auch das ist letztlich
Adornos Literaturkonzept
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klassisches Erbe, die Aktualisierung des Goetheschen Konzepts „der Dichtung Schleier aus der Hand der Wahrheit". Selbst die sozialhistorische und politische Bedeutung, die den Adornoschen Begriff der Werkimmanenz erweitert und dialektisiert, orientiert sich an den Zeilen: Müsset im Naturbetrachten Immer eins wie alles achten; Nichts ist drinnen, nichts ist draußen: Denn was innen, das ist außen
Freuet euch des wahren Scheins, Euch des ernsten Spieles
(Goethe, Epirrhema)
Das „Naturbetrachten" läßt sich widerstandslos gegen ein „Literaturbetrachten" eintauschen. Die Komposition der Wahrheit will als solche erkannt und gedeutet werden. Unter ihren Vorzeichen erhebt auch die Interpretationskunst den Anspruch auf Wahrheit; sie ist in die Komposition von Anfang an mit einbezogen. Die Annahme ist, daß der Autor ausdrücklich nach diesen Richtlinien schreibt, daß er schreibt, um (so) gedeutet zu werden. Nun läßt sich nicht bestreiten, daß ein solches Literaturkonzept von einer großen Anzahl vor allem deutschsprachiger Schriftsteller der Vergangenheit mit den Interpretationskünstlern geteilt wurde. Das Verhältnis zwischen Autor und Deuter entsprach etwa der Beziehung zwischen Komponisten und Interpreten. Tatsächlich benutzt Adorno die dichterische Vorlage im Grunde als „Notenschrift", die es auf eigenem Instrument auslegend zu spielen gilt. Adorno sucht das in keiner Weise zu verheimlichen; im Gegenteil: sein Titel „Noten zur Literatur" weist ausdrücklich darauf hin. Wie gesagt: Eine solche „Literaturkritik" scheint spezifisch „deutsch". Sie verlangt ihrerseits eine ausführliche Deutung. Dabei ist es nicht das Essayistische, was Lesern aus anderen Literaturen Schwierigkeiten bereitet. (In der englischen Literatur hat die essayistische Literaturkritik ihre eigene Tradition, innerhalb derer sich ein T. S. Eliot beispielsweise auf die Werke Matthew Arnolds berufen kann. In der französischen Literaturkritik stehen die Schriften Sainte-Beuves ebenfalls keineswegs isoliert da.) Es ist vielmehr der weitausreichende philosophische (und häufig genug ideologische) Überbau der deutschen Interpretationskunst, der vom ausländischen Leser nicht nur intellektuell hohe Voraussetzungen fordert. Banal gesagt handelt es sich bei der Literaturästhetik Adornos um einen wesentlichen, d. h. untrennbaren Bestandteil der deutschen Literatur. Sie ist in ihrer philoso-
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phischen Kultur Ausdruck eines spezifisch deutschen Geistes.1 Für den Auslandsgermanisten und -literaturwissenschaftler muß sie als Erscheinung der Primärliteratur gewertet und gedeutet werden. Adornos Konzept einer literarischen „Notenschrift" hat dann auch zur Folge, daß viele, wenn nicht gar sämtliche Einwände gegen diese Art der 1
Der 1982 erschienene, von G. SINGH herausgegebene Sammelband des 1978 verstorbenen großen englischen Literaturkritikers F. R. LEAVIS The Critic As Anti-Philosopher enthält eine Anzahl von Aufsätzen, allem voran den 1976 in The Netv Universities Quarterly (Frühjahr 1976) veröffentlichten Beitrag „Mutually Necessary", die sich in durchaus programmatischer Weise gegen eine „Philosophisierung" der Literaturkritik wenden. Einige der wichtigsten Äußerungen zu diesem Thema sollen hier der Vollständigkeit halber angeführt werden. Zusammenfassend und vereinfachend lassen sich folgende Hauptüberlegungen festhalten: Leavis wehrt sich gegen die Annahme, daß Werturteile der Literaturkritik durch philosophische Analyse legitimiert werden können oder müssen. Literaturkritische Analysen sind für Leavis nicht philosophisch, ja — wie es im Titel der Sammlung heißt — anti-philosophisch. Er attackiert die professionelle Überzeugung der Philosophen, daß philosophische Fragen oder Probleme ausschließlich philosophisch behandelt werden können oder müssen. Es mag die gleiche „Wahrheit" sein, die philosophisch und literarisch erkannt und dargestellt wird, doch für LEAVIS bleiben es zwei unterschiedliche Erscheinungsformen, die verschiedene Denkarten bestimmen. Die Sprache des Philosophen ist — theoretisch und praktisch — eine andere als die des Dichters. Leavis kritisiert die Art und Weise, wie eine philosophische Intelligenz dichterische Werke behandelt, und gibt sogleich zu, daß es umgekehrt den Philosophen schockieren muß, wenn er sieht, wie die Literaturkritik philosophische Probleme behandelt. Der Literaturkritiker Leavis bestreitet kategorisch, daß die Dichtung eine Philosophie auszudrücken sucht. In repräsentativer Weise sucht LEAVIS die englische Literaturkritik vor Philosophen zu bewahren, die in ihrer Betrachtung dichterischer Kunstwerke unangebrachte Gewohnheiten der Dialektik von außen an die Literatur herantragen. Das dichterische Werk ist nicht ein poetisches Äquivalent der Philosophie. Wiederum verallgemeinernd und vereinfachend ließe sich sagen, daß gerade diese für LEAVIS falsche Annahme die Grundlage der deutschen Literaturkritik, Literaturwissenschaft, Germanistik und Dichtungsästhetik geblieben ist. ADORNOS Ästhetische Theorie wie seine Noten ^ur Literatur liefern den neuerlichen Beweis solcher Voraussetzungen. Interessanterweise zählte WITTGENSTEIN zu LEAVIS' wenigen Freunden. LEAVIS zitiert den von ihm verehrten Philosophen am Ende seines Essays. In einem Brief erklärt WITTGENSTEIN zum Thema Philosophie und Literaturkritik, Philosophie und die alltägliche Wirklichkeit: „I then thought: what is the use of studying philosophy if all that it does for you is to enable you to talk with some plausibility about some abstruse questions of logic, etc., and if it does not improve your thinking about the important questions of everyday life, if it does not make you more conscientious than any journalist in the use of the dangerous phrases such people use for their own ends? You see, I know that it's difficult to think well about .certainty', .probability', .perception', etc. But is is, if possible, still more difficult to think, or try to think, really honestly about your life and other people's lives. And the trouble is that thinking about these things is not thrilling, but often downright nasty. And when it's nasty then it's most important." (Hervorhebung LUDWIG WITTGEN-
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Literaturbetrachtung buchstäblich gegenstandslos werden. Denn was wäre mehr gesagt, als daß ein Beethoven-Interpret den Debussy-Jünger nicht zufriedenzustellen vermöchte? Hier ein letztes Beispiel des „Goethe-Interpreten" aus der Ästhetischen Theorie: Kein Kunstwerk ist, das nicht verspräche, daß sein Wahrheitsgehalt, soweit er in ihm als daseiend bloß erscheint, sich verwirklicht und das Kunstwerk, die reine Hülle, zurückläßt, wie Mignons ungeheure Verse es weissagen. (199)
Für den nichtdeutschen Literaturwissenschaftler ist das nicht nur eine sich an der deutschen Klassik orientierende Gedankensprache, sie ist darüber hinaus in einer höchst anspruchsvollen Weise Ausdruck einer ganzen Anzahl von kunstanschaulichen, philosophischen Begriffen, um nicht zu STEIN, zit. nach LEAVIS, a.a.O., S. 208) Auch an dieser Äußerung des Philosophen WITTGENSTEIN, der sowohl im deutschen Sprachbereich als auch im englischen Kulturleben zu Hause war, läßt sich das demokratischere Literaturkonzept der englischen Dichtung und ihrer Kritik ablesen. LEAVIS' Aufsatz „Memories of Wittgenstein" kann angesichts des „Critic as Anti-Philosopher" in seiner Bedeutung kaum überschätzt werden. (Vgl. S. 129-145) Hier noch einige der wichtigsten Zitate aus dem Aufsatz „Mutually Necessary": „... it is essential to my attempt to convey the conception of thought which I should very much like to get understood by at least some philosophers." (189) — „Tanner's assumption that value-judgements in literary criticism are to be justified by philosophical analysis is explicit. Tanner, I think, never escapes from that assumption (in common, I suspect, with most philosophers — that is why I call myself an. .antiphilosopher'); never escapes from the spectral presence and potency even where it isn't explicit or conscious." (ebd.) — „But the account, direct and implicit, I give leads in a central way into concerns that seem to me most decidedly not philosophical." (192) — „The criteria that govern my thinking are not a philosopher's." (193) — „He virtually assumes that literary students, if guided by the right philosophers, might become (in specific .areas', and guided, at any rate) philosophers themselves. That is, philosophical issues being in question, he can't imagine, in giving advice, any justification for not adhering strictly to professional criteria." (ebd.) — „I don't mean that that truth involves a mere opposition between philosophical thought, or thought that philosophers can treat as rationally discussable, and thought for the clear recognition of which as thought I contend — thought that we have at its most potent in the works of the great creative writers." (196 — 197) — „I don't imagine that there is a much larger proportion of lively and disinterested minds in the teaching personnel of most philosophy departments than in most English." (197) — „... Tanner's ignorance of the way in which intelligence deals with poetry shocks me as much as my brashness in relation to philosophy shocks him" (199) — „Tanner assumes that poetry is concerned to state something, and, further, he assumes that ... [it] is concerned with stating a philosophy." (200) — „... the philosopher entering the literary field, with his inappropriate dialectical habits, from the outside." (200—201) — „If it doesn't ,state' a philosophy, neither is it the creatively poetic equivalent of a philosophy." (201) — „The philosopher's use of language is highly specialized, and it is impossible to turn intelligent literary students into temporary philosophers, and worse than vain to try." (207 — 208)
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sagen Annahmen oder Voraussetzungen. Wörter wie „Kunstwerk", „Wahrheitsgehalt", „daseiend", „bloß erscheint", „sich verwirklicht" und „die reine Hülle", die im Zitatsatz eng gedrängt aufeinanderfolgen, sind Zeichen einer Geistesgeschichte und Kultur, die im vorliegenden Werk weniger radikal in Frage gestellt, kritisiert oder zumindest perspektiviert als vielmehr fortgesetzt, „verewigt" und aktualisiert werden. Auch solche Literaturästhetik erweist sich als Werkimmanenz in umfassenderer Bedeutung. Sie reiht sich ein in die Geschlossenheit einer geistigen Vorstellung, einer Philosophie und Kunst, die in der Systematisierung ihrer Geschichte eben diese Geschichte überwinden zu können glaubt.
Literaturnachweis: THEODOR W. ADORNO; Noten %ur Literatur I, BS47, Frankfurt a. M. 1971. THEODOR W. ADORNO, Noten %ur Literatur H, BS71, Frankfurt a. M. 1970. THEODOR W. ADORNO, Noten %tir Literatur III, BS146, Frankfurt a. M. 1971. THEODOR W. ADORNO, Ästhetische Theorie, stw2, Frankfurt a. M. 1973. LUDWIG WITTGENSTEIN, Tractatus logico-philosophicus, es 12, Frankfurt a. M. 1970. F. R. LEAVIS, The Critic as Anti-Philosopher, ed. by G. SINGH, Chatto & Windus, London 1982.
ANDREI CORBEA-HOISIE (Jasi)
Zur Rezeption der Frankfurter Schule in der Konstanzer Schule der Rezeptionsästhetik Es besteht ein eigenartiges Verhältnis zwischen der Konstanzer Schule der Rezeptionsästhetik und dem philosophischen und ästhetischen Erbgut der Frankfurter Schule. Es ist bekannt, daß Hans Robert Jauß' Aufsatz Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, der als theoretischer Ausgangspunkt einer neuen Forschungsrichtung betrachtet wird, 1967 erschien, genau in dem Jahr, in dem laut Beate Pinkerneil die deutsche Literaturwissenschaft ihren Wendepunkt von der sogenannten „traditionellen" zur „kritischen Wissenschaft" erlebte. Die beiden Termini, die Pinkerneil antithetisch benutzt, wurden nicht zufälligerweise von Max Horkheimer übernommen; so wie 1965 die Auseinandersetzung zwischen der „alten" und der „neuen" Kritik in Frankreich auf einer langfristigen Vorgeschichte, angefangen mit Marx, Saussure und Freud, fußte, so kann auch die Jauß'sche „Provokation" nicht ohne jene Atmosphäre der jetzt „entdeckten" oder wiederentdeckten Horkheimer, Adorno, Marcuse und Benjamin gedacht werden, die einen entscheidenden Einfluß auf die komplexe Neuauffassung und Neuformung der Konzepte und Methoden, des Verhältnisses zwischen „Denken und Erfahrung, Erkenntnis und Praxis, Wissenschaft und Wert, sozialer Totalität und Individuum"2 übten. Die objektiv bezeugten „Fakten" aber zeigen ein anfänglich nur sporadisches Interesse der Konstanzer Autoren und deren Anhänger an den Thesen der Frankfurter Schule, obwohl diese sehr oft wiederaufgenommen und zur theoretischen Unterstützung der Reformbewegung in der zweiten Hälfte der 60er Jahre zitiert wurden. Direkte Quellen der außergewöhnlichen Synthetisierungsbemühungen von Jauß oder Iser, die die Konvergenzli1
2
HANS ROBERT JAUSS, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, Konstanz 1967; er wurde wiederaufgenommen in JAUSS, Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt/ M 1970. BEATE PINKERNEIL, Literaturwissenschaft seit 1967. Versuch einer Orientierung, in Methodische Praxis der Literaturwissenschaft, hrsg. von DIETER KIMPEL und BEATE PINKERNEIL, Kronberg 1967, S. 3.
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nien und die Komplementarität zu verwerten versuchten, indem sie eine vorurteilslose Dialektik anwandten, die Dogmen ignorierten und den Konsens hervorhoben, sind in erster Linie Gadamers Hermeneutik, die Theorie der russischen Formalisten, die Prager strukturalistische Schule und Roman Ingardens Phänomenologie sowie auch die Arbeiten der Marxisten und „Para"-Marxisten Werner Krauss, Karel Kosik, Roger Garaudy usw.3; Benjamin, Marcuse oder Adorno werden nur von Jauß erwähnt und sogar zitiert, das aber in unwichtigen Kontexten, ohne klarzumachen, ob die Frankfurter Schule für die Rezeptionsästhetik ein nennenswerter Orientierungspunkt sei oder nicht. Erst 1971—1972, nach der postumen Veröffentlichung der Ästhetischen Theorie von Adorno, bemerkt man ein stärkeres Interesse der Konstanzer Theoretiker in dieser Richtung, ein Interesse, das 1972 mit der „Selbstrevision" von Jauß in der Kleinen Apologie der ästhetischen Erfahrung gipfelt und somit eine fundamentale Umorientierung der eigenen Konzeption der Grundlagen der Rezeptionsästhetik durch eine kategorische Abgrenzung von Adornos Arbeit anzeigt. Jauß' Erklärung, durch die er den deutlichen Zusammenhang zwischen seiner anfänglichen Auffassung und den Kategorien der Ästhetik der Negativität anerkennt, macht den Eindruck einer ihm erst vor kurzem bewußtgewordenen Feststellung: „Diese Theorie [die rezeptionsästhetische] ... teilt mit der Evolutionstheorie der Formalisten wie mit der Ästhetik der Negativität und aller auf Emanzipation gerichteten Theorien ... die Überzeugung vom Primat des ereignishaften Neuen über das prozeßhafte Gewordensein, der Negativität oder Differenz über affirmative oder institutionalisierte Bedeutung"4. Diese „indirekte" Rezeptionsart5 der Postulate der Frankfurter Schule — denn man muß hier zugeben, daß die Rezeptionsästhetik in ihrer ersten Phase eine relativ laxe Einstellung gegenüber der sozialwissenschaftlichen Grundlegung ihrer literaturtheoretischen Optionen einnimmt — scheint 3
4
5
JAUSS (1970); siehe auch das Vorwort zu JAUSS, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik I, München 1977. HANS ROBERT JAUSS, K/eine Apologie der ästhetischen Erfahrung, Konstanz 1972; es ist interessant, daß die Ostberliner Theoretiker einer „materialistischen" Rezeptionsästhetik mehrmals in ihrer Polemik mit der Konstanzer Schule auf deren „ideologische" Gemeinsamkeiten mit der Frankfurter Schule hinwiesen (z. B. ROBERT WEIMANN in Literaturgeschichte und Mythologie, Berlin und Weimar 1972, S. 56). Wir nehmen an, daß die Begründer der Konstanzer Schule (HANS ROBERT JAUSS, WOLFGANG ISER, MANFRED FUHRMANN, JURIJ STRIEDTER), die von der Richtung der traditionellen Philologie kamen, keinen früheren Kontakt mit der Frankfurter Schule hatten; in der „restaurativen" Atmosphäre der 50er Jahre galt diese trotz der offiziellen Honoratioren als zu radikal, um sich mit ihren Theorien auch in der Literaturwissenschaft zu beschäftigen. JAUSS' und ISERS Schriften bezeugen eine späte Rezeption der „Frankfurter" Ästhetik, die unserer Meinung nach nicht vor den 70er Jahren stattfand.
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aber symptomatisch zu sein für die Modalität, in der die philosophische Reflexion von Adorno, Benjamin, Marcuse aufgrund der literarischen Forschung „refunktionalisiert" werden konnte. Man muß hier nochmals die große Rolle erwähnen, die die Frankfurter Schule in der ideologischen Kristallisierung jener neuen Linken gespielt hat, die „das besondere gesellschaftliche Verhältnis oppositioneller Kräfte zu einem durch die rapide wissenschaftlich-technische Revolution und durch das Wachsen der antiimperialistischen Bewegung bestimmten objektiven Geschichtsprozeß ausdrückte"6. Die außerordentliche Entwicklung der Massenmedien, als direkte Folge der Entwicklung der Produktivkräfte, hat neue Instrumente zur Stärkung und Sicherung der Macht geschaffen, gerade durch die Möglichkeit, „die bürgerliche Ideologie . . . in einem vorher nicht gekannten Maße zur Reproduktion der gesellschaftlichen Existenzbedingungen der bürgerlich-kapitalistischen Ordnung einzusetzen"7. Die Kritik der Illusion einer kapitalistischen Wohlstandsgesellschaft war deshalb gleichzeitig eine Kritik der spezifischen Gegensätze der industriell erzeugten Massenkultur als der Negation der Kultur — eine Kritik, die von der studentischen Protestbewegung in der zweiten Hälfte der 60er Jahre als ein Schwerpunkt ihres Programms übernommen wurde. Obwohl diese Bewegung in erster Linie einen sozialen und politischen Charakter hatte, spielte sie eine nicht zu unterschätzende Rolle in der Forderung einer Unterrichtsreform, und somit trug sie auch zu einer wichtigen methodologischen Wendung im Bereich der Geisteswissenschaften (das trifft wenigstens für die deutschen Hochschulen zu) bei. Die „objektivistischen" Grundlagen dieser Studienfacher wurden jetzt im Namen derselben Reformprinzipien angefochten, auf die man sich auch in der Konfrontation mit dem Immobilismus und den autoritären Zügen der Gesellschaftsstrukturen berief; die intellektuelle Tätigkeit, der „[djie soziale Genesis der Probleme, die realen Situationen, in denen ... [sie] gebraucht ... wird, ... ihr selbst als äußerlich [gilt]", wird als veraltet abgetan zugunsten einer anderen, die „die Menschen als die Produzenten ihrer gesamten historischen Lebensformen zum Gegenstand [hat] ... Die rationale Durchdringung der Prozesse, in denen die Erkenntnis und ihr Gegenstand sich konstituieren, ... verläuft daher nicht im rein geistigen Bezirk, sondern fällt mit dem Kampf um bestimmte Lebensformen in der Wirklichkeit zusammen"8. Die Öffnung zur sozialgeschichtlichen Dimension der wissenschaftlichen Forschung, die die Frankfurter Schule behauptete und 6
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KARLHEINZ BARCK, Revolutionsertvartung und das Ende der Literatur, in Revolution und Literatur, hrsg. von WERNER MITTENZWEI und REINHARD WEISBACH, Leipzig 1971, S. 412. Ibid. MAX HORKHEIMER, Traditionelle und kritische Theorie, in HORKHEIMER, Kritische Theorie, Bd. II, Frankfurt/M 1968, S. 192 f.
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gleichzeitig als einen objektiven Revisionsprozeß „des wissenschaftlichen Selbstverständnisses"9 reflektierte, bedeutete in der Literaturwissenschaft des Jahres 1967 die Überwindung der „Sackgassen der Literaturhistorie, die im Positivismus versandete, der Interpretation, die nur noch sich selbst oder einer Metaphysik der ,Ecriture' diente, oder der Komparatistik, die den Vergleich zum Selbstzweck erhob"10. Dem Kuhnschen Modell des „Paradigmawechsels" und der wissenschaftlichen Revolution entsprechend, kam man zur selbstverständlichen Schlußfolgerung, daß auch in den Geisteswissenschaften, d. h. auch in der Literaturwissenschaft, die Forschungsmethoden nicht atemporal sind und nicht absolute Geltung haben, sondern daß sie sich ebenfalls in einem Abhängigkeitsverhältnis von den kognitiven Erfordernissen jeder Epoche befinden. „Die Isolierung der Literatur von der Geschichte, des Kunstwerks von seiner Wirkung und seinem Publikum"11 zeigte sich schon als unfähig, auf alle Erkenntnisfragen zu antworten, die durch die Entwicklung der Massenmedien, durch den neuen Status des Buches und der Literatur im allgemeinen und gegenwärtigen kulturellen Kontext hervorgerufen wurden. Die von der Frankfurter Schule unternommene Kritik der ,,kommunikative[n] Lähmung und soziale [n] Exilierung der Literatenliteratur im Zeitalter der Massenmedien" wie auch ihre „provokative Infragestellung des kulturellen status quo trug [en] vielmehr dazu bei, die Konstitutionsbedingungen literarischer Kommunikation zum Gegenstand literaturwissenschaftlicher Analyse zu machen"12. In diesem Sinne legt Jauß' und Isere Vorhaben besonderen Wert auf das Rezeptionsmoment des literarischen Werkes, das von nun an nicht mehr als einfaches „Faktum" mit empirisch-soziologischer Bedeutung angesehen wird und dem man nicht mehr eine nur passive Rolle zuschreibt. Vom ästhetischen Standpunkt wird das Werk als Prozeß aktiv verwertet und weist seinem Rezipienten eine determinierende Funktion zu im Vergleich mit der, die ihm von der traditionellen Produktions- und Darstellungsästhetik vorbehalten war. „Der Rehabilitierung des Lesers, Hörers, Zuschauers ... in der Literaturwissenschaft entspricht die Öffnung der Textlinguistik auf eine Pragmatik der Sprechakte und kommunikativen Situationen, die Erweiterung der Semiotik auf einen kulturellen Textbegriff, die erneuerte Frage nach Subjekt, Rolle und Mitwelt in der Sozialanthropologie, ..., die Wiederkehr der verstehenden Soziologie mit den aktuell gewordenen Theorien der Interaktion und die 9
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JAUSS (1977), S. 10: „Es war das Jahrzehnt der Universitätsreform, das die Konstanzer Literaturwissenschaftler im besonderen in den Prozeß einbezog". Ibid., S. 11. HANS ROBERT JAUSS, Paradigmawechsel in der Literaturwissenschaft, in Methoden der deutschen Literaturwissenschaft, hrsg. von VIKTOR ZMEGAC, Frankfurt/M 1972, S. 283. BERNHARD ZIMMERMANN, Literaturre^eption im historischen Prozeß, München 1977, S. 42.
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Ablösung der formalen oder Aussagenlogik durch eine propädeutische (oder dialogische) Logik."13 Die Rezeptionsästhetik der 70er Jahre bedeutete viel mehr als die einfache „Wiederentdeckung" des Lesers, denn sie hatte sich im erweiterten Rahmen einer Kommunikationssoziologie vorgenommen, „den kausalfunktionalen Zusammenhang von Gesellschaftsstruktur, sozialem Handeln und kommunikativen Akten sowohl hinsichtlich der Textproduktion als auch hinsichtlich des Textverstehens" zu erforschen. „Die Provokation" bestand also in der Umwertung des Kausalitätstypus, der zwischen diesen drei Stufen funktionierte: Sobald das positivistische Vorurteil der linearen Determinierungen zugunsten eines dialektischen Modells der Rolle, „welche die Gesellschaftsstruktur hinsichtlich des sozialen Handelns und das soziale Handeln hinsichtlich der kommunikativen Akte als sinngebende Rahmen spielen", beseitigt wurde, ergab sich die fundamentale These, der zufolge „alle Formen kommunikativen Handelns, also auch Textproduktion und Textverstehen, soziales Handeln darstellen"14. Hierauf basiert die wesentliche Analogie zwischen der Ästhetik der Frankfurter Schule und der Darstellung, die das literarische Werk durch die neue Einstellung gegenüber der Literaturgeschichte bekommt, die sich als „Prozeß ästhetischer Rezeption und Produktion" darstellt, „der sich in der Aktualisierung literarischer Texte durch den aufnehmenden Leser, den reflektierenden Kritiker und den selbst wieder produzierenden Schriftsteller vollzieht"15. Für Jauß besitzt dieser Prozeß als ästhetische Implikation die Wertung („schon die primäre Aufnahme eines Werkes durch den Leser schließt eine Erprobung des ästhetischen Wertes im Vergleich mit den schon gelesenen Werken ein") und als historische Implikation die Selektion und die Kontinuität („das Verständnis der ersten Leser [kann sich] von Generation zu Generation in einer Kette von Rezeptionen fortsetzen und anreichern ..., mithin [entscheidet es] auch über die geschichtliche Bedeutung eines Werkes und [macht] seinen ästhetischen Rang sichtbar .. .")16. Aber auch wenn sich die Konstanzer Theoretiker nur auf die Polarität Kunst-Kitsch oder auf die Begriffe des „Kunstcharakters" und der „ästhetischen Distanz" aus der formalen Theorie beziehen, sind die Kategorien, die aus der von Adorno, Horkheimer oder Marcuse unternommenen Analyse der „Kulturindustrie" stammten, der implizite Rahmen des 13
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15 16
HANS ROBERT JAUSS, Rezeptionsästhetik und literarische Kommunikation, in Auf den Weg gebracht, hrsg. von HORST SUND und MANFRED TIMMERMANN, Konstanz 1979, S. 390. HANS ULRICH GUMBRECHT, Konsequenzen der Rezeptionsästhetik oder Literaturwissenschaft als Kommunikationsso%iologie, Vorlage zum Kongreß des Deutschen Romanistenverbandes, Mannheim 1975, Manuskript. JAUSS (1970), S. 172. Ibid., S. 170.
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ästhetisch-rezeptiven Modells von Jauß und Iser. Der Erwartungshorizont, d. h. die primäre Stufe, wo das Zusammentreffen vom Kunstwerk und seinem Rezipienten stattfindet, wird mit der vom Werk hervorgerufenen Negation „vertrauter oder Bewußtmachung erstmalig ausgesprochener Erfahrungen"17 konfrontiert. Diese Spannung, die Jauß „ästhetische Distanz" nennt, kann zum Hori^pntwandel, also zu einer entscheidenden Wendung für das Schicksal des Werkes in der Diachronie führen, je größer die Distanz zwischen dem Horizont des Werkes und den Erwartungen des Lesers ist. Der Begriff bietet, laut Jauß, eine Möglichkeit der Feststellung des „Kunstcharakters" des literarischen Werkes; man erkennt den Wert nur dann, wenn die Erwartungen des Publikums negiert und neuorientiert werden, während „in dem Maße, wie sich diese Distanz verringert, dem rezipierenden Bewußtsein keine Umwendung auf den Horizont noch unbekannter Erfahrung abverlangt wird, sich das Werk dem Bereich der kulinarischen oder Unterhaltungskunst nähert"18. Seinerseits stellt Iser sogar einen Katalog der Aspekte zusammen, wodurch die Leerstellen und Negationen, anders gesagt die Negativität fiktionaler Texte „eine Interaktion [initiieren], in deren Verlauf die Konturen des Leergelassenen von den Vorstellungen des Lesers besetzt werden, wodurch sich auch die Asymmetrie zwischen Text und Welt aufzuheben beginnt und der Leser eine ihm fremde Welt zu Bedingungen erfahren kann, die nicht durch seinen Habitus determiniert sind"19. Durch die Negativität wird das Werk als Kunstwerk definiert, indem man nicht nur die interne Dialektik der literarischen Formen, sondern auch die Auseinandersetzung mit dem konkret-historischen Vermittler des Verwertungsverfahrens in Betracht zieht, an dessen Horizont das Werk seine präformative Kraft mißt. Iser spricht von der „ideologischen" Färbung der Texte ohne Leerstellen, die nicht fähig sind, eine gewisse Unbestimmtheit hervorzurufen und den Leser im Text zu implizieren, indem er aktiv wird, festgelegte Leseklischees überwindet und Sinn generiert20. Jauß geht analytischer vor und charakterisiert sie dadurch, „daß sie keinen Horizontwandel erfordern, sondern Erwartungen, die eine herrschende Geschmacksrichtung vorzeichnet, geradezu erfüllen, indem sie das Verlangen nach der Reproduktion des gewohnten Schönen befriedigen, vertraute Empfindungen bestätigen, Wunschvorstellungen sanktionieren, 17 18
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Ibid., S. 177. Ibid., S. 178; HORKHEIMER und ADORNO haben es ähnlich in der Dialektik der Aufklärung (Frankfurt/M 1971, S. 123) formuliert: „Das Vergnügen erstarrt zur Langeweile, weil es, um Vergnügen zu bleiben, nicht wieder Anstrengung kosten soll ... Der Zuschauer soll keiner eigenen Gedanken bedürfen: das Produkt zeichnet jede Reaktion vor". WOLFGANG ISER, Der Akt des Lesens, München 1976, S. 348. WOLFGANG ISER, Die Appellstruktur der Texte, in Re^eptionsästhetik, hrsg. von RAINER WARNING, München 1975, S. 236.
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unalltägliche Erfahrungen als , Sensation' genießbar machen oder auch moralische Probleme aufwerfen, aber nur, um sie als schon vorentschiedene Fragen im erbaulichen Sinne zu lösen"21. Im Gegensatz zu dem affirmativapologetischen Charakter solcher Texte22 — denn, indem man durch den „schönen Schein" das Unversöhnliche versöhnt, kann die ästhetische Form ein Stabilisierungsfaktor in der repressiven Gesellschaft sein und dadurch selbst repressiv werden23 — beweist das Kunstwerk seine Authentizität durch Erwartungsdurchbrechung und Horizontwandel, Momente die mit dem Grundwiderspruch des „Nichtidentische[n] unter dem Aspekt der Identität"24 äquivalent sind oder, wie es Bourdieu in soziologischen Termini ausdrückt, als Faktor der permanenten sozialen Distinktion in der bürgerlichen Gesellschaft auftauchen25. Die emanzipierende Alternative des Kunstwerks (denn „in jedem genuinen Kunstwerk erscheint etwas, was es nicht gibt"26) umfaßt die Fähigkeit, immer wieder einen Horizontwandel bei den aufeinanderfolgenden Lesergenerationen zu provozieren; vom Standpunkt der Hermeneutik aus wird ihm das Überleben (oder sogar das Wiederaufleben) in der Diachronie gewährleistet durch seine Eigenschaft, auf neue Fragen antworten zu können, die ihm von den nachfolgenden Rezipienten gestellt werden. Die Kunstgeschichte erscheint also, wie bei Adorno, als „ein Kontinuum der Negationen dessen, was sie war"27: Rezeption bedeutet einerseits das Verhältnis, das neue Sinngehalte in direkter Abhängigkeit vom interrogativen Horizont des Lesers dem Werk zuschreibt, und andererseits das Verhältnis, das dank den „produktiven Lesern" neue Werke hervorruft; in diesem Fall entspricht dem Interpretationsmoment oder dem Horizontwandel selbst das Schaffen neuer Werke, die Antworten und Lösungen der gestellten Probleme liefern und somit zu neuen Fragen anregen. Die Konvergenzlinien um die These der Negativität des Kunstwerks, die auch in der rezeptionsästhetischen Theorie als zentral zum Vorschein kommt, erweitern sich symptomatisch auf dem Gebiet der methodischen Grundlegung der Rezeptionsforschung. Wohl bekannt sind die Zurückhaltung und sogar die Feindseligkeit, mit denen Adorno den Empirismus der 21 22
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JAUSS (1970), S. 178. „Die ursprüngliche Affinität aber von Geschäft und Amüsement zeigt sich in dessen eigenem Sinn: der Apologie der Gesellschaft. Vergnügtsein heißt Einverstandensein", in HORKHEIMER, ADORNO (1971), S. 129-130. HERBERT MARCUSE, Konterrevolution und Revolte, Frankfurt/M 1972, S. 91. THEODOR W. ADORNO, Negative Dialektik, in Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt/M 1973, S. 17. PIERRE BOURDIEU, Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt/M 1970, S. 72. THEODOR W. ADORNO, Ästhetische Theorie, Frankfurt/M 1970, S. 127. GERHARD KAISER, Benjamin. Adorno. Zwei Studien, Frankfurt/M 1974, S. 144.
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soziologischen Methoden in der Wirkungsforschung behandelte. „Die menschlichen Reaktionen auf Kunstwerke sind seit undenklichen Zeiten aufs äußerste vermittelt, nicht unmittelbar auf die Sache bezogen; heute gesamtgesellschaftlich. Wirkungsforschung reicht weder an Kunst als Gesellschaftliches heran noch darf sie gar, wie sie unter positivistischem Geist es usurpiert, der Kunst Normen diktieren ... Kunst und Gesellschaft konvergieren im Gehalt, nicht in einem dem Kunstwerk Äußerlichen"28. Nur autonom, „der Praxis sich enthaltend, wird Kunst zum Schema gesellschaftlicher Praxis"29 und zugleich eine negative Oppositionsalternative: eine „Kritik von Praxis als Unfreiheit"30. Sie negiert die Empirie der Tauschverhältnisse und sie entzieht sich der im Kapitalismus fatalen defizienten Rezeption durch ihre geschlossen-monadische Struktur, indem sie sich die unmittelbare Kommunikation mit der Wirklichkeit verbietet. „Die Kommunikation der Kunstwerke . . . mit der Welt, vor der sie selig oder unselig sich verschließen, geschieht durch Nicht-Kommunikation"31. Nicht weniger kritisch verhält sich die Konstanzer Schule zu der marxistischdogmatischen Darstellung, was die „Widerspiegelung" der Realität im Kunstwerk betrifft (mit speziellem Hinweis auf Plechanow und Lukacs); für sie ist die Literatur nicht Ausdruck eines Anderen, sondern Kommunikation besonderer Art, in der durch das Werk zwei distinkte Größen in Verbindung treten — der Autor und der Rezipient des Werkes. Einerseits decken sich seine formalen Gesetze nicht mit den Gesetzen der sozialen Entwicklung; anderseits kann es als Phänomen, das sich in einem gewissen sozial-historischen Kontext entwickelt, nicht von dem „Äußerlichen" isoliert werden. Die substantialistischen und „metaphysischen" Spuren, die Jauß noch im Gerüst der zwei theoretischen Ansätze, die er zu überwinden versucht, identifiziert — das Mimesis-Dogma einerseits und den Textbegriff der russischen Formalisten anderseits —, werden deshalb abgelehnt, weil sie abhängig von fiktiven Kausalitäten außerhalb des Kommunikationssystems zu sein scheinen. Deswegen konkretisierte sich „der Versuch, die Kluft zwischen Literatur und Geschichte, historischer und ästhetischer Erkenntnis zu überbrücken"32, in einer Rezeptionsäsfbeftä, für die die „Aufgliederung des ästhetischen Codes einer bestimmten Epoche auf die konkurrierenden Interessen ihrer gesellschaftlichen Träger" (anders gesagt 28
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ADORNO (1970), S. 339; siehe auch THEODOR W. ADORNO, Ohne Leitbild. Parva Aesthetica, Frankfurt/M 1967, S. 94. ADORNO (1970), S. 339. THEODOR W. ADORNO, Marginalien %u Theorie und Praxis, in Stichworte, Frankfurt/M 1969, S. 172. ADORNO (1970), S. 15; siehe dazu auch PETER BÜRGER, Vermittlung-Rezeption-Funktion, Frankfurt/M 1979, S. 131. JAUSS (1970), S. 168.
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die Aufschlüsselung „einer bestimmten literarischen Öffentlichkeit soziologisch in die Erwartungsebenen verschiedener Gruppen, Schichten oder Klassen" und ihr Zurückbeziehen „auf Interessen und Bedürfnisse der sie bedingenden historischen und ökonomischen Situation"), trotz ihrer Nützlichkeit, nicht imstande ist, ihr Grundproblem zu lösen: „wie sich im Erwartungshorizont einer Lebenspraxis ästhetische Erfahrung in kommunikative Verhaltensmuster umsetzen kann"33. Das ist der Ausgangspunkt für die dialektische Darstellung der „Wahrheit" im Kunstwerk, die sich als Einheit zwischen ihrer Genesis und der wiederholten Realisierung im Bewußtsein der Leser manifestiert: „das literarische Werk ist kein für sich bestehendes Objekt, das jedem Betrachter zu jeder Zeit den gleichen Anblick darbietet", sondern „wie eine Partitur auf die immer erneuerte Resonanz der Lektüre angelegt, die den Text aus der Materie der Worte erlöst und ihn zu aktuellem Dasein bringt"34. Ein dialektisch-prozessuelles Bild des Kunstwerks kann die substantialistische Konzeption des „aus einer Reihe von situationshaften Voraussetzungen und Anlässen, aus der rekonstruierbaren Absicht einer historischen Handlung und aus deren notwendigen und beiläufigen Folgen kausal" erklärbaren literarischen „Faktums" oder der Historic als einer unabsehbar wachsenden Summe solcher „Fakten" nicht mehr als gültig erscheinen lassen35. Die Forschung bezieht sich deswegen in erster Linie auf das Werk; die hermeneutische Analyse betrachtet es als Konvergenz von Text und Rezeption, mithin als eine dynamische, im historischen Wandel ihrer Konkretionen faßbare Struktur. Der dialogisch-intersubjektive Charakter sinnkonstituierender Prozesse setzt in ästhetischer Erfahrung „Vermittlung auf der Formebene wie auf der Sinnebene, mithin sowohl den Kunstcharakter ... als auch den Antwortcharakter des ästhetischen Mediums voraus"36. Der Gegensatz zwischen der Rezeptionsästhetik und der am Werkbegriff orientierten Ästhetik (Jauß wird mehrmals darauf eingehen)37 ist nur ein scheinbarer
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HANS ROBERT JAUSS, Racines und Goethes Iphigenie, in Re^epttonsästhetik (1975), S. 392 f.; siehe auch seine Kritik an HILLMANNS Theorie der empirischen Rezeptionsforschung, in JAUSS, Der Leser als Instan^ einer neuen Geschichte der Literatur, in Poetica 7/1975. JAUSS (1970), S. 171/172. Ibid., S. 173. JAUSS, in Re^eptionsästbetik (1975), S. 383. JAUSS, in Der Leser ... (1975); er selbst neigt der Meinung zu, der zufolge die Frankfurter Schule „die ästhetische Funktion der Literatur gegen ihre gesellschaftliche Funktion gesetzt" habe (siehe die Kritik der Ostberliner Schule der Rezeptionsästhetik an der Frankfurter Schule, in Gesellschaft, Literatur, Lesen, hrsg. von MANFRED NAUMANN, Berlin und Weimar 1975, S. 228). Dazu auch die indirekte Antwort von PETER BÜRGER: „Nicht subjektive Verachtung der Produzenten gegenüber dem Massenpublikum läßt die Gebilde moderner Kunst unzugänglich werden, sondern diese Unzugänglichkeit wird den Gebil-
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im Falle von Adornos, Benjamins oder Marcuses Theorien, deren Immanentismus einen ganz anderen Sinn als der der geistesgeschichtlichen Literaturinterpretation hat. Für die Frankfurter Schule ist das Werk zwar nicht „unmittelbar Daseiendes"38, aber mittelbar Daseiendes; „die aufbrennende, explodierende Konstellation, in der die katastrophische Kontinuität der Geschichte durchbrochen, negiert und damit auf ihre andere Möglichkeit durchsichtig gemacht wird, ist der ,monadologische Kern', durch den das Werk zur Geschichte vermittelt ist, ein Totum von Zeit, in dem alle zeitlichen Möglichkeiten und Tatsächlichkeiten eingeschlossen sind, ohne zeitliche Ausdehnung"39. Jauß hat seinerseits in seiner Konstanzer Antrittsvorlesung auf die Temporalität der ästhetischen Erfahrung hingewiesen, auf die geschichtlichen Variationen zwischen der virtuellen Bedeutung des Kunstwerks und der durch den Kontakt mit dem Rezipienten aktualisierten Bedeutung. Er versteht somit die Idee der historischen Dimension der Innovation als Voraussetzung des durch das Ästhetische festgelegten Verhältnisses zwischen Synchronie und Diachronie. Der Charakter einer realen Geschichtlichkeit wird nicht mehr in einer statischen reproduktiven Fähigkeit der Literatur identifiziert, sondern (höchstes Argument des Wertes) durch eine authentische gesellschaftsbildende Funktion, indem man noch nicht verwirklichte Möglichkeiten antizipiert und die Grenzen des sozialen Verhaltens des Rezipienten bezüglich neuer Bestrebungen, Ansprüche und Bedürfnisse erweitert. Nachdem er sich direkt auf Adorno bezog, entdeckte auch Iser in der Nicht-Identität von Fiktion und Welt sowie von Fiktion und Empfänger „die konstitutive Bedingung ihres kommunikativen Charakters"40 und schließlich auch ihrer Wirkung. „Deshalb bestimmt sich Fiktion als Kommunikation, da durch sie etwas in die Welt kommt, das nicht in ihr ist"41. Die berühmte von Marx in seiner Einleitung %ur Kritik der politischen Ökonomie angedeutete Schwierigkeit, in der Frage Klarheit zu schaffen, warum griechische Kunst und Epos, die „an gewisse gesellschaftliche Entwicklungsformen geknüpft sind[,] . . . uns noch Kunstgenuß gewähren und in gewisser Beziehung als Norm und unerreichbare Muster gelten"42, wird von der Rezeptionsästhetik gelöst, gerade durch die Verlagerung des Schwerpunktes der Historizität von der dokumentarisch-passiven Widerspiegelung der Realität durch und von der Literatur zu „jener Geschichtlichkeit, die der Kunst eigentümlich ist und ihr Verstehen aus-
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den durch ein kulturelles System aufgezwungen, in dem Kommunikation nur als entfremdete existierte", in BÜRGER (1979), S. 131. ADORNO (1970), S. 127. KAISER (1974), S. 131. ISER (1976), S. 283. Ibid., S. 353; es handelt sich um eine Paraphrase des berühmten Satzes von ADORNO. KARL MARX und FRIEDRICH ENGELS, Werke, Bd. XIII, Berlin 1961, S. 641.
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zeichnet"43, d. h. zu der prozessuellen Erscheinungsform des Kunstwerkes in der und durch die Rezeption (im gesellschaftsbildenden Sinn) von einem sich ununterbrochen wandelnden Publikum, dem gegenüber seine sinngebenden Fähigkeiten sich erneuern. Indem sie die von Lukacs angewandten Kategorien, wie Idealität, Atemporalität, Klassizität, nur als „undialektische und nichtmaterialistische" Reminiszenzen betrachtet44, befindet sich die Rezeptionsästhetik in unmittelbarer Nähe zu den Theoretikern der Frankfurter Schule, für die ,,[d]ie Entfaltung der Werke ... das Nachleben ihrer immanenten Dynamik [ist]"45 und „die in den Kunstwerken latenten und im Augenblick durchbrechenden Prozesse, ihre innere Historizität, die sedimentierte auswendige Geschichte [sind]"46. An die unorthodoxe Anschauung des Marxisten Karel Kosik, für den „die Wahrheit des Werkes . . . nicht in der Zeit-Situation, in der sozialen Bedingtheit und in der Historizität der Verhältnisse, sondern in der geschichtlichgesellschaftlichen Wirklichkeit als einer Einheit von Genesis und Wiederholbarkeit, in der Entwicklung und Realisierung des Verhältnisses von Subjekt und Objekt als des Spezifikums der menschlichen Existenz [liegt]" und dementsprechend „das Werk . . . ein Werk [ist] und . . . als Werk deshalb [lebt], weil es eine Interpretation fordert und in vielen Bedeutungen wirkt"47, schließt sich auch das Quasi-Ein Verständnis von Jauß hinsichtlich Marcuses Schlußfolgerungen zum Marxschen Fragment an: „die vergangene Kunst gewährt uns noch Genuß, weil sie die bestehende Wirklichkeit in eine andere Dimension, die der möglichen Befreiung, transformiert und weil sie durch die ästhetische Form unterdrückte Qualitäten der menschlichen Sinnlichkeit anspricht"48. Indem sie der These der Frankfurter Schule von der Eigenschaft der wahren Kunst, „une promesse du bonheur" zu sein, zustimmt und gleichzeitig das „bonheur frauduleux" der affirmativen Kunst negiert49, gelingt der Rezeptionsästhetik eine genaue Definition des Begriffes der „Freisetzung durch ästhetische Erfahrung",-und macht dadurch klar, daß es im Wesen der Kunst und Literatur selbst liegt, an der Lebenswelt beteiligt zu sein. „Gerade daß die Kunst keine Zwangsgeltung in Anspruch nehmen und daß ihre Wahrheit weder 43 44 45 46 47
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JAUSS (l977), S. 11. JAUSS (1970), S. 160. ADORNO (1970), S. 288. Ibid., S. 133. KAREL KOSIK, Historismus und Historismus, in So^ialgeschichte und Wirkungsästhetik, hrsg. von PETER UWE HOHENDAHL, Frankfurt/M 1974, S. 205-206. HANS ROBERT JAUSS, The Idealist Embarrassment: Observations on Marxist Aesthetics, in New Literary History 7/1975 — 76, S. 193f. (deutsche Übersetzung des Autors im Manuskript); er bezieht sich auf MARCUSE (1972), S. 105. Siehe MARTIN JAY, L imagination dialectique, Paris 1977, S. 221.
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durch Dogmen widerlegt noch durch Logik ,falsifiziert' werden kann, macht ihre eminent gesellschaftliche Funktion aus"50. Es gibt keine Andeutungen für die primären Gründe des kritischen Examens, dem Jauß in den 70er Jahren seine Thesen aus der Konstanzer Antrittsvorlesung unterzog. Er steht nicht fest, ob das die Antwort auf die Bemerkungen seiner zahlreichen Kritiker und Kommentatoren war oder seine Reaktion auf die Ästhetische Theorie von Adorno, ein Werk, auf das er sich von nun an immer wieder beziehen wird, indem er sich von ihm distanziert. In der Kleinen Apologie der ästhetischen Erfahrung drückt er schon seine Besorgnis aus, daß die übertriebene Anwendung der Vorschriften der Ästhetik der Negativität „die gesellschaftliche Funktion der Kunst und der ihr dienenden Wissenschaft"51 gefährde. Die gesellschaftsbildende Eigenschaft des Kunstwerkes hänge von seiner Kommunikativität ab, d. h. von dem dialektischen Verhältnis zwischen der „ästhetischen" und der „praktischen" Erfahrung; programmatisch verhindert sowohl durch die nichtkommunikative Literatur (im Sinne Adornos) der ewigen Avantgarde als auch durch deren rechtfertigende ästhetische Theorie, könne das Kunstwerk nicht mehr das Grundinteresse des Rezipienten für das literarische Schaffen nähren. Exzessiv autonomisiert, dem Dialog den exklusiven und elitären Monolog vorziehend, wäre die Literatur zur allmählichen Abschaffung verurteilt. In seiner späteren Arbeit über Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik nimmt Jauß die Diskussion der Thesen von Adorno wieder auf und distanziert sich sehr deutlich von den eigenen Positionen, insofern sich diese mit der Ästhetik der Negativität überdeckten. Er stellt sich nun die Frage, ob die normbildende Funktion, von deren Vollendung eigentlich das Dasein der Kunst abhängt, ausschließlich von der „normbrechenden" Valenz gedeckt werden kann, indem man so viele Kunstwerke, die außerhalb des antinomischen Rahmens Negation/ Affirmation geschaffen wurden, außer Betracht läßt. Die normbildenden Potentiale der echten Kunstwerke, stellt er fest, haben sich schon lange vor der autonomen Kunstära manifestiert; so betrachtet sei es willkürlich, die primäre Kommunikativität des Kunstwerkes, d. h. den ästhetischen Genuß, im Namen einer Ästhetik, die aus historisch begrenzten Gründen (die „kulinaristische" Kulturindustrie des Spätkapitalismus) die Reflexivitätsaskese in den Vordergrund stellt, zu bestreiten. Letztendlich führte das Übertreiben dieses Reflexionsautonomismus, das aus der Anschauung hervorgeht, die Kunst werde ihre insurgente Neigung durch Genuß verlieren, zur Opferung der letzten Appellstrukturen, die das Interesse des Rezipienten wecken könnten, zur Vernichtung jeder Kommunikation und demzufolge
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JAUSS (1977), S. 36. JAUSS (1972), S. 7.
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zum Verlust aller Funktionen auf sozialer Ebene. „Ästhetische Erfahrung wird um ihre primären gesellschaftlichen Funktionen verkürzt, solange sie im kategorialen Rahmen von Emanzipation und Affirmation, Innovation und Reproduktion belassen und die konstitutive Negativität des Kunstwerks nicht mit Identifikation als ihrem rezeptionsästhetischen Gegenbegriff vermittelt wird"52. Was uns betrifft, neigen wir weniger als Peter Bürger53 und sogar als Jauß selbst dazu, die obenerwähnte „Selbstrevision" als einen unversöhnlichen Widerspruch zur anfänglichen Version der Rezeptionsästhetik und implizit zu ihrer später anerkannten Homologie mit der Ästhetik der Negativität zu verabsolutieren. Entscheidend scheint uns in diesem Sinne die von Jauß übersehene Tatsache, daß auch Adornos Negation eine konstruktive Valenz als alleinige Trägerin einer besseren Welt, die nicht ist, enthält, denn jede Negation „bleibt gebunden an die Idee ihres Gegenteils, eines Positiven, Rationalen"54; auch wenn sie nicht ausdrücklich formuliert wird, ist die Anschauung einer „aufbauenden Wirkung der Werke" in ihrer Darstellung als „stillgestellte Prozesse, die in der Rezeption wieder in Bewegung geraten"55, impliziert. Genauer beobachtet bedeutet im Grunde das Umgestalten der kategorialen Hierarchie der Rezeptionsästhetik eine Nuancierung, eine Vertiefung und eine Ergänzung der schon formulierten Theorie. Als Anlaß dazu könnte sogar ein Zitat von Adorno dienen: „Wäre aber die letzte Spur von Genuß exstirpiert, so bereitete die Frage, wozu überhaupt Kunstwerke da sind, Verlegenheit"56. Das Dogma der Reflexivitätsaskese, die bei Adorno „das entmündigte Bewußtsein des einzelnen aus der angeklagten Praxis seines Kunstverhaltens freisetzen"57 sollte, wird von Jauß in einer Weise zurückgewiesen, die eigentlich an Benjamins Optimismus erinnert hinsichtlich der Chance des Kunstwerkes, trotz des Auraverlustes, in der Ära seiner technischen Reproduzierbarkeit58. „Es ist noch nicht ausge52
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BÜRGER (1979), S. 143; in ISERS Akt des Lesens, das fast gleichzeitig mit JAUSS' Ästhetischer Erfahrung und literarischer Hermeneutik erschienen ist, zitiert der Autor mehrmals ADORNO, ohne gegen seine Thesen zu polemisieren. HARTMUT SCHEIBLE, Geschichte im Stillstand, in Text + Kritik, Sonderband Theodor W. Adorno, hrsg. von HEINZ LUDWIG ARNOLD, München 1977, S. 110. KAISER (1974), S. 128. ADORNO (1970), S. 27. JAUSS (1977), S. 20. Siehe HABERMAS' Begriff der „rettenden Kritik" bei BENJAMIN; sie „zielt ... auf die Rettung einer mit Jetztzeit geladenen Vergangenheit; sie vergewissert sich der Momente, in denen die künstlerische Sensibilität dem als Fortschritt drapierten Schicksal Einhalt gebietet und die utopische Erfahrung im dialektischen Bild verschlüsselt — das Neue am Immerwiedergleichen", in JÜRGEN HABERMAS, Bewußtmachende oder rettende Kritik — Die Aktualität Walter Benjamins, in Kultur und Kritik, Frankfurt/M 1973, S. 315.
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macht, daß die Entgrenzung des Ästhetischen durch ungeahnte Möglichkeiten der poietischen und aisthetischen Tätigkeit notwendig der ,Dialetik der Aufklärung' verfallen und daß ästhetische Erfahrung aus gegenwärtiger wie aus vergangener Kunst, die dank den neuen Medien nicht mehr nur einer gebildeten Oberschicht, sondern einem bisher nie erreichten Adressatenkreis eröffnet wird, unvermeidlich in affirmatives Konsumverhalten degenerieren muß"59. Das beweisen z. B. die fünf Interaktionsmuster der Identifikation mit dem literarischen Helden, die Jauß jenseits der Antinomien einer „nur reflektierbaren Kunst der Avantgarde und einer nur konsumierbaren Produktion der Massenmedien"60 sowie, historisch gesehen, jenseits der Unterscheidung vor-autonomer und autonomer Kunst formuliert. Von diesem Standpunkt „[braucht] Negativität... als Grundbestimmung in der Erfahrung des ästhetischen Gegenstands nicht preisgegeben zu werden"61. Wenn man die Kunst als eine Erfahrung betrachtet, „in der sich die ästhetische Tätigkeit als Werk der Menschen entäußert"62, enthält sie im Unterschied zu den anderen Gebieten der Praxis eine besondere Eigenschaft: durch ihre Unbotmäßigkeit gegenüber Unterdrückung, durch die emanzipierende Alternative im Vergleich zu dem Alltag ist sie diejenige gewesen, die während der gesamten Weltgeschichte die totale Unabhängigkeit des menschlichen Tuns behauptet hat63. Als „entscheidende Dimension der Freiheit", wie sie Marcuse charakterisierte64, unbotmäßig, also negativ, beschränkt sich die ästhetische Erfahrung nicht nur auf Widerspruch, d. h. darauf, „dort fürwitzige Fragen zu stellen oder in Fiktionen versteckt zu suggerieren, wo ein System von verbindlichen Antworten und allein zugelassenen Fragen die Herrschaft einer Welterklärung befestigt und legitimiert", sondern wirkt normbildend, indem sie „dem praktischen Handeln Normen vorgeben kann, ohne sie ihm aufzuerlegen"65. Die Rezeptionsästhetik versucht, parallel und im Dialog mit der Frankfurter Schule, vielleicht zum ersten Mal in einer solch tiefgreifenden Art, die Grundnegativität der Literatur in ihrer konstruktiven Seite, anders gesagt die normbildende Funktion der Literatur vom Standpunkt ihres besonderen Status' als Literatur neu zu definieren. 59 60 61 62 63
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JAUSS (1977), S. 20. Ibid., siehe dazu auch ZIMMERMANNS Kommentar (1977), S. 74. JAUSS (1977), S. 43. Ibid., S. 7. JAUSS zitiert die berühmte Passage aus MARX' Ökonomisch-philosophische Manuskripte, der zufolge der Mensch „nach dem Maß jeder species zu produzieren weiß und überall das inhärente Maß dem Gegenstand anzulegen weiß; der Mensch formiert daher auch nach den Gesetzen der Schönheit", ibid., S. 88. MARCUSE (1972), S. 82. JAUSS (1977), S. 22.
KvferosLAv CHVATIK (Konstanz)
Herbert Marcuse und Karel Teige über die gesellschaftliche Funktion der Kunst Im Dezember 1922 erschien in Prag der Sammelband „Zivot" (Leben), der zusammen mit dem „Revolucni sbornik Devetsil" (Revolutionärer Sammelband Devetsil) vom Herbst des gleichen Jahres auch durch seine graphische Gestaltung bereits eine vollständige Verkörperung des konstruktivistischen Stils der aufkommenden tschechischen künstlerischen Avantgarde darstellt. Über zwei Seiten dieses Sammelbandes hinweg war die Parole gesetzt: „Die neue Kunst wird aufhören, Kunst zu sein", und darunter befanden sich keine Reproduktionen von Kunstwerken, sondern Fotografien von Flugzeugen und eines Leuchtturms. Zwei Jahre später, 1924, veröffentlichte Karel Teige, der führende Theoretiker der tschechischen Avantgarde zwischen den beiden Weltkriegen, das erste „Manifest des Poetismus", in dem er die Befreiung der sinnlichen Wahrnehmung, der Phantasie, des Traums und des Spielerischen als zweiten Pol des Programms der tschechischen Avantgarde proklamierte. Auch hier wird betont, daß der Poetismus keine Literatur, keine Malerei, keine Kunst sein wird: „Er liefert nicht eine Ästhetik, die alles Mögliche verbieten oder verschreiben würde. Der Poetismus ist, wir wiederholen es, im schönsten Sinne des Wortes die Kunst zu leben, ein modernisierter Epikureismus. . . . Nichts als Freude, Bezauberung und übergroßes Vertrauen auf das Schöne des Lebens. Nichts als die unmittelbaren Daten der Sensibilität. . . . Eine Kultur von wunderbarer Blendkraft. Der Poetismus will aus dem Leben einen großartigen Vergnügungsbetrieb machen. Einen exzentrischen Karneval, eine Harlekinade der Gefühle und Vorstellungen, einen trunkenen Filmstreifen, ein wunderbares Kaleidoskop."1 Die Kunst soll wieder ein integraler Bestandteil des Lebens werden: auf der einen Seite Bestandteil seiner rationalen Ordnung im Konstruktivismus, auf der anderen Seite eine Art Sicherheitsventil für seine Irrationalität, für das Unterbewußtsein und den Traum im Poetismus; auf jeden Fall 1
K. TEIGE, Poetismus (1924); in: K. TEIGE, Svit stavby a basnl (Die Welt des Bauwerks und des Gedichts), Praha 1966, S. 124-125.
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soll ihre gesellschaftliche Funktion neu definiert werden: „Die richtig konstruierte und organisierte Kunst ist nur ein Teil des Lebens, die Krone der Existenz und einer ordentlich konstruierten Gesellschaft. Es bedarf vor allem einer neuen Gesellschaft, deshalb bedarf es der Revolution. ... In der neuen Welt gibt es neue Funktionen der Kunst, die sich nicht mit dem bisherigen künstlerischen Geschäftsbetrieb vertragen."2 Diese Worte lesen wir am Schluß von Teiges programmatischem Buch aus dem Jahre 1927, das bezeichnenderweise den Titel „Stavba a basen" (Bauwerk und Gedicht) trägt. In diesem Buch finden wir auch eine Zusammenfassung von Teiges im Grunde genommen dualistischer Konzeption eines Programms von Konstruktivismus und Poetismus als einer möglichen Lösung der Fragen der „Aufhebung" und gleichzeitig der „Bewahrung" und einer neuen „Verwirklichung" derjenigen menschlichen Aktivität, die man als „Kunst" bezeichnet: „Grundlage des Lebens ist die Ratio, die Konstruktion, die Ordnung, die Disziplin; die Krone des Lebens ist die reine Poesie. Künstler sind Organisatoren des Lebens, aber auch Arrangeure und Regisseure des Lebensdramas beziehungsweise der Lebensfarce, sie sind der Vergnügungsausschuß der menschlichen Gesellschaft. ... Durch eine Vermischung beider Bereiche würde ein Dekorativismus des Lebens entstehen, der eine alogische Poesie auf eine zweckmäßige Konstruktion appliziert. Die Isolierung beider Elemente ermöglicht eine angemessene Synthese. Im Augenblick einer gesicherten materiellen Existenz werden im Menschen mächtige vitale Sehnsüchte frei ..., poetische, leichtsinnige, humorvolle, phantastische und träumerische."3 Der andere führende Theoretiker der tschechischen künstlerischen Avantgarde, der Literaturkritiker und -historiker Bedfich Vaclavek, beschließt sein programmatisches Buch „Poesie v rozpacich. Studie k sociologii umeni a kultury" (Die Poesie in Verlegenheit. Studien zur Soziologie der Kunst und der Kultur) aus dem Jahre 1930 in ähnlicher Weise: „Die Poesie gliedert sich in das Leben ein als dessen nicht unterscheidbarer, integraler Bestandteil. Jegliche Arbeit wird, wenn sie befreit ist und sich auf einem hohen Niveau abspielt, eine freie schöpferische Tätigkeit sein. ... Die Poesie wird verschwinden, die Menschen werden ein poetisches Leben leben ... Die Wirtschaft, planmäßig gelenkt, wird die harmonische Entfaltung aller Produktivkräfte ermöglichen. ... Durch aas Verschwinden der Klassen wird das Monopol der Kultur und auch der Wort.kunst* beseitigt werden, die Kultur wird zum Eigentum aller, was eine allgemeine Produktivität hervorrufen wird. Alle Fähigkeiten der Menschheit werden sich harmo-
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K. TEIGE, Stavba a basen (Bauwerk und Gedicht), Praha 1927, S. 183. Ebenda.
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nisch entfalten, auch die Phantasie, die sich bis dahin in der fiktiven Poesie ausgelebt hat, wird wieder in das Leben eingegliedert werden. Auf dieser Entwicklungsstufe wird es nicht mehr die Abstraktionen (wie ,Staat', .Kultur', ,Poesie') geben, die über den Menschen stehen, sondern eine menschliche Gemeinschaft, in der die .Poesie' ein organischer Bestandteil der allgemeinen Produktivität sein wird, nicht mehr .Kunst', sondern Leben. In dieser harmonischen Ordnung wird sich die Marxsche Verheißung erfüllen, daß nämlich nicht mehr die Dinge das menschliche Bewußtsein beherrschen werden, sondern das freie menschliche Bewußtsein alles nach seinem Bilde formen wird."4 Zu Beginn der dreißiger Jahre wurde Vaclaveks und Teiges Konzeption des avantgardistischen Dualismus von zweckvollem Schaffen (Architektur, politische Reportagen, die sog. „Literatur der Fakten") und reiner Poesie (artifizielle Malerei, „befreites Theater" u. a.) als nicht der Realität entsprechend kritisiert, als eine Konzeption, die von den konkreten Aufgaben der aktuellen Etappe des Klassenkampfes ablenkt. Im Jahre 1934 kommt es dann auch zum endgültigen Bruch zwischen den beiden Theoretikern: Vaclavek wurde einer der ersten tschechischen Sprecher der Konzeption des sozialistischen Realismus, auch wenn er diesen im Unterschied zu den sowjetischen Theoretikern als eine undogmatische und dynamische Synthese der proletarischen und der avantgardistischen Entwicklungsetappe der tschechischen fortschrittlichen Kultur auslegte. Teige wurde zum Hauptsprecher der Prager „Surrealistischen Gruppe", die 1934 von Vitezslav Nezval in engem Kontakt mit der Pariser Gruppe Andre Bretons gegründet wurde. — Teiges poetistische Konzeption vom Untergang und von der Verwirklichung der Poesie in der klassenlosen Gesellschaft wurde in den dreißiger Jahren und auch später als utopisch empfunden.5 Eine in höherem Maße dialektische Konzeption der Funktion der Kunst in der Gesellschaft formulierte Teige in dem Artikel „Basen, svet, clovek" (Gedicht, Welt, Mensch) aus dem Jahre 1930, also aus der Zeit seines Übergangs vom Poetismus zum Surrealismus; hier strebte er fraglos eine Synthese des Marxschen gesellschaftlichen und des Freudschen psychoanalytischen Zugangs zum Problem der Funktionen der Kunst an: „Die durch die kapitalistische Rationalisierung mechanisierte Menschheit verlangt danach, wieder eine harmonische biologische Grundlage zu bekommen; die neue Gesellschaft bedarf des harmonischen, des totalen Menschen, der aus seiner biologischen Mitte heraus gegenüber allem einen festen Standpunkt instinktiver Sicherheit besitzt ...
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B. VÄCLAVEK, Poesie v ro^pacich (Die Poesie in Verlegenheit), Praha 1930, S. 240-241. Zum Problem des utopischen Charakters des tschechischen Poetismus ausführlicher in: K. CHVATIK, Der Poetismus; in: Strukturalismus und Avantgarde, München 1970, S. 50 ff.
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Die neue Poesie, deren Theorie der Poetismus ist, ist zu dieser kulturellen Revolution berufen. Ihre Sendung besteht darin, mit allen geeigneten Mitteln ... die Sinne zu kultivieren und die Sensibilität des Menschen zu bereichern. Themen anzubieten für die neue, allerhöchste Kunst zu leben und zu lieben, für den neuen Lebensstil des Sozialismus."6 Ihren Höhepunkt erreichte Teiges Soziologie der Kunst in dem Büchlein „Jarmark umeni" (Jahrmarkt der Kunst) aus dem Jahre 1936, in dem er die damals unter dem Titel „Theorien über den Mehrwert" herausgegebenen Marxschen Manuskripte für seine Konzeption vom künstlerischen Schaffen als der „tätigen Entfaltung der menschlichen Natur" verwendete, und damit auch für die Verteidigung von dessen relativer Autonomie und seiner gesellschaftlich subversiven Rolle. Teige beruft sich auf den Marxschen Gedanken, wonach der Künstler aus denselben Antrieben schafft, aus denen die Seidenraupe Seide produziert, nämlich als tätige Verwirklichung der eigenen Natur, und er schließt seine Abhandlung mit dem Aufruf: Die Sehnsucht nach Befreiung des Gedichts, des Traums, der Phantasie und der Liebe muß auch teilhaben an der Rekonstruktion der Geschichte.1 Die Aktivität der tschechischen avantgardistischen Künstler und Theoretiker geriet zum Ende der dreißiger Jahre in einen tragischen Konflikt mit der Realität der Stalinschen Kulturpolitik. Teige hatte bereits im Jahre 1925 die Sowjetunion besucht und in seinem Buch „Sovetska kultura" (Die Sowjetkultur) eines der materialreichsten Zeugnisse über die sowjetische Avantgarde in bildender Kunst und Architektur abgegeben. Seine ablehnende Haltung gegenüber den konservativen Zügen der neuen Politik einer Liquidierung der Avantgarde brachte er in der polemischen Broschüre „Surrealismus proti proudu" (der Surrealismus gegen den Strom) zum Ausdruck. 8 Sein kritischer Standpunkt gegenüber dem Komplex von Erscheinungen, die später als Personenkult bezeichnet wurden, führte dazu, daß er nach dem Jahre 1948 aus der tschechischen Kultur ausgeschaltet und das Werk der tschechischen Avantgarde als „kosmopolitisch und formalistisch" stigmatisiert wurde. Seit dem Ende der fünfziger Jahre gewann die Frage eines neuen, nichtrepressiven Modells der sozialistischen Kultur in der Tschechoslowakei jedoch wieder an Aktualität. Die Voraussetzungen dafür bildeten sowohl das relativ hohe ökonomische und kulturelle Niveau der tschechischen Länder, als auch die Kritik an der Stalinschen Politik auf dem 6
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K. TEIGE, Basen, sve't, Slovak (Gedicht, Welt, Mensch) (1930); in: K. TEIGE: Svlt stavby a basni (Die Welt des Bauwerks und des Gedichts), Praha 1966, S. 494, 497. K. TEIGE, Jarmark »;»/»/(Jahrmarkt der Kunst) (1936), Praha 1964, S. 60. K. TEIGE, Surrealismus proti proudu (Der Surrealismus gegen den Strom) (1938); in: K. TEIGE, Zapasy o smysl moderni tvorby (Kämpfe um den Sinn des modernen Schaffens), Praha 1969; die Auflage wurde konfisziert und vernichtet.
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XX. Parteitag der KPdSU. In meinem Buch über die Entwicklung der Avantgarde und der marxistischen Ästhetik bei den Tschechen in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen9 habe ich versucht, eine Kritik der dogmatischen Konzeption des „sozialistischen Realismus" zu entwickeln und ein Programm eines offenen, pluralistischen Modells der sozialistischen Kunst zu skizzieren, das seine Inspiration unter anderem auch in den Anregungen der tschechischen Avantgarde der Zwischenkriegszeit finden würde. Dieses Buch war Anlaß zu einer breiten Diskussion, in deren Verlauf es auf der einen Seite als „revisionistisch" und „objektivistisch" abgelehnt wurde, auf der anderen Seite jedoch als ein Beitrag zur Rehabilitation der Avantgarde und zur Integration ihrer Konzeptionen in den Rahmen einer antidogmatischen Kulturpolitik begrüßt wurde. Diese Kulturpolitik leistete dann zusammen mit einer Reihe weiterer Initiativen, z. B. der Diskussion über das Problem der Entfremdung im Werk Franz Kafkas, einen aktiven Beitrag zur Vorbereitung des Konzepts eines demokratischen Sozialismus in der Tschechoslowakei des Jahres 1968. Zur zentralen Frage wurde dabei die Konzeption, daß die ästhetische Funktion keineswegs eine bloße sinnliche „Hülse" eines gegebenen ideologischen Inhalts darstellt, sondern daß sie eine autonome, eine befreiende Kraft ist, die den Menschen auf einer neuen Ebene seiner rationalen, sensitiven und emotiven Bedürfnisse und Möglichkeiten integriert. Mit dem Abstand der Zeit zeigen sich überraschende Übereinstimmungen dieser Gedanken mit dem Konzept der antirepressiven Funktion der Kunst im Werk Herbert Marcuses, das in derselben Zeit durch eine Reihe antiautoritärer Studentenbewegungen im Westen an Aktualität gewann. Ähnlich wie bei Karel Teige hat die Konzeption der Beziehung zwischen Kunst und gesellschaftlicher Revolution auch bei Marcuse eine Reihe radikaler Veränderungen durchlaufen, die ich in meinem Beitrag kurz nachzeichnen will. Ich verfolge dabei die Entwicklung von Marcuses Ästhetik nicht in ihrer Gesamtheit, sondern nur in jenen Punkten seiner Konzeption der gesellschaftlichen Funktion der Kunst, in denen ich Berührungspunkte mit dem Konzept der tschechischen Avantgarde zwischen den beiden Weltkriegen und vor allem mit dem Werk Karel Teiges sehe. Die Probleme, die uns hier interessieren, wurden von Marcuse zum ersten Mal in der Studie „Über den affirmativen Charakter der Kultur" aus dem Jahre 1937 entwickelt. Marcuse geht in dieser Studie von der antiken Einheit von Praxis und menschlicher Erkenntnis aus und sieht in der 9
K. CHVATIK, Bedfich Vaclavek a vyvoj marxisticke estetiky (Bedfich Vaclavek und die Entwicklung der marxistischen Ästhetik), Praha 1962; die Diskussion über dieses Buch ist bibliographisch und mit einigen Texten festgehalten in: Kriticka rolenka 62 (Kritisches Jahrbuch 62), Praha 1963, und Kriticka rolenka 63, Praha 1964.
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Trennung des Nützlichen vom Schönen, die bereits von Aristoteles konstatiert wird, den Beginn der Entwicklung, die später zu der scharfen Trennung der Welt der materiellen Praxis von der stilisierten Welt des Glücks und des Geistes in der „Kultur" führt. Die menschliche Seele wird geteilt in die „Sinnlichkeit" als niedrigeren Pol und in die „Vernunft" als höheren Pol; die Philosophie, die um das Glück des Menschen bemüht ist, muß die Faktizität der unsicheren und unfreien Welt der Besorgung der Lebensbedürfnisse trans^endieren. Die antike Theorie erreicht in Aristoteles' Philosophie gerade jenen Punkt, wo der Unterschied zwischen der Welt der sinnlichen Faktizität und der Welt der Vernunftideen ontologisiert wird. Während sich die antike Theorie noch der Tatsache bewußt war, daß die Mehrheit der Menschen ihre Existenz mit der Besorgung der Lebensbedürfnisse verbringen muß, damit der kleine Teil der freien Bürger sich dem Genuß und der Wahrheit widmen kann, muß die moderne Gesellschaft diesen Zustand mit Hilfe der Idee der Konkurrenz verschleiern. Die Folge davon ist die Trennung des Begriffs der Zivilisation von dem der Kultur. Marcuses Begriff der „affirmativen Kultur" bezeichnet die Kultur der neuzeitlichen Epoche, die sich in ihrer Entwicklung als eine selbständige Welt geistiger Werte über die Zivilisation erhoben hat. Jedes Individuum kann an diesen Werten in dem erhebenden Akt ihrer Rezeption teilhaben, jedoch nur unter einer Bedingung: daß nämlich diese ideale Welt der Beziehung zur Welt der Faktizität enthoben ist, daß sie sich der Teilhabe an der Veränderung der gesellschaftlichen Wirklichkeit begibt. Das Schöne erhält den Charakter der Innerlichkeit und wird zum Bestandteil einer Welt von erhabenen Werten; diese Kultur ist jedoch ein Reich der scheinbaren Einheit und der scheinbaren Freiheit. Die Welt des Schönen war für die Antike im wesentlichen eine Welt des Glücks, eine Welt des Genusses. Das abstrakte Individuum, das Subjekt der modernen Praxis, wurde zwar von der feudalen Vermitteltheit befreit, aber es kann sich unter den kapitalistischen Produktionsbedingungen nur um den Preis der ökonomischen Ungleichheit realisieren. „Die Bestimmung des Menschen, dem die allgemeine Erfüllung in der materiellen Welt versagt ist, wird als Ideal hypostasiert. ... die affirmative Kultur ... ist in ihren Grundzügen idealistisch. Auf die Not des isolierten Individuums antwortet sie mit der allgemeinen Menschlichkeit, auf das leibliche Elend mit der Schönheit der Seele, auf die äußere Knechtschaft mit der inneren Freiheit, auf den brutalen Egoismus mit dem Tugendreich der Pflicht."10 Marcuse entgeht allerdings dem Irrtum, die affirmative Kultur auf eine falsche bürgerliche Ideologie zu reduzieren.
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H. MARCUSE, Über den affirmativen Charakter der Kultur; in: H. MARCUSE, Kultur und Gesellschaft I, Frankfurt a. M. 1965, S. 66.
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Er unterstreicht, daß diese Kultur nicht nur eine Rechtfertigung der bestehenden Verhältnisse beinhaltet, sondern auch den Schmerz über ihren Bestand, nicht nur das Verharren bei dem, was ist, sondern auch die Sehnsucht nach dem, was sein könnte. „Indem die große bürgerliche Kunst das Leid und die Trauer als ewige Weltkräfte gestaltet hat, hat sie die leichtfertige Resignation des Alltages immer wieder im Herzen der Menschen zerbrochen; indem sie die Schönheit der Menschen und Dinge und ein überirdisches Glück in den leuchtenden Farben dieser Welt gemalt hat, hat sie neben dem schlechten Trost und der falschen Weihe auch die wirkliche Sehnsucht in den Grund des bürgerlichen Lebens gesenkt."11 Die klassische Kunst und Philosophie haben so dem Menschen die Hoffnung nahegebracht, daß die gesamte bisherige Geschichte nur ein dunkles und tragisches Vorspiel zu einem zukünftigen Dasein ist. Die Forderung nach Glück hat einen gefährlichen Klang in einer Ordnung, die für die Mehrheit Mangel und Mühe mit sich bringt; der Anspruch auf ein glückliches Dasein für alle stellt hier nach Marcuse eine Revolte dar. Jedoch läßt sich die tatsächliche Befriedigung des Individuums nicht in den Dimensionen einer idealistischen Kultur realisieren; sie setzt eine wirkliche Veränderung der materiellen Verhältnisse voraus. Es ist vor allem die Kunst, die nach Marcuse eine Ausnahme im Rahmen der bürgerlichen Kultur bildet: nur in der Kunst duldete die bürgerliche Gesellschaft die Verwirklichung ihrer eigenen Ideale. Was in der Wirklichkeit als Utopie galt, war hier erlaubt. Das Medium der Schönheit nahm der Wahrheit ihre Gefährlichkeit und rückte sie ab von der Wirklichkeit. Was sich in der Kunst abspielte, verpflichtete zu nichts. Im Medium der Schönheit durften die Menschen am Glück teilhaben. Aber die Schönheit mußte beschränkt bleiben auf den Bereich der Kunst, denn sie hat eine gefährliche, den gegebenen Zustand des Daseins bedrohende Kraft. Die unmittelbare Sinnlichkeit verweist unmittelbar auf sinnliches Glück. Marcuse erinnert an Hume, nach dem es zu den entscheidenden Wesenszügen der Schönheit gehört, Freude hervorzurufen: die Lust ist nicht nur eine Begleiterscheinung der Schönheit, sondern sie bildet ihr Wesen selbst. Die Kunst ist ursprünglich ein Reich der Vorstellung, des Scheins. Erst die sinnliche Schönheit gibt ihrem Ideal den Charakter des Liebevollen, Beseligenden, den Charakter des Glücks. Die Schönheit verleiht der fiktiven Welt der Kunst das Wesen von etwas Vertrautem, Nahestehendem, das Wesen wirklichen Seins. Hat ein schöner Augenblick einmal in einem Kunstwerk Gestalt angenommen, kann er immer von neuem wiederholt werden und gewinnt so Unsterblichkeit. Die Kunst trägt so dazu bei, den abstrakten Begriff des Individuums zu überwinden, sie verwandelt es in eine wirklich lebendige, allseitige menschliche Persönlichkeit. 11
Ebenda, S. 67.
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Die tatsächliche Überwindung der alten Kultur wird nach Marcuse nicht in einer Liquidation der Kultur überhaupt bestehen, sondern in der Aufhebung ihres affirmativen Charakters. Das bedeutet, daß vor allem die Abtrennung der Kultur von der Lebenspraxis, vom Bereich der sogenannten Zivilisation, aufgehoben wird. Die Schönheit wird eine andere Verkörperung finden, wenn sie nicht mehr bloß als realer Schein dargestellt wird, sondern wenn sie das Reale selbst und die Freude an ihm ausdrücken wird. Vielleicht jedoch wird die Schönheit und ihr Genuß aufhören, mit der Kunst identisch zu sein, und die Kunst als solche gegenstandslos werden. Gegen die sozialdemokratische Vorstellung, die sozialistische Kultur entstehe durch die bloße Übernahme des kulturellen Erbes der Vergangenheit und die Umwandlung der zukünftigen Gesellschaft in eine große Volksbildungsanstalt, wendet Marcuse ein, daß hier das Wesentliche vergessen werde, nämlich die Negation der affirmativen Kultur. Er gibt der volkstümlichen Vision vom „Schlaraffenland" den Vorzug, jedoch ohne deren Naivität und statischen Charakter. Auch die nicht-affirmative Kultur bleibt ein Tanz auf dem Vulkan, ein Lachen unter Tränen und ein Spiel auf Leben und Tod; sie wird jedoch nicht frei sein vom individuellen Glück, sondern wird dessen Verwirklichung sein. Soweit Marcuses erste Skizzierung der Beziehung zwischen Kultur und gesellschaftlicher Revolution, die im Vergleich zu der radikalen Bilderstürmerei der künstlerischen Avantgarden der zwanziger Jahre als sehr gemäßigt zu bezeichnen ist. Als Beispiele nicht-affirmativer Kunst führt Marcuse einige antike Plastiken und die Musik Mozarts und Beethovens an. Seine Haltung imponiert bis auf den heutigen Tag durch seinen Widerstand gegen den sogenannten „heroischen Realismus" der totalitären Kulturkonzeption des deutschen Faschismus.12 Marcuse hat seinen Ausgangspunkt in der klassischen deutschen Philosophie, aber er interpretiert diese auf eine neue, antiaffirmative, antiakademische Weise. Er bemüht sich um ihre hedonistische Reinterpretation, indem er die Frage nach dem individuellen Glück ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellt. Er begreift das Glück nicht als idealistische Innerlichkeit und abstrakte Subjektivität, sondern als die Fülle der konkreten menschlichen Persönlichkeit, die auch die Dimensionen der Liebe, der Körperlichkeit und der Sinnlichkeit umfaßt. Ein Aufschimmern der neuen Kultur sieht er in der Freiheit spielerischer Körperlichkeit, in der Kunst des schönen Körpers, wie wir sie nur noch im Zirkus, im Variete und in der Revue antreffen. Das sind Themen, die der tschechischen Avantgarde der zwanziger Jahre sehr vertraut sind. In Teiges erstem „Manifest des Poetismus" lesen 12
H. MARCUSE, Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung, S. 17 ff.
ebenda,
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wir: „Der höchste Wert der Menschheit ist vor allem der Mensch selbst, seine individuelle, der Disziplin der kollektiven Zusammengehörigkeit unterworfene Freiheit, sein Glück, die Harmonie seines inneren Lebens."13 In seinem zweiten „Manifest des Poetismus" definiert Teige die Poesie als universale Kultivierung der menschlichen Sinne. Den neuen poetischen Tanz, der damals im Rahmen des „Befreiten Theaters" von Voskovec und Werich kreiert wurde, bezeichnete er als „Kunst genialer Körper, die physischste aller Künste, deren Medium ertastbare Körperlichkeit aus Fleisch und Blut ist, eine Körperlichkeit, die durch ihre Bewegung die dynamischen und abstrakten Formen des Tanzgedichts entstehen läßt."14 Bereits in dem Artikel „Nove umeni proletafske" (Die neue proletarische Kunst) aus dem Jahre 1922, mit dem Teige seinen Weg von der Proletarischen Poesie zum Poetismus theoretisch vorbereitete, hatte er den Zirkus, das Variete und die Revue als die Orte gefeiert, an denen man noch die authentische Bewegungspoesie der Gegenwart finden kann. Im Jahre 1928 widmete er dem Zirkus, den Clowns und dem Variete ein ganzes Büchlein mit dem Titel „Svet, ktery se smeje" (Die Welt, welche lacht), als ersten Teil des Buchzyklus „O humoru, clownech a dadaistech" (Über Humor, Clowns und Dadaisten). Eine Atmosphäre von spielerischem Artismus und hedonistischer Poesie für sämtliche Sinne durchdringt die ganze poetistische Epoche des dichterischen Werks von Vitezslav Nezval, Jaroslav Seifen und Konstantin Biebl. Es genügt hier, an Nezvals große Kompositionen „Podivuhodny kouzelnik" (Wundersamer Zauberer) und „Akrobat" und an seine Sammlung poetistischer Spielereien „Pantomima", sowie an Seiferts Gedichtbände „Sama läska" (Lauter Liebe), „Na vlnach TSF" (Auf den Wellen der TSF) und „Slavik zpivä Spatne" (Die Nachtigall singt schlecht) zu erinnern. — Auch Marcuses zweite Andeutung einer Vision der Kultur der Zukunft, die Vision eines Landes der Fülle, des „Schlaraffenlandes", wurde in der Kunst der tschechischen Avantgarde thematisiert. In einer Weise, die an die Atmosphäre von Breughels berühmtem Gemälde „Das Schlaraffenland" in der Alten Pinakothek in München erinnert, wird in dem Lied „Za mofem piva" (Hinter dem Meer von Bier) von Jifi Voskovec und Jan Werich gerade jener statische und naive Charakter der volkstümlichen Vorstellung von Glückseligkeit genau erfaßt: „Ein Tag im Mai ein heißer Tag Und nirgends ist ein Schatten Nur dort am Fluß am Waldesrand Da liegt ein Tippelbruder 13
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K. TEIGE, Poetismus (1924); in: K. TEIGE, Svft stavby a basnl (Die Welt des Bauwerks und des Gedichts), Praha 1966, S. 127. K. TEIGE, Manifest poetismu (Manifest des Poetismus) (1928); ebenda, S. 356-357.
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Da summen die Hummeln Und die Käuzchen heulen Und schön singt die Amsel hier Kartoffeln sind da unbekannt Aus Butter ist das ganze Land Und das Meer aus lauter Bier Und hinter dem Meer aus Bier Hab'n die Polizisten Beine aus Holz Und die Bulldoggen Zähne aus Gummi Darauf ist man dort sehr stolz Voller Zigaretten hängen da die Bäume Beim Heuschober ist ein Bad dabei Dort schneit es nie die Zeit bleibt stehn Dort hab ich kein Gewitter keinen Nebel gesehn Dort hinter dem Meer von Bier Dort summen die Hummeln Und die Käuzchen heulen Und die Kuh singt der Kuh ein Lied hier Kartoffeln sind dort unbekannt Aus Butter ist das ganze Land Und das Meer aus lauter Bier"15
„Ich habe die Vorstellung, daß Kommunismus nichts anderes ist als das alte Trachten nach Lebensfülle und Glück; seine Formen haben unendlich vielerlei Gestalt und sie entsprechen der Einbildungskraft des einfachen Volkes ... Ich meine den Kommunismus immer in diesem Sinne, und deshalb habe ich in der Kommunistischen Partei immer zu Recht als eine Abnormalität gegolten", sagte im Jahre 1930 Vladislav Vancura, der größte Prosaschriftsteller der tschechischen Avantgarde zwischen den beiden Weltkriegen.16 Überraschend sind nicht nur die thematischen Übereinstimmungen zwischen Marcuse und dem Schaffen der tschechischen Avantgarde der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Noch wesentlicher ist der Umstand, daß im Grunde genommen Karel Teige in seinem Büchlein „Jarmark umeni" (Jahrmarkt der Kunst) eine Lösung für die gleiche Frage zu finden versuchte, die sich Marcuse in seiner Studie über die affirmative Kultur gestellt hat. Auch er formuliert die Frage, wie es möglich ist, daß „jene große Kunst der bürgerlichen Epoche ... sich nicht in die Sphäre der bürgerlichen Ideologie einsperren läßt, sondern unter den Bedingungen der bürgerlichen Epoche die Frucht einer Gedankensphäre darstellt, die 15
16
J. VOSKOVEC, Klobouk ve kfovi. Vjbor veriä V+W 1927-1947 (Der Hut im Gebüsch. Ausgewählte Verse von V + W 1927-1947), Praha 1965, S. 220-221. - Vergleiche auch M. MÜLLER, Das Schlaraffenland, Wien 1984. V. VAN£URA, O svem novem romani (Über meinen neuen Roman); in: V. VANÖURA, Rad nove tvorby (Die Ordnung des neuen Schaffens), Praha 1972, S. 330-331.
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der offiziellen bürgerlichen Ideologie ferne und häufig sogar feindlich gegenüber steht."17 Teiges Analyse des Problems ist eher kultursoziologischer als philosophischer Art; er schöpft jedoch ebenfalls aus den neu zugänglich gewordenen Manuskripten des frühen Marx, an deren Interpretation sich auch Marcuse beteiligte. Er verweist auf die Problematik der Parole von der Freiheit der Kunst in einer Gesellschaft, die die Kunst in eine Ware verwandelt. Aus dem Marxschen Gedanken über Miltons „Paradise lost", der das künstlerische Schaffen als „tätige Verwirklichung der (menschlichen) Natur" charakterisiert, leitet er ab, daß die moderne Arbeitsteilung das künstlerische Schaffen als relativ autonomen Bereich der freien Rationalisierung der ästhetischen Bedürfnisse des Menschen entstehen ließ: „Die Welt der Kunst wurde hier zu einer künstlichen Welt mit anderen Maßstäben und sozusagen mit anderen Naturgesetzen, die Gut und Böse, das Schöne und das Häßliche und alle Kanons der herrschenden Moral auf den Kopf stellen . . . Der Wert dieser Isolierung von der Gesellschaft läßt sich messen mit Hilfe des Unwerts der Gesellschaft, die diese Isolierung notwendig machte. Der oppositionelle, revoltierende und untergrabende Wert dieser ... aufmüpfigen Kunst beruht darin, daß in ihr die im Bewußtsein der Dichter und Künstler vorhandene Antithese zur Realität der kapitalistischen Ordnung zutage tritt."18 Die ästhetische Haltung als Quelle des künstlerischen Schaffens führte durch ihre „Nichtinteressiertheit", durch die „Fiktivität" der durch sie konstituierten Welt der Kunstwerke dazu, daß dem künstlerischen Schaffen Raum gelassen wurde zur Realisierung von Werten, die aus der Realität längst verbannt waren. Teige zeigte konkret, wie sich seit der Zeit der Romantik im Bereich der poetischen Fiktionen, die vom breiten Publikum isoliert waren, ein Potential subversiver Energien anhäuft, die sich gegen den Geldcharakter der bisherigen Ordnung wenden. Avantgardistisches Kunstschaffen wird so zum natürlichen Verbündeten der gesellschaftlichen Veränderung: „In der Isolation, die einen vollständigen Verlust des Kontaktes der Kunst mit der Welt bedeutete, ein mehr als ein Jahrhundert andauerndes Fegefeuer der Poesie, kristallisierten sich die Anfänge der neuen Poesie heraus, die nur durch das Wiedererlangen dieses Kontaktes realisiert werden sowie leben und leuchten kann, und das freilich nicht durch die Rückkehr zu den alten Ausdrucksformen und retrospektiven Idealen, sondern nur dadurch, daß sie die Verbindung mit der Welt auf einer höheren Stufe des Gedichts und der Gesellschaft erlangt."19 — Gegenüber dem philosophischen Zugang Marcuses denkt Teige eher soziologisch und 17 18 19
K. TEIGE, Jarmark umlni (Der Jahrmarkt der Kunst) (1936), Praha 1964, S. 9. Ebenda, S. 56. Ebenda, S. 57.
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bewegt sich eher im Bereich der programmatischen als der theoretischen Ästhetik. Nach dem Kriege kam es zu einer Weiterentwicklung von Marcuses Konzeption der ästhetischen Problematik in dem Buch „Eros and Civilisation". In dem Kapitel „Die ästhetische Dimension" reinterpretiert er die Entwicklung der deutschen klassischen idealistischen Ästhetik vom Standpunkt einer nichtrepressiven Kulturtheorie her, der die Freudsche Triebtheorie zugrunde liegt. Die zentrale Kategorie seiner Konzeption der Ästhetik ist die Kategorie der „Sinnlichkeit"; bei Baumgarten wird die Ästhetik noch als Vollkommenheit der sinnlichen Wahrnehmung verstanden, und erst bei Kant wird sie auf die Theorie der Kunst und des ästhetischen Urteils bezogen. Der ursprüngliche Sinn des Ästhetischen beruht nach Marcuse in der Verknüpfung von Lust und Sinnlichkeit einerseits mit der Schönheit, der Wahrheit und der Freiheit der Kunst andererseits, also iri der Verknüpfung der sogenannten niederen Fähigkeiten des Menschen mit seinen höheren Fähigkeiten.20 Bei Kant wird die Abtrennung des Bereichs der Natur vom Bereich der Freiheit in der Aufspaltung der psychischen Fähigkeiten in Sinnlichkeit und Intellekt, in praktische und theoretische Vernunft reproduziert. In Kants „Kritik der Urteilskraft" erscheint die ästhetische Dimension nicht nur als dritte Fähigkeit des menschlichen Geistes, sondern auch als Mittelpunkt, in dem die Natur der Kultur und die Notwendigkeit der Freiheit zugänglich ist. In dieser Vermittlerrolle hat die ästhetische Funktion Symbolcharakter; das Schöne ist das Symbol des Sittlichen. Die Freude, die die ästhetische Wahrnehmung begleitet, entsteht aus der reinen Form des Gegenstandes, die unabhängig von seiner Zweckmäßigkeit ist. Die dabei entstehenden Vorstellungen sind ein Werk, ja eigentlich ein Spiel der Phantasie. Vorstellungskraft ist Sinnlichkeit, aber zugleich noch etwas mehr; sie ruft Freude hervor und ist also subjektiv: aber diese Freude ist gegeben durch die Form des Gegenstandes und begleitet die ästhetische Wahrnehmung notwendigerweise und allgemein. Obwohl die ästhetische Vorstellungskraft sinnlich ist, ist sie gleichzeitig schöpferisch: in ihrer freien Synthese beruht das Schöne. Kant entwickelt diese Kategorien als rein geistige Prozesse, doch Schiller schuf auf ihrer Grundlage in den „Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen" eine neue Konzeption der Kultur, die man in der Freudschen Terminologie als eine nichtrepressive Kultur, die das Realitätsprinzip mit dem Lustprinzip versöhnt, bezeichnen kann. Das freie Spiel der Phantasie verbindet in Schillers Konzeption der ästhetischen Funktion die
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H. MARCUSE, Triebstruktur und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1973, S. 171.
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Natur und die Freiheit, es verteidigt den Wert der Sinne gegen ihre Resignation vor dem Druck des Prinzips der Realität und der Vernunft. Während sich das Prinzip der Realität in der Industriegesellschaft in der repressiven Gestalt des Leistungsbegriffs fortzuentwickeln begann, drang seine Negation in die philosophische Analyse ein: Herder und Schiller, Hegel und Novalis formulierten mit beinahe den gleichen Worten den Begriff der Entfremdung. Schillers Verdienst beruhte darin, daß das Prinzip der Freiheit durch die Verwandlung der Arbeit in Spiel und durch die Überwindung des Mangels aus dem Bereich der Transzendenz in den Bereich der Realität übertragen werden sollte. Die Sublimation der Sinnlichkeit soll die Versöhnung der beiden antagonistischen Triebe des Menschen möglich machen, des Prinzips der Realität und des Prinzips der Lust.21 Marcuses Gedanken, die mit der Bewegung der „Neuen Linken" der sechziger Jahre in Einklang standen und deren Hoffnungen und Illusionen teilten, finden ihren vollständigsten Ausdruck in seinem „Versuch über die Befreiung". Die Radikalität dieser Bewegung schlägt sich auch in der Radikalisierung von Marcuses Konzeption des Problems des „Untergangs" der Kunst nieder. — Die moderne Technik hat die Tendenz, sich mit der Kunst gleichzusetzen und wie jene die Wirklichkeit nach ihrem Bilde zu formen: der Gegensatz zwischen Einbildungskraft und Vernunft, zwischen dichterischem und wissenschaftlichem Denken kann negiert werden. Es erscheint ein neues „Prinzip der Realität", das eine neue Sensibilität mit der wissenschaftlichen Intelligenz zu einer neuen ästhetischen Praxis vereinigt. Das Ästhetische als mögliche Form einer freien Gesellschaft tritt in dem Moment der Entwicklung auf, in dem die materiellen und intellektuellen Quellen für eine Überwindung des Mangels und der Armut zur Verfügung stehen und die traditionelle sogenannte höhere Kultur, in der das Ästhetische von der Wirklichkeit isoliert war, zusammenbricht. Die ästhetischen Qualitäten der gesellschaftlichen Wirklichkeit machen aus dieser ein Kunstwerk; die Kunst verändert ihre traditionelle Funktion in der Gesellschaft, sie wird zur Produktivkraft ihres materiellen und kulturellen Umbaus, zu einem Bestandteil der gesellschaftlichen Praxis: „Als solche Kraft wäre sie ein integraler Faktor beim Gestalten der Qualität und der ,Erscheinung' der Dinge, der Realität, der Lebensformen. Dies würde die Aufbebung von Kunst bedeuten: das Ende der Trennung des Ästhetischen vom Wirklichen, aber ebenso das Ende der kommerziellen Vereinigung von Geschäft und Schönheit, Ausbeutung und Freude."22 Hier gelangt Marcuse zu derselben radikalen Schlußfolgerung von der „Aufhebung" der Kunst in der „ästhetischen Wirklichkeit" der neuen 21 22
Ebenda, S. 192. H. MARCUSE, Versuch über die Befreiung, Frankfurt a. M. 1969, S. 54.
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Gesellschaft, wie die Theoretiker der tschechischen Avantgarde Teige und Vaclavek in den zwanziger Jahren. Es ist sicherlich kein Zufall, daß sich Marcuse auf die analoge Bewegung des Surrealismus zwischen den beiden Weltkriegen und ihren Theoretiker Andre Breton beruft. In beiden Fällen handelt es sich im Grunde genommen um die Hegeische „Negation der Negation", um die Aufhebung der Kunst durch ihre Verwirklichung auf einer höheren Stufe der Poesie und der Gesellschaft. Doch so verführerisch die Hegeischen Triaden auch erscheinen mögen, sie bleiben immer eine bloße Konstruktion des menschlichen Geistes. Die „Realisierung" der Kunst, ihre Verwandlung in die Wirklichkeit der gelebten Welt, wird in jeder Gesellschaft gerade durch die wesenhaften Eigenschaften des Ästhetischen selbst verhindert. Die ästhetische Haltung unterscheidet sich von der praktischen und der theoretischen Haltung durch ihre „Distanz" zur Realität, und das Universum, das sie als Welt von Kunstwerken produziert, transzendiert die gegebene Faktizität, formt sie um zu einer Welt der künstlerischen Fiktion. — Andernfalls wäre das berühmte Schießen auf den Bösewicht, der auf der Bühne den Theaterhelden bedroht, durchaus am Platze. Marcuse ist sich dieser Eigenschaft der Kunst, die er ihrer Form zuschreibt, durchaus bewußt. Das Kunstwerk ist eben gerade insoweit unwirklich, als es Kunst ist. Die Kunst widersteht gerade durch ihre Form der Verwandlung der Wahrheit ihrer Phantasie in empirische Realität. Marcuse empfindet jedoch die Tatsache, daß die durch die Kunst umgeformten Dinge unwirklich bleiben, als tragischen Widerspruch, der im Wesen der künstlerischen Haltung zur Welt angelegt ist: war der Parthenon das Leiden eines einzigen Sklaven wert? Und ist es nach Auschwitz noch möglich, Verse zu schreiben? Er besteht deshalb auf der radikalen These von der Aufhebung der Kunst und deutet die historische Möglichkeit von Bedingungen an, unter denen das Ästhetische zur gesellschaftlichen Produktivkraft werden und zum „Ende" der Kunst durch ihre „Verwirklichung" führen kann. Das Ästhetische erlangt in der Perspektive des „Versuchs über die Befreiung" die Funktion, die gelebte Welt — die menschliche Gesellschaft — in einen Artefakt zu verwandeln. Die Schönheit soll die wesentliche Qualität der menschlichen Freiheit werden. Die emanzipatorische Bewegung der sechziger Jahre ist gescheitert, die Epoche des neuen Konservativismus der siebziger Jahre folgte. Zu deren Beginn veröffentlichte Marcuse das Büchlein „Konterrevolution und Revolte", in dessen Kapitel „Kunst und Revolution" er sein Verständnis der Beziehung zwischen diesen beiden gesellschaftlichen Erscheinungen, die traditionell einander so nahe stehen und doch immer wieder von neuem in Widerspruch zueinander geraten, einer grundlegenden Umwertung unterzieht.
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Marcuse stellt von neuem die Frage, wie es möglich ist, daß die großen Kunstwerke des vergangenen Jahrhunderts überwiegend eine antibürgerliche Haltung repräsentieren, daß die künstlerische Kultur sich im Gegensatz zur materiellen Wirklichkeit ihrer Gesellschaft entwickelt. Zugleich erhält jedoch auch der politisch exponierteste Widerstand in der Kunst einen „mittelbaren" Charakter, er wird auf die Ebene der ästhetischen Form transponiert und damit in eine fiktive Situation sublimiert. Das Kunstwerk eröffnet eine andere, eine weitere Totalität: das tragische Universum der menschlichen Existenz und die ständig erneuerte Sehnsucht nach ihrer freien Erfüllung. Der Klasseninhalt wird dank der ästhetischen Transformation im Kunstwerk transparent: er symbolisiert die allgemeine Situation des Menschseins. Marcuse erinnert an die Frage, wie es möglich war, daß Courbet und Rimbaud, beides überzeugte Teilnehmer der Pariser Kommune, nach deren Niederlage die gleichen Stilleben malten bzw. die gleichen Verse schrieben wie zuvor. Wie kommt es, daß die revolutionäre Erfahrung nicht zum Thema ihres Werkes wurde? Er antwortet in dem Sinne, daß die politischen Ziele im künstlerischen Schaffen durch die ästhetische Form transformiert werden. Die Welt des Kunstwerks ist zu unterscheiden von der existierenden Wirklichkeit, auch wenn sie aus ihr hervorgeht; sie ist eine Transformation des Existierenden, die das sprechen läßt, was von der etablierten Gesellschaft zum Schweigen verurteilt ist. Die Kunst ist primär ein Erinnern: sie wendet sich an die vorbegrifflichen Erfahrungen des Menschen, an das nichtdiskursive Denken, an die antiinstrumentelle Vernunft. Wo sie diesen Punkt erreicht, überschreitet sie gesellschaftliche Tabus: sie verleiht den Dingen, die die Gesellschaft zum Schweigen verurteilt, eine Stimme: den Träumen, den Erinnerungen an die Kindheit, den Leidenschaften, der Sinnlichkeit. Diese Qualität der „ästhetischen Transzendenz" wurde von den Kulturrevolutionen der sechziger Jahre übersehen, als diese versuchten, die Trennung der Kunst von der Wirklichkeit zu überwinden. In dem Maße, in dem die Kunst ein Bestandteil des wirklichen Lebens werden soll, verliert sie die Fähigkeit zur Distanz und Transzendenz, kraft deren sie die existierende Ordnung überschreiten konnte, und sinkt hinab zu einem eindimensionalen Bestandteil des Existierenden. „Aber der Traum muß zu einer Kraft der Veränderung des menschlichen Zustandes werden und darf nicht nur davon träumen: er muß zu einer politischen Kraft werden."23 — Marcuse beruft sich auf das surrealistische Programm, und seine Formulierung erinnert an die beinahe identischen Worte Teiges am Schluß von „Jarmark um6ni" (Jahrmarkt der Kunst). 23
H. MARCUSE, Konterrevolution und Revolte, Frankfurt a. M. 1973, S. 121.
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Kvfetoslav Chvatik
Der Kunst ist ein immanentes subversives Potential zu eigen; wie soll sie aber ein Element der sich verändernden Praxis werden, ohne dabei aufzuhören, Kunst zu sein? Ihr subversives Potential kann die Kunst nur als Kunst zum Ausdruck bringen, in der ihr eigenen Sprache; die Sprache der Alltäglichkeit entwaffnet sie. Das Spannungsverhältnis zwischen Affirmation und Negation, das auf der ästhetischen Form beruht, schließt die Gleichsetzung von Kunst und revolutionärer Praxis aus. Die Kunst kann die Revolution nicht einmal abbilden; sie kann sie nur in einem anderen Medium signalisieren. Das wesentliche funktioneile Ziel der Kunst bleibt es, kontinuierlich die überlebten Konventionen und Formen des Lebens und der Kunst von ihrem Sockel zu stürzen. So kommt Marcuse zu einer entgegengesetzten Schlußfolgerung wie in seiner vorhergehenden Studie: „Die Abschaffung der ästhetischen Form, die Vorstellung, Kunst könne zu einem Bestandteil der revolutionären ... Praxis werden, bis sie, unter einem voll entwickelten Sozialismus, adäquat in die Wirklichkeit umgesetzt... werde — diese Vorstellung ist falsch und repressiv: das würde das Ende der Kunst bedeuten."24 Das Spannungsverhältnis zwischen Kunst und Wirklichkeit kann niemals beseitigt werden, ebensowenig wie das Spannungsverhältnis zwischen Subjekt und Objekt. Das Ende der Kunst würde den Beginn einer vollkommenen Barbarei bedeuten. Deshalb ist eine Verbindung von Kunst und Revolution nur innerhalb der ästhetischen Dimension möglich, innerhalb der Kunst selbst, auch wenn diese Verbindung scheinbar keinen politischen Inhalt haben sollte. Marcuses letzter Beitrag zu diesem Thema, das Büchlein „Die Permanenz der Kunst", faßt seine Anschauungen, die bereits in dem Band „Konterrevolution und Revolte" formuliert wurden, noch einmal zusammen. Die Kunst müsse auch in der nichtrepressiven Gesellschaft ein Reich des Fiktiven bleiben, dessen gesellschaftliche Funktion darin bestehe, das Zukünftige %u antizipieren. „Die von der Kunst geschaffene Welt kann nicht in die Wirklichkeit übersetzt werden. Sie bleibt eine ,fiktive' Welt; als solche durchschaut und antizipiert sie die Wirklichkeit. So korrigiert sie ihre Idealität: das in ihr Dargestellte soll und darf nicht ideal bleiben ..., aber seine Realisierung liegt außerhalb der Kunst."25 Marcuse erinnert bei seinen Überlegungen an die Diskussion über die proletarische Kultur, die an der Wende von den zwanziger zu den dreißiger Jahren unter Beteiligung von Lukäcs, Brecht, Benjamin und Bloch geführt wurde. Die Diskussionen der tschechischen avantgardistischen Theoretiker aus derselben Zeit kann er nicht kennen, denn diese blieben nur dem 24 25
Ebenda, S. 126. H. MARCUSE, Die Permanen^ der Kunst, München 1977, S. 64.
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engen Kreis der Slavisten zugänglich. Übrigens blieb Vaclaveks Buch „Poesie v rozpacich" (Die Poesie in Verlegenheit), einer der beachtenswertesten Versuche einer soziologischen Interpretation der Ästhetik der Avantgarde, auch in der Nachkriegstschechoslowakei ein Tabu. Noch bedrückender ist das Schicksal von Karel Teiges Werk: von den drei Bänden seiner gesammelten Werke wurde in den sechziger Jahren nur der erste Band herausgegeben; der zweite Band wurde nach der Veränderung der Kulturpolitik im Jahre 1969 konfisziert und vernichtet, und der dritte Band verblieb im Manuskript. Trotz einer Reihe von Unterschieden in den Anschauungen stehen die folgenden Worte Teiges den Schlußfolgerungen Marcuses offensichtlich nicht allzu fern: „Die Poesie negiert im Namen des Prinzips der Lust die Welt der Realität und schafft eine imaginäre Welt und wird das auf ewig so tun ... Die Poesie ist das leuchtendste Resultat des ewigen Konflikts der beiden Prinzipien des geistigen Geschehens; sie ist zugleich deren dialektische Versöhnung und die siegreiche Revanche des Prinzips der Lust, weil sie, indem sie sich von der durch sie negierten wirklichen Welt abkehrt, die Phantasie in einer neuen, von ihr selbst geschaffenen Welt verwirklicht. Der Zustand der Unzufriedenheit des wirklichen Menschen mit der wirklichen Welt, der die Quelle des dichterischen Gedankens und des Gedankens der Revolution darstellt, ... ist das ewige Los des menschlichen Geistes "26
Teige und Marcuse überwinden den naiven Utopismus und den radikalen Utilitarismus, mit dem die meisten revolutionären Bewegungen an die Kunst herangehen. Sie sehen in der Poesie und in der ästhetischen Dimension die wesenhafte Affinität zur ständigen Veränderung der Welt; gleichzeitig jedoch reflektieren sie den inneren Antagonismus dieser beiden Zugangsweisen zur Welt. Die gesellschaftlichen Veränderungen verwirklichen sich in der konkreten Realität; die Poesie wirkt im Reich der Vorstellungen, des Traums und der Sehnsucht. Die Kunst kann sich der Gesellschaft nur in ihrem eigenen Bereich annähern, im Gesichtskreis der ästhetischen Funktion, andernfalls verliert sie für den Menschen ihren ureigensten Wert. Wenn die Gesellschaft nicht in Stagnation und Barbarei verfallen soll, muß ihre Realität ständig durch die Sehnsucht nach einer vollständigeren Freiheit des Menschen korrigiert werden. Vom Standpunkt der Poesie aus ist das, was erreicht worden ist, immer zu wenig; der Traum muß der Wirklichkeit vorgreifen, und die Kunst ist nur dann revolutionär, wenn sie ihre anti^ipative Funktion erfüllt. — Deshalb kann das Reich des Schönen niemals völlig realisiert werden, und die Kunst kann ihre Existenzberechtigung nie verlieren. 26
K. TEIGE, K ieskemupfekladu Prokletych basnikä (Zur tschechischen Übersetzung der Poetes maudits); Nachwort zu dem Buch: PAUL VERLAINE, Prokiett basnici, Praha 1946, S. 123.
DAVID FRISBY (Glasgow)
Walter Benjamins Urgeschichte der Moderne: eine Rekonstruktion* Le monde domine par ses fantasmagories, c'est ... la modernite. Walter Benjamin Das Moderne steht in Opposition zum Antiken, das Neue in Opposition zum Immergleichen. (Die Modernde): Die Masse; die Antike: die Stadt Paris). Walter Benjamin Balzac hat als erster von den Ruinen der Bourgeoisie gesprochen. Aber erst der Surrealismus hat den Blick auf sie freigegeben. Die Entwicklung der Produktivkräfte legte die Wunschsymbole des vorigen Jahrhunderts in Trümmer noch ehe die sie darstellenden Monumente zerfallen waren. Walter Benjamin Benjamin [will] die Welt aus ihrem Traum wecken. Siegfried Kracauer
I.
Die Tatsache, daß Benjamins Spät wer k von der expliziten Intention geleitet ist, eine Theorie der Moderne zu entwickeln, könnte die Annahme nahelegen, daß seine Darstellung der Moderne ohne weiteres zugänglich sei. * Der vorliegende Essay ist Teil einer umfassenderen Studie über soziale Theorien der Moderne. Eine erweiterte Fassung erscheint in Fragments of Modernity: Georg Simmel, Siegfried Kracauer, Walter Benjamin, Oxford 1986. Die Forschungsarbeiten zu diesem Band wurden während eines Studienaufenthaltes des Autors als Alexander-von-HumboldtStipendiat an den Universitäten Heidelberg (1980-81) und Konstanz (1982, 1983, 1984) durchgeführt. In diesem Zusammenhang möchte ich Wolfgang Schluchter bzw. Horst Baier für ihre Gastfreundschaft danken.
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Zwar begibt sich Benjamin — im Gegensatz zu einigen seiner Vorgänger auf diesem Gebiet wie etwa Georg Simmel oder seinen Freunden und Zeitgenossen wie z. B. Siegfried Kracauer und Ernst Bloch — ganz bewußt auf die Suche nach einer Theorie der Moderne. Dennoch liegt nicht nur ein zentraler Bestandteil dieser Theorie lediglich als „Torso" vor, der zusammenzufügen ist — wie Witte im Hinblick auf Benjamins BaudelaireStudie vorschlägt1 —, sondern das gesamte Vorhaben der Entwicklung einer Theorie der Moderne, wie es in dem umfassender konzipierten Passagen-Werk enthalten ist, welches von Benjamins frühesten Notizen aus dem Jahre 1927 bis hin zu den kurz vor seinem Selbstmord im Jahre 19402 verfaßten geschichtsphilosophischen Thesen reicht, bedarf einer Rekonstruktion. Aber selbst wenn man dies alles zugesteht, ist es nicht möglich, auf nur eine Konzeption des gesamten Projekts zurückzugreifen. Benjamins Pläne zur Passagenarbeit entwickelten sich über ein Jahrzehnt lang im Zusammenhang mit den von ihm verfolgten philosophischen, literarischen, politischen Fragestellungen und persönlichen Interessen, und sie änderten sich in entscheidenden Momenten unter deren Einfluß in solch einem Maße, daß die Pläne selbst einer Rekonstruktion bedürften. Und auch diese Aufgabe wäre nur unter Berücksichtigung der Verbindung dieser Pläne zu den anderen Projekten Benjamins zu bewerkstelligen. In der Tat erklärte Adorno: „Das Ganze jedoch läßt sich kaum rekonstruieren".3 Andererseits beruht diese Überzeugung Adornos auf einer Interpretation des Benjaminschen Werks, die in der Passagenarbeit wenig mehr als eine Sammlung in surrealistischer Manier aneinandergereihter Fragmente sieht. Nach Adorno hatte Benjamin die Intention, „auf alle offenbare Auslegung zu verzichten und die Bedeutungen einzig durch schockhafte Montage des Materials hervortreten zu lassen. Philosophie sollte nicht bloß den Surrealismus einholen, sondern selber surrealistisch werden ... Zur Krönung seines Antisubjektivismus sollte das Hauptwerk nur aus Zitaten bestehen ... Die fragmentarische Philosophie blieb Fragment, Opfer vielleicht einer Methode, von der nicht entschieden ist, ob sie im Medium des Gedankens überhaupt sich einlösen läßt."4
Sicherlich weist Adorno zu Recht auf den wesentlichen Einfluß hin, den der Surrealismus — und hier insbesondere Aragons Le Paysan de Paris 1
2
3
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Siehe B. WITTE, Benjamins Baudelaire. Rekonstruktion und Kritik eines Torsos. In: Text und Kritik, 31/32, S. 81-90. Dank der erschöpfenden Herausgeberarbeit von ROLF TIEDEMANN liegen diese nun zusammengefaßt vor in W. BENJAMIN, Gesammelte Schriften, V, Das Passagen-Werk, Frankfurt 1982 (im folgenden als Passagen-Werk zitiert). T. W. ADORNO, Charakteristik Walter Benjamins. In: T. W. ADORNO, Über Walter Benjamin, Frankfurt 1970, S. 11-29, insbes. S. 26. Ibid.
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und Bretons Nadja — auf den ersten Entwurf der Pariser Passagen in den zwanziger Jahren ausübte. So enthalten die frühesten Notizen, die von Mitte 1927 bis Anfang 1930 verfaßt wurden, Hinweise auf die von Adorno angesprochene Bindung an die surrealistische Methode. In der folgenden Notiz sind sie am deutlichsten formuliert: „Methode dieser Arbeit: literarische Montage. Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen. Ich werde keine geistvollen Formulierungen mir aneignen, nichts Wertvolles entwenden. Aber die Lumpen, den Abfall: die will ich nicht beschreiben sondern vorzeigen."5
Jedoch enthalten diese ersten Aufzeichnungen auch bereits eine klare Abgrenzung zur Position Aragons: „Während Aragon im Traumbereiche beharrt, soll hier die Konstellation des Erwachens gefunden werden. Während bei Aragon ein impressionistisches Element bleibt — die ,Mythologie' — ... geht es hier um Auflösung der .Mythologie' in den Geschichtsraum. Das freilich kann nur geschehen durch die Erweckung eines noch nicht bewußten Wissens vom Gewesenen."6
Diese Auflösung der Mythologie der Moderne in einen historischen Kontext konnte ein Sammler kritischer Momente und von Abfall allein nicht leisten — wie sehr auch die Figur des Sammlers auf eine Dimension der Methode Benjamins hinweist. Nur derjenige konnte die Abfassung einer Urgeschichte der Moderne übernehmen, der eine klare Kenntnis von der Topographie der auszugrabenden Wirklichkeitsschichten hatte. Die spezifische Form der von Benjamin betriebenen historischen Archäologie setzte die Kenntnis der entsprechenden Topographie der Moderne voraus, bevor mit dem „Ausgraben und Erinnern"7 der verlorengegangenen Vergangenheit begonnen werden konnte. Dort, wo die Welt und ihre „Wunschsymbole" noch nicht zusammengestürzt waren, erforderte sie die Verwandlung der Welt in einen Trümmerhaufen, eine entscheidende Aufgabe des „destruktiven Charakters" („Der destruktive Charakter" - (193l))8. Dieser jedoch legt „(d)as Bestehende . . . in Trümmer, nicht um der Trümmer, sondern um des Weges willen, der sich durch sie hindurchzieht".9 Benjamin suchte in der Tat einen Weg durch die Trümmer der sozialen Wirklichkeit zu Beginn der Moderne. Wie der Sammler bemühte er sich um die Wiedererlangung einer verlorengegangenen Wirklichkeit. Jedoch waren die Fragmente, die er in seinen dialektischen Bildern einfing und mit „Ultraviolettstrahlen" durchbohrte, in einer Weise darzustellen, die sie 5 6 7
8 9
W. BENJAMIN, Das Passagen-Werk, S. 1030. Ibid., S. 1014. W. BENJAMIN, Ausgraben und Erinnern. In: Gesammelte Schriften, IV.l, Frankfurt 1980, S. 400-401. W. BENJAMIN, Der destruktive Charakter. In: Gesammelte Schriften, IV.l, S. 396 — 398. Ibid., S. 398.
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nicht mehr als solche erscheinen ließ. In keinem Stadium der Passagenarbeit sollten die Fragmente lediglich aus einer Montage von Zitaten bestehen. Das Montageprinzip war niemals als Selbstzweck konzipiert. Zu Anfang der dreißiger Jahre, nachdem er bereits zu einer Kritik des Surrealismus — den er als „die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz" ansah10 — gelangt war, erkannte Benjamin, daß das Montageprinzip der marxistischen Methode zu einer „gesteigerte(n) Anschaulichkeit" bei ihrer Darstellung der Geschichte verhelfen konnte. Ziel war, „die großen Konstruktionen aus kleinsten, scharf und schneidend konfektionierten Baugliedern zu errichten. Ja in der Analyse des kleinen Einzelmoments den Kristall des Totalgeschehens zu entdecken".11 Die Haltung, dem Fragment eine solche Bedeutung zuzuschreiben, teilte Benjamin — wenn auch in unterschiedlicher Weise — mit Simmel, Kracauer und Bloch. Als er später seine Passagenarbeit um das Hauptmotiv des Warenfetischismus zentrierte, analysierte er diesen nicht auf abstrakte Weise oder erhob ihn gar zum Leitprinzip der Geschichtsphilosophie, wie es in Lukäcs' und auch Adornos Kapitalismuskritik tendenziell geschieht. Das Fragment bleibt das Tor zur Totalität, und nicht umgekehrt, daß letztere Licht auf ersteres wirft. Da Benjamins Ziel in einer Analyse der Moderne bestand und er Baudelaires Charakterisierung der Moderne als „le transitoire, le fugitif, le contingent" weitgehend akzeptierte, konnte des weiteren auch die historische Konstruktion der Moderne im Paris der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts nicht selbst als Totalität erfaßt werden, sondern nur in dialektischen Bildern. Dies trifft auf das Paris der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts zu und auch auf die Bewegung, die ein halbes Jahrhundert später die Totalität im Bereich der Ästhetik zu erlangen suchte: im „Gesamtkunstwerk" des Jugendstils. Auch dieser bildete ein Jahrzehnt lang ein wesentliches, wenn auch unvollständiges Element von Benjamins Analyse der Moderne. So kündigte Benjamin im Jahre 1938 im Zusammenhang mit dem Entwurf seiner Baudelaire-Studie an: „Die philosophische Rekognoszierung der Moderne ist dem dritten Teil zugewiesen, wo sie unter dem Begriff des Jugendstils angebahnt, in der Dialektik des Neuen und Immer10 11
W. BENJAMIN, Der Surrealismus. In: Gesammelte Schriften, II.l, op. dt., S. 295 — 310. W. BENJAMIN, Das Passagen-Werk, op. cit., S. 575. BENJAMIN betrachtet auch das Kunstwerk als Monade, das die Totalität einschließt, wenn er beispielsweise schreibt: „Liebe zur Sache hält sich an die radikale Einzigkeit des Kunstwerks und geht aus dem schöpferischen Indifferenzpunkt hervor, wo Einsicht in das Wesen des ,Schönen' oder der .Kunst' mit der ins durchaus einmalige und einzige Werk sich verschränkt und durchdringt. Sie tritt in dessen Inneres als in das einer Monade, die ... keine Fenster hat, sondern in sich die Miniatur des Ganzen trägt". Siehe W. BENJAMIN, Gesammelte Schriften, III, op. cit., S. 51.
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gleichen abgeschlossen wird."12 Auf diese Weise wollte Benjamin seine Untersuchung der Moderne bis an jenen Punkt führen, an dem die Geschichte der Moderne mit seiner eigenen Kindheit zusammentraf, die um die Jahrhundertwende angesiedelt ist und die er in den Arbeiten „Berliner Kindheit um 1900" und „Berliner Chronik" festgehalten hat. Um das Jahr 1938 jedoch zog Benjamin es vor, einen Teil seines Passagen-Werks im Kontext einer Studie zu Baudelaire zusammenzutragen. Baudelaires Skizzierung der Moderne stellte eine entscheidende Präfiguration der Moderne dar, wie sie um die Jahrhundertwende anzutreffen war: „Die Moderne, die im Werk Baudelaires zum Vorschein kommt[,] ist eine historisch bestimmbare. Baudelaire ist der Vorläufer des Jugendstils, die Blumen des Bösen sind zugleich die ersten Ornamente des Jugendstils."13 Baudelaires Analyse der Moderne sollte den letzten Abschnitt des dritten Teils des Baudelaire-Es say s bilden, der sich im April 1938 bereits in drei Abschnitte gliederte — „Idee und Bild; Antike und Moderne; Das Neue und Immergleiche" — und von Benjamin bereits als ein „Miniaturmodell" der „Passagen" angesehen wurde.14 Im Juli des Jahres 1938 erklärte Benjamin, daß der Essay über Baudelaire, sobald er fertiggestellt sei, „ein sehr genaues Modell der Passagenarbeit" abgeben werde.15 Dies war möglich aufgrund eines veränderten Schemas, in dem „einige der grundlegenden Kategorien der Passagen hier zum ersten Male entwickelt werden ... die des Neuen und Immerwiedergleichen an erster Stelle. Weiter treten in der Arbeit ... Motive erstmals in Beziehung zueinander ... die Allegorie, der Jugendstil und die Aura".16 Im September des gleichen Jahres erkannte Benjamin jedoch, daß der Baudelaire-Essay, der ursprünglich als das Schlußkapitel der Passagen konzipiert war, jetzt nur Teil eines Buches über Baudelaire sein konnte: „Dieses Buch soll entscheidende philosophische Elemente des ,Passagen'-Projekts in, wie ich hoffe endgültiger Fixierung, niederlegen. Wenn es neben dem ursprünglichen Entwurf ein Sujet gab, das den grundlegenden Konzeptionen der ,Passagen' optimale Chancen bot, so war es der Baudelaire".17 Der Titel dieser ersten Fassung des BaudelaireEssays, „Das Paris des Second Empire bei Baudelaire" — der von Adorno insgesamt heftig kritisiert wurde, wobei er wie gewöhnlich die ungenügende Berücksichtigung der Totalität hervorhob18 —, deutet daraufhin, daß Benjamin sein Interesse an den früheren Konzeptionen der Passagenar12 13 14 15 16 17 18
W. BENJAMIN, Gesammelte Schriften, 1.3, op. cit., S. 1103. W. BENJAMIN, Gesammelte Schriften, 1.3, op. cit., S. 1151 f. W. BENJAMIN, Briefe, 2, Frankfurt 1978, S. 750. Ibid., S. 765. Ibid., S. 769 f. Ibid., S. 774. Siehe W. BENJAMIN, Briefe, 2, op. cit., S. 782ff.
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beit beibehielt, in dessen Mittelpunkt die Arbeit über „Paris, die Hauptstadt des neunzehnten Jahrhunderts" stand. Die zweite, überarbeitete Fassung, die auch die einzige ist, die bereits zu Benjamins Lebzeiten veröffentlicht wurde, läßt bereits im Titel auf eine entscheidende Schwerpunktverlagerung hin zu Baudelaire schließen: „Über einige Motive bei Baudelaire".19 Dieser publizierte Essay kann nicht Zeugnis ablegen für die vierzehn Jahre, in denen Benjamin am Passagen-Werk arbeitete. Obwohl der längste Abschnitt von Benjamins „Aufzeichnungen und Materialien" zum Passagen-Werk in der Tat der Abschnitt über Baudelaire ist (mit 189 Seiten), muß er in den Kontext der Notizen als Ganze gestellt werden, die — abgesehen von anderen Entwürfen — insgesamt 911 Seiten umfassen. Wenn Benjamins geplantes Baudelaire-Buch ein Torso bleibt, so trifft dies noch sehr viel mehr auf den früher und auch umfassender angelegten Entwurf von 1935 zu dem Expose „Paris, die Hauptstadt des neunzehnten Jahrhunderts" zu.20 Im Mai 1935 konzipierte Benjamin die Passagenarbeit zum ersten Mal als Buch. Er sah bereits voraus, daß die Frankfurter Schule wahrscheinlich nicht an diesem größeren Unterfangen interessiert sein würde, wie es aus einem im Mai 1935 verfaßten Brief an Scholem hervorgeht: „Die Aussichten etwa das Institut in Genf an diesem Buche zu interessieren, sind minimal. Es gestattet Konzessionen nach keiner Seite und wenn ich überhaupt etwas von ihm weiß, so dies, daß keine Schule sich beeilen wird, es für sich zu beanspruchen."21 Das Expose aus dem Jahre 1935 bedeutete den Bruch mit dem Surrealismus Aragons, mit den mit Hessel verbrachten Berliner Jahren und mit der Konzeption der „Pariser Passagen" als „dialektische Feerie", es bedeutete ein Ende der „rhapsodische(n) Naivität" der früheren Konzeptionen und die Konfrontation mit Brecht und dem Marxismus. Nichtsdestotrotz wies die Passagenarbeit, wie sie zu jenem Zeitpunkt konzipiert war, viele Übereinstimmungen mit dem früher entstandenen Trauerspiel-Buch auf, außer daß jetzt „die ganze, ursprünglich metaphysisch bewegte Gedankenmasse einem Aggregatszustand entgegengeführt" wird, „in dem die Welt der dialektischen Bilder gegen alle Einreden gesichert ist, welche die Metaphysik provoziert".22 Andererseits konnte diese ausschließliche Stützung auf die dialektischen Bilder ihrerseits eine methodologische Attacke vom Standpunkt des orthodoxen Marxismus herausfordern. Dagegen ver19
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21 22
Zuerst veröffentlicht in Zeitschrift für Sozialforschung, 8, 1939, S. 50-89. Jetzt in Gesammelte Schriften, 1.2, op. cit., S. 605 — 653. Siehe W. BENJAMIN, Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts, und das (1939) modifizierte Expose, Paris, Capitale du XIXeme Siecle, in: Das Passagen-Werk, op. cit., S. 45-77. W. BENJAMIN, Briefe, 2, op. cit., S. 654. Ibid., S. 664.
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sicherte Benjamin: „Ich glaube, im Gegenteil, in der marxistischen Diskussion mit ihr a, la longm einen soliden Stand zu haben" (Hervorhebung vom Verfasser). Die historische Konzeption der Studie siedelt sich im Kontext einer „Urgeschichte des 19ten Jahrhunderts" an.23 Das Expose aus dem Jahre 1935 riß eine begrenzte Anzahl entscheidender Themen einschließlich der mit ihnen verbundenen Personen an: die Passagen (Fourier), die Panoramen (Daguerre), die Weltausstellungen (Grandville), das Interieur (Louis-Philippe), die Pariser Straßen (Baudelaire) und die Barrikaden (Haussmann). Es ist interessant festzustellen, daß dieses Expose in der Fassung aus dem Jahre 1939 — dem letzten vorhandenen Entwurf — durch die Aufnahme einer Einführung, die Erweiterung einiger Abschnitte (so enthielt der Abschnitt über das Interieur jetzt beispielsweise ein Kapitel über den Jugendstil) und eine Schlußbetrachtung modifiziert wurde, die Benjamins Entdeckung von Blanquis Eternite par les Astres widerspiegelt. Bedeutsamer ist vielleicht noch, daß Benjamin es sogar noch im Jahre 1939 lohnend fand, das ursprüngliche Expose aus dem Jahre 1935 zu erweitern. Der ursprüngliche Plan zu „Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts" und zur „Urgeschichte der Moderne" war immer noch lebendig. Aus diesem Grunde erscheint es lohnenswert, den Versuch zu einer Rekonstruktion von Benjamins Urgeschichte der Moderne in dem umfassenderen Kontext der Notizen, die das PassagenWerk als Ganzes ausmachen, zu unternehmen. II.
In seinen frühesten Aufzeichnungen zum Passagen-Werk führt Benjamin seine „Definition des ,Modernen' als das Neue im Zusammenhange des immer schon dagewesenen"24 ein. Die Ankündigung des Neuen stellt die Einleitung zur Analyse der nouveaute in ihrer ausgeprägtesten Form, der Mode, dar. Später stellt Benjamin die Mode, das absolut Neue, neben das schon immer Bestehende. In der nachfolgenden Baudelaire-Studie wird die Mode — in der Art einer modernen Allegorie — neben den Tod, neben das Dahinwelken gestellt. Bereits in den frühen Aufzeichnungen tritt das dialektische Bild von Neuem und Ursprünglichem oder Mythischem schon in den Vordergrund sowie auch die Nebeneinanderstellung von Moderne und Antike — einem der zentralen Schlüssel zu Benjamins Analyse der Moderne. Die Welt des Mythos durchdringt die moderne Welt des Neuen in solch einer Weise, daß man mit den Surrealisten auch von den modernen Mythen des städtischen Lebens sprechen kann. Akzeptiert man dies jedoch als reale Welt, 23 24
Ibid. W. BENJAMIN, Das Passagen-Werk, op. cit., S. 1010.
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so heißt das auch, die mythische Welt der Symbole als Traumwelt zu akzeptieren. Der Mythos durchdringt die Moderne und versenkt die Welt in Schlaf. Um die Welt aus ihrem Traum aufzuwecken, sie von ihrem falschen Bewußtsein zu befreien, muß sich Benjamin auf die Suche nach dem Ursprung jenes Traums begeben. Schon in der frühesten Analyse der Passage — wenn sie auch die spätere Analysetiefe des Phänomens des Warenfetischismus noch vermissen läßt — verlangt die Phantasmagoric der Traumwelt der Waren (wie sie sich bereits in einigen „Denkbilder(n)" der Einbahnstraße ankündigt) die Enthüllung des Geheimnisses der Ware. Die Warenzirkulation ist das Neue als das Immergleiche par excellence. Die Traumwelt des neunzehnten Jahrhunderts präsentiert sich als erstarrte Welt, als Welt der Verdinglichungen, die den Bezug zu ihrem Ursprung verloren haben. Mit anderen Worten: Die Dialektik des Neuen und Immergleichen als Schlüssel zur Moderne kehrt in der Nebeneinanderstellung des Alten und Neuen, von Mode und Tod, Moderne und Antike, Moderne und Mythos, Mode und Ware wieder. In der Analyse der Großstadt Paris erscheint sie als Dialektik der Massen und der Stadt. In der späteren Analyse der Erfahrung der Moderne erscheint sie in der Nebeneinanderstellung von Erlebnis und Erfahrung, als Träumen und Erwachen. Auf der Ebene der Warenwelt als Ganzer erscheint sie als Dialektik der erstarrten Warenwelt (z. B. die Weltausstellungen) und der unter ihr verborgenen sozialen Bewegungen. Auf der Ebene der Philosophie verschleiert die „Dialektik im Stillstand"25 den Fortgang der Geschichte. Dies bedeutet, daß Benjamins Analyse der Moderne nicht mit einem fertig vorfindbaren Gegenstand einsetzt, der unmittelbar untersucht werden kann. Dies trifft zu, wenn man eine wichtige Primärquelle der Reflexionen Benjamins heranzieht: Aragons „berauschende Träumereien von einem geheimen Leben der Stadt" (Breton) und seine Konzeption der Pariser Passagen als „den geheimen Aufbewahrungsstätten mehrerer moderner Mythen", ihrer „voluptuösen Labyrinthe" und der „von unerkannten Sphinxen bevölkerten" Städte. Benjamin muß sich auf die Suche nach deren Geheimnis begeben. In seinen späteren Aufzeichnungen erfordert die Konzeption des „träumenden Kollektivs" des neunzehnten Jahrhunderts, welches in die Phantasiewelt des Warenfetischismus und des falschen Bewußtseins eingeschlossen ist, das Kollektiv aus seinem Traum zu erwekken. Dies ist nur dann möglich, wenn die Welt der Erscheinungen, die nur Spuren ihres Ursprungs hinterläßt, zerstört und neu strukturiert wird. 25
So auch der Titel der überarbeiteten Einleitung zum Passagen-Werk von ROLF TIEDEMANN. Siehe R. TIEDEMANN, Dialektik im Stillstand, Frankfurt 1983, insbes. S. 9—41.
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Auf der Ebene der Erscheinungen sind wir nur mit einer Vielzahl weitgehend unerklärlicher Bilderrätsel konfrontiert: „Die Erzeugnisse des falschen Bewußtseins gleichen Vexierbildern, in denen die Hauptsache aus Wolken, Laub und Schatten nur eben hervorlugt".26 Das Bild des Bilderrätsels kommt einem anderen Schlüsselbild in Benjamins Analyse der Moderne schon sehr nahe, jenem des Labyrinths.27 Zunächst lebte er aus freien Stücken im Zentrum des Labyrinths, über das er schrieb — das Labyrinth der Stadt Paris. Später war er gezwungen, dort zu leben, und er rekonstruierte, entzifferte und durchquerte das Traumlabyrinth eines vergangenen Jahrhunderts. Kein Bild ist stärker mit Benjamins Analyse der Stadt Paris verknüpft als das des Labyrinths. In ihrem Mittelpunkt steht die Passage, die ursprüngliche Schwelle zum Eintritt in die Traumwelt des neunzehnten Jahrhunderts. Ihr Eingang ist die Schwelle zum Erwachen aus dem Traum. Dieses Merkmal teilt sie mit anderen Eingängen, wie etwa den Eingängen zur Metro oder zu den Bahnhofshallen. Aber auch wenn die Passage die entscheidende architektonische Spur verlorener Phantasien ist, so ist sie doch wiederum in dem umfassenderen Labyrinth der Stadt selbst lokalisiert, in dem der Flaneur ebenfalls sich seinem Verlangen nach Flanieren hingeben konnte. Oder aber er konnte sich in dem unablässig in Bewegung befindlichen Labyrinth auf den Straßen verlieren: in der Menge. Es gibt ein drittes räumliches Labyrinth — wenn man die Passage und die Großstadtstraße als die beiden ersten ansieht —, das Benjamin unablässig der Moderne an die Seite stellt: das Labyrinth der Unterwelt, der mythischen, antiken Welt unterhalb der Stadt. Man gelangte zu ihm durch die Eingänge zur Metro, zu den Katakomben und durch das alte Flußbett der Seine. Diese drei labyrinthischen Wirklichkeitsschichten, die Passage, die Stadt und die Unterwelt, mußte der Archäologe der Moderne ausgraben, damit es möglich war, die Spuren und Zeichen einer anderen Wirklichkeit wieder in Erinnerung zu rufen. Die Ausgrabung sollte die ursprünglichen Erfahrungsschichten freilegen, einen Pfad durch das vierte Labyrinth schlagen, nämlich durch das Labyrinth des menschlichen Bewußtseins, durch das Labyrinth der Erinnerung. Die Bedeutung des ursprünglichen „Zeichenwaldes" mußte ans Licht gebracht werden. In ähnlicher Weise mußte die Stelle, die Baudelaire im Paris der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ausfüllte, umgedreht werden wie ein fest eingebetteter Stein und dem Tageslicht ausgesetzt werden. Ein ähnliches Anliegen wird äußerst drastisch in der Würdigung von James Ensors Radierung „Die Kathedrale" formuliert, die 26 27
W. BENJAMIN, Gesammelte Schriften, III, op. cit., S. 223. Das Bild des Labyrinths wurde auch als Schlüssel zu BENJAMINS späterer Erfahrung als Autor ausgeweitet. Siehe H. KAULEN, Leben im Labyrinth. Walter Benjamins letzte Lebensjahre. In: Neue Rundschau, 93, l, 1982, S. 34-59.
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eine Unzahl Menschen vor dem zerbröckelnden Gestein einer Kathedrale darstellt. Unter ihrem Stein befindet sich „(d)ie aufgedeckte, die entdeckte Masse . . . Ganz wenige nur wußten schon vordem, wie es unter diesem Stein aussah, zu dem die Masse gebetet hat. Einer von diesen war Ensor. ... er sah die ungezählten Windungen derer, die am Höllentor Schlange stehen. Nicht das Gesicht, das Gekröse der herrschenden Klasse".28 Der Schlüssel zur Moderne wird uns somit nicht ohne weiteres an die Hand gegeben. Das Verständnis der Moderne kann nicht vom Alltagswissen und dem Erlebnis abgeleitet werden. Ihr „Geheimnis", ihre Vergangenheit, bleibt uns verborgen. Diese Wirklichkeitsschichten warten darauf, von einem Archäologen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ausgegraben zu werden. Was sich uns unmittelbar darstellt, kann nicht Endpunkt der Untersuchung sein, denn Benjamin ist überzeugt, „daß ,die Sache an sich' nicht ,in Wahrheit' ist".29 Seine Methode ist dadurch bestimmt, „daß sie bei dem vom Irrtum, von der doxa durchsetzten Gegenstand ihren Ansatz nimmt".30 Folglich gilt: „Geschichtliche Wahrheitserkenntnis ist nur möglich als Aufhebung des Scheins: diese Aufhebung aber soll nicht Verflüchtigung, Aktualisierung des Gegenstandes bedeuten sondern ihrerseits die Konfiguration eines schnellen Bildes annehmen. Das schnelle kleine Bild im Gegensatz zur wissenschaftlichen Gemütlichkeit. Diese Konfiguration eines schnellen Bildes fällt zusammen mit der Agnoszierung des Jetzt' in den Dingen."31
Für Sokrates bildete die agnoia den methodischen Ausgangspunkt der Erkenntnis, die Einleitung für die Abschaffung unserer Illusionen oder unseres falschen Wissens. Für Benjamin geschieht das Abstreifen der Illusion in einem schnellen dialektischen Bild der Wirklichkeit. Die dialektischen Bilder der Vergangenheit sind Konstrukte, die die Urgeschichte der Moderne enthüllen sollen. Benjamins Konstruktion der verborgenen oder verlorengegangenen Wirklichkeit der Moderne beschränkt sich nun nicht auf das Aufrufen vergangener Erfahrung. So schreibt er bereits im Jahre 1928: „Es sind ja nicht nur Erfahrungen aufzurufen sondern einige entscheidende Erkenntnisse vom historischen Bewußtsein in unerwartetem Licht zu bewähren".32 Dies sollte als Hinweis darauf genügen, wie wenig Benjamins ursprüngliche Analyse der Pariser Passagen mit den üblichen historischen Untersuchungen gemein hatte. Zumindest ist ein doppeltes historisches Unterfangen ins Auge gefaßt. Die heutige Moderne kann nur aus ihren Ursprüngen 28 29 30 31 32
W. BENJAMIN, W. BENJAMIN, Ibid. W. BENJAMIN, W. BENJAMIN,
James Ensor. In: Gesammelte Schriften, IV.l, S. 567. Gesammelte Schriften, 1.3, op. dt., S. 1160. Das Passagen-Werk, op. cit., S. 1034. Briefe, l, op. cit., S. 471.
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im neunzehnten Jahrhundert heraus verstanden werden. Ebenso kann das, was die Moderne in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ausmachte, nur vor dem Hintergrund ihrer eigenen vergessenen Vergangenheit verstanden werden. Die Passagen waren, um es etwas poetisch auszudrücken, die Tore, die Schwellen zur Antike und Vorgeschichte. Wenn die Antike jedoch neben der Moderne des Paris der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts existierte, so existierte jene Moderne für Benjamin neben seiner eigenen Gegenwart weiter, wie sehr auch immer sie in Ruinen liegen möge oder unbemerkt bliebe. Wie unbefriedigend auch immer diese Konzeption einer doppelten historischen Aufgabe sein mag — da „Geschichte" und „Ursprung" noch nicht näher definiert wurden —, so deutet sie doch zumindest darauf hin, daß es keine einfache Unterscheidung zwischen der Aktualität der Aktualität der Moderne und ihrer Vergangenheit gibt. Die Dialektik der Moderne als des Alten und Neuen und die Zentralität der Erscheinung der Moderne als des Immer-Neuen wird in einem frühen Bild der Moderne, das Benjamin gibt, stärker in den Blickpunkt gerückt: „Das Moderne, die Zeit der Hölle. Die Höllenstrafen sind jeweils das Neueste, was es auf diesem Gebiete gibt. Es handelt sich nicht darum, daß ,immer wieder dasselbe' geschieht (a fortiori ist hier nicht von ewiger Wiederkunft die Rede) sondern darum, daß das Gesicht der Welt, das übergroße Haupt, gerade in dem, was das Neueste ist, sich nie verändert, daß dies ,Neueste' in allen Stücken immer das nämliche bleibt. Das konstituiert die Ewigkeit der Hölle und die Neuerungslust des Sadisten. Die Totalität der Züge zu bestimmen, in denen dies ,Moderne' sich ausprägt, heißt die Hölle darstellen."33
Diese augenfällige Neuheit, die in der Tat immer dieselbe bleibt, ist ein Merkmal der Moderne in all ihren Erscheinungsformen. Benjamin schreibt: „Es hat keine Epoche gegeben, die sich nicht im exzentrischsten Sinne ,modern' fühlte und unmittelbar vor einem Abgrund zu stehen vermeinte ... Das ,Moderne' aber das die Menschen leiblich betrifft ist genau in dem Sinne verschieden wie die verschiedenen Aspekte ein und desselben Kaleidoskops".34 Dies bedeutet jedoch nicht, daß wir jede „neue" „Vergangenheit" durch bloßes „Einfühlen" in die Gegenwart holen können. Vielmehr gilt: „Die wahre Methode die Dinge sich gegenwärtig zu machen, ist: sie in unserm Raum (nicht uns in ihren) vorzustellen".35 Mit anderen Worten: „Nicht wir versetzen uns in sie: sie treten in unser Leben".36 Die Vergangenheit, die Benjamin zu konstruieren sucht, ist nicht die Vergangenheit der historischen Zeit, konzipiert als historische Zeit (die zu %erstören ist), sondern eine urzeitliche Vergangenheit, eine „Urge33 34 35 36
W. BENJAMIN, Das Passagen-Werk, op. cit., S. 1010-1011. Ibid., S. 1014. Ibid. Ibid., S. 1015.
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schichte" der Moderne. So wie er sich bereits früher bewußt auf die Suche nach dem „Ursprung" des deutschen Trauerspiels begeben hatte und nicht dessen „Entstehung" ergründen wollte, so sucht Benjamin nun den „Ursprung" der Moderne in ihrer „Urgeschichte". Sein Ziel besteht in nichts geringerem als in der Entwicklung einer „.Urgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts' — die hätte kein Interesse wenn man es so versteht, daß im Bestand des neunzehnten Jahrhunderts urgeschichtliche Formen sollten wiedergefunden werden. Nur wo das neunzehnte Jahrhundert als originäre Form der Urgeschichte würde dargestellt werden, als eine Form also, in welcher sich die gan^e Urgeschichte so erneuert, daß gewisse ihrer älteren Züge nur als Vorläufer dieser jüngsten erkannt würden, hat dieser Begriff einer Urgeschichte des neunzehntem Jahrhunderts seinen Sinn."37
Die Urgeschichte jeder Situation, ihr „Ursprung", und ganz buchstäblich — ihr Sprung in die Existenz, liegt in der Situation selbst mit eingeschlossen „als das Jetztsein der Jetztzeit".38 Ziel dieses historischen Projekts ist es, „von einer zunehmenden Verdichtung (Integration) der Wirklichkeit zu sprechen, in der alles Vergangene (zu seiner Zeit) einen höheren Aktualitätsgrad als im Augenblick seines Existierens erhalten kann". Dies wiederum kann nur vom Standpunkt der Interessen der Gegenwart aus erreicht werden: „Die dialektische Durchdringung und Vergegenwärtigung vergangner Zusammenhänge ist die Probe auf die Wahrheit des gegenwärtigen Handelns. Das heißt aber: der Sprengstoff, der in der Mode liegt (die immer auf Vergangnes zurückgreift) soll zur Entzündung gebracht werden".39 Die größere Unmittelbarkeit der Vergangenheit und ihre Konkretisierung ist nur möglich durch Einfrieren der dialektischen Entfaltung der Wirklichkeit: „Dialektik im Stillstand — das ist die Quintessenz der Methode".40 Benjamin begibt sich auf die Suche nach den dialektischen Bildern der Moderne (ähnlich wie in seiner Betonung der Allegorie in der früheren Studie über das Trauerspiel}, die ein Schlaglicht auf die höhere Ebene der Unmittelbarkeit der Vergangenheit werfen. Solche Bilder können erst dann erreicht werden, wenn die sie umgebenden Illusionen zerschlagen sind. Eine der größten Zugangsbarrieren zu Benjamins Methode stellt die Konzeption der historischen Zeit selbst dar. Zum Teil steht dies in Zusammenhang mit seiner früheren Unterscheidung zwischen „Entstehung", die in der faktischen Geschichte angesiedelt ist, und „Ursprung", der die Entwicklung eines einzelnen Elements zu einer Totalität bezeichnet (eine 37
Ibid., S. 1034.
38
Ibid., S. 1026. Ibid., S. 1026-27. Ibid., S. 1035.
39 40
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Unterscheidung, die Benjamin in teilweiser Anlehnung an Simmels Goethe vornimmt, den er zuvor gelesen hatte). Schon seine frühen Arbeiten verraten ein Interesse für die zeitliche Struktur der Erfahrung. Das spätere Stadium des Passagen-Werks weist auf ein anderes zentrales Anliegen hin, nämlich die Aufdeckung der historischen Transformationen in der Struktur der Erfahrung selbst. Hier geht es um die Erstellung einer Theorie der Erfahrung als Geschichte des Verlusts von Erfahrung (so wie in der Arbeit „Der Erzähler", aber auch in seinen Reflexionen über die Photographic und den Film). Benjamin konzipiert die Zeit der Erfahrung nicht nur als konkrete und natürliche Zeit, sondern auch — im Gegensatz zu der leeren Unendlichkeit eines homogenen Kontinuums — als eine Zeit, die einen Anfang und ein Ende kennt (insofern als das Ende der Tod ist, ist sie auch Naturgeschichte). Der Angriff auf den Begriff der Zeit als eines leeren Kontinuums, innerhalb dessen der Historismus sein imaginäres Museum der Geschichte errichtet und die Sozialdemokratie den Fortschritt in der Geschichte festmacht, befindet sich in einer Arbeit, die wohl als einleitender Abschnitt zu dem geplanten Buch über Baudelaire und mit großer Wahrscheinlichkeit als frühes Kapitel des vollendeten PassagenWerks gedacht war, nämlich in den Thesen und Notizen „Über den Begriff der Geschichte". Dort proklamiert Benjamin eine andere Konzeption der Geschichte. Es heißt: „Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet".41 Folglich gilt: „Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen ,wie es denn eigentlich gewesen ist'. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt".42 Der Augenblick der Gefahr ist eine Drohung gegen die Tradition sowie eine Drohung gegen jede profane Wiederherstellung. Benjamins dialektische Bilder sind in dieser „Jetztzeit" lokalisiert. Mit anderen Worten: „Das dialektische Bild ist ein aufblitzendes. So, als ein im Jetzt der Erkennbarkeit aufblitzendes Bild, ist das des Gewesenen ... festzuhalten."43 Echte Erfahrung ist ebenfalls nur in der Unterbrechung der historischen Zeit möglich, die in Gegensatz steht zur Kontinuität der chronologischen Zeit. Benjamin beschäftigt sich immer intensiver mit der Transformation des historischen Bewußtseins und versucht, jene Veränderungen in der Gesellschaft festzumachen, die zu der Reduzierung der konkreten Erfahrungen auf nur noch individuell vollziehbare Erlebnisse geführt hat. Dies wird zu einem konstitutiven Bestandteil seiner Theorie der Erfahrungsweisen der Moderne. Es bildet ebenfalls die Grundlage seiner Untersuchung 41 42 43
W. BENJAMIN, Gesammelte Schriften, 1.2, S. 701. Ibid., S. 695. Ibid., S. 682.
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der zeitlichen Dimension, in der einige seiner gesellschaftlichen Figuren existieren. So lebt der Spieler beispielsweise in der Zeit der Erfahrungslosigkeit; er kann immer wieder von neuem beginnen, genauso wie unter den Bedingungen des industriellen Kapitalismus die Zeit zu einzelnen Einheiten reduziert wird. „Der destruktive Charakter" dagegen muß die chronologische Zeit durchbrechen, wenn er die Geschichte zertrümmert; das destruktive Moment ist allerdings auch das kritische. Die Verknüpfung von Zeit und Erfahrung tritt auch in Benjamins Analyse des Schocks in den Vordergrund, die konstitutiv für die Erfahrung sein kann (wie z. B. an den Eingängen zu den Passagen) oder Erfahrung verhindern kann (wie in der Anpassung des menschlichen Arbeitsrhythmus an den Rhythmus der Maschine). Nur die Erfahrung einer Unterbrechung der Zeit (die Baudelaires correspondances einschließt), welche das leere Kontinuum der chronologischen Zeit aufbricht, kann in die Jetztzeit vorstoßen. So heißt es bei Greffrath in diesem Zusammenhang: „Die metaphorische Rede vom Fluß der Zeit hat in dieser Konzeption keinen Ort, Benjamin spricht statt dessen vom .Kraftfeld' und schon früh, in der .Einbahnstraße', vom Kunstwerk als einer ,Kraftzentrale'".44 Diese Jetztzeit, die Benjamin in den dialektischen Bildern der Urgeschichte der Moderne festzuhalten sucht, stellt nicht einfach eine gegenwärtige Zeit dar, sondern eine Zeit, in der die Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft für einen Augenblick aufgehoben ist. Der Historiker, der in dieser Art vorgeht, ist ein rückwärts gewandter Prophet, der Wesentlicheres auszusagen hat als jene, die mit der Gegenwart Schritt halten. Benjamins historischer Ausgangspunkt sind zunächst die Pariser Passagen und dann die gesamte Konstellation von Paris als Hauptstadt des neunzehnten Jahrhunderts.
III. In Benjamins frühesten Notizen zur Passagenarbeit finden sich bereits Hinweise auf die Gründe, die ihn dazu veranlaßten, die Passagen und die Stadt als Schlüssel zur Erschließung der „mythologischen Topographie von Paris" zu wählen, die Aragon schon enthüllt hatte. Paris als „mythe moderne" (Caillois) zu betrachten, bedeutet, es weiter von unserer eigenen Erfahrung zu entfernen. Benjamins Absicht bestand nicht in der Verherrlichung der Mythologie, der Wunschsymbole des neunzehnten Jahrhunderts, sondern er wollte sie uns in einem Augenblick ins Bewußtsein heben, in dem wir die Möglichkeit haben, sie zu überwinden. Wie der Traum kann der Mythos nicht zu einer dauerhaften Landschaft werden. Jedoch bildete er den Ausgangspunkt von Benjamins Analyse der Moderne. So wies er auf die „Architektur als wichtigstes Zeugnis der latenten .Mythologie'" K. GREFFRATH, Metaphorischer Marxismus, München 1981, S. 57.
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hin. Und weiter heißt es: „Und die wichtigste Architektur des 19ten Jahrhunderts ist die Passage".45 Sie bildete das Tor zur „Urlandschaft der Konsumption", zum Labyrinth der geheimen Träume. Die Passage selbst war gleichsam ein Labyrinth in dem größeren Labyrinth der Großstadt: „Verborgenster Aspekt der großen Städte: dieses geschichtliche Objekt der neuen Großstadt mit ihren uniformen Straßen und unabsehbaren Häuserreihen hat sie erträumte Architekturen der Alten: die Labyrinthe verwirklicht. Mann der Menge. Trieb, der die großen Städte zum Labyrinth macht. Vollendung durch die gedeckten Gänge der Passagen."46
Benjamin dachte sogar an weitere Labyrinthe innerhalb der Passagen selbst, an „Katakomben in der Passage". Die Wiedererkennung der Antike in der Moderne deutet bereits darauf hin, daß Aragons Suche nach „einer Mythologie der Moderne" in eine „Urgeschichte der Moderne" transponiert wurde. Außerdem erkannte Benjamin, daß Paris nicht nur einen mythischen, sondern auch antiken Charakter erhalten hatte, eine Umwandlung, die Balzac bereits ein Jahrhundert zuvor geleistet hatte, dessen Comedie Humaine „etwas wie epische Niederschrift der Tradition" repräsentierte und der die „mythische Verfassung seiner Welt nun durch deren bestimmte topographische Umrisse" hergestellt hatte: „Paris ist der Boden seiner Mythologie ... Vor allem aber sind es immer wieder dieselben Straßen und Winkel, Gelasse und Ecken aus denen die Figuren ... ans Licht treten. Was heißt das anderes als daß die Topographie der Aufriß jedes mythischen Traditionsraums ist, ja der Schlüssel desselben werden kann, wie er es für Pausanias in Griechenland wurde, wie die Geschichte, Lage, Verteilung der pariser Passagen für dies Jahrhundert Unterwelt, in das Paris versank, es werden soll."47
Benjamins Aufdeckung der „Verwandtschaft von Mythos und Topographie" nicht nur bei Aragon und Balzac, sondern auch bei Pausanias weist auf ein antikes Modell für die zu erstellende Topographie des Paris der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts hin, die er im Sinn hatte. Dieses antike Modell ist insofern bedeutsam, als „Pausanias ... seine Topographie von Griechenland 200 n. Chr. [schrieb] als die Kultstätten und viele der anderen Monumente zu verfallen begannen".48 Balzac, Aragon und jetzt Benjamin starrten auf „die Ruinen der Bourgeoisie". Pausanias konnte zwischen den Monumenten des antiken Griechenland, zwischen den toten Ruinen und den Trümmern, die immer noch eine Verbindung zur mythischen Vergangenheit behielten, einher wandern. In ähnlicher Weise sah Benjamin die Schwelle zur Mythologie in der modernen Großstadt: 45 46 47 48
W. BENJAMIN, Das Passagen-Werk, S. 1002. Ibid., S. 1007. Ibid., S. 1019. Ibid., S. 133.
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„Man zeigte im alten Griechenland Stellen, an denen es in die Unterwelt hinabging. Auch unser waches Dasein ist ein Land, in dem es an verborgenen Stellen in die Unterwelt hinabgeht, voll unscheinbarer Örter, wo die Träume münden . . . Das Häuserlabyrinth der Städte gleicht am hellen Tage dem Bewußtsein; die Passagen (das sind die Galerien, die in ihr vergangenes Dasein führen) münden tagsüber unbemerkt in die Straßen. Nachts unter den dunklen Häusermassen aber tritt ihr kompakteres Dunkel erschreckend heraus und der späte Passant hastet an ihnen vorüber".49
Jedoch war der labyrinthische Eingang zur Unterwelt mit den Großstadtstraßen und den Passagen noch nicht erschöpft. Es gibt noch „ein anderes System von Galerien, die unterirdisch durch Paris sich hinziehen: die Metro, wo am Abend rot die Lichter aufglühen, die den Weg in den Hades der Namen zeigen".50 Noch ein weiteres Labyrinth bildeten die Katakomben unterhalb der Stadt und das alte Flußbett der Seine. Sie alle zusammen stellten das Labyrinth der Antike dar, waren Mythologie und Hölle selbst. Es galt, alle diese topographischen Schichten auszugraben und zu rekonstruieren. Benjamin hatte sich zum Ziel gesetzt, „(d)ie Stadt zehnfach und hundertfach topographisch zu erbauen aus ihren Passagen und ihren Toren, ihren Friedhöfen und Bordellen, ihren Bahnhöfen .. ."51 An anderer Stelle schreibt Benjamin: „Es gibt ein ultraviolettes und ein ultrarotes Wissen um diese Stadt, die sich beide nicht mehr in die Form des Buches zwängen lassen: Photo und Stadtplan, — das genaueste Wissen vom Einzelnen und vom Ganzen".52 Die Ausgrabung der verschiedenen Wirklichkeitsschichten ist notwendig zur Rekonstruktion des geheimen Stadtplans, um zum ultraroten Wissen von der Stadt zu gelangen. Diese Aufgabe wird von dem Gesellschaftstheoretiker geleistet, der als Archäologe auftritt. So hat Sagnol53 — in Anlehnung an das Werk Foucaults — darauf hingewiesen, daß es sich bei Benjamins Projekt um nichts geringeres als eine „Archäologie der Moderne" bzw. um eine Archäologie von Paris als Hauptstadt des neunzehnten Jahrhunderts handelte. Sagnol setzt Benjamins Archäologie zu dessen früherer Monadologie (aus seiner Studie über das Trauerspiel} in Beziehung, wenn er behauptet, daß die Passagen entscheidende Beispiele für die Monaden des neunzehnten Jahrhunderts seien — „eine Miniaturwelt" —, ein Mikrokosmos, von dem aus wir sämtliche „Phantasmagorien" des neunzehnten Jahrhunderts ableiten 49 50 51 52 53
Ibid., S. 135. Ibid. Ibid., S. 134-5. W. BENJAMIN, Gesammelte Schriften, IV.t, S. 357. M. SAGNOL, La methode archeologique de Walter Benjamin. In: Les Temps Modernes, 40, Juli 1983.
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könnten; in der Tat handelt es sich bei Benjamins Methode um eine „Archäomonadologie". Gewiß, die Aufdeckung des monadologischen Elements in Benjamins Frühwerk ist ein Verdienst Kracauers. Wichtiger ist jedoch, daß sich in einem der „Denkbilder" Benjamins, in dem Denkbild „Ausgraben und Erinnern", Hinweise auf die Bedeutung der archäologischen Methode im Hinblick auf das Abtragen der verschiedenen Schichten historischen Abfalls, die die frühere Realität der Moderne verdecken, finden. Benjamin geht davon aus, daß „das Gedächtnis nicht ein Instrument für die Erkundung des Vergangnen ist, vielmehr das Medium. Es ist das Medium des Erlebten wie das Erdreich das Medium ist, in dem die alten Städte verschüttet liegen. Wer sich der eignen verschütteten Vergangenheit zu nähern trachtet, muß sich verhalten wie ein Mann, der gräbt. Vor allem darf er sich nicht scheuen, immer wieder auf einen und denselben Sachverhalt zurückzukommen — ihn auszustreuen ... wie man Erdreich umwühlt ... Die Bilder nämlich, welche, losgebrochen aus allen früheren Zusammenhängen, als Kostbarkeiten in den nüchternen Gemächern unserer späten Einsicht — wie Torsi in der Galerie des Sammlers — stehen. Und gewiß ist's nützlich, bei Grabungen nach Plänen vorzugehen."54
Um zu einer zufriedenstellenden Erinnerung an die Vergangenheit zu gelangen, müssen „wahrhafte Erinnerungen" „episch und rhapsodisch" vor sich gehen, so „wie ein guter archäologischer Bericht nicht nur die Schichten angeben muß, aus denen seine Fundobjekte stammen, sondern jene ändern vor allem, welche vorher zu durchstoßen waren".55 Diese Darstellung deutet jedoch darauf hin, daß es sich bei Benjamin um einen Archäologen ganz spezieller Art handelt, der nicht nur damit befaßt ist, die verschiedenen Trümmerschichten im Erdboden freizulegen, sondern der auch die verschiedenen Bedeutungsschichten ausgraben will, die im menschlichen Bewußtsein eingebettet sind. Die Topographie, die Benjamin erforschen will, erfordert nicht nur die Entzifferung der Zeichen und Spuren der Vergangenheit, sondern auch die Entschlüsselung der Träume und Phantasien, denn „(d)er Traum — das ist die Erde, in der die Funde gemacht werden, die von der Urgeschichte des 19ten Jahrhunderts Zeugnis ablegen".56 Die vom Archäologen freizulegenden und zu erforschenden Schichten befinden sich somit nicht nur im Erdreich, sondern auch über dem Erdreich. Sie finden sich wieder in der Architektur, den Straßen und den Interieurs. Benjamin möchte jedoch nicht die individuellen Träume ausgraben, sondern die Träume des Kollektivs. Diese sind an speziellen architektonischen Konfigurationen abzulesen, die noch die Spuren der Mythologie 54 55 56
W. BENJAMIN, Ausgraben und Erinnern. In: Gesammelte Schriften, IV.l, S. 400—1. Ibid., S. 401. W. BENJAMIN, Das Passagen-Werk, op. cit., S. 140.
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festhalten. Es handelt sich hierbei um „die Traumhäuser des Kollektivs: Passagen, Wintergärten, Panoramen, Fabriken, Wachsfigurenkabinette, Bahnhöfe" und ähnliches. Die meisten von ihnen werden im PassagenWerk detailliert behandelt. Der Archäologe legt nicht nur die Konturen verlorener Träume und Wunschsymbole frei, sondern auch die einzelnen Fragmente und Spuren einer Kultur, die der Erinnerung nicht mehr unmittelbar zugänglich ist. Das Bestreben, die Wirklichkeitsschichten sorgfältig zu untersuchen, die man zur Erreichung seines Ziels durchstoßen mußte, weist auf ein Interesse an der Rekonstituierung jener geschichtlichen Stadien hin, durch die die Spuren, welche man schließlich entdeckt, verlorengingen. Es deutet auch auf das Anliegen hin, die Dinge in einem neuen Licht zu sehen, die Dinge außerhalb ihres üblichen Kontextes zu betrachten. Diese Aufgabe ist mit der Typisierung des Ausgräbers nicht mehr zu fassen, es handelt sich hierbei eher um eine Aufgabe des Sammlers. Wenn Benjamin schreibt: „Die wahre Methode, die Dinge sich gegenwärtig zu machen, ist, sie in unsere Raum ... vorzustellen", so fügt er hinzu: „So tut der Sammler".57 Die Gesamtheit der nun als Passagen-Werk vorliegenden Notizen und Aufzeichnungen zeugt von Benjamins Aktivität als Sammler. Sie sind Beispiele für die praktische Erinnerung desjenigen, der um die Rekonstruktion der Urgeschichte der Moderne bemüht ist. So heißt es: „Sammeln ist eine Form des praktischen Erinnerns und unter den profanen Manifestationen der ,Nähe' die bündigste".58 Entscheidend beim Akt des Sammeins ist, „daß der Gegenstand aus allen ursprünglichen Funktionen gelöst wird um in die denkbar engste Beziehung zu seinesgleichen zu treten. Diese ist der diametrale Gegensatz zum Nutzen und steht unter der merkwürdigen Kategorie der Vollständigkeit".59 Der Sammler, der jedes einzelne Objekt aus der Eigenschaft des bloßen Besitzes löst, stellt es in ein von ihm selbst geschaffenes historisches System, so daß es „zu einer Enzyklopädie aller Wissenschaft von dem Zeitalter, der Landschaft, der Industrie, dem Besitzer von dem es herstammt" wird.59* Anders als der Allegoriker zeigt der Sammler die Beziehungen zwischen den Djngen auf: „Der Sammler ... vereint das Zueinandergehörige".60 Mit der Einführung des Sammlers in diesem Stadium ist jedoch gleichzeitig eine Aktivität eingeführt, die einen Ausweg aus dem Labyrinth der ungedeuteten Zeichen, dem Labyrinth der Warenwelt, sogar aus dem Labyrinth als Exterieur nahelegt. Der Sammler
57
Ibid., S. 273. Ibid., S. 271. 59 Ibid. 5 Mbid. 60 Ibid., S. 279. 58
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durchbricht die falschen, labyrinthischen Beziehungen zwischen den Dingen, ja sogar die Erfahrung der Moderne selbst. Bislang haben wir die labyrinthische Beschaffenheit der Welt der Moderne noch keineswegs erschöpfend behandelt. Der Ausgräber oder Archäologe und der Sammler waren an der Wiederherstellung der physischen Realität der Objekte interessiert. Zu untersuchen bleibt noch das Labyrinth der Großstadt und — als sein Gegenstück — das Labyrinth der Menschenmassen sowie schließlich das Labyrinth der Warenwelt, das die beiden ersteren durchdringt und sich somit bis in den Kern der modernen Gesellschaft erstreckt. Wenn man diese verschiedenen Labyrinthe in Betracht zieht, ist es möglich, Benjamins Versuch der Entwicklung einer Theorie der Erfahrung der Moderne und der Erfahrung des Neuen, der nouveaute, zu untersuchen. Dies soll im folgenden geschehen. Zentraler Bezugspunkt für die Moderne und für Benjamins Vorhaben ist die Stadt, denn wie Stüssi argumentiert, steht „die Stadt ... noch, in deren Boden die eigene Vergangenheit verborgen liegt. Die gegenwärtige Stadt verwandelt sich im Licht der Erinnerung in eine ausgegrabene, die von der vergangenen Zeit Kunde gibt. Archäologie geschieht auf dem Schauplatz der Moderne".61 Die Stadt als Labyrinth ist aufs engste mit der Erinnerung an die verlorengegangene Vergangenheit verknüpft. Wie Szondi bemerkt: „So ist das Labyrinth im Raum, was in der Zeit die Erinnerung ist, die im Vergangenen die Vorzeichen der Zukunft sucht."62 Benjamin, wie Kracauer schon etwas vor ihm, will die Hieroglyphen der Stadtarchitektur entziffern. Ein ganzer Abschnitt von Benjamins geplanter Baudelaire-Studie sollte Paris gewidmet sein, „Paris als die Stadt der Moderne ... es bringt die Gebrechlichkeit der Stadt zur Geltung, indem es diese Stadt als Dekor anspricht."63 Die Stadt als menschenleeres· Dekor war ein eindringliches Bild, das Benjamin in Meryons Pariszeichnungen vorfand: „Meryons pariser Straßen sind Schächte, über denen hoch oben die Wolken dahinziehen."64 Es handelt sich hierbei um ein Bild der Stadt, das Pausanias vor etlichen Jahrhunderten evozierte: leere, oft zu Ruinen zerfallene Bauten, die noch den Schlüssel zur Antiken bewahren.65 Dieses 61 62 63 64 65
A. STÜSSI, Erinnerung an die Zukunft, Göttingen 1977, S. 25. P. SZONDI, Nachwort, in: W. BENJAMIN, Städtebilder, Frankfurt 1963, S. 84. W. BENJAMIN, Gesammelte Schriften, 1.3, S. 1173. W. BENJAMIN, Das Passagen-Werk, op. dt., S. 420. In einem bemerkenswerten interpretativen Essay berichtet FRAZER, daß Pausanias „sich weder für die Naturschönheiten Griechenlands noch für das Alltagsleben seiner Zeitgenossen interessierte. Er nahm so wenig Notiz von dem einen wie von dem ändern, daß der Eindruck entstehen konnte, Griechenland sei eine Wildnis, die Städte unbewohnt oder nur in seltenen Intervallen von einer bunten Menge bevölkert, die plötzlich wie durch Zauber auftauchte ... und dann genauso mysteriös wieder verschwand wie sie gekommen war, und in den
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leere Labyrinth durchschreitet nunmehr weder der Archäologe noch der Sammler, sondern die dritte und vielleicht auch bedeutsamste Figur Benjamins: der Flaneur. Der Flaneur sucht nach einem Weg durch das Labyrinth: „Die Stadt ist die Realisierung des alten Menschheitstraumes vom Labyrinth. Dieser Realität geht, ohne es zu wissen der Flaneur nach".66 Paris schuf auch erst den Flaneur: die Stadt „eröffnet sich ihm als Landschaft, sie umschließt ihn als Stube".67 Benjamin spricht von der „vollendete(n) Kunst des Flaneurs" als dem „Wissen vom Wohnen. Urbild des Wohnens aber ist die matrix oder das Gehäuse". Der Flaneur liefert die dialektischen Bilder, er sucht „die Bilder wo immer sie hausen. Der Flaneur ist der Priester des genius loci. Dieser unscheinbare Passant mit der Priesterwürde und dem Spürsinn eines Detektivs" (Hervorhebung vom Verfasser).68 Der Flaneur besitzt nicht nur ein Erinnerungsvermögen wie ein Kind, er beharrt auch auf seinem topographischen Wissen: „So memoriert der Flaneur wie ein Kind, so besteht er hart wie das Alter auf seiner Weisheit". Er erstellt ein „Register" für seine Stadt, ein „ägyptische(s) Traumbuch des Wachenden".69 Die Straßen, die der Flaneur durchstreift, sind nicht immer menschenleer. Im Gegensatz zu der Figur des Archäologen oder Sammlers hat der Flaneur einen direkteren Kontakt zur Menschheit, zumindest zu den Massen. Die Straßen sind nicht nur leeres Dekor, sondern auch „die Wohnung des Kollektivs. Das Kollektiv ist ein ewig unruhiges, ewig bewegtes Wesen, das zwischen Häuserwänden soviel erlebt, erfährt, erkennt und ersinnt wie Individuen im Schütze ihrer vier Wände".70 Für das Kollektiv „war die Passage der Salon. Mehr als an jeder ändern Stelle gibt die Straße sich in ihr als das möblierte ausgewohnte Interieur der Massen zu erkennen."71 Nach Benjamin bildeten die Massen ein wesentliches Element in einem der immer wiederkehrenden dialektischen Bildern Baudelaires, dessen andere Hälfte die Stadt Paris bildete: „Bei Baudelaire steht Paris als ein Wahrzeichen der Antike in Kontrast zu seiner Masse als Wahrzeichen der Moderne."72 Der Flaneur begab sich auch auf die Suche
66 67 68 69 70 71 72
verlassenen Straßen und Tempel hallten nur die Schritte des einsamen Wanderers wider, der mit Ehrfurcht und Bewunderung die Monumente eines verschwundenen Volkes erforschte." Siehe J. G. FRAZER, Pausanias and Other Greek Sketches, London/New York 1900, S. 22 (Hervorhebungen vom Verfasser). W. BENJAMIN, Das Passagen-Werk, op. cit., S. 541. W. BENJAMIN, Gesammelte Schriften, III, op. cit., S. 195. Ibid., S. 196. Ibid., S. 198. W. BENJAMIN, Das Passagen-Werk, op. cit., S. 533. Ibid. Ibid., S. 437.
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nach den Massen, nur um in ihnen mit einem weiteren Labyrinth konfrontiert zu sein. Die Masse „legt sich als Schleier vor den Flaneur: sie ist das neueste Rauschmittel des Vereinsamten. — Sie verwischt, zweitens, alle Spuren des Einzelnen: sie ist das neueste Asyl des Geächteten. — Sie ist, endlich, im Labyrinth der Stadt das neueste und unerforschlichste Labyrinth."73 Die Menge konnte zu bestimmten Zeitpunkten allerdings auch festumrissene Konturen annehmen und die öffentliche Bühne nicht als anonyme Masse, sondern als revolutionäre Bewegung betreten. Wie die Ereignisse der Jahre 1830, 1848 und 1870 bezeugen, stellte sie nicht immer nur eine schlafende Bedrohung für die Pariser Bourgeoisie im neunzehnten Jahrhundert dar. Als Antwort auf diese Bedrohung wurde das Interieur der Menge, die Straßen selbst, von Haussmann umgestaltet, während im Jahre 1870 die Massen selbst ihr Interieur durch die Errichtung von Straßenbarrikaden umgestalteten. Die Massen symbolisierten ein wesentliches Merkmal der Moderne: nämlich daß die Phantasmagoric der bürgerlichen Welt vergänglicher sein konnte als ursprünglich angenommen, daß der Alptraum des Marxschen Bildes von der Umwandlung, bei der „alles Feste sich in Luft auflöst", eines Tages doch noch Wirklichkeit werden könnte. Die Masse erschien jedoch nicht nur als Bedrohung, sondern sie trat auch als die Masse der Verbraucher in Erscheinung. In diesem Sinne nahm sie an der labyrinthischen Welt des Warentauschs als Konsument teil. Dies wurde durch die Entstehung der Warenhäuser noch vorangetrieben: „Zum erstenmal in der Geschichte beginnen, mit der Gründung der Warenhäuser, die Konsumenten sich als Masse zu fühlen."74 Die zunehmende Standardi1sierung in der Warenproduktion verlieh der Warenwelt der Passagen einen um so exotischeren Charakter. Blieb die Phantasiewelt der Ware im Innern der Passage mit privaten Träumen verbunden, so fand sie im öffentlichen Bereich Ausdruck in den Weltausstellungen — den „Wallfahrtsstätten zum Fetisch Ware" —, zu denen die Massen als Beobachter pilgerten. So schreibt Benjamin: „Die Weltausstellungen waren die hohe Schule, in der die vom Konsum abgedrängten Massen die Einfühlung in den Tauschwert lernten. ,Alles ansehen, nicht anfassen.' "75 Das Ziel der Weltausstellungen war Zerstreuung, und das dort aufgebaute „Universum der Waren" verherrlichte den Tauschwert der Waren: „Sie schaffen einen Rahmen, in dem ihr Gebrauchswert zurücktritt. Sie eröffnen eine Phantasmagoric, in die der Mensch eintritt, um sich zerstreuen zu lassen. Die Vergnügungsindustrie
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Ibid., S. 559. Ibid., S. 93. Ibid., S. 267.
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erleichtert ihm das, indem sie ihn auf die Höhe der Ware hebt."76 Die Beziehung des Individuums zu dieser Warenwelt ist allegorischer Natur, die Waren sind Allegorien dessen, was nicht mehr erfahrbar ist: „Die Allegorien stehen für das, was die Ware aus den Erfahrungen macht, die die Menschen dieses Jahrhunderts haben."77 Die Fülle der Waren hat eine überwältigende Gleichgültigkeit gegenüber den Dingen zur Folge, die sich in der Erfahrung als Langeweile manifestiert. Das Labyrinth des gigantischen Marktes, das Labyrinth der Warenwelt und der Weltausstellungen läuft immer Gefahr, lediglich das Immergleiche zu reproduzieren, den Tauschwert der Waren (und somit eine erstarrte Warenwelt zu werden). Anstatt daß der Tauschwert neben den konkreten Gebrauchswert gestellt wird, gilt als Unterscheidungsmerkmal der Waren das Neue, die Mode. Dieses grundlegende Charakteristikum der Moderne — die Dialektik des Neuen und Immergleichen —, die Benjamin an anderer Stelle als die Dialektik von Moderne und Antike, von Masse und Großstadt analysiert, wird im folgenden im Zusammenhang mit der Mode und der Ware untersucht. Was ist diese Neuheit anderes als „eine vom Gebrauchswert der Ware unabhängige Qualität"? Sie ist „der Ursprung des Scheins, der den Bildern unveräußerlich ist, die das kollektive Unbewußte hervorbringt. Es ist die Quintessenz des falschen Bewußtseins, dessen nimmermüde Agentin die Mode ist."78 Ihre Folgen erstrecken sich auf die Kunst, auf Gestalten wie den Dandy. Der unaufhörliche Schock des Neuen wird zu einem konstitutiven Bestandteil des Erlebnisses der Moderne. Die Dialektik des Neuen und Immergleichen erscheint in der Mode als „die ewige Wiederkehr des Neuen".79 Benjamin ist jedoch bemüht, sie mit ihrem Ursprung in der „Dialektik der Warenproduktion" in Beziehung zu setzen: „... die Neuheit des Produkts bekommt (als Stimulanz der Nachfrage) eine bisher unbekannte Bedeutung; das Immerwiedergleiche erscheint sinnfällig in der Massenproduktion zum ersten Mal."80 Vielleicht etwas zu voreilig weist Benjamin darauf hin, daß dieses Merkmal des Produktionsprozesses die Illusion der ewigen Wiederkehr hervorruft: „Der Gedanke der ewigen Wiederkehr kam auf als die Bourgeoisie der bevorstehenden Entwicklung der von ihr ins Werk gesetzten Produktionsordnung nicht mehr ins Auge zu blicken wagte."81 Die Doktrin der ewigen Wiederkehr konnte nur schwach vor dem schrecklichen Gedanken der totalen Vergänglichkeit der 76
ibid., S. 50.
77
Ibid., S. 77. Ibid., S. 55. W. BENJAMIN, Gesammelte Schriften, 1.2, S. 677. Ibid., S. 680. W. BENJAMIN, Das Passagen-Werk, op. cit., S. 175.
78 79 80 81
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David Frisby
Existenz in der modernen Großstadt schützen, der „Hinfälligkeit und Gebrechlichkeit einer großen Stadt". Dieses Merkmal teilt die Moderne mit der Antike. So schreibt Benjamin: „Worin die Moderne der Antike zuletzt und am innigsten sich verwandt erweist, das ist ihre Vergänglichkeit."82 Benjamins Ausgangspunkt waren Bauwerke, die ein Symbol dieser Vergänglichkeit waren — „Passagen, Ausstellungshallen, Bahnhöfefn] — Bauten, die transitorischen Zwecken dienen".83 Einige dieser Bauten, die an „le transitoire" erinnerten wie z. B. die Passagen, wurden zu einer Art Interieur umgestaltet, einem Rückzug in die Traumwelt des Erwachenden. „Die Pariser machen die Straße zum Interieur".84 Aber auch das Interieur der Wohnung bot keinen Schutz vor der Vergänglichkeit der Moderne. Als Rückzug in die Innerlichkeit war es ebenfalls mit einem Labyrinth der Träume, Geheimnisse und Magien ausgestattet. In den alltäglichen Gegenständen, die das Interieur bevölkern, sucht Benjamin die Spuren dieser Träume zu entdecken: „Den Totembaum der Gegenstände suchen wir im Dickicht der Urgeschichte auf. Die oberste, die allerletzte Fratze dieses Totembaumes ist der Kitsch."85 So bildet das Interieur weniger einen Zufluchtsort vor der Traumwelt außerhalb, sondern „das Interieur . . . selbst [ist] ein Stimulans des Rausches und des Traums". In diesem Interieur zu leben, bedeutete, „in ein Spinnennetz" gefangen zu sein, „in dem das Weltgeschehen verstreut, wie ausgesogene Insektenleiber herumhängt". Das Interieur bot sich nicht als Ausweg aus den Schichten der Traumwelt an, die es umschlossen. Benjamin vertrat die Auffassung, daß die verdinglichte Welt des Erlebnisses nur von einer Form der Erinnerung durchbrochen werden konnte, die in der Lage war, die verschiedenen Illusionsschichten der Erscheinungswelt zu durchstoßen. Die Erinnerung war wesentliche Voraussetzung für den Prozeß des Erwachens, für die Bildung der konkreten Erfahrung. Sie war das Kernstück seiner dialektischen Methode der Historik, die sich „als die Kunst [präsentiert], die Gegenwart als Wachwelt zu erfahren, auf die sich jener Traum, den wir Gewesenes nennen, in Wahrheit bezieht".86 Jenes Gewesene, jener Traum wurde durch den Kapitalismus in Gang gebracht, der „eine Naturerscheinung" war, „mit der ein neuer Traumschlaf über Europa kam und in ihm eine Reaktivierung der mythischen Kräfte".87 Benjamins Passagen-Werk war der Aufdeckung der Erscheinungsformen der träumenden Kollektivität gewidmet, die der „narkotische Historismus" 82 83 84 85 86 87
Ibid., Ibid., Ibid., Ibid., Ibid., Ibid.,
S. 419. S. 46. S. 531. S. 281. S. 491. S. 494.
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und die Masken des neunzehnten Jahrhunderts überdeckten. In Baudelaire fand Benjamin einen Autor, der ihm mit seiner Darstellung der Labyrinthe der Illusionen den Schlüssel zur Analyse der Moderne an die Hand gab, jedoch waren dazu komplizierte Umwege erforderlich. Baudelaires gesellschaftliche Erfahrungen, die sich in seinem Werk widerspiegeln und die seinem Verständnis der Moderne als „le transitoire, le fugitif, le contingent" sein Gewicht verleihen, „sind ... gewonnen ... auf weiten Umwegen . . . Die wichtigsten dieser Umwege sind die Erfahrungen des Neurasthenikers, des Großstädters und des Kunden".88 Auch Benjamin konnte nur indirekte Wege zu seiner „Urgeschichte der Moderne" finden, deren Topologie schwierig zu entziffern bleibt.
88
W. BENJAMIN, Gesammelte Schriften, 1.3, S. 1169.
Autorenverzeichnis Arato, Prof. Dr. Andrew, New School for Social Research, 65 Fifth Avenue, New York 10003, USA Arnason, Dr. Johann, La Trobe Universität, Dept. of Sociology, Bundoora/ Victoria 3083, Australien Benhabib, Frau Prof. Dr. Seyla, Department of Government, Harvard University, Cambridge, Mass. 02138, USA Burger, Prof. Dr. Hotimir, Klaiceva 27, 41000 Zagreb, Jugoslawien Cerutti, Prof. Dr. Furio, Universita Firenze Dip. di Filosofia, via Bolognese 52, 50139 Firenze, Italien Chvatik, Dr. Kvetoslav, Universität Konstanz, Postfach 5560, 7750 Konstanz Corbea-Hoisie, Andrei, Str. Vasile Lupu nr. 92, Bl. D7, Sc. B, 6600 lasi, Rumänien Czerniak, Dr. Stanislaw Leszek, 01—315 Warszawa, ul. Lazurowa 4. m7 Polen Djindjic, Dr. Zoran, Narodnin heroja 31, 11070 Belgrad, Jugoslawien Fetscher, Prof. Dr. Iring, Ganghoferstr. 20, 6000 Frankfurt l Fleming, Frau Prof. Dr. Marie Ann, Department of Political Science, University of Western Ontario, London/Ontario, Kanada Frisby, Dr. David Patrick, Department of Sociology, The University of Glasgow, Adam Smith Building, Großbritannien Habermas, Prof. Dr. Jürgen, Fachbereich Philosophie, Universität Frankfurt, Dantestr. 4-6, 6000 Frankfurt/M. Howard, Prof. Dr. Richard C., State University of New York, Dept. of Philosophy, Stony Brook/NY 11794, USA Jurgensen, Prof. Dr. Manfred, Head of Department, Department of German, University of Queensland, Brisbane/St. Lucia 4067, Queensland, Australien McCarthy, Prof. Dr. Thomas, Northwestern University, Evanston, Illinois 60201, USA Nauta, Prof. Dr. Lolle Wibbe, Filosofisch Instituut, Westersingel 19, 9718 CA Groningen, Niederlande
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Autoren Verzeichnis
Petr, Dr. Pavel, Department of German, Monash University, Clayton/Vic. 3168, Australien Petrovic, Prof. Dr. Gajo, Filozofski fakultet, Odsjek za filozofiju, D. Salaja 3, 41000 Zagreb, Jugoslawien Ripalda y Crespo, Dr. Jose Maria, Dpto. Historia Filosofia, Universidad Nacional de Educacion a Distancia Ciudad Universitaria, 28071 Madrid, Spanien Schmidt, Prof. Dr. Alfred, Fachbereich Philosophie der Johann Wolfgang Goethe-Universität, 6000 Frankfurt/M. Tribe, Dr. Keith Philip, Dept. of Economics and Management Science, University of Keele, Newcastle u. Lyme, Stratfordshire, ST 55 BE, Großbritannien Wellmer, Prof. Dr. Albrecht, Universität Konstanz, Fachbereich Philosophie, Postfach 5560, 7750 Konstanz Wohlfahrt, Prof. Dr. Irving, Comparative Literature Program, University of Oregon, Eugene, Oregon 97403, USA Zmegac, Prof. Dr. Victor, Abteilung für Germanistik an der Philosophischen Fakultät der Universität Zagreb, Ulica Dure Salaja 3, 4100 Zagreb, Jugoslawien
Verzeichnis der Teilnehmer Abiko, Prof. Kazuyoshi Universität Shiga, Japan Aleksandrowicz, Dr. Dariusz Universität Wroclaw, Polen Arato, Prof. Dr. Andrew Cooper Union, New York, USA Arnason, Dr. Johann La Trobe Universität, Bundoora/Vic., Australien Balog, Dr. Andreas Universität Wien, Österreich Belardinelli, Dr. Sergio Universität Triest, Italien Benhabib, Frau Prof. Dr. Seyla Universität Boston, USA Bhatti, Prof. Dr. Anil Universität Delhi, Indien Bosnjak, Prof. Dr. Branko Universität Zagreb, Jugoslawien Brujic, Frau Dr. Branka Universität Zagreb, Jugoslawien Bubner, Prof. Dr. Rüdiger Universität Tübingen Burger, Prof. Dr. Hotimir Universität Zagreb, Jugoslawien Cerutti, Prof. Dr. Furio Universität Florenz, Italien Cho, Prof. Dr. Kah Kyung State University of New York, Amherst, USA Chvatik, Dr. Kvetoslav Universität Konstanz Cifric, Dr. Ivan Universität Zagreb, Jugoslawien
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Verzeichnis der Teilnehmer
Corbea-Hoisie, Andrei Universität lasi, Rumänien Czerniak, Dr. Stanislaw Leszek Polnische Akademie der.Wissenschaften, Warszawa, Polen Despot, Frau Prof. Dr. Blazenka Universität Zagreb, Jugoslawien Djindjic, Dr. Zoran Belgrad, Jugoslawien Febbrajo, Dr. Alberto Universität Macerata, Italien Ferrara, Dr. Alberto Universität Rom, Italien Fetscher, Prof. Dr. Iring Universität Frankfurt Fleming, Frau Prof. Dr. Marie Ann University of Western Ontario, London/ON, Kanada Frisby, Dr. David Patrick Universität Glasgow, Großbritannien Gellately, Prof. Robert University of Western Ontario, London/ON, Kanada Habermas, Prof. Dr. Jürgen Universität Frankfurt Holenstein, Prof. Dr. Elmar Universität Bochum Honneth, Dr. Axel Universität Frankfurt Howard, Prof. Dr. Richard C. State University of New York, Stony Brook, USA Hribar, Dr. Tine Universität Ljubljana, Jugoslawien Jahangir, Prof. Dr. Mohamed Universität Dhaka, Bangladesh Jovanovic, Frau Gordana Universität Nis, Jugoslawien Jurgensen, Prof. Dr. Manfred University of Queensland, Brisbane, Australien Kennedy, Frau Dr. Ellen Universität York, Großbritannien
Verzeichnis der Teilnehmer
Kunnas, Prof. Dr. Tarmo Universität Helsinki, Finnland Magala, Dr. Slawomir Polnische Akademie der Wissenschaften, Poznan, Polen Mayer, Prof. Dr. Dr. h. c. Hans Universität Tübingen McCarthy, Prof. Dr. Thomas Northwestern University, Evanston/Ill., USA Meissner, Dr. Lucjan Universität Warszawa, Polen Micunovic, Prof. Dragoljub Universität Belgrad, Jugoslawien Milfull, Prof. Dr. John University of New South Wales, Kensington, Australien Mishima, Prof. Kenichi Universität Tokyo, Japan Möller, Prof. Jens Glebe Universität Kopenhagen, Dänemark Molander, Dr. Bengt Ake Universität Uppsala, Schweden Nakaoka, Prof. Narifumi Fukuoka Women's College, Japan Nauta, Prof. Dr. Lolle Wibbe Rijksuniversiteit te Groningen, Niederlande Nordenstam, Prof. Dr. Tore Universität Bergen, Norwegen 0fsti, Dr. Audun Universität Trondheim, Norwegen Oevermann, Prof. Dr. Ulrich Universität Frankfurt O'Hagan, Dr. Timothy University of East Anglia, Norwich, Großbritannien Ohasi, Prof. Dr. Ryosuke Shiga University of Medical Sciences, Japan Pazanin, Prof. Dr. Ante Universität Zagreb, Jugoslawien
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Verzeichnis der Teilnehmer
Petr, Dr. Pavel Monash University, Clayton/Vic., Australien Petrovic, Prof. Dr. Gajo Universität Zagreb, Jugoslawien Pfeiffer, Dr. Heinrich Alexander von Humboldt-Stiftung, Bonn Posavec, Prof. Zvenko Universität Zagreb, Jugoslawien Prpic, Ivan Universität Zagreb, Jugoslawien Ripalda y Crespo, Dr. Jose Maria Universidad Autonoma de Educacion a Distancia, Madrid, Spanien Schmidt, Prof. Dr. Alfred Universität Frankfurt Schmilz, Prof. Dr. Kenneth Louis Universität Toronto, Kanada Sima, Dr. Rudolf Universität Bratislava, Tschechoslowakei Sözer, Dr. Önay Universität Istanbul, Türkei Tadic, Prof. Dr. Ljubomir Universität Belgrad, Jugoslawien Talgeri, Prof. Dr. Pramod Universität Delhi, Indien Tokunaga, Prof. Makoto Universität Osaka, Japan Tribe, Dr. Keith Philip University of Keele, Grobritannien Ueki, Prof. Michiko Hokkaido University, Sapporo, Japan Wellmer, Prof. Dr. Albrecht Universität Konstanz Wohlfahrt, Prof. Dr. Irving University of Oregon, Eugene, USA Zenko, Dr. Fran jo Universität Zagreb, Jugoslawien
Verzeichnis der Teilnehmer
Zhang, Prof. Yushu Universität Peking, VR China Zmegac, Prof. Dr. Victor Universität Zagreb, Jugoslawien Zunjic, Slobodan Universität Belgrad, Jugoslawien
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GERD BRAND
Welt, Geschichte, Mythos und Politik Groß-Oktav. LII, 250 Seiten. 1978. Ganzleinen DM 80,ISBN 3110075059 Das Buch entfaltet in einer phänomenologisch-hermeneutischen Analyse zunächst die Welt und dann die Geschichte. Die fundamentale Seinsweise des Menschen in der personalen Welt wird als mythologisch aufgedeckt. Daraus ergeben sich neuartige Ansätze zur Interpretation persönlicher Geschichte und gesellschaftlicher, insbesondere politischer Zustände und Prozesse. Die Anwendungsmöglichkeit der neuartigen Ansätze wird durch konkrete Beispiele vorgeführt.
Wozu Philosophie? Stellungnahmen eines Arbeitskreises Herausgegeben von Hermann Lübbe Oktav. XII, 393 Seiten. 1978. Kartoniert DM 38,ISBN 3 11 007513 X (de Gruyter Studienbuch) Inhaltsverzeichnis: Rüdiger Bubner: Was kann, soll und darf Philosophie? —· Friedrich Kambartel: Bemerkungen zur Frage „Was ist und soll Philosophie?" — Hans Lenk: Philosophie als Fokus und Forum — Odo Marquard: Skeptische Betrachtungen zur Lage der Philosophie — Robert Spaemann: Der Streit der Philosophen — Jürgen Mittelstrass: Philosophie oder Wissenschaftstheorie? — Hermann Lübbe: Wozu Philosophie? Aspekte einer ärgerlichen Frage — Hermann Krings: Über Esoterik und Exoterik der Philosophie — Rainer Specht: Zur Metaphysik-Funktion der Philosophie — Walther Ch. Zimmerli: Arbeitsteilige Philosophie? — Joseph J. Kockelmans: Gedanken zur Frage: Wozu Philosophie? — Hans Michael Baumgartner: Wozu noch Philosophie? — Manfred Riedel: Philosophieren nach dem „Ende der Philosophie"? — Carl Friedrich Gethmann: Ist Philosophie als Institution nötig? — Norbert Hinske: Die Geliebte mit den vielen Gesichtern — Gerd Brand: Rolle und Funktion der Philosophie — Jürgen Ch. Regge: Bibliographie — Rolle und Funktion der Philosophie.
Preisänderungen vorbehalten
Walter de Gruyter
W DE
G
Berlin · New York