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German Pages 313 [320] Year 2005
Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht Band 22
Die Europäische Union als Wertegemeinschaft Herausgegeben von
Dieter Blumenwitz Gilbert H. Gornig Dietrich Murswiek
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Die Europäische Union als Wertegemeinschaft
Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht Herausgeber im Auftrag der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, Bonn: Dieter Blumenwitz †, Georg Brunner †, Karl Doehring, Gilbert H. Gornig, Eckart Klein, Hans v. Mangoldt, Boris Meissner †, Dietrich Murswiek, Dietrich Rauschning
Band 22
Die Europäische Union als Wertegemeinschaft Herausgegeben von
Dieter Blumenwitz Gilbert H. Gornig Dietrich Murswiek
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Die Bände 1 – 19 der „Staats- und völkerrechtlichen Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht“ erschienen im Verlag Wissenschaft und Politik, Köln
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 1434-8705 ISBN 3-428-11890-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Eine europäische Verfassung muß nicht nur Erreichtes sichern und ausbauen, die Union hat auch den Anspruch, ein politisches Gemeinwesen zu konstituieren, dem ein gemeinsames Wertesystem mit unverkennbar europäischer Handschrift zugrunde liegt. Die Union muß durch dieses einheitliche Wertesystem des christlich-abendländischen Kulturkreises zusammengehalten werden, durch ein Wertesystem, in dem die soziale, aber auch die kulturelle Dimension ihren unverzichtbaren Platz hat. Diese Werte – die auf dem unerschütterlichen Glauben an Demokratie, marktwirtschaftliche Systeme, den Grundrechten von Männern und Frauen, der Würde des Einzelnen gründen – definieren weiterhin unsere gemeinsamen Interessen im 21. Jahrhundert. Heute stellt sich aber die Frage, ob die Gefahr besteht, daß die postkommunistischen Beitrittsstaaten die kulturelle Basis der Europäischen Union untergraben, ob die Europäische Union die Möglichkeit besitzt, den politischen Transformationsprozeß der post-kommunistischen Gesellschaften zu festigen und vollständig funktionierende Marktwirtschaften aufzubauen. Es kann aber auch sein, daß sich die Staatsbürger in Mittel- und Osteuropa von diesen Prinzipien distanzieren, die einen Teil der kulturellen Werte der Europäischen Union darstellen. Für die weitere Entwicklung wird es wichtig sein zu wissen, was deren Orientierungen hauptsächlich bestimmt. Sind es überwiegend die Lebensbedingungen, die die politische Unterstützung bestimmen oder ist es die Sozialisation im Kommunismus? Finden wir bei ihnen ein gewisses Maß an Nostalgie für „das Gute“ des kommunistischen Regimes oder hat das Beispiel der Europäischen Union bereits eine Werteveränderung hervorgerufen? Eine Gefahr droht dem Wertesystem auch durch den Beitritt der Türkei. Die Bundesregierung versucht in der Diskussion die Frage zu tabuisieren, ob ein islamisch geprägter Großstaat Mitglied der Europäischen Union werden kann. Für einen Beitritt wird vorgetragen, die Europäische Union sei kein christlicher Verein. Natürlich geht es bei der Beitrittsfrage nicht um religiöse Überzeugungen, aber es geht um die prägende Wirkung einer Religion auf das Wertesystem einer Gesellschaft. Es geht darum, sicherzustellen, daß Europa in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union tatsächlich gelebt wird. Formale Rechtsangleichung hat nicht das Leben in einem Wertesystem, wie wir es für richtig halten, zur Folge. Es könnte die Europäische Union im Fall eines Beitritts der Türkei am Spagat zwischen Vertiefung und Erweiterung zerbrechen. Auch ist der Öffentlichkeit ausreichend Zeit zu geben, diese Frage zu erörtern.
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Vorwort
Europa ist nicht nur ein geographischer Begriff, nicht nur eine Gemeinschaft der Politik, der Wirtschaft und des Marktes. Es ist nämlich schwer vorstellbar, daß die Gemeinschaft sich damit begnügt, ein gigantischer „Euro-Supermarkt“ zu werden. Europa ist vor allem eine Gemeinschaft des Geistes, der Geschichte und der Werte des christlichen Abendlandes. Und in dieser Gemeinschaft begegnen sich – seit 2000 Jahren – Europa und das Christentum. Europa und seine Kultur haben ihre Wurzeln in der Antike, in der griechischen Philosophie, im römischen Recht, aber auch in der christlichen Theologie und im Abwehrkampf gegen die Osmanen. Dies sind die Quellen einer gemeinsamen abendländischen Familie europäischer Völker mit christlichen Wurzeln, trotz eigenständiger Kultur, eigener Sprache und eigener Geschichte. Diese gemeinsamen Eigenarten sollten in dem neuen Europa gepflegt werden und nicht, wie das einige wollen, mit „Konservatismus“, „Fanatismus“, „Fundamentalismus“, „politischer Unkorrektheit“ abqualifiziert werden. Heute ist es notwendig, die fundamentalen gemeinsamen Werte zu ordnen, auf welchen das neue Europa aufbauen soll. Dafür gibt es keine Rezepte. Es stellen sich eher Fragen. Notwendig ist ein gemeinsames Gedächtnis der Identität und der Kultur, um unser neues Europa verantwortlich zu gestalten. Das ist sehr wichtig, denn es kommt heute zu wesentlichen Interessensverlagerungen der Menschen, zum Wandel im Wertesystem der Europäer, zu einer starken Hinwendung zu konsumtiven, hedonistischen Orientierungen. Deutlich ist eine fortgeschrittene Säkularisierung; für immer weniger Europäer spielt der Glaube als Lebensgrundlage eine Rolle. Kennzeichnend ist auch die Offensive agnostischer Gruppen, die ihren Einfluß auf Bildungs- und Erziehungssysteme erzwingen wollen und die auch vorwiegend über die europäische Verfassung bestimmen wollen. Das Ausschließen des Gottesbezuges, ja sogar des christlichen Erbes in dieser Verfassung symbolisiert diesen starken Trend. Die europäische Kultur hatte aber immer und hat auch heute noch deutlich christliche Kennzeichen. Dieser Wandel im Wertesystem der Europäer ruft Bedenken und Fragen auf, die nur zum Teil beantwortet werden können. Anton Rauscher beschäftigt sich mit den Wurzeln und Grundlagen der Europäischen Wertegemeinschaft, Hubert Isak mit einer Verfassung für Europa. Thilo Rensmann beleuchtet die Grundwerte im Prozeß der europäischen Konstitutionalisierung. Thomas Schmitz sieht die Charta der Europäischen Union als Konkretisierung der gemeinsamen europäischen Werte. Alexis von Komorowski untersucht den Beitrag der Europäischen Sozialcharta zur Europäischen Wertegemeinschaft. Dieter Radau widmet sich dem Recht auf die Heimat und der Europäischen Union. Dieter Blumenwitz nimmt sich der Beneš-Dekrete an und gibt eine Bestandsaufnahme im Lichte der Beitrittsverhandlungen der Tschechischen Republik zur Europäischen Union. Christoph Pan und Beate Sibylle Pfeil beleuchten die Beneš-Dekrete und ihre gegenwärtigen Rechtswirkungen auf die deutsche Minderheit in Tschechien. Siegrid Krülle nimmt Stellung zur Vertrei-
Vorwort
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bung und Enteignung der Deutschen durch Polen und berücksichtigt die aktuelle Rechtslage anläßlich des Beitritts Polens zur Europäischen Union. János Wolfart äußert sich zur Rehabilitierung und Entschädigung der Ungarndeutschen. Monica Vlad beschäftigt sich mit den Rechtsfragen der Integration Rumäniens in die Europäische Gemeinschaft und Oxana Vitvitskaya widmet sich dem Rechtsstatus des Königsberger Gebiets. Die Referate wurden auf der 22. Fachtagung der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht vom 5. bis 7. März in Königswinter gehalten. Für die redaktionelle Herstellung des Manuskripts, die Herstellung der Druckvorlage und das Erstellen der Register danken die Herausgeber Frau Aldona Szczeponek, LLM. und Frau Ioana Rusu vom Institut für öffentliches Recht der Philipps-Universität Marburg. Frau Rusu ist auch für die Übersetzungen zu danken. Würzburg/Marburg/Freiburg im Oktober 2004
Dieter Blumenwitz Gilbert Gornig Dietrich Murswiek
Foreword The role of a European Constitution is not only to guarantee and extend what has already been reached, but also to constitute a political unit with common European values. These European Union must be kept together by this system of values, in which the social, but also the cultural dimension have its place. These values, which are based on the unshakeable belief in democracy, market economy systems, fundamental rights of men and women, dignity – define our common interests in the 21st century. The question is, whether there is a danger that the post communist European countries can undermine the base of the European Union, whether the Union has the possibility to consolidate the transformation process in the post communist societies and to build up functional market economies in these countries. Or do the citizens of east and central Europe dissociate from these principles, which are a part of the cultural values of the European Union. Compared to other EU members such as Germany, Greece and Spain, in these countries we expect to find a considerable number of people who deny the principles of liberal democracy. For the future development it is important what determines these orientations. Are there mainly the conditions of life which determine the political support, or is it the socialisation in communism? Is there a nostalgia for the good sides of the communist regime or has the example of the EU spread out its values? The question whether an Islamic state can be a member if the European Union is a taboo for the government of the Federal Republic of Germany. The argument against this membership is that the EU is a Christian union. Religious issues are of course not important for an application for membership, but the effect of religion on the system of values of a society is very important. The European ideals must be lived in every member states of the EU. The formal harmonisation of the legal systems does not necessarily bring the acceptance of the system of values that we accept. The membership of Turkey could divide Europe. The public opinion should be given enough time to find answers to this question. Europe is not only a geographical concept or a union of politics, economy and market. It is hard to assume that the Community will only be a giant Eurosupermarket. Europe is a union of thought, history and values of the Christian Occident. Europe and Christianity are forming this union for more than 2000 years. Europe and its culture have their roots in the antiquity, in the Greek philosophy, in the Roman law, but also in the Christian theology and in the
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Foreword
common resistance against the Ottomans. These are the sources of the western family of European peoples with Christian roots, in spite of their independent cultures and own language and history. These features should be protected in Europe and not be qualified in a derogatory way as conservative, fanatic, fundamentalist or political incorrect. The fundamental common values which are the bases of the new Europe must be defined and there are no prescriptions but only questions on how this should be done. In order to shape our new Europe is necessary to develop a common conscience of identity and culture. A very advanced secularisation is now obvious; religion has now for only few Europeans the role of the foundation of life. The offensive of agnostic groups which influence the educational system and who want to make decisions on the European Constitution is also very important. The exclusion of a statement referring to God or to the Christian heritage symbolises this trend. The European culture has always had and still has obvious Christian features. The changes of the European system of values raise questions and hesitations and calls for reflection. The horizon seems to be rather pessimistic. Anton Rauscher deals with the roots and the foundations of the European system of values and Hubert Isak with the European Constitution. Thilo Rensmann examines the fundamental values in the process of the European constitutionalisation. Thomas Schmitz regards the Charter of The European Union as a concrete form of the European values. Alexis von Komorowski examines the influence of the European Social Charter on the European community of values. The article of Dieter Radau deals with the the right to a homeland and the European Union. Other articles deal with other issues. Dieter Blumenwitz analyses the Beneš decrees taking into consideration the admission negotiations of the Czech Republic with the European Union. Christoph Pan and Beate Sibylle Pfeil analyse the Beneš decrees and their legal effects on the German minority in the Czech Republic. Siegrid Krülle states her opinion on expulsion and expropriation of Germans by Poles. János Wolfart analyses the rehabilitation and compensation of the Hungarian Germans. The article of Monica Vlad deals with the legal aspects of the accession of Romania the EU: Oxana Vitvitskaya analyses the legal status of the Kaliningrad region. The papers were presented on the 22nd Conference of the Study Group for Politics ond International Law which took place from the 5th to the 7th of March 2003 in Königswinter. The editors would like to thank Mrs. Aldona Szczeponek, LLM. and Mrs. Ioana Rusu from the Institute for Public Law of the Philipps University of Marburg for editing of the manuscript. Würzburg/Marburg/Freiburg im Oktober 2004
Dieter Blumenwitz Gilbert Gornig Dietrich Murswiek
Inhaltsverzeichnis Anton Rauscher Die christlichen Wurzeln der Europäischen Einigung............................................... 19 Abstract ..................................................................................................................... 27
Hubert Isak Eine Verfassung für Europa?..................................................................................... 29 Abstract ..................................................................................................................... 48
Thilo Rensmann Grundwerte im Prozeß der europäischen Konstitutionalisierung. Anmerkungen zur Europäischen Union als Wertegemeinschaft aus juristischer Perspektive ....................................................................................... 49 Abstract ...................................................................................................................... 71
Thomas Schmitz Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union als Konkretisierung der gemeinsamen europäischen Werte ...................................................................... 73 Abstract ...................................................................................................................... 97
Alexis von Komorowski Der Beitrag der Europäischen Sozialcharta zur europäischen Wertegemeinschaft ........................................................................ 99 Abstract ................................................................................................................... 156
Dieter Radau Das Recht auf die Heimat im Recht der Europäischen Union ................................. 159 Abstract ................................................................................................................... 168
Inhaltsverzeichnis
12 Dieter Blumenwitz
Die Beneš-Dekrete. Eine Bestandsaufnahme im Lichte der tschechischen Beitrittsverhandlungen zur EU ............................................................................... 169 Abstract .................................................................................................................. 181
Christoph Pan/Beate Sibylle Pfeil Die Beneš-Dekrete und ihre gegenwärtigen Rechtswirkungen auf die deutsche Minderheit in Tschechien ............................................................ 183 Abstract .................................................................................................................. 196
Siegrid Krülle Vertreibung und Enteignung der Deutschen durch Polen. Zur aktuellen Rechtslage unter Berücksichtigung des Beitritts Polens zur Europäischen Union ......................................................................................... 201 Abstract .................................................................................................................. 248
János Wolfart Rehabilitierung und Entschädigung der Ungarndeutschen..................................... 251 Abstract .................................................................................................................. 255
Monica Vlad Rechtsfragen der Europäischen Integration. Der Fall Rumänien............................ 257 Abstract .................................................................................................................. 268
Oxana Vitvitskaya Rechtsstatus des Kaliningrader Gebiets als Subjekt der Russischen Föderation......271 Abstract……………………...……………………………………………..............289
Die Autoren ................................................................................................................. 291 Personenregister .......................................................................................................... 305 Sachregister ................................................................................................................. 307
Table of Contents Anton Rauscher The Christian Roots of the European Unification ..................................................... 19 Abstract ..................................................................................................................... 27
Hubert Isak A Constitution for Europe? ....................................................................................... 29 Abstract ..................................................................................................................... 48
Thilo Rensmann Fundamental Values in the Process of European Constitutionalisation..................... 49 Abstract ..................................................................................................................... 71
Thomas Schmitz The Charter of the European Union as an Expression of the Fundamental European Values........................................................................................................ 73 Abstract ..................................................................................................................... 97
Alexis von Komorowski The Contribution of the European Social Charter to the European Community of Values................................................................................................ 99 Abstract ................................................................................................................... 156
Dieter Radau The Right to Homeland and the European Union.................................................... 159 Abstract ................................................................................................................... 168
Table of Contents
14 Dieter Blumenwitz
The Beneš-Decrees. A Stocktaking in the Light of the Czech Negotiations for the European Union .......................................................................................... 169 Abstract .................................................................................................................. 181
Christoph Pan/Beate Sibylle Pfeil The Beneš-Decrees and their legal Effects on the German Minority in the Czech Republic............................................................................................. 183 Abstract .................................................................................................................. 196
Siegrid Krülle Expulsion and Expropriation of Germans by Poland. On the Present Juridical Situation under Consideration of the Accession of Poland to the European Union. .......................................................................... 201 Abstract .................................................................................................................. 248
János Wolfart Rehabilitation and Compensation of the Hungarian Germans................................ 251 Abstract .................................................................................................................. 255
Monica Vlad The Legal Questions of the European Integration. The Case Romania .................. 257 Abstract .................................................................................................................. 268
Oxana Vitvitskaya The Legal Status of the Kaliningrad Region............................................................ 271 Abstract ................................................................................................................... 289
The Authors................................................................................................................. 291 List of Names .............................................................................................................. 305 Index............................................................................................................................ 307
Abkürzungsverzeichnis / List of Abbreviations A
Dokument der UN-Generalversammlung
a. A.
anderer Ansicht
ABl.
Amtsblatt
Abs.
Absatz
Abt.
Abteilung
AJIL
American Journal of International Law
AMRE
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
Anh.
Anhang
Anm.
Anmerkung
Arch.
Archiv
Art.
Artikel
Aufl.
Auflage
AVR
Archiv für Völkerrecht
AWR
Forschungsgesellschaft für das Weltflüchtlingsproblem
Az.
Aktenzeichen
Bd.
Band
BGBl.
Bundesgesetzblatt
BGH
Bundesgerichtshof
BT-Drs.
Bundestags-Drucksache
BVerfG
Bundesverfassungsgericht
BVerfGE
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, amtliche Sammlung
BVerwGE
Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts, amtliche Sammlung
bzw.
beziehungsweise
DDR
Deutsche Demokratische Republik
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Abkürzungsverzeichnis / List of Abbreviations
d. h.
das heißt
Drs.
Drucksache
dt.
deutsch
EA
Europa-Archiv
ebda.
Ebenda
ESC
Europäische Sozialcharta
ed.
editor/edition
EG
Europäische Gemeinschaft
EGMR
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
EGV
Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft
EKSR
Europäisches Komitee der sozialen Rechte
EMRK
Europäische Menschenrechtskonvention
EPIL
Encyclopedia of Public International Law
EU
Europäische Union
EuGH
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften
EuGRZ
Europäische Grundrechte-Zeitschrift
EUV
Vertrag über die Europäische Union
EuZW
Europäische Zeitschrift für Wirtschafftsrecht
FAZ
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Fn.
Fußnote
FP
Fakultativprotokoll
FS
Festschrift
GAOR
General Assembly Official Records
GASP
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik
GB
Großbritannien
GG
Grundgesetz
GRCh
Grundrechte-Charta
Halbbd.
Halbband
HRLJ
Human Rights Law Journal
Hrsg.
Herausgeber
hrsg.
herausgegeben
Abkürzungsverzeichnis / List of Abbreviations HStR
Handbuch für Staatsrecht
ICJ
International Court of Justice
IGH
Internationaler Gerichtshof
ILC
International Law Commission
ILM
International Legal Materials
ILO
International Labor Organization
ILR
International Law Reports
IPBPR
Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte
Jg.
Jahrgang
Kap.
Kapitel
KFOR
NATO-led international force responsible for establishing a security presence in Kosovo
KSZE
Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
lit.
litera
LNTS
League of Nations Treaty Series
LS
Leitsatz
MS
Mitgliedstaat
m. w. N.
mit weiteren Nachweisen
n.F.
neue Fassung
NATO
North Atlantic Treaty Organisation
No.
Number/numéro
Nr.
Nummer
OSZE
Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
ÖZöR
Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht
PCIJ
Publications of the Permanent Court of International Justice
RdC
Recueil des Cours
Rdnr.
Randnummer
Res.
Resolution
RESC
Revidierte Fassung der Europäischen Sozialcharta
RGBl.
Reichsgesetzblatt
Rs.
Rechtssache
S.
Seite
17
18
Abkürzungsverzeichnis / List of Abbreviations
s.
siehe
Sér.
Séries
SPÖ
Sozialdemokratische Partei Österreichs
StIGH
Ständiger Internationaler Gerichtshof
UdSSR
Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken
UN
United Nations
UN-Doc. A/Conf.
Nummer eines Konferenzdokuments der UNGeneralversammlung
UN-Doc. E/CN.4
Nummer eines Dokuments der UN-Kommission für Menschenrechte
UNO
United Nations Organization
UNTS
United Nations Treaty Series
usw.
und so weiter
VBS
Satzung des Völkerbunds
vgl.
vergleiche
VO
Verordnung
vol.
volume
VVDStRL
Veröffentlichungen der Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer
VwGO
Verwaltungsgerichtsordnung
WVK
Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge
YBILC
Yearbook of the International Law Commission
z. B.
zum Beispiel
ZaöRV
Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht
Ziff.
Ziffer
ZP
Zusatzprotokoll
ZusProt
Zusatzprotokoll
ZVölkR
Zeitschrift für Völkerrecht
Die christlichen Wurzeln der Europäischen Einigung Von Anton Rauscher
I. Einleitung Europa, dieser Kontinent, der in vielfältiger Weise die Menschen und Völker in der ganzen Welt bereichert hat, von dem aber auch Gefahren und Kriege, Utopien und Ideologie ausgegangen sind, hat sich aus der Asche des Zweiten Weltkrieges und aus den Verheerungen, die die menschenverachtenden Systeme des Nationalsozialismus und des Kommunismus angerichtet haben, wieder erhoben. Der Integrationsprozeß, dem einige Versuche vorausgegangen waren, dieser Prozeß, den die sechs Gründerstaaten mit den Römischen Verträgen von 1957 eingeleitet haben, ist inzwischen ein großes Stück voran gekommen. Es waren Politiker wie Robert Schuman und später Charles de Gaulle in Frankreich, Konrad Adenauer im geteilten Deutschland und De Gasperi in Italien, die gerade auch von ihrer christlichen Überzeugung her der Zerrissenheit Europas und dem Prozeß der Selbstzerfleischung ein Ende setzen und die Einigung Europas auf den Weg bringen wollten. Diese Politiker gaben sich keinen Illusionen hin. Die gewaltigen Barrieren des Hasses und der Feindseligkeit, die gegenseitigen Vorurteile, die Diskriminierungen, das Pochen auf die jeweils eigenen Interessen, all das schien so unüberwindlich einem Einigungsprozeß entgegen zu stehen, erst recht, wenn man an die Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich denkt, von der die inzwischen nachgewachsene Generation nur noch vom Hören-Sagen weiß. Die Architekten Europas waren sich allerdings darin einig, daß die Einheit sich nicht in einer Wirtschaftsgemeinschaft und schon gar nicht in einer besseren Freihandelszone erschöpfen dürfe, von der Art wir ja eine ganze Reihe von Modellen in der Moderne kennen. Sie waren sich ebenfalls einig, daß auch die Bedrohung durch den Kommunismus kein ausreichendes Fundament für eine dauerhafte Einigung bilden würde. Vielmehr besann man sich auf die Ursprünge und die Kräfte, die Europa in seiner langen Geschichte geprägt haben. Wenn wir von Werten und einer Wertegemeinschaft sprechen, dann haben wir irgendwie doch die Vorstellung, daß sie sich in der wechselvollen europäischen Geschichte im Denken und Reflek-
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Anton Rauscher
tieren über die Wirklichkeit herausgebildet haben. Sie gehören zu den Fundamenten, die für das Leben des Einzelnen, aber ebenso für das Zusammenleben der Menschen und Völker entscheidend sind. Bei der Frage, welche Werte es sind und wie das dazugehörige Bewußtsein entstanden ist, können drei Quellen genannt werden.
II. Die Suche nach der Wahrheit in der griechischen Philosophie Die erste Quelle liegt in der griechischen Philosophie, die den gesamten Kulturkreis im Mittelmeerraum bis hin nach Klein- und Vorderasien geprägt hat. Die Suche nach Wahrheit, nach der Sinndeutung der Welt, und – wenn es sie gibt – nach der Wirklichkeit Gottes, die Fragen nach dem Verhältnis zwischen Mensch und Natur, zwischen Mensch und Gesellschaft, zwischen Mensch und Gott sind damals aufgebrochen. Diese philosophischen Fragen können wir auch in anderen Kulturen vorfinden, in Asien, wenn wir an den Buddhismus oder an den Konfuzianismus denken, auch in Amerika bei den Inkas und bei den Indianer-Stämmen. Die griechische Philosophie hat jedoch in einer sehr differenzierten Weise diese Fragen herausgearbeitet und für die damalige Zeit eine überzeugende Antwort gefunden. Natürlich war die Frage nach Gott eine philosophische Frage. Es wäre weder Plato noch seinem Schüler Aristoteles in den Sinn gekommen, von Gott etwa als dem „Vater“ zu sprechen. Für Aristoteles ist Gott der „unbewegte Beweger“. Ihn faszinierte der Gedanke, daß hier auf dieser Erde alles in Veränderung begriffen ist. Dies führte ihn zu der Frage, ob die Welt, um sie verstehen zu können, nicht notwendig auf Gott hindeutet, den unbewegten Beweger, der sich nicht verändert, der immer derselbe bleibt. Demgegenüber geht sein Lehrer Plato von einem Reich der Ideen aus; in der Welt finden wir nur vergängliche Schatten dieser ewigen Ideen vor.
III. Was ist der Mensch? Von besonderer Bedeutung wurde in der griechischen Philosophie die Frage nach dem Menschen. Plato geht von drei Lebensschichten aus, die im Menschen zusammenkommen: die biologische, die in der Pflanzenwelt bestimmend ist, die tierische und die geistig-sittliche, insofern der Mensch mit Verstand und Willen ausgestattet ist. Es ist Aristoteles, der den Menschen als „zoon politikon“ definiert, als „politisches Lebewesen“. Damit kommt eine Dimension ins Spiel, die einerseits das Soziale in all seinen Bereichen umfaßt, die andererseits bei der Polis, bei dem damaligen Staat (Stadtstaat) ansetzt. Die Entdeckung, daß der Mensch ein soziales Lebewesen ist, eine soziale Natur hat, wird auch zum Anstoß, über die
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Denk- und Verhaltensweisen nachzudenken, die in und für die Gesellschaft förderlich sind. Es entsteht die Suche und das Fragen nach den Tugenden, in Sonderheit nach den Kardinaltugenden: die Klugheit, das Maß, die Gerechtigkeit, die Tapferkeit. Die Besinnung auf das soziale Wesen des Menschen ist besonders dringlich in einer Zeit wie heute, in der viele Bindungen zwischen den Menschen sich lockern, in der die „Selbstbestimmung“ dominiert und man leicht vergißt, daß sich der Mensch nur inmitten der Gesellschaft entfalten und entwickeln kann. Soziale Bindungen sind keineswegs Fesseln, die uns einengen, sie eröffnen uns neue Möglichkeiten, die sonst brach liegen würden. Sie verhindern, daß der Mensch nur noch an sich denkt und zum Egoisten wird.
IV. Das römische Erbe Neben der griechischen Kultur ist die zweite Wurzel der europäischen Kultur das römische Erbe. In Rom, und zwar schon lange vor Kaiser Augustus, ist die rechtliche Ordnung als Rückgrat für das Zusammenleben eines Volkes entwickelt worden. Es ist die Einsicht, daß ohne Recht und ohne Gerechtigkeit das Zusammenleben und Zusammenarbeiten der Menschen nicht Bestand hat, daß auch der Friede zwischen den Menschen und Völkern auf Recht und Gerechtigkeit gegründet sein muß. Die „pax romana“ umfaßte unter Kaiser Augustus das gesamte römische Weltreich, damit den ganzen Mittelmeerraum, hinzu noch die Gebiete nördlich der Alpen. Nach der Aufteilung des römischen Weltreiches wurde die „pax romana“ in die Rechtstradition der erstarkten Kirche übernommen und in den berühmten Kodices weitergegeben. Auch heute noch baut unser Rechtssystem auf den Erkenntnissen auf, die in Rom Gestalt angenommen haben. Recht und Gerechtigkeit sind das Gegenteil von Gewalt und Terror.
V. Das christliche Menschenbild Mit dem Christentum kommt die dritte Wurzel ins Spiel. Sie reicht einerseits zurück in die Geschichte des Volkes Israel mit der Offenbarung Gottes in den „heiligen Schriften“ des Alten Testaments, andererseits wird sie bestimmt vom Evangelium Jesu Christi und vom Leben der Kirche seit dem Pfingstereignis in Jerusalem. Mit dem Christentum tritt eine entscheidende religiöse und geistig kulturelle Kraft auf den Plan, die die Mythen der Vorzeit und die Götterwelt der Antike zurückdrängt und die Fragen der Griechen und die Ordnungsvorstellungen der Römer zusammenbringt mit der Frage, die für Europa typisch ist: Gibt es Gott und hat er sich offenbart?
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Letzten Endes ist es die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus, der wie Horst Bürgle bemerkt, Europa eine geschichtliche Bestimmung gegeben hat. „Dieses Geschehen in einem für die damalige Welt entlegenen Winkel einer römischen Besatzungszone wurde als die Botschaft von der Erneuerung der Menschheit diesem europäischen Kontinent als erstem anvertraut.“ Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit wird der Mensch nicht mehr nach seiner Volkszugehörigkeit, nach Rasse, Geschlecht oder Klasse bestimmt. Inmitten der weiterbestehenden Ethnien gab es von nun an das Volk Gottes, dessen Gliedschaft ausschließlich an Christus gebunden ist und zwar an den Gottmenschen. Die Erneuerung des Menschengeschlechts hebt die Unterschiede zwischen Juden und Heiden, zwischen Freien und Sklaven auf. Selbst Mann und Frau sind in einer neuen Weise einander Schwestern und Brüder. Damit entstand ein neues Menschenbild. Was immer an späteren humanistisch und idealistisch begründeten Entwürfen und Begegnungen mit dem Ziel einer versöhnten Menschheit die Geschichte Europas mitbestimmte, hier liegt der Ursprung. Der Politikwissenschaftler L. Kühnhart hat Recht, wenn er vom Christentum als der Kraftquelle Europas spricht und schreibt: „Europa ist 2000 Jahre alt geworden, weil und insoweit das Christentum 2000 Jahre die Wegmarken der europäischen Evolution gesetzt hat.“ Sicherlich haben die griechische Philosophie und das römische Rechtsdenken die europäisch-abendländische Kultur mitbestimmt. Aber erst das christliche Menschenbild hat Europa, wie man zu sagen pflegt, seine „Seele“ gegeben. Es handelt sich um eine geistig-sittlich-kulturelle Entwicklung, die von der Kirche als der alle Christen umspannenden Einheit geprägt wurde. Wenn wir fragen, was das christliche Menschenbild beinhaltet, so möchte ich ohne eine erschöpfende Darstellung geben zu können – auf folgende Punkte hinweisen.
VI. Gott spricht zu den Menschen Der erste Punkt betrifft die Gotteserkenntnis. In vielen Kulturen und Religionen, vor allem in Ländern mit alten Kulturen, wie im Vorderen Orient und Mittleren Orient oder in Asien, stoßen wir bei der Frage nach der Erklärung der Wirklichkeit auch auf Gottesvorstellungen. Allerdings sind sie ziemlich vage und erreichen nicht die Aussagekraft der griechischen Philosophie. Dies gilt auch für den Buddhismus in vielen seiner Formen. Das Nirwana wird erreicht durch die Ablösung von den konkreten Wirklichkeiten. Im jüdisch-christlichen Verständnis ist dies anders. Die Offenbarung Gottes, die mit Abraham beginnt, bedeutet nicht so sehr eine Erkenntnis Gottes, sondern von Anfang an, daß Gott zum Menschen spricht, der nach dem Schöp-
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fungsbericht in der Genesis „imago dei“ ist, nach dem Bild und Gleichnis Gottes geschaffen. Wer einen Menschen sieht und erkennt, der sieht und erkennt irgendwie Gott. Gott wird erfahren als jemand, der den Menschen anspricht. Gott ist nicht ein „Prinzip“, ein abstrakter Begriff, sondern handelnd. Die jüdisch-christliche Sicht des Menschen bestärkt die Erkenntnisse der griechischen Philosophie über den Menschen und verankert das geistig-sittliche Wesen in der Transzendenz Gottes. Die Erkenntnis, daß der Mensch Bild Gottes ist und damit alles Geschaffene überragt, wird nach dem Zweiten Weltkrieg zum Anlaß, über die „unantastbare Würde“ des Menschen zu sprechen. Mit der Imago-Dei-Lehre verbunden ist die Lehre von der Freiheit des Menschen. Während bei den griechischen Philosophen eher die Bedingtheiten und Abhängigkeiten des Menschen reflektiert wurden, tritt im Evangelium und besonders in der Verkündigung des Apostels Paulus die Freiheit ins Zentrum. Dabei geht es nicht um eine Befreiung des Menschen aus sozialen Zwängen, vielmehr erwächst Freiheit als Gabe Gottes, die demjenigen, der glaubt, auch nicht genommen werden kann, weil sie transzendent in Gott verankert ist. Mit Recht hat Ludwig Windhorst im Ringen um die Freiheitsrechte auch für katholische Bürger im 19. Jahrhundert darauf hingewiesen, daß die religiöse Freiheit (= Religionsfreiheit) die Wurzel aller Freiheitsrechte ist. Das Christentum hat im Römischen Reich unter Berufung auf das Wort Christi: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ diese Freiheit gegenüber dem Kaiser beansprucht, der sich göttliche Macht anmaßte, die nur Gott zukommt. Gott ist der Garant der Freiheit des Menschen gegenüber innerweltlichen Machtansprüchen. Der Mensch kann sich sogar gegen Gott entscheiden, allerdings trägt er dann auch die Verantwortung dafür und muß einmal Rechenschaft ablegen. Freiheit steht im Zusammenhang mit der Entscheidung des Menschen zwischen Gut und Böse. Gott, der ins Herz des Menschen sieht und im Gewissen jeden Menschen anredet, ist der Garant des Guten, auch jeder Entscheidung für das Gute. Das Christentum hat wesentlich das Bewußtsein um die Freiheit und die Freiheitsgeschichte Europas geprägt. Wenn immer wieder gegenläufige Entwicklungen, Ideologien und Utopien aufgetreten sind und zeitweise ganze Völker verführt haben, so konnten sie doch das Bewußtsein um die Freiheit nicht auslöschen. Die Freiheit des Menschen gehört zum Kostbarsten der christlichen Lehre. Untrennbar verbunden damit ist die Verantwortung für das Gute, die jeder Mensch hat.
VII. Die soziale Dimension Zum christlichen Menschenbild gehört die soziale Dimension, die das aristotelische Denken auszeichnete. Der Mensch wird nicht als Einzelner, als Individuum geboren. Im Schöpfungsbericht heißt es: „Gott hat den Menschen als
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Mann und Frau erschaffen“. Damit ist die soziale Dimension gemeint, die in ihrem Kern dem Menschen vorgegeben ist. Die Erkenntnis, daß der Mensch Imago Dei ist, ist auch eingegangen in die Auffassung, daß der Mensch Person ist, also – wie Thomas von Aquin es formulierte, „das Vollkommenste in der gesamten Natur“. Dennoch darf dies nicht so verstanden werden, als ob der Einzelne sich selber genügen könnte. Er bedarf der Gemeinschaft, um sich zu entfalten; er braucht die „Mitmenschen“, um sich mit ihnen austauschen zu können, vor allem ereignet sich das Leben in ständigen Kooperationen. Es ist schlimm, wenn der Mensch sich sagen müßte: Du wirst von niemandem mehr gebraucht. Deshalb ist z. B. das Problem der Arbeitslosigkeit ein solch ungeheurer Verstoß gegen das Soziale, gegen das Miteinander, gegen die Verantwortung füreinander. Die soziale Dimension des Menschen wird sichtbar in der christlichen Einsicht, daß alle Menschen Kinder des einen Vaters sind und deshalb als Brüder und Schwestern verwandt – schlechtweg durch ihr Dasein. Noch mehr: So sehr die Menschen in ihren Fähigkeiten und Begabungen, in ihren Neigungen und Interessen ungleich sind, so verbindet sie doch eine ursprüngliche Gleichheit, nämlich in der unantastbaren Würde als je eigenes Bild Gottes. Die Gleichheit der Menschen, die zusammen mit der Freiheit das demokratische Zusammenleben bildet, ist ein Spiegelbild jener ursprünglichen Gleichheit vor Gott. Die soziale Dimension kommt auch im Bereich des sittlichen Versagens zum Ausdruck. Nicht umsonst erklärt Kain, als ihn Gott wegen des Mordes an seinem Bruder Abel zur Rede stellt: Bin ich denn der Hüter meines Bruders? Jeder Mensch trägt eine ursprüngliche Verantwortung für sein Leben, und dennoch sind wir zugleich verantwortlich für unsere Brüder und Schwestern. Die christliche Lehre von der Erbsünde, die wir inzwischen fast vergessen haben, wird heute erneut akut, wenn wir feststellen müssen, wie oft das Übel neue Übel hervorruft. Können wir die Ursachenkette des Übels, das auf der Menschheit lastet, durchbrechen? Und sind wir uns bewußt, daß auch die Erlösung durch Jesus Christus eine soziale Dimension hat und für alle Menschen gilt?
VIII. Einheit und Vielfalt der Kirche Jesus hat den Aposteln die Sendung erteilt, seine Frohbotschaft allen Menschen und Völkern „bis an die Grenzen der Erde“ zu verkünden. Der Sauerteig des Evangeliums sollte überall wirken. Wo immer die Apostel das Evangelium predigten, gründeten sie Gemeinden vor Ort und weihten geeignete Personen, die ihr Werk fortsetzen sollten. Die Kirche ist nicht gebunden – wie die heiligen Schriften des Alten Testaments – an ein bestimmtes Volk (Israel), auch wenn die Universalität des Missionsauftrages zunächst auf Schwierigkeiten gestoßen war. Sie ist ebenso wenig gebunden an die hellenistische und römi-
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sche Kultur des Mittelmeerraumes. Sie ist auch nicht an Europa gebunden, was schon dadurch vorgezeichnet war, daß einige Apostel sich auf den Weg bis hin nach Persien und Indien sowie nach Nordafrika und Äthiopien machten. Allerdings gibt die Geschichte des Christentums und der kirchlichen Struktur in Europa Aufschluß darüber, wie die Einwurzelung des Glaubens und des Christentums in die verschiedenen Völker vor sich ging. Während Petrus und seine Nachfolger in besonderer Weise für die Einheit der Kirche zu sorgen hatten, hatten die Bischöfe jeweils die Aufgabe, den Glauben und die kirchliche Gemeinschaft in die gegebenen kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse einzusenken, so daß sie wachsen und erstarken konnten. Auf diesem Wege erwiesen sich der Glaube und die kirchliche Gemeinschaft nicht als Fremdkörper oder bloße Ableger von einer Zentrale, sondern entwickelten sich als eigenständige Zentren, die freilich mit Rom verbunden waren. Diese Struktur der Kirche hat es möglich gemacht, daß der christliche Glaube über die örtliche Kirchengemeinschaft in das jeweilige Volk und seine Kultur einwurzelte. Der christliche Glaube erschien nicht als Ableger der jüdischen Synagoge, auch nicht als Ableger des römischen Weltreiches, vielmehr ging er eine Symbiose mit den Sitten und Gebräuchen der Franken und der anderen Germanen, der Völker in Italien, Spanien, Britannien sowie der Slawen usw. ein. Die Bischöfe waren nicht nur geistliche Hirten, sie trugen auch zur „christlichen Kultur“ bei, wobei die Einheit mit dem Papst alle Gefährdungen überstand. Der christliche Glaube und die christliche Kultur haben die Völkerschaften Europas miteinander verbunden und das Geschichtsbewußtsein des Kontinents geprägt. Bei allen Auseinandersetzungen und Streitigkeiten und Kriegen wußten die Menschen und Völker um diese Zusammengehörigkeit, die bis heute andauert. Zu den christlichen Wurzeln Europas gehört nicht nur die hierarchische Struktur der Kirche. Unschätzbares haben die Klöster und Ordensgemeinschaften zur Prägung und Formung des europäischen Kontinents beigetragen. Hier sind besonders Benedikt und seine leibliche Schwester Scholastika zu nennen. Mit dem Grundsatz des „Ora et labora“ sorgten die Mönche sowohl für die Kultivierung des Landes als auch für die Ausbreitung des Evangeliums und der Kirche. Die missionarische Arbeit durch Jahrhunderte hindurch hat das Christentum heimisch werden lassen. Angelsächsische Mönche haben geistliche Zentren geschaffen: auf der Insel Reichenau, von der aus noch vor Karl dem Großen die Christianisierung großer umliegender Gebiete in Angriff genommen wurde. Den größten Einfluß übte Bonifatius, der Apostel der Deutschen, aus, indem er die kirchliche Organisation Süd- und Westdeutschlands erneuerte und den Grundstein für die Evangelisierung der Sachsen legte. Hinzutraten im hohen Mittelalter die Franziskaner und die Dominikaner. Es folgten die Jesuiten, viele männliche und weibliche Ordensgemeinschaften, nicht zuletzt die vielen Gründungen im 19. Jahrhundert, die sich die Sorge um
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die Kranken und die Verbreiterung der Bildung zur Aufgabe machten. Lange Jahrhunderte war die Kirche die Trägerin von Bildung und Kultur, so wie die moderne Krankensorge auf der Arbeit und den Mühen von früher aufbaut. Das Netzwerk der kirchlichen Organisation und der religiösen Orden war eine gute Voraussetzung für die Entwicklung der theologischen Reflexion, die mit Albert dem Großen, Anselm von Canterbury, Thomas von Aquin, um nur diese zu nennen, Spitzenleistungen für ihre Zeit hervorbrachten. Man litt nicht an Minderwertigkeitskomplexen irgendwelcher Art, sondern war überzeugt, daß es zwischen Glaube und Vernunft letzten Endes keinen Gegensatz geben könne, weil beide Erkenntniswege, wie es später Pius XII. formulierte, ihre Quelle in Gott haben.
IX. Der Einsatz für Gerechtigkeit und Frieden Zu den Grundwerten, die die Gestalt Europas bestimmen, gehört das Ringen um Gerechtigkeit und Frieden. Die Kirche wurde nicht müde, die Regierenden auf das Gemeinwohl zu verpflichten. Allein die Tatsache, daß die Kirche für Gottes Gesetz eintrat und alle Christen, ganz besonders die Herrschenden mahnte, die Nächstenliebe zu praktizieren, wirkte als Gegengewicht gegen jene Kräfte, die nicht auf Recht und Gerechtigkeit, sondern auf Macht und Gewalt setzten. Viel zu wenig findet bisher Beachtung, wie es der Kirche, den Bischöfen und religiösen Kräften gelungen ist, allmählich durchzusetzen, was im Römischen Reich schon praktiziert worden war: die Wahrung des Rechts beim Inhaber der staatlichen Gewalt zu zentralisieren und der vielfach geübten Selbstjustiz ein Ende zu machen. Hans Maier hat darauf hingewiesen, daß eine Befriedung auf dem Gebiet des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation zunächst durch die Gottesfriedensbewegung im 9. Jahrhundert erreicht wurde, die dann in die Landfriedensbewegung überging. Der Kirche gelang es, daß der Friede an immer mehr Orten und „heiligen Zeiten“ nicht verletzt werden durfte. Wie froh wären wir heute, wenn es in den Muslimstaaten, in denen Selbstmordattentäter und Terroristen ausgebildet werden, eine ähnliche Bewegung in Gang gesetzt würde! – Und wie schwer tun wir uns mit der Frage, ob die christlichen Wurzeln, ob überhaupt Gott in der geplanten europäischen Verfassung einen Platz haben sollen. Dabei wäre es von größter Bedeutung, wenn dem „Souverän“, also dem Staatsbürger, seinen gewählten Abgeordneten und dem Regierenden die Grenzen ihrer Machtfülle bewußt würden! Daß der Staat, daß auch die Demokratie an vorgegebene Werte gebunden ist, diese Einsicht droht heute verloren zu gehen. Wir dürfen in unseren Bemühungen nicht nachlassen, die christlichen Wurzeln Europas bewußt zu machen, damit wir gegen neue Fehlentscheidungen, Ideologien und Utopien gewappnet sind.
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Abstract Anton Rauscher: The Christian Roots of the European Unification, In: The European Union as a Community of Values. Ed. by Dieter Blumenwitz, Gilbert H. Gornig and Dietrich Murswiek (Berlin 2005) pp. 19-27. The values and the community of values have taken shape through the changing process of the European history of thought. They are part of the groundwork which is essential for the life of individuals but also for the cohabitation of peoples. When considering the nature of these values, you have to analyse three sources. The first source is the Greek philosophy, which influenced the culture in the whole Mediterranean area, as well as in Asia Minor and the Near East. The second root of the European culture is the Roman legacy. The idea of law as the backbone of the cohabitation of a people was born in Rome. Christianity is the third source. Christianity brought about a new image of man, a spiritual and cultural development, which was determined by the church, as the entity which includes all Christians. Christianity created an image of a man who is a representation of God. God is represented as someone who addresses mankind. Secondly, the idea of the freedom of man characterizes the Christian image of man. The idea of the collective responsibility is closely related to this. Thirdly, the Christian image of man has a social dimension. All men are children of the Father, and are bound to each other by their original equality which derives from the fact that they are all a representation of God. Christianity and the Christian culture have bound together the peoples of Europe and have created the conscience of a common history of the continent.
Eine Verfassung für Europa? Von Hubert Isak
I. Einleitung „Wir, die Bürgerinnen und Bürger Europas und ihre Staaten, errichten mit dieser Verfassung die Europäische Union.“ Mit dieser offenbar der Präambel der US-Verfassung 1787 1 nachempfundenen, mit jener aber nicht identen 2 Formulierung, leitet Johannes Voggenhuber, MdEP und Mitglied des Konvents für die Fraktion der Grünen, seinen Entwurf einer Verfassung vom Dezember 2002 3 ein und will damit den Prozeß der Verfassungsgebung in der und für die Union in seiner Bedeutung offenbar ähnlich gewichten wie die Schaffung der verfassungsmäßigen Grundlagen der Vereinigten Staaten von Amerika. Nicht alle Akteure teilen indes diese Einschätzung wie beispielsweise die folgende Passage aus der „Minderheitenansicht“ des MdEP (fraktionslos) Charles Berthu, Mitglied im Konstitutionellen Ausschuß des EP und Vorstandsmitglied des „Mouvement pour la France“, vom 27. November 2002 zum Bericht des MdEP Bourlanges über die Typologie der Rechtsakte und die Hierarchie der Normen in der Europäischen Union 4 belegt: „In dem Bericht Bourlanges wird eine Rechtsordnung zwischen den Mitgliedstaaten und der Union skizziert, die von einer europäischen Verfassung beherrscht wird. Diese Vision eines pyramidenförmig aufgebauten Europa entspricht nicht der unsrigen. Vielmehr ___________ 1 „We the people of the United States, ..., do ordain and establish this Constitution for the United States of America.“ 2 Grundlage der neuen Europäischen Union und ihrer Verfassung wäre eben nicht nur der Wille der Völker, d.h. der Bürger und Bürgerinnen, sondern eben auch und ganz entscheidend jener ihrer Mitgliedstaaten. 3 CONV 499/03 vom 21.01.2003. Vgl. die Website des Konvents, auf der nach wie vor alle Dokumente und Beiträge online verfügbar sind: http://europeanconvention. eu.int/bienvenue.asp?lang=DE. Daneben haben auch zahlreiche andere Konventsmitglieder ebenso wie Forschungsgruppen, politische Parteien usw. Vorschläge erstattet, auf die in diesem Zusammenhang nicht näher eingegangen werden kann. Einen guten Überblick über die letztlich in den VerhandlungsProzeß eingegangenen Textvorschläge bietet Klemens H. Fischer, Konvent zur Zukunft Europas. Texte und Kommentar mit einem Geleitwort von Dr. Benita Ferrero-Waldner, Wien 2003. 4 A5-425/2002 vom 3.12.2002, 29.
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stellen wir uns ein multipolares und flexibles Europa vor, dessen höchste Normen die einzelnen nationalen Verfassungen sind.“ Ich meine, daß diese beiden Äußerungen in sehr prägnanter Weise jene Pole markieren, zwischen denen sich nicht nur die aktuelle Verfassungsgebung, sondern im Grunde die Entwicklung der Europäischen Integration (EI) insgesamt seit ihren Anfängen 1950 vollzieht: Auf einem Kontinuum pendeln Meinungen, Konzepte, Politiken und Modelle in Gestalt von Verfassungsentwürfen zwischen dem Endziel einer integrierten, so weit wie möglich demokratisch legitimierten, jedenfalls rechtsstaatlich verfaßten und mit „Europa“ gleichgesetzten Europäischen Union auf der einen und einem mehr oder weniger losen Zweckbündnis weiterhin souveräner Nationalstaaten, deren Aktionsmodus im wesentlichen durch die traditionelle, intergouvernementale Zusammenarbeit unter Heranziehung völkerrechtlicher Instrumente bestimmt ist, andererseits. Letztlich spiegelt auch die derzeitige EU-Konstruktion diesen Kompromisscharakter und das Fehlen einer von allen Beteiligten – oder auch nur den Mitgliedstaaten als den „Herren der Verträge“ – akzeptierten Leitidee der EI wider. Jede Zeit hat, so scheint es, ihre favorisierten Tendenzen: Derzeit scheint die seit vielen Jahren immer wieder geführte Debatte über eine Verfassung für die Europäische Union 5 in eine entscheidende Phase getreten zu sein. Seit Anfang Februar 2003 werden die Textentwürfe zu dem vom Präsidium des Konvents Ende Oktober präsentierten „Vorentwurf“ eines Verfassungsvertrages 6 debattiert. Nicht zufällig hat die deutsch-französische Achse der Union kurz davor am 15. Januar 2003 Reformvorschläge 7 präsentiert, die u.a. wegen der Idee zweier EU-Präsidentschaften (jene der Kommission vom EP, die des Europäischen Rates, von diesem selbst für 2 1/2 oder 5 Jahre gewählt) unverzüglich Aufsehen erregt, aber auf politischer Ebene in den Institutionen wie den MS fast durchaus negative Aufnahme gefunden haben. 8 ___________ 5 Zumeist auch als „Verfassung für Europa“ oder „Europäische Verfassung“ apostrophiert. Weiterhin: Verfassung. 6 CONV 369/02 vom 28.10.2002. 7 Vgl. „Deutsch-französischer Beitrag zur institutionellen Architektur der Europäischen Union“, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Pressemitteilung Nr. 21, 15.01.2003, http://www.bundesregierung.de/pressemitteilung,-459668/Deutsch-fran zoesischer-Beitrag.htm. 8 Einhellig quer durch die Parteien geht beispielsweise die Ablehnung in Österreich. Vgl. nur die Reaktion der österreichischen Außenministerin, der dabei „zu viele Fragen offen sind“; die SPÖ würde ebenfalls weiterhin das Rotationsprinzip bei den EUPräsidentschaften bevorzugen; Voggenhuber sieht den Vorschlag als „klaren Vorstoß in Richtung ‚Regierungseuropa‘ “ und bedauert, daß Schröder und Chirac aus all den Fragen der umfassenden Debatte des Konvents nur eine herausgesucht hätten, nämlich: „Wer darf im Hermelin auf dem Balkon erscheinen?“ Noch sei aber die Sache ja nicht gelaufen – Ferrero-Waldner: „Es soll nicht der Eindruck erweckt werden, daß durch eine deutsch-französische Einigung schon eine europäische Einigung erzielt worden ist.“
Eine Verfassung für Europa?
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Ich bin eingeladen, im Rahmen des Generalthemas dieser Tagung, die sich mit der EU als Wertegemeinschaft befaßt, der Frage nachzugehen, ob es eine Verfassung für Europa geben soll bzw. kann oder ob eine solche nicht ohnedies schon existiert. Dahinter steht die ganz grundsätzliche und nach wie vor unbeantwortete Frage, welche Gestalt die Union am Ende ihrer Entwicklung haben kann und soll und welchen Beitrag hierzu eine Verfassung leisten kann.
II. Verfassungsgebung in der EU 1. Wesen und Zweck einer Verfassung Die Debatte um Möglichkeit und Sinnhaftigkeit einer Verfassung für die EU ist von unterschiedlichem historischem Vorverständnis ebenso wie von disparaten Erwartungshaltungen geprägt. Meint EI vornehmlich die Integration von Märkten oder geht es um eine Harmonisierung von Rechtsordnungen im Interesse von Wirtschaft und Bürger, oder soll eine Verfassung der eigentliche Schlüssel zu einer Integration auch der Völker sein? Mit der Verabschiedung einer „richtigen“ Verfassung verbindet sich auch die Hoffnung der politischen Elite der MS, eine solche würde zu einem besseren Verständnis und damit auch einer stärkeren Identifikation mit „Europa“ 9 beitragen. Kein leichtes Unterfangen in einer Zeit, da – Umfragen von Eurobarometer zufolge – die vom Fernsehen gelieferten und kaum länger als 30 Sekunden dauernden „Infohappen“ die Hauptinformationsquelle der Bürger und Bürgerinnen darstellen. Feinheiten wie Pfeilerkonstruktion, Gemeinschaftsmethode oder Intergouvernementalismus interessieren die Bürger und Bürgerinnen zu Recht nicht: Sie möchten nur wissen, was kann die Brüsseler Maschinerie überhaupt leisten, wie wirkt sich ihr Handeln auf den/die Einzelne(n) aus, wie auf den jeweiligen Staat, die Region, die Gemeinde, das Unternehmen, das diese Person führt oder in dem sie beschäftigt ist. Da mag sich der Bürger/die Bürgerin immer weniger zufrieden geben mit der Auskunft, daß EI fortwährende politische Kompromißfindung erfordere und es an einem „Generalplan“ nach wie vor fehle. Salopp formuliert: Nach über 50 Jahren EI wollen viele Bürger und Bürgerinnen mit einiger Bestimmtheit wissen und mit darüber entscheiden können, wohin der Zug, in dem sie sitzen, eigentlich fahren soll und diese Entscheidung nicht mehr allein den politischen Eliten überlassen und von diesen gelegentlich ultimativ über mehr oder weniger bedeutsame „Fahrplanänderungen“ in Kenntnis gesetzt werden. Während Jahrzehnten war die EI nicht nur ein von den Eliten getragenes, sie war auch ein hauptsächlich über die Staaten und somit nur ___________ 9 Diese wird derzeit wohl noch ganz überwiegend nur vermittels der mitgliedstaatlichen Identität konstituiert.
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mittelbar legitimiertes Projekt. 10 Zwar hat der EuGH schon in frühen Jahren durch seine Rechtsprechung klargestellt, daß auch dem Einzelnen als Subjekt dieser neuen Rechtsordnung eine zentrale Funktion zukommt 11 , die Weiterentwicklung der primärrechtlichen Grundlagen der EI aber verblieb stets in den Händen der MS als den „Herren der Verträge“. Diese Konzeption ist in den letzten Jahren des Umbaus der EG in eine auch Politische Union mit immer stärkerer Akzentuierung auf Politikbereiche, die die Bürger und Bürgerinnen Europas unmittelbar in ihren Rechten tangieren (Stichwort: Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts) zunehmend in Frage gestellt worden. Der neofunktionalistisch begründete Hinweis auf die zu erwartenden politischen spill over-Effekte der wirtschaftlichen Integration vermögen immer weniger zu befriedigen. Die Kommentare zur Regierungskonferenz in Nizza 2000 und v.a. das Ergebnis des ersten Referendums zum Vertrag von Nizza in Irland im Juni 2001 12 haben es nicht an Deutlichkeit missen lassen, und allen Beteiligten ist mittlerweile klar geworden: Die Errichtung der EU vor mehr als 10 Jahren bedeutete nicht bloß eine Änderung des Firmennamens, sie markierte auch einen definitiven Wandel im „Unternehmensgegenstand“, der sich in der Verfassung niederschlagen mußte. Die Verankerung von die Union tragenden, den MS gemeinsamen Grundsätzen in Art. 6 Abs. 1 EUV und eines spezifischen Verfahrens zu ihrer Absicherung in Art. 7 EUV, die positivrechtliche Verpflichtung der Union auf die Grundrechte als Grundsätze des Gemeinschaftsrechts in Art. 6 Abs. 2 EUV, der über den seinerzeitigen Art. 2 EGV weit hinausgehende Zielkatalog in Art. 2 EUV markieren diesen Wandel auf einer „verfassungsrechtlichen“ Ebene; Regelungen wie jene zur gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) oder zur polizeilichen sowie zur justiziellen Zusammenarbeit in Zivil- und Strafsachen sowie überhaupt die Überführung der Bereiche Asyl und Einwanderung in die supranationale Gestion bestätigen dies im materiellen Recht. In einem gewissen Sinne spiegelt daher das ___________ 10
Zur Legitimationsproblematik ist das Schrifttum mittlerweile kaum mehr überschaubar. Es fällt aber auf, daß der Vorwurf des „Demokratiedefizits“ immer öfter zurückgewiesen wird. So etwa Moravcsik, In Defence of the „Democratic Deficit“: Reassessing Legitimacy in the European Union, JCMS 40 (2002), S. 603 ff.; zur Legitimation der EU insgesamt und den Möglichkeiten ihrer Stärkung durch verbesserte Vertragsänderungsverfahren vgl. zuletzt Isak, Verbesserte Verfahren zur Weiterentwicklung der verfassungsmäßigen Grundlagen der EU – ein Instrument zur Stärkung der Legitimation der Europäischen Integration?, in: Mantl/Puntscher-Rieckmann /Schweitzer (Hrsg.), Der Konvent zur Zukunft der Europäischen Union (2004), S. 13 ff. 11 Vgl. nur Rs. 26/62, van Gend & Loos, Slg. 1963, S. 1 oder Rs. 6/64, Costa/ENEL, Slg. 1964, S. 425. 12 Vgl. Hummer/Obwexer, Irlands „Nein zu Nizza“: Konsequenzen aus dem negativen irischen Referendum vom 07.06.2001, integration 3/2001, S. 237 ff. Das 2. Referendum am 19.10.2002 endete mit 62,9 % Pro-Stimmen bei einer Beteiligung von 48,5 % (vgl. Referendum Nizza I: 34,5% und 54,46% Gegenstimmen): NZZ Nr. 244 vom 21.10.2002, S. 1, 3.
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von Kritikern des Maastricht-Vertrages vor dem deutschen Bundesverfassungsgericht angestrengte Verfahren – hinsichtlich dessen ich weder Motivation noch Stoßrichtung gutheißen möchte – die im Prinzip richtige Empfindung, daß sich mit diesem Vertrag die Qualität der EI substanziell verändern würde. Die EU ist heute ohne Zweifel ein mit zwar je nach Politikbereich unterschiedlich intensiver Verbandsgewalt ausgestatteter Staatenverbund, die sich immer direkter, manchmal in einem staatlichen Handeln sehr ähnlicher Weise auf den einzelnen auswirkt, und es bedarf daher einer Einhegung dieser Gewalt, es bedarf einer möglichst klaren Abgrenzung der Handlungsbefugnisse und Zuständigkeiten gegenüber den MS, auch wenn diese weiterhin die entscheidende und unverzichtbare Konstituante dieses Verbundes darstellen. Somit kann als Zwischenergebnis festgehalten werden: Die Fortentwicklung der EI zu einer Politischen Union, auch zu einer Wertegemeinschaft, ist konsequent, notwendig, richtig und somit begrüßenswert. Aus der Perspektive des Bürgers besteht verstärkter Bedarf an einer Verfassung der EU. Worauf es jetzt ankommt, ist, diesen Schritt in einer Weise abzusichern, den dem Standard westeuropäischer, demokratischer Verfassungsstaaten entspricht. Ehe ich mich näher den Schwierigkeiten der Verfassunggebung zuwende, erlauben Sie mir einige kurze Bemerkungen zu zwei Einwänden, die in diesem Zusammenhang immer wieder erhoben werden: Der eine richtet sich gegen die im politischen Sprachgebrauch gängige Gleichsetzung von EU und Europa; der zweite läßt sich in der Frage zusammenfassen, ob es denn dem Handeln der Gemeinschaften und der Union bislang an einer entsprechende Grundlage gefehlt habe, dieses also sozusagen „verfassungslos“ oder gar „verfassungswidrig“ erfolgt sei! Während u.a. die erwähnte Verankerung von Grundwerten und Grundrechten sowie die grundsätzliche Zielsetzung einer Gesamteuropa umfassenden Integration durchaus eine Gleichsetzung als Postulat rechtfertigen und Ansatzpunkte dafür bieten, eine Verfassung der Union à la longue als Basis einer gesamteuropäischen Verfassung zu akzeptieren, zeigt andererseits die Diskussion darüber, ob mit der Türkei Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden sollen, daß die Antwort auf diese Frage selbst dann nicht unstrittig ist, wenn wie im Fall der Türkei ihr Charakter als „europäischer“ Staat von der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft implizit bereits mit dem Abschluß des Assoziierungsabkommens 1963 anerkannt worden ist. 13 Die Replik auf den zweiten möglichen Einwand hängt vom zugrunde gelegten Verfassungsbegriff ___________ 13 Vgl. näher dazu Isak, Muß die Türkei Mitglied der Europäischen Union werden?, in: Calliess/Isak (Fn. mwN. Eine indirekte Grenzziehung haben zunächst Kommission (2003) und dann Rat (2004) mit der Annahme einer spezifisch auf jene Staaten, die jedenfalls derzeit keine „europäische“ Perspektive besitzen, orientierten „neuen Nachbarschaftspolitik“ vorgenommen; vgl. zuletzt: Mitteilung der Kommission: Europäische Nachbarschaftspolitik. Strategiepapier, KOM (2004) 373 endg. vom 12.05.2004.
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und -verständnis ab: Gängige Definitionen aus Politikwissenschaft, Verfassungsrechtslehre und -theorie belegen den traditionellen Zusammenhang zwischen Verfassung und Staatlichkeit. Die Verfassungsrechtslehre sieht die Verfassung als Teil der staatlichen Rechtsordnung (Verfassung im juristischen Sinn) und meint damit jene Vorschriften eines Staates, die in ihrer Gesamtheit dessen Verfassungsrecht bilden. Die Abgrenzung zu anderen Normen der Rechtsordnung erfolgt durch deren besondere Merkmale und/oder auch inhaltlich durch den Regelungsgegenstand. Zu typischen Verfassungsregelungen zählen die Bestimmungen über Ziele und Aufgaben des Staates, über die Organisation des Staatsverbandes, die Staatsorgane, die Grundsätze für die Ausübung der Staatsgewalt, die Gliederung des Staates, die Kontrolle der Staatsorgane, Grundrechtsverbürgungen, die Beziehungen zur übrigen Staatenwelt usw. Die Verfassungstheorie versteht unter der Verfassung alle für den Bestand und die Funktionsweise des Staates fundamentalen Entscheidungen und Ordnungselemente, mithin die Grundordnung des Staatenverbandes. 2. Verfassung nicht-staatlicher Einheiten, insb. Internationaler Organisationen Die historische Bindung von Verfassungsgebung an Staatlichkeit schließt indes nicht aus, daß auch anders strukturierte Handlungssysteme in ähnlicher Weise und zum selben Zweck „verfaßt“ werden. 14 In der Tat kennt die internationale Rechtsordnung eine Reihe von „constituent documents“ Internationaler Organisationen 15 und akzeptiert sie als solche, selbst wenn sie nicht explizit als solche bezeichnet werden, wohl aber diese Funktion erfüllen. 16 Für die Europäische (Wirtschafts-) Gemeinschaft hatte der EuGH schon 1986 in der bekann___________ 14 A.A. Auffassung etwa Grimm, der in seinem Beitrag „Braucht Europa eine Verfassung?“, JZ 1995 zwar die Verfassungsfähigkeit und -bedürftigkeit der Union bestätigt und auch anerkannt, daß die Verträge die Verfassungsfunktion erfüllten; sie seien aber keine Verfassung im Vollsinn, weil im Willen der MS, nicht jenem des Unionsvolkes begründet; am Ende bleibe Verfassungsgebung im eigentlichen Sinn somit an Staatlichkeit gebunden: „Das dem Staatenverbund gemäße rechtliche Fundament ist der Vertrag. Er besitzt alle Eigenschaften, die die rechtliche Bindung der Gemeinschaftsgewalt erlauben, läßt aber die Grundentscheidungen über die Gemeinschaft bei den Mitgliedstaaten, wo sie demokratisch kontrolliert und verantwortet werden können. Eine Europäische Verfassung könnte die bestehende Kluft nicht überbrücken und müßte folglich die mit ihr verbundenen Erwartungen enttäuschen. Die durch sie vermittelte Legitimation wäre eine Scheinlegitimation. Insofern bleibt die Verfassung am Ende doch auf den Staat bezogen, und wer sie für Europa fordert, sollte wissen, welche Bewegung er damit in Gang setzt.“ 15 Mit dem Begriff „constituent documents“ ist sowohl deren Charakter als Gründungsakt wie auch als „Verfassungsurkunde“ der Organisation erfasst. 16 Vgl. nur die allgemein als „Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft“ anerkannte Satzung der Vereinten Nationen.
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ten Entscheidung Les Verts 17 den Verfassungscharakter der Gründungsverträge anerkannt, diese als „Verfassungsurkunde der Gemeinschaft“ qualifiziert und damit die damals im Vertrag explizit nicht vorgesehene Anfechtbarkeit rechtswirksamer Handlungen des EP begründet: Im umfassenden Rechtsschutzsystem der EWG bedürfe es einer Kontrolle darüber, ob Handlungen der MS oder der Organe „im Einklang mit der Verfassungsurkunde der Gemeinschaft, dem Vertrag“ stehen. Dennoch wurde die Situation aus verschiedensten Gründen als unbefriedigend empfunden, so daß v.a. ab Mitte der 70er Jahre immer wieder Anläufe unternommen wurden, der Integrationsgemeinschaft eine „wirkliche“ Verfassung zu geben. 18 Ohne explizit von Verfassungsgebung zu handeln, habe, so Hummer 19 , die Erklärung Nr. 23 zur Zukunft der Union in der Schlußakte der RK von Nizza 2000 die Union und ihre Akteure, insb. also die MS, erstmals gewissermaßen offiziell verpflichtet, darüber nachzudenken, ob die bisherige „sui generis-Verfaßtheit“ dieser Integrationsgemeinschaft noch zeitgemäß ist oder ob sich beim derzeitigen Entwicklungsstand nicht eine Übernahme staatsrechtlicher Strukturprinzipien (einschließlich einer vertikalen Kompetenzverteilung, Gewaltenteilung, einem Grundrechtskatalog usw.) anböte. Letztlich gehe es darum, daß sich diese durch ihre besondere „Eingriffstiefe“ gekennzeichnete Verbandsgewalt ‚(staatsrechtlich) verfassen‘ lassen (müßte) – dies alles, ohne dabei aber gegenwärtig ihre völkerrechtlich-staatsbündische Qualität gegen eine staatsrechtlich-bundesstaatliche Natur eintauschen zu wollen. M.E. zutreffend hat der Schweizer Völker-, Staats- und Europarechtler Thürer die EU-Verfassung neben Staats- und völkerrechtlicher Verfassung als „besonderen Typus“ qualifiziert, der sich aus ihrem autonomen Charakter und dem Verfassungsverbund mit den Verfassungsordnungen der MS 20 ergebe. Ein ___________ 17
Rs. 294/83, Parti Ecologiste „Les Verts“/EP, Slg. 1986, S. 1339 (insb. Rdnr. 23). In Rdnr. 21 seines Gutachtens 1/91 zum ersten Entwurf des Vertrages über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR I) hat der EuGH erneut bekräftigt, daß „der EWGVertrag, obwohl er in der Form einer völkerrechtlichen Übereinkunft geschlossen wurde, nichtsdestoweniger die grundlegende Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft (darstellt)“. Selbst vom dt. BVerfG wurde ja in seinem berühmten Maastricht-Urteil 1993 akzeptiert, daß „der EWG-Vertrag ... gewissermaßen die Verfassung dieser Gemeinschaft“ darstelle (BVerfGE 22, 96). 18 Dazu umfassend Hummer, Ursprünge, Stand und Perspektiven der Europäischen Verfassungsdiskussion, in Griller/Hummer (Hrsg.), Die EU nach Nizza. Ergebnisse und Perspektiven, Springer Wien New York 2002 (SR der Österr. Gesellschaft für Europaforschung (ECSA Austria), Bd.4), S. 325 ff. Vgl. insb. den Tindemans-Bericht 1975, den Genscher-Colombo-Plan 1981, die Feierliche Deklaration von Stuttgart 1983, den Spinelli-Entwurf 1984 sowie den Herman-Entwurf 1994; dazu kamen zahlreiche von der Wissenschaft entwickelte Projekte. 19 Hummer (Fn. 18), S. 325. 20 I. Pernice beschreibt diese Konstellation als „multilevel constitutionalism”: Multilevel Constitutionalism and the Traty of Amsterdam: European Constitution-Making Revisited?, CMLR 36 (1999), S. 703 ff.
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zeitgemäßer Verfassungsbegriff, so Thürer, könne sich nicht auf eine bestimmte Urkunde beschränken; Verfassung sei vielmehr als ein Staaten wie internationale und supranationale Organisationen „durchziehender, verbindender Verfassungsprozeß“ zu verstehen. 21 Wichtige Motive der Verfassungsdebatte waren nach Hummer 22 die Rüge des Demokratie- und Legitimitätsdefizits 23 , die Qualifikation der Grundrechtscharta 24 als Basis für eine künftige Verfassung, die Diskussion um die Herausbildung „europäischer politischer Parteien“ und schließlich die Forderung nach einer neuen Rangordnung und Typologie der gemeinschaftlichen Rechtsquellen. Alle diese Fragen bzw. Postulate spielen in der gegenwärtigen Verfassungsdebatte im Rahmen des Konvents eine herausragende Rolle.
3. Besondere Aspekte der Verfassungsgebung in der EU Wir haben es also mit dem Versuch zu tun, einer Entität mit bloß abgeleiteter, beschränkter, abhängiger Handlungsmacht, bei der der Souverän nur mittelbar eingebunden ist, in der keine Klarheit – und schon gar keine Einigkeit – über das Endziel und schließlich auch keine Einigkeit hinsichtlich des anzuwendenden Verfahrens besteht, eine Verfassung zu geben, die all die oben genannten Ansprüche befriedigen und Erwartungen erfüllen soll. Weiter erschwert wird der Prozeß durch z. T. festgefahrene politische Positionen einzelner Mitgliedstaaten, da und dort fehlendem politischen Willen zu einer wirklich dauerhaften Lösung; nicht zu unterschätzen sind auch nationale Eitelkeiten und Interessen. Das Haupthindernis zum gegenwärtigen Zeitpunkt scheint aber die Erkenntnis zu sein, daß die Konstitutionalisierung der Union nicht bloß bedeutet, ihr einen neuen Verfassungstext zu geben, sondern das Abgehen von der bisherigen Jean Monnet-Methode, wonach eigentlich der Weg das Ziel ist, zugunsten der Fixierung einer politischen Finalität. 25 Zweifellos würde ein Übergang von der Verbandsgestalt sui generis zu einem traditionellen Gebilde des Staats- oder Völkerrechts der Union eine andere Qualität verleihen und ___________ 21 Thürer, Föderalistische Verfassungsstrukturen für Europa – eine zweite Chance der Entfaltung, integration 2000, S. 89 ff. (S.92). 22 Hummer (Fn. 18), S. 347 ff. m.w.N. 23 Besonders pointiert der Vizepräsident des EP, Alber, 1994: „Die EG ist überhaupt keine Demokratie. In jedem der zwölf MS wäre eine solche Gesetzgebung verfassungswidrig. Deshalb bräuchten wir vor der Verfassung eigentlich eine Revolution... Der EGMinisterrat ist – neben der Cosa Nostra – noch das letzte übrig gebliebene Machtmonopol in Europa“. 24 Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. C 364 vom 18.12.2000, S.1. Vgl. dazu Meyer, Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Baden-Baden 2003. 25 Hummer (Fn. 18), S. 358 f. m.w.N.
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einen Paradigmenwechsel darstellen. Ist ein solcher Schritt als „Nebenprodukt“ unvermeidlich, oder kann (und soll) es Verfassungsgebung unter Beibehaltung des besonderen Charakters der Union geben? Ich meine, man kann auf der Grundlage der bisherigen Entwicklung letzteres bejahen. Die Errichtung der Union durch den Vertrag von Maastricht, das Scheitern des ersten Versuchs einer Institutionenreform durch den Vertrag von Amsterdam (das noch etwas durch den Erfolg der Vergemeinschaftung von Teilen der dritten Säule kaschiert wurde), die in Inhalt wie Ablauf allgemein (vielleicht mit Ausnahme des Gastgebers Frankreich) als ziemlich unbefriedigend empfundene Regierungskonferenz von Nizza 26 in Verbindung mit der in der Erklärung Nr. 23 getroffenen Entscheidung, unmittelbar nach Abschluß der Regierungskonferenz mit einer umfassenden Debatte über die Zukunft der Union beginnen zu wollen – all diese Entwicklungen sind Ausdruck einer zuvor nicht bekannten Zuspitzung und Konkretisierung der Verfassungsdebatte, ohne daß von den maßgeblichen politischen Kräften damit eine „Staatswerdung“ der Union als unabdingbar gesehen worden wäre. Mit der Erklärung von Laeken zur Zukunft der Europäischen Union 27 wurde der in der Erklärung [Nr. 23] zur Zukunft der Union 28 in Nizza zunächst auf nur vier Themen (genauere Abgrenzung der Kompetenzen zwischen Union und MS, Status der Grundrechtscharta, Vereinfachung der Verträge und Rolle der nationalen Parlamente in der europäischen Architektur) eingeschränkte Gegenstand der Zukunftsdebatte in einen über 60 Fragen umfassenden Fragenkatalog aufgelöst, der nunmehr tatsächlich alle die Zukunft der Union berührenden Themen erfaßte, ohne sie bereits vorweg zu strukturieren oder zu hierarchisieren. Folgerichtig stellte sich damit „die Frage, ob diese Vereinfachung und Neuordnung [der Verträge, Anm. Verf.] nicht letztlich dazu führen sollte, daß in der Union ein Verfassungstext angenommen wird.“ 29 Die Arbeiten an einem solchen Dokument wurden einem Konvent 30 übertragen, dessen Einsetzung, Zusammensetzung, ___________ 26 Vgl. dazu etwa Isak, Zur Entwicklungsfähigkeit von Recht und Struktur der Europäischen Union, in: Hummer (Hrsg.), Paradigmenwechsel im Europarecht zur Jahrtausendwende. Ansichten österreichischer Integrationsexperten zu aktuellen Problemlagen. Forschung und Lehre im Europarecht in Österreich (2004). 27 Schlußfolgerungen des Vorsitzes. Europäischer Rat (Laeken), 14. und 15.12.2001, Anlage I, Dok. SN 300/1/01 REV 1, S. 19 ff. 28 ABl. Nr. C 80 vom 10.03.2001, S. 1 ff. (S. 85 f.). 29 Erklärung von Laeken (Fn. 27), S. 24. 30 Diese neben den Regierungsvertretern insb. auch solche des EP und der nationalen Parlamente der MS (und der Kandidatenstaaten) einschließende Versammlung hatte es schon bei der Formulierung der Grundrechtscharta ermöglicht, durch die breitere Gesprächsbasis, zu der auch die Zivilgesellschaft ihre Beiträge zu leisten eingeladen war, eine erheblich höheres Maß an Akzeptanz und damit auch Legitimität der angenommenen Texte zu erreichen. Mit Recht wurde das Konventsmodell daher trotz mancher Mängel generell als vielversprechende Erneuerung des Verfahrens zur Weiterentwicklung der EI eingeschätzt. Aus der großen Zahl der Beiträge hierzu siehe nur Hobe,
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Arbeitsmethoden und Mandat der ER von Laeken ebenfalls beschloß und der in „möglichst breit und transparent“ angelegter Weise die dann erforderliche nächste Regierungskonferenz vorbereiten sollte. Das Ergebnis der Arbeiten des Konvents sollte „ein Abschlußdokument [sein], das entweder verschiedene Optionen mit der Angabe, inwieweit diese Optionen im Konvent Unterstützung gefunden haben, oder – im Falle eines Konsenses – Empfehlungen enthalten kann.“ 31 Im Zuge der Arbeiten hat sich im Konvent sehr rasch eine Eigendynamik entwickelt, die in Verbindung mit dem Gestaltungswillen der Konventsmitglieder (den Conventionels) deutlich in Richtung eines einheitlichen Textes (mit entsprechend größerer Autorität), der der Regierungskonferenz vorgelegt werden soll weisen, weisen.
III. Ausgewählte Fragen des Vorentwurfs 2002 und der Artikelentwürfe 1-16 1. Das „Skelett“ Mit der Vorlage der Abschlußberichte der elf Arbeitsgruppen 32 und drei Arbeitskreise 33 hat der Konvent seine Diskussionsphase abgeschlossen und ist in die sog. Entwurfsphase eingetreten. Diese wie schon zuvor die erste Phase, die einer möglichst offenen und umfassenden Debatte der einzelnen Themen in den Arbeitsgruppen wie auch im Plenum gewidmet war, wurde von zahlreichen Textentwürfen von Einzelpersonen wie Institutionen und politischen Gruppierungen begleitet, auf die hier nicht näher eingegangen werden muß. 34 ___________ Bedingungen, Verfahren und Chancen europäischer Verfassungsgebung: Zur Arbeit des Brüsseler Verfassungskonvents, EuR 2003, S. 1 ff.; Isak, Entwicklungsfähigkeit (Fn. 26), S. 105; Lachmayer, Das Konventsmodell. Organisationsrecht zwischen Pragmatismus und Transparenz, juridikum 2003, S. 68 ff.; Lenaerts/Desomer, New Models of Constitution-Making in Europe: The Quest for Legitimacy, CMLR 39 (2002), S. 1217 ff.; Rack/Fraiß, Der Konvent zur Zukunft Europas – ein neues Modell demokratischer Entscheidungsfindung, Journal für Rechtspolitik 2002, S. 219 ff. 31 Vgl. ER von Laeken (Fn. 27), Schlußfolgerungen, Ziff. 3 und Erklärung, Kap. III. 32 http://european-convention.eu.int/doc_wg.asp?lang=DE. 33 http://european-convention.eu.int/doc_CIRCLE.asp?lang=DE. 34 Wegen ihres Umfanges und „Reifegrades“ i.S. eines umfassenden Verfassungstextes besonders hervor zu heben sind m. E. der sog. „Frascati-Entwurf“ der Fraktion der Europäischen Volkspartei im EP und der im Auftrag von Kommissionspräsident Prodi erarbeitete, aber nicht von der Kommission als Institution angenommene Text „Penelope“. Der EVP-Text „The Constitution of the European Union“ wurde am 06.11.2002 von der EVP-Gruppe in Frascati angenommen, im 12.2002 als Diskussionsbeitrag im Konvent verteilt und in einer überarbeiten, einen Zweiten Teil einschließenden Fassung vom 27.01.2003 formell vom MdEP Brok als Beitrag in den Konvent eingebracht (CONV 325/2/02 vom 07.03.2003). Der in einer AG unter Leitung von Lamoureux erarbeitete Text „Penelope“ bezeichnet sich selbst als „Durchführbarkeitsstudie: Beitrag
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Am 28. Oktober 2002 hat der Vorsitzendes des Konvents, Giscard d'Estaing namens des Präsidiums unter dem Titel „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ 35 den „Vorentwurf“ eines Verfassungsvertrages vorgelegt und mit diesem ersten „offiziellen“ Text die Arbeiten in ihre konkrete Formulierungsphase übergeleitet. Damit sollte die Struktur eines „etwaigen Vertrags veranschaulicht werden“, nicht aber durch die Aufnahme oder Nichtaufnahme bestimmter Artikel dem Ergebnis der Beratungen vorgegriffen werden. Der am 17. Oktober im Präsidium verteilte Entwurf hat dem Vernehmen nach heftigen Widerstand insb. des irischen und des dänischen Vertreters hervorgerufen. Zusätzlich wurde die Debatte im Vorfeld durch ein Interview Giscards mit dem „Spiegel“ vom 21. Oktober 2002 angeheizt, in dem dieser vorgeschlagen hatte, Staaten, die sich nicht in der Lage sähen, die Verfassung anzunehmen, auszuschließen; wenn dieser Staat aber nur einige wenige Punkte nicht akzeptieren könne, so werde man eine Lösung nach dem Muster der Wirtschafts- und Währungsunion finden können. 36 In Teil A enthält der Giscard-Entwurf eine Übersicht über den möglichen Inhalt des Verfassungsvertrages und in Teil B eine zusammenfassende „Kurzbeschreibung des Textes“, d. h. eine Art Erläuterung des ins Auge gefassten Regelungsgehalts der jeweiligen Bestimmung. Die Struktur betrifft den künftigen ersten Teil des Vertrages, in einem 2. Teil würden die übrigen Regelungen der bisherigen Verträge, soweit sie übernommen werden, aber eben nicht grundlegenden Verfassungscharakter aufweisen, zusammengefasst, wie das schon die Studiengruppe des EHI in Florenz vorgeschlagen hatte. 37 Die zehn Titel der „Struktur der Verfassung“ sollen demnach die Definition der Union und ihrer Ziele, Regelungen zu Unionsbürgerschaft und Grundrechten, den Unionskompetenzen, den Institutionen der Union, zur Durchführung von Unionshandlungen, den Finanzen und zur Mitgliedschaft, aber auch zu neuen Themen wie dem „demokratischen Leben der Union“, dem „Handeln der ___________ zum Vorentwurf einer Verfassung der Europäischen Union. Arbeitspapier“, präsentiert aber auf 185 S. einen detaillierten Entwurf, der auch für so heikle Fragen wie eine allfällige Nichtratifikation der neuen Verfassung durch einzelne MS (weitgehend) system- und rechtskonforme Lösungsvorschläge anbietet! Das Dokument wurde zwar auf der Website der Kommission veröffentlicht, aber ausführlich vermerkt, daß es sich um einen Entwurf handle, „für den die Kommission keinerlei Verantwortung übernimmt“. 35 Vgl. oben Fn. 6. 36 Der Entwurf selbst sah nur die Möglichkeit eines freiwilligen Austritts aus derUnion vor. 37 Europäisches Hochschulinstitut/Robert Schuman Centre for Advanced Studies, Ein Basisvertrag für die Europäische Union. Studie zur Neuordnung der Verträge. Abschlußbericht, am 15.05.2000 Herrn Romano Prodi, Präsident der Europäischen Kommission,übergeben. http://www.iue.it/RSCAS/Research/Institutions/couvAbschluß (2). pdf.
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Union in der Welt“ oder zu den Beziehungen zur „unmittelbaren Umwelt“ der Union (d. h. den Nachbarstaaten) umfassen. Der II. Teil („Unionspolitiken und deren Durchführung“) würde die „materiellen“ Vorschriften zu den internen wie externen Politikbereichen einschließlich Verteidigung sowie jene zur Arbeitsweise der Union, d.h. die Detailregelungen zu den Institutionen enthalten. Die „Allgemeinen und Schlußbestimmungen“ betreffend die Aufhebung der früheren Verträge, den territorialen Anwendungsbereich, die Revisionsverfahren, Annahme, Ratifikation und Inkrafttreten sowie Geltungsdauer und Sprachenregelung würden Teil III. bilden. Die herausragenden, schon aufgrund der noch mit Text ausfüllungsbedürftigen Struktur erkennbaren Neuerungen der Verfassung gegenüber der derzeitigen Rechts- bzw. Textlage beträfen u.a. folgende zentrale Verfassungsfragen: Mit der ausdrücklichen Zuerkennung einer Rechtspersönlichkeit an die Union würde zum einen die derzeitige unbefriedigende Situation bereinigt, in der zwar nach außen hin „die Union“ wahrgenommnen wird, rechtlich aber penibel zwischen ihr und der Rechtsperson EG unterschieden werden muß; zugleich würde damit eine sich in der Praxis abzeichnende Abwicklung bestätigt, wonach nämlich die Union allein verantwortlich völkerrechtliche Verträge mit Drittstaaten abschließen kann und solcherart implizit die Anerkennung einer partiellen Rechtssubjektivität erfährt. 38 Es zeichnet sich in einer noch zu spezifizierenden Form die Integration der Grundrechtscharta ab, womit die Union erstmals über einen eigenen, schriftlich fixierten Grundrechtskatalog verfügen würde. Wegweisend wird auch die ausdrückliche Verankerung und Beschreibung der verschiedenen Kompetenzkategorien sowie der Grundsätze ihrer Ausübung im Vertrag selbst sein, womit die in Rechtsprechung und Doktrin entwickelten Qualifikationen und Prinzipien anerkannt würden; den Besonderheiten der GASP würde durch eine eigene Kompetenzkategorie Rechnung getragen. Unbestritten scheint die Verschmelzung zu oder das Aufgehen der bisherigen drei Säulen in einer einheitlichen institutionellen Struktur; umstritten, weil letztlich Machtfragen betreffend, dürften die konkreten Regelungen über den Umfang der Befugnisse der einzelnen Amtsträger sein. 39 Der Schaf___________ 38
So z. B. die im Kontext der Polizei- bzw. Militärmissionen in Bosnien-Herzegowina und Mazedonien mit den Stationierungsländern ebenso wie mit den zu den Kontingenten beitragenden Drittstaaten geschlossenen, jeweils auf Art.24 EU gestützten Abkommen. Vgl. nur Abkommen zwischen der Europäischen Union und Bosnien und Herzegowina über die Tätigkeit der Polizeimission der Europäischen Union (EUPM) in Bosnien und Herzegowina, ABl. L 293 vom 29.10.2002, S. 2, und Abkommen zwischen der Europäischen Union und der Republik Polen über die Beteiligung der Republik Polen an der Polizeimission der Europäischen Union (EUPM) in Bosnien und Herzegowina, ABl. L 64 vom 07.03.2003, S. 38. 39 So z. B. die Idee einer länger als 6 Monate dauernden Präsidentschaft, die Modalitäten der Wahl des Präsidenten usw. Dies gilt auch für die tatsächlichen Befugnissen eines künftigen „Außenministers der Union“.
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fung zusätzlicher Institutionen wie etwa dem von Giscard vorgeschlagenen „Kongreß der Völker“ werden wenig Chancen eingeräumt. Allgemein begrüßt wird auch der Versuch, eine Straffung des Rechtsquellensystems (Europäische Gesetze, Rahmengesetze und Beschlüsse sollen die wichtigsten Rechtsaktformen sein) und eine drastische Reduktion der verschiedenen Rechtssetzungsverfahren (mit dem Mitentscheidungsverfahren als „Standardverfahren“) herbei zu führen. Hinter dem Titel „Das demokratische Leben der Union“ verbirgt sich mehr oder weniger Bekanntes: die Gleichheit der Unionsbürger vor den Institutionen; der Grundsatz der partizipatorischen Demokratie (Transparenz; Beteiligung von Bürgervereinigungen am Leben der Union usw.); einheitliches Wahlverfahren für das EP; Öffentlichkeit der Debatten von EP und Rat (wenn Gesetzgeber); Abstimmungsregeln (einschließlich Möglichkeit der „konstruktiven Enthaltung“). Hier wird es sehr darauf ankommen, inwieweit diese Zusagen durch konkrete Regelungen mit Substanz erfüllt werden. Die (besonderen) Beziehungen zu den Nachbarstaaten der Union sollen auf der Basis einer eigenen, neuen Rechtsgrundlage gestaltet werden. Auch diesbezüglich wird man erst auf Grund der konkreten Texte abschätzen können, ob damit tatsächlich neue Möglichkeiten eröffnet werden oder ob diese Bestimmung nicht vielmehr darauf abzielt, durch besonders „privilegierte Beziehungen“ (aus der Sicht der Union verfrühte oder gar unerwünschte) Beitrittsaspirationen der betreffenden Länder zu dämpfen.
2. Die ersten Artikelentwürfe Am 6. Februar 2003 hat das Präsidium den Mitgliedern des Konvents den Entwurf der Artikel 1 bis 16 des Verfassungsvertrags samt Erläuterungen hierzu vorgelegt 40 und damit die intensive Diskussionsphase im Plenum eingeleitet. Diese Artikelentwürfe orientieren sich an der im oben skizzierten Präsidiumsentwurf vom Oktober 2002 grundgelegten Struktur, berücksichtigen aber dem Begleitvermerk des Präsidiums zufolge auch bereits die Ergebnisse bzw. Empfehlungen der Arbeitsgruppen und schließen die Zielvorstellungen ein, die sich bei den Debatten hierzu im Plenum bereits erkennen ließen. Diese Debatte wird sich allerdings nicht einfach gestalten, wie schon die Tatsache belegt, dass allein zu diesen 16 Artikeln mehr als 1000 Änderungs- und Ergänzungsanträge ___________ 40 CONV 528/03 vom 06.02.2003. Diese Artikel-Entwürfe betreffen Definition und Ziele der Union (Art. 1-4), Grundrechte und Unionsbürgerschaft (Art. 5-7), sowie den heiklen Titel III über die Zuständigkeiten der Union (Art. 8-16). Im weiteren zitierte Artikelentwürfe beziehen sich auf dieses Dokument. Mittlerweile (26.02.2003) liegt auch der erste „Entwurf der Artikel 24 bis 33 des Verfassungsvertrages“ vor (CONV 571/03 vom 26.02.2003).
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eingebracht wurden. 41 Durch Beschränkung der Redezeit auf jeweils 2 Minuten und die Möglichkeit zu ad-hoc-Interventionen soll im Plenum dennoch eine effektive Aussprache ermöglicht werden. Erlauben Sie mir, einige der vorlegten Textvorschläge kurz zu kommentieren und anhand dieser wenigen Beispiele die Schwierigkeiten und Chancen anzudeuten, die die Erarbeitung einer Verfassung für die EU in sich birgt; für eine umfassende Stellungnahme ist es einerseits zu früh, andererseits würde eine solche Rahmen und Zielsetzung dieses Beitrages überschreiten. Gemäß Art. 1 Abs. 1 werde mit dieser Verfassung „[E]ntsprechend dem Wunsch der Völker und Staaten Europas, ihre Zukunft gemeinsam zu gestalten, ... eine Union ... gegründet, in deren Rahmen die Politiken der Mitgliedstaaten aufeinander abgestimmt werden und die in föderaler Weise bestimmte gemeinsame Zuständigkeiten wahrnimmt.“ Abgesehen davon, daß die Formulierungen recht allgemein gehalten sind, die Qualifikation der Union als bloßer „Rahmen“ für eine „Abstimmung der Politiken der MS“ als Rückschritt gegenüber dem bereits Erreichten, nämlich tatsächlicher Integration qualifiziert werden könnte und aus dieser Beschreibung auch nicht erkennbar ist, inwieweit diese tatsächlich den Willen nicht nur der MS, sonder auch der Völker widerspiegelt, sticht natürlich sofort das Reizwort „föderal“ ins Auge: Die Qualifikation als eine Union, „die in föderaler Weise bestimmte gemeinsame Zuständigkeiten wahrnimmt“, bleibt letztlich ohne wirkliche Aussagekraft, dürfte aber ausreichen, die bekannten Reflexe mancher Regierungen gegen ein solches Projekt auszulösen. Zwar hat das Präsidium in der Debatte vom 27./28. Februar 2003 erklärt, daß „föderal“ i.S. einer Verwaltungsform, in der Zuständigkeiten in föderaler Weise wahrgenommen würden, gemeint sei, nicht aber, daß die Union eine Föderation von Staaten (oder gar ein föderaler Staat) werden solle, dennoch wurde im Plenum sofort darauf hingewiesen, daß dieser Ausdruck eben zwei gegensätzliche Bedeutungen besitze und von den Regierungen und Völkern auch in beiderlei Sinn verstanden werden könne. Es würde mich daher sehr wundern, wenn sich dieses Wort auch in der Letztfassung des Konventstextes oder gar eines Verfassungsvertrages fände. Noch offen bleibt an dieser Stelle das Verhältnis der zu gründenden Union zu den bisher bestehenden Organisationen EG und EAG 42 sowie zur Union als Gebilde von Gemeinschaften und Verfahren und Politiken der Zusammenarbeit. Soll die neue Union durch Verschmelzung der bisherigen Gemeinschaften und der Union geschaffen oder eine „neue“ Union an deren Stelle errichtet werden? In beiden Fällen ___________ 41 Lt. Bericht der NZZ Nr. 48 vom 27.02.2003, S. 3, waren es 1038 Anträge. Der vom Büro des MdEP und Konventsmitglied Rack herausgegebene Newsletter zum Konvent vom 24.-28.02.2003 weist 1087 Änderungsanträge aus, wovon sich allein 487 auf die Art. 1 bis 3 bezogen hätten. 42 Die EGKS hat ja im 07.2002 durch Ablauf des auf 50 Jahre befristeten Vertrages zu Bestehen aufgehört.
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stellen sich nicht nur Fragen der Rechtsnachfolge, sondern v.a. ein eminent politisches Problem: Soll der Übergang zu der „neuen“ Union zwingend so erfolgen, daß alle bisherigen MS auch MS der neuen Union werden, oder soll bzw. könnte die Neugründung der Union auch nur durch einen Teil (eine Mehrheit? Welche?) erfolgen können? Welchen Status hätten die verbleibenden Mitgliedstaaten, die ja nicht „zwangsweise“ ausgeschlossen werden können? 43 Zur Zeit kann nur soviel gesagt werden, daß die Nichtratifikation eines Verfassungsvertrages, mit dem eine neue Union errichtet wird, durch einen oder mehrere MS schwerwiegende rechtliche Probleme aufwerfen und den Integrationsprozeß in politischer Hinsicht wohl in eine schwere Krise stürzen würde. Selbst wenn man die Auffassung vertritt, daß in einer auf vielleicht 27 MS erweiterten Union mit den bereits jetzt von den Verträgen erfassten, weiten Politikbereichen es immer wahrscheinlicher wird, daß nicht alle MS alle weiteren Integrationsschritte mitgehen wollen, so wäre m. E. doch dem – rechtlich höchst problematischen – zwangsweisen Ausscheiden einzelner MS 44 jedenfalls die – vertragskonforme! – Nutzung der durch das System der Verstärkten Zusammenarbeit eröffneten Optionen eindeutig vorzuziehen. Zu begrüßen ist der bereits in Entwurfs-Art. 1 Abs. 2 (derzeit Art. 6 Abs. 3 EU) enthaltene grundsätzliche Hinweis auf die Verpflichtung der Union, die nationale Identität der MS zu wahren, der in Art. 9, der Grundsätze zur Ausübung der Zuständigkeiten durch die Union statuiert, nochmals aufgegriffen und dahin gehend präzisiert wird (Abs. 6), daß die Identität der MS mit „deren grundlegender Struktur und den wesentlichen Aufgaben eines Staates – insbesondere seiner politischen und verfassungsrechtlichen Struktur einschließlich der Organisation der staatlichen Behörden auf nationaler, regionaler und kommunaler Ebene – zusammenhängt“. Kann darin eine indirekte Anerkennung der von den MS vertretenen Auslegung der Vorrang-Judikatur des EuGH gesehen werden, wonach dieser gegenüber den grundlegenden Strukturprinzipien der mitgliedstaatlichen Verfassungen nicht zur Anwendung komme? Oder wird die ins Auge gefasste Bestimmung, wonach dem „Unionsrecht“ Vorrang zukommen soll, i. S. eines uneingeschränkten Vorranges zu interpretieren sein? 45 Art. 2 des Entwurfs benennt jene Werte, auf denen die Union beruhen soll. Da dieser Aspekt bereits umfassend im Beitrag meines Vorredners über die ___________ 43 Das geltende und damit auf einen allfälligen Verfassungsvertrag anzuwendende Recht sieht in Art. 48 EU ausdrücklich vor, daß eine Vertragsänderung der Ratifikation durch alle Mitgliedstaaten gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften bedarf. 44 Die Begründung eines spezifischen Vertragsverhältnisses mit einem solchen ehemaligen Mitgliedstaat wie im Vertragsentwurf vorgeschlagen würde an diesem Faktum nichts ändern. 45 In letzterem Falle würde das z.B. in Österreich sicherlich die Frage aufwerfen, ob darin nicht eine Gesamtänderung der österreichischen Bundesverfassung zu sehen und daher zwingend eine Volksabstimmung darüber durchzuführen wäre.
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„Grundwerte im Prozeß der europäischen Konstitutionalisierung“ abgehandelt wurde, darf ich mich auf einige wenige Anmerkungen beschränken: Trotz aller Problematik, die mit der Festschreibung solcher Werte verbunden ist und trotz der unbestreitbaren Tatsache, daß sich derartige Festlegungen auch trefflich als politisches Kleingeld missbrauchen lassen, so sind sie doch für eine Gemeinschaft wie die EU unverzichtbar. Schwierig ist es aber offenbar, die richtige Balance zwischen notwendiger Festlegung und verzichtbarer Ingerenz in am Ende doch stark gesellschaftlich determinierte Wertungen zu finden: So würde ich das gegenüber dem derzeitigen Art. 6 EU neu hinzukommende Bekenntnis zur Achtung der Menschenwürde uneingeschränkt begrüßen und in gleicher Weise monieren, daß zwar wiederum die Achtung der Menschenrechte, nicht aber eine Verpflichtung bzw. ein Bekenntnis auf den Minderheitenschutz vorgesehen ist. Für wenig sinnvoll erachte ich hingegen, obwohl persönlich sehr stark mit dem Christentum verbunden, die im Artikelvorschlag nicht enthaltene, aber im Plenum insb. vom Vertreter der deutschen Länder Teufel explizit geforderte Nennung von Gott als Quelle der Wahrheit und Gerechtigkeit. 46 In der Konvents-Arbeitsgruppe III „Rechtspersönlichkeit“ hatte es eine starke Unterstützung dafür gegeben, die Union endlich mit einer klaren, wenn auch natürlich beschränkten Rechtspersönlichkeit auszustatten, um ihr auf diese Weise die erforderliche Handlungsfähigkeit im internationalen System zu verschaffen. 47 Art. 4 enthält nun einen knappen Textvorschlag dazu; die (privatrechtliche) Rechts- und Geschäftsfähigkeit der Union soll den Erläuterungen zufolge im 2. Teil geregelt werden.
___________ 46 Vgl. dazu Isak, Die Europäische Union – Bedrohung oder Förderer der Kirchen und Religionsgemeinschaften und des religiösen Lebens ihrer Mitglieder? Zugleich ein Beitrag zur Debatte über die Verankerung eines Gottesbezuges in der Europäischen Verfassung, in: Hedwig Kopetz/Joseph Marko/Klaus Poier (Hrsg.), Soziokultureller Wandel im Verfassungsstaat. Phänomene politischer Transformation, FS Mantl zum 65. Geburtstag (2004), S. 1035 ff. Von einer eigentlichen Invocatio Dei zu unterscheiden ist die Frage, ob die Verfassung, sei es in der Präambel oder im operativen Text selbst, einen Verweis auf die christlichen Grundlagen der europäischen Werteordnung aufweisen soll. Auch dies ist, u.a. mit Blick auf die zahlreichen Angehörigen anderer (christlicher) Kirchen wie auch der Muslime in den derzeitigen MS und in den Kandidatenländern, heftig umstritten. Zu den prononcierten Befürwortern gehört der weltweit anerkannte Völker- und Europarechtler Weiler, der sich dazu in seinem mittlerweile auch in deutscher Übersetzung erschienenen Buch „Un’Europa Cristiana: Un saggio esplorativo“ (Milano 2003) einlässlich damit auseinander gesetzt hat; Joseph H. H. Weiler, Ein christliches Europa, Pustet Salzburg/München 2004. 47 Vgl. den Schlußbericht CONV 305/02 vom 01.10.2002. Der Vertreter der britischen Regierung im Konvent, Hain, hat allerdings im Plenum ganz klar zum Ausdruck gebracht, daß GB die Zustimmung hierzu von Sonderregelungen für die GASP sowie für gewisse Bereiche des Justiz- und Polizeiwesens abhängig machen wolle.
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Die Arbeitsgruppe II „Einbeziehung der Charta/Beitritt zur EMRK“ hat im wesentlichen zwei Empfehlungen abgegeben 48 : Die Charta sollte rechtsverbindlich gemacht und in die (reorganisierten bestehenden) Verträge bzw. einen allfälligen neuen Verfassungsvertrag integriert werden; und es sollte der Beitritt zur EMRK vertraglich ermöglicht werden. 49 Der Entwurfs-Art. 5 sieht beides vor. Die Charta würde „integraler Bestandteil der Verfassung“, wobei alternativ deren Verankerung im 2. Teil der Verfassung oder in einem Protokoll vorgeschlagen wird (Abs.1). Die Union kann der EMRK beitreten, die in der Verfassung festgelegten Zuständigkeiten würden dadurch nicht berührt (Abs.2). Ein zentraler Bestandteil dieser wie jeder Verfassung schließlich ist die Kompetenzordnung, wobei es nicht bloß um möglichst präzise Aufgabenzuweisungen und -abgrenzungen im Rechtlichen geht, sondern letzten Endes um die dauerhafte Machtverteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten. Ganz besonders schwierig ist dies in einem Unternehmen wie der Europäischen Einigung, die zum einen gerade dynamisch-evolutiv angelegt ist und zum zweiten sich in keine gängige organisationsrechtliche Kategorie einordnen läßt, so daß sich auch z. B. aus der Staatsrechtslehre bekannte Modelle nicht übertragen und anwenden lassen. Andererseits war gerade die – jedenfalls behauptete – unklare Kompetenzlage i.V.m. einem ebenfalls behaupteten „schleichenden Kompetenzabfluß“ insb. zu Lasten regionaler staatlicher Organisationseinheiten ein Hauptkritikpunkt an der gegenwärtigen Verfassungslage. 50 Schon bald war in den Beratungen klar, daß es einen starren Kompetenzkatalog nach (bundes-) staatlichem Muster nicht geben kann und soll; im Prinzip würde es bei den dem Prozeßcharakter der EI entsprechenden, mehrheitlich funktionalen Kompetenzzuweisungen 51 für bestimmte Sachpolitiken bleiben. Andererseits mußte aber den MS eine befriedigende Sicherheit vermittelt werden, daß die Kompetenzverteilung für sie überschau- und v.a. kontrollierbar bleibt. 52 Der Entwurf weist nun in Art. 8 Grundprinzipien der Kompetenzordnung aus, stellt
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Vgl. Schlußbericht CONV 354/02 vom 22.10.2002, S. 2, 11. Nach geltender Rechtslage ist ein solcher gemäß dem EuGH-Gutachten 2/94 – EMRK, Slg. 1996, S. 1759 ja nicht möglich. 50 Vgl. nur die oben zitierten Erklärungen zur Zukunft der Union von Nizza und Laeken. 51 Die allerdings unterschiedlich umfangreich und über die Verträge verstreut sind. Oft ist der Umfang der Kompetenz nicht klar ermittelbar. 52 Das ist zwar durch das Erfordernis der Einstimmigkeit bei Vertragsänderungen formal ohnedies der Fall, doch hat sich gezeigt, daß durch die Rechtsprechung des EuGH immer weitere Bereiche nationaler Politik vom IntegrationsProzeß erfaßt werden. Es ging also wohl auch darum, den Gerichtshof stärker „an die Leine zu nehmen“. 49
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in Art. 9 Regeln für deren Anwendung 53 auf und unterscheidet in Art. 10 drei Arten von Zuständigkeiten, nämlich ausschließliche, geteilte und Zuständigkeiten zur Koordinierung, Ergänzung oder Unterstützung der Maßnahmen der Mitgliedstaaten; in den Art. 11, 12 und 15 erfolgt die Zuordnung der einzelnen Politikbereiche zu diesen Kompetenzkategorien. Dem besonderen Charakter der Wirtschaftspolitik bzw. der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik Rechnung tragend wird für jede dieser Politiken jeweils eine gesonderte Kompetenzkategorie eingeführt (Art. 10 Abs. 3 und 4 bzw. Art. 13 und 14 Entwurf). Der Artikel über die Grundprinzipien bestätigt die für die Abgrenzung und Ausübung der Zuständigkeiten schon bisher maßgeblichen Prinzipien: begrenzte Einzelermächtigung, Subsidiarität, Verhältnismäßigkeit und – in diesem Zusammenhang neu – loyale Zusammenarbeit (Abs. 1). Neu ist auch die explizite Festlegung, daß alle nicht der Union durch die Verfassung zugewiesenen Kompetenzen bei den Mitgliedstaaten bleiben (Art. 8 Abs. 2 S. 2); mit dieser Generalklausel wird einem wichtigem Desideratum der MS bzw. deren Länder entsprochen. Der oft als Lückenschließungsklausel bezeichnete Art. 308 EG (ex-Art. 235 EGV), der es ermöglicht, durch einstimmigen Beschluß des Rates auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Parlaments die geeigneten Vorschriften zu erlassen, wenn ein Tätigwerden der Gemeinschaft zur Verwirklichung eines ihrer Ziele im Rahmen des gemeinsamen Marktes erforderlich erschien, im Vertrag die erforderlichen Befugnisse aber nicht (explizit) vorgesehen sind und der in vielen Fällen herangezogen wurde, um einzelne Politiken überhaupt entwickeln zu können 54 – dieser Artikel sollte anfangs nach dem Willen mancher Ländervertreter überhaupt eliminiert werden. Dabei wurde aber übersehen, daß Art. 308 ein im mit den EG-Verträgen geschaffenen System von Rahmenvertrag und Ausführungsgesetzgebung durch die Organe unverzichtbares Instrument bereit stellt, die zwangsläufig auftretenden Lücken an expliziten Befugnissen systemkonform, aber ohne großen Revisionsaufwand zu schließen; Art. 308 gewährleistet die in einer Integrationsgemeinschaft dieses Zuschnitts für die Organe unabdingbare Flexibilität. Seine ersatzlose Streichung hätte m. E. wesentlich mehr negative als positive Konsequenzen mit sich gebracht. Dazu wird es auch nicht kommen. Der Entwurf enthält mit Art. 16 eine modifizierte, nunmehr als Flexibilitätsklausel bezeichnete Neufassung des Art. 308 EG; das Anhörungsrecht des EP wird durch das Erfordernis seiner Zustimmung ersetzt. Ferner wird ausdrücklich festgelegt, daß diese Bestimmung keinesfalls dort als Rechtsgrundlage für die Harmonisierung von Rechtsund Verwaltungsvorschriften der MS herangezogen werden dürfe, wo eine ___________ 53 Darunter auch die ausdrückliche Verankerung des Vorranges der Verfassung und des von den Organen in Ausübung der ihnen von der Verfassung zugewiesenen Zuständigkeiten gesetzten Rechts vor dem Recht der Mitgliedstaaten (Art. 9 Abs. 1). 54 Für die dann später explizite Handlungsermächtigungen in den Vertrag aufgenommen wurden (z. B. Umweltpolitik, Verbraucherpolitik usw.).
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solche von der Verfassung ausgeschlossen ist (Abs. 3). Eine zusätzliche Sicherung wird dadurch eingebaut, daß bei Inanspruchnahme der Flexibilitätsklausel die Kommission verpflichtet sein soll, die nationalen Parlamente der MS ausdrücklich auf diese Vorschläge aufmerksam zu machen, um so die Subsidiaritätskontrolle noch besser zu gewährleisten. Ich meine, daß dies einer der (letztlich wohl wenigen) Bereiche ist, wo es tatsächlich Sinn macht, den nationalen Parlamenten wie in der Erklärung von Nizza angesprochen eine konkrete Rolle in der europäischen Architektur zuzuweisen.
IV. Ausblick Mit den vorliegenden ersten Artikelentwürfen sind viele zentrale, machtpolitisch entscheidende Fragen noch nicht beantwortet. Welche Rolle soll z.B. eine über mehrere Jahre fungierende Präsidentschaft konkret haben; geht es nur um Kontinuität in der Organisation und Außenvertretung sowie Reduktion des organisatorischen Aufwandes, oder kann bzw. soll dem Präsidenten die Möglichkeit effektiver politischer Gestaltung eröffnet werden? Soll der Präsident der Kommission weiter nach bisherigem, zuletzt durch den Vertrag von Nizza 55 geändertem Modus ernannt oder in direkter Wahl – durch die KOM, das EP – ermittelt werden, und welche Konsequenzen hätte dies für seine politischrechtliche Stellung, welche Bedeutung für den Status des EP usw.? Welche Konstruktion wird man für eine funktionsfähige Kommission finden? Eine Differenzierung zwischen „echten“ und „Juniorkommissaren“ (ohne Portefeuille) dürfte wohl kaum akzeptiert werden. Im materiell-rechtlichen Teil wird wohl auch noch heftig um eine Ausweitung der Mehrheitsentscheidung bzw. die Bewahrung mancher Politikbereiche unter „Vetoschutz“ gerungen werden. Alles in allem scheint der Verfassungsprozeß auf einem guten Weg zu sein. Zwar ist es angesichts des umfangreichen Rechtsmaterials nicht möglich, eine schlanke, für jeden Bürger leicht zugängliche Verfassungsurkunde nach amerikanischem Vorbild zu schaffen, doch stellte es nach meinem Dafürhalten bereits einen Quantensprung dar, wenn es gelänge, einen einzigen, in sich homogenen Vertragstext zu verabschieden. Das würde den politisch interessierten EuropäerInnen zumindest den Zugang wesentlich erleichtern. Die Klarstellun___________ 55
Es ist nunmehr der Rat, der in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs tagt, der (statt wie bisher die Regierungen der Mitgliedstaaten im Einvernehmen) mit qualifizierter Mehrheit die Persönlichkeit, die er zum Präsidenten der Kommission zu ernennen beabsichtigt, benennt. Der Rat nimmt mit qualifizierter Mehrheit im Einvernehmen mit dem designierten Präsidenten die gemäß den Vorschlägen der einzelnen Mitgliedstaaten erstellte Liste der anderen Persönlichkeiten an, die er zu Mitgliedern der Kommission zu ernennen beabsichtigt. Nach Zustimmung des Europäischen Parlaments werden der Präsident und die übrigen Mitglieder der Kommission vom Rat mit qualifizierter Mehrheit ernannt (Art. 214 Abs. 2 EG).
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gen bei den Kompetenzen und den die EU-Rechtsordnung tragenden Grundsätzen ebenso wie die absehbare Bereinigung im Bereich der Rechtsquellen und Rechtssetzungsverfahren sollten ebenfalls zu mehr Transparenz und Bürgernähe führen. Im letzten Jahrzehnt wurden Politik und Wissenschaft durch eine rasche Kadenz von Vertragsänderungen auf das Äußerste gefordert. Ich denke, es läge im Interesse aller Beteiligten, über alle nationalen Partikularinteressen hinweg zum Zustandekommen eines tragfähigen Regelwerks beizutragen, dem in weiterer Folge auch die Chance der Bewährung und Erprobung über einen längeren Zeitraum hinweg gegeben werden müßte. Die Zeit scheint reif für eine „Verfassung für Europa“. Die Europäische Union hat die Chance, ein eigenständiges, in der Welt rechtlich wie politisch einmaliges Experiment überstaatlicher Organisation von „Einheit in Vielfalt“ dauerhaft abzusichern. Der Konvent hat hervorragende Vorarbeit geleistet; es wird an den Regierungen und am Ende den Parlamenten bzw. den BürgerInnen Europas liegen, ob diese Chance genutzt wird! * * *
Abstract Hubert Isak: A Constitution for Europe? In: The European Union as a Community of Values. Ed. by Dieter Blumenwitz, Gilbert H. Gornig and Dietrich Murswiek (Berlin 2005) pp. 29-48. The transformation of European economic integration into a Political Union as well as the forthcoming enlargement to a Union of 27 States have strengthened the need for a constitution which is more transparent and easier accessible for the citizens. Such a constitution would also promote acceptance and legitimacy of the Union. The Convention has so far produced promising results. Not only will the Union enjoy international legal personality, the first draft articles also provide for the elimination of the pillar structure, a streamlining of the system of legal sources and law-making procedures, the fixture of basic principles of EU law and some improvements in the institutional set up in order to render those institutions more effective and capable to cope with the requirements in an enlarged Union. With the integration of the Charter of fundamental rights of the European Union into the Treaty, the integration Community, for the first time in its history, would dispose of its own human rights catalogue. There are still many questions to be answered and problems to be solved, both in legal and political terms. However, both Member States and citizens – in the case of referenda in the course of the ratification process – should be well aware of the unique chance to provide the Union with a lasting constitutional basis while preserving its sui generis-character. Failure of this would entail a major setback for the integration process.
Grundwerte im Prozeß der europäischen Konstitutionalisierung Anmerkungen zur Europäischen Union als Wertegemeinschaft aus juristischer Perspektive Von Thilo Rensmann
I. Einleitung Mit dem Fortschreiten des Konstitutionalisierungsprozesses in der Europäischen Union findet der Werttopos in zunehmendem Maße Eingang in den europarechtlichen Diskurs. Immer häufiger begegnet man im juristischen Schrifttum der Charakterisierung der Europäischen Union als „Wertegemeinschaft“ 1 und der Qualifizierung ihrer Verfassung als „Wertordnung“ 2 oder gar als „Wertsystem“ 3 . Bislang findet sich die Kategorie des „Wertes“ nur an drei eher versteckten Stellen des Primärrechts der Europäischen Union. 4 Nunmehr stellt der vom
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Der Beitrag ist im Rahmen des von der Volkswagenstiftung geförderten Forschungsprojektes „Die Verfassung der internationalen Gemeinschaft als Wertordnung“ entstanden. 1 Siehe etwa M. Herdegen, Europarecht (4. Aufl. 2002), Rn. 103 a; J. Meyer, in: ders. (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union (2003), Präambel, Rn. 28; B. Speer, Die Europäische Union als Wertegemeinschaft, DÖV 2002, S. 980 ff. Vgl. auch Erklärung des Europäischen Rates von Athen, 16.04.2003: „Unsere Union ist ein gemeinsames Projekt: ein Projekt, dessen Ziel es ist, daß wir unsere Zukunft als eine Wertegemeinschaft gestalten.“ 2 Siehe etwa Meyer (Fn. 1), Präambel, Rn. 6, 28; P.-Ch. Müller-Graff, Die Kopfartikel des Verfassungsentwurfs für Europa – ein europarechtlicher Vergleichsblick, Integration 2003, S. 111 (112); mit kritischer Distanz M. Schröder, Wirkungen der Grundrechtecharta in der europäischen Rechtsordnung, JZ 2002, S. 849 (851). Vgl. bereits Europäisches Parlament, Entschließung zum Vertrag von Amsterdam v. 19.11.1997, EuGRZ 1998, S. 69 (70). 3 R. Bieber, in: B. Beutler/R. Bieber/J. Pipkorn/J. Streil, Die Europäische Union, 5. Aufl. 2001, S. 758 f.; S. Rodota, The Charter of Fundamental Rights, in: Referate für den 1. Europäischen Juristentag (2001), S. 7 (32); Schröder (Fn. 2), S. 850. 4 Art. 11 Abs. 1, Art. 27 a Abs. 1 EUV, Art. 16 EGV.
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Europäischen Konvent vorgelegte Verfassungsentwurf 5 die „Werte der Union“ und das Gebot ihrer Wahrung und Förderung an die Spitze des operativen Teils des Verfassungstextes. 6 Gleichzeitig inkorporiert der Konvent die bislang formal unverbindliche Grundrechtscharta 7 mit ihrer wertschwangeren Präambel in den zweiten Teil seines Verfassungsentwurfs. 8 Den deutschen Beobachter beschleicht ein Gefühl des déjà vu. Auch in Deutschland prägten Werte das staatsrechtliche Denken in den Phasen der Konstitutionalisierung nach 1919 und 1949. Werte bildeten den Kristallisationspunkt des berühmten Richtungs- und Methodenstreits in der Weimarer Staatsrechtslehre. 9 Nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland nahm das Bundesverfassungsgericht die Impulse aus Weimar auf und verdichtete sie zur Vision der deutschen Verfassung als „Wertordnung“. 10 Die Inthronisierung des „Wertes“ als verfassungsrechtliche Kategorie wurde bekanntlich nicht von allen deutschen Staatrechtslehrern als methodischer Geniestreich gefeiert. Carl Schmitt malte das düstere Gemälde der „Tyrannei der Werte“ 11 , Ernst Forsthoff diagnostizierte gar die „Abdankung der juristischen Methode“. 12 Es nimmt daher nicht Wunder, daß der triumphale Einzug der Werte in die Grundrechtscharta und in den Entwurf eines Verfassungsvertrages für die ___________ 5 Entwurf der Verfassung [Teil I und II], CONV 797/1/03 REV 1 (12.06.2003); die vom Konvent noch nicht verabschiedeten Textentwürfe zu Teil III und IV finden sich in CONV 802/03 (12.06.2003); sämtliche Dokumente des Konvents sind abrufbar unter: http://european-convention.eu.int. 6 Art. I-1 Abs. 2, Art. I-2, Art. I-3 Abs. 1 und 4. Der Werttopos findet sich darüber hinaus auch in Abs. 1 der Präambel; Art. I-18 Abs. 1, I-39 Abs. 5, I-40 Abs. 5, I-56 Abs. 1, I-57 Abs. 1, I-58 Abs. 1 und 2, III-188 Abs. 1 und 2. 7 Charta der Grundrechte der Europäischen Union v. 18.12.2000, ABl. C 364/1. Siehe zum gegenwärtigen Status der Charta T. Rensmann, Vom Staatsbürger zum Unionsbürger in Uniform, NZWehrR 2002, S. 111 (117 ff.). 8 Vgl. auch Art. I-7 Abs. 1 des Verfassungsentwurfs. 9 Vgl. M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland: Weimarer Republik und Nationalsozialismus (2002), S. 109 ff., 171 ff. 10 Grundlegend BVerfGE 7, 198 (204 ff.). Resümierend zur Wertordnungsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts H. Dreier, Dimensionen der Grundrechte – Von der Wertordnungsjudikatur zu den objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalten (1993), S. 10 ff.; H. D. Jarass, Die Grundrechte: Abwehrrechte und objektive Grundsatznormen, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht (2001), Bd. II, S. 35 ff.; P. Lerche, Stil und Methode der verfassungsrechtlichen Entscheidungspraxis, ebenda, Bd. II, S. 333 (335, 341, 349 f.). 11 C. Schmitt, Die Tyrannei der Werte, in: Säkularisation und Utopie, Erbracher Studien, Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag (1965), S. 37 ff. 12 E. Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes (1959), abgedruckt in: ders., Rechtsstaat im Wandel (2. Aufl. 1976), S. 130 (135).
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Europäischen Union gerade die deutschsprachige Europarechtslehre hellhörig werden läßt. 13 Bedeutet das ostentativ in den Eingangsartikeln des Verfassungsentwurfs verankerte Wertbekenntnis, daß die Verfassung der Europäischen Union nunmehr als „Wertordnung“ im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu begreifen ist? Ist damit zu befürchten, daß der gegenwärtig hoffnungsvoll diagnostizierte Übergang von einer Wirtschafts- zu einer Wertegemeinschaft nur die Ablösung der harschen Gesetze des Marktes durch die Tyrannei der Werte bedeutet? Oder vermag umgekehrt das emphatische Bekenntnis zu einer an der Würde des Menschen orientierten „Wertordnung“ endgültig besorgten Anfragen nationaler Verfassungsgerichte an die Legitimation unionsrechtlicher Hoheitsgewalt die Grundlage zu entziehen? Oder haben wir es schließlich bei den Werten lediglich mit bloßer Verfassungspoesie zu tun, die sich allenfalls als Gegenstand politischer Sonntagsreden, nicht jedoch für das juristische Alltagsgeschäft eignet? Vor dem Hintergrund dieser Fragen soll im Folgenden die Rolle des Werttopos im Prozeß der Konstitutionalisierung der Europäischen Union näher beleuchtet werden.
II. Verfassungsvertrag als Aufbruch der Union zu einer Wertegemeinschaft? Es entspricht der Monnet’schen Logik des europäischen IntegrationsProzeßes, daß sich auch die Konstitutionalisierung der Europäischen Union schrittweise vollzieht. Europäische Integration war stets Evolution, nicht Revolution. So wird auch der Verfassungsvertrag der Union nicht wie die amerikanische Verfassung von 1787 oder die französische Verfassung von 1791 einen revolutionären Umbruch markieren, sondern lediglich einen weiteren – wenn auch wichtigen – Schritt in der Entwicklung zu einer „immer engeren Union“ 14 . Der gegenwärtige Prozeß der Verfassunggebung in der Europäischen Union entspricht daher eher dem Typus der „Nachführung“ der schweizerischen Verfassung. 15 Die Europäische Union vergewissert sich des bisher Erreichten, ___________ 13
Siehe etwa A. v. Bogdandy, Grundrechtsgemeinschaft als Integrationsziel?, JZ 2001, S. 157 (168 ff.); Meyer (Fn. 1), Präambel, Rn. 6, 28; P.-Ch. Müller-Graff, Grundrechte und Grundfreiheiten, in: Festschrift H. Steinberger (2002), S. 128 (1283 f., 1286 ff.); Schröder (Fn. 2), S. 849 ff.; Ch. Tomuschat, Common Values and the Place of the Charter in Europe, ERPL/REDP 14 (2002), S. 159 (186 f.). 14 Art. 1 Abs. 2 EUV. 15 Hierzu etwa R. Rhinow, Die neue Verfassung in der Schweiz, Der Staat 2002, S. 575 ff.
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führt bestehende Verfassungsfragmente in einer systematischen Sequenz zusammen und paßt den Normenbestand behutsam an die Herausforderungen der Zukunft an. Der eigentliche „Mehrwert“ des Verfassungsvertrages gegenüber früheren Änderungsverträgen wird weniger in den notwendigen materiellen Reformen als vielmehr im „Sichtbarmachen“ 16 der bereits errungenen Integrationsfortschritte und in der Suggestivkraft einer mit dem Pathos des Verfassungsbegriffs versehenen Urkunde liegen. In diesem Sinne wird der Verfassungsvertrag die Union auch nicht als Wertegemeinschaft konstituieren, sondern im wesentlichen die in ihr bereits bestehende Wertverbundenheit und Wertgebundenheit visualisieren. Die häufig in der gegenwärtigen Verfassungsdebatte zu vernehmende Formel des Übergangs der Europäischen Union von einer Wirtschafts- zu einer Wertegemeinschaft 17 ist somit zumindest mißverständlich. Die Sinnvariabilität des Begriffs der Wertegemeinschaft führt hier zu einer gewissen Sprachverwirrung, bei der sich verschiedene Bedeutungsschichten überlagern:
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In der Gegenüberstellung von Wirtschafts- und Wertegemeinschaft wird zunächst auf die Finalität der Europäischen Union bzw. der Europäischen Gemeinschaften abgehoben. Das (wirtschaftlich ausgerichtete) funktionale Zweckbündnis wird der (an umfassenderen Gemeinwohlerwartungen orientierten) ideellen Wertegemeinschaft gegenübergestellt. 18 Dabei gerät heute gelegentlich in Vergessenheit, daß bereits die ursprünglichen Europäischen Gemeinschaften trotz der sektoralen Beschränkung ihrer Zuständigkeiten auf den wirtschaftlichen Bereich in ihrer Finalität auf die Sicherung der Freiheit und des Friedens in Europa ausgerichtet waren. Sie waren daher schon immer mehr als reine funktionale Zweckbündnisse. 19
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Der Begriff der Wertegemeinschaft wird, zweitens, häufig als Umschreibung für die gemeinsame Verpflichtung der in der Union zusammengeschlossenen Mitgliedstaaten auf die grundlegenden Werte des modernen Verfassungsstaates verstanden. 20 Auch in diesem Sinne waren die Europäischen Gemeinschaften stets Wertegemeinschaften. Der Wille und die Fähigkeit zur Beachtung grundlegender rechtsstaatlicher
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Vgl. Absatz 4 der Präambel der Grundrechtscharta (Fn. 7). Siehe oben Fn. 1. 18 So prononciert J. Isensee, Europäische Union – Mitgliedstaaten im Spannungsfeld von Integration und nationaler Selbstbehauptung, Effizienz und Idee, in: Konferenz der Deutschen Akademien der Wissenschaften – Akademie der Wissenschaften und der Literatur (Hrsg.), Europa – Idee, Geschichte, Realität (1996), S. 71 (90 ff.). 19 Siehe U. Everling, Überlegungen zum Fortgang der europäischen Integration, ZEuS 2001, S. 385 (386). 20 In diesem Sinne etwa Speer (Fn. 1), S. 983 f. 17
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und demokratischer Werte war von Anfang an conditio sine qua non für die Mitgliedschaft in den Europäischen Gemeinschaften. 21
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Drittens hebt die Charakterisierung der Europäischen Union als Wertegemeinschaft auf die Bindung der durch die Union ausgeübten Hoheitsgewalt an grundlegende verfassungsstaatliche Werte ab. 22 Auch bei diesem Verständnis ist mit dem Verfassungsvertrag kein qualitativer Sprung zu erwarten. Die Europäische Union und die Europäischen Gemeinschaften sind in diesem Sinne nicht erst seit dem ausdrücklichen Bekenntnis in Art. 6 Abs. 1 des Unionsvertrages an die grundlegenden gemeineuropäischen Verfassungswerte gebunden. Schon lange zuvor hat der Europäische Gerichtshof (wenn auch gelegentlich erst durch mahnende Zwischenrufe nationaler Verfassungsgerichte 23 ) auf der Grundlage allgemeiner Rechtsgrundsätze herausgearbeitet, daß das Handeln der Gemeinschaftsorgane stets an den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zu messen ist. 24 Insbesondere hat der Gerichtshof aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen und den völkerrechtlichen Menschenrechtsverpflichtungen der Mitgliedstaaten einen prätorischen Grundrechtsbestand geformt, der den Vergleich mit nationalen Grundrechtsstandards nicht scheuen muß. 25
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Schließlich wird der Begriff der Wertegemeinschaft (in Anlehnung an Smends Integrationslehre 26 ) auch als Umschreibung einer durch gemeinsame Werte integrierten Gemeinschaft verstanden. 27 Hier geht es nicht um die rechtliche Bindung der Mitgliedstaaten und der Unionsoder Gemeinschaftsorgane an verfassungsstaatliche Werte oder Prinzipien, sondern vielmehr um die Funktion der Werte als Katalysator für die Herausbildung eines Zusammengehörigkeitsgefühls zwischen den Unionsbürgern, das neben das Nationalbewußtsein der Staatsbürger tritt. 28 So verstanden, erscheint es in der Tat noch ein wenig optimis-
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Nachweise bei Speer (Fn. 1), S. 983 f. So etwa Herdegen (Fn. 1), Rn. 103 a. 23 Vgl. BVerfGE 37, 271 („Solange I“); Corte Costituzionale, 27.12.1973, EuR 1974, S. 255 ff. 24 Nachweise zur Rechtsprechung etwa bei Th. Kingreen, in: Ch. Callies/M. Ruffert, Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag (2. Aufl. 2002), Art. 6 EUV Rn. 4 ff. 25 Vgl. den Überblick bei M. Herdegen, The Origins and Development of the General Principles of Community Law, in: U. Bernitz/J. Nergelius (Hrsg.), General Prinicples of Community Law (2000), S. 3 ff.; Rensmann (Fn. 7), S. 115 ff. 26 Vgl. R. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, abgedruckt in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen (2. Aufl. 1968), S. 119 (260 ff.). 27 So etwa bei Everling (Fn. 19), S. 390. 28 Hierzu eingehend St. Korioth/A. v. Bogdandy, Europäische und nationale Identität: Integration durch Verfassungsrecht?, VVDStRL 62 (2003), S. 116 ff.; 156 ff. 22
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tisch, die Europäische Union als „Wertegemeinschaft“ zu qualifizieren, da ein spezifisches „europäisches Bewußtsein“ 29 als Gefühl der Zugehörigkeit zur Union und der solidarischen Verbundenheit mit den Unionsbürgern anderer Nationalitäten bislang noch schwach ausgeprägt ist. 30 Im komplexen Vorgang der europäischen Bewußtseinsbildung fließen die verschiedenen Bedeutungsebenen des Begriffs der Wertegemeinschaft wieder zusammen. Erst wenn der Unionsbürger die Union als „Werteunion“ wahrnimmt, wenn er in ihr also die Wertvorstellungen wiederfindet, die in seinen Augen die Legitimität der Ausübung von Hoheitsgewalt ausmachen, wird er sich mit der Union identifizieren, sich ihr zugehörig fühlen. Die Union muß also im Bewußtsein ihrer Bürger als Gemeinwesen erscheinen, das seine Hoheitsgewalt an die gemeineuropäischen rechtsstaatlichen und demokratischen Standards bindet, das aber auch in seiner Finalität der Würde und Freiheit des Menschen verpflichtet ist. Die Europäische Union muß darüber hinaus ihren Bürgern die Wertverbundenheit der in ihr zusammengefaßten Staaten und Völker vermitteln, so daß sich zwischen den Unionsbürgern auf der Grundlage eines als gemeinsam empfundenen Wertefundaments ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und Solidarität entwickeln kann. Diese Aufgabe wird um so dringlicher, je größer durch die räumliche Erweiterung der Union die kulturelle Diversität unter den Unionsvölkern wird. Die rechtlich längst vollzogene Metamorphose der Europäischen Union zur Wertegemeinschaft muß also von den Bürgern noch nachvollzogen werden, um zur Grundlage für die Herausbildung eines europäischen Bürgerbewußtseins werden zu können. Zu diesem Prozeß der Bewußtseinsbildung wird der Verfassungsvertrag einen wichtigen Beitrag leisten, indem er die Wertgebundenheit der Europäischen Union und die Wertverbundenheit ihrer Völker und Mitgliedstaaten in der hier angedeuteten Vielschichtigkeit für den Bürger transparent macht.
III. Verfassunggebung als Integrationsfaktor Bereits der Prozeß der Verfassunggebung wirkt dabei bewußtseinsbildend und zeitigt damit im Smend’schen Sinne Integrationswirkung. Die Grundwertedebatte im Verfassungskonvent, die an entsprechende Diskussionen im Grundrechtskonvent anknüpfen kann, hat das Bewußtsein dafür geschärft, daß die Union längst zu einer wertgebundenen und wertverbundenen Gemeinschaft ___________ 29 30
Vgl. Art. 191 Satz 2 EGV. Everling (Fn. 19), S. 389 f.
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erstarkt ist. Die repräsentative Zusammensetzung des Konvents 31 und die Offenheit des Konventverfahrens für Interventionen aus der sogenannten „Zivilgesellschaft“ gewährleisten, daß der Wertediskurs auch über die Brüsseler Verhandlungszimmer (jedenfalls in die interessierte Fachöffentlichkeit) hinausgreift. So gewinnt das Bekenntnis der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten zu den gemeineuropäischen Grundwerten schon im Prozeß der Verfassunggebung neue Legitimität und Authentizität – auch wenn es im Hinblick auf den materiellen Umfang der Wertbindung der Union und ihrer Mitgliedstaaten weitgehend deklaratorischen Charakter hat.
IV. Werte im Verfassungsentwurf des Konvents 1. Verfassungsrechtliche Disziplinierung des identitätsstiftenden Pathos Der vom Konvent vorgelegte Verfassungsentwurf ist sichtbar von dem Bemühen getragen, die Europäische Union als Wertegemeinschaft zu porträtieren. Unter dem Titel „Definition und Ziele der Union“ hebt jeder der drei Eingangsartikel auf die Werte der Union und ihrer Mitgliedstaaten ab. 32 Sowohl das Wesen der Union als auch ihre Finalität werden also durch Werte bestimmt. Es fällt zunächst ins Auge, daß das Bekenntnis zu den Werten der Union nicht nur – wie etwa bei der Grundrechtscharta – in den Präambeltext, sondern auch in die strikte Normativität des operativen Verfassungstexts eingestellt worden ist. Die Werte der Union fungieren somit sowohl als bewußtseinsbildende Integrations- und Legitimationsfaktoren als auch als juristische Tatbestandsmerkmale. In dieser Kombination liegt die eigentliche Brisanz und Schwierigkeit der verfassungsrechtlichen Positivierung des Selbstverständnisses der Union als Wertegemeinschaft: das Pathos identitätsstiftender Formeln muß mit der Nüchternheit juristischer Präzision in Einklang gebracht werden. Gleichzeitig gilt es, die Vielschichtigkeit der Wertgebundenheit und Wertverbundenheit der Union, ihrer Mitgliedstaaten und ihrer Völker sowie die Vielfalt der den Werten beigemessenen Funktionen als Schranke politischer Gestaltung, als Gestaltungsauftrag sowie als Legitimations- und Integrationsfaktoren transparent zu machen.
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Vgl. zur Zusammensetzung des Konvents: Erklärung von Laeken zur Zukunft der Europäischen Union, Anlage I zu den Schlußfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat (Laeken), 14./15.12.2001, abrufbar unter: http://ue.eu.int/de/summ.htm. 32 Art. I-1 Abs. 2, Art. I-2, Art. I-3 Abs. 1 und 4 des Verfassungsentwurfs.
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Der Verfassungsentwurf sowie die im Konvent zu Protokoll gegebenen Änderungsvorschläge 33 illustrieren lebhaft das Ringen darum, die Werte der Union verfassungsrechtlich zu disziplinieren, ohne dabei ihr integrationsförderndes Pathos zu ersticken.
2. Art. I 2 im Spannungsverhältnis zwischen Wertbekenntnis und Homogenitätsgebot Das zentrale Wertbekenntnis findet sich in Art. I 2 des Verfassungsentwurfs. Diese Vorschrift rezipiert unter der Überschrift „Werte der Union“ im wesentlichen die geltende Fassung des Art. 6 Abs. 1 des Unionsvertrages: „Die Werte, auf denen die Union sich gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte ...“. Im gleichen Atemzug wird – wie bereits in der geltenden Fassung des Unionsvertrages – hervorgehoben, daß diese Werte allen Mitgliedstaaten gemeinsam sind. Gleichzeitig wird das verfassungsrechtliche Leitbild einer durch diese Werte geprägten Gesellschaft entworfen, „die sich durch Pluralismus, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und Nichtdiskriminierung auszeichnet.“ 34 Trotz der auf den ersten Blick nur unwesentlichen Modifikationen gegenüber der jetzigen Fassung des Art. 6 Abs. 1 des Unionsvertrages erhält die Vorschrift im Verfassungsentwurf ein neues Gepräge. Indem das Wertbekenntnis – im Unterschied zum geltenden Unionsvertrag – vor die Bestimmung über die „Ziele der Union“ gezogen wird, dokumentiert bereits die Architektur der neuen Verfassung den Übergang der Union von einem durch konkrete Ziele und Zwecke geprägten Verband zu einer Gemeinschaft, die in den verfassungsstaatlichen Grundwerten des Abendlandes ihre eigentliche raison d’être findet. Art. I-2 des Verfassungsentwurfs wird damit zur Fundamentalnorm der Union. 35 Sie steht in der Tradition der „Staatsfundamentalnormen“ 36 , die wie etwa ___________ 33
Vgl. http://european-convention.eu.int/amendemTrait.asp?lang=DE. Diese Formulierung weckt Anklänge an das „Europäische Gesellschafts- oder Sozialmodell“, das „bei aller Unterschiedlichkeit der Sozialsysteme [der Mitgliedstaaten] auf einem gemeinsamen Sockel von Werten“ beruht, insbesondere den Grundwerten „Solidarität“ und „Gerechtigkeit“ (so Europäische Sozialagenda, ABl. C 157/4 v. 30.05.2001, Tz. 11). Siehe zur Wechselwirkung zwischen dem „Europäischen Sozialmodell“ und dem Wertbekenntnis im Verfassungsentwurf des Konvents auch: Schlußbericht der Gruppe XI „Soziales Europa“, CONV 516/1/03 REV 1 (04.02.2003), Tz. 17. 34
35 Vgl. A. v. Bogdandy, Europäische Prinzipienlehre, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht (2003), S. 149 (156 ff.).
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Art. 1 und Art. 20 GG das Wesen, den Sinn und die Struktur des Gemeinwesens in kurzen Formeln verdichten und gleichsam vor die Klammer der Verfassung ziehen. Hier finden sich die Prinzipien, die Baugesetze, die die gesamte Rechtsordnung der Union durchströmen sollen. 37 Der Verfassungsentwurf spricht diese grundlegenden Verfassungsprinzipien, die im geltenden Unionsrecht etwas spröde als „Grundsätze“ (prciples / principes) bezeichnet werden, nunmehr explizit als „Werte“ (values/valeurs) an. Dies ist konsequent: Die Union kann dem Bürger nur als Wertegemeinschaft näher gebracht werden, wenn sie in ihrer Verfassung als solche benannt wird. Die nüchterne Technizität von „Grundsätzen“ oder „Prinzipien“ kann nicht die mit dem Wertbegriff verbundenen positiven Konnotationen des Wertvollen und Guten vermitteln. Art. I-2 des Verfassungsentwurfs enthält aber nicht nur die Bauprinzipien der Union, sondern formuliert gleichzeitig grundlegende Homogenitätsanforderungen für den gesamten „Verfassungsverbund“ 38 von Union und Mitgliedsstaaten. 39 Wenn im Verfassungsentwurf festgestellt wird, daß die Werte der Menschenwürde, Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit allen Mitgliedstaaten der Union gemeinsam sind, so wird nicht nur auf die Genese dieser Prinzipien aus den Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten abgestellt, sondern es wird gleichzeitig auch ein Sollensgebot im Sinne grundlegender Homogenitätsanforderungen an die Beitritts- und Mitgliedstaaten normiert. 40 Bei der Exegese des in Art. I-2 formulierten Wertebekenntnisses ist stets diese Doppelfunktion als Fundamentalnorm der Union und Homogenitätsprinzip zu beachten. Die Union kann daher in ihren Wertekatalog nur die Grundwerte, den „harten Kern“ 41 der gemeineuropäischen Werte aufnehmen, will sie nicht die Verfassungsautonomie der Mitgliedstaaten unzumutbar beeinträchtigen.
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R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz (Stand: Februar 2003), Art. 20 Rn. 7 f. Siehe zu den unterschiedlichen Bezeichnungen für diese Normenkategorie K. Stern, Staatsrecht, Bd. 1 (2. Aufl. 1984), S. 551 ff. 37 Vgl. v. Bogdandy (Fn. 35), S. 156 ff. 38 Zum Begriff des Verfassungsverbundes I. Pernice, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 149 (164 f.). Kritisch P. Kirchhof, Die rechtliche Struktur der Europäischen Union als Staatenverbund, in: v. Bogdandy (Fn. 35), S. 893 (904). 39 Vgl. die Erläuterungen des Präsidiums im Dokument CONV 528/03 (06.02.2003), S. 11. 40 Siehe zu Art. 6 Abs. 1 EUV Kingreen (Fn. 24), Art. 6 EUV Rn. 2. 41 Vgl. die Erläuterungen des Präsidiums (Fn. 39), S. 11 f.
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Das Selbstverständnis der Union als Wertegemeinschaft kann sich somit – trotz der insofern etwas vollmundigen Artikelüberschrift als „Werte der Union“ – nicht allein aus Art. I-2 des Verfassungsentwurfs erschließen. Die in der Verfassung positivierte „Ethik der Union“ 42 muß vielmehr aus einer Gesamtschau der Verfassungsnormen gewonnen werden. Dabei kommen der Zielbestimmung des Art. I-3 sowie der in Teil II des Verfassungsentwurfs inkorporierten Grundrechtscharta besondere Bedeutung zu.
3. Die Menschenwürde als „oberstes Konstitutionsprinzip“ a) Vom deutschen Grundgesetz zur Verfassung der Europäischen Union Abweichend vom geltenden Unionsrecht, das in Art. 6 Abs. 1 EUV mit dem Grundsatz der Freiheit anhebt, stellt der Verfassungsentwurf die Menschenwürde an die Spitze des Grundwertekataloges. Der Aufstieg der Menschenwürde zum Höchstwert in der Europäischen Union ist bemerkenswert, da die Menschenwürdegarantie keine ausdrückliche Entsprechung in der Europäische Menschenrechtskonvention findet 43 und sie sich auch in den Verfassungen der Mitgliedstaaten erst allmählich als „oberstes Konstitutionsprinzip“ 44 herauskristallisiert. 45 Die Positivierung der Menschenwürde im Grundwertekanon des Verfassungsentwurfs ist primär auf das Bemühen um Kohärenz mit der Grundrechtscharta zurückzuführen, die erst der Anerkennung der Menschenwürde als Teil des verfassungsrechtlichen Acquis der Union zu ihrem endgültigen Durchbruch verholfen hat. Wie die Formulierung des Art. 1 der Grundrechtscharta unschwer erkennen läßt, hat hier das deutsche Verfassungsrecht nachhaltigen Einfluß auf den Prozeß der europäischen Verfassungsgebung ausgeübt. Dabei hat sicherlich das Ansehen und die Autorität des Präsidenten des Grundrechtskonvents Roman Herzog eine nicht unerhebliche Rolle gespielt. Mittlerweile hat auch der Europäische Gerichtshof – wenn auch ohne ausdrückliche Bezug-
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Erläuterungen des Präsidiums (Fn. 39), S. 11. Siehe allerdings EGMR, Pretty v. United Kingdom, Urteil v. 29.04.2002, Tz. 65: “The very essence of the Convention is respect for human dignity and human freedom.” 44 Vgl. zu diesem Begriff und seiner Genese M. Herdegen, in: Maunz/Dürig (Fn. 36), Art. 1 Rn. 5. 45 Vgl. den Überblick bei M. Borowsky, in: Meyer (Fn. 1), Art. 1 Rn. 2 ff. 43
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nahme auf die Grundrechtscharta – anerkannt, daß die Menschenwürdegarantie zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Unionsrechts gehört. 46 Es würde jedoch zu kurz greifen, die Rezeption der Menschenwürdegarantie in das Verfassungsrecht der Union ausschließlich auf die Verfassungstradition der Bundesrepublik Deutschland zurückzuführen. Die Menschenwürde hat als „oberstes Konstitutionsprinzip“ auch in den Verfassungsordnungen anderer Mitgliedstaaten Fuß gefaßt. 47 Dabei dürften zwei Faktoren für die wachsende Bedeutung der Menschenwürde im „Verfassungsraum“ der Europäischen Union verantwortlich sein. Erstens ist innerhalb der Europäischen Union die Zahl und das politische Gewicht der Staaten gewachsen, deren Verfassungsordnung unmittelbar durch die traumatische Erfahrung eines diktatorischen Unrechtsregimes geprägt worden ist. Das Bekenntnis zur Menschenwürde in der deutschen, italienischen, griechischen, portugiesischen und spanischen Verfassung 48 muß in diesem Sinne jeweils als Versuch des pouvoir constituant verstanden werden, auf der höchsten Stufe der Normativität grundlegende Humanitätsstandards der Verfügbarkeit des politischen Prozeßes zu entziehen. Gleichzeitig zeichnen sich die postdiktatorischen Verfassungen regelmäßig durch einen hohen Grad an Offenheit gegenüber dem Völkerrecht aus, um dem neu konstituierten Staatswesen ein Höchstmaß an Legitimität zu verleihen. Aufgrund dieser „Grundentscheidung für die internationale Offenheit“ 49 findet bereits im Prozeß der Verfassunggebung ein Abgleich mit den völkerrechtlichen Menschenrechtsstandards statt, zu deren Bestand – wie bereits die Charta der Vereinten Nationen und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ausweisen 50 – auch die Menschenwürdegarantie zählt. 51 ___________ 46 EuGH, Rs. C-377/98, Urteil v. 09.10.2001, Slg. 2001, I-7079, Rn 70 - Niederlande/Parlament und Rat. Siehe auch GA Jacobs, ebenda, I-7140, Tz. 197 (mit Bezug auf Art. 1 der Grundrechtscharta). 47 Vgl. Fn. 45. 48 Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 3 S. 1 der italienischen Verfassung, Art. 2 Abs. 1 der griechischen Verfassung, Art. 1 der portugiesischen Verfassung, Art. 10 Abs. 1 der spanischen Verfassung. 49 Vgl. Ch. Tomuschat, Die staatsrechtliche Entscheidung für die internationale Offenheit, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII (1992), § 172. 50 Siehe Präambel (Abs. 2) der Charta der Vereinten Nationen und Präambel (Abs. 1 und 5), Art. 1, Art. 22, Art. 23 Abs. 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Vgl. auch A. Marhaun, Menschenwürde und Völkerrecht (2001); O. Schachter, Human Dignity as a Normative Concept, AJIL 77 (1983), S. 848 ff. 51 Die Rolle der Menschenwürdeklauseln der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte als Inspirationsquelle läßt sich bereits für das Grundgesetz nachweisen, vgl. H. Wilms, Ausländische Einwirkungen auf die Entstehung des Grundgesetzes (1999), S. 137 m. w. N. zur Genese des Art. 1 Abs. 1 GG. Siehe aus dem Kreis der Beitrittsstaaten
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Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, daß die Menschenwürde in allen Verfassungen der Beitrittsstaaten aus Mittel- und Osteuropa positiviert ist. 52 Mit der Vollziehung ihres Beitritts wird sich somit die normative Basis für die Qualifizierung der Menschenwürdegarantie als Teil der gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten weiter verbreitern. Den zweiten wirkmächtigen Katalysator für den Aufstieg der Menschenwürde an die Spitze der Wertepyramide der Europäischen Union bilden die rechtlichen Herausforderungen der modernen Biomedizin und Biotechnologie. 53 Die Menschenwürde ist im verfassungs- und völkerrechtlichen Diskurs um die vertretbaren Grenzen biotechnologischer Manipulationen zu einem Schlüsselbegriff geworden, dem die Funktion zukommt, grundlegende ethische Standards in das positive Recht zu übersetzen. So stand die späte „Entdeckung“ der Menschenwürdegarantie als Verfassungsgrundsatz in Frankreich durch den Conseil Constitutionnel 54 im Zusammenhang mit der Überprüfung der Verfassungskonformität eines Gesetzgebungsvorhabens, das unter anderem Fragen der Organspende, künstlichen Befruchtung und Pränataldiagnose regeln sollte. In seiner aufsehenerregenden Entscheidung aus dem Jahre 1994 stellte der Conseil Constitutionnel unter Rückgriff auf die Präambel der französischen Verfassung von 1946 fest, daß die Wahrung der Menschenwürde ein Prinzip von Verfassungsrang darstellt. Die Einordnung der Menschenwürdegarantie in eine spezifisch französische Traditionslinie dürfte es Frankreich wesentlich erleichtert haben, die Menschenwürde auch als Teil der gemeinsamen europäischen Verfassungstradition anzuerkennen. Mit der Bioethikkonvention aus dem Jahre 1997 55 ist die Menschenwürdegarantie nunmehr auch im Menschenrechtssystem des Europarates zu einem vertraglich positivierten Topos erstarkt. 56 ___________ etwa Art. 12 Abs. 1 der slowakischen Verfassung („People are free and equal in dignity and their rights“), der Art. 1 Satz 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte („All human beings are born free and equal in dignity and rights.“) rezipiert. 52 Estland: Art. 10 der Verfassung; Lettland: Art. 95 der Verfassung; Litauen: Art. 21 Abs. 2, Art. 22 Abs. 4, Art. 25 Abs. 3 der Verfassung; Polen: Präambel, Art. 30 der Verfassung; Slowakei: Art. 12 Abs. 1, Art. 19 Abs. 1 der Verfassung; Slowenien: Art. 21 Abs. 1 der Verfassung; Tschechische Republik: Präambel der Verfassung. 53 Siehe auch Herdegen (Fn. 44) Rn. 16. 54 Entscheidung Nr. 94-343/344 DC vom 27.07.1994 (Loi relative au respect du corps humain et loi relative au don et à l'utilisation des éléments et produits du corps humain, à l'assistance médicale à la procréation et au diagnostic prénatal), abrufbar unter: http://www.conseil-constitutionnel.fr/decision/1994/94343dc.htm. 55 Convention for the Protection of Human Rights and Dignity of the Human Being with Regard to the Application of Biology and Medicine: Convention on Human Rights and Biomedicine vom 04.04.1997, ETS Nr. 164. Aus dem Kreis der Mitgliedstaaten der
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b) Die Menschenwürde als Teil der europäischen Verfassungsidentität Mit dem Menschenwürdebekenntnis stellt die Union nicht nur klar, daß sie den Menschen als Person in den Mittelpunkt ihres Handelns stellt, 57 sich also als anthropozentrische Wertordnung begreift. Die Ablösung der Freiheit durch die Menschenwürde als axiales Prinzip der Unionsverfassung ist darüber hinaus auch Ausdruck einer in den Mitgliedstaaten der Union gewachsenen spezifisch europäischen Verfassungsidentität, die sich nicht nur gegen jede Form des Totalitarismus, sondern auch gegen ein rein liberales Staats- und Gesellschaftsmodell absetzt. 58 Die Union bekennt sich zu den dem Menschen kraft seiner Würde zustehenden Menschenrechten, die in der Grundrechtscharta den Werten der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität zugeordnet und in einzelne Grundrechte aufgelöst werden. Damit machen die Grundrechtscharta und der Verfassungsentwurf deutlich, daß die Union einem Menschenbild verpflichtet ist, das den Menschen nicht als ein in seiner Freiheit vereinzeltes Wesen, sondern in seiner sozialen Einbindung erfaßt. 59 Die Union wird damit als Solidargemeinschaft begriffen, die nicht nur individuelle Freiheitsräume schafft, sondern auch ein Minimum an sozialer Gerechtigkeit verbürgt. In dieser sozialen Dimension der Menschenwürde verkörpert sich der entscheidende Unterschied zur US-
___________ Union haben bislang nur Dänemark, Griechenland, Portugal und Spanien das Abkommen ratifiziert (Stand: 16.6.2003). 56 Auch die oben (Fn. 46) zitierte Entscheidung des EuGH setzt sich mit der Menschenwürde im Kontext der Bioethik (rechtlicher Schutz biotechnologischer Erfindungen) auseinander. 57 Vgl. Abs. 2 Satz 2 der Präambel der Grundrechtscharta. Hierzu auch Meyer (Fn. 1), Präambel, Rn. 35. 58 Das spezifisch europäische Verfassungsverständnis findet sein Gegenstück im „Europäischen Gesellschaftsmodell“ (siehe oben Fn. 34). Vgl. zur Wechselwirkung zwischen der Grundrechtscharta und dem „Europäischen Gesellschaftsmodell“ P. J. Tettinger, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, NJW 2001, S. 1010 (1013). Siehe in diesem Zusammenhang auch die typisierende Gegenüberstellung des Grundgesetzes als „Verfassung der Würde“ und der Verfassung der Vereinigten Staaten als „Verfassung der Freiheit“ bei D. Kommers, Kann das deutsche Verfassungsrechtsdenken Vorbild für die Vereinigten Staaten sein?, Der Staat 1998, S. 335 (338 f.) und E. J. Eberle, Dignity and Liberty, Constitutional Visions in Germany and the United States (2002), S. 254 ff. 59 Vgl. hierzu auch die Menschenbild-Formel des Bundesverfassungsgerichts in BVerfGE 4, 7 (15 f.): „Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveränen Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum – Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten“.
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amerikanischen Verfassungstradition, die die soziale Verantwortung in weit größerem Maße der gesellschaftlichen Selbstregulierung zuordnet. 60
4. Die Wertdimension der Unionsgrundrechte Art. I-3 des Verfassungsentwurfs, der neben der Bewahrung des Friedens die Förderung der Grundwerte an die Spitze der Ziele der Europäischen Union stellt, verdeutlicht, daß die verfassungsrechtlich positivierten Werte der Union nicht nur als äußere Grenze zulässiger Ausübung von Hoheitsgewalt (ordre public), sondern auch in ihrer gesellschaftsgestaltenden Schutz- und Gewährleistungsdimension verstanden werden müssen. Im Lichte dieser Vorschrift liegt es nahe, auch die den Wertekatalog konkretisierenden Unionsgrundrechte über ihre Abwehrdimension hinaus als „wertentscheidende Grundsatznormen“ zu verstehen. Nach diesem Verständnis verkörpern insbesondere die in der Grundrechtscharta normierten Freiheitsrechte nicht nur Unterlassungsansprüche, sondern auch Schutz- und Gewährleistungsaufträge. In dieser Eigenschaft senden sie „Richtlinien und Impulse“ 61 an alle mit der Anwendung des Unionsrechts betrauten Organe und strahlen damit in alle Bereiche des Unionsrechts aus. Gerade in der deutschen Europarechtslehre sind jedoch Stimmen zu vernehmen, die einem solchen wertorientierten Grundrechtsverständnis auf europäischer Ebene mit Ablehnung und Skepsis begegnen und vor einer Projektion der deutschen Grundrechtsdogmatik auf die Unionsgrundrechte warnen. 62 Auch an dieser Stelle soll einer mechanischen Übertragung deutschen Grundrechtsdenkens auf die Unionsebene nicht das Wort geredet werden. Bei der Beurteilung der zukünftigen Wirkungen der Unionsgrundrechte müssen vielmehr sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die Unterschiede zu nationalen Grundrechtssystemen sorgfältig beachtet werden. Als wichtiger gemeinsamer Anknüpfungspunkt für die Ableitung objektiver Grundrechtsdimensionen springt die Menschenwürdegarantie mit ihrem in Art. 1 der Grundrechtscharta niedergelegten, vom Grundgesetz inspirierten Schutzgebot ins Auge. Bei den Unionsgrundrechten kommt jedoch hinzu, daß ihre Auslegung in wesentlich stärkerem Maße als bei den deutschen Grundrechten ___________ 60 Hierzu etwa W. Brugger, Demokratie, Freiheit, Gleichheit (2002), S. 11 ff.; 20 ff.; Eberle (Fn. 58); Kommers (Fn. 58), S. 335 ff. 61 Vgl. BVerfGE 7, 198 (205). 62 Vgl. mit je unterschiedlicher Akzentsetzung v. Bogdandy (Fn. 13), S. 169 f.; Müller-Graff (Fn. 13), S. 1289 f.; Schröder (Fn. 2), S. 851 f. (der zwar die Verstärkung der Unionsgrundrechte um objektive Dimensionen begrüßt, den Wertordnungstopos jedoch als Begründungsansatz verwirft).
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durch die EMRK und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte geprägt wird. 63 Dabei kann es nicht ohne Auswirkung auf die Unionsgrundrechte bleiben, daß nach gefestigter Rechtsprechung des Straßburger Menschenrechtsgerichtshofs aus den Konventionsrechten auch „positive“ Verpflichtungen für die Organe der Konventionsstaaten fließen. 64 Es sprechen somit gute Gründe für die Annahme, daß auch den Unionsgrundrechten „positive“ Gewährleistungsdimensionen entnommen werden können. 65 Die Auswirkungen dieses expansiven Grundrechtsverständnisses sind aber im Rahmen der Europäischen Union ganz anders zu beurteilen als unter dem Grundgesetz. Das Bundesverfassungsgericht war zu Beginn seiner Judikatur mit einer Verfassung konfrontiert, die sich in ihrem Grundrechtsteil im wesentlichen auf die Normierung der „klassischen“ Freiheitsrechte beschränkte und sich auch im übrigen weitgehend materieller Vorgaben an den politischen Prozeß enthielt. Erst über die „Entdeckung“ der Grundrechte als „objektive Wertentscheidungen“ hat das Bundesverfassungsgericht dem Grundgesetz auch materielle Vorgaben für die anderen Staatsorgane entlockt und zum Maßstab für die verfassungsgerichtliche Überprüfung erhoben. 66 Die vom Konvent ausgearbeitete Unionsverfassung hat dagegen ein ganz anderes Gepräge. Sie ist ihrem Typus nach keine liberale Rahmenverfassung, sondern eine finale „Werteverfassung“ 67 , die dem politischen Prozeß materielle Ziele vorgibt. 68 Speziell im Grundrechtsbereich enthält die Grundrechtscharta der Union eine Reihe von Schutzpflichten, Teilhaberechten, sozialen Rechten und Unionszielbestimmungen, die den wertvermittelten Rückgriff auf die objektiven Dimensionen abwehrrechtlich formulierter Grundrechte vielfach erübrigen (und wohl auch als lex specialis beschränken). Hinter der dennoch bestehenden Skepsis gegenüber dem Verständnis der Unionsgrundrechte als objektive Wertenscheidungen verbergen sich vor allen ___________ 63
Vgl. Präambel, sowie Art. 52 Abs. 3 der Grundrechtscharta (jetzt: Art. II-52 Abs. 3 des Verfassungsentwurfs). 64 Hierzu mit zahlreichen Nachweisen zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte C. Dröge, Positive Verpflichtungen der Staaten in der Europäischen Menschenrechtskonvention (2003); Ch. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention (2003), S. 139 ff. 65 So im Ergebnis etwa D. Ehlers, Allgemeine Lehren, in: ders. (Hrsg), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten (2003), S. 329; J. Kühling, Grundrechte, in: v. Bogdandy (Fn. 35), S. 583 (602 ff.); W. Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft (1993), S. 205 ff.; Schröder (Fn. 2), S. 852; Tomuschat (Fn. 13), S. 186 f. 66 Siehe hierzu die Nachweise in Fn. 10. 67 Vgl. zur idealtypischen Unterscheidung zwischen einer „materialen Werteverfassung“ und einer „demokratisch-liberalen Organisationsverfassung“ Brugger (Fn. 60), S. 11 f. 68 Vgl. insbesondere Art. I-3 des Verfassungsentwurfs.
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Dingen zwei verfassungspolitische Sorgen: Zum einen wird die unitarisierende Wirkung der Grundrechte befürchtet – also eine zulasten der Mitgliedstaaten gehende Kompetenzverschiebung auf die Unionsebene. Zum anderen gilt die Sorge einer Verlagerung der Balance zwischen legislativer und rechtsprechender Gewalt auf horizontaler Ebene. Das Schreckgespenst des „gouvernement des juges“ geht um. Die Grundrechtscharta und der Verfassungsentwurf nehmen dabei die Sorge um das kompetenzverstärkende Potential der Grundrechte auf und versuchen ihm mit entsprechenden „Nichtberührungsklauseln“ im Hinblick auf die horizontale und vertikale Kompetenzverteilung in der Union entgegenzuwirken. 69 Der Verfassungskonvent hat die Grundrechtscharta sogar noch um klarstellende Formulierungen zur Absicherung des kompetenzrechtlichen status quo ergänzt. 70 Die Glaubwürdigkeit dieser Klauseln wird auf der Regierungskonferenz maßgeblich darüber entscheiden, ob die Grundrechtscharta schließlich in ihrer gegenwärtigen Form zum integralen Bestandteil des Verfassungsvertrages wird. Was die Sorge um ein „gouvernement des juges“ auf Unionsebene angeht, darf nicht außer acht gelassen werden, daß der Europäische Gerichtshof nicht über die Kompetenzfülle des Bundesverfassungsgerichts verfügt. Insbesondere gibt es im Unionsrecht keine der Verfassungsbeschwerde vergleichbare individuelle Grundrechtsbeschwerde, so daß schon deshalb nicht zu erwarten steht, daß die Tätigkeit des Europäischen Gerichtshofs mit dem Inkrafttreten des Verfassungsvertrages durch eine expansive Grundrechtsjudikatur dominiert ___________ 69 Art. 52 Abs. 1 und 2 der Grundrechtscharta; Art. II-52 Abs. 1 und 2 des Verfassungsentwurfs. 70 Vgl. Art. II-52 Abs. 1 und 2 des Verfassungsentwurfs mit den entsprechenden Absätzen der Grundrechtscharta. Im vorliegenden Zusammenhang ist darüber hinaus die in Art. II-52 Abs. 5 des Verfassungsentwurfs eingefügte Bestimmung über die Tragweite und Auslegung von in der Charta niedergelegten „Grundsätzen“ von Interesse. „Grundsätze“ bedürfen nach dieser Bestimmung der Umsetzung durch die zuständigen Legislativ- oder Exekutivorgane der Union oder der Mitgliedstaaten. Gerichte dürfen „Grundsätze“ nur „bei der Auslegung dieser [Umsetzungs-]Akte und bei Entscheidungen über deren Rechtmäßigkeit“ heranziehen. Offen bleibt, welche Chartagewährleistungen mit der Kategorie der „Grundsätze“ im Unterschied zu „Rechten“ und „Freiheiten“ gemeint sind (vgl. zu dieser Trias Art. I-7 Abs. 1 des Verfassungsentwurfs sowie die Präambel der Grundrechtscharta). Es handelt sich dabei wohl um ausschließlich objektiv-rechtlich wirkende Normen, die den Charakter von „Unionszielbestimmungen“ haben, wie etwa der in Art. II-37 normierte „Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung“ oder das in Art. II-38 niedergelegte Verbraucherschutzprinzip. Man wird wohl nicht annehmen können, daß Art. II-52 Abs. 5 generell den Gerichten verwehren soll, Unionsgrundrechte (ohne einen entsprechenden Umsetzungsakt) über ihre abwehrrechtliche Dimension hinaus als „wertentscheidende Grundsatznormen“ anzuwenden. Siehe hierzu Schlußbericht der Arbeitsgruppe II „Einbeziehung der Charta/Beitritt zur EMRK“, CONV 354/02, (22.10.2002), S. 8; Meyer (Fn. 1), Präambel, Rn. 51; J. Pietsch, Die Grundrechte-Charta im Verfassungskonvent, ZRP 2003, S. 1 (4).
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wird. Im übrigen hat sich der Europäische Gerichtshof gerade in seiner Grundrechtsprechung bislang bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung einen gewissen judicial self-restraint gegenüber dem politischen Prozeß auferlegt, 71 ohne dabei allerdings das (auch aus der Sicht des nationalen Verfassungsrechts 72 ) erforderliche Schutzniveau zu unterschreiten. Dies hat dem Luxemburger Gerichtshof zwar gelegentlich den Vorwurf der unzureichenden Kontrolldichte eingebracht, 73 kann aber eher als Beleg für die Sensibilität des Gerichtshofs für Fragen des institutionellen Gleichgewichts innerhalb der Union dienen.74 Die bisherige Grundrechtsjudikatur aus Luxemburg stützt daher die Prognose, daß der Europäische Gerichtshof auch bei der Anwendung von Grundrechten in ihrer Gewährleistungsdimension den politischen Organen die notwendigen Handlungsspielräume gewähren wird.
5. Grundwertehomogenität zwischen Union und Mitgliedstaaten Es entspricht den Erkenntnissen der Bundesstaatstheorie, daß zwischen den Verfassungs- und Rechtsordnungen, die in einem föderal gestuften Gemeinwesen zusammengefaßt sind, eine gewisse Grundwertehomogenität bestehen muß, um die Funktionsfähigkeit des föderalen Verbandes zu sichern. 75 Die Gründe hierfür können an dieser Stelle nur kurz angerissen werden: 76 –
Zum einen setzt die mannigfaltige Verschränkung der Hoheitsgewalt der Union und der Mitgliedstaaten voraus, daß die Herrschaftsgewalt auf allen Ebenen nach den gleichen grundlegenden Strukturprinzipien ausgeübt wird.
–
Die Union, die die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten achtet und damit ständig eine Vielzahl nationaler Interessen in ihren Entscheidungsprozessen zum Ausgleich bringen muß, bedarf darüber hinaus, um entscheidungsfähig zu bleiben, eines gemeinsamen (auch verfassungsrechtlich abgestützten) Wertefundamentes. Dies gilt auch und gerade dann, wenn in den Organen der Union nach dem Mehrheitsprinzip entschieden wird. Mehrheitsentscheidungen werden – wie uns die Plura___________ 71
Hierzu im einzelnen v. Bogdandy (Fn. 13), S. 163 ff. Vgl. BVerfGE 102, 147 (161 ff.). 73 Vgl. etwa U. Everling, Will Europe Slip on Bananas? The Bananas Judgment of the Court of Justice and National Courts, CML Rev. 33 (1996), 401, 413 ff.; Herdegen (Fn. 25), S. 10 ff.; P. Selmer, Die Gewährleistung des unabdingbaren Grundrechtsstandards durch den EuGH (1998). 74 v. Bogdandy (Fn. 13), S. 165. 75 Hierzu eingehend Th. Schmitz, Integration in der Supranationalen Union (2001), S. 301 ff.; F. Schorkopf, Homogenität in der Europäischen Union (2000), S. 36 ff. 76 Vgl. im einzelnen Schmitz (Fn. 75), S. 313 ff.; Schorkopf (Fn. 75), S. 36 ff. 72
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lismustheorie lehrt 77 – von der überstimmten Minderheit nur toleriert, wenn es einen konsentierten Bereich des Unabstimmbaren gibt. –
Die Verpflichtung aller im föderalen Verbund zusammengeschlossenen Hoheitsträger auf die im Wertekatalog der Union niedergelegten gemeineuropäischen Legitimationsstandards (Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte) stellt zudem sicher, daß die Ausübung von Hoheitsgewalt in der Europäischen Union auf allen Ebenen von den Hoheitsunterworfenen als legitim akzeptiert wird.
–
Schließlich trägt die Verankerung der gemeineuropäischen Grundwerte in sämtlichen in der Union verbundenen Verfassungs- und Rechtsordnungen – wie bereits eingangs angedeutet – zur Herausbildung eine „europäischen Bewußtseins“ in den Völkern der Union bei. Ohne dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit und gemeinsamen Zugehörigkeit zur Union, kann die Europäische Union nicht als föderale „Schicksalsgemeinschaft“ mit wechselseitigen Solidar- und Treuepflichten funktionieren.
Vor diesem Hintergrund normiert Art. I-2 des Verfassungsentwurfs in Anlehnung an Art. 6 Abs. 1 der geltenden Unionsvertrages das Gebot der Grundwertehomogenität zwischen Union und Mitgliedstaaten. Dieser Homogenitätsstandard ist in zwei Konstellationen von praktischer Bedeutung: Zum einen bei der Beurteilung der Beitrittsfähigkeit neuer Mitgliedstaaten 78 und zum anderen im Rahmen des durch den Amsterdamer Vertrag eingeführten Sanktionsverfahrens bei schwerwiegender Verletzung der Grundwerte durch einen Mitgliedstaat. 79 a) Beitrittsverfahren Die Union muß sicherstellen, daß die Staaten, die ihr beitreten, die Grundwerte der Union achten. Mit dem Amsterdamer Vertrag wurde vor dem Hintergrund der beabsichtigten Osterweiterung erstmals klargestellt, daß die Achtung der Grundwerte der Union nicht nur ein politisches Kriterium, sondern eine zwingende rechtliche Beitrittsvoraussetzung darstellt. Die Auseinandersetzung um die Beneš- und Bierut-Dekrete im Zusammenhang mit dem Beitritt der
___________ 77 Hierzu etwa W. Brugger, Theorie und Verfassung des Pluralismus, in: ders. (Hrsg.), Legitimation des Grundgesetzes aus Sicht der Rechtsphilosophie und Gesellschaftstheorie (1996), S. 273 ff. 78 Siehe Art. 49 EUV und Art. I-57 des Verfassungsentwurfs. 79 Vgl. Art. 7 EUV und Art. 309 EG einerseits und Art. I-58 des Verfassungsentwurfs andererseits.
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Tschechischen Republik und Polens haben die Schwierigkeit der rechtlichen Handhabung der Beitrittskriterien dokumentiert. 80 Der Konvent hat im Hinblick auf die Überprüfung der Grundwertekonformität von Beitrittskandidaten gegenüber der aktuellen Rechtslage keine wesentlichen Modifikationen vorgenommen. Zwei Aspekte verdienen jedoch besondere Erwähnung. Erstens hat sich der Konvent mit der Frage auseinandergesetzt, ob sich die Homogenitätsanforderungen nur auf die Wertkonformität des Handelns der staatlichen Organe oder auch auf die Werthaltungen der beitrittswilligen Völker beziehen. Während Art. 49 des geltenden Unionsvertrages 81 lediglich die Achtung der Grundwerte der Union durch den Beitrittsstaat verlangt, hieß es im ersten Entwurf des Präsidiums des Konvents, daß die „Völker [der Beitrittsstaaten] die ... Werte [der Union] teilen, achten und sich verpflichten [müssen], sie gemeinsam zu fördern.“ 82 Indem das Präsidium die Homogenitätsverpflichtung damit nicht auf die Staaten, sondern auf deren Völker bezog, wurde klargestellt, daß es für die Beitrittsfähigkeit (aus rechtlicher Warte) auch auf den gesellschaftlichen Wertekonsens in den Beitrittsstaaten ankommt. Der Präsidiumsentwurf gab jedoch zu Mißverständnissen Anlaß, da nunmehr die Völker zum alleinigen Pflichtsubjekt für die Herstellung und Bewahrung der Grundwertehomogenität geworden waren. Aufgrund entsprechender Einwände aus den Reihen des Konvents wurde der Bezug auf die Völker daher gestrichen und statt dessen der Beitrittsstaat selbst wieder als Adressat der Achtungs- und Verwirklichungspflicht benannt. 83 Obwohl damit der explizite Bezug auf den gesellschaftlichen Wertekonsens fallengelassen wurde 84 , dürfte dennoch sowohl nach gegenwärtiger Rechtslage als auch nach dem endgültigen Konventsentwurf die Werthaltung des beitritts-
___________ 80 Vgl. hierzu den Beitrag von D. Blumenwitz, in diesem Band, S. 167 sowie Ch. Tomuschat, Reckoning with the Past in the Czech Republic: A Test of the Homogeneity Clause Pursuant to Article 6 EC Treaty, in: European Integration and International Coordination. Studies in Transnational Economic Law in Honour of Claus-Dieter Ehlermann (2002), S. 451ff. 81 Art. 49 Abs. 1 Satz 1 EUV lautet: „ Jeder europäische Staat, der die in Art. 6 Abs. 1 genannten Grundsätze achtet, kann beantragen, Mitglied der Union zu werden.“ 82 Vgl. Art. 1 Abs. 3 und 43 des ursprünglichen Präsidiumsentwurfs, CONV 528/03, Anlage 1 (06.02.2003); CONV 648/03, Anlage 1 (02.04.2003) [Hervorhebung vom Verfasser]. 83 Vgl. CONV 724/1/03 Rev 1 (28.05.2003), Anlage 2, S. 127 f. 84 Art. I-57 Abs. 1 des Verfassungsentwurfs lautet: „Die Union steht allen europäischen Staaten offen, die die in Artikel I-2 genannten Werte achten und sich verpflichten, ihnen gemeinsam Geltung zu verschaffen.“
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willigen Staatsvolkes von Bedeutung für die Beurteilung der Beitrittsfähigkeit sein. 85 Die Union ist nämlich auch im Verhältnis zu den bereits aufgenommen Mitgliedstaaten auf den gelebten Grundwertekonsens in den Völkern der Mitgliedstaaten angewiesen. Dieser Konsens kann in einer freien Gesellschaft aber nicht hoheitlich verordnet werden. Die Mitgliedstaaten und die Union können nur um ihn werben. Auch die Union lebt – um das mittlerweile geflügelte Wort Ernst-Wolfgang Böckenfördes aufzugreifen – von Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren kann. 86 Gerade deshalb ist es aber legitim und geboten, bei den Beitrittsstaaten bereits eine gewisse Konsolidierung des gesellschaftlichen Wertekonsenses vorauszusetzen. Im übrigen verpflichtet der Verfassungsentwurf die Beitrittsstaaten im Unterschied zur geltenden Fassung des Unionsvertrages nicht nur zur Achtung der Grundwerte der Union, sondern auch zu ihrer aktiven Förderung. 87 Dies wird man auch als fortdauernde Verpflichtung der Beitrittsstaaten verstehen müssen, in ihren eigenen Gesellschaften den europäischen Wertekonsens zu umhegen. Die zweite Anmerkung zur Ausgestaltung der Beitrittsvoraussetzungen im Verfassungsentwurf des Konvents betrifft den Minderheitenschutz. Es erscheint bedenklich, daß die international anerkannten Schutzstandards für Minderheiten 88 vom Konvent nicht ausdrücklich in den Katalog der Grundwerte der Union aufgenommen worden sind. Zwar zählen die Achtung und der Schutz von Minderheiten neben Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten zu den für die gegenwärtige Erweiterungsrunde vom Europäischen Rat in Kopenhagen 1993 ausdrücklich formulierten Aufnahmekriterien. 89 Gerade deshalb wiegt es aber besonders schwer, daß der Minderheitenschutz im Verfassungsentwurf unterschlagen wird, zumal auch die Grundrechtscharta keine spezifische Bestimmung zum Schutz von Minderheiten kennt. 90 ___________ 85 Siehe zur Bedeutung des gesellschaftlichen Wertekonsenses nach gegenwärtiger Rechtslage insbesondere Schmitz (Fn. 75), S. 313 ff. 86 E. W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, abgedruckt in: ders., Recht, Staat, Freiheit (1991), S. 92 (112). 87 Vgl. oben Fn. 84. 88 Vgl. insbesondere Art. 27 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte v. 19.12.1966, BGBl. 1973 II, S. 1570 ff. 89 Schlußfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat (Kopenhagen), 22.06.1993, BullEG 6-1993, S. 13. Hierzu D. Blumenwitz, Die minderheitenschutzrechtlichen Anforderungen der EU hinsichtlich des Beitritts der ost- und ostmitteleuropäischen Staaten, in: ders./G. H. Gornig/D. Murswiek, Fortschritte im Beitrittsprozeß der Staaten Ostmittel-, Ost- und Südosteuropas zur Europäischen Union (1999), S. 25 (28). 90 Vgl. zur Grundrechtscharta Tomuschat (Fn. 13), S. 182 f.
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b) Warn- und Sanktionsverfahren Art. 7 des geltenden Unionsvertrages, der im wesentlichen unverändert in den Verfassungsentwurf des Konvents übernommen worden ist 91 , verleiht der Forderung nach Grundwertehomogenität zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten Zähne. 92 Bei dem Sanktionsverfahren des Art. 7 des Unionsvertrages handelt es sich um einen schwerwiegenden Eingriff in die Verfassungsautonomie der Mitgliedstaaten. Der Verfassungsentwurf stellt nunmehr explizit klar, daß auch die verfassungsrechtliche Struktur der Mitgliedstaaten grundsätzlich vom Schutz ihrer nationalen Identität umfaßt ist (Art. I-5 Abs. 1). Da die Union in ihrer Existenz aber vom fortbestehenden Grundwertekonsens zwischen den Mitgliedstaaten und der Union abhängig ist, beansprucht sie, die Beachtung ihrer Grundwerte auch gegenüber den Mitgliedstaaten durchzusetzen. Dabei ist von Bedeutung, daß das Sanktionsverfahren nicht nur im Anwendungsbereich des Unionsrechtes eingreift, sondern auch wenn die Mißachtung der Grundwerte in einen Bereich fällt, der der originären Zuständigkeit des Mitgliedstaates unterliegt. Der sanktionsbewehrte Homogenitätsanspruch der Union erfaßt somit den gesamten „Verfassungsverbund“ von Union und Mitgliedstaaten. Die Europäische Union hat sich damit von einer werthaften zu einer wehrhaften Gemeinschaft entwickelt. 93 Der gemeinsamen Verpflichtung auf die Grundwerte des modernen Verfassungsstaates korrespondiert die wechselseitige Stabilisierung der Verfassungen auf mitgliedstaatlicher und auf Unionsebene. 94 Die Mitgliedstaaten übertragen der Union also quasi treuhänderisch die Befugnis, den Bestand ihrer freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu sichern, falls die eigenen Instrumente des Verfassungsschutzes versagen. Umgekehrt beanspruchen auch die Mitgliedstaaten, wie Art. 23 des Grundgesetzes exemplarisch dokumentiert, die Einhaltung grundlegender verfassungsstaatlicher Werte auf der Ebene der Union zu überwachen. Die Einführung des Sanktionsverfahrens durch den Amsterdamer Vertrag war von der Sorge getragen, daß sich die jungen Demokratien in Mittel- und Osteuropa trotz prinzipieller Beitrittsreife im Einzelfall auch nach ihrem Bei___________ 91
Siehe Art. I-58 des Verfassungsentwurfs. Siehe zum Sanktionsverfahren nach geltendem Unionsrecht eingehend Schorkopf (Fn. 75), S. 104 ff. 93 Vgl. zu den Verbindungslinien zum Gedanken der „wehrhaften Demokratie“ Rensmann (Fn. 7), S. 117; F. Schorkopf, Die Maßnahmen der XIV EU-Mitgliedstaaten gegen Österreich (2002), S. 119 ff. 94 Siehe zum Topos der „wechselseitigen Stabilisierung“ Pernice (Fn. 38), S. 186 m.w.N. 92
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tritt als noch nicht hinreichend resistent gegen autoritäre Versuchungen erweisen könnten. Vor diesem Hintergrund entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, daß das Sanktionsverfahren des Unionsvertrages zum ersten Mal im Drama der XIV gegen Österreich (also in einem Mitgliedsstaat des „alten“ Europa) praktisch relevant wurde. Wegen der Beteiligung der FPÖ an der Regierungsbildung in Österreich nach den Parlamentswahlen Ende 1999 – ein Vorgang, der sich übrigens Anfang 2003 ganz unspektakulär wiederholt hat – verhängten die anderen vierzehn Mitgliedstaaten der Europäischen Union von diesen als „bilateral“ bezeichnete Sanktionen gegen die österreichische Regierung. 95 Als Begründung führten sie an, daß wegen der Regierungsbeteiligung der FPÖ das Eintreten Österreichs für die europäischen Grundwerte nicht mehr gewährleistet sei. Das Sanktionsverfahren in der damals gültigen Fassung des Unionsvertrages 96 griff erst im Falle einer „schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung“ der europäischen Grundwerte ein. Ob es nach damaliger Rechtslage unionsrechtlich gestattet war, im Vorfeld einer qualifizierten Verletzungshandlung die Einhaltung der europäischen Grundwerte durch unfreundliche Akte außerhalb des Rahmens des Unionsrechts einzufordern, 97 ist seit dem Inkrafttreten des Vertrages von Nizza nur noch von rechtshistorischem Interesse. Die Neufassung des Art. 7 EUV 98 und die entsprechende Vorschrift des Verfassungsentwurfs 99 sehen nun ausdrücklich bereits im Falle einer „eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden [Grundwert]verletzung“ ein unionsrechtliches Vorfeldverfahren vor, bei dem vor allen Dingen gewährleistet ist, daß der betroffene Staat vor der Verhängung entsprechender Maßnahmen in rechtstaatlich gebotener Form angehört wird.
V. Schluß Werte sind im Prozeß der europäischen Konstitutionalisierung keine bloßen Begriffswolken, sondern zeitigen konkrete Rechtsfolgen. Gerade die Causa Austria demonstriert aber, daß Werten wegen ihres überschießenden ethischen Gehalts durchaus ein aggressives Potential innewohnt, das Kompetenz- und ___________ 95
Vgl. zum Vorgehen der XIV gegen Österreich eingehend Schorkopf (Fn. 93). Art. 7 EUV in der Fassung des Amsterdamer Vertrages. 97 Siehe im einzelnen zu den vielfältigen Rechtsfragen, die das Handeln der XIV Mitgliedstaaten gegenüber Österreich aufgeworfen hat, Schorkopf (Fn. 93), S. 53 ff. 98 Vgl. zur Neufassung des Art. 7 EUV durch den Vertrag von Nizza W. Kluth, in: Callies/Ruffert (Fn. 24), Art. 7 Rn. 6 ff.; Schorkopf (Fn. 93), S. 99 ff. 99 Art. I-58 Abs. 1 des Verfassungsentwurfs. 96
Grundwerte im Prozeß der europäischen Konstitutionalisierung
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Verfahrensnormen im Dienste höherer Werte beiseite schiebt. Werte bedürfen daher stets der juristischen Einhegung. Die Europäische Union hat das große Glück, daß sie bei dieser schwierigen Aufgabe der juristischen Zähmung der Werte auf den Erfahrungsschatz der nationalen Verfassungstraditionen vertrauen kann. Gerade in den Beitrittsstaaten aus Mittel- und Osteuropa hat sich nach dem Zerreißen des Eisernen Vorhangs – unter maßgeblichem Einfluß des deutschen Verfassungsrechts – ein subtiles wertorientiertes Verfassungsdenken entwikkelt. 100 Vor diesem Hintergrund sollte der bevorstehende Eintritt der Staaten aus Mittel- und Osteuropa in die Europäische Union nicht nur als große Herausforderung, sondern auch als eine nachhaltige Bereicherung der Verfassungsrechtskultur begriffen werden. * * *
Abstract Thilo Rensmann: Fundamental Values in the Process of European Constitutionalisation – Observations on the European Union as a “Community of Values” from a Legal Perspective, In: The European Union as a Community of Values. Ed. by Dieter Blumenwitz, Gilbert H. Gornig and Dietrich Murswiek (Berlin 2005) pp. 49-72. The European Union increasingly conceives itself as a “community of values”. This is highlighted by the Constitutional Treaty of the European Union. The Constitutional Treaty not only solemnly professes the Union’s allegiance to the universal values of dignity, liberty, equality and solidarity in its preamble; the “values of the Union” also figure prominently in the operative part of the Treaty and hence partake of its strict normativity. Values have therefore ceased to be mere sociological and philosophical concepts in the Union’s effort to forge a common identity amongst its peoples and to lend legitimacy to the Union’s exercise of sovereign power. Under the Constitutional Treaty values acquire an additional, legal dimension. Against this backdrop Thilo Rensmann identifies some of the salient legal aspects of the European Union’s gradual transformation into a “community of values”. His contribution canvasses the multiple legal connotations attached to ___________ 100
Siehe etwa zum Verfassungsrecht der Tschechischen Republik P. Holländer, The Judge Today: A Barrier Against Post-modern Deconstruction or a Verdicts Producing Automaton, in: Osteuroparecht 2002, S. 470 ff.
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the notion of “values” in the Constitutional Treaty. Just as in national constitutional law, the increasing reference to values as an integral part of positive law carries the risk of deformalising the legal system. The “values of the Union” will therefore need to be carefully reined in by the Union’s Constitution lest the rule of law turns into a “tyranny of values”.
Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union als Konkretisierung der gemeinsamen europäischen Werte Von Thomas Schmitz
I. Die Grundrechtecharta als Grundrechtsordnung der Europäischen Union Im Dezember 2000 proklamierten das Europäische Parlament, der Rat und die Kommission feierlich und mit Billigung der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten 1 die Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Dieser Grundrechtskatalog soll – so seine Präambel – die Grundrechte „sichtbarer machen“, zu denen sich die Union bekennt. Er reflektiert in 54 Artikeln in erster Linie den Grundrechtsschutz, der in der Europäischen Union bereits erreicht ist oder mit Blick auf die Europäische Menschenrechtskonvention (= EMRK) als selbstverständlich erwartet werden kann. Einige Innovationen gehen aber beachtlich darüber hinaus. Die Grundrechte-Charta ist ein in vieler Hinsicht interessanter Entwurf für eine europäische Grundrechtsordnung für das 21. Jahrhundert. Zugleich ist sie der bisher wichtigste Ausdruck des Selbstverständnisses der Europäischen Union als Wertegemeinschaft. Mein Vortrag wird sich damit beschäftigen, daß und wie diese Charta die gemeinsamen europäischen Werte konkretisiert.
1. Der Grundrechtsschutz vor der Charta Schon in den sechziger Jahren wurde mit der allmählichen Entfaltung der Tätigkeit der Europäischen Gemeinschaften deutlich, daß den Menschenrechten auch von dieser neuen, supranationalen Hoheitsgewalt Gefahren drohen. Nach anfänglichem Zögern begann der Europäische Gerichtshof 1969 mit der Entscheidung Stauder 2 , eine eigene, richterrechtliche Grundrechtsordnung der Gemeinschaften aufzubauen. Nach und nach reicherte er die Dogmatik des Gemeinschaftsrechts um eine Fülle von Grundrechten an, die er als allgemeine ___________ 1 Vgl. die Schlußfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates zu dessen Tagung in Nizza vom 07.-09.12.2000, Nr. 2 (http://ue.eu.int/presid/conclusions.htm). 2 EuGH, Rs. 29/69, Stauder, Slg. 1969, 419.
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Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts „entdeckte“. 3 Dabei ließ er sich maßgeblich von der Europäischen Menschenrechtskonvention und den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten inspirieren. 4 Heute ist diese Methode durch Art. 6 II EUV gründungsvertraglich festgeschrieben. Sie erlaubt einen Grundrechtsschutz auf hohem Niveau und sogar ein flexibles Eingehen auf neue Herausforderungen. 5 Mit der EMRK und den nationalen Verfassungen als reichhaltigen Inspirationsquellen sowie der Rechtsfigur der allgemeinen Rechtsgrundsätze als leicht zu verarbeitendem Baumaterial läßt sich richterrechtlich eine Grundrechtsordnung errichten, die der moderner Staatsverfassungen nicht nachsteht. Zwar werden heute Defizite festgestellt, man denke nur an den Streit um die Gemeinsame Bananenmarktordnung. 6 Doch diese liegen weniger in der Konzeption des Grundrechtsschutzes als in der Anwendung der Grundrechte in der Praxis. Ein eigener Grundrechtskatalog zielt indessen auch auf eine Erhöhung der Legitimität der Union und eine stärkere Identifikation der Bürger. Er soll zum Ausdruck bringen, daß es sich hier nicht nur um einen funktionalen Zweckverband von Staaten, einen Regierungsclub oder einen gemeinsamen Markt handelt, sondern um eine Integrationsgemeinschaft der Bürger mit gemeinsamen Werten, für die es sich zu engagieren lohnt. Das kann eine rechtstechnische Lösung nach dem Muster des Art. 6 II EUV nicht. Außerdem erlaubt ein ausformulierter Grundrechtskatalog einen differenzierteren und damit reiferen, wenn auch nicht notwendigerweise weitergehenden Grundrechtsschutz als das vergleichsweise grobe Instrument der allgemeinen Rechtsgrundsätze. In ihm kann sich damit etwas äußern, was der Europäischen Union lange Zeit zu fehlen schien: eine über das Wirtschaftliche und Funktionale hinausgehende eigene Identität. ___________ 3 Vgl. die Zusammenstellung einschlägiger Entscheidungen bei Hummer/Simma/ Vedder, Europarecht in Fällen, 3. Aufl. 1999, S. 415 ff. sowie die Darstellungen bei Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1989, S. 53 ff., und Chwolik-Lanfermann, Grundrechtsschutz in der Europäischen Union, 1994, S. 47 ff. Einzelne an Grundrechte erinnernde Inhalte finden sich auch schon verstreut in den Gründungsverträgen, vgl. etwa Art. 12, 13 EGV (Diskriminierungsverbot, Antidiskriminierungsmaßnahmen), oder die Rechte aus der Unionsbürgerschaft (Art. 18 - 21 EGV). 4 Vgl. insbes. die Entscheidungen Nold (Rs. 4/73, Slg. 1974, 491) und Hauer (Rs. 44/79, Slg. 1979, 3727). 5 Diesen Vorzug betont Zuleeg, EuGRZ 2000, 511 (513). 6 Vgl. EuGH, Rs. C-280/93, Bundesrepublik Deutschland/Rat, Slg. 1994, I-4973 und Rs. C-466/93, Atlanta Fruchthandelsgesellschaft, Slg. 1995, I-3799 mit „großzügigen“ Prüfungsmaßstäben sowie die Kritik dieser Entscheidungen bei Huber, EuZW 1997, 517 ff.; Stein, EuZW 1998, 261 ff. und Verwaltungsgericht Frankfurt, EuZW 1997, 182. Das Bundesverfassungsgericht hat eine Intervention gegen die Anwendung der Gemeinsamen Bananenmarktordnung in Deutschland abgelehnt (siehe BVerfGE 102, 147, und dazu Schmitz, European Review of Public Law 13 [2001], 1471 [1503 ff.]).
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2. Der Weg zur Grundrechte-Charta Seit den siebziger Jahren wurde die Idee eines Grundrechtskataloges für die Europäischen Gemeinschaften diskutiert. 7 Schon 1974 mahnte das Bundesverfassungsgericht in seinem Solange I-Beschluß 8 einen „formulierten Katalog von Grundrechten“ an. Es hielt ihn – damals jedenfalls. – für unerläßlich für einen angemessenen Schutz der Grundrechte im Gemeinschaftsrecht. 9 25 Jahre später setzte der Europäische Rat schließlich auf deutsche Initiative eine 62köpfige Versammlung ein, die nach vagen inhaltlichen Vorgaben eine Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausarbeiten sollte. 10 Rechtlich hieß sie schlicht „Gremium“ 11 , doch sie selbst nannte sich „Konvent“ und wurde in der öffentlichen Diskussion auch gemeinhin so bezeichnet. Unter dem Vorsitz von Roman Herzog bemühte sie sich um eine breite Beteiligung der Öffentlichkeit und ein hohes Maß an Transparenz. Sie hörte zahlreiche öffentliche Stellen, gesellschaftliche Institutionen und Interessenverbände und veröffentlichte deren Stellungnahmen sowie wichtige Arbeitsunterlagen im Internet. 12 Sie präsentierte zunächst einen Vorentwurf und überarbeitete diesen auf der Grundlage der Reaktionen in den Institutionen und der Öffentlichkeit. Ergän___________ 7 Gefordert wurde ein eigener Grundrechtskatalog u.a. von Sasse, in: Mosler/Hilf (Hrsg.), Grundrechtsschutz in Europa, 1977, S. 51 (59 f.); Starck, EuGRZ 1981, 545 (548 f.) m.w.N.; Bahlmann, EuR 1982, 1 (16); Rengeling, DVBl. 1982, 140 (144); aus den neunziger Jahren Hilf, EuR 1991, 19 ff.; Zuleeg, DÖV 1992, 937 (944); Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2, 1994, S. 1592; ChwolikLanfermann, ZRP 1995, 126 ff. m. w. N. Pernice, AöR 120 (1995), 100 (118 f.); Europäische Strukturkommission, in: Weidenfeld (Hrsg.), Reform der Europäischen Union, 1995, S. 11 (48). Es gab aber auch Gegenstimmen, z. B. Ipsen, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 50 (1991), 141 (142 f.); E. Klein, VVDStRL 50 (1991), 56 (96); Daups, L'idée de constitution européenne, jur. Diss. Paris X - Nanterre 1992, S. 212; Frowein, EuR 1995, 315, 327. 8 BVerfGE 37, 271 (271, 285). 9 Die Forderung nach einem formulierten Grundrechtskatalog wurde 1986 mit dem Solange II-Beschluß (BVerfGE 73, 339, 387) aufgegeben. Nach der neuen Linie, die auch der heutigen entspricht, forderte das Bundesverfassungsgericht nur noch einen „wirksamen Schutz der Grundrechte ..., der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleichzuachten ist“. 10 Siehe die Beschlüsse von Köln (03./04.06.1999) und Tampere (15./16.10.1999), veröffentlicht unter http://db.consilium.eu.int/DF/ intro.asp?lang=de#9. Nach dem Beschluß von Köln sollte die Charta die Freiheits-, Gleichheits- und Verfahrensrechte umfassen, wie sie sich aus der EMRK und den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben; des weiteren besondere Rechte der Unionsbürger. Schließlich waren die wirtschaftlichen und sozialen Rechte „zu berücksichtigen“, wie sie in der Europäischen Sozialcharta von 1961 und in der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer von 1989 enthalten sind, sofern diese nicht nur Ziele für das Handeln der Union begründen. 11 Französisch: „enceinte“, englisch: „body“, spanisch: „órgano competente“. 12 Noch heute abrufbar unter http://db.consilium.eu.int/df/default.asp?lang=de [unter „Datenbank“]. Die Dokumente tragen die Ordnungsbezeichnung "CHARTE".
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zend erarbeitete ihr Präsidium aufschlußreiche Erläuterungen, die allerdings nicht amtlich sind, also bei der Auslegung der Charta nicht binden. 13 Dieses Verfahren hat Modellcharakter für die Zukunft. Erstmals wurde eine wichtige Neuerung nicht von den Regierungen der Mitgliedstaaten hinter verschlossenen Türen auf einer Regierungskonferenz ausgehandelt, sondern von einem Kollegium, das dem politischen Tagesgeschäft entrückt war, in einem vergleichsweise transparenten Prozeß unter breiter Beteiligung der sog. „Zivilgesellschaft“ vorbereitet. Entwürdigende Szenen wie auf der Konferenz von Nizza hat es nicht gegeben. Kompromißlösungen sind weniger inkonsistent und bürokratisch ausgefallen als bei den Reformen der Gründungsverträge. 14 Die Regierungen der Mitgliedstaaten haben die Vorzüge des Konventsverfahrens erkannt und bei der Tagung des Europäischen Rates in Laeken die Ausarbeitung einer europäischen Verfassung einem „Europäischen Konvent“ überlassen. 15 Das Verfahren hatte aber auch Schwächen. So setzte sich der GrundrechteKonvent aus Vertretern zusammen, die nicht zu diesem Zwecke vom Volk gewählt sondern von den Parlamenten, den Staats- und Regierungschefs und der Kommission entsandt wurden. Sie vertraten zudem ganz überwiegend die Ebene der Mitgliedstaaten, 16 während in einem demokratischen Verfahren auch das europäische Unionsvolk, d. h. das Volk als Einheit auf der Ebene der Union angemessen vertreten sein muß. 17 Dieser Mangel findet sich heute beim Europäischen Konvent wieder. 18 Im übrigen beschränkte sich die Transparenz im Grundrechte-Konvent auf die Arbeiten im Plenum. Über die Diskussionen im einflußreichen Präsidium, dem als eine Art „Redaktionskomitee“ die Aus___________ 13
CHARTE 4473/00, CONVENT 49 (www.europarl.eu.int/charter/pdf/04473 de. pdf), veröffentlicht auch in EuGRZ 2000, 559 ff. sowie unter http://db.consilium. eu.int/df/docs/de/DE_2001_1023.pdf. 14 Das zeigt sich nicht zuletzt in den vergleichsweise klaren und überschaubaren Formulierungen. 15 Siehe die Erklärung von Laeken vom 15.12.2001, http://europa.eu.int/futurum/ documents/offtext/doc151201_de.htm. 16 16 Mitgliedern des Europäischen Parlamentes und einem Beauftragten des Präsidenten der Kommission standen 30 Mitglieder der nationalen Parlamente und 15 persönliche Beauftragte der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten gegenüber, vgl. EuGRZ 2000, 570 f. 17 Zur Rolle des Unionsvolkes im demokratischen Prozeß in der Europäischen Union Schmitz, Integration in der Supranationalen Union, 2001, S. 444 ff., 492 ff.; ders., EuR 2003, Heft 2 (im Erscheinen). Das Gremium kann also entgegen Pache, EuR 2002, 475 (484) im Hinblick auf seine Zusammensetzung gerade nicht als „gelungener Wurf“ angesehen werden. 18 Der Europäische Konvent setzt sich neben dem Vorsitzenden und den stellvertretenden Vorsitzenden aus 84 Vertretern der nationalen und nur 18 Vertretern der europäischen Ebene zusammen, vgl. die Erklärung von Laken (Fn. 15), III; näheres unter http://european-convention.eu.int/organisation.asp?lang=DE.
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formulierung der Texte oblag, drangen wenige Informationen nach außen. Es sind also weniger die konkreten Modalitäten als die Ansätze, die dem Konventsverfahren Modellcharakter verleihen.
3. Die rechtliche Bedeutung der Charta Die Grundrechte-Charta ist in der Öffentlichkeit auf großes Interesse gestoßen. Doch die Diskussion über sie leidet immer wieder unter der Unklarheit über ihre rechtliche Bedeutung. Hier ist einigen Mißverständnissen vorzubeugen: a) Anwendungsbereich und Funktion Die Grundrechte-Charta bildet einen Grundrechtskatalog der Union, keinen gemeinsamen Grundrechtskatalog der Union und ihrer Mitgliedstaaten. Sie gilt für letztere ausschließlich bei der Durchführung des Unionsrechts, nicht also in wichtigen Bereichen wie z. B. dem Polizeirecht, welche sich die Mitgliedstaaten vorbehalten haben. Das unterscheidet sie von der EMRK, die jede hoheitliche Tätigkeit in den Vertragsstaaten bindet. Mangels einer Unionskompetenz für den allgemeinen Grundrechtsschutz ist dies selbstverständlich – ebenso wie die Tatsache, daß die Charta wie jeder Grundrechtskatalog keine neuen Kompetenzen schafft. Um Ängsten in den Mitgliedstaaten zu entgegnen, wurde indessen beides in Art. 51 ausdrücklich geregelt. Anders als die EMRK bildet die Charta eine Grundrechtsordnung für einen primären Grundrechtsschutz, der die Grundrechtsverwirklichung im Alltag prägt. Sie ist nicht nur eine Auffang-Grundrechtsordnung, kein „zweites Sicherheitsnetz“, das erst zum Einsatz kommt, wenn der primäre Grundrechtsschutz versagt. Deswegen steht sie nicht in einem Konkurrenzverhältnis zur EMRK und ist ein Beitritt der Europäischen Union zur EMRK zusätzlich zur Aufnahme der Charta in einen europäischen Verfassungsvertrag, wie es die Arbeitsgruppe II (Charta) des Europäischen Konventes vorgeschlagen hat, 19 sinnvoll. Grundrechtskataloge verschiedener Quelle wirken grundsätzlich wie verschiedene übereinander gespannte Netze. Ihre Anforderungen sind kumulativ zu erfüllen. Sie relativieren sich also nicht sondern ergänzen sich. Art. 53 GRCh stellt im übrigen ausdrücklich klar, daß keine Bestimmung der Charta als Einschränkung der Menschenrechte aus anderen Quellen ausgelegt werden darf. ___________ 19 Arbeitsgruppe II, Schlußbericht, CONV 354/02, S. 2, 11 f., http://register.consilium. eu.int/pdf/de/02/cv00/00354d2.pdf.
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b) Rechtliche Bindungswirkung heute Entscheidend für die Bedeutung der Charta ist ihre rechtliche Bindungswirkung. 20 Hier liegt bisher ihre Schwäche: Wegen des großen Widerstandes einiger Staaten, die eine politische Aufwertung der Union und einen Druck zur Anpassung ihrer nationalen Grundrechtsstandards fürchteten, konnte sie nicht in die Gründungsverträge aufgenommen werden. Sie wird dort auch nicht erwähnt. Mangels einschlägiger Kompetenzen der Union hat sie schließlich auch nicht die Rechtsnatur eines Sekundärrechtsaktes wie einer Richtlinie oder Verordnung. Es handelt sich um eine bloße politische Erklärung, auf die sich der Bürger vor Gericht nicht berufen kann. 21 Der im Februar 2003 in Kraft getretene Vertrag von Nizza ändert daran nichts. Die Charta gehört nicht einmal zu den Inspirationsquellen, auf welche der Europäische Gerichtshof seine Grundrechtsrechtsprechung nach Art. 6 II EUV bauen kann. Denn diese Vorschrift benennt die Inspirationsquellen abschließend. Die Aufnahme eines Verweises auf die Charta 22 hätte das Problem gelöst, ist aber ebenfalls am Widerstand einiger Staaten gescheitert. Der Gerichtshof darf die Charta daher nur subsidiär als nachgeordnete Orientierungshilfe heranziehen. In diesem Sinne haben einige Generalanwälte in ihren Schlußanträgen 23 sowie das Gericht erster Instanz in den Entscheidungen max.mobil 24 , Jégo-Quéré 25 und Philip Morris International 26 vorsichtig auf die Charta Bezug genommen. Manchen Autoren und Generalanwälten 27 geht das nicht weit genug. Sie wünschen – eher aus politischen denn rechtlichen Gründen – zumindest die Anwendung der Charta als Inspirationsquelle. Wo die Charta aber über die EMRK und die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen ___________ 20 Einen Grundrechtskatalog gab es in den Europäischen Gemeinschaften schon mit der Erklärung der Grundrechte und Grundfreiheiten des Europäischen Parlamentes vom 12.04.1989 (ABl. C 120, 51 ff.). Als schlichte Resolution konnte er die Gemeinschaftsgewalt jedoch nicht binden und geriet bald in Vergessenheit. 21 Aus diesem Grunde konnte die Charta nur in Teil C des Amtsblattes der Europäischen Gemeinschaften veröffentlicht werden und nicht in Teil L, der die Rechtsakte der Gemeinschaften enthält. 22 Gefordert beispielsweise von Alber/Widmaier, EuGRZ 2000, 497 (500). 23 Vgl. etwa die Schlußanträge der Generalanwälte Alber v. 01.02.2001, Rs. C340/99, TNT Traco, Erwägung Nr. 94; Tizzano v. 08.02.2001, Rs. C-173/99, BECTU, Nr. 26 ff.; Geelhoed v. 05.07.2001, Baumbast, Rs. C-413/99, Nr. 59, 110; Mischo, Verb. Rs. C-20/00 und C-64/00, Nr. 125 (alle veröffentlicht unter http://europa. eu.int/jurisp/cgi-bin/form.pl?lang=de). 24 Gericht erster Instanz, Urteil v. 30.01.2002, Rs. T-54/99, max.mobil, Nr. 48, 57. 25 Gericht erster Instanz, Urteil v. 03.05.2002, Rs. T-177/01, Jégo-Quéré et Cie SA, Nr. 42, 47. 26 Gericht erster Instanz, Urteil v. 15.01.2003, Verb. Rs. T-377/00, T-379/00 u.a., Philip Morris, Nr. 122. 27 Vgl. z. B. Leger, Schlußantrag zu Rs. C-353/99 P, Heidi Hautala, Nr. 51, 73 - 83.
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der Mitgliedstaaten hinausgeht, also gerade bei ihren wertvollen Innovationen, kann der Gerichtshof sie weder als Maßstab noch als Inspirationsquelle heranziehen, ohne Art. 6 II EUV zu verletzen. Er hat dies bisher auch nicht getan. Nur unter einem Aspekt kommt der Grundrechte-Charta doch eine gewisse rechtliche Bedeutung zu: Bei der Auslegung aller späteren Richtlinien und Verordnungen ist davon auszugehen, daß die Organe der Europäischen Union ihre politische Selbstbindung respektieren wollten, es sei denn, konkrete Anhaltspunkte belegen eine andere Absicht. So kann die Charta wie jedes soft law als Auslegungshilfe dienen – und in diesem Sinne auch vom Gerichtshof fruchtbar gemacht werden. Durch Charta-Klauseln können Richtlinien und Verordnungen sogar verbindlich klarstellen, daß sie nur „chartakonform“ zu interpretieren sind. c) Rechtliche Bindungswirkung in der Zukunft Damit die Grundrechte-Charta ihre volle Wirkung entfalten kann, muß sie als verbindliche Grundrechtsordnung auf der höchsten Stufe des Unionsrechts das gegenwärtige, auf Art. 6 II EUV gestützte Grundrechtssystem ablösen. Dazu muß sie im Volltext in den zur Zeit vorbereiteten europäischen Verfassungsvertrag übernommen werden. Für diese Lösung hat sie das Gremium unter der Leitung von Roman Herzog konzipiert; dafür hat es beispielsweise die für den Rechtsanwender wichtigen allgemeinen Bestimmungen in Kapitel VII entworfen. Die Arbeitsgruppe II (Charta) des Europäischen Konventes favorisiert eine textliche Integration in den Verfassungsvertrag oder eine Aufnahme als separater Rechtstext. 28 Beides würde diesen Anforderungen gerecht, wenn auch eine textliche Vollintegration aus systematischen und symbolischen Gründen vorzuziehen ist. Die Arbeitsgruppe stellt aber auch eine indirekte Bezugnahme zur Debatte. Diese Alternative ist abzulehnen, weil sie der Charta die erforderliche volle rechtliche Verbindlichkeit auf höchster Stufe der Unionsrechtsordnung verweigerte.
4. Der abschließende Charakter der Charta Die Grundrechte-Charta ist ebenso wie die Grundrechte-Kataloge in den Staatsverfassungen als abschließende Grundrechtsordnung für den primären Grundrechtsschutz in ihrem Herrschaftsverband konzipiert. Sie enthält nicht nur die politische Entscheidung, welche Grundrechte es in diesem Verband geben soll, sondern auch, welche nicht. Ebenso entscheidet sie abschließend darüber, welchen Schranken die grundrechtlichen Freiheiten unterliegen. Deswegen ist neben ihr für die überlieferten Grundrechte als allgemeine Grundsät___________ 28
Vgl. Arbeitsgruppe II (Fußn. 19), S. 3; siehe dazu Pietsch, ZRP 2003, 1 (2 f.).
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ze des Gemeinschaftsrechts kein Platz mehr. Scharf abzulehnen ist der Vorschlag des Präsidiums des Europäischen Konvents 29 , in den europäischen Verfassungsvertrag neben der Grundrechte-Charta eine Regelung nach Art des Art. 6 II EUV aufzunehmen. 30 Der Europäische Gerichtshof könnte sich so unter Berufung auf die konkurrierende Grundrechteklausel im Verfassungsvertrag über verfassungspolitischen Entscheidungen in der Grundrechte-Charta hinwegsetzen. Die Arbeit des Grundrechte-Konvents würde entwertet, die relative Rechtssicherheit, die ein geschriebener Grundrechtskatalog gewährt, zerstört.
II. Die Europäische Union als Wertegemeinschaft Fokussieren wir jetzt auf das Thema, das auf dieser Tagung im Mittelpunkt steht: Was verbirgt sich hinter dem Selbstverständnis der Union als Wertegemeinschaft, das in der Grundrechte-Charta zum Ausdruck kommen soll? Handelt es sich nur um einen weiteren Modebegriff im inflationären Wissenschaftsbetrieb oder hat diese „Wertegemeinschaft“ Substanz? Braucht man in den supranationalen Institutionen einer postmodernen pluralistischen freien Marktgesellschaft überhaupt gemeinsame Werte?
1. Die Bedeutung gemeinsamer Werte für die Europäische Union a) Werte und Grundwerte in der politischen Gemeinschaft Vorweg eine begriffliche Klärung: Werte im staatswissenschaftlichen Sinne sind auf politisch-philosophischen Werturteilen beruhende Leitideen für die Tätigkeit politischer Institutionen. Jede politische Gemeinschaft bedarf eines Bündels von Leitideen, an denen ihre Grundordnung ausgerichtet ist. Zwei Arten von Leitideen lassen sich unterscheiden, nämlich Werte (wertbezogene Leitideen) und sonstige (an sich wertneutrale) Leitideen. Zu den Werten gehören etwa Menschenwürde, Demokratie, die natürlichen Lebensgrundlagen, Rechts- und Sozialstaatlichkeit. Zu den wertneutralen Leitideen gehören vor allem tradierte Grundmuster der Organisation der hoheitlichen Macht wie die Bundesstaatlichkeit, die Einheitsstaatlichkeit oder die kommunale Selbstverwaltung; ferner etwa das Subsidiaritätsprinzip. Sie können in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union variieren, weil sie keine ethische Wertschätzung, sondern bloße staatsorganisatorische Zweckmäßigkeitserwägungen verkörpern; ___________ 29 Vgl. Art. 5 III des Entwurf es der Artikel 1 bis 16 des Verfassungsvertrages, CONV 528/03, S. 4,http://european-convention.eu.int/docs/Treaty/cv00528.de03.pdf. 30 Vgl. auch Pietsch, ZRP 2003, 1 (4).
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sie sind grundsätzlich austauschbar. Die Grundrechtecharta befaßt sich mit ihnen nur am Rande. Ihre Aufgabe ist die Umsetzung von Werten, und zwar jener obersten, systemprägenden Werte, auf denen alle anderen aufbauen oder denen sie sich unterzuordnen haben. Diese sind im Gegensatz zu den einfachen Werten (z. B. in einer beliebigen Grundrechts- oder Staatszielbestimmung) als Grundwerte zu bezeichnen. b) Die Unerläßlichkeit gemeinsamer Grundwerte in der nichtstaatlichen aber staatsähnlichen Supranationalen Union Die Europäische Union bedarf eines eigenen Fundamentes von Grundwerten, weil sie als georegionaler Integrationsverband ohne konzeptionelle Begrenzung auf einzelne Aufgabenfelder sowohl die Staaten als auch die Bürger zu einer allgemeinen politischen Gemeinschaft zusammenschließt. Sie beruht dabei zwar auf einer völkerrechtlichen Grundlage, hat aber im Laufe der bereits fortgeschrittenen Integration immer stärkere staatsähnliche Züge entwickelt. Ein solcher neuartiger Herrschaftsverband im Dreieck zwischen supranationaler Organisation, Staatenbund und Bundesstaat läßt sich am besten als Supranationale Union bezeichnen. 31 Für diese Organisationsform ist ebenso wie für den Staat eine eigene Wertegrundlage unverzichtbar. Dabei kommt aber nicht jede Wertegrundlage in Betracht: Integration kann nur gelingen, wenn sie auf ein tragfähiges Fundament gemeinsamer Grundwerte und Leitideen gegründet ist, und zwar sowohl der sich Integrierenden als auch des Integrationsverbandes. Eine Supranationale Union und ihre Mitgliedstaaten müssen die gleiche politisch-philosophische Grundausrichtung haben. Dieses Erfordernis einer Homogenität der Wertordnungen 32 ist schon von einer anderen föderalen Organisationsform, nämlich dem Bundesstaat bekannt.
___________ 31 Siehe dazu ausführlich Schmitz, Integration in der Supranationalen Union, 2001, S. 74, 164 ff. Die Begriffswahl erklärt sich dadurch, daß eine Gattungsbezeichnung für diese neue Organisationsform deren wichtigstes Merkmal, die Supranationalität, zum Ausdruck bringen muß. Dies versäumt der vom Bundesverfassungsgericht im Maastricht-Urteil (BVerfGE 89, 155, 188) favorisierte, außerhalb der deutschen staatsrechtlichen Literatur aber nur selten aufgegriffene Gegenbegriff des „Staatenverbundes“; dieser ist im übrigen für die europäische Diskussion ungeeignet, weil er nicht ohne Verfälschung in andere Sprachen übersetzt werden kann. Das Begriffsmerkmal „Union“ steht für eine sehr enge Gemeinschaft, die aber die Identität und völkerrechtliche Stellung ihrer Mitglieder als Staaten unangetastet läßt. 32 Dazu Schmitz (Fußn. 31), S. 321 ff.
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c) Gemeinsame Grundwerte und Homogenität der Wertordnungen Homogenität der Wertordnungen bedeutet indessen nicht Uniformität der Wertordnungen. 33 Nur die Grundwerte, welche das System prägen, müssen übereinstimmen, nicht aber die vielen einfachen Werte – sei es in den Gesetzen oder in der Verfassung –, die darüber hinausgehen; diese müssen lediglich zu den gemeinsamen Grundwerten kompatibel sein. Außerdem kommt es nicht auf die Gestalt an, in der die gemeinsamen Grundwerte in den einzelnen Verfassungen bzw. im Gründungsvertrag konkretisiert sind. Maßgeblich sind vielmehr die abstrakteren staatstheoretischen Grundvorstellungen, die hinter den Grund- satzbestimmungen und Institutionen des Verfassungs- bzw. Primärrechts stehen. Der Grundwert der Demokratie kann etwa auf verschiedene Weise umgesetzt werden, als parlamentarische oder präsidentielle oder auch spezifisch supranationale Demokratie. Dementsprechend kann auch ein Demokratieprinzip in den verschiedenen Staatsverfassungen und im Gründungsvertrag der Union andere Teilinhalte haben, wenn diese nur innerhalb des Rahmens bleiben, den die staatsphilosophische Grundvorstellung der Demokratie zieht (die sog. „Volksdemokratien“ gehören z. B. nicht mehr dazu). Anders wäre eine Supranationale Union von Verfassungsstaaten mit Tradition, von denen jeder seine eigenen Wege zur Realisierung jener Grundvorstellungen entwickelt hat, nicht denkbar. Bei der Integration in der Supranationalen Union muß auch die Union die gemeinsamen Grundwerte auf eigene, spezifische Weise umsetzen. Dies gehört zur Entfaltung einer eigenen Identität der Union, die mehr sein muß als ein bloßer Spiegel der Identitäten der Mitgliedstaaten. Ein wichtiger Schritt ist dabei die Erarbeitung eines eigenen Grundrechtskataloges.
2. Die der Grundrechtecharta vorgegebenen Grundwerte der Europäischen Union a) Die Festschreibung der gemeinsamen Grundwerte und Leitideen in der Grundwerteklausel des Art. 6 I EUV und im zukünftigen Verfassungsvertrag Über die Notwendigkeit gemeinsamer Werte war man sich in der europäischen Integration von Anfang an im klaren. Auch über die Werte, auf die das vereinte Europa gebaut werden sollte, nämlich zum einen die Menschenwürde bzw. die Menschenrechte (darin inbegriffen die Freiheit und Gleichheit der Menschen) und zum anderen Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Solidarität (= ___________ 33
Homogenität bedeutet Wesensverwandtschaft, nicht Wesensgleichheit, Übereinstimmung in wesentlichen Punkten, nicht totale Übereinstimmung, vgl. Schmitz (Fußn. 31), S. 311 ff.
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soziale Verantwortlichkeit, Sozialstaatlichkeit, fraternité). 34 Diese Grundwerte gehen vor allem auf die Philosophie der Aufklärung sowie das Christentum mit seinen biblischen und antiken Wurzeln 35 zurück und bilden aus beiden Gründen einen wichtigen Faktor gemeinsamer europäischer Identität. 36 Zunächst war das Bekenntnis zu ihnen lediglich eine ungeschriebene Grundlage der Mitgliedschaft. 37 Später nahm man in wechselnden Formulierungen in den Präambeln der Verträge auf sie Bezug. 38 Der Vertrag von Amsterdam hat sie schließlich in Art. 6 I EUV in eine harte Rechtsnorm gegossen, 39 in Art. 7 EUV mit Sanktionen versehen und in Art. 49 EUV zur zentralen Aufnahmevoraussetzung für Beitrittskandidaten gemacht. Die wichtigste Bestimmung des gesamten Europarechts ist Art. 6 I EUV. Dieser hat eine doppelte Funktion als Grundwerte- und Homogenitätsklausel 40 : Er schreibt die gemeinsamen Grundwerte und Leitideen rechtsverbindlich fest und er verpflichtet sowohl die Union als auch die Mitgliedstaaten zu ihrer ___________ 34
Der Grundsatz der offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb (vgl. Art. 4 I, 98 S. 2, 105 I 3 EGV) gehört nicht in diese Aufzählung. Er ist kein politischphilosophischer Grundwert und auch sonst keine staatstheoretische Leitidee, sondern lediglich ein sachgebietsspezifisches Ordnungsprinzip für den Bereich der Wirtschaftspolitik (a. A. R. Schmidt, Diskussionsbeitrag, in: Nettesheim/Schiera [Hrsg.], Der integrierte Staat, 1999, S. 89: verfassungsrechtliche Fundamentalentscheidung). Er ist auch kein gemeinsamer Verfassungsgrundsatz der Mitgliedstaaten (Müller-Graff, EuR 1997, 433, 445 f.). Dem entspricht es, daß er nicht in den Wertekatalog des Art. 6 I EUV aufgenommen worden ist. Die dort aufgeführten Grundsätze wurzeln nicht in der Tradition einer bestimmten wirtschaftsbezogenen politischen Ideologie – weder der des Sozialismus, noch (wie von Kirchhof, JZ 1998, 965 behauptet) der des Wirtschaftsliberalismus. 35 Siehe dazu Starck, in: Essener Gespräche 31 (1997), 5 ff. (insbes. S. 21 f.); ders., ERPL/ REDP 10 (1998), 621 ff. (insbes. S. 632 f.), auch zum Grundsatz der Gewaltenteilung; zu den geistigen Grundlagen der Menschenwürde auch ders., Der demokratische Verfassungsstaat, 1995, S. 193 ff. 36 Vgl. anschaulich die Rede des damaligen Bundespräsidenten Herzog anläßlich der Entgegennahme des Karlspreises in Aachen am 08.05.1997 (veröffentlicht unter www.bundespraesident.de): „Die geistigen Grundlagen Europas sind wahrlich nicht schwer zu entdecken. Es sind die Grundlagen der griechischen Antike und ihres Humanismus, des Christentums und der europäischen Aufklärung. Es ist die Überzeugung von der Würde und dem Wert des menschlichen Individuums, die Idee von der Freiheit des selbstverantwortlichen Menschen. Und es ist das Prinzip der offenen Gesellschaft, die sich aus der Freiheitsidee ergibt...“. Vgl. ferner zum freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat als einem europäischen Erbe Starck, Neue Zürcher Zeitung v. 01.11.1995, S. 28. 37 Insbesondere eine ungeschriebene Beitrittsbedingung, vgl. Heintzen, EuR 97, 1 (6 ff.) m.w.N. 38 Vgl. zunächst Erwägung Nr. 3 Präambel EEA, dann Erwägung Nr. 3 Präambel EUV, Art. F I, II EUV sowie heute Erwägungen Nr. 3, 4 Präambel EUV. 39 Vgl. vorher bereits zum Grundwert der Demokratie Art. F I EUV sowie zur Achtung der Grundrechte durch die Union Art. F II, später 6 II EUV. 40 Siehe dazu ausführlich den Beitrag von Rensman (zu dieser Tagung).
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Umsetzung und Verwirklichung. Die Grundrechteklausel des Art. 6 II EUV ist demgegenüber bereits eine erste Umsetzungmaßnahme des Unionsrechts. Gleiches gilt für die Grundrechte-Charta. Nach Art. 6 I EUV beruht die Union „auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit“. Dies umfaßt alle tradierten westeuropäischen Grundwerte. Mit den „Grundfreiheiten“ sind dabei die Menschenrechte nach Art der Europäischen Menschenrechtskonvention gemeint und nicht etwa die Grundfreiheiten aus dem EG-Vertrag. Der Grundwert der Menschenwürde ist, jedenfalls als allgemeines staatstheoretisches Postulat, durch den Grundsatz der Achtung der Menschenrechte mitabgedeckt. Gleiches gilt für den Grundwert der Solidarität bzw. Sozialstaatlichkeit, auf den der 4. Absatz der Präambel zum EUV mit der Unterstreichung der Bedeutung sozialer Grundrechte hinweist. Die Präambel nimmt auch auf die Europäische Sozialcharta Bezug, die damit ebenfalls einen gründungsvertraglich anerkannten, wichtigen Beitrag zur europäischen Wertegemeinschaft leistet. 41 Die Solidarität wird allerdings in Art. 6 I nicht ausdrücklich aufgeführt, obwohl sie unbestrittenermaßen zu den europäischen Grundwerten zählt. Der Europäische Konvent will diese redaktionelle Ungenauigkeit jetzt beseitigen. Nach dem Entwurf seines Präsidiums 42 soll eine neue, klarer formulierte Grundwerteklausel in ihrem zweiten Satz die Grundwerte Frieden, Toleranz, Gerechtigkeit und auch Solidarität besonders hervorheben.
b) Universale Werte, westliche Werte oder europäische Werte? In Politik und Wissenschaft wird oft behauptet, die Grundwerte der Europäischen Union seien universale Werte, die unabhängig vom kulturellen Hintergrund weltweit gälten. Auch die Charta spricht im zweiten Absatz der Präambel von „universellen Werten“. Doch sind sie das wirklich? Die Auseinandersetzung mit dem heute weit verbreiteten islamistischen Staatsdenken, die Versuche, die Achtung der Menschenrechte in China und Südostasien zu etablieren und die Erfahrungen mit neo-nationalistischen Massenbewegungen in postkommunistischen Staaten lehren uns, daß diese Werte auch nach der Wende im ehemaligen Ostblock keineswegs weltweit akzeptiert werden. Auch dann nicht, wenn man – wie in Afghanistan – totalitäre oder autoritäre Regime beseitigt ___________ 41
Siehe dazu ausführlich den Beitrag von Komorowski (zu dieser Tagung). Präsidium des Konventes, Entwurf der Artikel 1 bis 16 des Verfassungsvertrages vom 06.02.2003, CONV 528/03, S. 2 (Art. 2), http://european-convention.eu. int/ docs / Treaty/cv00528.de03.pdf. Siehe dazu auch den Beitrag von Rensman (zu dieser Tagung). 42
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und einen halbwegs freien gesellschaftlichen Diskurs ermöglicht. Von „universalen Werten“ kann daher nur insofern gesprochen werden, als die betreffenden staatsphilosophischen Lehren sich selbst als grundsätzlich unabhängig von Raum, Zeit und kulturellem Hintergrund verstehen. Bei genauer Betrachtung handelt es sich nicht einmal um allgemeine westliche Werte: Mit dem Grundwert der Solidarität oder Sozialstaatlichkeit unterscheidet sich der Grundwertekanon der Europäischen Union maßgeblich von dem Nordamerikas. Soziale Verantwortung als eine der obersten Maximen für alles staatliche Handeln wird dort aufgrund des streng individualistischen Staats- und Menschenbildes abgelehnt. Dies ist nicht nur von theoretischer Bedeutung, sondern prägt auch die Politik in der Praxis. Art. 6 I EUV mag noch an gemeinsame europäische und amerikanische Grundwerte denken lassen, Art. 2 Satz 2 des Entwurfes des Verfassungsvertrages schon weniger. Mit der Grundrechte-Charta werden die Unterschiede schließlich unübersehbar: Sie betont in der Präambel den Grundwert der Solidarität gleichermaßen wie den der Freiheit und widmet ihm in Art. 27 ff. ein ganzes Kapitel. Ein solcher Grundrechtskatalog wäre in den USA undenkbar. Hier zeigt sich ein spezifisch europäisches Grundwerteverständnis – ein wichtiger Bestandteil der europäischen Identität.
III. Die Charta als Konkretisierung der gemeinsamen Grundwerte für die Ebene der Union Die gemeinsamen Grundwerte werden im Recht der Union und in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten auf jeweils eigene Weise umgesetzt. Dies geschieht durch das Organisationsrecht, hervorgehobene Verfassungsgrundsätze, zahlreiche Rechts- und Verfassungsinstitutionen und schließlich auch die Grundrechtskataloge. Dabei sind innerhalb des Rahmens der gemeinsamen Grundwerte zahlreiche verfassungspolitische Entscheidungen zu treffen, die sich etwa in der Konzeption der Grundrechte, der Definition ihrer Schutzbereiche und der Gestaltung ihrer Schranken niederschlagen. Darin liegt bereits eine erste Konkretisierung. Sie ist Ausdruck der Autonomie der einzelnen Verbände und ihrer individuellen Identität. Im folgenden kann auf einige Aspekte der Konkretisierung durch die Grundrechte-Charta näher eingegangen werden.
1. Bekräftigung und Systematisierung der gemeinsamen Grundwerte in der Präambel In der Präambel findet sich nicht nur ein Bekenntnis zu den gemeinsamen Grundwerten sondern auch eine Systematisierung für die Rechtsordnung der Union. Der erste Absatz unterstreicht, daß die europäische Integration „auf der Grundlage gemeinsamer Werte“ erfolgt. Der dritte Absatz postuliert, daß die
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Union zur Erhaltung und Entwicklung dieser gemeinsamen Werte beitragen wird. Der zweite Absatz bekräftigt die gemeinsamen Grundwerte in moderner Terminologie und Systematik. Danach gründet sich die Union auf die Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität. Die geschickte Begriffswahl reflektiert sowohl die Parole „liberté, égalité, fraternité“ aus der Französischen Revolution als zentrales Element europäischer verfassungsstaatlicher Tradition als auch die philosophische Verankerung der Grundrechtsidee im Postulat der Menschenwürde, wie sie sich in mehreren mitgliedstaatlichen Verfassungen widerspiegelt. Ergänzend nimmt Satz 2 auf die Grundsätze der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit Bezug, die für die theoretische Begründung mancher Bürgerrechte und justizieller Rechte von Bedeutung sind. Andere Leitideen wie die Achtung der Vielfalt der Kulturen und Traditionen und die Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten werden bewußt nicht bei den Grundwerten aufgeführt sondern erst im dritten Absatz der Präambel als ergänzende Leitideen genannt, die bei der Verwirklichung der Grundwerte zu berücksichtigen sind. Die Union gründet sich auf ihre Werte im „Bewußtsein ihres geistigreligiösen und sittlichen Erbes“. Die Charta enthält entgegen der Forderung aus deutschen Kirchenkreisen keine Bezugnahme auf Gott und die Verantwortung vor ihm wie etwa in der Präambel des Grundgesetzes. 43 Das erklärt sich zum Teil aus dem Einfluß des französischen Laizismus, zum Teil aber auch aus der Distanz, mit der viele europäische Bürger heute Kirche und Religion gegenüberstehen. Auch viele Christen wollen den Glauben aus der Sphäre des Staatlichen heraushalten. Jedenfalls war die Forderung nach einem Gottesbezug in großen Teilen der Öffentlichkeit – auch in Deutschland – auf Ablehnung gestoßen. Der Grundrechte-Konvent nahm darauf Rücksicht, um die breite Akzeptanz der Charta in der Bevölkerung nicht zu gefährden. Die Kompromißformel vom „geistig-religiösen und sittlichen Erbe“ der Union ist auch mit dem französischen Laizismus vereinbar, denn dieser steht der Religion nicht etwa feindlich gegenüber. Er leugnet auch nicht etwa, daß die Idee der Menschenrechte eine ihrer Wurzeln im Christentum hat. Dennoch ging die Kompromissformel einigen einflußreichen französischen Politikern zu weit. Der Grundrechte-Konvent versuchte dem gerecht zu werden, ohne die deutsche Seite zu brüskieren, und behielt in der deutschen Fassung den Bezug auf das religiöse Erbe bei, während in allen anderen Sprachfassungen nur noch vom geistigen („spirituellen“) und sittlichen Erbe gesprochen wird. 44 Im zukünftigen Verfassungsvertrag darf es solche offenen Widersprüche nicht mehr geben. Das Recht der Europäischen Union gilt in allen Mitgliedstaaten einheitlich und ist in allen Mitgliedstaaten einheitlich auszulegen. Daher muß auch die ___________ 43 44
Siehe dazu auch Tettinger, NJW 2001, 1010 (1011). Französisch: „patrimoine spirituel“; englisch: „spiritual ... heritage“.
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Präambel, die eine wichtige Auslegungshilfe darstellt, in allen Sprachfassungen übereinstimmen. Hier fragt sich, ob die Kompromißformel vom „geistigreligiösen Erbe“ nicht näher an der Realität in Europa liegt. Die Frage wird zur Zeit bei den Beratungen über eine europäische Verfassung diskutiert. Die Grundrechte-Charta hält sich auch außerhalb der Präambel mit direkten Bezugnahmen auf das Christentum oder die Religion im allgemeinen zurück – obwohl sie selbstverständlich die Religionsfreiheit anerkennt (vgl. Art. 10 I) und durchaus von christlichen Werten imprägniert ist. 45 Sie enthält beispielsweise keine Bestimmung zur Stellung der Kirchen. Damit will sie der Vielfalt mitgliedstaatlicher Regelungen gerecht werden, die vom Staatskirchentum über die wohlwollende Neutralität bis zum strengen Laizismus reicht. Nach dem geltenden Recht muß die Union die Stellung der Kirchen nach dem nationalen Recht als Teil der nationalen Identität ihrer Mitgliedstaaten achten (vgl. Art. 6 III EUV). Bei etwas Phantasie mag man dies auch aus Art. 22 der Charta herauslesen. 46 Es stellt sich allerdings die Frage, warum nicht die Erklärung Nr. 11 zum Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften aus der Schlußakte zum Vertrag vom Amsterdam übernommen worden ist. Dort heißt es treffend: „Die Europäische Union achtet den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht.“
2. Einteilung der Grundrechte entsprechend der gewählten Systematik Die Systematisierung der Grundwerte hat sich nicht nur in der Präambel, sondern auch in der Grundkonzeption der Charta niedergeschlagen. Schon auf den ersten Blick überrascht eine mutige Neuerung: Die Charta gliedert sich in sieben Kapitel. Das letzte umfasst die wichtigen allgemeinen Bestimmungen. Die anderen enthalten jeweils eine Gruppe von Grundrechten, die der Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit oder Solidarität zugeordnet sind oder Aspekte der Demokratie oder Rechtsstaatlichkeit regeln. Eine solche Einteilung der
___________ 45 Am deutlichsten zeigt sich letzteres in einem eigenen Kapitel über die Würde des Menschen sowie insbes. den Verboten eugenischer Praktiken sowie des reproduktiven Klonens von Menschen (Art. 3 II). Weitere Beispiele sind das Recht älterer Menschen auf ein würdiges und unabhängiges Leben (Art. 25) und der Anspruch Behinderter auf Maßnahmen zur Gewährleistung ihrer Eigenständigkeit und Integration (Art. 26). Ferner betont die Charta in mehreren Bestimmungen den Wert der Familie (vgl. Art. 33, 32, 24, 14 III). 46 Vgl. in diesem Sinne die Erläuterungen des Präsidiums (Fn. 13) zu Art. 22.
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Grundrechte findet sich bei völkerrechtlichen Menschenrechtskatalogen nicht 47 und bei Staatsverfassungen selten. 48 Am Anfang steht die Würde des Menschen, mit einem Art. 1, der offensichtlich Art. 1 I GG nachgebildet ist. Ihre Hervorhebung entspricht dem in Europa vorherrschenden Menschenrechtsverständnis. 49 Der Menschenwürde sind im ersten Kapitel die Grundrechte auf Leben und Unversehrtheit (Art. 2, 3) sowie die strikten Verbote der Todesstrafe, Folter, Zwangsarbeit usw. (Art. 2 II, 4, 5) zugeordnet. Außerdem findet sich hier in Art. 3 II mit der grundrechtlichen Beschränkung der Biomedizin eine der großen Innovationen der GrundrechteCharta. Danach sind eugenische Praktiken, der kommerzielle Organhandel und auch das reproduktive Klonen von Menschen verboten. Die in der gesamten Europäischen Union lebhaft diskutierte Frage nach Zulassung oder Verbot des Klonens von Embryonen zu therapeutischen Zwecken wird damit aber nicht beantwortet. Im zweiten Kapitel folgen die Freiheitsrechte, danach die Gleichheitsrechte, die sozialen Grundrechte, die besonderen Rechte der Unionsbürger und die justitiellen Rechte. Die Charta erhebt dabei in erster Linie den Anspruch, den Bestand an Grundrechten, der heute in Europa allgemein anerkannt ist, systematisch zusammenzufassen und zu präzisieren. Sie will, so gibt sie es im 4. Absatz der Präambel an, die Grundrechte „sichtbarer machen“. Insofern ist sie ein Spiegel der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen i. S. d. Art. 6 II EUV. Bei manchen Rechten geht sie aber deutlich darüber hinaus. Als Beispiele können neben Art. 3 II die besonderen Vorschriften zu den Rechten des Kindes (Art. 24), den Rechten älterer Menschen (Art. 25) und zur Integration von Menschen mit Behinderung (Art. 26) genannt werden. Die Charta ist also teilweise nur ein Spiegel der noch fehlenden Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten. Aus Sicht des Grundgesetzes bilden vor allem die sozialen Grundrechte in Kapitel IV eine Neuerung. Wenn Grundrechtskataloge gewöhnlich auf eine Unterteilung nach Grundrechtsgruppen verzichten, geschieht dies nicht ohne Grund. Ohne ein durchge___________ 47 Diese trennen allenfalls die klassischen bürgerlichen und politischen Rechte von den neuartigen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten, vgl. etwa die nicht unterteilte Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948, Teile III der Internationalen Pakte über bürgerliche und politische Rechte und über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966, Abschnitt I EMRK, Teil I der Amerikanischen Menschenrechtskonvention von 1969, Teil I der Banjul-Charta von 1981 und Teil II der Arabischen Charta der Menschenrechte von 1994. 48 Ausnahmen bilden etwa Teil 1 (Art. 13 ff.) der Italienischen Verfassung von 1947, Teil I (Art. 12 ff.) der Portugiesischen Verfassung von 1976 und Titel I (Art. 10 ff.) der Spanischen Verfassung von 1978. 49 Vgl. nur Art. 2 I, 7 II der Griechischen, die Präambel der Irischen, Art. 1 der Portugiesischen, Kap. 1 § 2 der Schwedischen und Art. 10 I der Spanischen Verfassung.
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hendes, wissenschaftlich gründlich abgesichertes Konzept sind Ungereimtheiten vorprogrammiert. Das zeigt sich auch bei der Grundrechte-Charta. 50 So werden die Rechte zum Bereich Ehe und Familie auf drei Kapitel verteilt (vgl. Art. 9, 24 und 33 sowie ferner Art. 8). Dabei sind die Ansprüche des Kindes auf Schutz und Fürsorge (Art. 24 I) und auf persönliche Beziehungen zu beiden Elternteilen (Art. 24 III) unverständlicherweise bei der Gleichheit geregelt, während der Schutzanspruch der Familie als Ganzes (Art. 33) den sozialen Rechten zugeordnet ist. Ferner enthält der Abschnitt über die Freiheitsrechte mit dem Recht auf Bildung und Zugang zur Ausbildung (Art. 14) ein klassisches Teilhaberecht. Weitere Ungereimtheiten finden sich im Kapitel V zu den „Bürgerrechten“, wenn etwa das Recht auf gute Verwaltung (Art. 41) nicht nur den Unionsbürgern, sondern jedermann zugestanden wird. Schon hier wird deutlich: Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist anspruchsvoll und innovativ - aber nicht ausgereift.
3. Bemühen um Vollständigkeit – aber Lücken in der Gewährleistung der Freiheit Manche Rechte und Verbote scheinen ins Leere zu zielen, weil die Union über keine einschlägigen Kompetenzen verfügt. So etwa das Recht auf unentgeltlichen Pflichtschulunterricht (Art. 14 II) und die Verbote der Kollektivausweisung, Todesstrafe, Zwangsarbeit und Sklaverei (Art. 19 I, 2 II, 5 I, II). 51 Sie sind gleichwohl sinnvoll, denn die Charta ist schon „auf Vorrat“ für etwaige zukünftige Kompetenzen angelegt. Außerdem muß sie das Bekenntnis der Union und ihrer Mitgliedstaaten zu den europäischen Grundwerten umfassend zum Ausdruck bringen. Denn erstens werden sich Reformstaaten, die später einmal der Union beitreten wollen, an ihr als Ausdruck der europäischen Vorstellungen von einem angemessenen Grundrechtsschutz im 21. Jahrhundert orientieren. Und zweitens wird sie sich auf die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik auswirken. Diese hat nämlich nach Art. 11 I, 1. Spiegelstrich „die Wahrung der gemeinsamen Werte“ zum Ziel, die in der GrundrechteCharta konkretisiert werden. Insofern dient die Charta auch Drittstaaten, die engere Kontakte zur Union knüpfen wollen, zur Orientierung. Der Grundrechte-Konvent hat sich um Vollständigkeit bemüht, im zweiten Kapitel aber eine bedenkliche Lücke gelassen. Ein europäischer Grundrechtskatalog für das 21. Jahrhundert, der nicht nur wie die EMRK einen AuffangGrundrechtsschutz bieten will, muß die Freiheit umfassend gewährleisten. Sie ___________ 50
Vgl. auch, mit zum Teil anderen Beispielen, Grabenwarter, DVBl. 2000, 1 (12). Eine Übersicht über insofern problematische Bestimmungen findet sich bei Alber/Widmaier, EuGRZ 2000, 497 (499 f.). 51
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ist nach westlichem Grundverständnis vorrechtlich. In der Natur ohne Grenzen, muß sie auch im Recht zwar einschränkbar, aber doch tatbestandlich unbegrenzt anerkannt sein. 52 Nicht der Bürger soll sich für Aktivitäten rechtfertigen, die nach dem gesellschaftlichen oder zivilisatorischen Entwicklungsstand ungewöhnlich oder ohne sittlichen Wert erscheinen, sondern die öffentliche Gewalt, wenn sie sie verbieten will. 53 Das Grundgesetz enthält deswegen das Auffang-Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG). 54 In gleiche Richtung deutet für das Unionsrecht eine vereinzelte Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs. 55 In der Grundrechte-Charta ließe sich – seinem Wortlaut nach – Art. 6 (Recht auf Freiheit und Sicherheit) in diesem Sinne verstehen. Doch dem steht Art. 52 III entgegen, wonach Rechte, die denen der EMRK entsprechen, die gleiche Bedeutung haben wie dort. Art. 6 entspricht wörtlich Art. 5 I 1 EMRK und gewährleistet damit nur die körperliche Freiheit der Person, nicht aber die Handlungsfreiheit. Handlungsweisen, die weder in den einzelnen Freiheitsrechten erfaßt noch zur Verwirklichung der Würde des Menschen unentbehrlich sind, bleiben damit ungeschützt. Anders als im Grundgesetz nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 56 wird damit etwa die Freiheit zum Reiten im Walde, zum Taubenfüttern in der Öffentlichkeit und zum Rauchen von Marihuana nicht gewährleistet. Gleiches dürfte für manches gelten, was man bei uns früher mit dem polizeirechtlichen Begriff der „öffentlichen Ordnung“ abzuwehren suchte. Dieses Defizit wird voraussichtlich wie schon bei der EMRK zu einer ___________ 52
Vgl. bereits Art. 4 der französischen Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789: „La liberté consiste à pouvoir faire tout ce qui ne nuit pas à autrui“. 53 A. A. v. Bogdandy, Juristenzeitung (= JZ) 2001, 157 (168) m. w. N., der die Grundrechte auf besonders wichtige Interessen oder Aktivitäten beschränken will, weil dies den gefährdeten Interessen einen besseren Schutz vermittele und zu einer klareren Machtverteilung zwischen Rechtsprechung und politischem Prozeß führe. Der bessere Schutz für besonders wichtige Interessen läßt sich indessen ohne weiteres über differenzierte Grundrechtsschranken erzielen (s. u., 5), die klarere Machtverteilung durch eine der Gewaltenteilung Rechnung tragende Zurückhaltung bei der richterlichen Kontrolle. 54 Dieses erfaßt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht jede Form des menschlichen Handelns, vgl. bereits BVerfGE 6, 32 (36 f.); 74, 129 (151); 75, 108 (154 f.); 80, 137 (152); für die Aufnahme eines solchen Grundrechts in die GrundrechteCharta Häfner/Strawe/Zuegg, ZRP 2000, 365 (366). 55 EuGH, Verb. Rs. 133 - 136/85, Rau, Slg. 1987, 2289 (2924). 56 Vgl. BVerfGE 80, 137, 154 f. mit abw. Meinung Grimm, S. 164 ff. (Reiten im Walde); BVerfGE 54, 143, 146 (Taubenfüttern) und BVerfGE 90, 145, 171 (Marihuana). Das Bundesverfassungsgericht betont allerdings, daß das Sichberauschen mit seinen vielfältigen sozialen Aus- und Wechselwirkungen nicht etwa in den absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung fällt. Es kann also aufgrund der Grundrechtsschranken in Art. 2 I GG eingeschränkt werden. Diese Eingriffe müssen sich aber am Verhältnismäßigkeitsprinzip messen lassen.
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extensiven Bestimmung der Schutzbereiche führen, welche die Lücken zu begrenzen versucht. Daraus resultieren Verzerrungen, die für einen seriösen Juristen methodisch und dogmatisch unbefriedigend sind.
4. Vorsichtige Umorientierung innerhalb des europäischen Grundwertekanons In manchen Konzepten zeigt sich gegenüber älteren Grundrechtskatalogen eine vorsichtige Umorientierung innerhalb des europäischen Grundwertekanons. Das bekannteste Beispiel dafür bilden die sozialen Grundrechte in Kapitel IV. Sie waren im Vorfeld umstritten, weil – gerade von deutscher Seite – eine zu weitgehende Einengung politischer und unternehmerischer Handlungsfreiheit durch übermäßige Ansprüche befürchtet worden war. 57 Ihre zurückhaltende Ausgestaltung dürfte diese Bedenken zerstreuen. Zwar handelt es sich ebenso um subjektive Rechte des Bürgers wie bei den anderen Grundrechten, und nicht etwa um unverbindliche Programmsätze. Von den problematischen Leistungsrechten enthält die Charta aber nur das Recht auf Bildung (Art. 14). Ansonsten garantiert sie im Maximum den „Zugang zu“ bestimmten vorhandenen öffentlichen Einrichtungen oder Leistungen wie Arbeitsvermittlung (Art. 29), sozialen Diensten (Art. 34 I) und Gesundheitsvorsorge (Art. 35 S. 1). Viele der Bestimmungen haben im übrigen nur einen geringen normativen Gehalt, weil sie den Umfang der Rechte nicht selbst festlegen sondern auf die anderen Vorschriften des Gemeinschaftsrechts, die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und sogar die einzelstaatlichen Gepflogenheiten verweisen (vgl. Art. 27, 28, 30, 34, 35 S. 1, 36). Die sozialen Grundrechte wirken also weniger durch hohe rechtliche Anforderungen als durch ihren symbolischen Gehalt. Kapitel IV enthält auch die grundrechtlichen Grundsätze des Gesundheits-, Umwelt- und Verbraucherschutzes (Art. 35 S. 2, 37, 38). Inhaltlich handelt es sich um Grundsatznormen objektiv-rechtlicher Natur, die sich nicht wie Grundrechte anwenden lassen. In Grundsätze kann man nicht eingreifen, sie haben keine Schranken und werden nicht erfüllt. Sie werden vielmehr im Wege der Beurteilung und Abwägung konkretisiert. Im Primärrecht der Europäischen Union gehören sie nicht in den Grundrechtskatalog, sondern in einen allgemeinen Grundlagenteil oder an den Anfang der Titel zu den einschlägigen Politiken. 58 In ihrer Aufnahme in die Charta liegt indessen eine konstitutive Anerkennung als Grundrechte und damit subjektive Rechte des Bürgers. 59 Der Grundrechte-Konvent entschloss sich zu diesem Schritt, als die öffentliche ___________ 57
Siehe dazu Bernsdorff, NdsVBl. 2001, 177 (179 ff.). Dazu näher Schmitz (Fußn. 31), S. 232 ff. 59 A. A. Grabenwarter, DVBl. 2000, 1 (10). 58
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Begleitdiskussion aufzeigte, daß zumindest die Verankerung von Umweltschutz und Verbraucherschutz ein dringliches Anliegen weiter Teile der Bevölkerung war. 60 Die natürlichen Lebensgrundlagen werden mit dem Grundsatz des Umweltschutzes aber nur zu einem einfachen Wert, nicht etwa einem eigenständigen Grundwert aufgewertet, der die Bedeutung von Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit oder Solidarität relativieren könnte. 61 Ein partikulares Staats- oder Unionsziel eines radikalen, nicht-anthropozentrisch begründeten Umweltschutzes (auch Tierschutzes) kann es in einer an der Menschenwürde ausgerichteten Grundordnung nicht geben. Von älteren europäischen Grundrechtskatalogen unterscheidet sich die Charta schließlich mit zahlreichen Vorschriften, die ersichtlich auf eine unmittelbare Bindung des Bürgers (sog. unmittelbare Drittwirkung) ausgelegt sind. 62 Sie reagiert damit in teilweiser Abkehr vom überkommenen liberalen Abwehrrechtsdenken mit allgemeinen Verboten auf zum Teil neuartige Gefährdungen für die Grundrechte, die in erster Linie von Privaten ausgehen. Die Grundrechte-Charta bekennt sich stärker zur Verantwortung der öffentlichen Gewalt für die Möglichkeit tatsächlicher Grundrechtsausübung. Beispiele sind die Verbote des Menschenhandels (Art. 5 III), der Kinderarbeit (Art. 32 UA 1), des reproduktiven Klonens von Menschen und der gewinnorientierten Nutzung menschlicher Körperteile (Art. 3 II). Auch positive Verhaltensanweisungen treffen unmittelbar den Bürger, nämlich das Gebot, die Meinung des Kindes in seinen Angelegenheiten zu berücksichtigen (Art. 24 I 2), sowie die ausdrücklich auch auf „private Einrichtungen“ bezogene Verpflichtung auf das Kindeswohl (Art. 24 II). 63
5. Besondere Problemstellungen 1. In der Charta finden sich interessante grundrechtsdogmatische und grundrechtstheoretische Problemstellungen, auf die hier nur am Rande eingegangen werden kann. Dazu gehört etwa die Schrankensystematik. Die Charta enthält keine zeitgemäßen grundrechtsspezifischen Schrankenbestimmungen, wie es in den Grundrechtskatalogen neuerer Staatsverfassungen üblich ist, sondern eine ___________ 60
Siehe statt vieler nur die vom Grundrechte-Konvent veröffentlichten Stellungnahmen (vgl. Fußn. 12). 61 Beachte die Parallele zum 1994 in das Grundgesetz eingefügten Grundsatz des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen (Art. 20a GG), der ebenfalls die Bedeutung der bereits vorhandenen in Art. 1 und 20 GG niedergelegten und in Art. 79 III GG hervorgehobenen Grundwerte und Leitideen des Grundgesetzes nicht relativieren kann. 62 Siehe dazu auch Mahlmann, ZEuS 2000, 419 (438). 63 Vgl. zur Drittwirkung von Art. 24 II auch Tettinger, Neue Juristische Wochenschrift (= NJW) 2001, 1010 (1013).
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undifferenzierte Einheitsschranke (Art. 52 I). Damit verweigert sie jene in den spezifischen Grundrechtsschranken liegenden wichtigen grundrechtspolitischen Vorentscheidungen, die einem Grundrechtskatalog mit differenzierten Freiheitsrechten erst einen Sinn geben. Das bedeutet: sie verzichtet auf einen erheblichen Teil der von einem Grundrechtskatalog zu erwartenden Konkretisierungsleistung. Die Bedeutung der Einheitsschranke wird zudem durch einen teilweisen Schranken-Transfer von der Europäischen Menschenrechtskonvention relativiert. Nach Art. 52 III haben nämlich alle Rechte, die solchen aus der EMRK entsprechen, die gleiche (nicht: mindestens die gleiche) Bedeutung und Tragweite wie dort. Dies ist problematisch, weil die Schranken einer AuffangGrundrechtsordnung wie der EMRK nicht für einen Grundrechtskatalog für den primären Grundrechtsschutz konzipiert worden sind. Außerdem werden wegen dieses Schranken-Transfers die Schranken vieler Grundrechte nicht aus dem Text der Charta ersichtlich. Liest man diese Rechte zusammen mit den dazugehörigen Schrankenbestimmungen aus der EMRK, ergibt sich ein ganz anderes, ernüchterndes Bild. 2. Ein schwieriges Problem bildet die Frage nach der Einschränkbarkeit der Menschenwürde. Art. 1 S. 1 der Grundrechte-Charta erklärt die Menschenwürde ebenso wie das Grundgesetz für „unantastbar“. Im Grundgesetz bedeutet das nach ganz herrschender Meinung, daß sie nicht rechtmäßig eingeschränkt werden kann. 64 Da Art. 1 I GG keinen Schrankenvorbehalt enthält und es sich zudem um den obersten Verfassungswert handelt, ist dies naheliegend. 65 Die Grundrechte-Charta enthält jedoch jene allgemeine Schrankenklausel in Art. 52 I und stellt die Menschenwürde neben die anderen Grundrechte des 1. Kapitels. Erlaubt sie damit Einschränkungen? Das bedeutete eine schwerwiegende Relativierung. Jedenfalls dann, wenn man Menschenwürde mit der in Deutschland vorherrschenden Auffassung nicht als Maximalbegriff versteht, 66 sondern auf den sozialen Wert- und Achtungsanspruch des Menschen ein___________ 64 Vgl. statt vieler Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Stark, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, 1999, Art. 1 Rdnr. 30; Kunig, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 5. Aufl. 2000, Art. 1 Rdnr. 4; Höfling, in: Sachs, Grundgesetz, 2. Aufl. 1998, Art. 1 Rdnr. 11; Sachs, Verfassungsrecht II, 2000, S. 178; a. A. Kloepfer, FS BVerfG II, 1976, S. 405, 411 f., 417 f. 65 Nach Ansicht von Hain, Die Grundsätze des Grundgesetzes, 1999, S. 253 f., sind allerdings bei der Anwendung einer als Prinzip verstandenen Menschenwürde die Abwägungen, die bei der Anwendung von Freiheitsrechten auf konkrete Fälle zwischen den Grundrechten vorzunehmen sind, prinzipienimmanent zu vollziehen, da die Menschenwürde die prinzipielle Freiheit und Gleichheit aller Menschen umfasse und damit die jeweils konfligierenden Positionen bereits beinhalte. 66 Davor warnend Starck, (Fn. 64), Art. 1 Rdnr.14.
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grenzt, der es verbietet, ihn zum bloßen Objekt zu machen. 67 Möglicherweise kann man die systematische Unzulänglichkeit der Charta mit teleologischen Argumenten und rechtsvergleichenden Erwägungen korrigieren. Letztere können wegen der Bezugnahme des fünften Absatzes der Präambel auf die gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten durchaus in die Auslegung der Charta einfließen. 3. Spezielle Fragen aus dem Zusammenhang dieser Tagung werden in der Grundrechte-Charta nicht angesprochen. Sie postuliert beispielsweise kein Recht auf die Heimat, auch nicht auf Rückkehr von Vertriebenen oder deren Nachkommen in ihre frühere Heimat. Sie beschäftigt sich nicht mit den Problemen der Wiedergutmachung oder Aufhebung von Unrecht aus der vorrechtsstaatlichen Vergangenheit heutiger oder zukünftiger Mitgliedstaaten. Man findet in ihr keine Lösungsvorschläge zum Streit um die Beneš-Dekrete. Sie enthält nicht einmal besondere Bestimmungen zum Schutze von Minderheiten. Dafür gibt es eine einfache Erklärung: Die Grundrechtecharta wendet sich als spezifischer Grundrechtskatalog für die Tätigkeit der Union an die Unionsorgane. Für die Mitgliedstaaten gilt sie wie erwähnt (s.o., A.III.1) nur bei der Durchführung von Unionsrecht (Art. 51 I 1). Die Probleme der europäischen Vergangenheitsbewältigung betreffen indessen weniger die Unionsorgane als vielmehr die Staaten, die jene Vergangenheit verursacht haben. Ebenso hat die Union kein Minderheitenproblem (im eigentlichen Sinne), weil sie anders als ihre Mitgliedstaaten schon keine eindeutig definierbaren ethnischen, kulturellen, sprachlichen, religiösen oder sonstigen Mehrheiten kennt. Manche Probleme des Nationalstaates mit seinem bis vor wenigen Jahrzehnten kraß überzeichneten Assimilierungs- und Abgrenzungsdenken stellen sich für den historisch unbelasteten multinationalen und pluralistischen Integrationsverband der Europäischen Union eben nicht oder jedenfalls nicht in einer vergleichbaren Dimension. Dennoch sind die Gewährleistungen der Grundrechte-Charta auch bei diesen Problemstellungen nicht ohne Bedeutung. So sind etwa die Rechte der Angehörigen von Minderheiten selbstverständlich über die individuellen Freiheitsrechte, insbes. die Kommunikationsgrundrechte, Religionsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, Privatschulfreiheit geschützt. Art. 19 I verbietet (zukünftige) Kollektivausweisungen, Art. 21 I jede Diskriminierung wegen der ethnischen Herkunft oder Sprache, Art. 21 II die Diskriminierung von Unionsbürgern aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Außerdem muß die Union nach Art. 22 die „Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen“ achten. Das verpflichtet auch zur Rücksichtnahme auf die Kulturen, Religionen und Sprachen der Minderhei___________ 67
Vgl. BVerfGE 87, 209 (228); für ein etwas weiteres Verständnis der Menschenwürde im Sinne des Art. 1 der Grundrechte-Charta Komorowski (Diskussionsbeitrag auf dieser Tagung).
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ten in den Mitgliedstaaten. Im übrigen enthält die Charta zwar kein Recht auf die Heimat, gewährleistet aber die freie Wiederansiedlung von Vertriebenen oder deren Nachkommen in ihrer früheren Heimat. Sie haben wie alle Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet aller Mitgliedstaaten entsprechend der in den Gründungsverträgen festgelegten Bedingungen und Grenzen frei zu bewegen und aufzuhalten (Art. 45 I i. V. m. 52 II). Beschränkungen dieses Rechts im Rahmen der Osterweiterung müssen in den Beitrittsverträgen besonders festgelegt werden. Dabei sollte kein Zweifel daran bestehen, daß sie – selbst als befristete Ausnahmeregelungen – dem Geist der Grundrechte-Charta widersprechen – nicht anders als Beschränkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit für Bürger aus den Beitrittsstaaten.
IV. Ausblick I. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist der Entwurf einer vollausgebildeten, hochentwickelten Grundrechtsordnung für die Europäische Union. Sie ist bisher nur eine rechtlich unverbindliche Erklärung, soll aber in den zukünftigen europäischen Verfassungsvertrag aufgenommen werden. Dabei kommt es darauf an, daß sie die bestehende richterrechtliche Grundrechtsordnung vollständig ersetzt und nicht durch eine Vorschrift nach dem Muster des heutigen Art. 6 II EUV entwertet wird. II. Die Charta gründet sich auf die europäischen Grundwerte Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit und Solidarität, ergänzt um die Grundsätze der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit. Mit dem gleichgeordneten Grundwert der Solidarität hebt sie sich vom nordamerikanischen Menschenrechtsverständnis ab. Ihre sozialen Grundrechte sind allerdings vorsichtig formuliert und haben zum Teil nur geringen normativen Gehalt. Von älteren europäischen Grundrechtskatalogen unterscheidet sie sich zudem durch eine Reihe von Verboten und anderen Bestimmungen mit unmittelbarer Drittwirkung. Darin zeigt sich eine vorsichtige Umorientierung innerhalb des europäischen Grundwertekanons. III. Die Charta enthält eine Reihe von Innovationen, auf die hier nur begrenzt eingegangen werden konnte. Hervorzuheben sind etwa die Beschränkungen der Biomedizin in Art. 3 II oder die Vorschriften zu den Rechten des Kindes (Art. 24). Ihre Schwächen liegen vor allem in der Schrankensystematik sowie in der Tatsache, daß sie die Freiheit nicht umfassend gewährleistet. IV. Vor einer Übernahme in die Gründungsverträge wäre eine Überarbeitung der Grundrechte-Charta wünschenswert gewesen. Dazu ist es nicht gekommen, weil diese anspruchsvolle Aufgabe zusammen mit den anderen Schwierigkeiten des Entwurfes einer europäischen Verfassung den Europäischen Konvent überfordern hätte. Außerdem war die Gefahr gezielter Sabotage- und Zerstörungsinitiativen nicht von der Hand zu weisen. Jetzt kommt es
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darauf an, daß möglichst bald der Europäische Gerichtshof durch seine Rechtsprechung die normativen Gehalte und dogmatischen Konturen der Grundrechte dieser Charta herausarbeiten kann. Bei der ersten großen Revision der zukünftigen europäischen Verfassung sollte die Charta dann auf der Grundlage der inzwischen gewonnenen Erfahrungen umfassend überarbeitet werden.
V. Zusammenfassung Der Beitrag durchleuchtet die im Dezember 2000 proklamierte Charta der Grundrechte der Europäischen Union als Konkretisierung der gemeinsamen europäischen Werte. Zunächst wird die Bedeutung der Charta als Grundrechtsordnung der Europäischen Union erörtert. Zur Zeit ist die Charta nicht rechtlich bindend. Sie kann auch nicht als Inspirationsquelle für die Grundrechtsrechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nach Art. 6 Abs. 2 EUV herangezogen werden. Ihr kommt jedoch schon heute rechtliche Bedeutung als Auslegungshilfe für später ergangene Richtlinien und Verordnungen der Europäischen Gemeinschaften zu. Wie der Staat bedarf auch die Europäische Union eines eigenen Fundamentes von Grundwerten. Als geo-regionaler Integrationsverband schließt sie nicht nur die Mitgliedstaaten sondern auch die Bürger zu einer allgemeinen politischen Gemeinschaft zusammen. Die Grundwerte der Union, nämlich Menschenwürde bzw. Menschenrechte (darin inbegriffen die Freiheit und Gleichheit der Menschen), Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Solidarität (Sozialstaatlichkeit) – sind heute in Art. 6 I EUV gründungsvertraglich festgeschrieben. Sie werden von allen Mitgliedstaaten geteilt. Es handelt sich um einen spezifisch europäischen Grundwertekanon, der sich mit dem Grundwert der Solidarität bzw. Sozialstaatlichkeit maßgeblich von dem Nordamerikas unterscheidet. Die gemeinsamen Grundwerte werden in der Präambel der Charta bekräftigt und auf innovative aber nicht fehlerfreie Weise systematisiert. Dann werden sie der gewählten Systematik entsprechend in den Kapiteln der Charta zur Würde des Menschen, Freiheit, Gleichheit, zu den Bürgerrechten und zu den justiziellen Rechten konkretisiert. Dabei ist die Charta zum Teil ein Spiegel der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten, geht aber mit einigen Innovationen wie z. B. der grundrechtlichen Beschränkung der Biomedizin deutlich darüber hinaus. In manchen Konzepten zeigt sich gegenüber älteren Grundrechtskatalogen eine vorsichtige Umorientierung innerhalb des europäischen Grundwertekanons. Das bekannte Beispiel dafür bilden soziale Grundrechte in Kapitel IV, die aber zurückhaltend ausgestaltet sind und z. T. nur einen geringen normativen Gehalt aufweisen. Mit allgemeinen Verboten und anderen Vorschriften, die ersichtlich auf eine unmittelbare Bindung des Bürgers (sog. unmittelbare Drittwirkung) ausgelegt sind, reagiert die Charta zudem in teilweiser Abkehr vom überkommen liberalen Abwehrrechtsdenken auf z. T. neuartige Gefährdungen, die weniger vom Staat als von Privaten
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ausgehen. Sie bekennt sich stärker zur Verantwortung der öffentlichen Gewalt für die Möglichkeit tatsächlicher Grundrechtsausübung. Besondere Problemstellungen, die dem vorliegenden Beitrag nur kurz angesprochen werden, bilden die Schrankensystematik der Charta und die Frage nach der Einschränkbarkeit der Menschenwürde. Probleme der europäischen Vergangenheitsbewältigung (Rückkehr von Vertriebenen in ihre alte Heimat, Wiedergutmachung oder Aufhebung von Unrecht aus der vor-rechtsstaatlichen Vergangenheit von Mitgliedstaaten etc.) werden in der Charta nicht angesprochen, weil diese Probleme weniger die Europäische Union als die Mitgliedstaaten betreffe, letztere aber ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union an die Charta gebunden sind. * * *
Abstract Thomas Schmitz: The Charter of the European Union as an Expression of the Fundamental European Values, In: The European Union as a Community of Values. Ed. by Dieter Blumenwitz, Gilbert H. Gornig and Dietrich Murswiek (Berlin 2005) pp. 73-97. The essay deals with the Charter of Fundamental Rights of the European Union, which was passed in the year 2000. Although the Charter is not binding it represents the shared European values. The Charter cannot be regarded as a source of inspiration for the European Court of Justice according to art. 6 paragraph 2 EU Treaty. It only has a guiding role for later enacted directives and guidelines of the European Communities. The European Union has, like any other state, its own fundamental values. As a regional form of integration the European Union comprises not only the member states, but also their citizens, forming a political community. The fundamental values of the Union, i.e. human dignity, democracy, rule of law and welfare state are now established in article 6 of the EU Treaty. These values are shared by all member states. They form a canon of European values, which differs from the American principles of solidarity and welfare state. The common values are reinforced in the preamble of the Charter and are systematised in an innovative although not flawless manner. These are then divided into separate chapters, according to the systematics of the Charter.
Der Beitrag der Europäischen Sozialcharta zur europäischen Wertegemeinschaft Von Alexis von Komorowski
I. Europäische Wertegemeinschaft, soziale Rechtsgrundsätze und soziale Grundrechte 1. Werte und Rechtsgrundsätze in der Präambel zur Europaratssatzung In der Präambel zur Satzung des Europarats 1 wird im zweiten Erwägungsgrund die unerschütterliche Verbundenheit mit den geistigen und sittlichen Werten beschworen, die das gemeinsame Erbe der vertragsschließenden Parteien bilden. Freilich erfahren diese geistig-sittlichen Werte keine unmittelbare Konkretisierung. Stattdessen werden bestimmte Rechtsgrundsätze benannt, die sich aus den nicht näher präzisierten geistig-sittlichen Werten erschließen sollen: persönliche und politische Freiheit, Rechtsstaat, Demokratie. Die in dieser Weise ausdrücklich angesprochenen Rechtsgrundsätze lassen nun zum einen doch wieder Rückschlüsse auf die geistig-sittliche Grundwertung zu, die den europäischen Völkern gemein ist. Es ist dies die zwar gewiß von unterschiedlichen Grundüberzeugungen und Glaubenshaltungen getragene, als solche aber unanime „Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte“ 2 . Zum anderen handelt es sich bei den in der Präambel zur Europaratssatzung angeführten Rechtsgrundsätzen auch nicht etwa um anschauungslose, blinde Begriffe. Vielmehr verstehen sie sich aus der Normalität des mittlerwei___________ * Für konstruktive Kritik danke ich Prof. Dr. Dietrich Murswiek und Dr. Dominik Kupfer. 1 Vom 05.05.1949 (STE no 1); in Kraft getreten am 03.08.1949. Überblick zum Europarat und seinen Aufgaben bei Eckart Klein, Die internationalen und supranationalen Organisationen, in: W. Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 2. Aufl., 2001, IV Rn. 235 ff. 2 Diese beschwört schon der Einleitungssatz der Präambel zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948 (AMRE) (U.N. Doc. A/810, S. 71).
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le in ganz Europa realisierten, traditionsreichen Modells des liberal-demokratischen Verfassungsstaats 3 ; von dorther erhalten sie Profil und Tiefenschärfe. Demgegenüber verzichtet die Präambel zur Europaratssatzung darauf, die von den europäischen Völkern gemeinsam ererbten geistig-sittlichen Werte zu allfälligen sozialen Rechtsgrundsätzen in Beziehung zu setzen. Stattdessen erklärt der dritte Erwägungsgrund der Präambel das Soziale zur bloßen policy, zu einer gemeinsamen Gestaltungsaufgabe, und erweckt im übrigen den Anschein, als ob der politisch gemeinsam zu gestaltende soziale Fortschritt ein aliud zu den von der europäischen Wertegemeinschaft verfolgten Idealen wäre. Daß die Präambel des Europarats einen Nexus zwischen dem geistigsittlichen Erbe Europas und den fundamentalen liberal-demokratischen Rechtsgrundsätzen etabliert, sich eines Rückschlußes von Europas geistig-sittlichen Werten auf soziale Rechtsgrundsätze hingegen gänzlich enthält, läßt sich unter verschiedenen Gesichtspunkten würdigen. Der ideologiekritisch Ambitionierte mag anhand des Präambeltexts dekuvrieren, was nach den Erinnerungen von Carlo Schmid einer der Gründe für die seinerzeitige Ablehnung der Europaratssatzung durch die deutsche Sozialdemokratie war: „Die Vorstellungen, die beim Zustandekommen des Europarats Pate gestanden hatten, schienen uns eher Ausfluß von Traditionen der Schwerindustrie zu sein, Traditionen der Art, die sich beim Aufbau der Ruhrbehörde Geltung verschafft hatten. Wir meinten, das Europa der Zukunft müsse etwas anderes sein als eine Vorrichtung zum Schutze des ökonomischen Status quo und der daraus resultierenden politischen Verhältnisse.“ 4 Diese ideologiekritische Perspektive soll hier jedoch nicht weiter verfolgt werden. Stattdessen soll das Augenmerk auf ein strukturelles Problem gelenkt werden, das sich ausgehend von der Präambel zur Europaratssatzung entwickeln läßt. Die Präambel wirft nämlich ein erhellendes Schlaglicht auf die Frage, weshalb sich die geistig-sittliche Verbundenheit der europäischen Völker bis in unsere Tage lediglich ansatzweise in der Gemeinsamkeit genuin sozialer Rechtsgrundsätze niedergeschlagen hat. 2. Der Mangel an europaweit akzeptierten sozialen Rechtsgrundsätzen Der nach wie vor zu diagnostizierende Mangel an europaweit konsentierten sozialen Rechtsgrundsätzen läßt sich nicht etwa schon darauf zurückführen, daß die den europäischen Völkern gemeinsamen geistig-sittlichen Werte in ___________ 3
Dieses Modell wird beispielsweise unter der Überschrift „Human Rights, Democracy and Rule of Law“ in der OSZE-„Charter of Paris for a New Europe“ vom 21.09.1990 skizziert (abgedr. in: EuGRZ 1990, 517). 4 Carlo Schmid, Erinnerungen, 1979, S. 458.
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sozialer Hinsicht indifferent wären. Bildet nämlich, wie für die Präambel der Europaratssatzung plausibel gemacht, die auf unterschiedlichste Weise begründete, im Ergebnis aber einmütig anerkannte Würde der als Freie und Gleiche zu denkenden Menschen den Kern der europäischen Wertegemeinschaft 5 , so zeigen sowohl die Würdekomponente als auch der Gleichheitsaspekt unbestreitbar eine soziale Dimension auf – oder erweisen sich doch zumindest als in sozialer Hinsicht anschlußfähig. Schließlich assoziiert sich Menschenwürde mit Solidarität 6 , Gleichheit mit (sozialer) Gerechtigkeit 7 , so daß nicht schon die gemeineuropäische Wertebasis der Generierung europaweit gültiger sozialer Rechtsgrundsätze entgegensteht. Mangelt es dennoch vielfach an europaweit akzeptierten sozialen Rechtsgrundsätzen, so hängt dies in der durch die Präambel zur Europaratssatzung aufgerissenen Perspektive entscheidend damit zusammen, daß in Europa kein zumindest einigermaßen homogenes sozialstaatliches Modell existiert8 . Immerhin unterscheidet die vergleichende Sozialstaatsforschung europaweit zwischen mindestens drei Typen von Wohlfahrtsstaaten, denen denkbar unterschiedliche ethische und rechtsgrundsätzliche Konzeptionen zu Grunde liegen 9 . Beispielhaft sei an dieser Stelle nur auf den Gegensatz hingewiesen zwischen einerseits dem Wohlfahrtsstaat sozialdemokratischer Prägung, der sich insbesondere am Grundwert der Gleichheit orientiert und daher im Rechtsgrundsätzlichen am Leitbild sozialer (Verteilungs-)Gerechtigkeit festhält 10 , andererseits dem liberalen Wohlfahrtsstaat, der statt an den Grundwert der Gleichheit eher an den der – betont freiheitlich verstandenen – Menschenwürde anknüpft, infolgedessen im Rechtsgrundsätzlichen vom Leitbild freiheitlicher ___________ 5
Vgl. dazu nur den ersten Satz der Präambel zur Charta der Grundrechte der EU: „In dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität.“ (zit. nach der vorläufigen konsolidierten Fassung des Vertrags über eine Verfassung für Europa [CIG 87/1/04 REV1]). 6 Vgl. nur in Werner Maihofer, Rechtsstaat und menschliche Würde, 1968 den Abschnitt über „Die Antastung der Menschenwürde als Zerstörung der Solidarität zwischen Menschen“ (S. 19 ff.). 7 Der Zusammenhang zwischen Gleichheit und Gerechtigkeit offenbart sich schon am Anfang der europäischen Geistesgeschichte, und zwar in der aristotelischen Lehre von der ausgleichenden Gerechtigkeit (iustitia directiva), die sich auf die arithmetische Gleichheit bezieht, und der austeilenden Gerechtigkeit (iustitia distributiva), die eine proportionale Gleichheit ist (Nikomachische Ethik V/5-7, 1130b ff.) 8 Vgl. nur Catherine Jones Finer, Trends and Developments in Welfare Sates, in: J. Clasen (Hrsg.), Comparative Social Policy, 1999, S. 15 ff. 9 Grundlegend Gøsta Esping-Andersen, The Three Worlds of Welfare Capitalism, 1990, S. 26 ff.; vgl. auch ders., Toward the good society, once again?, in: ders. u.a., Why we Need a New Welfare State, 2002, 1 ff. 10 Eine theoretische Begründung des egalitären Sozialstaatskonzepts bietet John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1975.
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Eigenverantwortung ausgeht und ein solidarisches Einstehen der staatlichen Gemeinschaft nur subsidiär für die Fälle echter Bedürftigkeit vorsieht 11 . Angesichts einer solchen Diversität sozialstaatlicher Modelle 12 kann nicht erwartet werden, daß sich soziale Rechtsgrundsätze nach demselben Modus ausprägen und auf Dauer stabilisieren, wie dies im Hinblick auf die liberaldemokratischen Rechtsgrundsätze durch das in ganz Europa mehr oder minder uniform realisierte verfassungsstaatliche Modell geschehen ist und weiterhin geschieht. Denn es fehlt nun einmal am Entgegenkommen einer tendenziell einheitlichen sozialstaatlichen Normalität 13 , die wirksam dazu beitrüge, daß die im gemeinsamen Wertekanon der europäischen Völker in nuce durchaus angelegten sozialen Rechtsgrundsätze gemeineuropäisch an Profil und Tiefenschärfe gewinnen 14 . Ausgehend von der Präambel der Satzung des Europarats läßt sich somit festhalten, daß Europa als Wertegemeinschaft zwar auf die Ausprägung sozialer Rechtsgrundsätze hin angelegt ist. Diese lassen sich aber nicht gleichsam organisch unter inspirierender und stabilisierender Bezugnahme auf ein geschichtlich gewordenes europaeinheitliches Sozialmodell formulieren und konkretisieren. Infolgedessen kann die unzweifelhaft vorhandene soziale Dimension von Europas geistig-sittlichem Erbe in der Sphäre des Rechtsgrundsätzlichen überhaupt nur dadurch eingelöst werden, daß sich die europäischen Völker im Wege aktiver Ausmachung darüber einig werden, welche sozialen Rechtsgrundsätze sie als gemeinsame zu akzeptieren bereit sind und welche nicht. 3. Gemeineuropäische soziale Rechtsgrundsätze als Antwort auf die Globalisierung Über die prinzipielle Notwendigkeit, sich auf europäischer Ebene über gemeinsame soziale Rechtsgrundsätze zu verständigen, dürfte dabei heute – mehr denn je – weitestgehende Einigkeit bestehen. Dies hängt mit jener Entwicklung des kapitalistischen Systems zusammen, die in der öffentlichen Diskussion mit ___________ 11 Eine theoretische Begründung des libertären Sozialstaatskonzepts liefert Friedrich von Hayek, Die Verfassung der Freiheit, 1971. 12 Zur Diversität der Sozialstaatsmodelle auch Bernd Schulte, Europäische Integration und sozialer Schutz, in: K. Kraus / Th. Geise (Hrsg.), Sozialstaat in Europa, 2001, S. 285 ff. 13 Erhellend zum „Eigensinn“ nationaler wohlfahrtsstaatlicher Traditionen FranzXaver Kaufmann, Varianten des Wohlfahrtsstaats, 2003, S. 30 ff. 14 Vgl. auch Rainer Hofmann, Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen und Vorkehrungen gegen Armutsrisiken, in: ders. u.a. (Hrsg.), Armut und Verfassung, 1998, S. 3 (5), der darauf hinweist, „daß der Begriff Sozialstaat auf gemeineuropäischer Ebene noch keine so starken Konturen gewonnen hat wie jener des Rechtsstaats“.
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dem schillernden Terminus der Globalisierung belegt wird 15 . Zwar wird dieser ökonomische Prozeß, der sich seit den großen Ölkrisen und verschärft seit der Zeitenwende von 1989/90 Bahn bricht, höchst unterschiedlich bewertet. Einige Facetten des GlobalisierungsProzeßes sowie einige der hieraus zu ziehenden Konsequenzen werden jedoch allgemein anerkannt. So ist unbestritten, daß es unter den Menschen bestimmter Branchen, Regionen und Weltteile ‚Verlierer’ des tiefgreifenden Strukturwandels gibt 16 . Daß diese prinzipiell Hilfe und Unterstützung verdienen, ist gleichfalls Konsens. Diese Einmütigkeit wird auch dadurch nicht in Frage gestellt, daß die Forderung nach sozialer Protektion für die Globalisierungsverlierer in denkbar unterschiedlicher Weise motiviert wird. Denn daß es den einen um eine höhere Akzeptanz der als primär wohlfahrtsfördernd wahrgenommenen Globalisierung geht 17 , andere sich eine Depotenzierung des gegenwärtig neoliberal deformierten GlobalisierungsProzeßes erhoffen 18 , dies berührt das Wie, nicht aber das Ob eines sozialen Schutzes für die Verlierer der Globalisierung. Fernerhin wird ganz überwiegend die Einschätzung geteilt, daß der globalisierungsbedingte Umbruchsprozeß einen internationalen Standortwettbewerb ausgelöst hat 19 . Dies gilt insbesondere für Europa, das – entsprechend der schon in der Präambel zur Europaratssatzung aufscheinenden Zielvorstellung 20 – in den letzten Jahren ein hohen Grad an wirtschaftlicher Integration erreicht hat. Unbestrittene Folge dieses Standortwettbewerbs ist, daß die arbeits- und sozialpolitischen Handlungsmargen der nationalen Einzelstaaten sich zusehends verkürzen. Infolgedessen muß der zwar teilweise höchst unterschiedlich begründete, in der Sache aber allgemein geforderte Schutz der Globalisierungsverlierer immer zugleich durch entsprechende Maßnahme der Staatengemeinschaft sichergestellt werden, da er sich rein nationalstaatlich nicht mehr gewährleisten läßt 21 . Daraus folgt dann freilich auch die Notwendigkeit, sich über europaweit gültige soziale Rechtsgrundsätze zu verabreden 22 . Denn die ___________ 15 Hierzu eingehend Deutscher Bundestag, Schlußbericht der Enquête-Kommission Globalisierung der Weltwirtschaft – Herausforderungen und Antworten, BT-Drs. 14/9200. Zum Begriff der Globalisierung auch Friedhelm Hengsbach, „Globalisierung“ – eine wirtschaftsethische Reflexion, in: APuZ B 35-24/2000, S. 10 (11 ff.). 16 Schlußbericht (Fn. 15), S. 53 ff. 17 Minderheitenvotum der CDU/CSU-Arbeitsgruppe, in: Schlußbericht (Fn. 15), S. 458. 18 Minderheitenvotum der PDS-Arbeitsgruppe, in: Schlußbericht (Fn. 15), S. 536 f. 19 Schlußbericht (Fn. 15), S. 226 ff. 20 Vgl. den 3. Erwägungsgrund der Satzung (Fn. 1). 21 Schlußbericht (Fn. 15), S. 230 f. 22 Vgl. dazu bereits Theo Öhlinger, Die Europäische Sozialcharta, in: M. Nowak / Dorothea Steurer / Hannes Tretter (Hrsg.), Festschrift für Felix Ermacora, 1988, S. 213 (220), der in der Revitalisierung des völkerrechtlichen Schutzes sozialrechtlicher Verbürgungen zu Recht eine Chance dafür sieht, den Standortwettbewerb zu dämpfen.
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überstaatlichen Maßnahmen zum Schutz der Globalisierungsverlierer setzen voraus, daß sich die betreffenden Nationalstaaten zumindest implizit darüber einigen, welche sozialen Rechtsgrundsätze mit den konkreten Maßnahmen sozialer Sicherung verwirklicht werden sollen und welche nicht. 4. Die aus Europas Werten gespeisten sozialen Rechtsgrundsätze als Grundrechte Die demnach allgemein für unverzichtbar erachtete Auseinandersetzung um europaweit anzuerkennende soziale Rechtsgrundsätze hat zuletzt in der Erarbeitung der Europäischen Grundrechtscharta 23 ihren Niederschlag gefunden. Die sozialen Rechtsgrundsätze, die sich Europa seiner sittlich-geistigen Werte wegen hervorzubringen schuldet, haben auch insofern – ganz überwiegend – die semantische Gestalt sozialer Grundrechte angenommen 24 . Die traditionelle deutsche Staatsrechtslehre muß dies mit tiefer Skepsis erfüllen. Denn aus ihrer Sicht, wird die sprachliche Form, in die der Konvent die gemeineuropäischen sozialen Rechtsgrundsätze gegossen hat, spätestens dann Probleme bereiten, wenn die Charta in unmittelbarer (Außen-)Rechtsverbindlichkeit erstarkt 25 . Schließlich gefährdet die spezifische Motorik sozialer Grundrechte nach herkömmlicher deutscher Auffassung zentrale liberal-demokratische Rechtsgrundsätze 26 , und zwar insbesondere die Justiziabilität rechtlicher Gewährleistungen 27 , die Freiheitsansprüche der mittelbar oder auch unmittelbar durch die sozialen Grundrechte in die Pflicht genommenen Individuen 28 , ferner die Gewaltenteilung 29 sowie vor allem die Budgethoheit des Parlaments 30 . ___________ 23
ABl. EG 2000/C 364, S. 1 ff. Hierzu eingehend Jürgen Meyer (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2003. 24 Zu diesen etwa Norbert Bernsdorff, Soziale Grundrechte in der Charta der Europäischen Union, in: VSSR 2001, S. 1 ff., sowie Bernhard Losch / Wiltrud Radau, Die soziale Verfassungsaufgabe der Europäischen Union, NVwZ 2003, 1440 ff. 25 Zu mittelbaren und unmittelbaren (Außen-)Rechtswirkung der Charta vgl. näher oben II. 4. 26 Prototypisch dafür auch Carl Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 169, der in Hinblick auf ihre logische und juristische Struktur einen regelrechten Gegensatz zwischen den von ihm polemisch als sozialistisch bezeichneten sozialen Grundrechten und den bürgerlich-liberalen Freiheitsrechten ausmacht. Ihm nachfolgend etwa Ulrich Scheuner, Grundfragen des modernen Staates, in: H. Wandersleb (Hrsg.), Recht Staat Wirtschaft, Bd. 3, 1951, S. 126 (158 f.). 27 Christian Starck, Die Grundrechte der Grundgesetzes, in: JuS 1980, 235 (241 f.). 28 Josef Isensee, Verfassung ohne soziale Grundrechte, in: Der Staat 19 (1980), S, 367 (379). 29 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, in: NJW 1974, S. 1529 (1536). 30 Paul Kirchhof, Mittel staatlichen Handelns, in: J. Isensee / ders., Handbuch des Staatsrechts, Bd. 3, 1988, Rn. 81.
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Nichtsdestotrotz werden all diejenigen, die diese skeptische Grundhaltung teilen, eines einräumen müssen: Es drängte und drängt sich nachgerade auf, die gemeineuropäische Verständigung über die im geistig-sittlichen Erbe Europas angelegten sozialen Rechtsgrundsätze in die Anerkennung sozialer Grundrechte einmünden zu lassen. Denn zum einen ist seit dem Wegfall des Ost-WestGegensatzes die Diskussion um die sozialen Grundrechte nicht mehr verstummt, und zwar gleichermaßen im völkerrechtlichen 31 wie auch im nationalverfassungsrechtlichen Bereich 32 . Seitdem sich westliches und sozialistisches Menschenrechtsverständnis nicht mehr wechselseitig blockieren 33 , ist der Blick frei geworden auf das, was die Vertreter von 171 Staaten auf der bis heute größten Menschenrechtskonferenz 1993 in Wien feierlich proklamiert haben 34 : „Alle Menschenrechte sind allgemein gültig, unteilbar, bedingen einander und bilden einen Sinnzusammenhang.“ 35 Zum anderen und vor allem gibt es auf europäischer Ebene bereits eine gewisse Tradition, Verständigungen über gemeinsame soziale Rechtsgrundsätze in grundrechtlichen Katalogen zu normieren. Im Vordergrund steht insofern zweifellos die Europäische Sozialcharta (ESC) 36 samt ihrer Zusatzprotokolle (ESC ZusProt 1988 37 und 1995 38 ), ihres Änderungsprotokolls (ESC ÄndProt 1991) 39 und der revidierten Fassung (RESC) 40 . Es handelt sich hierbei um Instrumente des völkerrechtsvertraglichen Menschenrechtsschutzes, die unter der Ägide des Europarats ausgehandelt wurden und unter dessen Dach Anwen___________ 31 Vgl. dazu etwas das Projekt, im Rahmen eines Zusatzprotokolls auch in Hinblick auf die Verbürgungen des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPWSK; UNTS, Bd. 992, S. 3) ein Individualbeschwerdeverfahren zu etablieren (hierzu den einschlägigen Bericht des VN-Ausschußes für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte [U.N. Doc. E/CN.4/1997/105]). 32 Hinzuweisen ist auf die Aufnahme sozialer Grundrechte in die Verfassungen der neuen Länder, vgl. hierzu etwa Hilmar Riepe, Soziale Grundrechte in den Verfassungen der Ländern Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, 1996. 33 Hierzu auch Losch / Radau (Fn. 24), S. 1441 f. 34 U.N. Doc. A/Conf. 157/23, Ziff. 5. 35 Dazu auch das Friedenswort der Deutschen Bischofskonferenz, Gerechter Frieden, Oktober 2000, Rn. 73 ff. 36 Vom 18.10.1965 (STE no 35); in Kraft getreten am 16.2.1965. 37 Vom 5.5.1988 (STE no 128); in Kraft getreten am 4.9.1992. 38 Vom 9.11.1995 (STE no 158); in Kraft getreten am 1.7.1998. 39 Vom 21.10.1991 (STE no 142); tritt erst in Kraft, wenn alle Vertragsstaaten der ESC es ratifiziert haben. Allerdings werden die meisten der dort vorgesehenen verfahrenrechtlichen Vorgaben aufgrund einer Entscheidung des Ministerkomitees (abgedr. in: Charte sociale européenne. Receuil de Textes, 3. Aufl. 2001, S. 219) schon seit über zehn Jahren befolgt. 40 Vom 3.5.1996 (STE no 163); in Kraft getreten am 1.7.1999.
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dung finden 41 . Obgleich also die Präambel zur Europaratssatzung die soziale Dimension des geistig-sozialen Erbes Europas noch gänzlich ignoriert, sah sich der Europarat schon wenige Jahre nach seiner Gründung genötigt, zur Statuierung gemeineuropäischer sozialer Rechtsgrundsätze beizutragen, und zwar in Gestalt sozialer Grundrechte 42 . Diesen Pfad hat der Europarat in der Folgezeit nicht etwa verlassen, sondern ist ihn weitergegangen – zunächst eher schleppenden, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs deutlich forscheren Schritts. Vor diesem doppelten Hintergrund ist es in der Tat praktisch nur schwer vorstellbar, wie sich europäische Verständigungen über gemeinsame soziale Rechtsgrundsätze anders realisieren ließen als gerade durch die Verankerung sozialer Grundrechte 43 . Mit anderen Worten: Daß sich die sozialen Rechtsgrundsätze, die in Europas geistig-sittlichem Erbe tendenziell angelegt sind, gerade in Gestalt von Grundrechten ausprägen, ist de facto alternativlos. Folglich wird auch die insofern traditionell reserviert eingestellte deutsche Staatsrechtslehre 44 à la longue nicht umhin kommen, sich konstruktiv mit den sozialen Grundrechten auseinander zu setzen 45 . Dabei ist zu berücksichtigen, daß die sozialen Grundrechte europäischer Provenienz zum gegenwärtigen Zeitpunkt häufig noch ein relativ verschwommenes Profil, eine vergleichsweise geringe Tiefenschärfe aufweisen. Dies rührt, wie schon angesprochen 46 , insbesondere von daher, daß sie von keinem real existierenden europaeinheitlichen Sozialmodell her beleuchtet werden, sondern selbst die Eckpfeiler eines solchen erst noch zu kreierenden gemeineuropäischen Sozialmodells sind. Umso wichtiger erscheint es daher, zunächst das fragmentarische Anschauungsmaterial, das im Hinblick auf die gemeineuropäischen sozialen Grundrechte existiert, sorgsam auszubreiten. Denn soziale Grundrechte ohne Anschauung sind blind. In diesem Sinn soll im Weiteren das System der ESC, dem in Hinblick auf die sozialen Grundrechte eine europäische Vorreiterrolle zukommt, vorgestellt und aus vornehmlich rechtswissenschaftlicher Sicht gewürdigt werden. ___________ 41 Dazu zuletzt Xenia Neubeck, Die Europäische Sozialcharta und deren Protokolle, 2002 sowie grundlegend David Harris / John Darcy, The European Social Charter, 2. Aufl., 2001. 42 Weshalb in Hinblick auf die materiellen Verbürgungen der ESC-Instrumente von sozialen Grundrechten gesprochen werden kann, wird unten II. 2. (am Anfang) näher ausgeführt. 43 In diese Richtung weist auch der Schlußbericht (Fn. 15), der in seiner Empfehlung 4-6 ein „System europäischer Mindeststandards für Arbeitnehmerrechte“ einfordert. 44 Dies lehrt bereits ein flüchtiger Blick in die gängigen Großkommentare zum Grundgesetz, vgl. nur Christian Starck, in: H. v. Mangoldt / F. Klein / ders., (Hrsg.), Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, 4. Aufl., 1999, Art. 1 Rn. 153 ff.; Horst Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, 2. Aufl., 2004, Vorb. Rn. 81. 45 Hofmann (Fn. 14), S. 6 f. 46 Siehe oben I. 2.
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5. Werte, Rechtsgrundsätze, Grundrechte – ein begriffsklärender Inkurs Zuvor ist freilich vertiefend auf jene drei Begrifflichkeiten zurückzukommen, die im Mittelpunkt der bisherigen Überlegungen standen. Die Termini Werte, Rechtsgrundsätze und Grundrechte zeichnen sich durch eine verwirrende Bedeutungsvielfalt aus. Wenn sie vorstehend dennoch wie selbstverständlich zu Grunde gelegt wurden, so hängt dies damit zusammen, daß sie aus einem konkretisierenden Kontext heraus begriffen wurden und der ihnen so zuwachsende Bedeutungsgehalt in hohem Maße plausibel erscheint: In dem verständnisbildenden Rahmen der Präambel zur Europaratssatzung begreift sich der von allen drei Begriffen wohl vielschichtigste Terminus des geistigsittlichen Werts vergleichsweise zwanglos als Inbegriff bestimmter Formen beziehungsweise Voraussetzungen gelingenden Lebens, die in einem bestimmten, historisch gewachsenen Kulturkreis für ‚gut‘ erachtet werden und deren tätige Realisierung infolgedessen als sittlich-moralisch qualifiziert wird 47 . Indem diese geistig-sittlichen Werte als Grundlage der demokratiekonstitutiven Rechtsgrundsätze der Freiheit und Rechtsstaatlichkeit bezeichnet werden, legt die Präambel zugleich den Schluß nahe, daß sie selbst keinen normativen Charakter besitzen, sondern den Normen vorgelagert sind, die ihrer Durchsetzung dienen 48 . Die Rechtsgrundsätze wiederum begreift die Präambel in erster Linie als sittliche 49 . Immerhin werden sie im zweiten Erwägungsgrund als grundle___________ 47 Die hier kontextabhängig aus der Präambel entwickelte Deutung des Terminus ‚Wert‘ weist eine bemerkenswerte Nähe zu dem von Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, 5. Aufl., 1997, S. 310 f. vorgeschlagenen Begriffsverständnis auf: Habermas zufolge haben Werte einen teleologischen Sinn, bezeichnen Erstrebenswertes, zu Realisierendes. Sie legen Vorzugsrelationen fest, ihr Geltungsanspruch ist mithin graduell kodiert. Ihnen kommt eine lediglich kulturkreisrelative Verbindlichkeit zu. Innerhalb ein und desselben Wertsystems konkurrieren die verschiedenen Werte spannungs- und wechselvoll um Vorrang. 48 Auch insofern läßt sich eine Parallele zu den von Habermas (Fn. 47), S. 310 f. angestellten Erwägungen ziehen. Denn auch er besteht auf dem Unterschied zwischen einerseits Werten und andererseits Normen, zu denen er ganz bewusst auch die Prinzipien rechnet: Normen (und mithin auch Rechtsgrundsätze) weisen seiner Auffassung nach einen deontologischen und nicht wie Werte einen teleologischen Sinn auf. Ihr Geltungsanspruch ist nicht graduell, sondern binär kodiert: gültig oder nicht gültig. Normen beanspruchen unbedingte und universelle Verbindlichkeit, keine bloß kulturkreisrelative. Innerhalb desselben Normsystems stehen Normen in einem kohärenten und stabilen Zusammenhang. 49 Wegleitendes zur Kategorie der sittlichen Rechtsgrundsätze findet sich namentlich in den Schriften Hermann Hellers. Sittliche Rechtsgrundätze begreift er als „Bauprinzipien des Rechtsinhalts mit sittlichem Geltungsanspruch“ (Die Souveränität, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, 2. Aufl., 1992, S. 31 [70]). Es handelt sich nach Hellers Auffassung um „ethische Strukturprinzipien des Rechts, die positive Rechtssätze deshalb noch nicht sind, weil ihnen die ein normgemäßes Verhalten ermöglichende Individualisierung oder Positivität fehlt“ (Der Begriff des Gesetzes in der Reichsverfassung, in: VVDStRL 4 [1928], S. 98 [119 f.]).
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gende Rechtsprinzipien jeder wahren Demokratie in Bezug genommen. Dies schließt ihre Positivierung freilich nicht aus, sondern fordert sie im Gegenteil 50 . In diesem von der Präambel her entwickelten Verständniszusammenhang lassen sich die Grundrechte ihrerseits folgerichtig als besondere Form der nach Positivierung strebenden sittlichen Rechtsgrundsätze begreifen 51 . Als solche dienen auch die Grundrechte der mittelbaren, nämlich spezifisch normativen Um- und Durchsetzung der von ihnen indes kategorial zu unterscheidenden sittlichen Werte 52 . Daß dieses spezifische Verständnis von Werten, Rechtsgrundsätzen und Grundrechten sowie ihres Verhältnisses zueinander ein beachtliches Maß an Plausibilität aufweist 53 , ändert indes nichts an dessen Kontextabhängigkeit. Denn wegen ihrer – vom Wertbegriff über die Rechtsgrundsätze zu den Grundrechten gewiss abnehmenden, aber dennoch durchweg erheblichen – Konturenlosigkeit können sich diese Termini in unterschiedlichen Kontexten denkbar unterschiedliche Sinngehalte anverwandeln. So können Werte wie etwa in der katholischen Soziallehre auch als sittliche Normen verstanden werden 54 ; mitunter wird ihnen gar ein positivrechtlicher Verpflichtungscharakter angesonnen, wie dies beispielsweise mit Art. I-2 des Vertrags über eine Verfassung für ___________ 50 Auch insofern läßt sich auf Heller, Staatslehre, 1934, S. 222 verweisen. Er stellt unmissverständlich klar, daß den sittlichen Rechtsgrundsätzen „die Forderung nach sozialer Geltung immanent“ ist; „sie wollen nicht in bloß idealer Absolutheit gelten, sondern möglichst auch als positive Rechtsgrundsätze wirken“. 51 Vergleichbar hat sich auch Heller bei seiner Auseinandersetzung mit dem Weimarer Grundrechtskatalog von der Vorstellung leiten lassen, daß es sich bei den Grundrechten um nach Positivierung strebende sittliche Rechtsgrundsätze handelt (Der Begriff des Gesetzes [Fn.49], S. 120 f.; Staatslehre [Fn. 50], S. 256). 52 Der Sache nach wird damit der Kritik Rechnung getragen, die von Seiten der deutschen Staatsrechtslehre an der unvermittelten Gleichsetzung von Werten und Grundrechten geübt worden ist; vgl. dazu nur Helmut Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz, 1973 sowie die nuancierenden Bemerkungen von Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., Rn. 299. – Gegen die Identifizierung von Werten und Grundrechten hat in der berühmt-berüchtigten Grundwertedebatte der siebziger Jahre bemerkenswerterweise auch der damalige Bundeskanzler Helmut Schmid Stellung bezogen: „Es ist falsch, diese Grundrechte des Grundgesetzes mit transzendent orientierten, mit religiösen oder sittlichen Grundwerten gleichzusetzen. (…) Die Grundrechte unseres Grundgesetzes enthalten keine (…) Werthaltungen (…). Wohl aber eröffnen die Grundrechte die Freiheit, Auffassungen, Überzeugungen, Glauben zu haben, dafür einzutreten und dementsprechend zu handeln.“ (Ethos und Recht in Staat und Gesellschaft, in: G. Gorschenek, Grundwerte in Staat und Gesellschaft, 1977, S. 13 [18]). 53 Es ist hier nicht der Ort, näher zu begründen, weshalb das aus der Präambel zur Europaratssatzung entwickelte Begriffsverständnis plausibel erscheint. Freilich geben die Hinweise in den Fn. 47- 52 Anhaltspunkte dafür, worauf sich die Plausibilitätsbehauptung im Einzelnen stützt. 54 Etwa Karl Lehmann, Artikel ‚Grundwerte‘, in: Staatslexikon, hrsg. von der Görres-Gesellschaft, Bd. 2, 7. Aufl., 1986, Sp. 1131.
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Europa 55 geplant ist. Andere Kontexte typisieren Rechtsgrundsätze durch einen relativ hohen Generalitätsgrad und setzen deren Normstruktur graduell gegen die der rechtsgewissen Rechtssätze ab 56 ; teilweise wird in Ansehung der Normstruktur sogar ein qualitativer Unterschied zwischen Rechtsgrundsätzen und Rechtssätzen gemacht, wobei erstere dahingehend charakterisiert werden, daß sie etwas geböten, was mehr oder minder stark erfüllt werden könne, wohingegen letztere nur entweder erfüllt oder nicht erfüllt werden könnten 57 . Grundrechte wiederum sind in der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung lange genug unmittelbar mit Werten gleichgesetzt worden 58 . Wenn sich Werte, Rechtsgrundsätze und Grundrechte somit nur kontextabhängig auf den Begriff bringen lassen, so heißt dies freilich nicht, daß die in den verschiedenen Kontexten zu Grunde gelegten begrifflichen Konzepte beziehungslos nebeneinander stünden. Denn was die jeweils anderen begrifflichen Konzepte plausibilisiert, formuliert Anfragen an das kontextuell zu Grunde liegende Begriffskonzept; und um dessen Durchdringungs- und Steuerungskraft Willen müssen die betreffenden Anfragen beantwortet werden. So hat das Begriffsverständnis, an das vorliegend angeknüpft wurde, zu erklären, wie die zunächst noch im Sittlichen verorteten und vielfach hochgradig unbestimmten Rechtsgrundsätze positivrechtliche Verpflichtungskraft entfalten können 59 . Richtiger Auffassung nach setzt dies eine Setzungshandlung 60 voraus, durch die der betreffende Rechtsgrundsatz in das verbindliche Recht der betreffenden Rechtsgemeinschaft inkorporiert wird 61 und nach dessen Maßgabe ihm – durch namentlich systematische Interpretation 62 – ein operabler Regelungsgehalt zuwächst. ___________ 55
Vgl. die vorläufig konsolidierte Fassung (Fn. 5). So schon Heller, Souveränität (Fn. 49), S. 70 f.; ders., Begriff des Gesetzes (Fn. 49), S. 118 ff.; vgl. auch Franz Reimer, Verfassungsprinzipien, 2001, S. 181 f. 57 Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 71 ff.; gute Einordnung und Zusammenfassung bei Hans-Joachim Koch, Die normtheoretische Basis der Abwägung, in: R. Alexy / ders. / L. Kuhlen / H. Rüssmann, Elemente einer juristischen Begründungslehre, 2003, S. 235 (240 ff.). 58 Dazu nur Michael Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, 2000, S. 122 ff. sowie zuletzt Tine Stein, Irdisches Recht ohne himmlische Werte?, in: ZRph 2004, S. 58 (62 f.). 59 Erhellend hierzu etwa Ulrich Penski, Rechtsgrundsätze und Rechtsregeln, in: JZ 1989, 105 (112 ff.). 60 Heller, Souveränität (Fn. 49), S. 71. 61 Vgl. Norbert Hoerster, Die rechtsphilosophische Lehre vom Rechtsbegriff, in: JuS 1987, 181 ((186). 62 Gegenüber einer normtextvergessenen Abwägungslehre besteht etwa Friedrich Müller, Juristische Methodik, Bd. 1, 8. Aufl., 2002, Rn. 141 auf der Leistungsfähigkeit und Gebotenheit der systematischen Auslegung prinzipienförmiger Rechtsnormen. In diese Richtung weist tendenziell auch schon das von Konrad Hesse (Fn. 52), Rn. 72 entwickelte Interpretationsprinzip der praktischen Konkordanz. 56
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Setzen andere Kontexte Werte mit sittlichen Normen gleich, so wird gerade auch aus Sicht des hier zunächst entfalteten Begriffsverständnisses die Frage aufgeworfen, ob sich das in den Werten verkörperte ‚Gute‘ der Normierung nicht vielfach entzieht. Schließlich sind Handlungen, die das ‚Gute’ realisieren und daher als sittlich-moralisch zu qualifizieren sind, häufig nicht generell zumutbar, sondern eine existenzielle Zumutung 63 . Es ist mit anderen Worten der Umstand, daß die Verwirklichung des ‚Guten‘ bisweilen ein supererogatorium abverlangt 64 , der an dessen Normierbarkeit zweifeln läßt. Statuiert das positive Recht Werte als Rechtsnormen, so wird im Licht gegenläufiger Begriffskonzepte, also interkontextuell, das Problem apparent, daß das Recht seine wesensprägende relative Berechenbarkeit und Objektivierbarkeit zu verlieren droht, wenn es unvermittelt als Modus einzelfallspezifischer Werteverwirklichung aufgefaßt wird 65 . Bei der Interpretation der ins positive Recht aufgerückten Werte muß daher der Eigenstand des Rechtlichen berücksichtigt werden 66 ; der positivierte Wert ist als im Sinne des demokratischen und sozialen Rechtsstaats rational zu konkretisierender Normtext zu begreifen, nicht als durch Einzelfalloptimierung zu realisierende Zielvorstellung des ‚Guten‘ 67 . Wer Rechtsgrundsätze über ihre graduelle beziehungsweise qualitative Verschiedenheit von den Rechtssätzen definiert, wird durch abweichende Begriffskonzepte interkontextuell dafür sensibilisiert, daß beide Normtypen dieselbe deontologische Struktur aufweisen und denselben Gesetzen deontischer Logik folgen, sie beide sprachlich offen formuliert sein können und spätestens im Zuge der Interpretation zu einer Norm des Entweder-/Oder-Typs 68 mutieren 69 . Erweist sich die (schwache oder starke) Trennung von Rechtsgrundsätzen und Rechtssätzen vor diesem Hintergrund als prekär, bedarf es zumindest der ein___________ 63 Vgl. aus christlich-katholischer Sicht Hermann Krings, Artikel ‚Norm (I)‘, in: Staatslexikon, hrsg. von der Görres-Gesellschaft, Bd. 4, 7. Aufl., 1986, Sp. 61 (64); in nachmetaphysicher Perspektive Jürgen Habermas, Richtigkeit versus Wahrheit, in: ders., Wahrheit und Rechtfertigung, 1999, S. 271 (315 f.). 64 Supererogatorisch ist aus der christlich-katholischen Sicht Hermann Krings (Fn. 63) die Zumutung der Christus-Nachfolge („Tue desgleichen“). Habermas (Fn. 63) exemplifiziert das supererogatum der Sache nach am Brett des Karneades. 65 So etwa Ernst-Wolfgang Böckenförde, Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 67 (68); überzeugend auch Müller (Fn. 62), Rn. 71 f. 66 Heller (Fn. 50), S. 263. 67 Vgl. dazu auch Kurt Seelmann, Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 2001, § 5 Rn. 6. 68 Dazu auch schon Heller, Souveränität (Fn. 49), S. 71. 69 Hierauf weist in seiner Kritik der Unterscheidung von Rechtsgrundätzen und Rechtssätzen (beziehungsweise von principles und rules) Aulis Aarnio, Taking rules seriously, in: W. Maihofer / G. Sprenger (Hrsg.), Law and the States in Modern Times, Stutgart, 1990, S. 180 (186 ff.).
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gehenden Rechtfertigung, wenn an die rechtstheoretische Qualifikation einer Norm als Rechtsgrundsatz weitreichende Konsequenzen geknüpft werden – wie etwa die, ihr ohne weiteres ein Optimierungsgebot zu entnehmen 70 . Wenn schließlich das BVerfG die grundgesetzlich verbürgten Grundrechte nicht länger als integrale Bestandteile einer objektiven Wertordnung ausweist, sondern stattdessen unter anderem von wertentscheidenden Grundsatznormen spricht 71 , so zeigt sich, daß die kritische Auseinandersetzung mit einem bestimmten begrifflichen Konzept sogar zu einer Distanzierung von diesem führen kann. Denn die bundesverfassungsgerichtliche Abkehr vom Topos der Wertordnung der Grundrechte ist entgegen verbreiteter Auffassung 72 mehr als ein sprachpolitisches Täuschungsmanöver, das inhaltlich alles beim Alten beläßt. Die neue Wortwahl verdeutlicht vielmehr, daß der Regelungsgehalt der Grundrechte aus dem vom Verfassunggeber vor dem Horizont bestimmter Werte gesetzten Normtext zu entwickeln ist; zudem kann man sich durch sie veranlaßt sehen, Grundrechte statt als Leitwerte fallbezogener Güterabwägungen im Sinne genereller, universalisierbarer Rechtsprinzipien zu konkretisieren 73 . Resümierend bleibt somit festzuhalten, daß die Begriffe Wert, Rechtsgrundsatz, Grundrechte auf eine kontextabhängige Konkretisierung angewiesen sind, zugleich aber der interkontextuellen Reflexion bedürfen. Die nunmehr zu erörternde ESC läßt sich vor dem Hintergrund der Europaratspräambel durchaus plausibel, aber letztlich eben kontextabhängig dahingehend charakterisieren, daß in ihrem Rahmen das die Europäische Wertegemeinschaft rechtsgrundsätzlich ausprägende Konzept sozialer Grundrechte erstmals europaweit in Positivität erwachsen ist 74 . Dabei sensibilisiert der interkontextuelle Blick auf das insofern zu Grunde gelegte Begriffsverständnis dafür, daß das Augenmerk im Folgenden speziell auch auf den positivrechtlichen Geltungsmodus der in der Europäischen Sozialcharta verbürgten sozialen Grundrechte zu richten sein wird. ___________ 70 So aber Alexy (Fn. 57), S. 75 f., und seine Schule (etwa Martin Borowsky, Grundrechte als Prinzipien, 1997, S. 61 ff.). 71 Dazu etwa Horst Dreier (Fn. 44), Rn. 43. 72 Vgl. nur Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, 1989, S. 901 f. 73 Zu Recht betont Habermas (Fn. 47), S. 309 ff., daß die Krux der bundesverfassungsgerichtlichen Grundrechtsrechtsprechung nicht in dem Verständnis von Grundrechten als Grundsatznormen (in diesem Sinne Ernst-Wolfgang Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, in: Der Staat 29 [1990], S. 1 ff.), sondern in der Angleichung von Rechtsprinzipien an Werte liegt. 74 Vgl. dazu auch Frans van der Ven, Soziale Grundrechte,1963, S. 60, der die soziale Grundrechte gleichfalls als Positivierung sittlicher Grundsätze begreift.
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II. Die Europäische Sozialcharta 1. Geschichte der Europäischen Sozialcharta Die ESC ist nach über fünfjährigen Vertragsverhandlungen 1961 in Turin unterzeichnet worden und trat 1965 in Kraft 75 . Ursprünglich vielleicht wirklich als Pendant zur Europäischen Menschenrechtskonvention konzipiert, konnte sie doch nie an deren Erfolgsgeschichte anknüpfen 76 . Die gilt insbesondere für die ersten 25 Jahre ihres Bestehens, in denen sie als Aschenbrödel des Menschenrechtsschutzes 77 ein Schattendasein fristete 78 . Die zumindest in einer ersten Zeit enttäuschend geringe Wirkkraft der Sozialcharta hat zwar auch juristische, überwiegend jedoch politische Gründe. In juristischer Hinsicht wird man insofern insbesondere berücksichtigen müssen, daß das Kontrollsystem der ESC längst nicht so effektiv ist wie das der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) 79 . Es ist nämlich nicht gerichtsförmig ausgestaltet. Dies gilt nicht nur insofern, als die Durchsetzung der ESC-Verbürgungen im wesentlichen auf einem Berichtssystem 80 beruht. ___________ 75 Zu Entstehungsgeschichte der Charta eingehend Neubeck (Fn. 41), S. 51 ff.; auch Herbert Schambeck, Grundrechte und Sozialordnung, 1969, S. 51 ff. 76 So auch Jean-François Akandji-Kombé, La procédure de réclamation collective dans la Charte Sociale Européenne, in: Rev. trim. dr. h. 2001, S. 1035 ff.; Öhlinger (Fn. 22), S. 213 f. 77 Vgl. auch Florence Bellivier, Décret no 2000-111 du 4 février 2000 portant publication du Protocole additionnel à la Charte sociale européenne prévoyant un système de réclamations collectives, fait à Strasbourg le 9 novembre 1995, in : RTD civ. 2000, 420 (421), die auf die Charakterisierung der ESC als „belle au bois dormant“ oder als „tigre de papier“ hinweist. 78 Weniger kritisch Jochen Abr. Frowein, Übernationale Menschenrechtsgewährleistungen und nationale Staatsgewalt, in: J. Isensee / P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 1992, § 180 Rn. 32. 79 Dazu nur Jochen Dötsch, Europäische Sozialcharta wartet auf Ratifizierung, in AuA 2001, S. 27 (28) sowie Bellivier (Fn. 77), S, 421 f. 80 Danach müssen die ESC-Vertragsstaaten im Jahresrhythmus einen Bericht über die Anwendung von ihnen angenommener Bestimmungen des Teils II der ESC (beziehungsweise der RESC) erstellen. Außerdem haben sie Berichte auch zu den von ihnen nicht angenommenen Bestimmungen des Teils II der ESC vorzulegen. Diese Berichte werden von einem Sachverständigenausschuß, der mittlerweile als Europäisches Komitee der sozialen Rechte (EKSR) firmiert, daraufhin geprüft, ob das Recht und die Rechtspraxis des betreffenden Vertragsstaats den Vorgaben der Charta entsprechen. Dessen als Conclusions bezeichnetes Prüfergebnis wiederum wird von dem so genannten Regierungsausschuß (früher: Unterausschuß des Regierungssozialausschußes) beraten. Auf Grund des vom Regierungsausschuß zu erstellenden Berichts und mit Rücksicht auf den ihm vorliegenden Bericht des EKSR kann das Ministerkomitee des Europarats mit Zwei-Drittel-Mehrheit beschließen, notwendige Empfehlungen an einen Vertragsstaat zu richten. An sich müsste im Rahmen des skizzierten Berichtsverfahrens auch noch die Parlamentarische Versammlung konsultiert werden. Jedoch hat sich diese
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Auch in dem durch das ESC ZusProt 1995 etablierten Verfahren der Kollektivbeschwerde 81 ist die Durchsetzung der ESC nicht einem unabhängigen Gericht übertragen. Die demnach bereits im Rechtlichen angelegte Schwäche der Sozialcharta ist durch den mangelnden politischen Willen der europäischen Staaten noch potenziert worden. So hatte bis Ende der achtziger Jahre überhaupt erst ein Drittel der Europaratsmitglieder die ESC ratifiziert 82 . Und auch soweit europäische Staaten an die Sozialcharta gebunden waren, haben sie diese nur zurückhaltend innerstaatlich implementiert: Weder bei der Gesetzgebung noch im Rahmen der Rechtsprechung wurde dem sie an sich doch bindenden völkerrechtlichen Vertrag besondere Beachtung geschenkt. Überdies haben die Nationalstaaten ihre Stellung innerhalb des von der Charta errichteten Kontrollmechanismus konsequent genutzt, um die ohnehin nur schwache Sanktionierung von Vertragsverstößen zu blockieren 83 . ___________ im Vorgriff auf Art. 6 des noch nicht in Kraft getretenen ÄndProt 1991 (Fn. 39) aus dem ESC-Kontrollysystem zurückgezogen (vgl. das Schreiben des Präsidenten der Parlamentarischen Versammlung vom 3.9.1992, abgedr. in: Charte sociale européenne [Fn. 39], S. 229). Zum Berichtsverfahren etwa Neubeck (Fn. 41), S. 82 ff.; Fritz Fabricius, Der Einfluß der Europäischen Sozialcharta auf nationale rechtliche Bewertungen von Streik und Aussperrung, in: B. Gemper (Hrsg.), Festschrift für Bruno Gleitze, 1978, S. 463 (474 ff.). – In seinen letzten die Bundesrepublik betreffenden Conclusions hat das EKSR zwei Chartaverstöße registriert: Die tarifvertraglich vorgesehenen Zeiträume, in denen Abweichungen von der regelmäßigen Arbeitszeit ausgeglichen werden könnten, seien in Ansehung von Art. 2 (1) ESC zu lang (EKSR, Conclusions XVI-2, S. 310 f.); der zivilrechtliche Schutz bei sexuell diskriminierenden Kündigungen entspreche nicht den Anforderungen von Art. 4 (3) ESC (ebenda, S. 328 f., abweichende Meinung von Rolf Birk, ebenda, S. 347). 81 In diesem Verfahren können die internationalen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen, bestimmte internationale Nichtregierungsorganisationen sowie nationale Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände Beschwerde wegen unzureichender Anwendung der ESC erheben. Diese Beschwerde wird zunächst vom EKSR geprüft. Auf der Grundlage seines Berichts spricht das Ministerkomitee eventuell eine Empfehlung an die Adresse des betreffenden Vertragsstaats aus. Dazu Holly Cullen, The Collective Complaints Mechanism of the European Social Charter, in: E. L. Rev. Hum. Right Survey 25 (2000), S. 18 ff.; Klaus Lörcher, Eine neue Etappe zum Schutz der sozialen Grundrechte: das Beschwerdeprotokoll zur Europäischen Sozialcharta, in: AuR 1996, 48 ff. 82 Vgl. Öhlinger (Fn. 22), S. 214 f. 83 Jahrzehntelang hat der Regierungsausschuß im Rahmen des Berichtsverfahrens (dazu bereits oben 80) davon abgesehen, dem Ministerkomitee Empfehlungen gegen sich fehlsam verhaltende Vertragsstaaten vorzuschlagen (vgl. Öhlinger [Fn. 22], S. 211f.). Erst seit 1993 macht das Ministerkomitee von seiner Befugnis Gebrauch, die notwendigen Empfehlungen an Vertragsstaaten zu richten, wenn diese gegen die Vorgaben der ESC-Instrumente verstoßen. Dazu Wolfgang Däubler, Neue Grundsätze im Arbeitskampf?, in: ArbuR 1998, S. 144 f.
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Vor diesem Hintergrund kann es nicht verwundern, daß sich die ‚Relance‘ 84 , die unleugbare Wiederbelebung der Charta seit Beginn der neunziger Jahre, wohl nicht so sehr den rechtlichen Änderungen im Charta-Regime verdankt, sondern in erster Linie darauf zurückzuführen ist, daß die europäische Staatengemeinschaft den politischen Willen zur Durchsetzung der ESC wieder gefunden hat. Zwar ist sicherlich nicht zu vernachlässigen, daß mit dem ZusProt 1988 sowie der RESC der Korpus der durch das ESC-System garantierten Rechte erweitert worden ist, durch das ÄndProt 1991 und das ZusProt 1995 der Kontrollmechanismus der Charta verbessert werden soll. Dies allein freilich vermag die neue Dynamik, die das Regime der Sozialcharta ergriffen hat, nur in Ansätzen zu erklären. Schließlich sind diese neuen Instrumente bislang von nicht einmal einem Drittel der Mitglieder des Europarats ratifiziert worden. Sehr viel bedeutsamer ist daher, daß sich die europäische Staatengemeinschaft dazu durchgerungen hat, das Charta-Regime politisch stärker zu unterstützen, statt es wie bisher zu ignorieren und gar zu unterminieren. So kann der Umstand, daß sich die Ratifikationsbereitschaft in Hinblick auf Zusatzprotokolle und revidierte Sozialcharta in Grenzen halten, nicht darüber hinwegtäuschen, daß mittlerweile mehr als drei Viertel der Mitglieder des Europarats entweder die ursprüngliche oder aber die revidierte Fassung der Charta ratifiziert haben 85 . Dies ist umso bemerkenswerter, als nicht nur einige noch bis Ende der achtziger Jahre gegenüber der Sozialcharta skeptisch eingestellte Europaratsmitglieder ganz offensichtlich einen politischen Gesinnungswandel vollzogen haben 86 . Hinzu tritt, daß auch die zahlreichen nach dem Ende des Kalten Kriegs zum Europarat gestoßenen mittel- und osteuropäischen Staaten ganz überwiegend 87 die ESC beziehungsweise ihre revidierte Fassung ratifiziert haben 88 – und dies, obwohl die Annahme der Sozialcharta im Gegensatz zur Ratifikation der EMRK keine Beitrittsbedingung war. Durch diese politisch gewollte Beitrittsdynamik hat die Sozialcharta erheblich an Relevanz gewonnen. Ebenso wichtig dürfte sein, daß die europäischen Staaten sich politisch dazu entschieden haben, aktiv zur Effektuierung des Kontrollsystems der Charta beizutragen. So werden auf Grund eines Beschlusses des Ministerkomitees die im ZusProt 1991 vorgesehenen neuen Verfahrensvorschriften in praxi weitest___________ 84
Dazu etwa Akandji-Kombé (Fn. 76), S. 1036 ff. Stand: 09.2004. 86 Ratifikation der ESC durch Belgien 1990, Finnland 1991, Luxemburg 1991, Portugal 1991. 87 Nur gegenüber Bosnien-Herzegowina, Georgien, Mazedonien, Rußland, SerbienMontenegro und der Ukraine ist bislang weder die ESC noch die RESC in Kraft getreten. 88 Zuletzt hat am 28.03.2003 Kroatien die ESC ratifiziert. 85
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gehend schon angewandt, obwohl das ZusProt noch nicht in Kraft getreten ist 89 . Des weiteren und vor allem verzichten die Staaten mittlerweile darauf, kraft ihrer Stellung im Kontrollverfahren die Sanktionierung chartawidrigen Staatsverhaltens coûte que coûte zu verhindern 90 . Mit ihrer, wie beschrieben, vor allem politisch gewollten und gestützten Renaissance ist das Regime der ESC denn auch auf dem – zugegebenermaßen langen – Weg zu dem, was sie von Anfang sein sollte: ein soziales Analogon zur EMRK 91 . Daß das ESC-System, nachdem es rund 25 Jahre lang in einem tiefen Dornröschenschlaf 92 gelegen hat, nunmehr offensichtlich wach geküßt wurde, ist ein zusätzlicher Grund für die Auseinandersetzung mit ihm. 2. Dogmatik der in der ESC verbürgten sozialen Grundrechte ESC, RESC sowie ZusProt 1988 enthalten in ihrem gerafften Teil I jeweils eine nummerierte Auflistung sozialer Grundrechte, im ausführlicheren Teil II einen in Artikel gegliederten Katalog sozialer Grundrechte. Die Charakterisierung als soziale Grundrechte sieht sich dabei nicht nur durch den gängigen Sprachgebrauch gerechtfertigt 93 , sondern insbesondere auch durch den Wortlaut der betreffenden Vertragspassagen. Dort werden die diversen, als fundamental qualifizierbaren Vorgaben an die faktische Ausgestaltung der Arbeitsund Sozialordnung fast durchweg mit dem Signalwort ‚Recht auf‘ verbunden. Nun dürfen aus der in dieser Weise begründbaren Klassifizierung als soziale Grundrechte allerdings keine voreiligen Schlüsse gezogen werden 94 . Insbesondere läßt sich allein daraus keinesfalls ableiten, daß die ESC-Instrumente – sei es auf völkerrechtlicher Ebene, sei es im innerstaatlichen Bereich – unmittelbar subjektive Individualrechte begründen. Schon wegen der Tradition des Völker___________ 89
Siehe oben Fn. 39. Vgl. zuletzt Ministerkomitee, ResChS(2004)4: Erneuerung der noch nicht umgesetzten Empfehlungen an Irland wegen Art. 5 und 6 (2) sowie Art. 19 (8). 91 Vgl. Dötsch (Fn. 79), S. 27: soziales Pendant; Lörcher (Fn. 81), S. 48: soziales Gegenstück. 92 Siehe oben Fn. 77: ESC als „belle au bois dormant“. 93 In diesem Sinn auch Dietrich Murswiek, Grundrechte als Teilhaberechte, soziale Grundrechte, in: J. Isensee / P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 5, 1992, § 112 Rn. 53. Von sozialen Grundrechten sprechen in Hinblick auf die ESC/RESCVerbürgungen wie selbstverständlich etwa auch Dötsch (Fn. 79), S. 27; Rolf Birk, Arbeitsrechtliche Neuerungen in der revidierten Europäischen Sozialcharta von 1996, in: G. Köbler / M. Heinze / W. Hromadka (Hrsg.), Festschrift für Alfred Söllner, 2000, S. 136 (139), sowie Bellivier (Fn. 77), S. 422 f., vor allem aber – und zwar schon im Titel – der offiziöse Kommentar zur EKSR-Rechtsprechung von Lenia Samuel, Droits sociaux fondamentaux, 2. Aufl., 2002. 94 Zu berücksichtigen ist, daß sich strukturell denkbar unterschiedliche Normen unter den Begriff der sozialen Grundrechte subsumieren lassen – dazu nur Alexy (Fn. 57), S. 455 f. 90
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rechts als rein zwischenstaatlichem Recht 95 bedarf es einer entsprechend aufwendigeren Argumentation, wenn belegt werden soll, daß ein völkerrechtlicher Vertrag auf die eine oder andere Weise Rechtsansprüche Einzelner begründet. Die hier vorgeschlagene Terminologie darf und soll daher nicht darüber hinwegtäuschen, daß die sozialen Grundrechte des ESC-Systems zunächst und zuvörderst Staatenpflichten statuieren 96 . Denn schließlich sind diese Grundrechte Regelungsgegenstand völkerrechtlicher Konventionen, die ihrerseits ausschließlich von Staaten, nämlich von den Mitgliedstaaten des Europarats, ratifiziert beziehungsweise genehmigt werden können und daher jedenfalls primär Rechtsverpflichtungen eben dieser Staaten entbinden. Vor diesem Hintergrund nimmt die im Folgenden entwickelte Dogmatik der in der ESC verbürgten sozialen Grundrechte vorderhand als eine Dogmatik der aus den sozialen Grundrechten der ESC erwachsenden Staatenpflichten Gestalt an. Da dabei aus den erwähnten Gründen 97 insbesondere der positivrechtliche Geltungsmodus dieser Staatenpflichten interessiert, wird zunächst zu überlegen sein, inwieweit ihnen überhaupt eine rechtliche und nicht bloße politische Verbindlichkeit zukommt. Des weiteren gilt es zu erörtern, was genau die völkerrechtsverbindlichen Staatenpflichten von ihren Adressaten verlangen. Schließlich soll untersucht werden, in welchem Umfang die den völkerrechtsverbindlichen Staatenpflichten zu Grunde liegenden grundrechtlichten Gewährleistungsgehalte gerechtfertigtermaßen eingeschränkt werden dürfen. Erst hiernach kann die Problematik beleuchtet werden, ob und inwieweit aus den Grundrechtsverbürgungen völkerrechtsverbindliche Individualrechte erwachsen 98 . Eingeleitet wird die solchermaßen strukturierte Dogmatik der in der ESC verbürgten Grundrechte mit einer knappen Bemerkung zu den Inhalten der in den ESC-Instrumenten aufgeführten sozialen Grundrechte. a) Typologie der in der ESC verbürgten sozialen Grundrechte Ihrem Inhalt nach lassen sich die in ESC, RESC und ZusProt 1988 niedergelegten sozialen Grundrechte in zwei Blöcke aufspalten 99 . In Anlehnung an die ___________ 95
Dazu nur Wolfgang Graf Vitzthum, Begriff, Geschichte und Quellen des Völkerrechts, in: ders. (Fn. 1), I Rn. 16. 96 Nach wohl herrschender Meinung sollen die ESC-Instrumente sogar überhaupt nur Staatenpflichten entbinden, vgl. statt aller Murswiek (Fn. 93), Rn. 43. 97 Siehe oben I. 5. (am Ende). 98 Die damit verwandte Frage, inwieweit die innerstaatlich transformierten beziehungsweise adaptierten ESC-Instrumente innerstaatlich subjektiv-öffentliche Individualrechte gewähren, betrifft ihrerseits nicht direkt die Dogmatik der in der ESC verbürgten sozialen Grundrechte. Auf sie wird daher dort einzugehen sein, wo von der rechtlichen Relevanz der ESC im innerstaatlichen Bereich gehandelt wird; siehe oben III. 3. 99 Andere Typologie etwa: Digest de Jurisprudence du CEDS, 2004, S. 1 ff.; Luzius Wildhaber, Soziale Grundrechte, in: P. Saladin / ders., Gedenkschrift für Max Imboden,
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Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 100 können diejenigen Rechte, die das soziale Urgrundrecht auf Arbeit 101 ausprägen und umhegen, von denjenigen Rechten unterschieden werden, die das soziale Urgrundrecht auf soziale Sicherheit 102 vermitteln und konkretisieren. Zu den an das Recht auf Arbeit anschließenden sozialen Grundrechten gehören im ESC-System beispielsweise das Recht auf ein gerechtes Arbeitsentgelt 103 , aber auch die in der deutschen Übersetzung ungenau 104 als Vereinigungsfreiheit apostrophierte Koalitionsfreiheit 105 . Ferner rechnen dazu Gleichheitsrechte, wie dasjenige, wonach männliche und weibliche Arbeitnehmer auch gleich entlohnt werden sollen 106 . Dem Recht auf soziale Sicherheit lassen sich demgegenüber etwa das Recht auf Fürsorge 107 sowie das Recht behinderter Menschen auf Eigenständigkeit, soziale Eingliederung und Teilhabe am Leben der Gemeinschaft zuordnen 108 . In diese Kategorie fallen ferner auch spezielle Gleichheitsrechte, wie beispielsweise das Recht bestimmter Wanderarbeitnehmer darauf, in Hinblick auf durch die Beschäftigung bedingte Abgaben nicht schlechter gestellt zu werden als die Angehörigen des Vertragsstaats 109 . b) Die aus den Grundrechtsverbürgungen der ESC resultierenden völkerrechtsverbindlichen Staatenpflichten Um zu klären, inwieweit die Grundrechtsverbürgungen von ESC, RESC und ZusProt 1988 völkerrechtsverbindliche Staatenpflichten begründen, müssen zwei Fragenkomplexe unterschieden werden. Zum einen ist zu erörtern, inwie___________ 1972 S. 371 (374 f.); Pavel Šturma, Poverty and International Instruments on Economic and Social Rights, in: Hofmann u. a. (Fn. 14), S. 48 (55); Riepe (Fn. 32), S. 143 ff.; van der Ven (Fn. 74), S. 44 ff.; Erhard Denninger, in: ders. u.a., (Hrsg.), Alternativkommentar zum Grundgesetz, 3. Aufl., 2001 ff., Vor Art. 1 Rn. 26. 100 Textnachweis Fn. 5. Zu den in der AMRE verbürgten sozialen Grundrechten vgl. nur Etienne Grisel, Les droits sociaux, in: ZSchwR 92 (1973), S. 1 (46 f.), und van der Ven (Fn. 74), S. 26 ff. 101 Art. 23 AMRE. 102 Art. 22 AMRE. 103 Art. 4 ESC/RESC. 104 Die deutsche Übersetzung folgt der englischen Version: Right to organise. Den Inhalt besser trifft indes die französische Version: Droit syndical. Authentisch sind sowohl der englische als auch der französische Vertragstext (vgl. Art. 38 ESC, Art. O RESC). 105 Art. 5 ESC/RESC. 106 Art. 4 Nr. 3 ESC/RESC 107 Art. 13 ESC/RESC. 108 Art. 15 RESC, der insoweit über Art. 15 ESC (Recht der […] Behinderten auf berufliche Ausbildung sowie auf berufliche und soziale Eingliederung oder Wiedereingliederung) hinausgeht; vgl. dazu auch Harris / Darcy (Fn. 41), S. 266 f. 109 Art. 19 Nr. 5 ESC/RESC.
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weit den Bestimmungen der genannten ESC-Instrumente überhaupt ein juristischer Verpflichtungscharakter zukommt. Sätze wie etwa der, daß jedermann die Möglichkeit haben muß, seinen Lebensunterhalt durch eine frei übernommen Tätigkeit zu verdienen, mögen viele für einen frommen Wunsch, mitnichten aber für eine verbindliche Rechtsnorm halten. Zum anderen ist zu berücksichtigen, daß Teil III von ESC, RESC und ZusProt 1988 ein Optionssystem etabliert. Danach steht es den Vertragsstaaten bei Unterzeichnung eines der genannten ESC-Instrumente in gewissem Umfang frei, welche Vertragsbestimmungen sie für sich als bindend anerkennen wollen. aa) Politischer beziehungsweise juristischer Verpflichtungscharakter der ESC-Bestimmungen Mit dem Argument, es handle sich dabei durchweg um bloße Programmsätze, wird internationalrechtlichen Verbürgungen sozialer Grundrechte bisweilen pauschal ihre völkerrechtliche Verbindlichkeit abgesprochen 110 . Eine solche undifferenzierte Betrachtungsweise muß den an der Grundrechtsgeschichte seines Landes geschulten deutschen Juristen mit Mißtrauen erfüllen. Denn er wird sich an die Weimarer Diskussion um den Programmcharakter der Grundrechte erinnern und wie diese zu dem Ergebnis gelangen, daß die Zuordnung eines Grundrechts zu den unverbindlichen Programmsätzen beziehungsweise zu den rechtsverbindlichen Normen immer nur von Fall zu Fall, in Auslegung des jeweils maßgeblichen Wortlauts erfolgen kann 111 . Die Frage, ob die in den ESC-Instrumenten verankerten sozialen Grundrechte die Vertragsstaaten lediglich politisch oder aber völkerrechtsverbindlich in die Pflicht nehmen, läßt sich mithin nicht durch einen pauschalen Verweis auf ihren angeblichen Programmcharakter beantworten 112 , sondern nur im Zuge einer Vertragsinterpretation gemäß Art. 31 ff. Wiener Vertragskonvention klären 113 . ___________ 110
In diese Richtung – erstaunlicherweise – etwa auch Alfred Verdoss / Bruno Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl., 1984, § 1247 in Hinblick auf den IPWSK. Vgl. dagegen freilich den General Comment 3 des U.N.-Comittee on Economic, Social and Cultural Rights (CESCR), der im Einzelnen entwickelt, daß und inwieweit den aus dem IPWSK erwachsenden Staatenpflichten ein Verpflichtungscharakter eignet (U.N. Doc. E/C.12/1990/8). 111 Klassisch Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, 14. Aufl., 1933, S. 514 f. 112 In diese Richtung auch Cullen (Fn. 81), S. 28. 113 Die WVK gibt insofern im wesentlichen Völkergewohnheitsrecht wieder und kann daher grundsätzlich auch dort herangezogen werden, wo ein interpretationsbedürftiger Vertrag nicht unmittelbar vom WVK regiert wird – etwa weil eine der Vertragsparteien die WVK nicht ratifiziert hat (vgl. Alexis v. Komorowski, Europa- und völkerrechtliche Probleme eines bundesgesetzlichen Wiederaufarbeitungsverbots, in: NuR 2000, 432 [436] m.w.N.).
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Nun läßt der Vertragstext keinen Zweifel daran, daß jedenfalls die in Teil II von ESC, RESC und ZusProt 1988 verankerten sozialen Grundrechten völkerrechtsverbindliche Staatenpflichten entbinden. Schon der Eingangssatz zu Teil II stellt klar, daß sich die Vertragsparteien durch den folgenden Grundrechtskatalog für gebunden erachten. Des weiteren heißt es am Anfang aller Artikelbestimmungen des Katalogs, daß sich die Vertragsparteien verpflichten, eine wirksame Ausübung des betreffenden Rechts zu gewährleisten. Der bereits erwähnte Teil III schließlich betont bis in die wohlgemerkt offizielle Überschrift hinein den verpflichtenden Charakter der in Teil II aufgeführten sozialen Grundrechte. Ist nun aber in einem völkerrechtlichen Vertrag von Gebundenheit und Verpflichtungen die Rede, so wird man nicht umhin kommen, von der Völkerrechtsverbindlichkeit der insofern statuierten Staatenpflichten auszugehen. Hingegen dürften die in Teil I von ESC, RESC und ZusProt 1988 ennummerierten sozialen Grundrechte die Vertragsstaaten lediglich politisch, nicht aber völkerrechtlich verpflichten 114 . Dafür spricht bereits die grammatischsystematische Auslegung. Zwar ist in Teil III nicht nur in Hinblick auf Teil II, sondern auch in Ansehung der Politikzielbestimmungen des Teil I von Verpflichtungen die Rede. Dies könnte prima vista dafür streiten, daß sich auch schon aus den grundrechtlichen Verbürgungen von Teil I völkerrechtliche und eben nicht bloß politische Pflichten der Vertragsstaaten ableiten lassen. Bei genauerer Betrachtung überwiegen jedoch die Gegenindizien. Für den bloßen Programmcharakter der in Teil I aufgeführten Grundrechte spricht zunächst, daß ihnen eine Erklärung der Vertragsparteien vorangestellt ist, wonach diese gewillt sind, mit allen zweckdienlichen Mitteln zur Effektuierung dieser Recht beizutragen. Vergleicht man diese Absichtserklärung mit dem vertragssystematischen Einleitungssatz zu Teil II sowie mit den Eingangssätzen zu den in Teil II enthaltenen Artikelbestimmungen, so drängt sich der Schluß auf, daß Teil I eine lediglich politische, nicht aber eine völkerrechtliche Verbindlichkeit zukommt. ___________ 114
So zutreffend die herrschende Meinung, vgl. nur Rolf Birk, Arbeitsvölkerrecht, in: R. Richardi / O. Wlotzke, Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, 2. Aufl., 2000, § 17 Rn. 94; Theodor Schilling, Internationaler Menschenrechtsschutz, 2004, Rn. 14. – Daß die in Teil I niedergelegten Grundrechte eines juristischen Verpflichtungscharakters entbehren, bedeutet freilich nicht, sie hätten gar keine juristische Bedeutung. Denn sie lassen sich immerhin als Auslegungsgrundsätze für die in Teil II niedergelegten, völkerrechtlich verpflichtenden sozialen Grundrechte heranziehen. Insofern zutreffend Albert Bleckmann, Interprétation et application en droit interne de la charte sociale européenne, notamment du droit de grève, in: CDE 1967, S. 388 (389 f.); Hans Wiebringhaus: Die Sozialcharta des Europarats, in: Festschrift für Bernhard C. H. Aubin, 1979, S. 265 (275); letztlich wohl zustimmend auch Manfred Zuleeg, Die innerstaatliche Anwendbarkeit völkerrechtlicher Verträge am Beispiel des GATT und der europäischen Sozialcharta, in: ZaöRV 35 (1975), S. 341 (352).
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Des weiteren wäre es nicht verständlich, weshalb dieselben sozialen Grundrechte einmal summarisch in Teil I, ein andermal ausführlicher in Teil II niedergelegt wurden, wenn ihnen jeweils dieselbe Verpflichtungswirkung zukäme. Statuieren die in Teil II niedergelegten sozialen Grundrechte, wie eben dargetan, völkerrechtsverbindliche Staatenpflichten, so macht die Systematik von ESC, RESC und ZusProt 1988 nur dann Sinn, wenn man aus den in Teil I verankerten sozialen Grundrechten ausschließlich politische Staatenpflichten ableitet. Sowohl für die ESC als auch für die RESC wird die hier favorisierte Auslegung durch die Entstehungsgeschichte bestätigt. So liefern die Motive zur ESC überzeugende Anhaltspunkte dafür, daß die Vertragsstaaten überhaupt nur durch die in Teil II verbürgten sozialen Grundrechte völkerrechtlich verpflichtet werden können, wohingegen Teil I adhortative Programmsätze ohne juristischen Verpflichtungscharakter enthält 115 . Im Fall der RESC heißt es im Rapport Explicatif 116 sogar ausdrücklich, daß Teil eine „déclaration de nature politique“ 117 sei. bb) Das À-la-carte-Prinzip Für die auf Völkerrechtsverbindlichkeit angelegten Staatenpflichten aus Teil II von ESC, RESC und ZusProt 1988 sieht Teil III dieser völkerrechtlichen Verträge ein originelles 118 Optionssystem vor: Die Europaratsmitglieder brauchen nicht alle aus Teil II erwachsenden Staatenpflichten zu übernehmen, wenn sie ESC-Instrumenten beitreten. Vielmehr gewährt ihnen das ESC-System insofern eine gewisse Auswahlfreiheit 119 . Indes wird dieses À-la-carte-Prinzip dadurch eingeschränkt, daß sich die Vertragsstaaten zumindest auf eine in den Verträgen näher bestimmte Mindestanzahl von Grundrechtsverbürgungen verpflichten müssen. Unter den so anerkannten Grundrechtsverbürgungen muß fernerhin eine bestimmte Mindestanzahl von sozialen Rechten figurieren, die dem so genannten noyeau dur des Charta-Regimes zuzurechnen sind 120 . Das von manchen mit milder Ironie auch als Cafétéria-Prinzip titulierte Optionssystem der Sozialcharta mag auf den ersten Blick ernüchternd wirken. Dies gilt jedenfalls unter dem eingangs näher dargelegten Gesichtspunkt, wonach die europäische Wertegemeinschaft auf die Ausprägung gemeinsamer ___________ 115
Hierzu eingehend David Harris / John Darcy, The European Social Charter, 2. Aufl., 2001, S. 35 f. 116 Abgedr. in: Charte sociale (Fn. 39), S.159 ff. 117 Ebenda, Ziff. 11. 118 So etwa Šturma (Fn. 99), S. 55. 119 Dazu etwa Dötsch (Fn. 79), S. 27; Bellivier (Fn. 77), S. 421. 120 Dies gilt nicht für das ZusProt 1988.
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Rechtsgrundsätze hin angelegt ist, diese aber vielfach nur durch aktive Verständigung innerhalb der europäischen Staatengemeinschaft Gestalt anzunehmen vermögen. Das À-la-carte-Prinzip nämlich bedingt, daß die Einigung über gemeinsame Rechtsgrundsätze eine sehr unvollständige bleibt. Denn es führt in letzter Konsequenz dazu, daß nicht einmal ein noyeau dur der sozialen Rechtsgrundsätze europaeinheitlich Rechtsgeltung beanspruchen kann. Andererseits ist zu konzedieren, daß die durch das À-la-Carte-Prinzip geschaffene Möglichkeit eines partiellen opting out die Bereitschaft der europäischen Staaten deutlich erhöht haben dürfte, dem Charta-System beizutreten beziehungsweise es im Weiteren politisch zu unterstützen 121 . Zur Veranschaulichung nehme man nur einmal an, die Bundesrepublik hätte nicht die Möglichkeit gehabt, jene Charta-Verbürgung 122 abzubedingen, wonach alle Arbeitnehmer – außer bei schweren Verfehlungen 123 – das Recht auf eine angemessene Kündigungsfrist haben 124 . Dies wäre für die Bundesrepublik äußerst problematisch gewesen 125 . Schließlich anerkennt das deutsche Recht – damals wie heute – fristlose Kündigungen nicht nur bei schweren Verfehlungen, sondern auch aus anderen wichtigen Gründen 126 . Und es ist nicht ersichtlich, daß insofern jemals eine Rechtsänderung mehrheitlich gewünscht gewesen wäre. Kann vor diesem Hintergrund angenommen werden, daß die Bundesrepublik die Sozialcharta auch dann ratifiziert hätte, wenn sie die in Rede stehende Grundrechtsbestimmung nicht hätte ausschließen dürfen? Und wenn ja – wäre sie der dann bestehenden völkerrechtlichen Schutzverpflichtung, fristlose Kündigungen aus anderen als verhaltensbedingten Gründen zu verbieten, auch tatsächlich nachgekommen? Durchgreifender Zweifel wird man sich insofern kaum erwehren können. Entsprechende Erwägungen lassen sich im übrigen auch in Hinblick auf die RESC anstellen. So hat der Bundestag auf Antrag der Koalitionsfraktionen 127 die Empfehlung ausgesprochen, dem Beispiel anderer EU-Saaten zu folgen und die RESC endlich zu zeichnen 128 . Freilich ist es angesichts der gegenwärtigen politischen Großwetterlage illusorisch zu glauben, daß diese Empfehlung Aus___________ 121
Vgl. bereits Helmut Isele, Die Europäische Sozialcharta, 1967, S. 59 f. Art. 4 Nr. 4 ESC. 123 Vgl. Anhang zur ESC, Teil II, zu Art. 4 Nr. 4. 124 Zur eingeschränkten Bindung der Bundesrepublik an die ESC vgl. ihre Erklärung vom 22.1.1965 (abgedr. in: Charte sociale [Fn. 39], S.105). 125 Vgl. dazu auch die Materialien zum Zustimmungsgesetz (BT-Drs. IV/2117, S. 31); ferner Isele (Fn. 121), S. 61. 126 Überblick bei Michael Schulte Westenberg, Die außerordentliche Kündigung im Spiegel der neueren Rechtsprechung, in: NZA-RR 2000, S. 449 ff. 127 BT-Drs. 15/136, S. 2. 128 Nach Auskunft des Auswärtigen Amts ist die Unterzeichnung / Ratifizierung der RESC gegenwärtig (September 2004) noch nicht absehbar. 122
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sicht auf Erfolg hätte, wenn das À-la-carte-Prinzip nicht gelten würde. Schließlich sieht die RESC unter anderem ein Recht der Arbeitnehmer auf Kündigungsschutz vor, das unabhängig von der Größe des Betriebs für schlichtweg jedes Arbeitsverhältnis gelten soll 129 . Eines scheint insofern sicher: Das in dieser Angelegenheit federführende Bundeswirtschaftsministerium würde seine derzeitigen Überlegungen zur Ratifizierbarkeit der RESC augenblicklich einstellen, bestünde keine Möglichkeit, die der Politik des Ministeriums diametral entgegen stehende Vertragsbestimmung über den Kündingschutz abzubedingen 130 . Wie auch immer man das insofern als janusköpfig erscheinende À-la-cartePrinzip letztlich beurteilen möchte, man wird sich damit arrangieren müssen. Denn schließlich wurde auch bei der Verabschiedung der RESC bewußt darauf verzichtet, zumindest bestimmte soziale Rechtsgrundsätze vom Optionssystem auszunehmen. Hinzu kommt, daß es einen prozeduralen Weg gibt, um das Dilemma des Optionssystem zwar nicht zu lösen, aber doch immerhin abzumildern. Denn daß um der Akzeptanz der Charta Willen Abstriche gemacht werden bei der an sich gebotenen Verständigung über gemeinsame soziale Rechtsgrundsätze, fällt dann weniger schwer ins Gewicht, wenn sich die Vertragsstaaten repetierlich auch an denjenigen Charta-Bestimmungen insbesondere des noyeau dur messen lassen müssen, denen sie nicht zugestimmt haben. Just diese Möglichkeit sieht das Charta-Regime freilich vor. Danach kann das Ministerkomitee Staatenberichte zu den nicht angenommenen ChartaBestimmungen anfordern 131 . Wird dieses Verfahren sinn- und maßvoll, vor allem aber kontinuerlich eingesetzt, kann es dazu beitragen, daß sich trotz À-lacarte-Prinzips allmählich ein gemeineuropäischer Korpus sozialer Rechtsgrundsätze ausbildet und den hiergegen verstoßenden Vertragsstaaten selbst dann eine zumindest politische Rechtfertigungslast auferlegt wird, wenn sie den verletzten Rechtsgrundsatz völkerrechtlich (noch) nicht anerkannt haben. Daß die bisherigen Versuche, dieses besondere Verfahren im Charta-Regime zu implementieren, nur mäßig erfolgreich waren, sollte einem neuerlichen Anlauf, einer ‚Relance‘, nicht entgegenstehen.
___________ 129
Eingehend hierzu Birk (Fn. 93), S. 141 ff. Vgl. in diesem Zusammenhang Art. 1 des Gesetzes zu Reformen am Arbeitsmarkt (BGBl. 2003 I, 3002 ff.), durch den die Anwendungsschwelle für das Kündigungsschutzgesetz weiter angehoben worden ist (dazu auch BT-Drs. 15/1204, S. 8). 131 Art. 22 ESC. Vgl. auch Fn. 80. 130
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c) Typologie der aus den Grundrechtsverbürgungen des ESC resultierenden völkerrechtsverbindlichen Staatenpflichten Ist von sozialen Grundrechten die Rede, so werden sie dogmatisch zumeist dadurch typisiert, daß sie auf (sozial-)staatliche Leistungen abzielen 132 . Die völkerrechtsverbindlichen Staatenpflichten, die aus den in Teil II verankerten sozialen Grundrechten erwachsen, nehmen indes nicht ausschließlich nur als Leistungspflichten Gestalt an; sie können auch Unterlassungs-, beziehungsweise Schutzpflichten begründen 133 . Dabei erweisen sich die Unterlassungspflichten insofern als durchweg erfolgsbezogen, als die Pflichterfüllung ein ganz konkretes materielles Resultat hervorbringen soll, nämlich einen ganz bestimmten Realisierungsstatus des grundrechtlichen Schutzguts. Demgegenüber werden vor allem die Leistungspflichten nur zum Teil durch eine solche Erfolgsbezogenheit geprägt; zum anderen Teil stellen sich insbesondere die Leistungs-, ausnahmsweise aber auch die Schutzpflichten als bloß verhaltensbezogen dar, beziehen sich also nicht auf einen bestimmten Realisierungsstatus des grundrechtlichen Schutzguts, sondern lediglich auf den Realisierungsmodus 134 . Die einzelnen sozialen Grundrechte sind im übrigen typischerweise nicht auf einen bestimmten Pflichtentypus beschränkt, sondern entbinden zugleich Unterlassungs-, Leistungs- und Schutzpflichten. ___________ 132
Etwa Wolfgang Graf Vitzthum, Stellungnahme, in: Materialien zur Verfassungsdiskussion und zur Grundgesetzänderung in der Folge der deutschen Einigung, Bd. 3, 1996, 313 (315); Hans-Jürgen Wipfelder, Sozialstaat und soziale Grundrechte (Schluß), in: VBlBW 1986, S. 287 (288); Riepe (Fn. 32), S. 121 und 151; Guido Odendahl, Die sozialen Menschenrechte – ein historischer, systematischer und rechtsvergleichender Überblick, in: JA 1996, 898 f. 133 Zwischen Unterlassungs-, Leistungs- und Schutzpflichten unterscheiden in Hinblick auf soziale Grundrechte auch Emmanuelle Bribosia / Olivier De Schutter, La Charte des droits fondamentaux de l’Union Européenne, in: Journal des tribunaux, 2001, S. 281 (291); Scott Leckie, Another Stepp toweards indvisibility: Identifying the key feautures of violations of economci, social und cultural rights, in: HRQ 20 (1998), S. 81 (98); Bernsdorff (Fn. 24), S. 12, und vor allem die Maastricht Guidelines on Violations of Economic, Social und Cultural Rights, in: HRQ 20 (1998), S. 691 (693 f.). Nur zwischen Unterlassungs- und Leistungspflichten differenziert Grisel (Fn. 100), S. 52. 134 Die Differenzierung zwischen erfolgs- und verhaltensbezogenen Staatenpflichten findet sich auch in Art. 20 und 21 der von der International Law Commission (ILC) erarbeiteten Draft articles on State responsibility (vgl. etwa Yearkbook of the International Law Commission 1996, Bd. 2, S. 58 [60]). Zwar sind diese Artikel von der ILC letztlich nicht beibehalten worden. Jedoch ist dies im wesentlichen damit begründet worden, daß es sich um eine „unnecessary over-codification“ handle (Yearbook 1999, Bd. 2, S. 63). Nicht in Abrede gestellt wurde, daß die Differenzierung zwischen erfolgsund verhaltensbezogenen Staatenpflichten sowohl in der Völkerrechtsdogmatik als auch in der Völkerrechtspraxis auf Zustimmung stoße und sie jedenfalls im Rahmen der Interpretation „an explanatory, didactive sense“ habe (ebenda, S. 59). Aus deutscher Sicht bemerkenswert ist, daß diese Differenzierung schon bei Heinrich Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, 1899 angelegt ist, und zwar in seiner Unterscheidung zwischen völkerrechtlich unmittelbar und mittelbar gebotenem Landesrecht (S. 299).
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aa) Unterlassungspflichten Ob auf Grund der in Teil II von ESC, RESC und ZusProt 1988 verbürgten sozialen Grundrechte Unterlassungspflichten eingreifen, hängt von drei Voraussetzungen ab. Erstens und vor allem muß das betreffende Grundrecht seinem Gewährleistungsgehalt 135 nach einen hinreichend bestimmten Lebenssachverhalt gegen staatliche Interventionen abschirmen. Dabei ist ein Lebenssachverhalt dann als hinreichend bestimmt zu qualifizieren, wenn er nicht erst noch normativ konstruiert werden muß, sondern als solcher bereits konkretisiert ist. Einen bestimmten Lebenssachverhalt schirmen soziale Grundrechte folglich insbesondere dann gegen staatliche Interventionen ab, wenn sie objektiv vollzugsfähig sind. In diesem Fall bedarf es nämlich nicht erst der Ausgestaltungsgesetzgebung, damit der gegen staatliche Interventionen abgesicherte Lebenssachverhalt greifbar wird. Das Kriterium der objektiven Vollzugsfähigkeit spielt demnach nicht nur für die noch zu erörternde Frage eine Rolle, inwieweit die Normen völkerrechtlicher Verträge innerstaatlich anwendbar sind 136 . Es läßt sich auch schon für die nähere Bestimmung der völkerrechtsvertraglichen Staatenpflichten fruchtbar machen. Aber auch soziale Grundrechte, die an sich nicht objektiv vollzugsfähig sind, sondern der normativen Konkretisierung bedürfen, können unter Umständen einen hinreichend bestimmten Lebenssachverhalt gegen staatliche Interventionen abschirmen 137 . Notwendige Voraussetzung hierfür ist, daß das soziale Grundrecht in der vertragsstaatlichen Rechtswirklichkeit bereits eine normative Ausgestaltung erfahren hat und insofern auf einen hinreichend bestimmten Lebenssachverhalt bezogen ist. Dieser normativ konkretisierte Lebenssachverhalt nämlich wird grundrechtlich solange gewährleistet, als er aus der vertrags___________ 135 Mit Gewährleistungsgehalt ist daßelbe gemeint, was üblicherweise mit Schutzbereich umschrieben wird: Er bezieht sich auf das durch eine Grundrechtsnorm prima facie, also ohne Berücksichtigung von Schranken, Geschützte (einprägsam Alexy [Fn.57], S. 273]). Allerdings ist der Begriff des Gewährleistungsgehalts dem des Schutzbereichs vorzuziehen. Denn dieser erweist sich jedenfalls dort von seiner Raummetaphorik her als inadäquat, wo – wie speziell bei den hier interessierenden sozialen Grundrechte – auch andere als freiheitsrechtliche Verbürgungen im Raume stehen (vgl. Michael Sachs, Der Gewährleistungsgehalt der Grundrechte, in: K. Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1994, Bd. III/2, S. 3 [S. 33 f.]). Aber selbst in Hinblick auf Freiheitsrechte vermag der Terminus des Schutzbereichs nicht zu überzeugen, weil er diese ideolologisch als „Sphären der Freiheit“ (so Schmitt [26], S. 163) konturiert und damit verdrängt, daß es sich um punktuelle Gewährleistungen mit unterschiedlicher Schutzrichtung und unterschiedlichem Schutzumfang handelt (insofern überzeugend Ernst-Wolfgang Böckenförde, Schutzbereich, Eingriff, verfassungsimmanente Schranken, in: Der Staat 42, S. 165 [174]). 136 Dazu oben II. 3. b). 137 Vgl. Leckie (Fn. 133), S. 98.
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staatlichen Rechtswirklichkeit nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß der Gewährleistungsgehalt des zu Grunde liegenden Grundrechts in seiner Dimension als Leistungs- beziehungsweise Schutzpflicht beeinträchtigt würde 138 . Infolgedessen vermag denn auch nicht etwa nur ein klassisches Freiheitsrecht wie die Koalitionsfreiheit, sondern potenziell jedes soziale Grundrecht Unterlassungspflichten der Vertragsstaaten zu begründen 139 . Eine solche Unterlassungspflicht setzt zweitens voraus, daß die sozialen Grundrechte in ihrem eben beschriebenen Gewährleistungsgehalt beeinträchtigt werden. Dies ist dann der Fall, wenn der von dem sozialen Grundrecht erfaßte hinreichend bestimmte Lebenssachverhalt durch positives Tun des Vertragsstaats verkürzt wird. Die Beschränkung des Beeinträchtigungsmodus auf positives Handeln des Vertragsstaats folgt dabei unmittelbar aus dem grundrechtlichen Gewährleistungsgehalt, wonach bestimmte Sachverhalte gegen staatliche Interventionen und nicht gegen dessen Nichtstun abgeschirmt werden. Dies heißt natürlich nicht, daß durch staatliche Unterlassungen soziale Grundrechte niemals verletzt werden könnten. Denn selbstverständlich wird der Gewährleistungsgehalt sozialer Grundrechte mitunter auch dadurch beeinträchtigt, daß die Vertragsstaaten es unterlassen, die grundrechtlichen Schutzgüter durch (sozial) staatliche Leistungen zu effektuieren oder aber gegen Übergriffe privater Dritter zu sekurieren. Insoweit sind aber nicht die Gewährleistungsgehalte angesprochen, die sozialen Grundrechten insoweit eignen, als sie Unterlassungspflichten entbinden. Vielmehr geht es insofern um die Gewährleistungsgehalte, an die soziale Grundrechte in ihrer Dimension als Leistungs- beziehungsweise Schutzpflichten anknüpfen 140 . Drittens muß, damit Unterlassungspflichten greifen, der grundrechtlich verbürgte konkrete Lebenssachverhalt dergestalt durch positives Tun beeinträchtigt sein, daß sich dies – unter Berücksichtigung der noch zu erörternden Schrankenregelungen der ESC-Instrumente 141 – als nicht gerechtfertigt erweist. Die in dieser Weise dogmatisch faßbaren Unterlassungspflichten sind durchweg erfolgsbezogen 142 . Schließlich ist ein bestimmtes Resultat geschuldet, nämlich eine bestimmte Abgeschirmtheit grundrechtsthematischer Lebens___________ 138 Für diese Sichtweise läßt sich interpretativ Art. 31 (1) Alt. 1 ESC ins Feld führen, aus dem sich ergibt, daß die bereits in Normalität erwachsenen sozialen Grundrechten einen besonderen Schutz durch die ESC erfahren sollen. 139 Vgl. Eberhard Eidenhofer, Reform der sozialen Sicherheit und das Recht, in: JZ 2000, S. 1029 (1031), der darauf hinweist, daß mitunter auch nach der ESC derjenige die Begründungslast zur Rechtfertigung von Sozialleistungsbeschränkungen trägt, der diese einführt. 140 Dazu sogleich unter II. 2. c) bb) und cc). 141 Siehe oben II. 2. d). 142 Anders offenbar die Maastricht Guidelines (Fn. 133), S. 695.
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sachverhalte gegen staatliche Ingerenzen. Die Unterlassungspflichten zielen mit anderen Worten auf einen konkreten Realisierungsstatus grundrechtlicher Schutzgüter ab. bb) Leistungspflichten Völkerrechtsverbindliche Leistungspflichten lösen die in Teil II von ESC, RESC und ZusProt 1988 verbürgten sozialen Grundrechte unter ebenfalls drei Voraussetzungen aus. Erstens muß das betreffende Grundrecht seinem Gewährleistungsgehalt 143 nach gebieten, daß zur Realisierung des ihm zu Grunde liegenden Schutzguts geeignete staatliche Maßnahmen ergriffen werden 144 . Dabei erfährt der ansonsten denkbar weite Terminus der Maßnahme insofern eine gewisse Einschränkung, als es sich hierbei nicht um Maßnahmen zum Schutz gegen Grundrechtsbeeinträchtigungen privater Dritter handeln darf. Denn die auf derartige Leistungen gerichteten Pflichten unterfallen nach der hier vorgeschlagenen Systematik der noch zu erörternden Kategorie der Schutzpflichten 145 . Zweitens setzt eine völkerrechtsverbindliche Leistungspflicht voraus, daß der für sie maßgebliche Gewährleistungsgehalt durch eine vertragsstaatliche Unterlassung beeinträchtigt wird. Denn ein Vertragsstaat kann durch ein soziales Grundrecht überhaupt nur dann auf Leistung verpflichtet werden, wenn er es unterläßt, die von dessen Gewährleistungsgehalt geforderten staatlichen Maßnahmen zu treffen. Wie aus anderer Perspektive eben bereits dargelegt, heißt dies selbstverständlich nicht, daß das einer Leistungspflicht zu Grunde liegende soziale Grundrecht nicht auch durch positives Tun in seinem Gewährleistungsgehalt beeinträchtigt werden könnte. Hat der Vertragsstaat nämlich von ihm grundrechtlich erwartete Maßnahmen bereits vorgenommen, so beeinträchtigt er den Gewährleistungsgehalt des betreffenden sozialen Grundrechts, wenn er diese Maßnahmen zurücknimmt, ohne für adäquaten Ersatz zu sorgen. Ein solches Verhalten ist nach seinem sozialen Sinn eindeutig als positives Tun und nicht als Unterlassen zu werten. Indes begründen derartige Grundrechtsbeeinträchti___________ 143
Der Gewährleistungsgehalt sozialer Grundrechte begreift sich in der Leistungsebenso wie in der Unterlassungsdimension als prima-facie-Schutzverbürgung. Es besteht entgegen der herrschenden Meinung (vgl. dazu nur Gertrude Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988, S. 17) keine Notwendigkeit von der für die Freiheitsrechte entwickelten dreistufigen Dogmatik (Gewährleistungsgehalt, Gewährleistungsverkürzung, Rechtfertigung) abzuweichen. 144 Daß ein solcher Gewährleistungsgehalt mit juristischen Mitteln bestimmbar ist, betont zu Recht Borowsky (Fn. 70), S. 300 f. Vgl. auch Thilo Ramm, Die sozialen Grundrechte im Verfassungsgefüge, in: E.-W. Böckenförde / J. Jekewitz / ders., Soziale Grundrechte, 1981, S. 17 (23). 145 Dazu gleich unter II. 2. c) cc).
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gungen auf der Rechtsfolgenseite unmittelbar Unterlassungspflichten und nicht bloß mittelbar isolierte Wiederherstellungs-, also Leistungspflichten. Die gegenteilige Auffassung widerspräche der Zielsetzung der in den einzelnen Artikeln von Teil II seitens der Vertragsstaaten übernommenen Verpflichtung, die effektive Ausübung der sozialen Grundrechte zu gewährleisten. Es bleibt somit dabei, daß Leistungspflichten mit dem Beeinträchtigungsmodus der Unterlassung verknüpft sind. Um Leitungspflichten der Vertragsstaaten auszulösen, muß der einschlägige grundrechtliche Gewährleistungsgehalt drittens derart durch die vertragsstaatliche Unterlassung beeinträchtigt sein, daß dies in Hinblick auf die Schrankenregelungen des betreffenden ESC-Instruments 146 nicht zu rechtfertigen ist. Vertragsstaatliche Leistungspflichten begründen unter den drei genannten Voraussetzungen namentlich die beiden sozialen Urgrundrechte. Die aus den sozialen Grundrechten erwachsenden Leistungspflichten sind dabei nicht selten schwerpunktmäßig verhaltensbezogen 147 . Dies ist ein markanter Unterschied zu den aus den sozialen Grundrechten erwachsenden Unterlassungs- beziehungsweise Schutzpflichten, die nie beziehungsweise nur ausnahmsweise verhaltensbezogen sind. So ist der Gewährleistungsgehalt des Rechts auf Arbeit im engeren Sinn 148 in seiner Leistungsdimension zunächst und zuvörderst darauf gerichtet, daß Maßnahmen ergriffen werden, die in Hinblick auf Höhe, Entwicklung und Struktur der Arbeitslosigkeit sowie unter Berücksichtigung der budgetären Verhältnisse als Ausdruck einer schlüssig auf die Herstellung von Vollbeschäftigung abzielenden Arbeitsmarktpolitik gewertet werden können 149 . Die aus dem Recht auf Arbeit eventuell ableitbaren Leistungspflichten der Vertragsstaaten beziehen sich demnach primär auf die Art und Weise, wie
___________ 146
Siehe oben II. 2. d). Tendenziell in diese Richtung auch Jean-Paul Costa, Vers une protection juridictionnelle des Droits économiques et sociaux En Europe?, in: Mélanges Pierre Lambert, 2000, S. 141 (152), demzufolge bestimmte völkerrechtsvertraglich vereinbarte soziale Grundrechte den Vertragsstaaten keine „obligations de résultats“ auferlegen, sondern stattdessen „obligations de moyens“ auslösen. 147
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Art. 1 Nr. 1 ESC/RESC. So schon Conclusions II (1971), S. 3. Allerdings hatte der Sachverständigenausschuß während rund zwei Dekaden davon Abstand genommen, darüber zu befinden, ob die Vertragstaaten ihrer Pflicht aus Art. 1 (1) ESC nachkommen (vgl. Harris / Darcy [Fn. 41], S. 41). Diese Zurückhaltung hat das EKSR erst nach der Jahrtausendwende wieder abgelegt. Das EKSR sieht sich seitdem wieder in der Lage, anhand einer Reihe juristischer, ökonomischer und sozialer Indikatoren zu bewerten, ob die Vertragstaaten ihrer Pflicht aus Art. 1 Nr. 1 ESC/RESC respektieren (vgl. Conclusions XVI-1 [2001], S. 9; Conclusions 2002, S. 11; auch Digest [Fn. 99], S. 6 f.). 149
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Arbeit für alle geschaffen werden soll, und nicht darauf, in welchem konkreten Umfang dies geschehen soll 150 . Daß sich soziale Grundrechte in ihrer Dimension als Leistungspflicht somit nicht selten als rein verhaltensbezogen erweisen, darf freilich zweierlei nicht in Vergessenheit geraten lassen. Erstens ist richtigerweise davon auszugehen, daß auch soziale Grundrechte, die primär verhaltensbezogene Leistungspflichten zu statuieren vermögen, daneben vielfach auch erfolgsbezogene Leitungspflichten begründen können – und zwar gerichtet auch eine minimale, basale Realisierung des von dem Grundrecht in Bezug genommenen Schutzguts 151 . Davon ist jedenfalls in Hinblick auf diejenigen sozialen Grundrechte auszugehen, die existenzielle Schutzgüter bewehren. Dementsprechend gehört es beispielsweise zum Gewährleistungsgehalt des in Art. 31 ESC verbürgten Rechts auf Wohnung, daß die hiervon adressierten Vertragsstaaten unfreiwillig Obdachlosen ein gegebenenfalls auch bloß primitives Dach über dem Kopf anbieten müssen. Die Grenzen der Auslegung werden durch eine solche Interpretation nicht gesprengt. Denn es wird nicht geleugnet, daß das in der RESC verbürgte Recht auf Wohnung Obdachlosigkeit als ein komplexes Problem begreift und den Staat daher auch nicht erfolgsbezogen auf deren sofortige und vollständige Beseitigung, sondern im wesentlichen bloß verhaltensbezogen zu koordinierten Maßnahmen verpflichtet, die den allmählichen Abbau der Obdachlosigkeit bezwecken 152 . Der Ermessensspielraum, der den Vertragsstaaten insofern eingeräumt ist, darf freilich nicht dazu führen, daß das soziale Grundrecht leer läuft. Es gibt Maßnahmen, die der Staat grundsätzlich ergreifen muß und also nur mit besonderer Rechtfertigung unterlassen darf, will er ernsthaft behaupten, er komme seiner Verpflichtung nach, der Obdachlosigkeit vorzubeugen und sie mit dem Ziel der schrittweisen Beseitigung abzubauen. Das Angebot von Obdachlosenunterkünften wird man zu diesen minimum core obligation 153 zählen und den Gewährleistungsgehalt von Art. 31 RESC folglich darauf erstrecken müssen. Zweitens, aber nicht zuletzt bleibt zur berücksichtigen, daß sich immer noch etliche soziale Grundrechte finden, die zumindest schwerpunktmäßig keine verhaltens-, sondern erfolgsbezogene Leistungspflichten entbinden. Eine erfolgsbezogene Leistungspflicht trifft die Vertragsstaaten beispielsweise etwa ___________ 150
Vgl. Conclusions III (1973), S. 5; auch Samuel (Fn. 93), S. 14; ferner Jochen Dötsch, Neue Impulse durch EU-Charta, in: AuA 2001, S. 362 (363); Wiebringhaus (Fn. 114), S. 277. 151 Dazu Leckie (Fn. 133), S. 100 ff. 152 Vgl. Art. 31 (2) RESC; dazu Digest (Fn. 99), S. 106; Harris / Darcy (Fn. 41), S. 283; vgl. ferner Ekkehart Stein / Götz Frank, Staatsrecht, 18. Aufl., 2002, S. 427 f. 153 Dazu auch General Comment 3 (Fn. 110), Ziff. 10; ferner Constitutional Court of South Africa, Urt. v. 5.7.2002, CCT 8/02 – Minister of Health and others v. Action Campaign and others –, Rn. 26 ff.
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dann, wenn sie es vertragsrechtlich ungerechtfertigt unterlassen, Bedürftigen die benötigte soziale sowie medizinische Unterstützung zu leisten 154 . Der Gewährleistungsgehalt der betreffenden Verbürgungen wird nämlich dahingehend ausgelegt, daß nicht nur die erforderliche materielle Unterstützung zu leisten, sondern auch dessen gerichtliche oder zumindest gerichtsähnliche Durchsetzbarkeit sicherzustellen ist 155 . cc) Schutzpflichten Völkerrechtsverbindliche Schutzpflichten begründen die in Teil II von ESC, RESC und ZusProt 1988 verbürgten sozialen Grundrechte unter wiederum drei Voraussetzungen: Erstens muß das fragliche Grundrecht seinem Gewährleistungsgehalt nach verlangen, daß geeignete staatliche Maßnahmen ergriffen werden, um Übergriffen privater Dritter auf das grundrechtliche Schutzgut vorzubeugen beziehungsweise sie zu beseitigen. Zweitens bedarf es, damit auf der Rechtsfolgenseite eine Schutzpflicht ausgelöst wird, einer vertragsstaatlichen Unterlassung. Denn nur wenn der Vertragsstaat es unterläßt, in Hinblick auf Schutzgutbeeinträchtigungen privater Dritter die geeigneten Schutzmaßnahmen zu treffen, ist Raum für eine Schutzpflicht. Zwar kann eine Schutzpflichten entbindende grundrechtliche Gewährleistung durchaus auch durch positives Tun verletzt werden. Dies kommt dann in Betracht, wenn der Staat das von ihm zum Schutz gegen private Grundrechtsübergriffe geschaffene Arrangement zum Nachteil der Grundrechtsbegünstigten verändert. Allerdings lösen solche, typischerweise vom vertragsstaatlichen Privatrechtsgesetzgeber vorgenommenen Handlungen unmittelbar Unterlassungs- und nicht bloß mittelbar isolierte Schutzpflichten aus. Für Schutzpflichten gilt mithin dasselbe wie für Leistungspflichten, nämlich daß sie mit dem Beeinträchtigungsmodus der Unterlassung kongruieren. Drittens setzt eine völkerrechtsverbindliche Schutzpflicht voraus, daß der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt durch die vertragsstaatliche Unterlassung derartig beeinträchtigt ist, daß sich dies in Ansehung der vertraglich vorgesehen Schrankenregelungen nicht rechtfertigen läßt. Vor diesem Hintergrund kommt eine vertragsstaatliche Schutzpflicht etwa dann in Betracht, wenn private Arbeitgeber in das durch Art. 4 (1) ESC/RESC verbürgte Recht der Arbeitnehmer auf ein auskömmliches Arbeitsentgelt übergreifen (dürfen). Es handelt sich dabei um eine erfolgsbezogene Schutzpflicht. ___________ 154 Vgl. zum Beispiel Conclusions XIII-2 (1995), S. 133; Conclusions 2004, S. 253. Daßelbe gilt etwa auch für den Fall, daß der Staat ohne aus Sicht der ESC-Instrumente hinreichenden Rechtfertigungsgrund davon absieht, seinen Bediensteten auskömmliche Arbeitsentgelte zu bezahlen. 155 Vgl. zum Beispiel Conclusions XII-2 (1993), S. 198; X-2 (1988), S. 122.
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Denn es geht darum, einen ganz bestimmten Realisierungsstatus des grundrechtlichen Schutzguts, nämlich eine auskömmliche Entlohnung abzusichern 156 . Daß die aus sozialen Grundrechten erwachsenden Schutzpflichten einen Erfolgsbezug aufweisen, entspricht im übrigen auch durchaus der Regel. Dies hängt damit zusammen, daß in den Konstellationen der Schutzpflicht – anders als in denen der Leistungspflicht – die Schutzgutrealisierung nicht allein vom staatlichen Verhalten, sondern auch und sogar maßgeblich von dem privater Dritter abhängt. Insofern liegt es in der Tat denkbar fern, daß soziale Grundrechte die Vertragsstaaten lediglich verhaltensbezogen dazu verpflichten, die Grundrechtsbegünstigten vor Übergriffen privater Dritter zu schützen. Allein verhaltensbezogene Schutzpflichten sind deshalb aber nicht ausgeschlossen. Dies läßt sich ebenfalls in Hinblick auf das Recht auf ein gerechtes Entgelt darstellen. So ist zu berücksichtigen, daß dieses soziale Grundrecht nicht notwendig durch einen gesetzlichen Mindestlohn abgesichert werden muß, wenn entsprechende tarifvertragliche Absicherungen existieren 157 . Indes dürfte dem Staat, wenn er denn unter Hinweis auf bestehende Tarifverträge auf die gesetzliche Fixierung eines Mindestlohns verzichtet, die (Schutz-)Pflicht obliegen, die Implementierung und Fortschreibung der tarifvertraglichen Regelungen dauerhaft im Auge zu behalten. Kommt er dieser Beobachtungspflicht nicht nach, so ist von einem Bruch der ESC/RESC auszugehen 158 . Insofern ergeben sich aus einem sozialen Grundrecht ausnahmsweise auch bloß verhaltensbezogene, also lediglich den Realisierungsmodus seines Schutzguts betreffende Schutzpflichten. dd) Multidimensionalität der aus einer Grundrechtsverbürgung der ESC erwachsenden völkerrechtsverbindlichen Staatenpflichten Hinsichtlich der drei für das ESC-Regime diagnostizierten Typen von Staatenpflichten bleibt damit nunmehr anzusprechen, was bereits angeklungen ist und den an den Grundrechten des Grundgesetzes dogmatisch Geschulten ohnedies kaum überraschen kann. Gemeint ist, daß aus ein und demselben sozialen Grundrecht zugleich mehrere kategorial verschiedene Typen von Staatenpflich___________ 156
Die Schwelle, ab der ein Arbeitsentgelt ausreicht, um den lohnabhängig Beschäftigten und ihren Familien einen gemäß Art. 4 (1) ESC/RESC angemessenen Lebensstandard zu sichern, bezifferte das EKSR früher mit 68% des nationalen Durchschnittslohns (vgl. nur Conclusions XII-1 [1992], S. 95 f.; X-2 [1988], S. 61 f.). Auf Grund der sozio-struktuellen Veränderungen wird diese Schwelle nunmehr bei 60% des Nettodurchschnittslohns gesehen (dazu mit eingehender Begründung Conclusions XIV-2 [1998], S. 53 ff.). Vgl. auch Samuel (Fn. 93), S. 79 ff.; Harris / Darcy (Fn. 41), S. 74 ff. 157 Vgl. Art. 4 ESC/RESC a. E. 158 Dies gilt umso mehr, als in Hinblick auf Art. 4 Nr. 1 ESC/RESC die relativierende Bestimmung aus Art. 33 Nr. 1 ESC beziehungsweise Artikel I Nr. 2 RESC keine Anwendung findet.
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ten abgeleitet werden können 159 . So enthält beispielsweise die Koalitionsfreiheit anerkanntermaßen sowohl eine Unterlassungs- als auch eine Schutzpflicht. Einem Vertragsstaat ist es nicht nur grundsätzlich verboten, Arbeitnehmer am Beitritt zu einer Gewerkschaft zu hindern 160 . Sie muß die Arbeitnehmer und ihre Organisationen zugleich prinzipiell davor schützen, daß der Arbeitgeber ihre koalitionsmäßige Betätigung beeinträchtigt 161 . Das Recht auf ein gerechtes Entgelt kann je nach Konstellation sowohl eine Unterlassungs- als auch eine Leistungs- beziehungsweise Schutzpflicht entbinden. d) Schrankenregelungen und Vorbehalt des Möglichen Wie dargelegt, begründen die sozialen Grundrechte aus Teil II von ESC, RESC und ZusProt 1988 vertragsstaatliche Unterlassungs-, Leistungs- beziehungsweise Schutzpflichten lediglich dann, wenn der entsprechende Gewährleistungsgehalt eines sozialen Grundrechts von Seiten des Vertragsstaats beeinträchtigt wurde, ohne daß sich dies in Hinblick auf die Schrankenregelungen des betreffenden ESC-Instruments rechtfertigen ließe. Nachdem dies bislang offen gelassen wurde, soll im Folgenden erörtert werden, welche Schrankenregelungen die ESC-Instrumente ausdrücklich vorsehen und inwieweit darüber hinaus auch noch der Vorbehalt des Möglichen als ungeschriebene Schranke Platz greift. aa) Die drei von der ESC anerkannten Schrankenregelungen Wie sich aus dem jeweiligen Teil V von ESC, RESC und ZusProt 1988 erschließt, anerkennt das Charta-System expressis verbis nur drei Schrankenregelungen: Werden die Gewährleistungsgehalte der jeweils in Teil II verankerten sozialen Grundrechte vertragsstaatlich beeinträchtigt, so kann dies erstens in Ansehung der Notstandsklausel gerechtfertigt sein 162 . Freilich dürfte dieser Schrankenregelung, die keinen beliebigen, sondern einen das Leben der Nation bedrohenden öffentlichen Notstand voraussetzt, im Rahmen der arbeits- und sozialrechtlichen Praxis nur geringe Bedeutung zukommen. Zweitens unterliegen die in Teil II verbürgten sozialen Grundrechte den Schranken, die in den betreffenden Grundrechtsbestimmungen selbst niedergelegt sind. Sprachlich sind diese Schranken unterschiedlich gefaßt. Teilweise ___________ 159 So Daniel Capitant, Wirtschaftliche und soziale Grundrechte, in: C. Grewe / Chr. Gusy (Hrsg.), Französisches Staatsdenken, S. 211 (226), auch für die sozialen Grundrechte des französischen Verfassungsrechts. 160 Dazu etwa Conclusions XI-2 (1991), S. 77. 161 Vgl. zum Beispiel Conclusions XIII-3 (1996). S. 109 f. 162 Art. 30 ESC, Art. 8 Nr. 2 ZusProt 1988 in Verbindung mit Art. 30 ESC, Art. F RESC. Zu den Notstandsklauseln in Menschenrechtsverträgen Schilling (Fn. 114), Rdnr. 67 ff.
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wird den Vertragsstaaten bereichsweise ein Verhalten eröffnet, das der Grundrechtsgewährleistung ansonsten zuwider läuft. So ist etwa das Mindestalter für die Zulassung zu einer Beschäftigung von Seiten der Vertragsstaaten auf 15 Jahre festzusetzen, „vorbehaltlich von Ausnahmen für Kinder, die mit bestimmten leichten Arbeiten beschäftigt werden, welche weder ihre Gesundheit noch ihre Moral noch ihre Erziehung gefährden“ 163 . Teilweise räumen die unmittelbar in den Grundrechtsbestimmungen niedergelegten Schrankenregelungen den Vertragsstaaten aber auch die Möglichkeit ein, die partielle Nichtgeltung der betreffenden Grundrechtsgewährleistung anzuordnen. So heißt es in dem terminologisch inkorrekt 164 mit Vereinigungsrecht überschriebenen Artikel über die Koalitionsfreiheit 165 , daß sich die Anwendung dieser Garantie auf die Polizei nach Maßgabe des innerstaatlichen Rechts bestimmt 166 . In rechtspraktischer Hinsicht indes lassen sich zwischen diesen beiden Typen von Schrankenregelungen, den Einschränkungen einerseits und den Begrenzungen andererseits 167 , keine Unterschiede ausmachen 168 . Insbesondere unterliegen beide Schankenregelungen nur, aber immerhin einer Schranken-Schranke, nämlich derjenigen, die eine mißbräuchliche Berufung der Vertragsstaaten auf Schrankenregelungen ausschließt 169 . Zwar beziehen sich die diese SchrankenSchranke ausdrücklich normierenden Bestimmungen von ESC, ZusProt 1988 und RESC 170 expressis verbis nur auf die restrictions. Jedoch gelten sie sinngemäß auch für die limitations. Denn es ist eine pure Selbstverständlichkeit, daß sich bei der Anwendung von Schrankenregelungen ein détournement de pouvoir verbietet 171 .
___________ 163
Art. 7 Nr. 1 ESC/RESC. Dazu bereits oben Fn. 104. 165 Art. 5 ESC/RESC. 166 Art. 5 Satz 2 ESC/RESC. 167 So die Terminologie in Art. 31 Nr. 1 ESC, der ausweislich seines Art. 8 Nr. 2 auch für das ZusProt 1988 gilt, sowie in Art. G Nr. 1 RESC. 168 Dies ergibt sich nicht zuletzt aus den in Fn. 167 zitierten Bestimmungen selbst, die nur terminologisch, nicht aber hinsichtlich ihres rechtlichen Gehalts zwischen restrictions und limitations differenzieren. 169 Hingegen unterliegen die beiden Schrankenregelungen nicht der SchrankenSchranke der Verhältnismäßigkeit. Denn die in Fn. 167 zitierten Bestimmungen ergeben, daß diese Schranken-Schranke ausschließlich bei dem sogleich zu erörternden allgemeinen Gesetzesvorbehalt greift. 170 Art. 31 Nr. 2 ESC, Art. 8 Nr. 2 ZusProt 1988 in Verbindung mit Art. 31 Nr. 2 ESC sowie Art. G Nr. 2 RESC. 171 So auch Jochen Abr. Frowein, in: ders. / W. Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. 1996, Art. 18 Rn. 1; ähnlich Jens Meyer-Ladewig, EMRK, 2003, Art. 18 Rn. 1: allgemeiner Gedanke. 164
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Drittens und vor allem unterfallen ausnahmslos alle grundrechtlichen Gewährleistungen aus Teil II 172 einem allgemeinen Gesetzesvorbehalt 173 . Diese Schrankenregelung muß ihrerseits nicht nur die Schranken-Schranke des Mißbrauchsverbots 174 wahren. Ungleich bedeutsamer ist, daß das einschränkende Gesetz den betreffenden Vorbehaltsbestimmungen zufolge „in einer demokratischen Gesellschaft zum Schutze der Rechte und Freiheiten anderer oder zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, der Sicherheit des Staates, der Volksgesundheit und der Sittlichkeit notwendig“ sein muß. Diese Schranken-Schranke ist nach demselben Muster zu konkretisieren wie die entsprechenden Regelungen der EMRK 175 , denen sie offensichtlich nachgebildet ist 176 . Ob die Einschränkung ‚notwendig‘ ist, hängt mithin davon ab, ob sie sie sich als verhältnismäßig erweist 177 . Hinsichtlich der insofern zentralen Verhältnismäßigkeitsprüfung sei speziell für die bei sozialen Grundrechten häufig im Mittelpunkt stehende Konstellation, daß ein (sozial-)staatliche Leistungen gebietender grundrechtlicher Gewährleistungsgehalt durch vertragsstaatliches Unterlassen beeinträchtigt wird, zweierlei angemerkt. Erstens ist daran festzuhalten, daß auch dort, wo die Grundrechtsbeeinträchtigung im Unterlassen einer staatlichen Leistungshandlung 178 liegt, das Verhältnismäßigkeitsprinzip keinen anderen dogmatischen Regeln folgt als in den Eingriffsabwehrfällen 179 . Die grundrechtsbeeinträchtigende Nichtleistung muß sich in Hinblick auf den durch das einschränkende Gesetz verfolgten legitimen Zweck als geeignet, erforderlich und unter Berücksichtigung gegenläufiger Rechtssätze im Sinne praktischer Konkordanz angemessen erweisen. Ein Rückgriff auf den dogmatischen Neologismus des Untermaßverbots ist nicht nur verzichtbar, sondern überdies auch fragwürdig, weil
___________ 172 Also auch diejenigen, deren Tatbestand bereits Einschränkungs- beziehungsweise Begrenzungsmöglichkeiten vorsieht (so auch Harris / Darcy [Fn. 41], S. 380). 173 Vgl. Art. 31 Nr. 1 ESC, Art. 8 Nr. 2 ZusProt 1988 und Art. G Nr. 1 RESC. 174 Vgl. Fn. 170. 175 Vgl. Art. 8 II, 9 II, 10 II, 11 II EMRK. Dazu Frowein, in: ders. / Peukert (Fn. 171), Vorbem. Zu Art. 8-11Rn. 11 ff. 176 In diesem Sinn überzeugend auch Harris / Darcy (Fn. 41), S. 380 ff. 177 Vgl. nur EGMR, Cascado Coca c. Espagne, A-285, Rn. 50. 178 Daßelbe gilt für den Fall, daß die Grundrechtsbeeinträchtigung auf dem Unterlassen einer staatlichen Schutzhandlung beruht. 179 Vgl. Dietrich Murswiek, in: M. Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 3. Aufl., 2003, Art. 2 Rn. 33 Fn. 43; Karl Eberhard Hain, Der Gesetzgeber in der Klemme zwischen Übermaß- und Untermaßverbot, in: DVBl. 1993, S. 982 (983 f.); anders Borowsky (Fn. 70), S. 151 ff.
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er die Ubiquität verfassungsrechtsdogmatischer Grundstrukturen verdeckt, auf der nachhaltige Dogmatik aufbaut 180 . Zweitens ist darauf hinzuweisen, daß dann, wenn der Gewährleistungsgehalt eines sozialen Grundrechts auf die Erbringung fundamental-existenzieller Sozialleistungen abzielt, ein staatliches Unterlassen allenfalls in extremen Ausnahmefällen noch als verhältnismäßig und damit als in Hinblick auf den allgemeinen Gesetzesvorbehalt gerechtfertigt angesehen werden kann. Die minimum core obligation sind mit anderen Worten weithin abwägungsresistent. bb) Der Vorbehalt des Möglichen: eine zu verabschiedende Kategorie Daß unter dem Charta-Regime überhaupt nur drei Einschränkungsvorbehalte anerkannt sind, erweist sich speziell auch in Hinblick auf die in der deutschen Staatsrechtslehre geführte Auseinandersetzung um die sozialen Grundrechte als ebenso bemerkenswert wie bedeutsam. Denn der Umkehrschluß aus der offensichtlich abschließenden Regelung der Schrankenregelungen bekräftigt, was nach richtiger Auffassung für soziale Grundrechte generell anzunehmen ist: Sie unterliegen nicht schon wegen normstruktureller Besonderheiten per se dem so genannten Vorbehalt des Möglichen 181 ; vielmehr kann ein solcher allenfalls nach Maßgabe der die sozialen Grundrechte einhegenden rechtlichen Vorgaben relevant werden. Selbstverständlich wird mit dieser These nicht bestritten, daß auch soziale Grundrechte dem logischen Rechtsgrundsatz des ultra posse nemo obligatur 182 unterfallen: Vermag ein Staat weder im Rahmen seiner Abgabenhoheit noch über neue Kreditaufnahmen, die Veräußerung staatlichen Eigentums oder sonstige einnahmewirksamen Maßnahmen die Mittel bereitzustellen, die zur Erfüllung der aus den sozialen Grundrechten erwachsenden Verpflichtungen erforderlich sind, so können diese – weil ihre Normativität eines Normalisierungspotenzials entbehrt – keine rechtliche Geltung für sich beanspruchen 183 . Freilich ist die durch den ultra-posse-Satz gezogene Grenze ihrer Geltungskraft ___________ 180 Zu dieser auf die Ubiquität dogmatischer Strukturen abstellenden Argumentation vgl. in einem verwaltungsrechtlichen Kontext bereits Alexis v. Komorowski /Dominik Kupfer, Der Bebauungsplan (Teil 2), in: VBlBW 2003, S. 49 Fn. 10. 181 In die Richtung aber etwa Wolfgang Martens, Grundrechte im Leistungsstaat, in: VVDStRL 30 (1972), S. 7 (30 f.); Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die sozialen Grundrechte im Verfassungsgefüge, in: ders. / J. Jekewitz / Th. Ramm (Fn. 144), S. 7 (13). 182 Vgl. Detlef Liebs, Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, 6. Aufl., 1998, S. 223. 183 Insoweit weist Murswiek (Fn. 93), Rn. 60, das Argument, soziale Grundrechte seien nicht von der wirtschaftlichen Lage abhängig, weil ihr Geltungsanspruch in jeder Lage bestehen bleibe, zu Recht zurück.
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nichts, was speziell soziale Grundrechten charakterisierte 184 . Insbesondere kommt den aus einem liberalen Freiheitsrecht erwachsenden abwehrrechtlichen Folgenbeseitigungsansprüchen ebenfalls nur solange rechtliche Geltung zu, wie ihre Erfüllung nicht unmöglich (geworden) ist 185 . Hinzu tritt, wie schon angedeutet, daß die durch die tatsächliche Unerfüllbarkeit markierte Grenze rechtlicher Verpflichtungskraft nicht nur sozialer Grundrechte, sondern allen Rechts auf einem allgemein anerkannten logischen Rechtsgrundsatz beruht. Der in dem engen Sinne des ultra posse-Satzes verstandene Vorbehalt des Möglichen erfaßt die sozialen Grundrechte also gerade nicht per se, sondern rechtlich vermittelt. Ohnedies soll nach den in Judikatur und Schrifttum vertretenen Auffassungen der Vorbehalt des Möglichen einer pflichtgemäßen Realisierung sozialer Grundrechte nicht erst dann entgegenstehen, wenn der ultra posse-Satz greift, das heißt bei echter Zahlungsunfähigkeit des Staates 186 . Vielmehr soll der Vorbehalt des Möglichen ein Erfüllungshindernis bereits dann auslösen, wenn – ungeachtet der Möglichkeiten, sie zu füllen 187 – die Staatskasse leer ist 188 oder aber die – rational kaum faßbare – Grenze dessen erreicht ist, was der einzelne vernünftigerweise von der Gesellschaft verlangen kann 189 . Der herkömmlich in diesem weiten Sinn verstandene Vorbehalt des Möglichen wird gemeinhin daraus abgeleitet, daß die meisten sozialen Grundrechte im Unterschied zu den klassischen Freiheitsrechten in erheblichem Maße finanzwirksam seien 190 . Diese normstrukturell angelegte Besonderheit bedinge, daß soziale Grundrechte, sofern ihre pflichtgemäße Realisierung wie im Regelfall unmittelbar oder mittelbar von staatlichen Finanzressourcen abhänge, per se dem im skizzierten Umfang erweiterten Vorbehalt des Möglichen unterfallen müssten 191 .
___________ 184
Überzeugend Michael Sachs, Leistungsrechte, in: K. Stern (Fn. 72), S. 687 (718 f.). 185 Dazu nur Hans-Dieter Sproll, Der Folgenbeseitigungsanspruch, in: S. Detterbeck/ K. Windthorst / ders., Staatshaftungsrecht, 2000, S. 217 (232 ff.). 186 Vgl. nur Murswiek (Fn. 93), Rn. 58. 187 Daß sich der Staat die für die reale Gewährung sozialer Grundrechte erforderlichen Ressourcen durch Umverteilung erschließen kann, betont demgegenüber zu Recht Norman Paech, Stellungnahme, in: Materialien (Fn. 132), S. 347 (350). 188 In diese Richtung offenbar Georg Brunner, Die Problematik von sozialen Grundrechten, 1971, S. 17; Kirchhof (Fn. 30), Rn. 81. 189 BVerfGE 33, 303 (333); 97, 332 (349). 190 Vgl. zum Beispiel Josef Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, in: ders. / P. Kirchhof (Fn. 93), § 115 Rn. 149. 191 Dazu etwa Böckenförde (Fn. 29), S. 1536.
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Diese Argumentation vermag freilich schon deshalb nicht zu überzeugen, weil auch die klassischen Freiheitsrechte keineswegs nur kostenneutrale Unterlassungspflichten entbinden, sondern in ihrer Schutzpflicht- und Verfahrensdimension teilweise erhebliche Kosten verursachen 192 . Schon von daher leuchtet nicht ein, weshalb nur und gerade soziale Grundrechte einem per se geltenden, weit verstandenen Vorbehalt des Möglichen unterfallen sollten 193 . Vor allem aber erweist sich die Sichtweise der herrschenden Meinung als allzu vordergründig. Denn selbst wenn man zutreffend unterstellt, daß liberale Freiheitsrechte die staatlichen Haushalte zwar auch, aber eben nicht so stark belasten wie soziale Grundrechte, so sind damit die volkswirtschaftlichen Implikationen dieser beiden Grundrechtstypen allenfalls ansatzweise erfaßt. In volkswirtschaftlicher Perspektive sehr viel entscheidender ist, daß soziale Grundrechte erhebliche Auswirkungen auf die Einkommens- und Vermögensverteilung haben. Schließlich wird der Staat die kostenintensive Realisierung bestimmter sozialer Grundrechte refinanzieren müssen und wird dies angesichts knapper Haushaltsmittel insbesondere auch durch eine Besteuerung von Personenkreisen tun müssen, die nicht oder nur am Rande von der Realisierung der betreffenden Grundrechte sowie der in diesem Zusammenhang erfolgenden Transferleistungen profitieren. Nun läßt sich freilich in Hinblick auf diese überaus weitreichenden und daher volkswirtschaftlich ersichtlich relevanteren Implikationen sozialer Grundrechte ein qualitativer Unterschied zu den klassischen Freiheitsrechten gerade nicht mehr feststellen. Denn auch die klassischen Freiheitsrechte beeinflußen gleich in zweifacher Hinsicht die gesellschaftliche Vermögens- und Einkommensverteilung, nur eben in entgegen gesetzter Richtung: Zum einen tragen namentlich die wirtschaftlichen Freiheitsrechte dazu bei, daß die bestehende Vermögens- und Einkommensverteilung gegen staatliche Interventionen zwar nicht immunisiert, aber doch ein ganzes Stück weit abgesichert wird 194 . Zum anderen erweisen sich, wie bereits erwähnt, auch Freiheitsrechte in bestimmten Konstellationen als überaus finanzwirksam; davon wiederum profitieren – nicht nur, aber doch in erster Linie – diejenigen, die sich Freiheitsrechte und deren offensiven Gebrauch finanziell leisten können. Da folglich beide Grundrechtstypen verteilungspolitisch wirken, gibt es keinen überzeugenden Grund dafür, diese verteilungspolitischen Wirkungen ___________ 192
Vgl. Richard A. Posner, Economic Analysis of Law, 5. Aufl., 1998, S. 680 f.; Sachs (Fn. 184), S. 717 f.; Lübbe-Wolff (Fn. 143), S. 39 f.; Georg Lohmann, Soziale Menschenrechte und die Grenzen des Sozialstaats, in: W. Kersting (Hrsg.), Politische Philosophie des Sozialstaats, 2000, S. 351 (356 f.). 193 Dazu eingehend Borowsky (Fn. 70), S. 313 f. 194 Vgl. dazu die klassische Studie von Charles A Beard, An Economic Interpretation of the Constitution of the United States, 1913, dort insbesondere Kapitel VI: „The Constitution as an Economic Document“.
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gerade in Hinblick auf die sozialen Grundrechte durch einen per se-Vorbehalt des Möglichen zu beschneiden. Wenn der Vorbehalt des Möglichen folglich nicht schon per se greift, so schließt dies freilich nicht aus, daß er sich nach Maßgabe der bei der Grundrechtskonkretisierung beachtlichen Rechtsvorgaben der Sache nach Bahn bricht. Schließlich sind einige der Grundrechtsverbürgungen des ESC-Regimes normtextlich so gefasst, daß bei der Bestimmung ihres jeweiligen Gewährleistungsgehalts die finanzpolitischen Handlungsspielräume des Staates mit berücksichtigt werden können. Dies gilt namentlich auch für die das Recht auf Arbeit entfaltende grundsätzliche Staatenverpflichtung, zwecks Verwirklichung der Vollbeschäftigung die Erreichung und Aufrechterhaltung eines möglichst hohen und stabilen Beschäftigungsstandes nicht etwa zur einzigen, sondern zu einer ihrer wichtigsten Zielsetzungen und Aufgaben zu machen 195 . Des weiteren und vor allem können nach Maßgabe des allgemeinen Gesetzesvorbehalts die aus bestimmten sozialen Grundrechten erwachsenden, finanzwirksamen Staatenpflichten qua Gesetz auf ein angemessenes Maß reduziert werden, wenn andernfalls kollidierende Rechte Dritter unverhältnismäßig verkürzt würden 196 . Insofern läßt sich insbesondere auch adäquat bewältigen, was man als die demokratierechtlich berechtigte Substanz der Lehre vom Vorbehalt des Möglichen bezeichnen könnte. Gemeint ist, daß die Gewährleistung sozialer Grundrechte in Extremfällen die für die parlamentarische Demokratie konstitutive Budgethoheit übermäßig beeinträchtigen kann. Da in einer solchen Konstellation die Rechte anderer, nämlich ihre demokratischen Partizipationsrechte gefährdet sind, läßt es der allgemeine Gesetzesvorbehalt zu, daß der Gesetzgeber die sich aus den sozialen Grundrechten ergebenden Verpflichtungen auf ein demokratierechtlich angemessenes Maß zurückschneidet. Nach allem bestätigt sich, daß soziale Grundrechte generell und speziell auch die durch das Charta-Regime verbürgten nicht schon auf Grund ihrer normstrukturellen Besonderheiten einem per se geltenden Vorbehalt des Möglichen unterfallen, sondern ein solcher sich allenfalls rechtlich vermittelt, also im Rahmen der die sozialen Grundrechte determinierenden Rechtsvorgaben rekonstruieren läßt. Vor diesem Hintergrund sprechen durchgreifende Gründe dafür, die rechtlich ohnehin unselbstständige und überdies reichlich verwirrende Kategorie des Vorbehalts des Möglichen aus der Diskussion um die sozialen Grundrechte zu verabschieden und sie daher auch in Hinblick auf die ESCInstrumente unberücksichtigt zu lassen 197 . ___________ 195
Art. 1 Nr. 1 ESC/RESC. Vgl. Margit Tünnemann, Der verfassungsrechtliche Schutz der Familie und die Förderung der Kindererziehung im Rahmen des staatlichen Kinderleistungsausgleichs, 2002, S. 172 f. 197 Vgl. dazu auch Harris / Darcy (Fn. 41), S. 26 f. 196
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e) Die aus den Grundrechtsverbürgungen der ESC erwachsenden völkerrechtlichen Individualrechte Nicht zuletzt, um dadurch ihr positivrechtliches Profil zu schärfen, sind vorstehend die aus den sozialen Grundrechten der ESC erwachsenden Staatenpflichten dogmatisch strukturiert worden. Um von einer Dogmatik der in der ESC verbürgten sozialen Grundrechten sprechen zu können, muß nun freilich noch einer Fragestellung nachgegangen werden. Offen geblieben ist bislang nämlich, inwieweit die aus den sozialen Grundrechten von Teil II erwachsenden völkerrechtsverbindlichen Staatenpflichten mit ihrerseits völkerrechtsverbindlichen Individualrechten korrelieren 198 . Die Bestimmungen in Teil II der relevanten ESC-Instrumente verpflichten die Vertragsstaaten völkerrechtsverbindlich dazu, die wirksame Ausübung bestimmter sozialer Grundrechte zu gewährleisten. Normtextuell werden diese Rechte insoweit als rechtsexistent vorausgesetzt. So ist, wie bereits angesprochen, im jeweiligen Teil II bis in die Überschrift hinein vom „Recht auf Arbeit“ 199 , vom „Recht auf Chancengleichheit“ 200 und so weiter die Rede. Wenn sich indes die in den einschlägigen ESC-Bestimmungen niedergelegten zwischenstaatlichen Verpflichtungen dem klaren Vertragstext nach als Korrelat von ihrem Sinngehalt nach notwendig Einzelmenschen zustehenden Rechten darstellen, so sprechen schon bei grammatischer Auslegung durchgreifende Gründe dafür, daß die ESC – als völkerrechtlicher Vertrag zugunsten Dritter – neben den zwischenstaatlichen Verpflichtungen auch diesen entsprechende völkerrechtliche Individualrechtspositionen normiert 201 . Des weiteren ist zu berücksichtigen, daß die betreffenden ESC-Instrumente ihrer vorrangigen Zwecksetzung nach der Erhaltung und Weiterentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten dienen. Dies läßt sich klar am allerersten Erwägungsgrund der Präambel zur ESC beziehungsweise zur RESC belegen. Damit streitet auch der teleologische Auslegungsgesichtspunkt für die These, daß den aus Teil II erwachsenden Staatenpflichten völkerrechtliche Individualrechte entsprechen. Denn die Pointe der mit dem ESC-System zu promovierenden Menschenrechte liegt gerade darin, daß die Individuen zu Trägern völkerrechtlicher Rechte avancieren. ___________ 198 Für eine großzügige Zuerkennung von völkerrechtlichen Individualrechtspositionen im Bereich der Menschenrechte etwa – völkerrechtsgeschichtlich bemerkenswert – Rein A. Mullerson, Human Rights and the Individual as Subject of International Law: A Soviet view, in: EJIL 1990, 33 (37). 199 Art. 1 ESC/RESC. 200 Art. 20 RESC. 201 Dagegen etwa Grisel (Fn. 100), S. 58 f., der die Einzelmenschen nicht als Träger, sondern als Begünstigten der fraglichen Verbürgungen ansieht.
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Der sowohl grammatisch als auch teleologisch indizierten Annahme, daß die Sozialcharta bereits auf völkerrechtlicher Ebene subjektiv-öffentliche Individualrechte begründet, wird man angesichts des heute erreichten Stands des Völkerrechts nicht ernsthaft entgegen halten können, der Einzelmensch sei völkerrechtlich durch seinen Heimstaat vollständig mediatisiert 202 . Stattdessen ist davon auszugehen, daß den insoweit Begünstigten eine partiell-partikuläre Völkerrechtssubjektivität zuwächst, sofern multilaterale Völkerrechtsverträge – wie die betreffenden ESC-Instrumente in ihrem jeweiligen Teil II – expressis verbis oder jedenfalls implizit Individualrechte vorsehen 203 . Dies gilt nach überzeugender Auffassung selbst dann, wenn die begünstigten Individuen – wie im Fall der ESC-Instrumente – keine Möglichkeit haben, die so begründete Individualrechtsstellung in einem völkerrechtlichen Verfahren unmittelbar durchzusetzen 204 . Denn aus zumindest zwei Gründen kann die Innehabung völkerrechtlicher Rechte speziell im Völkerrecht nicht von der Klagebefugnis abhängen: So ist zum einen zu bedenken, daß auch ein Staat, der sich keiner Gerichtsbarkeit unterwirft und daher seine Rechte nicht klagweise durchsetzen kann, unzweifelhaft Rechtsträger bleibt 205 . Folglich läßt sich auch aus dem Umstand, daß das Charta-Regime lediglich ein Berichts- beziehungsweise ein Kollektivbeschwerdeverfahren und eben keine Verfahren der Individualbeschwerde vorsieht, mitnichten der Schluß ziehen, das ChartaRegime könne im Unterschied etwa zum EMRK-System keine völkerrechtlichen Individualrechte begründen. Zum anderen ist zu berücksichtigen, daß speziell im Fall des Völkerrechts die internationale Meinung – und zwar sowohl die von den Staaten herrührende als auch die im zivilgesellschaftlichen Raum erzeugte – zur Rechtsimplementierung beiträgt 206 . Verbindlichem Völkerrecht wird auch deshalb innerstaatlich Normalität verschafft, weil die internationale Meinung darauf beharrt. Vor diesem Hintergrund erweist es sich als wenig stichhaltig, völkerrechtsverbindliche Individualrecht nur deshalb in Abrede zu stellen, weil es an einem förmlichen Rechtsdurchsetzungsverfahren fehlt. Denn auch ohne ein solches Verfahren bleiben diese Rechte tauglicher und versprechender Ansatzpunkt für die ___________ 202 Dazu etwa Dieter Fleck, Zur Rolle des einzelnen im Völkerrecht, in: K. Ipsen u.a. (Hrsg.), Festschrift für Klaus Dau, 1999, S. 73 ff. 203 Kay Hailbronner, Der Staat und der Einzelne als Völkerrechtssubjekte, in: W. Graf Vitzthum (Fn. 1), III Rn. 14 ff. 204 In diesem Sinn wohl auch Hailbronner (Fn. 203), Rn. 15. Anderer Ansicht: Pierre-Marie Dupuy, Droit international public, 6. Aufl., 2002, Rn. 195; Ignaz SeidlHohenveldern / Torsten Stein, Völkerrecht, 10. Aufl., 2000, Rn. 938 ff.; auch Bellivier (Fn. 77), S. 421 f. 205 Hierauf weist zutreffend Karl Doehring, Völkerrecht, 2. Aufl., 2004, Rn. 979 hin. 206 Erhellend Dupuy (Fn. 204), Rn. 225 ff.
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insbesondere auch von zivilgesellschaftlichen Akteuren getragene Forderung nach Implementierung. Nach allem ist daher davon auszugehen, daß die durch Teil der einschlägigen ESC-Instrumente begründeten Staatenpflichten durchweg und nicht nur vereinzelt völkerrechtsverbindliche Individualrechte begründen. Und mit umso mehr Berechtigung läßt sich von einer Dogmatik der in der ESC verbürgten sozialen Grundrechte sprechen. 3. Rechtliche Relevanz der ESC im innerstaatlichen Bereich Nun sind bis hierher die in der ESC verbürgten Grundrechte aus einer ausschließlich völkerrechtlichen Perspektive betrachtet und diskutiert worden. Indes bliebe das Bild, das man sich vom ESC-System zu machen hat, unvollständig, wenn man nicht auch erörterte, wie sich die aus den ESC-Instrumenten erwachsenden Pflichten und Rechte auf das innerstaatliche Recht auswirken. Dies gilt insbesondere dann, wenn wie hier das Augenmerk auf die positivrechtlichen Implikationen der in der Europäischen Sozialcharta verbürgten Grundrechte gelenkt werden soll 207 . In Hinblick auf die rechtliche Relevanz der ESC im innerstaatlichen Bereich ist zu berücksichtigen, daß neben der Bundesrepublik die ganz überwiegende Zahl europäischer Staaten verfassungsrechtlich eine generelle Transformation beziehungsweise Adaption völkerrechtlicher Verträge vorsehen 208 . Diese generelle Übernahme völkerrechtlicher Verträge in die innerstaatliche Rechtsordnung hat anerkanntermaßen zur Konsequenz, daß die betreffenden Vertragsnormen unter bestimmten Voraussetzungen auch ohne zusätzliche landesrechtliche Konkretisierung von staatlichen Gerichten sowie von Verwaltungsbehörden unmittelbar angewandt werden müssen 209 . Aber auch soweit die generelle Transformation beziehungsweise Adaption im konkreten Fall keine derart weitreichenden Wirkungen zeitigt, sind die davon erfassten Vertragsnormen für innerstaatliche Gerichte und Verwaltungsbehörden keineswegs irrelevant. Denn diese nicht unmittelbar anwendbaren Vertragsbestimmungen bleiben im Rahmen der Normauslegung und Ermessensausübung für alle staatlichen Stellen mittelbar beachtlich 210 . Hinzu tritt schließlich noch, daß die im Wege genereller Transformation beziehungsweise Adaption in die innerstaatliche Rechts___________ 207
Siehe oben I. 5. (am Ende). Vgl. die Analyse von Albert Bleckmann, Begriff und Kriterien der innerstaatlichen Anwendbarkeit völkerrechtlicher Verträge, 1970, S. 17 ff.; ferner ders. (Fn. 114), S. 404. 209 Vgl. hierzu nur Georges Perrin, Droit International Public, 1999, S. 824 ff. 210 Dazu eindringlich Wolfgang Däubler, Das unbekannte Arbeitsrecht, NJW 1999, S. 3537 (3538). 208
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ordnung übernommenen völkerrechtlichen Vertragsbestimmungen dort mitunter auch subjektiv-öffentliche Rechte begründen 211 . Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Lehren erhellt, daß der ESC im innerstaatlichen Bereich ein sehr viel größeres Gewicht zukommt, als dies gemeinhin angenommen wird. Dies soll nachstehend im Einzelnen vertieft werden. a) Voraussetzungen der unmittelbaren Anwendbarkeit generell transformierter beziehungsweise adaptierter Vertragsnormen Die Frage nach der unmittelbaren Anwendbarkeit braucht nicht für alle Normen eines generell transformierten beziehungsweise adaptierten völkerrechtlichen Vertrags einheitlich beantwortet zu werden. Vielmehr kann ein Vertrag zugleich sowohl unmittelbar anwendbare als auch bloß mittelbar beachtliche Regelungen enthalten 212 . Um als von staatlichen Gerichten und Behörden unmittelbar anwendbar qualifiziert werden zu können, müssen Bestimmungen eines generell transformierten beziehungsweise adaptierten Völkerrechtsvertrags drei Voraussetzungen erfüllen 213 : Erstens muß die betreffende völkerrechtsvertragliche Norm objektiv self-executing sein. Sie muß mithin inhaltlich so genau umschrieben sein, daß sie direkt, also ohne präzisierende Ausgestaltungsgesetzgebung, auf einen Einzelfall angewandt werden und insofern Grundlage für eine konkreten Gerichts- oder Verwaltungsentscheidung sein kann 214 . Ob dies der Fall ist, muß durch Auslegung der betreffenden Vertragsnorm ermittelt werden 215 . Zweitens muß die völkerrechtsvertragliche Norm, um infolge der generellen Transformation beziehungsweise Adaption innerstaatlich unmittelbar anwend___________ 211 212
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Verdross / Simma, (Fn. 110), § 864. Jörg P. Müller / Luzius Wildhaber, Praxis des Völkerrechts, 3. Aufl., 2001, S.
213 Zu diesen Voraussetzungen zählt indessen nicht, daß der Vertrag individuelle Rechte oder Pflichten begründet; es genügt, wenn der Vertrag vollzugsfähige Normen rein objektiv-rechtlicher Natur enthält – so auch Gerhard Boehmer, Der völkerrechtliche Vertrag im deutschen Recht, 1965, S. 9; Wolfgang Fikentscher, Was bedeutet „selfexecuting“?: Überlegungen zur Rechtsnatur des GATT im Blick auf einen GATTImmaterialgüterschutz, in: J. Baur / K. Hopt / P. Mailänder (Hrsg.), Festschrift für Ernst Steindorf, 1990, S. 1175 (1188 f.); Zuleeg (Fn. 114), S. 358; eingehend Arnold Koller, Die unmittelbare Anwendbarkeit völkerrechtlicher Verträge, 1971, S. 74 ff. 214 Michael Schweitzer, Staatsrecht III, 8. Aufl., 2004, Rn. 439; Zuleeg (Fn. 114), S. 349 ff.; für die französische Rechtsprechung Capitant (Fn. 159), S. 224. 215 Hartwin Bungert, Einwirkung und Rang von Völkerrecht im innerstaatlichen Rechtsraum, in: DÖV 1994, S. 797 (801); Eckart Klein, Schutz der Grund- und Menschenrechte durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: LKV 2002, 74 (75); eingehend Arnold Koller (Fn. 213), S. 81 ff.
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bar zu werden, auch in subjektiver Hinsicht self-executing sein 216 . Sofern sich daher bei fachgerechter Auslegung einer objektiv als self-executing zu wertenden Vertragsnorm ergibt, daß die Vertragsparteien deren unmittelbare Anwendung ausschließen wollte, ist dies selbstverständlich beachtlich 217 . Eine unmittelbare Anwendbarkeit der Vertragsnorm kommt in diesem Fall allenfalls dann in Betracht, wenn sie der Vertragsstaat von sich aus, also aus eigener Rechtsetzungskompetenz für unmittelbar anwendbar erklärt. Damit die generell transformierte beziehungsweise adaptierte Vertragsnorm innerstaatlich unmittelbar anwendbar ist, darf diese Wirkung drittens auch nicht qua nationalem Recht, etwa im Rahmen des Zustimmunggesetzes, ausgeschlossen sein. 218 Daß eine Vertragsnorm sich in völkerrechtlicher Hinsicht als self-executing erweist, weil die diesbezüglichen objektiven sowie subjektiven Bedingungen erfüllt sind, ist somit eine notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingung für ihre unmittelbare Anwendbarkeit im innerstaatlichen Bereich. b) Objektive Vollzugsfähigkeit der völkerrechtsverbindlichen ESC-Verbürgungen Wendet man sich vor diesem Hintergrund dem jeweiligen Teil II von ESC, RESC und ZusProt1988 zu, so ist in einem ersten Schritt zu konstatieren, daß keineswegs alle dort enthaltenen Grundrechtsverbürgungen in sämtlichen Pflichtendimensionen 219 inhaltlich so unbestimmt sind, daß sie schon in objektiver Hinsicht als durchweg non-self-executing qualifiziert werden müssten 220 . Auf den Einzelfall unmittelbar anwendbare und insofern als self-executing zu bewertende Regelungsgehalte lassen sich dabei nicht nur der aus den bürgerlich-liberalen Grundrechtskatalogen bekannten Koalitionsfreiheit 221 oder den diversen Gleichheitsrechten 222 entnehmen. Gleiches gilt insbesondere auch für zwei zentrale Ausprägungen der sozialen Urgrundrechte auf Arbeit und auf soziale Sicherheit. Die Rede ist zum einen vom Recht der Arbeitnehmer auf ein ___________ 216
Dupuy (Fn. 204), Rn. 413; ausführlich Bleckmann (Fn. 208), S. 182 ff. Zuleeg (Fn. 114), S. 352 f.; auch Wolfgang Däubler, Völkerrecht und Europarecht in der Rechtsprechung der Arbeitsgerichte, in: Festschrift zum 100jährigen Bestehen des deutschen Arbeitsgerichtsverbands, 1994, S. 619 (622): Der Vertrag darf nicht selbst auf ein bloßes gesetzgeberisches Programm beschränken, soll er self-executing-Charakter besitzen. 218 Bleckmann (Fn. 114), S. 404 f.; Zuleeg (Fn. 114), S. 354. 219 Zur Multidimensionalität der aus einer Grundrechtsverbürgung erwachsenden völkerrechtsverbindlichen Staatenpflichten vgl. oben II. c) dd). 220 So auch Zuleeg (Fn. 114), S. 352; in diese Richtung ferner Bleckmann (Fn. 114), S. 409; auch Bellivier (Fn. 77), S. 422. 221 Art. 5 ESC/RESC. 222 Zum Beispiel Art. 4 Nr. 3 ESC/RESC; Art. 19 Nr. 5 ESC/RESC. 217
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Arbeitsentgelt, das ausreicht, um ihnen und ihrer Familie einen angemessenen Lebensstandard zu sichern 223 , zum anderen von der Verpflichtung, sicherzustellen, daß jedem, der nicht über ausreichende Mittel verfügt, ausreichende Unterstützung gewährt wird 224 . Zwar erweisen sich die für die Regelungsgehalte dieser Verbürgungen maßgeblichen Termini des angemessenen Lebensstandards, der nicht ausreichenden Mittel sowie der ausreichenden Unterstützung als wenig präzise. Doch sind sie inhaltlich auch nicht schwächer determiniert als viele andere unbestimmte Rechtsbegriffe, die seit jeher von Behörden und Gerichten unmittelbar angewandt werden 225 . Unter Berücksichtigung gewisser volkswirtschaftlicher Indikatoren 226 wie dem durchschnittlich gezahlten Lohn 227 beziehungsweise den durchschnittlichen Lebenshaltungskosten 228 lassen sich daher durchaus auch den beiden zuletzt erwähnten ChartaBestimmungen hinreichend bestimmte, durch Behörden und Gerichte für den Einzelfall konkretisierbare Normgehalte entnehmen 229 . Zu beachten ist in diesem Zusammenhang freilich, daß die Antwort auf die Frage nach ihrem objektiven self-executing-Charakter bei ein und derselben Grundrechtsverbürgung durchaus unterschiedlich ausfallen kann, nämlich je nachdem, welche Pflichtendimension betroffen ist. So läßt sich etwa das Recht auf angemessene Entlohnung als staatsgerichtete Unterlassungs- oder Leistungspflicht von Behörden und Gerichten unmittelbar anwenden. Schließlich ist es hinreichend klar, welche Rechtsfolge einzutreten hat, wenn die auf der Grundlage volkswirtschaftlicher Indikatoren konkretisierbare Angemessenheitsschwelle unterschritten wird: Entgeltkürzungen sind verboten beziehungsweise Entgelterhöhungen geboten. Anders verhält es sich in der Schutzpflichtdimension. Wird ein Gericht damit konfrontiert, daß der in einem privatrechtlichen Arbeitsverhältnis stehende Arbeitnehmer nicht angemessen entlohnt wird, weiß es nicht, ob es von der Nichtigkeit auszugehen hat, ob es eine Vertragsanpassung vorzunehmen hat, ob sich der Arbeitgeber schadenersatz___________ 223
Art. 4 Nr. 1 ESC/RESC. Art. 13 Nr. 1 ESC/RESC. 225 Schon Otto Bachof, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates, VVDStRL 12 (1954), S. 37 (51 f.) hat mit exakt dieser Argumentation seine These vom grundrechtlichen Anspruch auf das Existenzminimum gegen den Einwand verteidigt, daß das Existenzminimum nicht hinreichend bestimmt sei, um Schutzgut einer alle Staatgewalten unmittelbar verpflichtenden Grundrechtsverbürgung zu sein. 226 Leckie (Fn. 133), S. 93: “The use of indicators as a means of monitoring and evaluating specific aspects of economic, social and cultural rights appears to be increasingly accepted.” Vgl. auch ebenda, S. 100 speziell zu den ESC-Instrumenten. Ferner Marco Borghi, De nouveaux indicatuers d’effectivité pour les droits sociaux, in: P. Hänni (Hrsg.), Festgabe für Thomas Fleiner, 2003, S. 277 (287 ff.). 227 Vgl. Digest (Fn. 99), S. 23, sowie oben Fn. 156. 228 Vgl. Digest (Fn. 99), S. 62. 229 In diese Richtung Stein / Frank (Fn. 152); anderer Ansicht Murswiek (Fn. 93), Rn. 50; auch Denninger (Fn. 99), Rn. 27. 224
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pflichtig macht und so weiter. Das Recht auf angemessene Entlohnung ist in seiner Schutzpflichtdimension demzufolge nicht hinreichend bestimmt, um self-executing zu sein. Vielmehr bedarf es insofern der legislatorischen Umsetzung. c) Subjektive Vollzugsfähigkeit der völkerrechtsverbindlichen ESC-Verbürgungen Jedenfalls bleibt festzuhalten, daß eine Reihe völkerrechtsverbindlicher Charta-Bestimmungen mitunter auch Regelungsgehalte enthält, die sich als objektiv self-executing erweisen. Ob sie es auch in subjektiver Hinsicht sind, ist nunmehr in einem zweiten Schritt zu prüfen. Die wohl herrschende Meinung verneint dies. Sie geht davon aus, daß die Vertragsparteien eine unmittelbare Anwendbarkeit der ESC-Instrumente ganz generell ausgeschlossen hätten 230 . Begründet wird dies mit einem Passus im Anhang zur Sozialcharta und der diesbezüglichen Entstehungsgeschichte. In besagtem Passus wird das Einverständnis der Vertragsparteien dokumentiert, demzufolge die Charta rechtliche Verpflichtungen internationalen Charakters enthalte, deren Durchführung ausschließlich der in der Charta selbst vorgesehenen Überwachung unterliege 231 . Diese Auslegungsvereinbarung soll auf Drängen namentlich der Bundesrepublik Deutschland geschlossen worden sein, die sich seinerzeit vehement gegen eine unmittelbare Anwendbarkeit der Charta-Verbürgungen im innerstaatlichen Bereich ausgesprochen hatte 232 . Zu überzeugen vermag diese vorherrschende Auffassung freilich nicht. So ist ihre Interpretation der erwähnten Auslegungsvereinbarung keineswegs zwingend. Diese läßt sich nämlich ihrem Wortlaut nach durchaus auch dahingehend verstehen, daß die Vertragsparteien lediglich die Durchsetzung der Charta-Verpflichtungen durch andere völkerrechtliche Mittel als dem in der Charta vorgesehenen Überwachungsverfahren ausschließen wollten 233 . Die Frage der innerstaatlichen Anwendbarkeit wäre nach dieser Interpretation durch den Anhang zur Sozialcharta überhaupt nicht tangiert. Da es für diese Sichtweise gleichfalls entstehungsgeschichtliche Anhaltspunkte gibt 234 , darf ___________ 230
Vgl. BVerwGE 66, 268 (274); 98, 31 (45); 91, 327 (330); Frowein (Fn. 78), § 180 Rn. 31; Fabricius (Fn. 80), S. 499 ff.; wohl auch Birk (Fn. 114), Rn 98. 231 Anhang zur ESC/RESC, Teil III (am Anfang). 232 BVerwGE 91, 227 (330 f.); Horst Konzen, Europäische Sozialcharta und ultimaratio-Prinzip, S. 157-163. 233 So auch die Auslegung des VG Frankfurt, ArbuR 1999, 164 (167); ferner Bleckmann (Fn. 114), S. 406; dagegen Zuleeg (Fn. 114), S. 357. 234 So haben sich die anderen Vertragsstaaten ausdrücklich geweigert, dem Vorschlag der Bundesrepublik zu folgen und in einer Vertragsklausel festzuschreiben, daß die Charta-Bestimmungen Individuen, Nichtregierungsorganisationen und Einzelgruppen keine unmittelbaren Rechte einräume. Vgl. Bleckmann (Fn. 114), S. 407.
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der Auslegungsvereinbarung nicht das interpretatorische Gewicht beigelegt werden, das ihr die herrschende Meinung 235 zuerkennt. Stattdessen sind auch die übrigen Auslegungskriterien in den Blick zu nehmen, um zu ermitteln, ob die objektiv als self-executing zu wertenden Charta-Verbürgungen nicht vielleicht doch nach unmittelbarer innerstaatlicher Anwendung verlangen. Hierfür spricht in systematischer Hinsicht entscheidend die in der ESC wie auch in ihrer revidierten Fassung enthaltene Günstigkeitsklausel, der zufolge die Charta-Verbürgungen solche Normen des innerstaatlichen Rechts unberührt lassen, die den geschützten Personen eine günstigere Behandlung einräumen 236 . Diese Klausel wäre überflüssig, wenn es nicht auch ChartaVerbürgungen gäbe, die innerstaatlich unmittelbar anwendbar sind 237 . Nur für diesen Fall bedarf es überhaupt einer solchen Kollisionsregel. Auch die in der Präambel von ESC beziehungsweise RESC aufscheinende Zielsetzung, ein das EMRK-Regime ergänzendes System des sozialen Menschenrechtsschutzes etablieren zu wollen, legt es nahe, den Charta-Verbürgungen weitestmöglich unmittelbare innerstaatliche Anwendbarkeit zuzuerkennen 238 . Denn in dieser Perspektive realisiert sich der effet utile sozialer Grundrechte in dem Maße, wie sein Gewährleistungsmodus sich dem der bürgerlichen Freiheitsrechte angleicht. Vor diesem doppelten Hintergrund und in Hinblick darauf, daß sich die maßgeblich an die Auslegungsvereinbarung anknüpfende Gegenauffassung als prekär erweist, sprechen die überzeugenderen Argumente für eine unmittelbare innerstaatliche Anwendbarkeit aller objektiv als self-executing zu wertenden Grundrechtsverbürgungen 239 . ___________ 235
Vgl. nur Neubeck (Fn. 41), S. 173 f. Art. 32 ESC beziehungsweise Art. H RESC. 237 Isele (Fn. 121), S. 20 f. 238 Hans Wiebringhaus, Jurisprudence du droit social européen, in: Rivista di diritto europeo 1972, S. 169 (170), bescheinigt der ESC-Präambel eine besonderte Bedeutung für die Charta-Interpretation. 239 Damit wird implizit auch jener Mindermeinung eine Absage erteilt, die den Grundrechtsverbürgungen aus Teil II der relevanten ESC-Instrumente die subjektive Vollzugsfähigkeit zwar ganz überwiegend, aber eben nicht ausnahmslos abspricht. Diese Auffassung geht mit der, wie dargelegt, unzutreffenden Mehrheitsmeinung davon aus, daß die Auslegungsvereinbarung aus dem Anhang zur ESC/RESC bei den allermeisten Verbürgungen des ESC-Regimes zur subjektiven Vollzugsunfähigkeit führe. Im Unterschied zur herrschenden Meinung will sie jedoch in Hinblick auf zwei Grundrechtsgewährleistungen die subjektive Vollzugsfähigkeit bejahen, nämlich jedenfalls für das in Art. 6 Ziff. 4 ESC/RESC verbürgte Recht der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber auf kollektive Maßnahmen einschließlich des Streikrechts (Schambeck [Fn. 75], S. 97 f.) sowie teilweise auch noch für das in Art. 18 Ziff. 4 ESC/RESC verankerte Recht der Staatsangehörigen des jeweiligen Vertragsstaats, ihr Land zu verlassen, um im Hoheitsgebiet anderer Vertragsparteien eine Erwerbstätigkeit auszuüben (Zuleeg [Fn. 114], S. 358 f.). Zu ihrer Rechtfertigung trägt diese Mindermeinung vor, daß sich die sprachliche Fassung dieser beiden speziellen Grundrechte von der der übrigen Charta-Verbürgungen 236
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d) Nationalrechtlicher Ausschluß unmittelbarer Anwendbarkeit Damit bleibt in einem dritten und letzten Schritt nunmehr zu überlegen, ob womöglich der nationale Gesetzgeber eine unmittelbare Anwendbarkeit der als self-executing qualifizierbaren Charta-Bestimmungen ausgeschlossen hat. Im Fall des deutschen Zustimmungsgesetzes fehlt hierfür jeglicher Anhaltspunkt. Auch daß in der den Materialien zum Zustimmungsgesetz beigefügten Denkschrift zur Sozialcharta eine unmittelbare Anwendbarkeit von Charta-Bestimmungen verneint wird 240 , läßt nicht den Rückschluß zu, der Zustimmungsgesetzgeber habe eine solche ausgeschlossen. Im Gegenteil: Sollte die Verabschiedung des Vertragsgesetzes maßgeblich durch die Denkschrift motiviert gewesen sein, so hätte der Gesetzgeber auf Grund seines sich daraus ergebenden Rechtsirrtums erst recht keinen Anlass gehabt, die Anwendungsbefugnis hinsichtlich der in objektiver wie subjektiver Hinsicht als self-executing zu qualifizierenden Charta-Bestimmungen einzuschränken. Nach allem ist davon auszugehen, daß in denjenigen Vertragsstaaten, in denen eines oder mehrere der materiell-rechtlichen ESC-Instrumente generell transformiert beziehungsweise adaptiert worden sind, ein nicht unerheblicher Teil ihrer völkerrechtsverbindlichen Bestimmungen unmittelbar anwendbar ist 241 . Denn nicht nur für die Bundesrepublik, sondern wohl auch für die anderen Staaten kann ein nationalrechtlicher Ausschluß der unmittelbaren Anwendbarkeit ausgeschlossen werden.
___________ unterscheidet. In der Tat spricht der Vertragstext insofern expressis verbis von der Anerkennung der betreffenden Rechte, wohingegen in den übrigen ChartaBestimmungen von staatlichen Verpflichtungen die Rede ist. Allerdings erscheint es als verfehlt, aus diesen semantischen Unterschieden normative ableiten zu wollen. Denn ob eine Vertragspartei ein Recht expressis verbis anerkennt, ob sie sich – wie es in anderen Bestimmungen der Charta heißt – zur Anerkennung eines Rechts verpflichtet oder ob – wie die Charta überwiegend formuliert – zur Gewährleistung effektiver Rechtsausübung bestimmte Verpflichtungen eingegangen werden, dies macht normativ gerade keinen Unterschied: In allen drei Fällen besteht die staatliche Verpflichtung eine bestimmte, rechtlich voraus-gesetzte subjektive Rechtsposition innerstaatlich zu effektuieren. Vor diesem Hintergrund vermag es nicht zu überzeugen, wenn aus der von den anderen Charta-Verbürgungen abweichenden Formulierung der beiden in Rede stehenden Gewährleistungen weitreichende Konsequenzen für die Frage der subjektiven Vollzugsfähigkeit gezogen werden – und nicht nur für diese Frage, sondern damit zusammenhängend zugleich auch für diejenige, inwieweit die ESC-Verbürgungen nach genereller Transformation beziehungsweise Adaption innerstaatlich subjektiv-öffentliche Individualrechte begründen; dazu näher unten II. 3. e), insbesondere Fn. 252. 240 BT-Drs. IV/2117, S. 28: „Die Charta begründet (…) kein unmittelbar geltendes Recht, sondern zwischenstaatliche Verpflichtungen der Vertragsparteien.“ 241 Offen gelassen in BVerfGE 58, 233 (254).
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e) Rechtliche Relevanz der generell transformierten beziehungsweise adaptierten, aber innerstaatlich nicht unmittelbar anwendbaren Vertragsnormen Nach zutreffender Auffassung werden durch den Akt genereller Transformation beziehungsweise Adaption nicht nur die unmittelbar anwendbaren Vertragsbestimmungen in die innerstaatliche Rechtsordnung überführt. Vielmehr wird der völkerrechtliche Vertrag als Ganzes innerstaatlich wirksam242 . Daraus ergibt sich zugleich, daß auch diejenigen Vertragsbestimmungen, die von Behörden und Gerichten nicht unmittelbar anwendbar sind, für diese gleichwohl nicht irrelevant sind 243 . Schon der Topos von der Einheit der Rechtsordnung gebietet es, daß bei der Auslegung von interpretationsfähigen Normen und der Ausfüllung von Ermessensspielräumen die Vorgaben der zwar nicht unmittelbar anwendbaren, aber gleichwohl innerstaatlich gültigen Vertragsbestimmungen zu beachten sind 244 . Kollidieren die von den Behörden und Gerichten anzuwendenden Normen des nationalen Rechts mit den Vorgaben innerstaatlich gültiger, aber nicht unmittelbar anwendbarer Bestimmungen völkerrechtlicher Verträge, so ist die Kollisionsregel dem nationalen Verfassungsrecht zu entnehmen 245 . Für das deutsche Verfassungsrecht ergibt sich insofern ein relativer, weicher Vorrang des Völkerrechts vor dem nationalen Recht: Aus dem Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Haltung des Grundgesetzes 246 leitet sich ab, daß Vorschriften des nationalen Rechts – und zwar wohl auch die des Verfassungsrechts – im Licht der völkerrechtlichen Verpflichtungen zu konkretisieren sind, sofern dies nach den anerkannten Auslegungsgrundsätzen (noch) möglich erscheint 247 und der Gesetzgeber die innerstaatliche Rezeption der völkerrechtlichen Vertragsnorm nicht durch einen bewussten Derogationsakt annulliert hat 248 . ___________ 242
Vgl. Bleckmann (Fn. 208), S. 61 ff.; Gaby Buchs, Die unmittelbare Anwendbarkeit völkerrechtlicher Vertragsbestimmungen, 1993, S. 28 ff. 243 So auch BVerfGE 46, 342 (362 f.); Schweitzer (Fn. 214), Rn. 440 c; anderer Ansicht offenbar Konzen (Fn. 232), S. 162. 244 Im Ergebnis ebenso BVerwGE 66, 266 (174); wohl auch Wolfgang Leinemann / Friedrich Schütz, Die Bedeutung internationaler und europäischer Arbeitsrechtsnormen für die Arbeitsgerichtsbarkeit, in: BB 1993, S. 2519. 245 Eingehend hierzu Perrin (Fn. 209), S. 833 ff. 246 Vgl. BVerfGE 58, 1 (34); 59, 63 (89); 74, 358 (370). 247 BVerfGE 91, 327 (331 f.). 248 Vgl. BVerfGE 74, 358 (370). Dazu auch Ondolf Rojahn, Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge in der Entscheidungspraxis des Bundesverwaltungsgerichts, in: R. Geiger (Hrsg.), Völkerrechtlicher Vertrag und staatliches Recht vor dem Hintergrund zunehmender Verdichtung der internationalen Beziehungen, S. 123 (135). Daß eine solche Auslegung völkerrechtlich geboten ist, betont auch der CESCR in seinem General Comment 9 (U.N. Doc. E/C.12/1998/24), Ziff. 15.
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In diesem Sinn vermögen sich denn auch diejenigen Grundrechtsverbürgungen aus Teil II von ESC, RESC beziehungsweise ZusProt 1988 auf konkrete Behörden- und Gerichtsentscheidungen mittelbar auszuwirken, die mangels inhaltlicher Normbestimmtheit als objektiv non-self-executing zu qualifizieren sind und deshalb keine unmittelbare innerstaatliche Anwendung finden. Zu dieser Kategorie von Charta-Bestimmungen zählt namentlich die dem Recht auf Arbeit inhärente Verpflichtung der Vertragsstaaten, sich zwecks Verwirklichung der Vollbeschäftigung die Erreichung und Aufrechterhaltung eines möglichst hohen und stabilen Beschäftigungsstandes zu einer ihrer wichtigsten Zielsetzungen und Aufgaben zu machen 249 . Entsprechendes ist für die unter das Recht auf soziale Sicherheit fallende Verpflichtung anzunehmen, ein System der sozialen Sicherheit einzuführen oder beizubehalten 250 . f) Subjektiv-öffentliche Individualrechte Es ist bereits im Einzelnen begründet worden, daß und weshalb die Grundrechtsverbürgungen aus Teil II der betreffenden ESC-Instrumente nicht nur völkerrechtsverbindliche Staatenpflichten, sondern auch damit korrelierende völkerrechtliche Individualberechtigungen begründen 251 . Soweit daher die betreffenden Grundrechtsverbürgungen im Wege genereller Transformation beziehungsweise Adaption in die innerstaatliche Rechtsordnung übernommen werden, begründen sie auch insofern subjektiv-öffentliche Rechtspositionen 252 . Schließlich ist es gerade die Pointe der generellen Transformation beziehungsweise Adaption, daß die Regelungsgehalte des völkerrechtlichen Vertrags umfassend und unverändert ins nationale Recht rezipiert werden. Daß aus den transformierten beziehungsweise adaptierten ESC-Instrumenten innerstaatlich subjektiv-öffentliche Individualrechte erwachsen 253 , wird man im ___________ 249
Art. 1 Nr. 1 ESC/RESC. Art. 12 ESC/RESC; dazu zuletzt Rolf Birk, Soziale Sicherheit und Europäische Sozialcharta, in: W. Boecken / F. Ruland / H.-D. Steinmeyer (Hrsg.), Festschrift für Bernd Baron von Maydell, 2002, S. 27 ff. 251 Siehe oben II. 2. e). 252 Anders freilich traditionell die Bundesregierung. Vgl. dazu nur ihre Antwort auf eine Kleine Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion, BT-Drs. 13/11415, S. 5. 253 Dagegen traditionell die Bundesregierung (etwa BT-Drs. 13/11415, S. 5) sowie die herrschende Meinung in der Rechtswissenschaft (vgl. nur Doehring [Fn. 205], Rn. 978; Isensee [Fn. 28], S. 378; Theodor Tomandl, Der Einbau sozialer Grundrechte in das positive Recht, 1967, S. 19). Teilweise wird für bis zu zwei Grundrechte, nämlich für Art. 6 Nr. 4 und Art. 18 Nr. 4 ESC/RESC, angenommen, daß sie bei genereller Transformation beziehungsweise Adaption innerstaatliche Individualrechte statuieren (in Hinblick auf beide Verbürgungen Neubeck [Fn. 41], S. 180; vgl. für Art. 6 Nr. 4 ESC Bruno Lombaert, La grève des fonctionnaires, in: Mélanges Pierre Lambert, 2000, 517 [532]). Zur Kritik an dieser Mindermeinung, die maßgeblich auf die besondere 250
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übrigen selbst dann annehmen müssen, wenn man die hier vertretene These ablehnt, wonach die völkerrechtsverbindlichen Grundrechtsverbürgungen des ESC-Regimes bereits völkerrechtliche Indivualberechtigungen statuieren. Denn für die Frage, ob generell transformierte beziehungsweise adaptierte Völkerrechtsverträge im Rahmen der innerstaatlichen Rechtsordnung Individualrechte erzeugen, kommt es nach allgemeiner Ansicht nicht darauf an, daß sie zugleich auch völkerrechtsunmittelbare Individualberechtigungen normieren. Vielmehr können infolge ihrer Transformation beziehungsweise Adaption auch völkerrechtsvertragliche Bestimmungen, die – wie in der Regel – ausschließlich die Rechtsbeziehungen der Vertragsstaaten untereinander betreffen, innerstaatlich subjektiv-öffentliche Individualrechte begründen. Ob dies der Fall ist, muß durch Auslegung ermittelt werden 254 . Im Fall der ESC sprechen diejenigen Gründe, die bereits für eine völkerrechtsunmittelbare Gewährung von Individualrechten ins Feld geführt wurden, mutatis mutandis dafür, daß die sozialen Rechte der ins staatliche Recht rezipierten ESC jedenfalls innerstaatlich subjektiv-öffentliche Individualrechte vermitteln 255 . Dies gilt wohlgemerkt auch in Hinblick auf diejenigen sozialen Rechte, die nicht objektiv self-executing sind. Denn da die Charta insofern ebenfalls bestimmte innerstaatliche Rechtswirkungen zeitigt, können in diesem Umfang auch für die innerstaatliche Rechtsordnung subjektiv-rechtliche Positionen von Einzelmenschen anerkannt werden. Soweit daher die als non-self-executing zu qualifizierenden Charta-Verpflichtungen infolge der innerstaatlichen Rezeption von Behörden und Gerichten als für die Normauslegung und Ermessensausübung maßgebliche Rechtsvorgaben beachtet werden müssen, kann dies von den insoweit begünstigten Individuen auch subjektiv-rechtlich eingefordert werden. Der Annahme, daß generell transformierte beziehungsweise adaptierte Charta-Verpflichtungen auch bei objektiver Vollzugsunfähigkeit innerstaatlich subjektiv-öffentliche Rechte vermitteln, widerstreitet es des weiteren nicht, daß diese subjektiv-öffentlichen Rechte vielfach nur auf den Erlass parlamentsgesetzlicher Regelungen gerichtet sein können. Speziell in Hinblick auf die deutsche Rechts- und Verfassungsordnung bedarf dies freilich nicht der näheren Erörterung. Denn manchen deutschen Juristen mag es gleich in zweierlei Hinsicht befremden, wenn hier beiläufig die These aufgestellt wird, die von der Bundesrepublik innerstaatlich ratifizierte ESC entbinde innerstaatlich nicht zuletzt auch subjektiv-öffentliche Rechte auf Erlaß formeller Gesetze. ___________ sprachliche Gestalt der beiden fraglichen Grundrechtsverbürgungen („und anerkennen“) abstellt, vgl. bereits oben Fn. 239. 254 Rojahn (Fn. 248), S. 127. 255 Anderer Ansicht Murswiek (Fn. 93), Rn. 53.
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So könnte dieser These erstens entgegenstehen, daß ein gegen den Parlamentsgesetzgeber gerichteter Normerlassanspruch für die durch die innerstaatlich rezipierte ESC Berechtigten nach deutschem Recht gerichtlich überhaupt nicht durchsetzbar ist. Denn anerkanntermaßen existiert weder ein fachgerichtlicher Individualrechtsbehelf gegen ein (Teil-)Unterlassen des Parlamentsgesetzgebers 256 , noch sind die innerstaatlich gültigen Charta-Bestimmungen verfassungsbeschwerdefähig 257 . Überzeugen könnte dieser Einwand freilich nur, wenn nach deutschem Recht die Klagbarkeit als Voraussetzung subjektivöffentlicher Rechte anzusehen wäre. Dies aber ist nicht der Fall 258 . Zwar ist ein Individualinteresse, wenn es gerichtlich verfolgbar ist, stets als subjektives Recht zu qualifizieren. Jedoch ergibt sich bereits aus Art. 19 Abs. 4 GG, daß nach deutschem Verständnis subjektiv-öffentliche Recht nicht denknotwendig auf gerichtlichem Weg durchsetzbar sein müssen; andernfalls nämlich wäre diese Verfassungsbestimmung überflüssig 259 . Hinzu kommt, daß das Grundgesetz durchaus auch andere Arrangements zur Durchsetzung von Individualrechten gewährleistet, nämlich das Wahl- und Petitionswesen sowie eine durch Kommunikations- und Assoziationsrechte verfaßte Zivilgesellschaft 260 . Die hier vertretene Auffassung, daß Charta-Bestimmungen innerstaatlich subjektivöf-fentliche Rechte auf den Erlaß von Parlamentsgesetzen zu begründen vermögen, scheitert daher nicht schon daran, daß die insofern Berechtigten den Erlass der betreffenden parlamentsgesetzlichen Regelungen gerichtlich nicht erzwingen können 261 . ___________ 256 Verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz scheidet deshalb aus, weil ein Unterlassen des Parlamentsgesetzgebers immer nur Streitigkeiten verfassungsrechtlicher Art begründen kann (vgl. § 40 VwGO sowie BVerwGE 75, 330 [334 f.] und Wolf-Rüdiger Schenke, Rechtsschutz gegen das Unterlassen von Rechtsnormen, in: VerwArch. 83 [1991], S. 307 [325]). 257 BVerfGE 88, 108 (112). 258 So zutreffend schon Otto Bühler, Die subjektiven öffentlichen Rechte und ihr Schutz in der deutschen Rechtsordnung, 1915, S. 15 und 55; auch Rainer Wahl, in: F. Schoch / E. Schmidt-Aßmann / R. Pietzner (Hrsg.), VwGO, Stand: September 2003, Vorb § 42 Abs. 2 Rn. 45. 259 In diesem Sinn bereits Otto Bachof, Reflexwirkungen und subjektive Rechte im öffentlichen Recht, in: ders. u.a. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Walter Jellinek, 1955, S. 287 (300). 260 Überzeugend Gerhard Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987, S. 159. 261 Dies gilt im übrigen auch dann, wenn man das Vorliegen eines subjektivöffentlichen Rechts nicht nur an das Vorliegen einer öffentlich-rechtlichen Norm mit Individualbegünstigungszweck knüpft (BVerwGE 7, 354 [355]; Peter Michael Huber, Konkurrentenschutz im Verwaltungsrecht, 1991, S. 100 ff., insbesondere S. 104 ff.), sondern zusätzlich verlangt, daß die betreffende Norm auf die Einräumung von Rechtsmacht abzielt (Hans-Uwe Erichsen, Das Verwaltungshandeln, in: ders. / D. Ehlers, Allgemeines Verwaltungsrecht, 12. Aufl., 2002, § 11 Rn. 31). Denn das RechtsmachtKriterium ist von der Frage der Klagebefugnis scharf zu trennen (vgl. Arno Scherzberg, Grundlagen und Typologie des subjektiv öffentlichen Rechts, in: DVBl. 1988, S. 129
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Allerdings mag diese Sichtweise zweitens deshalb als problematisch erscheinen, weil die Charta innerstaatlich nur den Rang eines einfachen Gesetzes innehat 262 und daher die Frage im Raum steht, ob sich der Gesetzgeber überhaupt selbst zum Erlaß eines Gesetzes verpflichten und in diesem Zusammenhang gegen ihn gerichtete subjektiv-öffentliche Rechte begründen kann. Nach richtiger Auffassung kommt eine rechtswirksame Bindung des Parlamentsgesetzgebers an die in parlamentsgesetzlichem Rang rezipierten Charta-Vorgaben und damit auch an die daraus resultierenden subjektiv-rechtlichen Normerlaßansprüche insoweit in Betracht, als diese Bindung durch den Erlaß eines bewußt abweichenden Parlamentsgesetzes auflösend bedingt ist: Zu Recht wird die freiwillige Selbstbindung des Gesetzgebers in der Literatur nur dann problematisiert, wenn sich das Selbstbindungsgesetz gegenüber dem abweichenden lex posterior durchsetzen soll 263 . Solange der Gesetzgeber seinen Derogationswillen aber noch nicht artikuliert hat, gibt es keinen rechtstheoretischen oder demokratierechtlichen Grund, die Selbstbindung des Gesetzgebers und eine damit verbundene Gewährung von subjektiv-öffentlichen Rechten für rechtlich irrelevant zu erklären. Dies gilt umso mehr, als diese Bindung des Gesetzgebers an selbst gesetztes Recht insofern zusätzlich noch durch das normhierarchisch übergeordnete Grundgesetz vermittelt wird. Denn aus dem rechtsstaatlichen Grundsatz der Normenklarheit 264 folgt, daß der Gesetzgeber sich nicht ausdrücklich an Vorgaben aus völkerrechtlichen Vorgaben binden und zugleich seine rechtliche Ungebundenheit behaupten kann. In dieser Perspektive stellt sich die Bindung des Gesetzgebers an die aus der innerstaatlichen Rezeption der Charta erwachsenden Gesetzgebungspflichten und Normerlassansprüche als Folge einer rechtlich anerkanntermaßen unproblematischen Fremdbindung dar. Freilich endet diese Bindung des Gesetzgebers mit dem Erlaß eines von den völkerrechtsvertraglichen Verpflichtungen bewußt abweichenden Gesetzes. Denn ebenso wie er sich autonom binden kann, vermag der Gesetzgeber diese Selbstbindung auch wieder zu lösen 265 . Abweichendes gilt nur, sofern Verfassungsrecht entgegensteht 266 . Dies aber ist hier nicht der Fall, denn weder der Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Haltung des Grundge___________ (131 f.); Michael Sachs, Die Grundrechte als objektives Recht und als subjektive Rechte, in: K. Stern [Fn. 72], S. 473 (536 f.]). 262 Vgl. Neubeck (Fn. 41), S. 159 ff. 263 Vgl. Franz-Joseph Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S. 168 ff., mit weiteren Nachweisen sowie zuletzt Anna Leisner-Egensperger, Selbstbindung des Gesetzgebers, in: ThürVBl. 2004, S. 25 ff. 264 Dazu nur Helmuth Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 1998, Art. 20 (Rechtsstaat) Rdnr. 129. 265 Vgl. Hartmut Maurer, Kontinuitätsgewähr und Vertrauensschutz, in: J. Isensee / P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 3, 1988, § 10 Rn. 63. 266 Zum Beispiel auf Grund des allgemeinen Gleichheitssatzes beziehungsweise wegen des durch das Rechtsstaatsprinzip verbürgten Vertrauensschutzes.
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setzes noch der gemäß Art. 25 GG innerstaatlich mit Übergesetzesrang gültige Rechtsgrundsatz der Vertragstreue oder gar das Rechtsstaatsprinzip vermögen die insofern klare Aussage von Art. 59 Abs. 2 GG zu überspielen, der als lex specialis das Transformations- beziehungsweise Adoptionsgesetz zur Disposition des einfachen Gesetzgebers stellt 267 . Doch bleibt immerhin festzuhalten, daß non-self-executing Bestimmungen der ESC-Instrumente, solange sie nicht aufgehoben wurden, subjektiv-öffentliche Normerlaßansprüche gegen den Parlamentsgesetzgeber entbinden können. Diese können die Anspruchsberechtigten in Deutschland zwar gegenwärtig noch nicht gerichtlich durchsetzen 268 . Doch mag sich dies eines nicht zu fernen Tages ändern. Schließlich möchte eine im Vordringen befindliche Lehrmeinung die Geltung von Art. 19 Abs. 4 GG auf die parlamentarische Gesetzgebung erstrecken 269 . 4. Europarechtliche Implikationen Schon die Überlegungen zur innerstaatlichen Relevanz der ESC haben verdeutlicht, wie potenziell tiefgreifend sich das Regime der Charta auf die Sozialordnung in Europa auswirken kann. Dies gilt umso mehr, als die ESCInstrumente nicht nur eine vertikale, die europäischen Vertragsstaaten unmittelbar erfassende Wirkrichtung haben. Hinzu tritt, daß sie in einer gewissermaßen horizontalen Wirkungsdimension auch die anderen europäischen Rechtsregime beeinflußt. So weigert sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zwar, die Einhaltung der Sozialcharta zu kontrollieren und Verstöße hiergegen zu ahnden; er betont jedoch gleichzeitig, daß die Sozialcharta als Inspirationsquelle durchaus Bedeutung für Anwendung der EMRK haben kann 270 . Dies gilt umso mehr, als es – wie der EGMR schon früh betont hat – keine strikte, wasserdichte Trennlinie zwischen bürgerlichen und politischen Freiheiten einerseits und sozialen Grundrechten andererseits gibt 271 . Insofern kann es sich als geboten erweisen, einzelne Gewährleistungen der EMRK mit Rücksicht auf die entsprechenden Dispositionen der Sozialcharta und die dazu ergangene Rechtsprechung des EKSR näher zu konkretisieren 272 . ___________ 267
Vgl. dazu bereits Alexis v. Komorowski, Europarechtskonforme Beiladungspraxis im Normenkontrollverfahren, in: BayVBl. 2003, S. 360 (362), hinsichtlich der EMRK; anderer Ansicht offenbar Leisner-Egensperger (Fn. 263), S. 30. 268 Vgl. oben Fn. 256 und 257. 269 Dazu etwa Helmuth Schulze Fielitz, in: Dreier (Fn. 44), Art. 19 IV Rn. 50. 270 EGMR, Zehnalová et Zenhal c. République Tchèque, Recueil 2002-V, S. 317 (333). 271 Grundlegend EGMR, Airey c. Irlande, A-32 Rn. 26. 272 Paradigmatisch EGMR, Sigurdur A. Sigurjónsson c. Islande, A-44 Rn. 44. Eingehend zur Bedeutung der ESC für die Auslegung der EMRK Frédéric Sudre, Les droits sociaux et la Convention européenne des droits de l’homme, in: RUDG 2000, S. 28 ff.; vgl. dazu auch schon Bleckmann (Fn. 114), S. 391 ff.
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Auch das Recht der Union steht nicht beziehungslos neben den ESCInstrumenten. So wird die ESC sowohl durch die Präambel zum Vertrag über die Europäische Union als auch durch die sozialpolitische Ziel- und Grundsatzvorschrift des Art. 136 EGV in Bezug genommen 273 . Des weiteren können ESC/RESC-Bestimmungen jedenfalls insofern zur Entwicklung allgemeiner Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts herangezogen werden 274 , als sie im Rahmen des À-la-carte-Prinzips 275 von allen Mitgliedstaaten akzeptiert worden sind 276 . Infolgedessen dienen die ESC-Instrumente mitunter auch der Konkretisierung der (noch) ungeschriebenen Gemeinschaftsgrundrechte 277 . Denn bei diesen handelt es sich nach der in Art. 6 Abs. 2 EUV positivierten Rechtsprechung des EuGH um solche allgemeinen (Rechts) Grundsätze des Gemeinschaftsrechts 278 . ___________ 273 Welche rechtlichen Konsequenzen aus der Inbezugnahme der ESC in Art. 136 EGV zu ziehen sind, ist noch nicht abschließend geklärt. Überwiegend will man die ESC allenfalls als Auslegungshilfe bei der Interpretation von Gemeinschaftsrecht gelten lassen (so etwa Sebastian Krebber, in: Chr. Calliess / M. Ruffert [Hrsg.], Kommentar zur EU-Vertrag und EG-Vertrag, 2. Aufl., 2002, Art. 136 Rn. 34 ff.; Robert Rebhahn, in: J. Schwarze [Hrsg.], EU-Kommentar, 2000, Art. 136 Rn. 11). Indes dürfte der Verweis auf die ESC darüber hinaus auch noch eine formelle sowie materielle Rechtfertigungslast begründen: EG-Organe verstoßen gegen Art. 136 EGV, wenn sie eine mit ESC-Verbürgungen konfligierende Maßnahme ergreifen, ohne diesen Konflikt zu reflektieren beziehungsweise das Abgehen von der ESC durch legitime Gemeinschaftszwecke rechtfertigen zu können (ansatzweise in diese Richtung Ulrich Zachert, Auf dem Weg zu europäischen Arbeitnehmergrundrechten, in: NZA 2000, 621[623]). 274 Es ist unstreitig und entspricht auch der Praxis des EuGH, daß bei der Konkretisierung von allgemeinen Rechtsgrundsätzen zwar zunächst und zuvörderst auf die gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten abzustellen ist, daneben aber auch die von den Mitgliedstaaten abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträge über den Schutz der Menschenrechte herangezogen werden können (vgl. nur Charlotte Gaitanides, in: H. von der Groeben (J. Schwarze, Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, Bd. 4, 2004, Art. 220 Rn. 21). 275 Dazu oben II. 2. b) bb). 276 Die von allen fünfundzwanzig EU-Mitgliedstaaten anerkannten ESC/RESCBestimmungen sind: Art. 1 Nrn. 1 bis 3 (Recht auf Arbeit); Art. 11 (Recht auf Schutz der Gesundheit); Art. 12 Nr. 1 (Recht auf soziale Sicherheit); Art. 13 Nrn. 2 und 3 (Recht auf Fürsorge), Art. 14 Nrn. 1 und 2 (Recht auf Inanspruchnahme sozialer Dienste); Art. 17 (Recht der Mütter und der Kinder auf sozialen und wirtschaftlichen Schutz). 277 Paradigmatisch hierfür EuG, Forges de Clabecq SA gg. Kommission, Slg. 1999 II, S. 859, Rn. 121 ff. hinsichtlich des in der ESC verbürgten Rechts auf Arbeit. Vgl. auch Ulrich Zachert (Fn. 273), S. 623 f. 278 Dieser Sichtweise läßt sich insbesondere nicht entgegenhalten, Art. 6 Abs. 2 EUV beschränke die für die Konkretisierung der ungeschriebenen Gemeinschaftsgrundrechte maßgeblichen Rechtserkenntnisquellen auf die dort ausdrücklich aufgeführten, also auf die EMRK und die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen (so aber Thorsten Kingreen, in: Calliess / Ruffert [Fn. 273], Art. 6 Abs. 2 EUV Rn. 40 ff.) . Denn aus Art. 2 Abs. 1 5. Spiegelstr. sowie 47 EUV erschließt sich, daß Art. 6 Abs. 2 EUV den acquis communautaire unberührt gelassen hat und mithin auch die für die Gemeinschaftsgrund-
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Schließlich, aber nicht zuletzt standen ESC beziehungsweise RESC bei nicht wenigen Verbürgungen der Grundrechtscharta Pate, und zwar insbesondere bei den Grundrechtsverbürgungen des Solidaritätskapitels 279 . Gerade auch in Hinblick darauf, daß das Präsidium des Grundrechtskonvents in seinen für künftige Charta-Interpretationen hochrelevanten Erläuterungen 280 die besondere Bedeutung der ESC für die betreffenden Grundrechte offen gelegt hat 281 , ist mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, daß den ESC-Instrumenten, aber auch der dazu ergangenen Jurisdiktion des EKSR 282 in den kommenden Jahren eine bis vor Kurzem nur schwer vorstellbare Bedeutung und Wirkmacht zuwachsen wird 283 . Denn schon gegenwärtig kommt der Grundrechte-Charta eine mittelbare Außenrechtswirkung 284 zu 285 : Wiewohl noch nicht zum hard law erstarkt, kann sie als Rechtserkenntnisquelle herangezogen werden 286 , um die ___________ rechte relevanten Rechtserkenntnisquellen nicht verdünnt hat. Vgl. v. Komorowski (Fn. 267), S. 365. 279 Aber auch im Freiheits- sowie im Gleichheitskapitel finden sich Grundrechtsgewährleistungen, die von der ESC beziehungsweise der RESC inspiriert sind: vgl. Art. 15 und 26. 280 Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Text der Erläuterungen zum vollständigen Wortlaut der Charta, 2001. Anläßlich der Brüsseler EU-Regierungskonferenz im Juni 2004 ist die vom Grundrechtskonvent erarbeitete Präambel der Grundrechte-Charta in Hinblick auf ihre Aufnahme in den europäischen Verfassungsvertrag (Fn. 5) auf Betreiben Großbritanniens um die Passage ergänzt worden, daß die Charta von den Gerichten der Union und der Mitgliedstaaten auszulegen sei „unter gebührender Berücksichtigung der Erläuterungen, die auf Veranlassung und in eigener Verantwortung des Präsidiums des Konvents zur Ausarbeitung der Charta formuliert wurden.“ 281 Ebenda, S. 31, 33, 42, 45-52. 282 Dies wird man auch dann annehmen können, wenn diese Rechtsprechung – anders als die des EGMR (vgl. den fünften Erwägungsgrund der Charta-Präambel) – im Text der Grundrechtscharta nicht ausdrücklich in Bezug genommen wird. 283 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Meistbegünstigungsklausel in Art. 53 Grundrechtscharta; dazu Eibe Riedel, in: J. Meyer (Fn. 23), Vorbemerkung Kapitel IV, Rn. 35. Diese gilt zumindest in Hinblick auf diejenigen ESC-Bestimmungen beziehungsweise damit identischen RESC-Bestimmungen, die von allen EU-Mitgliedsstaaten anerkannt worden sind (vgl. Fn. 276). 284 Wenn hier bewußt von Außenrechtswirkung die Rede ist, dann deshalb, weil relativ unstreitig sein dürfte, daß die Grundrechtscharta rechtlich jedenfalls als Selbstbindungserklärung der an ihrer Proklamation beteiligten EU-/EG-Organe gewertet werden kann (so etwa Thomas Schmitz, Die Grundrechtscharta aus grundrechtsdogmatischer und grundrechtstheoretischer Sicht, in: JZ 2001, S. 833 [836]). 285 In diesem Sinn beispielsweise auch das EuG (etwa Philip Morris gg. Kommission, Slg. 2003 II, S. 1, Rn. 122) sowie die Europäische Kommission in ihrer Stellungnahme zur Grundrechte-Charta (CHARTE 4956), Rn. 10. Zum Ganzen Paul Craig / Graínne de Búrca, EU Law, 3. Aufl. 2003, S. 362 f. 286 Daß bei der Entwicklung von allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts auch soft law herangezogen werden kann, läßt sich an der Entscheidung EuGH, Johnston gg. Chief Constable of the Royal Ulster Constabulary, Slg. 1986, S. 1365, Rn.
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zu den allgemeine Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts zählenden Gemeinschaftsgrundrechte zu konkretisieren 287 . Hinzu tritt, daß die Grundrechtscharta fast unverändert 288 in den Entwurf einer Verfassung für Europa aufgenommen worden ist. Sollte die europäische Verfassung in Kraft treten, würde auch die – von ESC und RESC mit inspirierte – Grundrechtscharta unmittelbar rechtsverbindlich.
III. Schlußbemerkung Nach allem erweist sich das erst vor wenig mehr als zehn Jahren reanimierte Regime der ESC als ein nicht zu vernachlässigender Faktor in dem Prozeß europaweiter Verständigung über gemeinsame soziale Rechtsgrundsätze. Die nach wie vor vorhandenen und hier auch gar nicht abzuleugnenden Schwächen des Charta-Systems 289 können nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich in und mit ihm die soziale Wertedimension Europas rechtspraktisch entfaltet. Zugleich scheint das Charta-Regime angetan, die in der deutschen Staatsrechtslehre tradierten Vorbehalte gegen soziale Grundrechte zumindest abzuschwächen. Denn dogmatisch aufbereitet, erweisen sich die Verbürgungen des Charta-Regines als durchweg justiziabel. Ihre Implikationen für die Freiheitsrechte anderer erscheinen unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten als angemessen. Die Gewaltenteilung kann infolge der Differenzierung zwischen solchen Grundrechten, die self-executing sind und solchen bei denen dies nicht der Fall ist, in ausreichendem Maße gewahrt werden. Nicht zuletzt bleibt – jedenfalls im Ergebnis – die Budgethoheit des Parlaments geschützt. Wenn sich nun auf Grund der Erfahrungen auch mit den ESC-Instrumenten das Verhältnis der deutschen Staatsrechtslehre zu den sozialen Grundrechten
___________ 18. Vgl. auch Ingolf Pernice, Gemeinschaftsverfassung und Grundrechtsschutz, NJW 1990, S. 2408 (2414 f.). 287 Insbesondere widerstreitet es auch nicht Art. 6 Abs. 2 EUV, wenn bei der Konkretisierung der Gemeinschaftsgrundrechte auf das Unions-soft law zurückgegriffen wird. Denn daß in dieser Vertragsbestimmung nur zwei Rechtserkenntnisquellen aufgeführt sind, schließt es aus den bereits genannten Gründen nicht aus (siehe oben in Fn. 278), daneben noch weitere Rechtserkenntnisquellen zu berücksichtigen. 288 Zu den wenigen Ergänzungen vgl. Jürgen Meyer / Sven Hölscheidt, Die Europäische Verfassung des Europäischen Konvents, in EuZW 2003, S. 613 (618 ff.). 289 Vgl. dazu etwa Emilio Gabaglio / Gérard Fontenau /Klaus Lörcher, Der Europäische Gewerkschaftsbund zur Europäischen Sozialcharta: Errungenschaften, Defizite und Vorschläge zur Verbesserung, in: AuR 1997, 345 ff.; auch Jean-Pierre Marguénaud: La première décision du Comité européen des droits sociaux : de l’audace, déjà de l’audace à propos du travail familial des enfants, in: RTD civ. 2000, S. 937 f.
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entkrampft 290 , so birgt dies eine doppelte Chance. Zum einen wird dann wohl tatsächlich mit der Unterstützung der grundrechtsdogmatisch erfahrungs- und erfindungsreichen deutschen Staatsrechtslehre gerechnet werden, wenn es darum geht, Europas soziale Werte durch die effektive Gewährung sozialer Grundrechte einzulösen. Zum anderen führt eine Auseinandersetzung mit den sozialen Grundrechten die deutsche Staatsrechtslehre zu ihren altliberalen Quellen zurück, von denen sie sich entfernt hatte, als sie auf ihre Weise den deutschen Sonderweg mitgegangen ist 291 . Denn noch Mitte des 19. Jahrhunderts war die Idee der sozialen Grundrechte wie selbstverständlich in den Rechtsstaatskonzepten der deutschen Staatsrechtslehre angelegt. So umschreibt beispielsweise Robert von Mohls ‚Encyklopädie der Staatswissenschaften die Anspruchstellung des Staatsgenossen im Rechtsstaat folgendermaßen: „... nicht nur Berechtigung zur Verfolgung jedes an und für sich erlaubten Lebenszweckes, sondern auch Unterstützung in den dazu geeigneten Fällen“ 292 . An solches Denken wiederanzuknüpfen schuldet die deutsche Staatsrechtslehre sich und der in sozialen Rechtsgrundsätzen zu konkretisierenden europäischen Wertegemeinschaft. * * *
Abstract Alexis von Komorowski: The Contribution of the European Social Charter to the European community of values, In: The European Union as a community of values. Ed. by Dieter Blumenwitz, Gilbert H. Gornig (Berlin 2005) pp. 99-157. It would be inconsistent with Europe’s common values if those disadvantaged by the globalization process were left behind without proper social protection. Yet, the necessary social protection cannot be guaranteed any longer solely by individual states As a community of values the European states should therefore strive to overcome the diversity of their respective social welfare systems and to enact further agreements promoting the implementation of social legal principles. Most importantly it seems, for various reasons, to be unavoidable that fundamental social rights – step by step – become part of European “hard” law. In this context, the European Social Charter (ESC) is of ___________ 290 Wie verkampft es gegenwärtig noch ist, hat sich zuletzt daran gezeigt, daß sich die deutsche Staatsrechtslehre kaum in die Debatte um die Aufnahme sozialer Grundrechte in die Grundrechte-Charta eingebracht hat (so Bernsdorff [Fn. 24], S. 2). 291 Vgl. Heller, Begriff des Gesetzes (Fn. 49), S. 210 f. und 224; ders., Rechtsstaat oder Diktatur, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2 (Fn. 49), S. 443 (449). 292 Robert von Mohl, Staatswissenschaften, 1. Aufl., 1859, S. 329.
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particular importance, which, as of today, is the only significant stipulation of fundamental social rights in positive European law. However, in spite of the above-mentioned concerns, there are attempts by various scholars to downplay the legal validity and scope of the social guarantees in the ESC. On the one hand, the binding force of the obligations imposed upon states parties to the ESC has been questioned; on the other hand, the effects of the ESC in national law have been construed as being neglectable. Such views cannot survive scrutiny. An unbiased analysis shows that the ESC imposes substantive legal duties on states. These duties are not limited to an obligation to respect social fundamental rights by refraining from infringement upon these rights. Rather states, in addition, must actively implement these rights by means of social services and protect them against violations from third parties. Moreover, many rights under the ESC are self-executing. These rights are directly applicable in most state parties to the ESC and, in particular, in Germany. Those ESC-guarantees which are not self-executing must at least be given due consideration by national courts and administrative authorities.
Das Recht auf die Heimat im Recht der Europäischen Union Von Dieter Radau Folgende These werde ich begründen: Das Recht auf die Heimat wird vor Aufnahme der zehn Staaten gemäß Beschluß des Rates in Kopenhagen Bestandteil des Rechts der Europäischen Union sein.
Somit werden als Hauptpunkte der Gliederung behandelt im 1. Abschnitt (I), Darlegungen zum Rechtsbegriff „Heimat“ sowie zu Ausformung und Qualifizierung des Rechts auf die Heimat, im 2. Abschnitt (II), Ausführungen zum vertragsrechtsverbindlichen sowie zum werdenden Recht innerhalb der EU, im Schlußabschnitt (III) Darstellung möglicher Ansprechpartner.
I. Die Stuttgarter „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ vom 5. August 1950 enthält grundlegende, auch rechtlich relevante Aussagen zum Gegenstand „Heimat“: „Wir haben unsere Heimat verloren. Heimatlose sind Fremdlinge auf dieser Erde. Gott hat die Menschen in ihre Heimat hineingestellt. Den Menschen mit Zwang von seiner Heimat trennen, bedeutet, ihn im Geist zu töten. Wir haben dieses Schicksal erlitten und erlebt. Daher fühlen wir uns berufen zu verlangen, daß das Recht auf die Heimat als eines der von Gott geschenkten Grundrechte der Menschheit anerkannt und verwirklicht wird.“
Diese Formulierungen verdeutlichen zum einen, daß „Heimat“ als wesentliches Element des Menschsein, als existenziell-werthaftes Gut, zum anderen, daß sie als Bezugsobjekt einer Ordnung des Rechts gesehen wird. Vergleichbares sucht man im geltenden Völkerrecht vergeblich. Auch im innerstaatlichen Bereich ist lediglich ein einziger Fall bekannt, in dem mit Normqualität dieser Komplex ausdrücklich fixiert worden ist: In § 3 des „Kapitel 1 – Grundlegende Bestimmungen“ des Ungarischen Gesetzes „über die Rechte der nationalen und ethnischen Minderheiten“ vom 6. Juli 1993 heißt es: „Jede Minderheitengemeinschaft und jede zu einer Minderheit gehörende Person hat ein Recht auf die Ungestörtheit des Lebens in der Heimat und des Kontaktes
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zur Heimat. Das Recht auf die Heimat bedeutet die Freiheit und den Schutz der Bindung nicht nur zum eigenen Heimatort, sondern auch zum Geburts- oder Wohnort der Eltern, Erzieher, Urahnen, zur alten Heimat sowie zu deren Kultur und Tradition.“
Von wesentlicher inhaltlicher Bedeutung für die Definition sind die Worte „Ungestörtheit und „Freiheit“: Hiermit ist das Element angesprochen, das für den Begriff Heimat von entscheidender Bedeutung ist: Die Freiheit zur selbstbestimmten Lebensgestaltung. Hinzu tritt das Moment des „Raumes“. Heimat ist gegeben in bezug auf einen bestimmten Menschen und nur auf einen bestimmten Ort, in den er hineingeboren oder an dem er Wohnsitz genommen hat – es gibt nur die Heimat, das Zuhause. Dieser örtliche Bereich wiederum ist in seiner landschaftlichen und geschichtlichen Ausformung von besonderer Eigenart, einmalig. Innerhalb dieses Lebensraumes ist schließlich das Umfeld von wesentlicher Bedeutung – Gemeinschaftsbezüge und -verflechtungen, in denen der Einzelne Geborgenheit empfindet. Bündelt man diese wesentlichen Elemente in einem Satz, kann man „Heimat“ wie folgt definieren: „Heimat ist der durch Geschichte und Landschaft, in seiner Eigenart geformte, überschaubare und vertraute örtliche Bereich von auf Dauer angelegter, selbstbestimmter Lebensgestaltung des Einzelnen innerhalb bergender Gemeinschaftsbezüge.“
Im Anschluß an diese Definition des Rechtsgutes Heimat ist die Frage nach der juristischen Begriffsbestimmung des „Recht auf die Heimat“ zu beantworten. Dieses Recht will zweierlei garantieren: den völkerrechtlichen Individualanspruch auf unbehelligtes Verweilen im angestammten oder frei gewählten Heimatraum ebenso wie den auf jederzeitige unbehinderte Rückkehr, genauer: auf Gestattung der Neubegründung von Heimat. Beide Ausformungen werden bekräftigt in einer „Erklärung“ der UN-Unterkommission „für Diskriminierungsverhütung ...“ vom 22. August 1997 1 . Die einschlägigen Passagen lauten: Artikel 4: „Jeder Mensch hat das Recht, in Frieden, Sicherheit und Würde in seiner Wohnstätte, in seiner Heimat und in seinem Land zu verweilen. 1. Niemand darf dazu gezwungen werden, seine Wohnstätte zu verlassen. 2. Die Verbringung einer Bevölkerung oder von Bevölkerungsteilen darf nicht angeordnet, angeregt oder durchgeführt werden, es sei denn, ihre Sicherheit oder zwingende militärische Gründe verlangen es. Alle auf diese Weise verbrachten Personen haben das Recht, unmittelbar nach Beendigung der Umstände, die ihren Ortwechsel erzwungen haben, zu ihren Wohnstätten, in ihre Heimat oder an ihre Herkunftsorte zurückzukehren.
___________ 1 Resolution zitiert nach Alfred de Zayas, Heimatrecht ist Menschenrecht, in: Universitas 2001, S. 73 f.
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Artikel 8: Jeder Mensch hat das Recht, in freier Entscheidung und in Sicherheit und Würde in das Land seiner Herkunft sowie innerhalb dessen an den Ort seiner Herkunft oder freien Wahl zurückzukehren. Die Ausübung des Rückkehrrechts schließt das Recht der Opfer auf angemessene Wiedergutmachung nicht aus, einschließlich der Rückgabe von Gütern, die ihnen im Zusammenhang mit dem oder als Ergebnis des Bevölkerungstransfers entzogen wurden. Entschädigung für jegliches Eigentum, das ihnen nicht zurückgegeben werden kann und allfällig andere, völkerrechtliche vorgesehene Reparationen.“
Diese Formulierungen sind im Konsens sowohl von der UN-Menschenrechtskommission – am 17. April 1998/ Decision Nr. 1106 – als auch vom Wirtschafts- und Sozialrat in seiner Entscheidung 1998/292 übernommen bzw. bestätigt worden 2 . Die gleichsam zusammenfassende Beschreibung des Rechts auf die Heimat, insbesondere seiner Verletzung durch zwangsweise Trennung ansässiger Bevölkerung von ihrem Heimatraum, ist kein neuer schöpferischer Akt, sondern das Ergebnis einer Entwicklung, die jedenfalls vor Beginn des Zweiten Weltkrieges bereits eine allgemeine Völkerrechtsregel herausgebildet hatte. Sie war rechtliche Grundlage außenpolitischer Verlautbarungen wie für politische Aktionen der Vereinten Nationen. Hierfür zwei Beispiele: Anläßlich der Annahme der Atlantik Charta in London am 24. September 1941 erklärte der damals geschäftsführende Außenminister der polnischen Exilregierung Edward Raczynski: „Die polnische Regierung ist zuversichtlich, daß keine der von Deutschland auf dem Gebiete Polens begangenen illegalen Handlungen von den siegreichen Demokratien anerkannt werden wird. ... Insbesondere muß der polnischen Bevölkerung der Westprovinzen, die so skrupellos umgesiedelt wurde, die Möglichkeit einer sofortigen Rückführung in das Land ihrer Vorfahren gegeben werden“. 3
Zur Palästina-Problematik hat die Generalversammlung der UN eine Reihe von Resolutionen verabschiedet, u. a. eine solche vom 22. November 1974; in dieser bestätigt (sie) das Recht der Palästinenser, in ihre Wohnstätten und zu ihrem Eigentum/ Besitztum zurückzukehren „to their homes and property“. 4 Abschließend ist anzumerken, daß der Terminus „Recht auf die Heimat“ im positiven Völkerrecht nicht verankert ist. Dies leitet über zum nächsten Abschnitt.
___________ 2
De Zayas, a. a. O., S.76. Vgl. Alfred de Zayas, Die Vertreibung in völkerrechtlicher Sicht, bei Blumenwitz, Dieter, Flucht und Vertreibung, München 1987, S. 246 m. w. N. 4 Dieter Blumenwitz, Flucht und Vertreibung, München 1987, S. 46 m. w. N. 3
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II. Es ist die Frage zu beantworten, ob das Recht auf die Heimat auf den „Vertrag über die Europäische Union“ vom 7. Februar 1992 i. d. F. vom 2. Oktober 1997 (Vertrag von Amsterdam) gestützt werden kann. Grundsätzlich kommen insoweit der erste Absatz sowie der 1.Teilsatz des Absatzes 2 in Artikel 6 (exArtikel F) in Betracht: „Die Union beruht auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit; diese Grundsätze sind allen Mitgliedstaaten gemeinsam. (2) Die Union achtet die Grundrechte, wie sie in der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind ...“.
Die in der EMRK niedergelegten Rechte und Freiheiten sind: Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie der Anspruch auf Achtung des Privat- und Familienlebens, der Wohnung und des Briefverkehrs, auf Gedanken- und Religionsfreiheit sowie auf freie Meinungsäußerung. Es sei angemerkt, daß die Rechtspflicht zur Achtung europaweit geltender Grundrechte nicht „Eigentum“ und „Ausweisungsverbot“ umfasst – diese sind erst zwei bzw. dreizehn Jahre nach Unterzeichnung der Konvention Gegenstand des Grundrechtschutzes geworden. 5 Aus dem Umstand, daß sich der 2. Absatz ausschließlich auf in der EMRK positivierte Normen bezieht, ist zu folgern, daß unter „Menschenrechten und Grundfreiheiten“ in Art. 6 Abs. 1 ausschließlich diejenigen verstanden werden dürfen, die weltweit als spezifische Menschenrechtsnormen anerkannt worden sind. Dazu gehört – unter Berücksichtigung der thematischen Aufgabenstellung – auch das Menschenrecht auf Freizügigkeit gemäß Art. 12 Abs. 1 des „Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte“ vom 19. Dezember 1966 6 (IPBR): „Jedermann, der sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Staates aufhält, hat das Recht, sich dort frei zu bewegen und seinen Wohnsitz frei zu wählen.“
Der Rechtspflicht der Union und ihrer Mitglieder entspricht der in Artikel 12 EG-Vertrag geregelte Anspruch eines jeden „Unionsbürgers“. Er ist zwar ein wesentliches Element des Rechtes auf die Heimat, nicht jedoch dieses selbst: er beinhaltet nicht das Recht auf Rückkehr zu Heimat und Eigentum. ___________ 5 1. Zusatzprotokoll vom 20.03.1952 - BGBl. 1956 II, S. 1879; Protokoll Nr.4 vom 16.09.1963 - BGBl. 1968 II, S.422. 6 BGBl. 1973 II, S. 1533.
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Nach allem bildet der „Vertrag Über die Europäische Union“ in seiner derzeit geltenden Fassung keine Rechtsgrundlage für das von den deutschen Heimatvertriebenen in Anspruch genommene Recht auf die Heimat. Dieses kann als (noch) nicht bindendes, in der Entwicklung befindliches, als werdendes Menschenrecht bewertet werden. Sein „mühsamer Weg zu Anerkennung und Verwirklichung“ 7 erinnert an die Entwicklung des Rechts auf Selbstbestimmung der Völker: nach jahrzehntelangen Auseinandersetzungen in Lehre und Rechtsprechung ist es in dem Augenblick als unbestrittener Bestandteil geltenden Völkerrechts qualifiziert worden, als es in Art. 1 Abs. 1 IPbpR ausdrücklich angeführt worden war: „Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung.“
Zwar nicht als Menschenrecht, aber das Recht auf die Heimat als Recht des Menschen auf selbstbestimmte Gestaltung heimatlichen Lebensraums wird als Grundrecht von allen Mitgliedstaaten der EU zu respektieren sein. Sie werden Anfang 2004 den Verfassungsvertrag ratifiziert haben, dessen Kern die am 7. Dezember 2000 vom Europäischen Rat in Nizza feierlich proklamierte „Charta der Grundrechte“ sein wird. Dieser „Grundvertrag“ ergänzt rechtsverbindlich in wesentlichen Bereichen den in Art. 6 des geltenden EU-Vertrages niedergelegten Katalog grundsätzlicher Mitgliedspflichten. Relevant sind Teile der Präambel, des Kapitels I „Würde des Menschen“, des Kapitels II „Freiheiten“, des Kapitels III „Gleichheit“ sowie des Schlußkapitels VII „Allgemeine Bestimmungen“. In Art. 52 Abs. 3 – im Kapitel VII – wird ausdrücklich festgestellt, „daß das Recht der Union einen weitergehenden Schutz (als den der EMRK) gewährt“.
Gemäß Absatz 4 der Präambel gehören hierzu „auch die Rechte, die sich aus ... der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ergeben“.
Zum Dritten bestimmt Art. 52 Abs. 1: „Jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten muß gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten.“
Neuer, über den Schutzbereich der EMRK hinaus gehender, in seinem Wesensgehalt nicht einschränkbarer Bestandteil des Rechts der Union – die Ratifizierung des Verfassungsvertrages einschließlich des Grundvertrages unterstellt – ist der Rechtssatz des Artikel 19 Absatz 1: ___________ 7
Vgl. de Zayas, Heimatrecht ist Menschenrecht, a. a. O.
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„Kollektivausweisungen sind nicht zulässig“.
Hiermit sind die in Art. 3 Abs. 1 und Art. 4 des Zusatzprotokolls Nr. 4 zur EMRK normierten Ausweisungsverbote in einem Satz zusammengefaßt worden. Er bedeutet, ich wiederhole dies, keine Neuschöpfung, sondern ist die Kodifizierung seit Jahrzehnten bestehenden allgemein geltenden Völkergewohnheitsrechts. 8 Das „Vertreibungsverbot“ konkretisiert das „Recht auf die Heimat“. De Zayas 9 formuliert, dieses sei „durch das europäische Vertreibungsverbot kodifiziert“ worden, das „Verbot der Zwangsumsiedlungen“ sei „die Umkehrform des Rechtes auf die Heimat“.
Zu derselben Schlußfolgerung gelangt man bei Anwendung der „Auslegungsregel“ des Art. 31 Abs. 1 Wiener Vertragsrechtskonvention vom 22. Mai 1969, in Kraft seit 27. Januar 1980 10 . Sie lautet: „Ein Vertrag ist nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen.“
Kollektivausweisung ist also die zwangsweise Trennung der ansässigen Bevölkerung von ihrem Wohnsitz. Artikel 19 ist in Kapitel II plaziert, das als Menschenrechte anerkannte „Freiheiten“ aufführt, wie beispielsweise das „Recht auf Freiheit und Sicherheit“ (Artikel 6), den „Anspruch auf die Achtung des Privat- und Familienlebens“(Artikel 7) sowie das „Recht auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit“ (Artikel 12). Es handelt sich um Rechte, deren Ausübung freiheitliche Lebensgestaltung in Gemeinschaft beinhaltet. Mit dem Verbot der Vertreibung will die Charta das Rechtsgut Heimat vor fremdbestimmten Einwirkungen schützen. In der Präambel an hervorragender Stelle des zweiten Absatzes wird dies allgemein umschrieben mit den Sätzen: „... gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität ... . Sie stellt die Person in den Mittelpunkt ihres Handelns, indem sie die Unionsbürgerschaft und einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts begründet.“
Nach allem ist nunmehr das Recht auf Verweilen in der Heimat völkervertragsrechtlich bindend als Grundrecht der Union kodifiziert worden. Diese Recht ist verletzt worden durch Kollektivausweisungen; Vertreibungen und ethnische Säuberungen sind völkerrechtswidrig. Das den deutschen Vertriebenen angetane Unrecht dauert fort – Wiedergutmachung in Form der Gestattung der Rückkehr ist nicht geleistet. Die Rechtspflicht zur Wiedergutmachung ___________ 8
So ausgeführt in der Denkschrift der Bundesregierung, BT-Drs.V/1679, S. 8. De Zayas, Heimatrecht ist Menschenrecht, S. 61, 41. 10 Dieter Blumenwitz, Die Ostverträge im Lichte des internationalen Vertragsrechts, Bonn 1982, S. 68. 9
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beruht auf einem allgemeinen Rechtsgrundsatz. 11 Dieser ist im Einzelnen im zitierten Artikel 8 des Beschlußes der Menschenrechtskommission vom 17. April 1998 dargelegt; insonderheit gilt dies für den Umstand, daß die Rückkehr „zur Heimstätte und zum Eigentum“ zu gewähren ist. Wegen dieser grundsätzlichen Verbindung soll mit wenigen Worten die Eigentumsfrage angesprochen werden. Die Charta hat das Recht auf Eigentum in Art. 17 Abs. 1 ebenfalls als europäisches Grundrecht verankert: „Jede Person hat das Recht, ihr rechtmäßig erworbenes Eigentum zu besitzen, zu nutzen, darüber zu verfügen und es zu vererben. Niemandem darf sein Eigentum entzogen werden, es sei denn aus Gründen des Öffentlichen Interesses und nur in den Fällen und unter den Bedingungen, die in einem Gesetz vorgesehen sind, sowie gegen eine angemessene Entschädigung.“
Auf dieses Recht kann sich im Geltungsbereich der künftigen europäischen Verfassung jedermann berufen. Es entfaltet Wirksamkeit auch für die deutschen Heimatvertriebenen – ihre ursprünglichen Eigentumstitel bestehen fort; die entschädigungslosen diskriminierenden Konfiskationen haben eine Änderung der Rechtslage nicht herbeigeführt: sie haben gegen das völkerrechtsverbindliche Verbot in Artikel 46 der Haager Landkriegsordnung verstoßen, nach dem „Privateigentum nicht eingezogen werden darf.“ Diese Völkerrechtsregel ist im europäischen Geltungsbereich durch Artikel 1 Absatz 1 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK vom 20. März 1952 als „Recht auf Achtung des Eigentums“ verankert worden. Er entspricht im wesentlichen Art. 17 der Charta. Dies ist von Bedeutung für die Durchsetzung der Rechte auf die Heimat und auf Eigentum gleichermaßen. Die Bestimmung bildete die Grundlage einer einschlägigen Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs, dessen Rechtsprechung, wie erwähnt, die Wirksamkeit der „Grundrechte“ erhöht. Es handelt sich um den Fall „Loizidou gegen Türkei“. Im Urteil vom 18. Dezember 1996 hat der EGMR die Türkei aufgefordert, die Klägerin, deren Hausgrundstück im Zuge der Besetzung Nordzyperns im Juli 1974 enteignet worden war und der man wiederholt die Rückkehr verweigert hatte, nach Hause reisen zu lassen, um dort die Rechte gemäß Art. 1 Prot. I in Anspruch nehmen zu können. 12 Abschließend sei auf eine dritte Einzelbestimmung verwiesen, die die durch die Grundrechte-Charta eröffnete Rechtsposition der deutschen Heimatvertriebenen festigen wird: Art. 21 im Kapitel „Gleichheit“, in der Präambel als grundlegender, „unteilbarer und universeller Wert“ bezeichnet. In seinem ersten Absatz verbietet er u. a. „Diskriminierungen wegen der ethnischen Herkunft“. Der zweite Absatz lautet: ___________ 11 12
Blumenwitz, Flucht und Vertreibung, a. a. O., S. 59. De Zayas, Heimatrecht ist Menschenrecht, a. a. O., S. 97.
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Dieter Radau „Im Anwendungsbereich des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft und des Vertrages über die Europäische Union ist ... jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten.“
Diese klare unmißverständliche Formulierung ist zumindest geeignet, bestimmte Beitrittsbewerber zu veranlassen, in die erforderliche Restitutionsgesetzgebung auch deutsche Staatsangehörige einzubeziehen, die nicht auf ihrem Staatsgebiet leben.
III. Sechs zusammenfassende Thesen zum Abschluß: 1. Das Recht auf die Heimat ist nicht „Menschenrecht“ im Sinne der Grundsatzbestimmung des „Vertrages über die Europäische Union“. Seine Nichtbeachtung ist aus diesem Grunde kein Beitrittshindernis, jedoch gewiß auch kein Indiz für Beitrittsreife. 2. Das Recht auf die Heimat ist nach Ratifizierung des Europäischen Verfassungsvertrages Bestandteil des Rechts der Union und als solches Gegenstand der Mitgliedspflichten sämtlicher 25 EU-Staaten. 3. Die völkervertragsrechtliche Pflicht zur Achtung der Grundrechte auf die Heimat und auf Eigentum sowie auf Gleichbehandlung aller Unionsbürger bezieht auch die Unrechtshandlungen zu Lasten deutscher Heimatvertriebenen in den Jahren 1945 bis 1948 ein – ihre Folgen wirken bis zur Gegenwart fort. Die Erfüllung der Rechtsansprüche auf Rückkehr und Restitution wird gleichwohl nach wie vor völkerrechtswidrig verweigert. 4. Der Umstand, daß die genannten Rechte als „Europäische Grundrechte“ in der „Charta“ verankert worden sind, wird ihre Entwicklung zu weltweit anerkannten Menschenrechten nachhaltig fördern. Er ist zudem geeignet, die ihre Akzeptanz stärkende Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte – über den Einzelfall Titina Loizidou hinaus – zugunsten aller Opfer von Vertreibungen und Eigentumsentziehungen wesentlich zu festigen. 5. Die augenfällig verbesserte völkerrechtliche Grundlage sollte in der Endphase des BeitrittsProzeßes auch für die Bundesregierung Anlaß sein, ihre Haltung zur Gewährung diplomatischen Schutzes der ihrer Obhut anheim gegebenen deutschen Heimatvertriebenen zu überprüfen. Es liegt im Interesse aller beteiligten Staaten, in bilateralen Verhandlungen die offenen Fragen der Wiederherstellung verletzten ideellen und materiellen Rechts einer humanen und zumutbaren, insgesamt befriedenden Lösung zuzuführen. 6. Das Europäische Parlament ist „Ansprechpartner Nr. l“. Es hat seit Beginn des Beitrittsprozesses wiederholt den Primat des Rechts herausgestellt, seine Verwirklichung mit Nachdruck gefordert. Erwähnt seien die bekannten Resolutionen in Richtung Tschechische Republik und vor allem die aktuelle
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„Entschließung zu den Fortschritten jedes Bewerberlandes auf dem Weg zum Beitritt (P 5-TA - PROV(2002) 0536)“ vom 20. November 2002. In ihr werden u. a. Vertreibungen – unabhängig von Ort und Zeit ihrer Begehung – als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ gebrandmarkt sowie (Buchstabe O) die „Erwägung“ angeführt, „daß ethnisch bestimmte Maßnahmen, die zu kollektiver Vertreibung und zur Zerstörung kultureller Werte führen, eklatant gegen europäische Grundrechte und die gemeinsame Rechtskultur der Europäer verstoßen“.
Zum Dritten wird – in Ziffer 58 – ausdrücklich gesagt, „daß nach dem Beitritt (hier: Tschechiens) alle Bürger der Europäischen Union (auf dem Gebiet des beitretenden Landes) die gleichen Rechte haben.“
Insgesamt trägt die prononciert politisch-rechtliche Grundhaltung des Europäischen Parlaments die begründete Erwartung der deutschen Heimatvertriebenen, mit dem europäischen Recht auf die Heimat den richtigen Weg beschnitten zu haben. Es wird wahrlich Zeit, „daß das Recht auf die Heimat als eines der von Gott geschenkten Grundrechte der Menschheit anerkannt und verwirklicht wird“!
Zusammenfassung 1. Definition des a) Rechtsgut Heimat „Heimat ist der durch Geschichte und Landschaft geformte überschaubare und vertraute örtliche Bereich von auf Dauer angelegter selbstbestimmter Lebensgestaltung des Einzelnen innerhalb bergender Gemeinschaftsbezüge“ b) Recht auf die Heimat Zwei Ausformungen: Recht auf unbehelligte Ansässigkeit sowie auf jederzeitige ungehinderte Rückkehr in die Heimat. Beide sind beschrieben in der Entschließung der Menschenrechtskommission Nr. 1106 vom 17.04.1998 (dort Artikel 4; 8). 2. Rechtliche Qualifizierung a) Bereits vor dem 2. Weltkrieg allgemein anerkannte Völkerrechtsregel; Ihre Verletzung ist beispielhalber vom „Nürnberger Tribunal“ als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ geahndet worden. b) Das Recht auf die Heimat ist nicht Gegenstand völkerrechtsvertraglicher Mitgliedspflichten. Artikel 6 (1) des EU-Vertrages ist nicht anwendbar – das Recht auf die Heimat ist nicht „Menschenrecht“ wie etwa das „Recht auf Freizügigkeit“ (Art 18 (1) EG-Vertrag).
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c) Das Recht auf Verweilen in der Heimat wird nach Ratifizierung durch sämtliche dann 25 Mitgliedstaaten „Europäisches Grundrecht“ sein. Dies folgt aus der Formulierung „Kollektivausweisungen sind nicht zulässig“ in Artikel 19 (1) der „Charta der Grundrechte der Union“, die höchstwahrscheinlich Bestandteil des in einem Entwurf vorliegenden „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ werden wird. Strittig ist die Frage, ob der Verstoß etwa eine Vertragspflicht zur Gestattung der Rückkehr deutscher Heimatvertriebener auslöst. Diese Rechtsfolge erscheint denkbar zufolge der auch gegenwärtig anhaltenden/fortdauernden Versagung der Erfüllungspflicht. * * *
Abstract Dieter Radau: The Right to Homeland and the European Union, In: The European Union as a Community of Values. Ed. by Dieter Blumenwitz, Gilbert H. Gornig and Dietrich Murswiek (Berlin 2005) pp. 159-168. Homeland is the familiar and limited spatial area which was formed by history and landscape, which is permanently inhabited and which has the features of a society. The right to a homeland has two forms: the right of unmolested residence and the right to return unimpeded to ones homeland. Both forms are described in articles 4 and 8 of the resolution no. 1106 of the 17th of April 1998. The right to homeland is not an object of obligations assumed by states through treaties of international law. Article 6 of the EU Treaty does not apply to this case, as the right to homeland is not a human right such as the right to unrestricted mobility (article 18 parag. 1 EC Treaty). After the ratification of the European Constitution by 25 member states the right to reside in ones homeland will become “a European fundamental right”. It is controversial if for instance the violation of this right can oblige states to allow the return of German expellees. This legal consequence is conceivable as a result of the constant failure to accomplish the obligation of fulfilment.
Die Beneš-Dekrete. Eine Bestandsaufnahme im Lichte der tschechischen Beitrittsverhandlungen zur EU Von Dieter Blumenwitz Wie können Gesetze „gültig“ und doch nicht mehr „wirksam“ sein? Kann „erloschenes“ oder „totes Recht“ Bestandteil einer „geltenden“ Rechtsordnung werden? Was heißt „erloschen“ und, wenn erloschen, seit wann erloschen? – Diese und ähnliche juristische Fragen rücken in den Mittelpunkt der politischen Erörterungen, wenn es in dem Verfahren über den Beitritt der Tschechischen Republik zur Europäischen Union um den Einklang der Beneš-Dekrete mit der europäischen Völkerrechtsordnung geht.
I. Anfang Februar 2002 faßte ein in englischer Sprache erschienenes Dokument mit der Überschrift „Czechoslovak Presidential Decrees of 1940-1945“ den tschechischen Standpunkt zusammen. 1 Auf der Grundlage dieses Positionspapiers, das in den EU-Mitgliedsländern und in den EU-Gremien zirkulierte, versuchte das Tschechische Außenministerium mit Blick auf die Osterweiterung der Europäischen Union die Dekrete zu rechtfertigen. Das Positionspapier des tschechischen Außenministeriums begründet das Festhalten an den Beneš-Dekreten mit der für notwendig erachteten Kontinuität des tschechoslowakischen Staates („expression of the continuity of Czechoslovakia“). Diese Einschätzung übersieht die (gegenüber von „Vor-München“) revolutionären Umgestaltungen der alten Tschechoslowakei durch die Präsidialdekrete. Die Dekrete verwandelten das 1918 als Vielvölkerstaat konstituierte Staatswesen („Schweizer Modell in den böhmischen Ländern“) in einen slawischen Nationalstaat. 2 Durch die zahlreichen Durchbrechungen der Verfassung ___________ 1 Text bei D. Blumenwitz, „Czechoslovak Presidential Decrees of 1940-1945“. Ausführungen des Tschechischen Außenministeriums zu den Beneš-Dekreten. Gutachtliche Stellungnahme vom 15. Mai 2002, in: Europa Ethnica Sonderheft 2002, S. 31 ff. (3234). 2 Die Londoner Exilregierung war von Anfang an rein „tschechoslowakistisch“ ausgerichtet; sudetendeutsche Emigranten waren ausgegrenzt, vgl. W. Jaksch, Europas Weg nach Potsdam (1967). Zum Zeitabschnitt 1918-1948 s. zusammenfassend A. Sup-
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vom 9. April 1920, vor allem im menschen- und minderheitenrechtlichen Bereich, gaben die Dekrete dem Staat eine neue, totalitäre Identität. Trotz aller Beschwörung der Vor-München-Grenzen opferte Beneš mit der Abtretung der Karpatenukraine an die Sowjetunion die territoriale Integrität des tschechoslowakischen Staates. 3 Im übrigen vermag keine Staatsdoktrin die mit den BenešDekreten verfolgten menschenrechtsfeindlichen Bestrebungen zu rechtfertigen. Mit der Auflösung des tschechoslowakischen Staates am 31. Dezember 1992 hatte der mit dem Tschechoslowakismus verfolgte Kontinuitätsgedanke ohnehin seine politische Bedeutung verloren. 4 Das Positionspapier beruft sich zu Unrecht auf die demokratische Legitimation der Dekrete („democratic Czechoslovakian laws“). Die Verfasssungsdekrete hielten sich nämlich nicht an die materiellrechtlichen Vorgaben der seinerzeit geltenden Verfassung von 1920. Die Provisorische Nationalversammlung, die am 28. März 1946 die Präsidialdekrete der Londoner Periode und die der „unmittelbaren Nachkriegszeit“ billigte, war nicht demokratisch legitimiert; die unmittelbar betroffene deutsche und magyarische Bevölkerungsgruppe war nicht repräsentiert. 5 Das Positionspapier weist die alleinige Verantwortung für die Vertreibung den Großmächten zu („transfer of population was solely in the decisions of the Potsdam Conference“). Im Abschnitt XIII der Beschlüsse von Potsdam und in der Entscheidung des Kontrollrats vom 20. November 1945 über die einzelnen Transferpläne äußerten sich die Großmächte – nicht zuletzt im Interesse der ___________ pan/E.Vyslonzil (Hrsg.), Edvard Beneš und die tschechoslowakische Außenpolitik, 2., durchgesehene Auflage 2003. 3 Am 29.06.1945 billigte die tschechoslowakische Regierung den Entwurf des tschechoslowakisch-sowjetischen Vertrages über die Karpatenukraine. Vgl. Dekret Nr. 60 und Regierungsverordnung Nr. 61 vom 24.08.1945 sowie das Verfassungsgesetz der Provisorischen Nationalversammlung vom 22.11.1945. S. a. J. NƟmeþek/H. Nováþhová/I. Štóvíþek/M. Tejchmann, Tschechoslowakisch-sowjetische Beziehungen bei diplomatischen Verhandlungen, Teil 2, Prag 1999, S. 520 ff. 4 In der Präambel des deutsch-tschechoslowakischen Nachbarschaftsvertrags vom 27.02.1992 (BGBl. II, S. 463), in Kraft getreten am 14.09.1992 (BGBl. II, S. 1099) erkennen die Vertragsparteien an, „daß der tschechoslowakische Staat seit 1918 nie zu bestehen aufgehört hat“. Dies hindert die Bundesrepublik Deutschland nicht, die Vertreibung der Deutschen weiterhin als Unrecht und die aus den Konfiskationen resultierenden Vermögensfragen als nicht geregelt zu bezeichnen, vgl. Briefwechsel zum Nachbarschaftsvertrag. Demgegenüber beruft sich die Slowakei auf die von Landtag und Regierung am 14.03.1939 herbeigeführte Unabhängigkeit des Landes von der Tschechoslowakei und auf die völkerrechtliche Anerkennung dieses Schrittes durch alle Nachbarländer. 5 Vgl. Einzelheiten bei H. Slapnicka, Die rechtlichen Grundlagen für die Behandlungen der Deutschen und Magyaren in der Tschechoslowakei 1945-1948 (1999), S. 23 f.; ders., Die Entwicklung des Wahlrechts in der Tschechoslowakei seit dem Zweiten Weltkrieg, in: Osteuroparecht 1990, S. 237 ff.
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Humanität – zu den Modalitäten der Aussiedlung, übernahmen jedoch keinerlei völkerrechtliche Verantwortung für den Pflichtenkreis der Tschechoslowakei; 6 das gilt auch hinsichtlich der von den Großmächten im Februar 1996 an die Tschechische Republik gerichteten Noten, die die tschechische Auslegung des Abschnittes XIII bestätigen sollten. Abschnitt XIII der Potsdamer Beschlüsse präjudiziert in keiner Weise die völkerrechtliche Haftung der Tschechoslowakei/Tschechiens gegenüber der Bundesrepublik Deutschland oder gegenüber anderen europäischen Staaten (z. B. Liechtenstein, Österreich oder Ungarn). 7 Die Tschechoslowakei, an deren Stelle am 1. Januar 1993 kraft Staatensukzession die Tschechische Republik getreten ist, haftet völkerrechtlich für die Planung, die Durchführung und den konsequenten Abschluß der Vertreibung der deutschen und magyarischen Volksgruppe; 8 zu ihrer Rechtfertigung kann sie sich nicht auf die im Positionspapier des Außenministeriums vorgetragenen Gesichtspunkte berufen, nämlich: 1. Das Fehlen eines tschechoslowakischen Vertreibungsdekrets. – Die Vertreibung der Sudetendeutschen wurde zwar nirgends „gesetzlich“ geregelt, die völkerrechtliche Haftung ergibt sich jedoch eindeutig aus der gesetzlichen Regelung des Umfelds der Vertreibung, wie z. B. der Enteignung, der Ausbürgerung und der Ausweisung der deutschen und magyarischen Volksgruppe sowie der Neuansiedlung slawischer Bevölkerung und der Rechtfertigung aller mit der Vertreibung im Zusammenhang stehender Handlungen durch das Gesetz Nr. 115 vom 8. Mai 1946. ___________ 6 Die Regierungen von Großbritannien, den Vereinigten Staaten und der UdSSR „erkennen an, daß die Überführung der deutschen Bevölkerung oder Bestandteile derselben, die in Polen, Tschechoslowakei und Ungarn zurückgeblieben sind, nach Deutschland durchgeführt werden muß. Sie stimmen darin überein, daß jede derartige Überführung, die stattfinden wird, in ordnungsgemäßer und humaner Weise erfolgen soll“. Vgl. Amtsblatt des Kontrollrates in Deutschland 1945, Ergänzungsheft, S. 7. Gegen die tschechoslowakische Interpretation des Abschnitt XIII des Potsdamer Protokolls als Autorisierung für die Vertreibung der Deutschen hat sich am 24.03.1950 der dem amerikanischen Repräsentantenhaus erstattete Bericht ausdrücklich ausgesprochen. Vgl. 8. Kongreß, Bericht Nr. 1841, Deutsche Ausgabe „Vertriebene und Flüchtlinge volksdeutschen Ursprungs“, Bonn 1950. Das für den außenpolitischen Ausschuß des Europäischen Parlaments erstellte Gutachten von J. A. Frowein (Legal Opinion concerning Beneš-Decrees and Related Issues, September 12, 2002) stützt sich in diesem Punkt ausschließlich auf tschechische Quellen, wobei der Gutachter freimütig einräumt, der tschechischen Sprache nicht mächtig zu sein (vgl. Ziffer 2 der Legal Opinion). 7 Vgl. C. Tomuschat, Die Vertreibung der Sudetendeutschen, in: ZaöRV Bd. 56 (1996), S. 1 ff. (57); D. Blumenwitz, Die deutsch-tschechische Erklärung vom 21.01.1997, in: AVR Bd. 36 (1998), S. 19 ff. (20 f.). 8 S. die Dokumentation des eigenständigen Beitrags der Tschechoslowakischen Regierung zur Vertreibung bei R. Hilf, Deutsche und Tschechen (1973), S. 86 ff.
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2. Die Billigung der Bestrafung der mißliebigen Bevölkerung („punitive approach“) durch die Alliierten. – Der Vergleich der Beneš-Dekrete und ihrer gegen die deutsche und magyarische Bevölkerung gerichteten quasi strafrechtlichen Bestimmungen mit den Vorschriften anderer „befreiter“ Staaten in der Nachkriegszeit ist ein beliebtes Thema wissenschaftlicher Erörterungen in Tschechien, dem sich auch – mit großzügiger Unterstützung des DeutschTschechischen Zukunftsfonds – das Deutsch-Tschechische Gesprächsforum widmet. Die von den Beneš-Dekreten unterstellte Kollektivschuld der deutschen und magyarischen Bevölkerung und die damit verbundene Aufhebung der menschenrechtlich verbürgten Unschuldsvermutung hat jedoch mit rechtsstaatlich orientierter Strafrechtspflege nichts zu tun. Weder in Italien noch in Frankreich oder in Österreich, die wie die Tschechoslowakei unter deutscher Besetzung zu leiden hatten, lassen sich dem Gesetz Nr. 115 vom 8. Mai 1946 vergleichbare Vorschriften oder Praktiken nachweisen. Keines der westeuropäischen Strafgesetzbücher grenzt eine ganze Volksgruppe aus der Rechtsgemeinschaft aus, wie dies nach Kriegsende in der Tschechoslowakei aufgrund der als gerechte Vergeltung verstandenen „Retribution“ der Fall war. 9 3. Die Beneš-Dekrete lassen sich nicht mit dem Argument der tschechischen Seite rechtfertigen, ihre noch spürbaren Folgen seien bilateral in der deutschtschechischen Erklärung vom 21. Januar 1997 10 abschließend geregelt worden. Die deutsch-tschechische Erklärung ist kein Schlußstrich unter die beiderseitig leidvolle Vergangenheit, sondern mögliche Grundlage künftiger Entwicklung. 11 Die Erklärung erwähnt die Beneš-Dekrete mit keiner Silbe; Ziff. IV der Erklärung verweist lediglich auf die nach wie vor bestehenden Unterschiede in der Rechtsauffassung, die, wie bisher, nicht konfrontativ ausgetragen werden sollten. 12 Anläßlich der Unterzeichnung der Erklärung verwies Bundeskanzler Kohl ausdrücklich auf die „offene Vermögensfrage“. 13 Schließlich wirken sich die Dekrete nicht nur bilateral in den deutsch-tschechischen Beziehungen aus; zu den von den Dekreten betroffenen Staaten zählen z. B. auch Österreich, Ungarn und das Fürstentum Liechtenstein, die durch eine bilaterale deutschtschechische Erklärung nicht präjudiziert werden können. ___________ 9 Vgl. C. Tomuschat, Die Benesch-Dekrete – Ein Hindernis für die Aufnahme der Tschechischen Republik in die Europäische Union?, Prager Symposium der FriedrichEbert-Stiftung, 2001. 10 Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 7, 1997, S. 61. 11 Die amtliche Bezeichnung lautet: „Deutsch-Tschechische Erklärung über die gegenseitigen Beziehungen und deren künftige Entwicklung“. 12 Gemäß Ziffer IV bleibt „jede Seite ihrer Rechtsauffassung verpflichtet und respektiert, daß die andere Seite eine andere Rechtsauffassung hat.“ 13 Vgl. D. Blumenwitz, Die deutsch-tschechische Erklärung, a. a. O., S. 19 ff.
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4. Das tschechische Außenministerium beruft sich zur Rechtfertigung der Dekrete auf den Faktor Zeit: Nicht mehr existentes Recht könne nicht aufgehoben werden („Czech side can hardly repeal nonexistent laws“). Zunächst muß zwischen den Dekreten, die gesetzlich aufgehoben wurden, und solchen, die in der Sammlung geltenden Rechts noch aufgeführt sind, unterschieden werden. Förmlich aufgehoben wurden in der Tschechoslowakei die Dekrete, deren Wirkung bereits verbraucht („konsumiert“) war. 14 Alle statusrechtlichen Regelungen bestehen entgegen den Darlegungen des tschechischen Außenministeriums fort, sind weiterhin Grundlagen der tschechischen Rechtsordnung und für die Opfer der Vertreibung auch noch heute spürbar. Hierzu zählen u. a. alle Dekrete, auf deren Grundlage Eigentum entzogen wurde und das den früheren Eigentümern auch weiterhin vorenthalten bleibt 15 ; auf staatsangehörigkeitsrechtlichem Gebiet gehören die Ausbürgerungsvorschriften 16 dazu. Das fortgeltende Gesetz Nr. 115 verhindert nach wie vor, daß Exzesse bei der Vertreibung so verfolgt werden können, wie das bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit ohne Rücksicht auf Verjährung international gefordert ist. 17 Diese Vorschrift wird in der tschechischen Rechtspraxis auch als generelle Sperre hinsichtlich zivilrechtlicher Ansprüche der geschädigten Vertreibungsopfer verstanden. 5. Die auf der Grundlage der Beneš-Dekrete gebilligte, weiter geführte und konsequent zum Abschluß gebrachte Vertreibung der deutschen und der magyarischen Volksgruppe erfüllt den Tatbestand des unverjährbaren Verbrechens des Völkermordes 18 , da die gesetzlich hingenommene, z. T. aber auch gezielt getroffenen Maßnahmen insgesamt darauf gerichtet waren, die genannten ___________ 14 Wie z. B. das Ausnahmestrafrecht – Dekret Nr. 16; die Bestimmungen über die Neubesiedelung des Landes, die 1950 abgeschlossen war - Dekret Nr. 27; die Vorschriften über die Sonderbehandlung der auszusiedelnden Bevölkerung bis zu ihrer Abschiebung, die 1950 ebenfalls vollzogen war – Dekrete Nr. 126 und Nr. 137). Die Arbeitspflicht für Personen, die ihre tschechoslowakische Staatsangehörigkeit verloren hatten, aber im Lande verblieben waren (Dekret Nr. 71), wurde erst 1966 aufgehoben. 15 Z. B. die Dekrete Nr. 5, 12, 100 und 108. 16 Z. B. Dekret Nr. 33. 17 Vgl. C. Tomuschat, The Duty to Prosecute International Crimes Committed by Individuals, in: Festschrift für H. Steinberger (2001), S. 315 ff. 18 Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes vom 09.12.1948 (UNTS Vol. 78, p. 277; BGBl. 1954 II, S. 729). Der in der Konvention enthaltene Völkermordtatbestand wurde dem völkerrechtlichen Gewohnheitsrecht entnommen („principles of undisputed value“) und beansprucht deshalb auch Geltung auf Sachverhalte, die – wie die Nazi-Verbrechen und die Vertreibung 1945/46 – vor dem Inkrafttreten der Konvention liegen, vgl. Genocide Convention, Advisory Opinion des Internationalen Gerichtshofs vom 28.05.1951 (ICJ Reports 1951, S. 15 ff.). Vgl. D. Blumenwitz, Rechtsgutachten über die Verbrechen an den Deutschen 1944-1948 (2002), S. 26; G. Gornig, Völkerrecht und Völkermord. Definition – Nachweis – Konsequenzen am Beispiel der Sudetendeutschen (2002).
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Volksgruppen in ihrem angestammten Siedlungsgebiet zu zerstören. Die als Abschub oder Transfer bezeichneten Maßnahmen erfaßten eine nationale und ethnische Gruppe mit der Intention, sie in ihrer Heimat nahezu gänzlich zu zerstören. Die völlige physische Zerstörung der Gruppe (Holocaust) ist, im Gegensatz zur Zerstörung ihres sozialen Zusammenhalts im angestammten Siedlungsgebiet, keine Voraussetzung des Genozides. 19 Schutzgut der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes ist auch nach jüngster deutscher Rechtsprechung „die Gruppe in ihrer sozialen Existenz („als solche“), als soziale Einheit in ihrer Besonderheit und Eigenart.“ 20 6. Für die Vertreibung schuldet die Tschechische Republik - als Rechtsnachfolgerin der Tschechoslowakei und Bereicherte – Wiedergutmachung. Ob Wiedergutmachung, mehr als ein halbes Jahrhundert nach der Vertreibung, durch die Aufhebung der Dekrete mit der Wirkung ex tunc oder ex nunc noch sinnvoll erreicht werden kann, muß allerdings unter Berücksichtigung des jeweiligen Regelungsgegenstandes des aufzuhebenden Dekrets im einzelnen geprüft werden. Die Aufhebung der Dekrete darf nicht nur ein symbolischer Akt sein, da sonst das völkerrechtliche Gebot der Wiedergutmachung einer noch spürbaren Völkerrechtsverletzung keine ausreichende Berücksichtigung fände. 21 Die Aufhebung pro futuro (ex nunc) z. B. ist beim Gesetz Nr. 115 vom 9. Mai 1946 genügend, da nicht rückwirkend Strafverfahren durchgeführt werden können; die jedem Staatswesen obliegende Schutzfunktion, schwerste Verbrechen auch nach langer Zeit noch zu ermitteln, wäre allein durch den Wegfall der Verbrecher privilegierenden Vorschrift gewährleistet. Die Dekrete, die seinerzeit den Heimatvertriebenen Eigentum und staatsbürgerlichen Status ___________ 19 Unter dem Tatbestand des Völkermordes fallen gemäß Art. II der Konvention „Handlungen, die in der Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören.“ 20 BGHSt 45, 65 (80) bestätigt durch BVerfG Beschluß vom 12.12.2000 (2 BvR 1290/99). Mit Schreiben Nr. A III 7–020189–8–470 brachte der Bayerische Ministerpräsident dem Präsidenten der EU-Kommission und dem Präsidenten des Europäischen Parlaments nicht nur zwei Gutachten zur Kenntnis, die sich aus aktuellem Anlaß kritisch mit den Beneš-Dekreten im Vorfeld der EU-Osterweiterung auseinandersetzten; auf Wunsch der Sudetendeutschen Landsmannschaft wurde ein völkerrechtliches Gutachten erneut vorgelegt, das Felix Ermacora bereits im Jahre 1991 (im Zusammenhang mit den Verhandlungen zum deutsch-tschechoslowakischen Nachbarschaftsvertrag 1992) zur Frage der Vertreibung der Sudetendeutschen ausgearbeitet hatte und das das Verbrechen des Völkermordes, begangen an den auf tschechoslowakischem Territorium siedelnden Sudetendeutschen und Magyaren, nachweist. 21 Rechtsfolge der völkerrechtlichen Verantwortung ist die Wiedergutmachung in der Form der Naturalrestitution. Sollte diese nicht oder nicht mehr möglich sein, tritt an die Stelle der Restitution die Entschädigung. Daneben gewährt das Völkerrecht dem verletzten Staat Genugtuung. Diese besteht in der ausdrücklichen Übernahme der Verantwortung für das völkerrechtswidrige Handeln sowie in der förmlichen Erklärung des Bedauerns.
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entzogen, berechtigen zwar grundsätzlich nicht zu neuer Expropriation und Ausbürgerung. Sie garantieren aber nach wie vor die völkerrechtswidrige Entrechtung der Heimatvertriebenen. Gleichzeitig bedingen sie rechtstatsächlich eine Schlechterstellung der im Lande verbliebenen Minderheit, die durch die Verweise des neuen Rechts auf das von den Dekreten gestaltete alte Unrecht diskriminiert wird. Der Rechtsfriede ließe sich in den genannten Fällen am besten durch die Aufhebung der Diskriminierung bei der Eigentumsrestitution erreichen. Nach wie vor unterscheiden die tschechischen Restitutionsgesetze zwischen den Opfern des Kommunismus und des Tschechoslowakismus, obgleich es sich um durchaus vergleichbare Opfergruppen handelt. 7. Entgegen der Stellungnahme des tschechischen Außenministeriums war die Vermögenskonfiskation („Decrees on the Confiscation of the so called Enemy Property“) weder eine Maßnahme des Wirtschaftskrieges, noch erfolgte sie für die Zwecke der Reparation oder für Zwecke der Restitution. Die Maßnahmen des alliierten Wirtschaftskrieges gegen Deutschland waren mit dessen Kapitulation am 7. Mai 1945, also geraume Zeit vor dem Erlaß der Konfiskationsdekrete, beendet. Die Tschechoslowakei hat das konfiszierte Vermögen der Vertriebenen nie der gemäß Pariser Abkommen vom 14. Januar 1946 gebildeten Interalliierten Reparationsagentur (IARA) als deutsches Reparationsgut gemeldet. 22 Die Sequestrierung gem. Dekret Nr. 5 vom 19. Mai 1945 diente nicht der Restituierung der Opfer der Naziherrschaft (“this Decree invalidated the Nazi confiscations against the Nazi victims“), sondern war de facto der erste Schritt zur Entrechtung der mißliebigen Bevölkerungsgruppen, zu denen auch Nazi-Verfolgte wie z. B. die deutschsprachigen Angehörigen jüdischer Nationalität zählten. Wie der jüngst vom Menschenrechtsausschuß der Vereinten Nationen entschiedene Fall Elisabeth von Pezold (Alzbeta Pezoldova) zeigt, wurden anerkannte Gegner des Nationalsozialismus in der Tschechoslowakei aus rassistischen Gründen ein zweites Mal entschädigungslos enteignet 23 , um ihnen die Exculpationsmöglichkeit zu nehmen, die das Beneš-Dekret Nr. 12 zumindest theoretisch eröffnete.
___________ 22
Wie Ignaz Seidl-Hohenveldern aufgrund von persönlichen Ermittlungen feststellte (vgl. NJW 1953, S. 1390), wies die Tschechoslowakei gemäß Reparationsabrechnung mit Stand vom 31.12.1949 lediglich einen Betrag von 3.129.263 Dollar für ein eingezogenes deutsches Auslandsvermögen aus. Demgemäß hat die damalige Tschechoslowakei das Vermögen der Heimatvertriebenen nicht im Sinne des Pariser Abkommens für Zwecke der Reparation eingezogen. 23 Vgl. z. B. Gesetz Nr. 143/1947 vom 13.08.1947 „Lex Schwarzenberg“.
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II. Im Sommer und Herbst 2002 forderten die EU-Beitrittsverhandlungen Tschechiens eine Bewertung im Lichte des Gemeinschaftsrechts. 1. Die Osterweiterung der EU war ein in erster Linie politisches Problem24 , obgleich der Fragenkreis von den Politikern auf die Ebene kontroverser Rechtsgutachten abgedrängt wurde. 25 Die Nachbefolgung der Beneš-Dekrete in der Tschechischen Republik belastet die immer engere Zusammenarbeit der europäischen Staaten im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik und gefährdet deren Kohärenz. Ihren politischen Stellenwert erhält die Diskussion um die Fortgeltung der Beneš-Dekrete durch die Beharrlichkeit, mit der die tschechischen Staatsorgane im Vorfeld der EU-Osterweiterung an dem durch die Dekrete geschaffenen Unrecht festhalten, und dieses Unrecht auch zur Grundlage des künftigen europäischen Gemeinschaftsrechts machen wollen: Die rechtlichen Eigentumsverhältnisse, die aus den Dekreten hervorgegangen sind, „sind unbestreitbar, unantastbar und unveränderbar“ – lautete die Entschließung des tschechischen Parlaments. Diese Erklärung vom 23. April 2002 folgt nicht der die europäische Staatengemeinschaft erst ermöglichenden Aussöhnung ihrer Völker, sondern erinnert an die Sprache des Kalten Krieges. 26 2. Maßgeblich sind die rechtlichen Gesichtspunkte der Kopenhagener Beitrittskriterien. 27 Im Hinblick auf die Beneš-Dekrete regelt das europäische Gemeinschaftsrecht zwar weder die europäischen Nachkriegsprobleme noch die nationale Eigentumsordnung. Durch die Gestaltung der nationalen Eigentumsordnung darf allerdings die Gemeinschaftsordnung nicht gefährdet wer___________ 24
Nach dem Prager Vertrag von 1973, dem deutsch-tschechoslowakischen Nachbarschaftsvertrag von 1992 und der deutsch-tschechischen Erklärung von 1997 – alles Dokumente, die die sudetendeutschen Heimatvertriebenen betreffenden Fragen ausklammerten – sah die Sudetendeutsche Landsmannschaft in den EU-Beitrittsverhandlungen Tschechiens die letzte „gute Gelegenheit“ für die hier mit einem Vetorecht ausgestattete deutsche Seite, die immer als „offen“ bezeichneten Fragen befriedigend zu lösen. 25 Zum Gutachten s. Europa Ethnica, Sonderheft 2002. 26 So wurde die „Umsiedlung der Deutschen“ aus der Tschechoslowakischen Republik im Prager Abkommen, abgeschlossen am 23.06.1950 zwischen der tschechoslowakischen Regierung und der provisorischen Regierung der DDR, als „unabänderlich, gerecht und endgültig gelöst“ bezeichnet. 27 Gemäß den im Juni 1993 vom Europäischen Rat in Kopenhagen festgelegten Kriterien muß das Beitrittsland Gewähr dafür leisten, daß das geschriebene und ungeschriebene Gemeinschaftsrecht, der acquis communautaire, eingehalten werden kann. Die Mitgliedschaft verlangt weiter die Gewährleistung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten sowie die Achtung und den Schutz der Minderheiten („member-ship requires that the candidate country has achieved stability of institutions guaranteeing democracy, the rule of law, human rights and respect for and protection of minorities“.
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den. Das EU-Recht verbietet die Diskriminierung von EU-Angehörigen aus Gründen ihrer Staatsangehörigkeit. Die tschechische Restitutionsgesetzgebung ermöglicht bestimmten tschechischen Staatsbürgern den Erwerb von EUrechtlich relevanten Immobilien (z. B. landwirtschaftlicher Besitz) auf eine Weise, wie sie für andere Unionsbürger, die sich in einer rechtlich vergleichbaren Lage befinden, nicht gegeben ist. Die tschechische Behauptung, die Restitution sei seit 1996 abgeschlossen, ist rechtlich nicht haltbar. Das beweisen die zahlreichen Restitutionsfälle, die zur Zeit noch anhängig sind. Der UN-Menschenrechtsausschuß hat in der Vergangenheit immer wieder die tschechische Restitutionsgesetzgebung kritisiert, die Tschechische Republik aufgefordert, gesetzliche Regelungen zu ergänzen und neue Antragsfristen einzuräumen. Die Konfiskation des sudetendeutschen Eigentums, die bei der Restitution bislang unberücksichtigt blieb, hat sich keineswegs bereits „1945 und 1946 zur Gänze vollzogen“. Sie ist nach wie vor völkerrechtswidrig und die Vermögensfrage bleibt „offen“. Der Vergleich mit den SBZ-Enteignungen (1945-1949) geht schon deshalb fehl, weil hier die Opfer durch den Staat, in dessen Hände die Vermögenswerte gelangt sind, entschädigt wurden. Der UN-Menschenrechtsausschuß hat in einer Reihe von eindrucksvollen Entscheidungen (Fälle Simunek 28 , Adam und Blazek, 29 Des Fours Walderode 30 , Brok 31 und Pezold 32 ) die Diskriminierung durch die tschechische Restitutionsgesetzgebung verdeutlicht. Die Erkenntnisse beruhen auf Art. 26 des UN-Menschenrechtspaktes, der nach der Rechtsprechung des
___________ 28
Vgl. Simunek et al. v. Czech Republic, Communication No. 516/1992: Die Beschwerdeführer waren von der Rückgabe ihres Eigentums nach Gesetz Nr. 87/1991 zu Unrecht ausgeschlossen, da sie zur Zeit der Antragstellung weder die tschechoslowakische Staatsangehörigkeit noch ständigen Wohnsitz in der Tschechoslowakei besaßen. 29 Vgl. Adam v. Czech Republic, Communication No. 586/1994 und Blazek et al. v. Czech Republic, Communication No. 857/1999. Der Menschenrechtsausschuß forderte die Tschechische Republik auf, wirksame Beschwerdemöglichkeiten zu schaffen, einschließlich der Möglichkeit, einen neuen Antrag auf Entschädigung oder Restitution zu stellen. 30 Des Fours Walderode v. Czech Republic, Communication No. 747/1997: Verbot der diskriminierenden Unterscheidung zwischen Personen, die gleichermaßen Opfer vorangegangener staatlicher Konfiskation sind. 31 Vgl. Brok v. Czech Republic, Communication Nr. 774/1997: Verbot der Diskriminierung zwischen Personen, „die gleichermaßen Opfer vorangegangener staatlicher Konfiskationen sind“ im Hinblick auf Gesetz Nr. 116/1994 betreffend das Vermögen rassisch verfolgter (jüdischer) tschechoslowakischer Bürger. 32 Vgl. Alzbeta Pezoldova v. Czech Republic, Communication No. 757/1997: Vorenthaltung von Dokumenten, die hinsichtlich der Restitutionsgesetze Nr. 229/1991 und 243/1992 Restitutionsansprüche begründen können.
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EuGH zur Konkretisierung der europäischen Grundrechte herangezogen werden darf. 33 Das in der Tschechischen Republik fortgeltende Straffreiheitsgesetz 34 verstößt gleichermaßen gegen europäische wie weltweit geltende Menschenrechte. Der Respekt vor den Opfern gebietet die uneingeschränkte Verpflichtung des tschechischen Staates, Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch nach längerer Zeit noch aufzuklären und zu ahnden 35 . Der von der tschechischen Seite, aber auch von einem der Gutachter des Europäischen Parlaments 36 geforderte „Täterschutz“ entbehrt jeder Rechtsgrundlage. Als die Verbrechen 1945 begangen wurden, waren sie nach tschechoslowakischem Strafrecht strafbar. Sie sind erst am 8. Mai 1946 rückwirkend für rechtmäßig erklärt worden. Die bei den Vertreibungsexzessen begangenen Straftaten waren 1945 nicht nur nach tschechoslowakischem Recht, sondern auch „nach den allgemeinen, von den zivilisierten Völkern anerkannten Rechtsgrundsätzen strafbar“; insoweit könnten sich die Täter auch nicht auf den Grundsatz nulla poena sine lege berufen. 37 Die Nachbefolgung der Beneš-Dekrete in der Tschechischen Republik wirkt sich schließlich negativ auf die dort siedelnde deutsche Minderheit aus, die gemäß des fortgeltenden Dekrets Nr. 5 als eine „unzuverlässige“ und damit auch tatsächlich als eine in ihrer Identität gefährdete Volksgruppe angesehen ___________ 33 Maßgeblich für den EU-rechtlichen Menschenrechtsstandard sind in erster Linie die Schutzrechte der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Nach der Rechtsprechung des EuGH stellt aber auch der weltweit geltende Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) eine wesentliche Rechtserkenntnisquelle für die Gemeinschaftsgrundrechte dar. Vgl. EuGH, Rs. C-249/96, Grant/South-West Trains Ltd., Slg. 1998-I 6212, Rn. 44. Letzteres ist bedeutsam, da der Schutz vor Diskriminierung in der EMRK weniger stringent konzipiert ist als im Pakt. 34 Das Gesetz Nr. 115 vom 08.05.1945 über die Rechtmäßigkeit von Handlungen, die mit dem Kampf um die Wiedergewinnung der Freiheit der Tschechen und Slowaken zusammenhängen, rechtfertigte u. a. alle im Zuge der Vertreibung der deutschen und magyarischen Bevölkerung begangenen strafbaren Handlungen. § 1 lautet: „Eine Handlung, die in der Zeit vom 30.09.1938 bis zum 28.10.1945 vorgenommen wurde und deren Zweck es war, einen Beitrag zum Kampf um die Wiedergewinnung der Freiheit der Tschechen und Slowaken zu leisten, oder die eine gerechte Vergeltung für Taten der Okkupanten oder ihrer Helfershelfer zum Ziel hatte, ist auch dann nicht widerrechtlich, wenn sie sonst nach den geltenden Vorschriften strafbar gewesen wäre.“ 35 Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs sind alle Vertragsparteien der EMRK verpflichtet, schwere Menschenrechtsverletzungen, die gegen Leib, Leben und Freiheit der Opfer begangen worden sind, zu untersuchen und die Täter strafrechtlich zu verfolgen. Vgl. Assenov et al. v. Bulgarien, Beschwerde Nr. 24760, EGMR, 28. Oktober 1998, Rn. 62; Ogur v. Türkei, Beschwerde Nr. 21594/93, EGMR, 20. Mai 1999, Rn. 88; Satik et al. v. Türkei, Beschwerde Nr. 31866/96, EGMR, 10.10.2002, Rn. 62. 36 Vgl. Frowein-Gutachten, a.a.O., Ziffer 52. 37 Vgl. Art. 7 Abs. 2 EMRK.
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werden muß. 38 Die 1945 im Lande verbliebenen Deutschen verloren zwar nicht ihre Heimat, jedoch ihr gesamtes Vermögen. Auch sie werden durch die Restitutionsgesetzgebung diskriminiert – wie das Gutachten des Südtiroler Rechtsgelehrten Christoph Pan nachweist. 39
III. Die beharrliche Haltung gegenüber den Beneš-Dekreten hat bei der Beratung des jährlichen Fortschrittberichts über das Beitrittsland Tschechien im Europäischen Parlament jüngst zu nicht unerheblichen Erfolgen geführt. Auf Initiative des Mitglieds des Europäischen Parlaments Bernd Posselt 40 nahm das Straßburger Parlament einen das tschechische Straffreiheitsgesetz ausdrücklich kritisierenden Änderungsantrag der Christdemokraten einstimmig an. Im ursprünglichen Berichtsentwurf des Außenpolitischen Ausschußes über die Kandidatenländer war eine entsprechende Passage nicht enthalten. Die am 20. November 2002 vom Plenum verabschiedete Entschließung über die Tschechische Republik stellt fest, „daß das Gesetz Nr. 115 vom 8. Mai 1946 vom Standpunkt moderner Rechtsstaatlichkeit keine Existenzberechtigung hat“. 41 In der Resolution des Straßburger Parlaments wird weiter festgehalten, „daß nach dem Beitritt des Landes alle Bürger der Europäischen Union auf dem Gebiet der Tschechischen Republik die gleichen Rechte haben“ müssen. 42 Nicht die von der Tschechoslowakei durch die Beneš-Dekrete gestaltete Nachkriegsordnung ist Grundlage des europäischen Gemeinschaftsrechts, sondern – ___________ 38 § 4 Abs. 1 lit. a des bislang nicht aufgehobenen Dekrets Nr. 5 vom 19.05.1945 bezeichnet nach wie vor Personen deutscher Nationalität „als staatlich unzuverlässige Personen“. Die Vorschrift verletzt das jedem Minderheitenangehörigen verbürgte Recht auf Identität. Wegen fehlender politischer Vertretung sowie wegen des Fehlens eines Minderheitenschulwesens droht speziell die in der alten Heimat verbliebene deutsche Minderheit unter die sog. Wahrnehmungsgrenze zu sinken. 39 S. auch C. Pan/B. S. Pfeil, Die Volksgruppen in Europa (2000), S. 165 ff. Die deutschstämmige Minderheit in der Tschechischen Republik wird diskriminiert, da sie durch den Tschechoslowakismus und nicht durch den Kommunismus expropriiert wurde, grundsätzlich aber nur die letztgenannte Enteignungen restituiert werden. Auch die Aberkennung akademischer Grade als Folge der Auflösung der deutschsprachigen Universitäten und Hochschulen der Tschechoslowakei durch das Dekret Nr. 122 vom 18.10.1945 sowie langjährige Zwangsarbeit sind für die Angehörigen der deutschen Minderheit auch heute noch spürbar und zeigen sich vor allem in den kleinen Renten der Betroffenen. 40 Vgl. Sudetendeutsche Zeitung, 54. Jahrgang vom 29.11.2002, S. 1. 41 Entschließung des Europäischen Parlaments zu den Fortschritten jedes Bewerberlandes auf dem Weg zum Beitritt, Kom (2002) 700-CS-0474/2002-2002/2160 (INI), Ziffer 58. 42 A. a. O., Ziffer 57.
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umgekehrt – das auf den Dekreten gründende tschechische Recht ist am Recht der Gemeinschaft zu messen, wann immer letzteres Anwendung findet. Diese Sicht unterstreicht bereits der Mantelteil des Berichts, der für alle Beitrittsstaaten gilt. Dort heißt es, daß „die Annahme, Anwendung und Umsetzung des Besitzstandes der Europäischen Gemeinschaft im Bereich der Bekämpfung der Diskriminierung auf der Grundlage des Artikel 13 des EG-Vertrags in allen Bewerberländern ein Problem bleibt“. Das Parlament „fordert die Bewerberländer mit Nachdruck auf, dieses Problem so bald wie möglich zu lösen und den Besitzstand der Europäischen Gemeinschaft im Bereich der Bekämpfung der Diskriminierung zu übernehmen“. 43 Theoretisch können Heimatvertriebene immer noch von den in der Tschechoslowakei ergangenen In-Absentia-Urteilen betroffen werden. Das Europäische Parlament fordert, diese Urteile außer Kraft zu setzen. 44 Es spricht auch die „Versöhnung, die die moralische Basis für die europäische Einigung darstellt“ gezielt an. 45 Das Parlament nimmt erstmalig zur Vertreibung im allgemeinen Stellung, indem es feststellt, daß „ethnisch bestimmte Maßnahmen, die zur kollektiven Vertreibung und zur Zerstörung kultureller Werte führen, eklatant gegen europäische Grundrechte und die gemeinsame Rechtskultur der Europäer verstoßen“. 46 Das Europa-Parlament hält dementsprechend „eine politische Geste der tschechischen Seite für wünschenswert“. 47 Nur unter Beachtung der eben genannten Gesichtspunkte sind die Beneš-Dekrete „aus der Sicht des EU-Rechts kein Hindernis für den Beitritt Tschechiens“. 48 Weiter scheint bedeutsam, daß sich diese Feststellung des Europäischen Parlaments nur auf den „Beitritt“ bezieht. Die Feststellung berührt in keiner Weise die Bemühungen, das im tschechischen Recht fortwirkende Unrecht künftig innerstaatlich, zwischenstaatlich und auf europäischer Ebene politisch zu thematisieren und auch juristisch zu bekämpfen. ___________ 43
A. a. O., Ziffer 12. A. a. O., Ziffer 58. 45 Ibid. 46 Europäisches Parlament, Präambel zur Entschließung, Buchstabe O.; s.a. Ziffer 40 Mantelteil des Berichts. 47 Bericht Tschechische Republik, Ziffer 58. Kritik übte an diesem Abschnitt der Entschließung der Vorsitzende des gemischten Parlamentarischen Ausschußes Tschechisches Parlament/Europäisches Parlament Jan Zahradil: Die Erwähnung des Amnestiegesetzes gefalle ihm ebensowenig wie die Aussage des Europäischen Parlaments, daß eine politische Geste der tschechischen Seite gegenüber den Sudetendeutschen wünschenswert wäre, deutsche Übersetzung der Stellungnahme gegenüber der ehemaligen kommunistischen Parteizeitung Právo in: Sudetendeutsche Zeitung, 54. Jahrgang vom 29.11.2002, S. 1. Auch der tschechische Senatspräsident Petr Pithart hat sich gegen eine Geste des Bedauerns für die Vertreibung der Sudetendeutschen ausgesprochen. Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 09.01.2003, S. 6 „Prager Politiker gegen Geste des Bedauerns“. 48 Bericht a. a. O., Ziffer 58. 44
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Abstract Dieter Blumenwitz: The Beneš Decrees. A Stocktaking in the Light of the Czech Negotiations for the European Union. In: The European Union as a Community of Values. Ed. by Dieter Blumenwitz, Gilbert H. Gornig and Dietrich Murswiek (Berlin 2005) pp. 169-181. In a 2002 official document on “Czechoslovak Presidential Decrees of 19401945”, the Czech Ministry of Foreign Affairs justified the continuing adherence of the Czech Republic to the so-called Beneš decrees. The present paper analyses in turn each of the arguments brought forward by the Ministry. It shows, inter alia, that all decrees regulating the individual’s status are still in force and continue to be the basis of the Czech legal order. Decree No. 115, for example, still prevents the prosecution of crimes committed in the course of the expulsion and functions as a bar to civil claims. The paper further argues that the Czech Republic is liable for reparation, as far as appropriate depending on the specific act of injustice. The decrees on the confiscation of the so called Enemy Property were neither part of economic warfare nor reparation or restitution measures, but had a penal character. The Beneš decrees raise also problems under European Union Law including the so-called Copenhagen accession criteria, particularly under the principle of non-discrimination for reasons of citizenship. The argument that the restitution of property has been completed in 1996 is untenable as the many pending cases show. Decree No. 115 is contrary to European as well as and international human rights law – an aspect underlined by the resolution of the European Parliament on the accession of the Czech Republic.
Die Beneš-Dekrete und ihre gegenwärtigen Rechtswirkungen auf die deutsche Minderheit in Tschechien Von Christoph Pan / Beate Sibylle Pfeil Im sechsten Jahrzehnt nach ihrem Erlass sind die Beneš-Dekrete aus Anlaß der EU-Osterweiterung und des bevorstehenden EU-Beitritts der Tschechischen Republik wieder aktuell geworden. Es stellt sich die Frage, ob diese Dekrete, die im wesentlichen bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit vollzogen wurden, deren unveränderte Gültigkeit jedoch erst wieder am 24. April 2002 in einer einstimmigen Resolution des Abgeordnetenhauses des Tschechischen Parlaments bestätigt wurde, mit den Grundwerten der Europäischen Union, die sich ja als eine Wertegemeinschaft versteht, vereinbar sind. Bei den bisherigen Auseinandersetzungen um die Beneš-Dekrete standen vornehmlich allgemeine staats- und völkerrechtliche Aspekte, vor allem im Hinblick auf ihre generelle Vereinbarkeit mit den Menschenrechten im Vordergrund, während spezifisch minderheitenrechtliche Perspektiven wenig berücksichtigt wurden. Daher widmet sich diese Stellungnahme der Frage, ob und inwiefern die Beneš-Dekrete noch Rechtswirkungen, gegebenenfalls diskriminatorischer Art, für die deutsche Minderheit in der Tschechischen Republik begründen.
I. Diskriminierende Auswirkungen der Beneš-Dekrete auf die deutsche Minderheit in Tschechien Die deutsche Minderheit in Böhmen, Mähren und Schlesien stellt heute, fast 60 Jahre nach der Enteignung und Vertreibung von knapp 3 Millionen ihrer Angehörigen 1 , nur mehr knapp 50.000 Personen. Sie umfaßt damit nur noch ___________ 1 Schätzungen zufolge kamen im Gefolge dieser Vertreibungen etwa 241.000 Menschen ums Leben, und zwar durch Mord, Selbstmord, Erschöpfung und Mißhandlung, vgl. Herbert Günther: Die Sudetenfrage im Völkerrecht. Pkt.19. In: www. dingolfing. org/memebers/mies-pilsen/voelkerrecht.htm. – Zu erinnern ist auch an die etwa 100.000 Ungarn, die das gleiche Enteigungs- und Vertreibungsschicksal erlitten, deren Situation aber nicht Gegenstand dieser Abhandlung ist.
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etwa 1,5% der seinerzeitigen deutschen Volksgruppe und 0,5% der heutigen Bevölkerung Tschechiens (2001). 2 Diese zahlenmäßig sehr kleine, auf ein Hundertstel ihrer ursprünglichen Größe zusammengeschmolzene deutsche Minderheit befindet sich zahlenmäßig bereits unterhalb der Geringfügigkeitsschwelle. Außerdem wurde sie mit rigiden Assimilationsmethoden so weit unterdrückt und entnationalisiert, daß sie auch unterhalb der Wahrnehmungsschwelle liegt. 3 Die unrühmliche Rolle, welche die Beneš-Dekrete in diesem Zusammenhang gespielt haben und immer noch spielen, wird in der Regel unterschätzt. So sind entgegen der offiziellen Auffassung in Tschechien gegenwärtig sehr wohl noch diskriminierende Auswirkungen der Dekrete festzustellen, welche sowohl gegen völkerrechtliche Normen des Minderheitenschutzes 4 als auch gegen tschechisches Recht verstoßen. Dabei sind unmittelbare und mittelbare Auswirkungen zu unterscheiden. 1. Unmittelbar diskriminierende Auswirkungen a) Bezüglich Recht auf Identität Dekret Nr.5 vom 19. Mai 1945 erklärte die Angehörigen der deutschen (und ungarischen) Nationalität kollektiv zu „staatlich Unzuverlässigen“. Damit wurden sie zu einer Sorte Menschen zweiter Klasse abgestempelt. Auch wenn inzwischen 57 Jahre vergangen sind, so läßt sich dennoch eine unmittelbar daraus folgende Wirkung feststellen: Fast sechs Jahrzehnte Zuordnung zu einer „Unterklasse“ ist nicht spurlos an drei bis vier Generationen der deutschen Minderheit in Böhmen, Mähren und Schlesien vorübergegangen. Sie haben diesen Makel zwar internalisiert und damit zu leben gelernt, er belastet sie aber noch nachhaltig und ist ein maßgeblicher Bestimmungsfaktor für ihr Verhalten, das nach Mustern abläuft wie sie für „sozial Geächtete“ typisch sind, die einmal als vogelfrei erklärt worden sind und niemals rehabilitiert wurden: Wohlverhalten um jeden Preis, nirgendwo anecken, außerhalb des familiären Intim___________ 2
Christoph Pan/Beate Sibylle Pfeil, National Minorities in Europe. Handbook, Ethnos Band 56, Wien 2003, S. 69. 3 Knapp 0,5% der Bevölkerung, räumlich sehr weit gestreut, großteils besser Tschechisch als Deutsch sprechend und bemüht, außerhalb der eigenen vier Wände nicht Deutsch zu sprechen, ist eine Kategorie, welche alle Voraussetzungen besitzt, um von der Mehrheitsbevölkerung nicht wahrgenommen zu werden, dies um so mehr, als diese von jeher offiziell dahingehend informiert war, daß die Bevölkerung Tschechiens sprachlich-kulturell homogen sei und keine anderssprachigen Minderheiten besitze. 4 Vgl. z. B. das KSZE-Dokument des Kopenhagener Treffens der Konferenz über die Menschliche Dimension der KSZE vom 29.06.1990. Dieses wurde nicht nur als politische Verpflichtung von der damaligen Tschechoslowakei mitgetragen, sondern sogar als „rechtlich bindende Verpflichtung“ in den Vertrag zwischen Deutschland und der Tschechischen und Slowakischen Republik vom 27.02.1992 (Art. 20) aufgenommen.
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kreises nicht als Angehöriger dieser sozial ausgegrenzten Gruppe erkennbar werden. 5 Diese schwere Beeinträchtigung des Rechts auf Identität erzeugt einen starken Assimilationsdruck und steht in krassem Widerspruch zu Art. 3 Abs. 1 des Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten, welches von Tschechien am 28. April 1995 unterzeichnet, am 18. Dezember 1997 ratifiziert und am 1. Februar 1998 in Kraft gesetzt wurde und welcher lautet: „Jede Person, die einer nationalen Minderheit angehört, hat das Recht, frei zu entscheiden, ob sie als solche behandelt werden möchte oder nicht; aus dieser Entscheidung oder der Ausübung der mit dieser Entscheidung verbundenen Rechte dürfen ihr keine Nachteile erwachsen.“ Sie steht auch in krassem Widerspruch zu Art. 5 Abs. 2 Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten, welcher wie folgt lautet: „Unbeschadet der Maßnahmen, die im Rahmen ihrer allgemeinen Integrationspolitik getroffen werden, sehen die Vertragspartner von Zielsetzungen und Praktiken ab, die auf die Assimilierung von Angehörigen nationaler Minderheiten gegen deren Willen gerichtet sind, und schützen diese Personen vor jeder auf eine solche Assimilierung gerichteten Maßnahme.“ Der bestehende Assimilationsdruck steht aber auch im Widerspruch zur Grundrechte-Charta der Tschechischen Republik, welche in Art. 25 Abs. 1 den Angehörigen von Minderheiten das Recht auf „umfassende Entwicklung, insbesondere das Recht, zusammen mit anderen Minderheitsangehörigen ihre ___________ 5 Bezeichnend dafür ist der jedem neutralen Beobachter auffallende Widerspruch zwischen der ständig – auch ungefragt – wiederholten Schutzbehauptung, es gebe keine Diskriminierung, und der Angst vor der Wiederholung der Ereignisse von damals. Genau dieser Widerspruch zog sich wie ein roter Faden auch durch die Äußerungen der Delegierten an der Frühjahrstagung der Arbeitsgemeinschaft der deutschen Verbände und der Landesversammlung der Deutschen in Böhmen, Mähren und Schlesien vom 06.-07.04.2002 in Prag hindurch, die betonten, daß die Beneš-Dekrete in der heutigen Tschechischen Republik „keine Rolle mehr spielen“ (knapp ein Jahr zuvor noch hatte die Vizepräsidentin der Landesversammlung der Deutschen in Böhmen, Mähren und Schlesien, Christa Strosova, in Wien die Aufhebung der sogenannten Beneš-Dekrete gefordert, vgl. Landesversammlung der Deutschen fordert Aufhebung der BenešDekrete, Meldung von Radio Prag am 20.05.2001), daß „die Deutschen in Tschechien in keiner Weise mehr diskriminiert seien“ und daß sie „an nichts gehindert würden, was die Tschechen dürfen“, zugleich (Anm.d.Verf.) „fühle man sich immer noch als Bürger zweiter Klasse im Umgang mit den Tschechen“ und „habe Angst, weil die Ereignisse von 1945-48 noch immer lebendig seien“ und „man nicht wisse, ob sie sich wiederholen würden“. Dieser hier deutlich zum Ausdruck kommende objektive Widerspruch zwischen dem angeblichen Fehlen von rechtlichen oder sozialen Diskriminierungen und dem beteuerten Gefühl der Unsicherheit und Minderwertigkeit wird subjektiv nicht als solcher wahrgenommen, er wird den Betroffenen nicht direkt bewußt. Bei dieser Bewußtseinslücke handelt es sich um einen Schutzmechanismus, welcher die scheinbare Aufhebung des Gegensatzes ermöglicht. Die stereotype Wiederholung, es bestünde kein Grund zur Klage, ist der beste Beweis dafür, daß dem nicht so ist.
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eigene Kultur zu entwickeln ...“ garantiert. 6 Auch das Recht des einzelnen auf freie Entscheidung über seine nationale Identität ist in der Grundrechtecharta Tschechiens (Art. 3 Abs. 2) festgeschrieben. 7 b) Bezüglich Diskriminierungsverbot und Gleichheit vor dem Gesetz Die genannte Passage in Dekret Nr. 5 vom 19. Mai 1945, in welcher die Angehörigen der deutschen Minderheit für „staatlich unzuverlässig“ erklärt und damit als Kollektiv aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit stigmatisiert werden, bedeutet augenscheinlich auch eine Diskriminierung dieser Gruppe. Solange dieses Dekret nicht offiziell aufgehoben oder für ungültig erklärt wird, ist die herabwürdigende Formulierung dem tschechischen Staat als Urheber zuzurechnen – mit moralisch verheerenden Auswirkungen auf die Angehörigen der deutschen Minderheit und die Beziehungen zwischen diesen und ihrem tschechischen Umfeld. Als rechtlich sehr problematisch ist auch das Restitutionsgesetz 87/91 einzustufen. Dieses sieht die Rückgabe des seinerzeit enteigneten Eigentums vor, kommt aber nur den Staatsbürgern tschechischer Abstammung zugute und schließt jene deutscher (und ungarischer) Nationalität davon aus. Denn es verfügte nur die Rückgabe jenes Eigentums, das nach dem Februar 1948, d. h. also vom kommunistischen Regime, enteignet wurde, während es die zuvor unter dem volkssozialistischen Regime (unter Edvard Beneš) erfolgte Enteignung unangetastet beließ. Auch wenn das Restitutionsgesetz die Bürger deutscher und ungarischer Nationalität von der Rückgabe des enteigneten Eigentums nicht wörtlich ausschließt, so geschieht dies formalrechtlich dennoch sehr eindeutig über den Umweg, daß nur die Enteignungen nach dem Februar 1948 betroffen sind, weil zu diesem Zeitpunkt die Enteignung bereits abgeschlossen war und somit kein Eigentum von Bürgern deutscher oder ungarischer Nationalität von der Rückgabe betroffen sein kann. ___________ 6 Noch deutlicher formuliert § 12 Abs. 1 des am 10.07.2001 verabschiedeten tschechischen Minderheitengesetzes ein Recht der Angehörigen nationaler Minderheiten auf Bewahrung und Entwicklung sowie auf Respektierung ihrer Sprache, Kultur und Traditionen. 7 Nach Art. 3 Abs. 2 S.2 ist außerdem jede Form der Beeinflußung dieser Entscheidung wie auch jeglicher Druck, der auf die Unterdrückung der nationalen Identität abzielt, verboten. – Art. 3 Abs. 2 Grundrechte-Charta kam erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg bei der Volkszählung 1991 zum Tragen. Bis 1991 enthielten die Personalausweise der Tschechoslowakei unabänderbare Angaben über die nationale Identität ihrer Inhaber. Vgl. Council of Europe (1999): Report Submitted by the Czech Republic Pursuant to Art. 25, Paragraph 1 of the Framework Convention for the Protection of National Minorities, Received on 1st of April 1999, Art.3 (im folgenden kurz als “Czech Report 1999” bezeichnet).
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Dazu kommt, daß die Rückgabe von Eigentum im Restitutionsgesetz an das Erfordernis des ununterbrochenen Besitzes der tschechischen bzw. tschechoslowakischen Staatsbürgerschaft geknüpft wurde. Gerade diese Voraussetzung aber können die Bürger deutscher und ungarischer Nationalität nicht erfüllen, waren sie doch allesamt expatriiert worden, indem ihnen mit Dekret Nr. 33 vom 2. August 1945 kurzerhand die Staatsbürgerschaft aberkannt worden war. Diese Bestimmung bezweckte, wie unschwer zu erkennen ist, die Schaffung einer zusätzlichen Sicherheit, um den seinerzeitigen Bürgern nichttschechischer Nationalität das ehemalige Eigentum nicht mehr zurückgeben zu müssen. Sie trifft aber nicht nur die große Masse der 99% der Sudentendeutschen, welche 1945 vertrieben worden sind und in der Folge die deutsche oder österreichische Staatsbürgerschaft erhalten haben und deren Ansprüche auf Rückgabe des Eigentums hier nicht näher behandelt werden sollen, sondern vor allem auch jenen kleinen Rest, der gegenwärtig die deutsche Minderheit in Tschechien bildet. Das Restitutionsgesetz, welches die durch die Enteignungen unter Beneš geschaffene Lage perpetuiert, verstößt somit gegen das Diskriminierungsverbot, 8 welches völkerrechtlich u. a. in Art. 14 EMRK 1950, Art. 26 IPBPR 1966 und Art. 4 Abs.1 Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten 1998 und innerstaatlich in Art. 3 Abs. 1 der tschechischen Grundrechte-Charta verankert ist. 9 c) Bezüglich Chancengleichheit Zunächst einmal ist festzustellen, daß auf Grundlage von fünf der Dekrete die im Lande lebende deutsche und ungarische Minderheit ihrer politischen Rechte und wirtschaftlichen Lebensgrundlage beraubt wurde: ___________ 8 Genau darauf weist auch das UN-Menschenrechtskomitee hin: Es bedauert zutiefst die Antwort des Vertragsstaates auf seine Vorhaltung, daß die tschechische Staatsbürgerschaft als Voraussetzung für die Rückgabe oder Entschädigung gemäß Gesetz 87/91 diskriminierend war und gegen Art. 26 des Internationalen Paktes verstoßen hat. Weiter: „Ein Urteil des Verfassungsgerichts über die Verfassungsmäßigkeit des betreffenden Gesetzes entbindet den Vertragsstaat nicht von den ihm aus dem Internationalen Pakt erwachsenden Verpflichtungen (IPbpR Art. 2, Zusatzprotokoll Art. 1 und 4)“; vgl. UNHuman Rights Committee, concluding observations at its 1949th meeting, held on 24 July 2001, pt.6. 9 Einschlägig sind außerdem Art. 24 Grundrechte-Charta und § 4 Abs. 1 Minderheitengesetz, wonach dem einzelnen aus seiner „nationalen oder ethnischen Identität“ bzw. aus seiner „Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit“ kein Nachteil erwachsen darf. Zur Gleichheit vor dem Gesetz siehe Art. 1 und Art. 37 Abs. 3 Grundrechte-Charta (Czech Report 1999: Art. 4). Zum Ganzen Christoph Pan/Beate Sibylle Pfeil, Minderheitenrechte in Europa. Handbuch der europäischen Volksgruppen, Band 2, Bozen 2002, S. 461 ff.
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Christoph Pan / Beate Sibylle Pfeil – Zur entschädigungslosen Enteignung von Gegenständen heißt es: „Als staatlich
unzuverlässige Personen sind anzusehen: Personen deutscher oder magyarischer Nationalität.“ Ihr Eigentum war nach § 2.1 „unter nationale Verwaltung zu stellen“ (Dekret Nr. 5 vom 19. Mai 1945, § 4a). – Zur entschädigungslosen Enteignung von Immobilien heißt es: „Mit sofortiger
Wirksamkeit und entschädigungslos wird für die Zwecke der Bodenreform das landwirtschaftliche Vermögen enteignet, das im Eigentum steht: aller Personen deutscher und magyarischer Nationalität, ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit“ (Dekret Nr. 12 vom 21. Juni 1945, § 1.1a).
Mag auch der Großteil der Sudetendeutschen, die vertrieben wurden, später in der Lage gewesen sein, sich in der neuen Heimat eine neue Existenzgrundlage zu schaffen, so bleibt doch die Tatsache bestehen, daß die zurückgebliebene und gegenwärtig noch in Tschechien befindliche deutsche Minderheit niemals eine Reparation dieser Beraubung oder zumindest den Versuch einer solchen erfahren hat. Im Gegenteil, sie war und ist immer noch ohne jegliche Entwicklungsperspektive, sei es in wirtschaftlicher, sozialer, politischer wie in sprachlich-kultureller Hinsicht. Genau dies aber widerspricht eindeutig Art. 4 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 1 Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten. Diese lauten: – Art. 4 Abs.1: „Die Vertragsparteien verpflichten sich, erforderlichenfalls angemessene Maßnahmen zu ergreifen, um in allen Bereichen des wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Lebens die vollständige und tatsächliche Gleichheit zwischen den Angehörigen einer nationalen Minderheit und den Angehörigen der Mehrheit zu fördern. In dieser Hinsicht berücksichtigen sie in gebührender Weise die besonderen Bedingungen der Angehörigen nationaler Minderheiten.“ – Art. 5 Abs. 1: „Die Vertragsparteien verpflichten sich, die Bedingungen zu för-
dern, die es Angehörigen nationaler Minderheiten ermöglichen, ihre Kultur zu pflegen und weiterzuentwickeln und die wesentlichen Bestandteile ihrer Identität, nämlich ihre Religion, ihre Sprache, ihre Traditionen und ihr kulturelles Erbe zu bewahren.“
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2. Mittelbar diskriminierende Auswirkungen Das Rad der Geschichte ist nicht mehr zurückzudrehen. Die Entrechtung, Vertreibung und Enteignung der Angehörigen der deutschen (und ungarischen) Nationalität in Tschechien und anderswo sind historische Fakten, die nicht mehr ungeschehen gemacht werden können. Sie haben die deutsche Nationalität in Tschechien auf eine zahlenmäßig sehr kleine Minderheit reduziert, die aus sich heraus und aus eigenen Kräften nicht mehr in der Lage ist, die für ihren Fortbestand notwendigen gesellschaftlichen Funktionen zu erfüllen. Dazu ist ihre Zahl zu klein und ihre Siedlungsweise zu sehr gestreut, ihre Altersstruktur infolge Überalterung zu ungünstig und ihr Ausbildungsgrad zu niedrig und nicht hinreichend differenziert. Ihre geographische Verteilung ist höchst einseitig ländlich-provinziell, so daß ihre Angehörigen keinen Umgang pflegen können mit den eigentlichen Entscheidungsträgern in der Republik, mit ausländischen Vertretungen, mit bildungsmäßig und wirtschaftlich fortschrittlichen Einrichtungen, die ausnahmslos alle in Prag konzentriert sind. Außerdem besteht das Problem der „kleinen Renten“ aufgrund der durch die Dekrete verursachten beruflichen Benachteiligung in Form von kollektiven Entlassungen und durch Jahrzehnte hindurch nachwirkenden Erschwernissen beim Zugang zu angemessener und höherer Bildung. Dazu kommt das offenbar problematische Verhältnis zur tschechischen Mehrheitsbevölkerung infolge der kollektiven Traumata, welche die kleine deutsche Restminderheit durch die Naziherrschaft, die Reaktion der Tschechen darauf 1945 und durch die Machtübernahme der Kommunisten 1948 erlitten hat. Insgesamt handelt es sich hierbei – jedenfalls auf den ersten Blick – um relativ typische Folgeerscheinungen der sozio-kulturellen Amputation einer Volksgruppe infolge von Vertreibung und Entrechtung, die auch bei deutschen und anderen Minderheiten in weiteren ehemaligen Ostblockstaaten eingetreten sind. Die Beseitigung solcher Folgen zur Herstellung einer zumindest annähernden Chancengleichheit der Betroffenen wäre für sich genommen schon mit einem Aufwand nicht nur materieller Art, sondern vor allem auch im Hinblick auf eine aktive Aufarbeitungs- und Versöhnungsarbeit verbunden, welche nicht zuletzt auch die Wiederherstellung des kulturellen Selbstwertgefühls der betroffenen Volksgruppe zum Ziel haben müßte. Das ausdrückliche Beharren des tschechischen Staates auf den Beneš-Dekreten wirkt nun aber genau in die entgegengesetzte Richtung. Die fortgesetzte Legalisierung und Legitimierung der völker- und menschenrechtswidrigen Vorgänge der Vergangenheit bedeutet nämlich zugleich eine bewußte moralische, rechtliche und praktische Perpetuierung ihrer Folgewirkungen bis in die heutige, demokratisch-rechtsstaatliche Ära Tschechiens hinein. Die Beneš-Dekrete wirken sich damit als Entwicklungshemmer ersten Ranges aus, mit verheerenden Folgen für den sprachlich-kulturellen Fortbestand der deutschen Minderheit in Tschechien. So wird die wirklich effiziente
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Umsetzung von Minderheitenschutzbestimmungen auf diese Weise zum Teil schon auf der ersten Stufe, nämlich bei der Bedürfnisartikulierung durch die Minderheit selbst 10 , unmöglich gemacht. Das Ende der deutschen Minderheit in Tschechien ist absehbar, wenn nicht noch durch besondere positive Maßnahmen eingegriffen wird. Solche Maßnahmen sind aber erst dann überhaupt in effizienter Weise durchführbar, wenn die einschlägigen Bestimmungen der Beneš-Dekrete aufgehoben werden. Geschieht dies nicht und hält die Tschechische Republik statt dessen bewußt an den Dekreten fest, leistet sie dadurch einen aktiven und entscheidenden Beitrag zum Sterben der deutschen Minderheit, womit sie sich dem Vorwurf des Ethnozids an der deutschen Minderheit ausgesetzt sehen könnte. Die im folgenden dargestellten, zumindest mittelbaren Folgewirkungen der Beneš-Dekrete für die deutsche Nationalität werden zum Teil auch anhand einer Gegenüberstellung mit der bekanntlich von den Beneš-Dekreten nicht betroffenen polnischen Minderheit in Tschechien verdeutlicht. Diese siedelt zwar im Unterschied zur deutschen Nationalität relativ kompakt, ist aber mit gut 50.000 Angehörigen immerhin ihrer Größe nach mit der deutschen Minderheit vergleichbar. 11 Im einzelnen sind folgende Zusammenhänge nachweisbar: ___________ 10
Dies zeigt sich gerade auch in der Frage etwa zu stellender Rehabilitations-, Restitutions- bzw. Entschädigungsansprüche. Diesbezüglich wurde auf der Frühjahrstagung der Arbeitsgemeinschaft der deutschen Verbände und der Landesversammlung der Deutschen in Böhmen, Mähren und Schlesien, die am 06./07.04.2002 in Prag tagte, eine Strategieänderung bekanntgegeben. Im April 2001 noch hatte die Landesversammlung beim Petitionsausschuß des Tschechischen Parlaments eine Petition eingereicht, welche die gänzliche Abschaffung der Beneš-Dekrete aufgrund ihrer Menschenrechtswidrigkeit verlangte (vgl. hierzu auch „Landesversammlung der Deutschen fordert Aufhebung der Benes-Dekrete“, Meldung von Radio Prag vom 20.05.2001). Der Petitionsausschuß hat sich mit dieser Bittschrift nicht einmal befaßt und im Parlament entstand über diesen „unerhörten“ Schritt der deutschen Minderheit eine sehr „unfreundliche“ Debatte, die „der Sache nicht genützt“ habe. So wurden die Autoren dieser Petition „vorsichtshalber“ nicht einmal zu dieser Tagung (06.-07.04.2002, Anm. d. Verf.) eingeladen und sie sollen sich „auch künftig nicht“ am weiteren Procedere beteiligen, weil sie sich in der tschechischen Öffentlichkeit „zu sehr kompromittiert“ hätten. Nun werde eine neue Petition vorbereitet, in welcher die besagten Dekrete nicht mehr grundsätzlich und zur Gänze, sondern in einzelnen besonders gravierenden Bestimmungen beanstandet werden sollen. Hierzu solle die Landesversammlung ein aus fünf Personen bestehendes Komitee bilden mit der Aufgabe, unter Beiziehung von externen Fachleuten diese Petition auszuarbeiten. Da es nicht opportun sei, daß diese Petition zu Wahlkampfzeiten Gegenstand der öffentlichen Auseinandersetzung werde (Mitte Juni finden die nächsten Parlamentswahlen statt), wolle man mit der Zustellung der Petition bis Oktober zuwarten, weil bis dahin sich die neuen Parlamentsorgane konstituiert hätten. 11 Außer der deutschen und polnischen Minderheit gibt es in Tschechien noch die Minderheiten der Slowaken (rund 180.000), der Roma (rund 12.000, nach inoffiziellen Schätzungen bis zu 300.000), Ungarn (rund 20.000), Ukrainer/Ruthenen (rund 10.000) und Griechen (rund 3.400). (Christoph Pan/Beate Sibylle Pfeil, National Minorities in
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a) Bezüglich des Gebrauchs der Muttersprache Obwohl das Recht auf freien Gebrauch der Muttersprache im privaten Bereich in Tschechien gewährleistet ist, weil es keine gegenteilige Bestimmung gibt, 12 sind viele Angehörige der deutschen Minderheit aufgrund der einschlägigen Erlebnisse jahrzehntelanger Unterdrückung (Entrechtung, Verfolgung, kollektive soziale Ächtung, Verbot der deutschen Sprache etc.) so sehr „indoktriniert“, die Merkmale ihrer sprachlich-kulturellen Identität zu unterdrücken, daß sie die Diskriminierung internalisiert haben und dieser Zustand ihnen zur zweiten Natur geworden ist. So wagen es nach wie vor viele Angehörige der deutschen Minderheit nicht, durch privaten Gebrauch des Deutschen im öffentlichen Raum, d. h. außerhalb der eigenen vier Wände (auf der Straße, am Spielplatz, im Park, im Restaurant, in Bier- und Weinstuben, in öffentlichen Verkehrsmitteln usw.) als Angehörige der deutschen Minderheit erkennbar zu werden. Andere wiederum, vornehmlich jene der zweiten, dritten und vierten Generation, verfügen oft nicht mehr über ausreichende Kenntnisse des Deutschen und ziehen auch für private Zwecke innerhalb ihrer vier Wände das Tschechische vor, in welcher Sprache sie schließlich ihren Schulunterricht genossen haben und die ihnen mittlerweile zur Hauptsprache, wenn nicht sogar zur Muttersprache, geworden ist. Vom Gebrauch der Minderheitensprache im Verkehr mit Behörden und bei Gericht, welcher auch nach Inkrafttreten des tschechischen Minderheitengesetzes vom Juli 2001 nur in sehr eingeschränkter Form möglich ist, 13 kann natürlich nicht die Rede sein. Es ist sogar fraglich, ob ein solches Verlangen von den sich weitestgehend unpolitisch verhaltenden Organisationen der deutschen Minderheit ausreichende Unterstützung erhielte. ___________ Europe. Handbook, a. a. O., S. 69). Diese eignen sich jedoch aus verschiedenen Gründen nicht für einen direkten Vergleich: die slowakische Minderheit ist zahlenmäßig viel größer und gehörte bis vor kurzem zur Titularnation, die anderen Minderheiten sind zahlenmäßig viel kleiner und die Roma schließlich haben eine eigene, mit anderen Minderheiten nicht direkt vergleichbare Problematik. 12
Czech Report 1999: Art.10 Abs.1. Art. 25 Abs. 2 a der Grundrechte-Charta von 1991 garantiert grundsätzlich ein Recht von „Bürgern, die nationale und ethnische Minderheiten bilden ... auf Gebrauch ihrer Sprache im offiziellen Kontakt“, dies allerdings zu gesetzlich festgelegten Bedingungen. Durch § 9 des erst zehn Jahre später verabschiedeten Minderheitengesetzes und die einschlägigen Spezialgesetze wird dieses Recht nun letztlich auf ein Recht auf Gebrauch von Minderheitensprachen in Buchhaltungs- und Steuerunterlagen sowie bei staatlichen Glücksspielen (!) beschränkt. Vor Gericht haben gemäß Art. 37 Abs. 4 Grundrechte-Charta Personen, die sich darauf berufen, die Verfahrenssprache nicht zu beherrschen, ein Recht auf Zuziehung eines Dolmetschers, dessen Kosten im Regelfall vom Betroffenen zu tragen sind. 13
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Personennamen konnten zwar schon vor Inkrafttreten des Minderheitengesetzes auf Antrag und gegen Verwaltungsgebühr geändert werden, 14 doch mußten bis dahin noch weibliche Familiennamen der tschechischen Grammatik gemäß mit der spezifisch weiblichen Endung -ova bzw. -a statt y versehen werden, was natürlich eine nicht zu unterschätzende Diskriminierung bedeutete. Inzwischen wurde auf Grundlage von § 7 des Minderheitengesetzes das Meldegesetz entsprechend geändert, es bleibt aber noch abzuwarten, inwieweit die Angehörigen der deutschen Minderheit von der Möglichkeit einer Streichung des weiblichen Suffixes Gebrauch machen werden. Forderungen nach zweisprachigen topographischen Hinweisen und Aufschriften wurden bezeichnenderweise nur von der polnischen Minderheit in Schlesien gestellt. Obwohl die tschechische Rechtsordnung den Gebrauch zweisprachiger Toponyme seit Inkrafttreten des Minderheitengesetzes unter bestimmten Voraussetzungen sogar ausdrücklich zuläßt, 15 würde die Forderung danach den meisten Mitgliedern der deutschen Minderheit im Zweifel als viel zu weitgehend erscheinen, weil ihnen dieser Zustand der offensichtlichen Diskriminierung zum Normalzustand geworden ist. b) Bezüglich Sprachunterricht In der Grundrechte-Charta ist zwar das Recht der Minderheitenangehörigen auf Ausbildung in ihrer Muttersprache gewährleistet, doch fehlt nach wie vor das zur Umsetzung dieser Grundnorm notwendige Ausführungsgesetz. 16 In der Praxis gibt es ein ausgeprägtes öffentlich-rechtliches Minderheitenschulwesen bisher nur für die polnische Minderheit in Schlesien. Ein solches steht nicht auf der Wunschliste der deutschen Minderheit, die lediglich Vorschläge zur Einrichtung zweisprachig deutsch-tschechischer Schulen eingebracht hat, denen allerdings von Seiten der Regierung nicht stattgegeben wurde mit der Begründung, daß die potentielle Schülerzahl aufgrund der gegebenen Streusiedlung der Deutschen zu gering sei und diese Vorschläge sich daher „außerhalb des förderungswürdigen Konzepts von Minderheitenschulen“ bewegen würden. 17 ___________ 14
Gesetz Nr. 268/1949 (Standesämter), siehe Czech Report 1999: Art.11 Abs.1. Nach § 8 des Minderheitengesetzes können grundsätzlich Angehörige von Minderheiten, die „traditionell und seit langer Zeit auf dem Gebiet der Tschechischen Republik leben“ entsprechende Aufschriften verlangen; nach dem Gemeindegesetz betrifft dies aber nur Gemeinden mit einem Minderheitenanteil von mindestens 10%, wobei eine von mindestens 40% der dort ansässigen Minderheitenangehörigen unterstützte entsprechende Petition einzubringen ist. 16 Vgl. Art. 25 Abs. 2 a Grundrechte-Charta und neuerdings auch § 11 Minderheitengesetz, welches aber wiederum auf Ergänzung des Bildungsgesetzes abgestellt, welche bisher nicht erfolgt ist. 17 Czech Report 1999: Art.14 Abs.2 und 3. 15
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So haben sich die Deutschen damit zu begnügen, daß in einigen Grundschulen Deutsch als Wahlfach angeboten wird. 18 Damit wird Tschechisch ihre Hauptsprache bleiben und die kommenden Generationen werden den Semilingualismus in ihrer angestammten Sprache Deutsch kaum mehr überwinden können. c) Bezüglich Informationsrecht Das Recht auf Verbreitung und Empfang von Informationen in der eigenen Sprache ist für Minderheitenangehörige in Tschechien in Art. 25 Abs.1 Grundrechte-Charta grundsätzlich gewährleistet 19 und die deutsche Minderheit verfügt über zwei muttersprachliche Wochenzeitungen, deren Herausgabe staatlich gefördert wird. Die polnische Minderheit verfügt dagegen über sechs Printmedien, deren Herausgabe staatlich gefördert wird. 20 Somit zeigt sich auch hier, daß die deutsche Minderheit aufgrund der Beneš-Dekrete und ihrer permanenten Nachwirkungen sichtlich benachteiligt ist. d) Bezüglich Recht auf politische Vertretung In Tschechien gibt es gegenwärtig sechs Minderheitenparteien bzw. politische Bewegungen, davon fünf von den Roma 21 und eine wiederum der Polen (Coexistencia). 22 Die deutsche Minderheit fällt gegenüber der polnischen durch politische Abstinenz auf. Diese beruht hauptsächlich auf der repressiven Situation, welche durch die Beneš-Dekrete geschaffen und ständig perpetuiert wird. Wohl verfügt die deutsche Minderheit über zwei größere Organisationen, nämlich die Landesversammlung der Deutschen in Böhmen, Mähren und Schlesien, gegründet 1991, 23 und
–
___________ 18
Czech Report 1999: Art.14. § 13 Abs. 1 Minderheitengesetz bekräftigt dieses Recht; ein Recht auf minderheitensprachliche Rundfunksendungen ist allerdings nicht vorgesehen (vgl. § 13 Abs. 3 Minderheitengesetz, das tschechische Fernseh- und das tschechische Radiogesetz). 20 Davon eines mit zweitägiger Erscheinungsperiodik, eines mit 14-tägiger, zwei mit monatlicher Periodik und zwei mit didaktischem Material. 21 Von diesen ist nur eine, die Roma-Bürgerinitiative, systematisch politisch aktiv (Czech Report 1999: Art. 7). 22 Dies betrifft Gemeinden in den relativ kompakt von Polen besiedelten Distrikten Karvina und Frydek-Mistek (Czech Report 1999: Art. 7). 23 Diese umfasst etwa 50 Mitgliedsverbände, die sich wiederum aus zahlreichen kleinen Gruppen zusammensetzen und über einen Bestand von insgesamt rund 5.000 Mitgliedern verfügen. Je 2 Vertreter pro Verband bilden die Arbeitsgemeinschaft der deut19
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1968 gegründeten Kulturverband, 24
doch stellen beide keine politischen Bewegungen im eigentlichen Sinne dar, – gezwungener Maßen, denn eine politische Bewegung oder Partei der Deutschen würde in einem politischen Klima, in welchem nur das Ansinnen, sich von begangenem Unrecht zu distanzieren, das Unmögliche möglich macht und zur Bildung der „nationalen Front“ der Tschechen führt, als maßlose Provokation aufgefaßt werden mit unvorstellbaren Reaktionen im Gefolge. Eine politische Tradition besitzen die Deutschen in Tschechien seit einem halben Jahrhundert nicht mehr. Regimekritik war unter den Volkssozialisten von 1945-48 ebenso wenig möglich wie unter den Kommunisten ab 1948 und nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 schon gar nicht. So gehörte absolute politische Enthaltsamkeit zur Überlebensstrategie der deutschen Minderheit und die Beneš-Dekrete sorgen gegenwärtig dafür, daß dieser in einem demokratischen Rechtsstaat widersinnige Zustand fortgesetzt wird.
II. Die Rückwirkung der Beneš-Dekrete auf die tschechische Nation Als am 24. April 2002 im Abgeordnetenhaus des Tschechischen Parlaments die gemeinsame Erklärung zu den Beneš-Dekreten zur Debatte stand, fiel die Geschlossenheit auf, mit welcher sich die gesamte tschechische Nation hinter die Dekrete stellte. Sogar die Kommunisten, die über ein Jahrzehnt lang politisch isoliert gewesen waren, wurden zwecks Demonstration der Geschlossenheit der „nationalen Front“ herangezogen. Schließlich wurde in der Einstimmigkeit des Ergebnisses deutlich, daß die gesamte tschechische Nation den verbrecherischen Inhalt dieser Dekrete mitzutragen bereit ist. 25 Auch wenn gleichzeitig mit dieser Parlamentresolution deutlich gemacht wurde, daß Deutsche und Ungarn nicht mehr befürchten müßten, enteignet und vertrieben zu werden, sobald sie tschechischen Boden betreten, bleibt die befremdende Erkenntnis über das Unvermögen der tschechischen Nation und
___________ schen Verbände, die jährlich zweimal, im Frühjahr und im Herbst, tagt und Empfehlungen an die Landesversammlung abgibt. 24 Dieser stammt noch aus der kommunistischen Ära und umfaßt etwa 30 Lokalverbände mit rund 2.300 Mitgliedern. 25 „Noch immer sind die meisten Tschechen und so gut wie die gesamte politische Elite der Ansicht, daß die Entrechtung und Austreibung von Millionen von Sudentendeutschen und Ungarn nach dem Zweiten Weltkrieg notwendig, legitim und gerecht gewesen sei“, bringt ein Beobachter dieses Phänomen auf den Punkt (siehe Berthold Kohler: Eine nationale Front. In: FAZ vom 25.04.2002, Nr.96, S.1).
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ihren von nationalistischem Gedankengut gespeisten Unwillen, sich von den Symbolen des dunkelsten Kapitels der tschechischen Geschichte zu lösen.26 Dieser Mangel an Einsicht schlägt auch auf die Tschechen selbst zurück. Sie sind sein „erstes Opfer“, weil sie daran gehindert werden, sich „mit den Fehlern und dem Versagen in der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen“, also etwas zu tun, „was jedes Volk tun muß“. 27 Die Rückwirkung der Beneš-Dekrete auf die Tschechen und damit auf Tschechien selbst ist bedenklich, gerät dieses doch dadurch in Konflikt u. a. mit Art. 6 des Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten, der die Vertragsparteien verpflichtet, „den Geist der Toleranz und des interkulturellen Dialogs zu fördern und wirksame Maßnahmen zu treffen zur Förderung der gegenseitigen Achtung und des gegenseitigen Verständnisses sowie der Zusammenarbeit zwischen allen in ihrem Hoheitsgebiet lebenden Menschen unabhängig von deren ethnischer, kultureller, sprachlicher oder religiöser Identität [...]“. Außerdem belastet dieser Rückwirkungseffekt die Beziehungen zwischen der tschechischen Mehrheit und der deutschen Minderheit und wirkt sich zu beiderlei Nachteil aus.
III. Schlußfolgerung Der offiziell in Tschechien vertretene Standpunkt, die Beneš-Dekrete seien in der Zeit nach ihrer Veröffentlichung realisiert worden und auf ihrer Grundlage könnten keine neuen Rechtsbeziehungen entstehen, ist irreführend. Denn es gibt sehr wohl gegenwärtig noch direkte und indirekte Auswirkungen diskriminierender Art auf die deutsche Minderheit. Indem die aus den Beneš-Dekreten hervorgegangenen „rechtlichen und Eigentumsverhältnisse“ offiziell als „unbestreitbar, unantastbar und unveränderbar“ erklärt werden, 28 wird ihre Gültigkeit bestätigt. Damit werden zugleich die Auswirkungen auf die deutsche Minderheit fortgesetzt und ständig erneuert, wodurch auch neue Effekte in Form von Gegensätzen und Widersprüchen zum Minderheitenrecht als jüngstem Zweig des Völkerrechts entstehen. ___________ 26
Berthold Kohler, Eine nationale Front, in: FAZ vom 25.04.2002, Nr. 96, S.1. Dies stellte Bohumil Dolezal, Politikwissenschaftler an der Prager Karlsuniversität und früherer Chefberater beim ehemaligen tschechischen Ministerpräsidenten Vaclav Klaus, in einem vielbeachteten Referat auf einem Symposium der AckermannGemeinde und der Bernard-Bolzano-Stiftung in Jihlava/Iglau fest (www.mittel europa.de/dolezal01.htm). 28 Siehe einstimmige Parlamentsresolution vom 24.04.2002. 27
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Aus minderheitenrechtlicher und minderheitenpolitischer Sicht gibt es zwingende und sehr gute Gründe, die völkerrechts- und menschenrechtswidrigen Bestimmungen der Beneš-Dekrete formell außer Kraft zu setzen, ohne daß damit die „europäische Nachkriegsordnung“ angetastet wird. Diese sind 1.
ihre fortwährend diskriminierende Wirkung auf die deutsche Minderheit,
2.
der Schaden, den sie dem internationalen Ansehen und der Selbstachtung der tschechischen Nation zufügen,
3.
die Belastung, welche sie für die Beziehungen zwischen der tschechischen Titularnation und der deutschen Minderheit bedeuten,
4.
die Belastung, welche daraus für die Nachbarschaftsbeziehungen der Tschechischen Republik erwächst,
5.
ihre völlige Entbehrlichkeit, wenn sie – wie nach offizieller tschechischer Diktion ständig behauptet wird – ohnehin keine neuen Rechtswirkungen erzeugen (sollen).
Davon unberührt bleibt die Frage in welcher Form eine etwaige Wiedergutmachung vorzunehmen ist. Letztlich geht es in erster Linie um die moralische Genugtuung für die kollektive Entrechtung und Ächtung, welche auch die Möglichkeit einer teilweisen oder nur symbolischen Entschädigung für die erlittene Enteignung und Zwangsarbeit nicht ausschließt. Die Klärung dieser Fragen ist politischer Natur und war nicht Gegenstand dieser Abhandlung. * * *
Abstract Christoph Pan/Beate Sibylle Pfeil: The Beneš-Decrees and their legal Effects on the German Minority in the Czech Republic. In: The European Union as a Community of Values. Ed. by Dieter Blumenwitz, Gilbert H. Gornig and Dietrich Murswiek (Berlin 2005) pp. 183-196. The idea officially sustained in the Czech Republic, that the Benes decrees were implemented shortly after they were published and that new legal relations could not be created, is misleading. That is because at present there are no direct or indirect discriminating effects on the German minority. There are good legal reasons to formally repeal these decrees, without infringing the European order which was created after the Second World War. The question on the reparations after the Second World War must be answered.
Die Beneš-Dekrete und ihre gegenwärtigen Rechtswirkungen
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Anhang Die einschlägigen Beneš-Dekrete - Auszüge Dekret Nr. 5 vom 19. Mai 1945 § 2 (1) Das im Gebiet der Tschechoslowakischen Republik befindliche Vermögen der staatlich unzuverlässigen Personen wird gemäß den weiteren Bestimmungen dieses Dekrets unter nationale Verwaltung gestellt § 4 Als staatlich unzuverlässige Personen sind anzusehen: a) Personen deutscher oder magyarischer Nationalität ... § 6 Als Personen deutscher oder magyarischer Nationalität sind Personen anzusehen, die sich bei irgendeiner Volkszählung seit dem Jahre 1929 zur deutschen oder magyarischen Nationalität bekannt haben oder Mitglieder nationaler Gruppen, Formationen oder politischer Parteien geworden sind, die sich aus Personen deutscher oder magyarischer Nationalität zusammensetzen. Dekret Nr. 12 vom 21. Juni 1945 § 1 (1) Mit augenblicklicher Wirksamkeit und entschädigungslos wird für die Zwecke der Bodenreform das landwirtschaftliche Vermögen enteignet, das im Eigentum steht: a) aller Personen deutscher und magyarischer Nationalität, ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit, b) der Verräter und Feinde der Republik, gleichgültig welcher Nationalität und Staatsangehörigkeit ... (2) Personen deutscher und magyarischer Nationalität, die sich aktiv am Kampf für die Wahrung der Integrität und die Befreiung der Tschechoslowakischen Republik beteiligt haben, wird das landwirtschaftliche Vermögen nach Absatz 1 nicht konfisziert. (3) Darüber, ob eine Ausnahme nach Absatz 2 zulässig ist, entscheidet auf Antrag der zuständigen Bauernkommission der zuständige Bezirksnationalausschuß ... § 2 (1) Als Personen deutscher oder magyarischer Nationalität sind Personen anzusehen, die sich bei irgendeiner Volkszählung seit dem Jahre 1929 zur deutschen oder magyarischen Nationalität bekannt haben oder Mitglieder nationaler Gruppen, Formationen oder politischer Parteien geworden sind, die sich aus Personen deutscher oder magyarischer Nationalität zusammensetzen.
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Dekret Nr. 33 vom 2. August 1945 § 1 (1) Die tschechoslowakischen Staatsbürger deutscher oder magyarischer Nationalität, die nach den Vorschriften einer fremden Besatzungsmacht die deutsche oder magyarische Staatsangehörigkeit erworben haben, haben mit dem Tage des Erwerbs dieser Staatsangehörigkeit die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft verloren. (2) Die übrigen tschechoslowakischen Staatsbürger deutscher oder magyarischer Nationalität verlieren die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft mit dem Tage, an dem dieses Dekret in Kraft tritt. ... § 2 (1) Personen, welche unter die Bestimmungen des § 1 fallen und nachweisen, daß sie der Tschechoslowakischen Republik treu geblieben sind, sich niemals gegen das tschechische und slowakische Volk vergangen und sich entweder aktiv am Kampf um seine Befreiung beteiligt oder unter dem nazistischen oder faschistischen Terror gelitten haben, bleibt die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft erhalten. Dekret Nr. 71 vom 19. September 1945 Auf Vorschlag der Regierung bestimme ich: § 1 (1) Zur Beseitigung und Wiedergutmachung der durch den Krieg und die Luftangriffe verursachten Schäden wie auch zur Wiederherstellung des durch den Krieg zerrütteten Wirtschaftslebens wird eine Arbeitspflicht der Personen eingeführt, die nach dem Verfassungsdekret des Präsidenten der Republik vom 2. August 1945 ... die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft verloren haben. … (3) Besondere ... Richtlinien bestimmen, ob und in welchem Umfang der Arbeitspflicht nach diesem Dekret auch Personen deutscher und magyarischer Nationalität unterliegen, auf die sich das Verfassungsdekret Nr. 33/1945 nicht erstreckt. Dekret Nr. 122 vom 18. Oktober 1945 Um die seit langem andauernden historischen Bemühungen des ganzen tschechischen Volkes in der Frage der Prager Universität zum Abschluß zu bringen und die Früchte der nationalen Revolution und des Kampfes um die Befreiung der Tschechoslowakischen Republik rechtlich zu sichern, bestimme ich auf Vorschlag der Regierung: § 1 Die Deutsche Universität Prag, die am 5. Mai 1945, dem ersten Tag des Aufstandes der Prager Bevölkerung, zu bestehen aufgehört hat, wird als ein dem tschechischen Volk feindliches Institut für immer aufgelöst.
Die Beneš-Dekrete und ihre gegenwärtigen Rechtswirkungen
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Dekret Nr. 108 vom 25. Oktober 1945 § 1 (1) Konfisziert wird ohne Entschädigung – soweit dies noch nicht geschehen ist – für die Tschechoslowakische Republik das unbewegliche und bewegliche Vermögen, namentlich auch die Vermögensrechte (wie Forderungen, Wertpapiere, Einlagen, immaterielle Rechte), das bis zum Tage der tatsächlichen Beendigung der deutschen und magyarischen Okkupation in Eigentum stand oder noch steht: ... 2. physischer Personen deutscher oder magyarischer Nationalität, mit Ausnahme der Personen, die nachweisen, daß sie der Tschechoslowakischen Republik treu geblieben sind, sich niemals gegen das tschechische und slowakische Volk vergangen haben und sich entweder aktiv am Kampf für deren Befreiung beteiligt oder unter dem nazistischen oder faschistischen Terror gelitten haben. 3. physischer Personen, die ... der Germanisierung oder Magyarisierung auf dem Gebiete der Tschechoslowakischen Republik Vorschub geleistet (haben) ... wie auch von Personen, die eine solche Tätigkeit bei Personen, welche ihr Vermögen oder Unternehmen verwalteten, geduldet haben. Dekret Nr. 137 vom 27. Oktober 1945 § 1 Die Sicherstellung von Personen, die als staatlich unzuverlässig angesehen wurden, durch Behörden oder Organe der Republik, auch außerhalb der gesetzlich statthaften Fälle, oder eine Verlängerung ihrer vorläufigen Sicherstellung (Haft) über den gesetzlich zulässigen Zeitraum hinaus wird für gesetzmäßig erklärt. Solche Personen haben...keinen Anspruch auf Schadenersatz. § 2 Unter einer Sicherstellung ... ist nicht die Zusammenziehung ausländischer Staatsangehöriger zu verstehen, die von der zuständigen Behörde an bestimmten Orten zum Zwecke ihrer späteren Abschiebung durchgeführt wurde. Eine solche Zusammenziehung darf ohne jegliche Beschränkung durchgeführt werden. Dekret Nr. 83 vom 11. April 1946 § 1 (1) Die Arbeits- (Lehr-) Verhältnisse der Personen, welche die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft nach dem Verfassungsdekret des Präsidenten der Republik vom 2. August 1945, Slg. Nr. 33, über die Regelung der tschechoslowakischen Staatsbürgerschaft der Personen deutscher und madjarischer Nationalität, verloren haben, erlöschen an dem Tage, an dem dieses Gesetz in Kraft tritt, soweit darin nicht anders bestimmt wird.
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(4) Soweit sie nicht bereits früher erloschen sind, erlöschen an dem Tage, an dem dieses Gesetz in Kraft tritt, auch die Arbeits- (Lehr-) Verhältnisse der deutschen und madjarischen Staatsangehörigen deutscher und madjarischer Nationalität, auf die sich das Verfassungsdekret Slg. Nr. 33/1945 nicht erstreckt. § 2 Personen, deren Arbeit- (Lehr-) Verhältnisse nach den Vorschriften des § 1 erloschen sind, sind verpflichtet, falls dies im öffentlichen Interesse notwendig ist, die Arbeit an ihrem bisherigen Arbeitsplatz unter den Bedingungen fortzusetzen, die für Personen festgesetzt wurden, welche nach dem Dekret des Präsidenten der Republik vom 19. September 1945, Slg. Nr. 71, über die Arbeitspflicht der Personen, welche die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft verloren haben, zur Arbeit zugewiesen wurden ... § 5 Der Arbeitnehmer, dessen Arbeits- (Lehr-) Verhältnis nach den vorstehenden Bestimmungen erloschen ist, hat keinen Anspruch auf die Leistung, welche ihm sonst nach Gesetz oder Vertrag für den Fall einer vorzeitigen Beendigung des Arbeits- (Lehr-) Verhältnisses zustehen würde. § 6 Dieses Gesetz erstreckt sich auf die durch privatrechtliche Verträge begründeten Arbeits- (Lehr-) Verhältnisse. Es gilt nicht für die Arbeitsverhältnisse der öffentlichen Angestellten ohne Unterschied der Art ihres Dienstverhältnisses. Straffreistellungsgesetz vom 8. Mai 1946 § 1 Eine Handlung, die in der Zeit vom 30. September 1938 bis zum 28. Oktober 1945 vorgenommen wurde und deren Zweck es war, einen Beitrag zum Kampf um die Wiedergewinnung der Freiheit der Tschechen und Slowaken zu leisten, oder die eine gerechte Vergeltung für Taten der Okkupanten oder ihrer Helfershelfer zum Ziele hatte, ist auch dann nicht widerrechtlich, wenn sie sonst nach den geltenden Vorschriften strafbar gewesen wäre.
Vertreibung und Enteignung der Deutschen durch Polen Zur aktuellen Rechtslage unter Berücksichtigung des Beitritts Polens zur Europäischen Union Von Siegrid Krülle Die Vertreibung und Enteignung der Deutschen durch Polen bei Kriegsende sind weiterhin ein viel diskutiertes Thema nicht nur in den deutsch-polnischen Beziehungen. Die Geschehnisse auf dem Balkan haben die Menschen für die Vertreibungs- und Verfolgungsproblematik sensibilisiert. Seit der Wende und der Öffnung der polnischen Archive ist auch in Polen eine mehr und mehr um Wahrheit bemühte Geschichtsdarstellung möglich geworden, die zwangsläufig vor allem die „Täterseite“ behandelt und damit ergänzende Informationen liefert. 1 Bei der rechtlichen Auseinandersetzung mit der Vertreibungs- und Konfiskationsproblematik stand bisher die völkerrechtliche Sicht im Vordergrund. Seit Anfang der neunziger Jahre sind mit den Planungen für den Beitritt Polens zur Europäischen Union (EU) und den Umbrüchen im ehemaligen Ostblock europarechtlichen Aspekte und neue Entwicklungen im polnischen Recht dazugekommen. Im folgenden soll auf einige der Fragenkreise eingegangen werden. Vorausgeschickt wird ein Überblick über die polnischen gesetzgeberischen Maßnahmen gegen die Deutschen am Ende des Krieges. Für das Verständnis dieser Maßnahmen sind einige Informationen über die davorliegende Zeit angebracht, insbesondere ist es notwendig zu wissen, wie sich die deutsche Besatzungsmacht während des Krieges gegenüber der deutschen und polnischen Bevölkerung in Polen verhalten hat.
___________ 1 Vgl. z. B. die aufschlußreiche, sorgfältig recherchierte Untersuchung von Bernadetta Nitschke, Vertreibung und Aussiedlung der deutschen Bevölkerung aus Polen 1945 bis 1949 (Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, Bd. 20), 2003.
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A. Historische Hintergründe I. Polen zwischen den Kriegen 1. Der junge polnische Staat in seinen Vorkriegsgrenzen Der polnische Staat, der 120 Jahre nicht existiert hatte, wurde nach dem Ersten Weltkrieg neu begründet, und zwar aus Gebiet, das in der Zwischenzeit zum überwiegenden Teil zu Rußland und zu kleineren Teilen zu ÖsterreichUngarn und dem Deutschen Reich bzw. Preußen gehört hatte. Eine siegreiche kriegerische Auseinandersetzung mit der Sowjetunion brachte im Frieden von Riga (1921) jenseits der als polnische Ostgrenze vorgesehenen Curzon-Linie erhebliche weitere Gebiete unter polnische Herrschaft – die sog. polnischen Ostgebiete, in denen der polnische Bevölkerungsanteil jedoch nur etwa ein Drittel ausmachte. Polen träumte von einem Nationalstaat, war aber zwangsläufig ein Nationalitätenstaat und mit erheblichen Minderheitenproblemen belastet. Von den rund 35 Millionen neuen polnischen Staatsangehörigen war rund ein Drittel nichtpolnischer Nationalität, hinzukamen etwa 4 Millionen Juden. Die polnischen Staatsangehörigen deutscher Volkszugehörigkeit (,Volksdeutsche‘) waren über- wiegend in den vom Deutschen Reich abgetretenen Gebieten beheimatet. In den dreißiger Jahren lebten hier noch etwa 600 000 -700 000 Deutsche und ebensoviele im restlichen Polen. 2. Deutsche Besatzung während des Zweiten Weltkriegs Als im September 1939 der Zweite Weltkrieg begann, war die erneute Aufteilung Polens bereits beschlossene Sache. Im Zusammenhang mit ihrem Nichtangriffspakt hatten Hitler und Stalin ihre Interessensphären in Polen festgelegt. Hitler okkupierte dementsprechend Westpolen, Stalin annektierte den östlichen Teil Polens, jene Gebiete, die mit dem Frieden von Riga 1921 verloren gegangen waren. Beider Annexions- und Bevölkerungspolitik war grob völkerrechtswidrig. Die brutalen Methoden hatten den Tod von Millionen Polen, darunter der polnischen Juden, zur Folge. Hitler bezog die zwanzig Jahre zuvor im Versailler Vertrag abgetretenen nebst weiteren polnischen Gebieten als sogenannte „eingegliederte Ostgebiete“ in das Deutsche Reich ein. Aus dem Rest wurde das „Generalgouvernement“ gebildet, das als „Polenreservat“ angesehen wurde mit einem Status, der erst nach dem Krieg endgültig geregelt werden sollte. Die deutsche Besatzungspolitik verfolgte das Ziel, die polnische Wirtschaft und die polnische Bevölkerung für die deutsche Kriegswirtschaft auszunützen und die sogenannten „eingegliederten Ostgebiete“ „einzudeutschen“.
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Hunderttausende Polen wurden aus den sog. eingegliederten Ostgebieten in das Generalgouvernement deportiert; ihr Vermögen wurde beschlagnahmt, teils enteignet und aus anderen osteuropäischen Ländern umgesiedelten Volksdeutschen zur Verfügung gestellt. Insbesondere wurde alles jüdische Vermögen eingezogen. Personen, die zu den deutschen Volkszugehörigen zählten oder die als „eindeutschungsfähig“ galten, waren von den Diskriminierungen ausgenommen, unter denen die polnische und jüdische Bevölkkerung zu leiden hatte. Sie wurden in den Abt. 1 - 4 der Deutschen Volksliste erfaßt. Angehörige der Abt. 1 und 2 erhielten rückwirkend die deutsche Staatsangehörigkeit, Angehörige der Abt. 3 und 4 eine widerrufliche deutsche Staatsangehörigkeit bzw. entsprechende Anwartschaften. Im Generalgouvernement lief die Erfassung der Deutschen ohne Druck und ohne Staatsangehörigkeitsverleihungen ab. Man konnte Erklärungen der deutschen Volkszugehörigkeit bzw. Deutschstämmigkeit abgeben und dann bestimmte Privilegien in Anspruch nehmen. Hitler überfiel 1941 auch die Sowjetunion. Das Kriegsglück wendete sich jedoch bekanntlich. Die Rote Armee, mit einem in Moskau eingesetzten polnischen Komitee der Befreiung im Gefolge, eroberte ab Anfang 1944 erneut die schon einmal annektierten ostpolnischen, ab Mitte 1944 die übrigen polnischen Gebiete zurück und drang ab Ende des Jahres auf deutsches Gebiet vor. Das weitere Vorgehen war in sowjetisch-polnischen Geheimabkommen vom Juli 1944 längst abgesprochen und zum Teil in die Tat umgesetzt, ehe sich die Alliierten zu weiteren Besprechungen auf den Konferenzen von Jalta und Potsdam im Februar und Juli 1945 trafen. 3. Das Kriegsende: Ausdehnung des polnischen Herrschaftsbereichs auf die deutschen Ostgebiete und die Freie Stadt Danzig a) Gebietseinverleibung, Vertreibung, Konfiskation Für den folgenden Vorgang gab es schon den Ausmaßen nach in der Geschichte keinen Präzedenzfall - und zwar in dreifacher Hinsicht. Die OderNeiße-Gebiete, ein Viertel des deutschen Staatsgebiets (ca. 100 000 qkm), dazu das Gebiet der Freien Stadt Danzig wurden (mit Ausnahme des von der Sowjetunion beanspruchten Nord-Ostpreußens) in den polnischen Herrschaftsbereich einverleibt. Die rein deutsche Bevölkerung der Oder-Neiße-Gebiete, die ursprünglich rund 9,5 Millionen Menschen betragen hatte (davon ca 1 Million in Nordostpreußen) wurde bis auf einen kleinen Teil vertrieben; dasselbe Schicksal traf auch die Volksdeutschen in Polen und die Bevölkerung der Freien Stadt Danzig, noch einmal 1 3/4 Millionen Menschen. Sämtliches reichs- und volksdeutsches Vermögen im neuen polnischen Herrschaftsbereich wurde konfisziert.
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b) Grenzbestätigung und Offenhalteklausel Die Oder-Neiße-Gebiete waren Polen im Potsdamer Abkommen vom August 1945 von den Alliierten nur zur Verwaltung überlassen und die endgültige Regelung einer späteren Friedenskonferenz vorbehalten worden. Der ‚Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland‘ vom 12. September 1990 2 und der ‚Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze‘ vom 14. November 1990 3 haben schließlich die Oder-Neiße-Gebiete mit exnunc-Wirkung endgültig Polen zugeordnet und die Grenzfrage damit im polnischen Sinn erledigt. In einem Briefwechsel des polnischen und deutschen Außenministers anläßlich der Unterzeichnung der Vertrages ‚über gute Nachbarschaft und freundliche Zusammenarbeit‘ vom 17. Juni 1991 4 , der mit dem Grenzbestätigungsvertrag zusammenhängt und auch mit diesem ratifiziert wurde, heißt es in einer Offenhalteklausel: ‚Dieser Vertrag befaßt sich nicht mit Fragen der Staatsangehörigkeit und nicht mit Vermögensfragen‘.
II. Die antideutsche polnische Gesetzgebung ab 1944 Zurück zum Jahr 1944. Die neue kommunistische polnische Regierung, zunächst in Gestalt des sog. Polnischen Komitees der Nationalen Befreiung, übernahm ab Juli 1944 mit dem Vormarsch der Roten Armee und dem Rückzug der deutschen Wehrmacht die Verwaltung auf polnischem Gebiet, später ab Februar 1945 auch auf deutschem und Danziger Gebiet. Sie ging rigoros gegen alle Deutschen vor. Der polnische Nationalstaat sollte nunmehr endgültig hergestellt und alles Deutsche beseitigt werden. Die zahlreich erlassenen Dekrete und Gesetze haben strafrechtlichen, staatsangehörigkeitsrechtlichen und vermögensrechtlichen Charakter. Sie betrafen weit mehr die polnischen Staatsangehörigen deutscher Volkszugehörigkeit auf altem polnischen Staatsgebiet als die deutschen Staatsangehörigen in den sog. „Wiedergewonnenen Gebieten“. Die ersteren spielten in der polnischen Nachkriegsgesetzgebung und im Bewußtsein der polnischen Öffentlichkeit eine weit größere Rolle als die in den Dekreten gar nicht in Erscheinung tretenden und den meisten Polen fremden Bewohner der Oder-Neiße-Gebiete. Sie wurden als lästige Ausländer angesehen, die einem endgültigem Gebietserwerb und der Besiedlung durch Menschen aus Ost- und Innerpolen im Wege standen. ___________ 2
BGBl. 1990 II, S. 1318. BGBl. 1991 II, S. 1329. 4 BGBl. 1991II, S. 1315. 3
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1. Dekrete gegen die deutschen Volkszugehörigen in Polen und Danzig 5 a) Das antideutsche Element in den ab Mitte 1944 erlassenen Dekreten war im Dekret vom 31. August 1944 über die Strafzumessung für faschistischhitleristische Verbrecher und Verräter des polnischen Volkes 6 am wenigsten zu erkennen. Es gehörte in die Kategorie der von den Alliierten vereinbarten Kriegsverbrecher-Gesetzgebung und war ein reines, mit Rückwirkung ausgestattetes Strafgesetz. Durch die weite Fassung des Begriffs „faschistischhitleristische Verbrechen“ waren Willkür- und politisch motivierte Entscheidungen möglich. So konnten härteste, vor allem Todesstrafen auch für kleinste als Unterstützung des Feindes (Kollaboration) ausgelegte Handlungen verhängt werden. Es betraf also nicht nur den Tatbestand der Tötung und Mißhandlung von Zivilpersonen. Die Vermögenseinziehung als Teil der Strafe war selbstverständlich. Es kam vor allem gegen Deutsche, aber durchaus auch gegen Polen, z. B. Angehörige der mit der polnischen Exilregierung in London zusammenarbeitenden Untergrundorganisationen, zur Anwendung. Die Urteile wurden von Sonderstrafgerichten gefällt, es gab keine Rechtsmittel. b) Die Kooperation mit dem Feind durch Abgabe von Deutschtumserklärungen zur Erlangung bestimmter Vorteile galt als Volksverrat. Internierung, Zwangsarbeit, Verlust der bürgerlichen Ehren und der Elternrechte sowie Vermögenseinziehung traf die Deutschen nach folgenden Dekreten: Das am 4. November 1944 erlassene Dekret „über die Sicherungsmaßnahmen gegenüber Volksverrätern“ 7 galt den im Generalgouvernement und im Bezirk Bialystok ansässigen Personen, die sich unter der deutschen Herrschaft als deutsche Volkszugehörige bzw. Deutschstämmige bekannt oder auch nur die den Deutschen eingeräumten Privilegien genutzt, z. B. deutsche Lebensmittelkarten bezogen hatten. Das Dekret vom 28. Februar 1945 und sein Nachfolgegesetz vom 6. Mai 1945 „über den Ausschluß feindlicher Elemente aus der polnischen Volksgemeinschaft“ galt für den Teil Polens, der während des Krieges dem Deutschen Reich eingegliedert worden war, sowie das Gebiet der Freien Stadt Danzig. Wegen der großen Zahl der Deutschen konnte man hier nicht zu einer automatischen Internierung wie im GG schreiten. Die genannten Rechtsfolgen trafen ___________ 5
Der deutsche Text aller erwähnten Dekrete befindet sich in: Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa I, Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße, Bd. 3, 1984. 6 S. die die Änderungen vom 16.02.1945 und 10.12.1946 berücksichtigende Fassung gemäß Bekanntmachung vom 11. 1946 (Dz.U.R.P. Nr. 69, Pos. 377; dt. Üb. in: Dokumentation der Vertreibung Bd. I/3 Nr. 87). 7 Dz.U.R.P. Nr. 11, Pos. 54; dt. Üb. in. Dokumentation der Vertreibung Bd. I/3 Nr. 6.
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alle Personen, die in die Volksliste Abt. 2 und 3 bzw. 3 und 4 eingetragen waren und sich nicht in den für sie vorgesehenen Verfahren rehabilitieren und als treue polnische Staatsbürger darstellen konnten. Gelang die Rehabilitierung, dann kamen sie frei und erhielten grundsätzlich auch ihr beschlagnahmtes Vermögen zurück. Für das nach diesem Dekret ebenfalls beschlagnahmte Vermögen der in die Volksliste Abt. 1 eingetragenen Volksdeutschen und der Reichsdeutschen gab es eine solche Möglichkeit nicht. Die genannten beiden Dekrete wurden aufgehoben durch das Dekret vom 17. Oktober 1946 über die Aufhebung der Sonderstrafgerichte 8 (Art. 8), die für die Ausführung der Dekrete weitgehend zuständig gewesen waren. c) An Stelle der aufgehobenen Dekrete folgten zwei andere sich ergänzende Regelungen nach, die nunmehr unterschieden, ob jemand schon immer Volksdeutscher gewesen war und sich dazu auch schon vor 1939 bekannt hatte oder aber ob er sich während des Krieges als solcher nur ausgegeben und in Wirklichkeit aus polnischer Sicht als Pole in Anspruch genommen werden konnte. Das eine war das Dekret vom 28. Juni 1946 über die strafrechtliche Verantwortlichkeit für den Abfall von der Nationalität während des Krieges 1939 – 1945“ 9 , das am 11. September 1946 in Kraft trat und zunächst nur für OstOberschlesien (Wojewodschaft Schlesien-Dombrowa) galt, mit Wirkung vom 21. Oktober 1946 aber auch auf Handlungen außerhalb dieser Wojewodschaft ausgedehnt wurde 10 . Der Straftatbestand war an sich erfüllt, wenn jemand während des Krieges unter deutscher Besatzung erklärt hatte, Deutscher oder deutscher Abstammung zu sein. Das Dekret zielte aber nur auf die Bestrafung derjenigen Personen ab, die ethnisch als Polen angesehen wurden, und ahndete ihre Untreue, weil sie sich wegen persönlicher Vorteile zu einer fremden Nationalität bekannt hatten. Bei dem Dekret handelte sich um ein echtes Strafgesetz, das Rechtfertigungs- und Schuldmilderungsgründe und ein gestaffeltes System von vergleichsweise milden Strafen vorsah. Vermögenseinziehungen waren nicht mehr die Regel, aber immer noch häufig; sie hatten jedoch nicht die Funktion, die Lebensgrundlage im Lande zu entziehen, wie das bei den Deutschen der Fall war. Wer ethnisch als Deutscher galt, nämlich „bereits vor dem 1. September 1939 ständig seine Zugehörigkeit zur deutschen oder einer vom Okkupanten bevorzugten Nationalität bekundet hat“, fiel zwar unter den Tatbestand des Dekrets, blieb aber straffrei (Art. 4 c). Ein Pole sollte für seine opportunistischen Deutschtumserklärungen während der deutschen Besat___________ 8
Dz.U.R.P. Nr. 59, Pos. 324; dt. Üb. in: Dokumente der Vertreibung Bd. I/3 Nr. 75. Dz.U.R.P. Nr. 41, Pos. 237; dt. Üb. in: Dokumente der Vertreibung Bd. I/3 Nr. 64. 10 § 3 der Verordnung vom 19.09.1946, Dz.U.R.P. Nr. 53, Pos. 300; dt. Üb. in: Dokumente der Vertreibung Bd. I/3 Nr. 74). 9
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zungszeit bestraft, ein Angehöriger der deutschen Minderheit aber unter Zurücklassung seines Vermögens zum Verlassen des Landes gezwungen werden. Das geschah auf der Grundlage des Gesetzes vom 13. September 1946 über die „Ausschließung von Personen deutscher Nationalität aus der polnischen Volksgemeinschaft“, das am 8. November 1946 in Kraft trat 11 . Es betraf Personen, die durch ihr „Verhalten“ – die Sprache, Teilnahme an Organisationen, ablehnende Einstellung gegen Polen etc. – „ihre deutsche Volkszugehörigkeit bekundet“ hatten; während des Krieges abgegebene Erklärungen stellten dafür „an sich keinen Beweis“ dar (Art. 1). Das Gesetz ordnete die Ausbürgerung, die Ausweisung, die Enteignung, den Verlust von Erbfähigkeit und Sozialversicherungsansprüchen an. Die entsprechenden Entscheidungen wurden von den unteren Verwaltungsbehörden auf Antrag der Organe der Öffentlichen Sicherheit getroffen, die auch die Erhebungen über die Volkszugehörigkeit vorzunehmen hatten. Die Geltungskraft des Gesetzes vom 13. September 1946 war von Anfang auf die Zeit beschränkt, die für die Durchführung der Maßnahmen gegenüber den Deutschen einkalkuliert war. Nach Verlängerung endeten diese Frist und damit die Geltung des Gesetzes endgültig mit dem 31. Dezember 1950 12 . Die Ausbürgerungen wurden im Staatsangehörigkeitsgesetz von 8. Januar 1951 (Art. 4) bestätigt mit der Feststellung, „polnischer Staatsbürger ist nicht, wer zwar am 31. August 1939 die polnische Staatsbürgerschaft besaß, jedoch ständig im Ausland wohnt und....deutscher Nationalität ist...“. Damit wurde zugleich auch für alle im Ausland lebenden, bisher nicht ausdrücklich ausgebürgerten Volksdeutschen die Sammelausbürgerung ausgesprochen. Zuvor wurde im Gesetz vom 20. Juli 1950 „über die Aufhebung der Sanktionen und Beschränkungen gegenüber Staatsbürgern, die ihre Zugehörigkeit zur deutschen Nationalität erklärt hatten“ 13 eine Amnestie für alle diese Personen ausgesprochen, die unter das Strafgesetz vom 28. Juni 1946 fielen („Volksdeutschenamnestie“). Urteile über Vermögenseinziehungen, die vor Inkrafttreten des neuen Gesetzes ausgesprochen worden waren, blieben in Kraft. 14 Zehntausende Volksdeutsche, die in die Abt. 2 der deutschen Volksliste eingetragen waren, deren deutsche Volkszugehörigkeit also zweifelsfrei war, die aber gleichwohl vom polnischen Staat als polnische Volkszugehörige reklamiert und im Fall der Nichtrehabilitierung nach dem Dekret vom 28. Juni 1946 be___________ 11 Dz.U.R.P. Nr. 55, Pos. 310; dt. Üb. in: Dokumente der Vertreibung Bd. I/3 Nr. 73). 12 Novelle vom 30.12.1949, Dz.U.R.P. Nr. 65, Pos. 533. 13 Dz.U.R P. Nr. 29, Pos. 270; dt. Üb. in Dok. d. Vertr. Bd. I/3, Nr. 127. 14 § 6 der Ausführungsverordnung vom 26.07.1950; dt. Üb. in Dok. d. Vertr. Bd. I/3, Nr. 128.
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straft wurden, haben dadurch ihr Vermögen, z. B. ihre Bauernhöfe in OstOberschlesien, für immer verloren. 2. Die Maßnahmen gegenüber den deutschen Staatsangehörigen und ihr Vermögen in den Oder-Neiße-Gebieten a) Um einen polnischen Nationalstaat herzustellen, wurde auch in den „Wiedergewonnenen Gebieten“ (WG) die Bevölkerung auseinanderdividiert. Es wurde unterschieden zwischen – einerseits den Deutschen, die, soweit sie nicht schon geflüchtet waren, vertrieben und enteignet werden sollten, mit Ausnahme einer begrenzten Anzahl sog. „anerkannter“ Deutscher, die als dringend benötigte Arbeitskräfte vorerst im Land (v. a. in Niederschlesien und Pommern) bleiben konnten und mußten, – und andererseits den sog. Autochthonen, die als zwangsgermanisierte polnische Urbevölkerung dargestellt wurden. Es handelte sich um deutsche Staatsangehörige vor allem in Oberschlesien und Ostpreußen, die sich auf Anordnung polnischer Regierungsstellen als polnische Bevölkerung registrieren lassen, ein sog. Verifizierungsverfahren durchlaufen und auf diese Weise polnische Staatsangehörige werden konnten. Wer den Antrag nicht stellte, wurde 1951 zwangseingebürgert (behielt aber stets nach deutschem Recht die deutsche Staatsangehörigkeit). Die sog. Autochtonen waren als angebliche „Personen polnischer Nationalität“ von Ausweisung und Enteignung grundsätzlich ausgenommen. Die Ausweisung der Deutschen erfolgten auf Grund interner Verwaltungsanordnungen, die nirgendwo publiziert und erst nach der Wende nach Öffnung der Archive „entdeckt“ wurden. b) Sehr viel gravierender als die Enteignungen durch Einzelentscheidung, die gegen die Volksdeutschen verfügt wurden, waren die per Gesetz vom 3. Januar 1946 15 und Dekret vom 8. März 1946 16 „über das verlassene und ehemals deutsche Vermögen“ verfügten Konfiskationen allen deutschen Vermögens, das in den Oder-Neiße-Gebieten, aber auch im Gebiet der Freien Stadt Danzig wie auf polnischem Staatsgebiet belegen war. Im einzelnen war betroffen Vermögen –
des deutschen Staates und der ehemaligen Freien Stadt Danzig,
–
deutscher und Danziger Staatsangehöriger, es sei denn, sie gehörten der polnischen (Autochthone) oder einer verfolgten Nationalität an,
– deutscher juristischer Personen oder Danziger juristischer Personen, ___________ 15 16
Dz.U.R.P. Nr. 3, Pos. 17; dt. Üb. in: Dok. d. Vertr. Bd. I/3, Nr. 30. Dz.U.R.P. Nr. 13, Pos. 87; dt. Üb. in: Dok. d. Vertr. Bd. I/3, Nr. 38.
Vertreibung und Enteignung der Deutschen durch Polen
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–
von Gesellschaften, die durch Danziger oder deutsche Staatsangehörige (oder entsprechende Verwaltungsstellen) kontrolliert waren,
–
von „Überläufern“, nämlich Volksdeutschen, die 1939 oder 1944/45 geflüchtet waren und sich teilweise auf Grund ihrer besonderen Kenntnisse deutschen Stellen zur Verfügung gestellt hatten oder auch in die deutsche Wehrmacht eingetreten waren.
Durch die Vorgängerdekrete über „das verlassene und aufgegebene“ Vermögen vom 2. März und 6. Mai1945 war das Vermögen als derelinquiert, herrenlos deklariert und so unter zivilrechtlichen Kategorien eines Aneignungsrechts elegant dem Zugriff des polnischen Staates zugeführt worden. 17 Der örtliche Anwendungsbereich der Dekrete vom 6. Mai 1945 und 8. März 1946 erstreckte sich auch auf das eigentliche polnische Staatsgebiet (in den Grenzen von 1939). Alle Vermögenswerte, die die deutsche Besatzungsmacht während des Krieges in Polen beschlagnahmt oder enteignet hatte und die auf diese Weise in deutsches Eigentum übergegangen oder die unter Ausübung von Druck oder Zwang erworben worden waren, galten nicht als aufgegeben, sondern als verlassen und konnten innerhalb bestimmter Fristen herausverlangt werden („Wiedereinräumung in den Besitz“). Polen bewertete demnach die Maßnahmen der deutschen Besatzungsmacht als nichtig. Nicht zurückverlangte Werte fielen unter die Ersitzungsbestimmungen des polnischen Staates. Das Dekret vom 8. März 1946 über „das verlassene und ehemals deutsche Vermögen“ trat an die Stelle des Gesetzes vom 6. Mai 1945 „über das verlassene und aufgegebene Vermögen“. Die Geltungskraft des Dekrets vom 8. März 1946 endete in den achtziger Jahren. Es trat durch das „Gesetz über Raumwirtschaft und die Enteignung von Grund und Boden“ vom April 1985 außer Kraft (Art. 100). Bis dahin wurde es noch auf Spätaussiedler angewendet. Das Gesetz über die Immobilienwirtschaft vom 21. August 1997 (Dz.U.R.P. Nr. 115 Pos. 741) ersetzte schließlich das Gesetz von 1985 nebst Änderungsgesetz von 1990. 3. Die Frage der Fortgeltung Einiges Aufsehen verursachten im Jahr 2002 bestimmte aus Polen herrührende Meldungen, die 1945/46 im Zusammenhang mit der Vertreibung erlasse-
___________ 17 Alles im polnischen Herrschaftsbereich befindliche reichs- und volksdeutsche Vermögen war mit den beiden Dekreten vom 06.05.1945 „über das „verlorene und aufgegebene Vermögen“ bzw. „den Ausschluß feindlicher Elemente aus der polnischen Volksgemeinschaft“ beschlagnahmt.
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nen Gesetze und Dekrete seien überwiegend längst aufgehoben und ungültig. 18 Deutsche Forderungen auf Aufhebung dieser Dekrete seien daher gegenstandslos. Es ist für diese Fragestellung zu unterscheiden, ob ein staatlicher Akt rückwirkend etwa wegen Rechtswidrigkeit annulliert wird oder ob er mit ex nuncWirkung außer Kraft gesetzt wird, weil er z. B. durch eine zeitgemäßere Neuregelung ersetzt wird. Wie bei der Darstellung der Dekrete aufgezeigt wurde, sind mit Ausnahme der Gesetze vom 31. August 1944 und 3. Januar 1946 alle Dekrete längst außer Kraft getreten, die Dekrete vom 4. November 1944 und 6. Mai 1945 durch das Dekret vom 17. Oktober 1946 und die Dekrete vom 28.Juni und 13. September 1946 im Jahr 1950, zuletzt das Dekret vom 8. März 1946 im Jahr 1985. Doch ist in keinem Fall eine Vorschrift rückwirkend aufgehoben worden, stets ging es lediglich um die Nichtmehr-Anwendbarkeit ex nunc. Die Vorschriften bilden weiterhin die Grundlage für die heutigen Eigentumsverhältnisse, sei es, daß das seinerzeit konfiszierte Vermögen weiterhin als Eigentum des Fiskus oder von Kommunen gilt 19 und heute evtl. der Privatisierung unterliegt, sei es, daß es – wie ein großer Teil des beweglichen und unbeweglichen, v. a. landwirtschaftlichen Vermögens 20 – an Dritte weiterübereignet wurde. Die Vermögensentziehungen und -übertragungen werden bis heute als verbindlich betrachtet. Den Forderungen auf Aufhebung der Dekrete im Sinn einer Wiedergutmachung des Vertreibungsunrechts wäre daher nur mit einer ex tuncAnnullierung der Gesetze gedient, die wie insbesondere das Dekret vom 8. März 1946 selbst den Eigentumsübergang bewirkten. In anderen Fällen kommt es vorrangig auf die Aufhebung konkreter Einzelentscheidungen und Ausführungsakte an.
___________ 18
FAZ v. 26.06.2002, S. 3: Michael Ludewig, „Überraschung aus dem Sejm-Archiv“ unter Hinweis auf vom polnischen Historiker Wlodzimierz Borodziej aufgefundene Dokumente; s. auch Ostpreußenblatt v. 06.07.02, S. 1. 19 Die Verwaltung regelt sich nach dem Gesetz über die Immobilienwirtschaft vom 21.08.1997 mit Ausführungsverordung vom 13 01.1998 bzw. dem Gesetz über die Verwaltung von landwirtschaftlichen Liegenschaften des Fiskus von 1991, s. auch Chronik der Rechtsentwicklung in: ROW 4/1998, S. 133. 20 In WG: Dekr. vom 06.09.1946 über die Agrarverfassung in den WG und im Gebiet der ehemaligen Freien Stadt Danzig (DzURP Nr. 49, Pos. 279) und vom 06.09.1951 über das Eigentum an bäuerlichen Siedlungshöfen in den WG (DzURP, Nr. 46, Pos. 540). In WG und Polen: Dekret vom 18.04.1955.
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B. Zur Rechtslage I. Allgemeines 1. Enteignung im Licht von innerstaatlichem und Völkerrecht Die Eigentumsordnung und damit auch das Recht zu Enteignungen sind grundsätzlich eine innere Angelegenheit eines jeden Staates und werden von dessen innerstaatlichem Recht geregelt. Enteignungen können für das innerstaatliche Recht auch anderer Staaten von Bedeutung sein, wenn diese die privatrechtsgestaltende Wirkung der Enteignungen gemäß ihrem innerstaatlichen Kollisionsrecht anerkennen. Das Völkerrecht interessiert sich für derartige Vorgänge nicht, es sei denn, der Enteignerstaat wird unbefugt auf fremdem Staatsgebiet tätig oder überschreitet die ihm bei der Ausübung von Hoheitsgewalt gesetzten Schranken in der Behandlung fremder oder ausnahmsweise auch eigener Staatsangehöriger. 2. Zur völkerrechtlichen Haftung Im Fall eines zurechenbaren Rechtsverstoßes tritt die völkerrechtliche Haftung des Verletzers ein. Der verletzte Staat hat das Recht, dem Enteigungsakt seine Wirkung abzusprechen und Wiederherstellung des früheren Zustands oder ersatzweise oder ergänzend Entschädigung zu verlangen. Nach herrschender Lehre bleibt der angefochtene Akt für die innerstaatliche Rechtsordnung des Enteigners vorläufig wirksam, bis dieser seiner Pflicht zur Aufhebung des Enteignungsakts und Rückübereignung nachgekommen ist. Dritte Staaten haben wie der verletzte Staat das Recht zur Nichtanerkennung und sind nicht etwa an die Rechtswirkungen einer völkerrechtswidrigen fremdstaatlichen Maßnahme gebunden. Bei Verstößen gegen zwingendes Recht, also Normen von grundlegender Bedeutung, die als Bestandteil jeder, auch der Rechtsordnung des Enteigners angesehen werden, wird von der Nichtigkeit und Nichtanerkennungsfähigkeit der Enteignung ausgegangen. Der alte Eigentumstitel bleibt erhalten und der Wiedergutmachungsanspruch ist auf Herausgabe des Eigentums und Wiedereinräumung des Besitzes gerichtet.
II. Ansprüche nach Völkerrecht Die Bundesrepublik hat Wiedergutmachungsansprüche gegen Polen, die sie für ihre unmittelbar verletzten Staatsangehörigen im Wege des diplomatischen Schutzes geltend machen kann, wenn solche Ansprüche entstanden sind, weil die Polen zuzurechnenden Ausweisungs- und Konfiskationsmaßnahmen gegen das bei Kriegsende geltende Völkerrecht verstießen und nicht aus besonderen Gründen gerechtfertigt waren, und wenn solche Ansprüche nicht inzwischen
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durch Akte der Bundesrepublik untergegangen sind oder nicht mehr geltend gemacht werden können. 1. Sind Wiedergutmachungsansprüche der Bundesrepublik Deutschland entstanden? a) Vorliegen eines Unrechtstatbestands aa) Verstoß gegen Besatzungsrecht Soweit es um die polnischen Vertreibungs- und Konfiskationsmaßnahmen gegen die Bevölkerung der Oder-Neiße-Gebiete und der Freien Stadt Danzig geht, sind sie in erster Linie am völkerrechtlichen Besatzungsrecht zu messen. Hier ist allerdings als Folge der besonderen Lage Deutschlands bei Kriegsende die Anwendbarkeit des Besatzungsrechts umstritten. Die Gebiete waren Polen durch die UdSSR bzw. im Potsdamer Abkommen durch die Alliierten zur Verwaltung überlassen worden. Die Alliierten hatten gemäß der Berliner Erklärung vom 5. Juni 1945 die „supreme authority“ in Deutschland übernommen. Gleich wie man jedoch den Rechtscharakter dieser „obersten Gewalt“ und die einseitig erlangten Befugnisse im einzelnen definiert – in der Behandlung der Bevölkerung waren die Alliierten an die zwingenden Vorschriften der Art. 43 f. HLKO gebunden 21 , und nur mit dieser Bindung konnten sie auch die Verwaltung an Polen übertragen 22 . Der Schutz der Zivilbevölkerung eines besetzten fremden Gebiets ist oberstes Anliegen der HLKO. Hier liegt der Kern des sog. humanitären Völkerrechts. Die Art. 43 f. enthalten Gebote und Verbote, die die Familie, die menschliche Ehre, den Schutz der Bevölkerung in sozialer, kultureller, religiöser Hinsicht gewährleisten. Art. 46 enthält ein ausdrückliches Konfiskationsverbot. Zwar sprechen die Art. 43 f. ein Vertreibungsverbot nicht ausdrücklich aus; es wurde, wie man weiß, 1907 bei der Kodifikation der HLKO für überflüssig gehalten. Die Ansässigkeit der Bevölkerung ist aber selbstverständlich Voraussetzung dafür, daß die Bevölkerung die ihr zugestandenen und von der Besatzungsmacht zu respektierenden Rechte überhaupt ausüben kann. Der
___________ 21 Vg.l. z. B. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. II, 1969, S. 126 f.; Stödter, Deutschlands Rechtslage, 1948, S. 121 f. , unter eingehender Auseinandersetzung mit den gegenteiligen Auffassungen, wie sie v. a. die Sieger vertraten und z. B. auch in der polnischen Lehre bis heute vertreten werden. 22 A. A. bis heute die polnische Lehre, s. z. B. Czaplinski, Das Potsdamer Abkommen nach 50 Jahren aus polnischer Sicht, in: Die Friedens-Warte 72 (1997), S. 47 f.
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HLKO ist infolgedessen ohne weiteres ein zwingendes Vertreibungsverbot zu entnehmen. 23 In der IV. Genfer Konvention von 1949 24 , die das Besatzungsrecht teils ergänzt, teils nur präzisiert, sind die Rechtsfolgen schwerer Verstöße festgelegt, zu denen auch „unlawful deportation or transfer“ (Art. 147/49 IV. GK) zählen. Liegt ein solch schwerer Fall vor, kann sich kein Staat, auch nicht durch Mithilfe anderer Staaten, von seiner Verantwortlichkeit befreien; die maßgeblichen Schutzbestimmungen sind vertraglich nicht abdingbar, folglich die unter Verstoß herbeigeführten Zustände auch nicht anerkennungsfähig; auch die Bevölkerung kann auf die Einhaltung der Regeln nicht verzichten. Hier sind Rechtsfolgen aufgeführt, die für zwingendes Recht auch über das Besatzungsrecht hinaus typisch sind. Das beweist, daß das heute viel diskutierte Prinzip des ius cogens mit seinen besonderen Rechtsfolgen schon in der damaligen Zeit im Völkerrecht bekannt und verankert war. Das völkerrechtliche ius cogens beinhaltet jene Grundsätze der Völkerrechtsordnung, die übergeordneten Gemeinschaftsinteressen und Maßstäben Rechnung tragen („internationaler ordre public“). Seine Besonderheit ist, daß auf seine Durchsetzung nicht verzichtet werden soll. Daher liegt auch der Begriff der eventuell aus denselben Rechtsnormen bestehenden Verpflichtungen erga omnes nahe. Bestimmte schwere Verstöße fallen unter den Begriff des International Crime und werden völkerstrafrechtlich geahndet. bb) Verbrechen gegen die Menschlichkeit (a) Die polnischen Vertreibungs- und Konfiskationsmaßnahmen stellen Verstöße gegen elementare Menschenrechte, die Grundsätze der Menschlichkeit dar. Diese zählten zu den zwingenden Normen des Völkerrechts auch außerhalb besatzungsrechtlicher Anwendungen schon bei Kriegsende 25 . „Deportationen“ wurden in dem 1943 konzipierten Statut des Nürnberger Militärgerichtshofes, das Bestandteil des Londoner Viermächte-Abkommens vom 8. August 1945 war, sowohl als Kriegsverbrechen als auch als Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegeißelt. 26 Der Zweck der Deportationen war gleichgültig (Verbringung in Konzentrationslager, Zwangsarbeit, Germanisierung) – sie wurden als Verstoß gegen elementare Menschenrechte angesehen ___________ 23 S. aus der neueren Literatur Muharremi, Die Haager Landkriegsordnung und das Verbot von Vertreibung und Deportation, in: Fiedler (Hrsg.), Deportation – Vertreibung – „Ethnische Säuberung“, Völkerrechtlicher Stellenwert und wissenschaftliche Bewältigung in der Gegenwart, Forschungsergebnisse der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 28, 1999, S. 95 f. 24 BGBl. 1954 II 917; 1956 II 1586. 25 S. z. B. Verdross, Völkerrecht, 2. Aufl., 1950, S. 73. 26 Art. 6 Abs. 2 b) und c) des Statuts.
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ungeachtet der Tatsache, daß die eigentliche Menschenrechtsentwicklung damals noch in den Kinderschuhen steckte. Die Benennung der Menschlichkeitsneben den Kriegsverbrechen hatte längst Vorläufer. 27 Die Präambel des Abkommens über die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges vom 18. Oktober 1907, dessen Anlage die HLKO bildet, verweist auf „Gesetze der Menschlichkeit“ als „Grundsätze des Völkerrechts“, also nicht nur des Kriegsrechts. Die nach dem Ersten Weltkrieg ins Auge gefaßte sog. 15er-Kommission, die die strafrechtliche Verfolgung von Angehörigen der Mittelmächte in Angriff nehmen sollte, ging getrennt bei Verstößen gegen Kriegsrecht und solchen gegen die Gesetze der Menschlichkeit vor. Die Bestimmungen des Nürnberger Statuts übernahmen genau diese Unterscheidung und gaben daher, so auch die Erklärung der UN-Generalversammlung vom 11. Dezember 1946, das damals allgemein geltende Recht wieder. An ihnen können und müssen daher auch die Vertreibungs- und Enteignungsmaßnahmen nicht nur Deutschlands während des Krieges, sondern gerechterweise auch Polens nach dem Krieg gemessen werden. 28 , insbesondere soweit die Anwendbarkeit der HLKO verneint wird. (b) Sind die Konfiskationen Teil der Vertreibungen und können deshalb als Teil eines Menschlichkeitsverbrechens betrachtet werden? Das ist umstritten. 29 Das Eigentum als Zuordnung von Sachwerten zu Einzelmenschen wird durch den Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit sicher nicht geschützt. 30 Dieser setzt einen großangelegten und systematischen Angriff gegen Personen in diskriminierender Absicht unter z. B. politischen oder ethnischen Aspekten voraus. Es ist jedoch zu unterscheiden zwischen den vermögensbezogenen Enteignungen, zu denen auch die Nationalisierungen zählen – der Staat will bestimmte Wirtschaftsgüter in seiner Hand vereinen ungeachtet der Person des Eigentümers – und Verfolgungskonfiskationen. Diese sind personenbezogen, in der Regel gegen bestimmte Minderheiten gerichtet, meist ein Glied in einer Kette von Entrechtungsmaßnahmen, sie bezwecken gesellschaftliche Ächtung und Entziehung der Lebensgrundlagen. Sie verletzen die Menschenwürde und sind typisch für eine Vertreibung. Es spricht daher auch im Falle Polens alles dafür, sie als Teil der Vertreibungsaktion und damit als ___________ 27 S. Lehmler, Die Strafbarkeit von Vertreibungen aus ethnischen Gründen im bewaffneten nicht-internationalen Konflikt. Zugleich ein Beitrag zur neuen Entwicklung des Völkerstrafrechts, Baden-Baden 1999, S. 177 f. 28 Während die Alliierten in den Nürnberger Prozeßen führende Nationalsozialisten wegen der Deportationen von 1 Million Polen aus dem Warthegau und von 100 000 Elsässern verurteilten, stimmten sie gleichzeitig er Vertreibung von weit über 10 Millionen Deutschen zu. Die Sowjets, berüchtigt wegen ihrer Zwangsumsiedlungen, saßen ebenfalls unter den Richtern. 29 Ablehnend etwa Tomuschat, Die Vertreibung der Sudetendeutschen, in: ZaöRV 56 (1996), S. 1 f., 19; bejahend Ermacora, Die sudetendeutschen Fragen, 1992, S. 178 30 Vgl. z. B. Dahm, Völkerrecht, Bd. III, 1961, S. 300.
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ius cogens-Verstoß zu betrachten. In den modernen Resolutionen gegen Bevölkerungsumsiedlungen wird dieser Zusammenhang ganz selbstverständlich eingebracht. 31 Verfolgungskonfiskationen werden auch im völkerrechtlichen Schrifttum als per se unzulässig und unwirksam angesehen im Gegensatz zu den lediglich sub modo rechtswidrigen Enteignungen, deren Makel lediglich in der unzureichenden oder fehlenden Entschädigungsregelung besteht. 32 cc) Verletzung von Fremdenrecht Das völkerrechtliche Fremdenrecht verlangt, daß ein Staat den einmal auf sein Gebiet zugelassenen Staatsangehörigen eines anderen Staates nach dem sog. internationalen Minimumstandard behandelt. Das bedeutet, daß er Ausweisungen nur in begründeten Fällen sowie in bestimmter Art und Weise und daß er Enteignungen nur im öffentlichen Interesse und gegen Entschädigung und ohne Diskriminierung gegenüber eigenen und anderen Staatsangehörigen vornehmen darf. (1) Am Fremdenrecht zu messen sind die Maßnahmen, die auf polnischem Gebiet gegen die vom Dekret vom 13. September 1946 betroffenen polnischen Staatsangehörigen deutscher Nationalität verhängt wurden. Diese Personen wurden ausgebürgert, damit wurden sie Fremde und die Voraussetzung für die nachfolgende Ausweisung und Vermögenseinziehung geschaffen. Die Ausbürgerung führte nicht zur Staatenlosigkeit, verhalf vielmehr der ursprünglich rechtswidrig während der Besatzungszeit verliehenen deutschen Staatsangehörigkeit zur Wirksamkeit. Im übrigen wird Fremdenrecht nach einem Teil der Lehre auch auf Staatenlose angewendet. Für polnische Staatsangehörige deutscher Nationalität, die z. B. der Volksliste Abt. 2 angehört und ebenfalls die deutsche Staatsangehörigkeit erlangt hatten, aber nach dem Krieg als Personen polnischer Nationalität in Anspruch genommen wurden und damit der Ausbürgerung und Ausweisung, häufig aber nicht einer Strafe mit Vermögensverlust entgingen, läßt sich das Fremdenrecht nicht moblilisieren. (2) Fremdenrecht ist auf die Bevölkerung der Oder-Neiße-Gebiete und der Freien Stadt Danzig anwendbar, wenn man den polnischen Standpunkten von einer Zugehörigkeit dieser Gebiete zu Polen schon im Jahr 1945 oder einer Nichtanwendbarkeit des völkerrechtlichen Besatzungsrechts aus anderen Gründen folgt. Die Massenausweisungen und entschädigungslosen und diskriminierenden Vermögenseinziehungen, die Polen gegenüber den deutschen und Danziger Staatsangehörigen verfügte, sind ohne Frage fremdenrechtlich höchst rechtswidrig gewesen. ___________ 31 S. z. B. de Zayas, Population transfers and the UN Sub-Commission on Promotion and Protection of Human Rights, in: Human Rights 1/1999, S. 29 f. 32 Brownlie, Principles of Public International Law, 4. Aufl., 1990.
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(3) Sie widersprachen auch dem gewohnheitsrechtlichen Schutz der Bevölkerung eines Gebiets bei Grenzveränderungen, deren Recht auf Ansässigkeit und Vermögenserhalt stets gewahrt blieb, gleich wie die Frage der Staatsangehörigkeit gelöst wurde. 33 b) Mögliche Rechtfertigungsgründe Polen rechtfertigt sich in jeder Hinsicht mit dem sog. Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 34 . Betrachtet man die polnischen Vertreibungs- und Konfiskationsmaßnahmen als ius cogens-Verstoß, gibt es an sich von vornherein keine Rechtfertigungsmöglichkeit. Der polnische Standpunkt und die Rechtslage nach dem Potsdamer Abkommen bedürfen jedoch der Überprüfung. Die Alliierten hatten nach dem Sieg über Deutschland mit der Übernahme der Obersten Gewalt in der Berliner Erklärung vom 5. Juni 1945 zwar die faktische Macht, ihre weiteren Beschlüsse umzusetzen. Doch ihre rechtliche Legitimation war ohne Mitwirkung Deutschlands begrenzt. Verträge können in die Rechtspositionen unbeteiligter Drittstaaten nicht eingreifen. So hat auch die Bundesregierung sich regelmäßig und zu Recht darauf berufen, daß das Potsdamer Abkommen für sie keine bindende Wirkung habe. aa) Umsiedlungsanordnung der Alliierten? Was die Vertreibung und den fragwürdigen Abschnitt XIII des Potsdamer Abkommens anlangt, so heißt es dort in der amtlichen deutschen Übersetzung: „Die drei Regierungen ... erkennen an, daß die Überführung der deutschen Bevölkerung oder Bestandteile derselben, die in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn zurückgeblieben sind, nach Deutschland durchgeführt werden muß. Sie stimmen darin überein, daß jede derartige Überführung, die stattfinden wird, in ordnungsgemäßer und humaner Weise erfolgen soll“ 35 . Längst waren die Vertreibungen im Gange; zuunächst sollten diese daher zur Überprüfung der Aufnahmekapazitäten in den einzelnen Besatzungszonen eingestellt werden. Die Alliierten erklärten jedoch unübersehbar ihre grundsätzliche Zustimmung zu künftigen, nach einem gemeinsamen Plan und unter Aufsicht des Allierten Kontrollrats human und geordnet durchzuführenden „Überführungen“, für die sie deshalb auch ihre Unterstützung und Mitwirkung vorsahen. Der Plan zu den „Transfers“ war jedoch entgegen polnischer Behauptung von ___________ 33
S. dazu z. B. Kimminich, Völkerrechtliches Gutachten zu dem Referat von Herrn Prof. Remigiusz Sobanski „Vertreibung: Recht gegen Recht, Unrecht gegen Unrecht?“ 1995, S. 28 f. (75). 34 Text in : Berber, Völkerrecht, Dokumentensammlung, Bd. II, 1967, S. 2290 f. 35 Berber, Völkerrecht, Dokumentensammlung, Bd. II, S. 2290 f. (2304).
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polnischer und tschechischer Seite an die Alliierten herangetragen worden und nicht umgekehrt. 36 Abschnitt XIII enthält weder eine Ausweisungsanordnung der Alliierten, noch enthält er einen Umsiedlungsvertrag – erst recht keinen, der mit Wirkung für Deutschland ausgestattet wäre; noch könnte auch ein Vertrag, der eine Zwangsumsiedlung zum Gegenstand hätte, diese rechtfertigen 37 . Nur Verträge über die Umsiedlung von Minderheiten auf freiwilliger Basis sind völkerrechtlich erlaubt, wenn daran der die Bevölkerung abgebende und der sie aufnehmende Staat beteiligt sind. Alle diese Voraussetzungen sind im sog. Potsdamer Abkommen nicht erfüllt. Das ist auch das Ergebnis einschlägiger wissenschaftlicher Untersuchungen 38 , und dieses Ergebnis ändert sich auch nicht dadurch, daß die Alliierten 1996 auf Ersuchen Tschechiens ihre Potsdamer Entscheidungen nochmals bestätigten und die Hoffnung aussprachen, daß niemand die Vertreibungen rückgängig zu machen wünsche. 39 Ungeachtet solcher Hoffnungen, die den Beteiligten eine Hinnahme der geschaffenen Tatsachen nahelegen, galt und gilt mit den Worten des Bundeskanzlers: „Vertreibung läßt sich niemals rechtfertigen. Vertreibung ist immer Unrecht.“ 40
___________ 36 Zur Geschichte der Vertreibungspläne s. z. B. Brandes, Der Weg der Vertreibung 1938 – 1945. Pläne und Entscheidungen zum „Transfer“ der Deutschen aus der Tschechoslowakei und Polen, 2000. Aus Täterperspektive nach vor allem britischen Archivmaterial s. Persson, Rhetorik und Realpolitik, Großbritannien, die Oder-Neiße-Grenze und die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg, 2. Aufl., 2001. 37 So aber der Pole Bogdan Winiarski 1952 bei der Jahrestagung des Institut de Droit International in Siena, vgl. Annuaire de l’Institut de Droit International 1952, Bd. 44 II, S. 191 f. 38 Vgl. u. a. de Zayas, Population, Expulsion and Transfer, in: EPIL 8 (1985), S. 439 f. (442); Gornig, Völkerrechtswidrigkeit von Vertreibung und entschädigungsloser Enteignung der Sudetendeutschen, in: Deutschland und seine Nachbarn, in: Forum für Kultur und Politik 16 (1996), S. 5 f. (52); Kimminich, Potsdam und die Frage der Vertreibung, in: Meissner, Blumenwitz, Gornig (Hrsg.), Das Potsdamer Abkommen, III. Teil: Rückblick nach 50 Jahren, 1996, S. 33 f. (50). 39 Vgl. die US-Erklärung: “The decisions made at Potsdam ...were soundly based in international law. The Conference’s conclusions have been endorsed many times since in various multilateral and bilateral contexts. The Conference recognized that the transfer of the ethnic German population of Czechoslovakia had to be undertaken. Article XIII of the conference report called for this relocation to be ‘orderly and human’. The conclusion of the Potsdam Conference are historical fact and the United States is confident that no country wishes to call them into question.” 40 So Bundeskanzler Schröder am 03.09.2000 auf einer Festveranstaltung zum 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Charta der Heimatvertriebenen, Stuttgarter Zeitung v. 04.09.2000.
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bb) Reparationsabsprachen? Was die Vermögensfragen anlangt, so ist davon in Abschnitt XIII des Potsdamer Abkommens im Zusammenhang mit dem ins Auge gefaßten Bevölkerungstransfer nicht die Rede 41 , ebensowenig im Umsiedlungsplan des Kontrollrats vom November 1945 oder den späteren britisch- und sowjetischpolnischen Transportabkommen vom Februar und Mai l946, die lediglich die Gepäckmitnahme und andere technische Details regelten. Die Frage stellt sich jedoch, ob und wieweit die von Polen konfiszierten deutschen Vermögen als Leistungen auf Reparationsforderungen der Alliierten oder Polens im Sinn von Abschnitt IV des Potsdamer Abkommens vorgesehen waren. Die Alliierten sahen sich auf Grund der mit der Berliner Erklärung vom 5. Juni 1945 übernommenen Obersten Gewalt in Deutschland auch in der Reparationsfrage zu einseitigen Festlegungen für befugt an. Bekanntlich hatten die Alliierten auf Grund der schlechten Erfahrungen nach dem Ersten Weltkrieg von letztlich nicht bezahlbaren Geldforderungen Abstand genommen und sich auf Sachleistungen eingestellt, nämlich als wesentliche Reparationsquelle zum einen deutsches Inlandsvermögen (beschränkt auf Kapitalentnahme durch Demontagen) 42 , zum anderen deutsches Auslandsvermögen (Liquidation) im Auge. Die Abgrenzung für Inlands- und Auslandsvermögen richtete sich mangels verbindlicher Gebietsverfügungen nach dem Gebietsstand von 1937. 43 Der Sowjetunion sollten Entnahmen aus der östlichen Besatzungszone Deutschlands sowie deutsches Auslandsvermögen in Bulgarien, Finnland, Ungarn, Rumänien und ihrer Besatzungszone in Ostösterreich zustehen. Den Westmächten sollten Entnahmen aus den westlichen Besatzungszonen Deutschlands und deutsches Auslandsvermögen in allen nicht der UdSSR zugeteilten Ländern zufließen; sie sollten aus ihrem Inlandanteil noch gewisse Prozentsätze der Sowjetunion zukommen lassen, teils gegen Gegenleistung. Die UdSSR und die Westmächte verzichteten gegenseitig auf Ansprüche, soweit die Reparationswerte der anderen Seite zugeteilt waren. Die UdSSR sollte aus ihrem Anteil auch Polen befriedigen, während sich alle übrigen Reparationsgläubigerstaaten an den Anteil der Westmächte halten sollten. ___________ 41
Ebenso Tomuschat, Die Vertreibung der Sudetendeutschen, S. 46. Im Widerspruch zu den Potsdamer Absprachen (s. z. B. Abschnitt III B Ziff. 15 und 19) bestanden die Sowjets für ihre Zone auf zusätzlichen Entnahmen aus der laufenden Produktion, deren Erträge die Westmächte als unverzichtbar für den Aufbau der zugebilligten „deutschen Friedenswirtschaft“ ansahen, ferner betrachteten sie deutsche Arbeit – der Zwangsarbeiter, der Kriegsgefangenen, der ins Land geholten deutschen Wissenschaftler und Fachkräfte – als Reparationsquelle. 43 S. hierzu z. B. Raschhofer, Die Vermögenskonfiskationen der Ostblockstaaten – Zur völkerrechtlichen Natur der ostdeutschen und volksdeutschen Vermögensverluste, 1956, S. 4, 10. 42
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Notwendig waren weitere Aufteilungen. Die Westmächte einigten sich mit ihren Reparationspartnern über die Aufteilung der sog. Westmasse im Pariser Abkommen vom 14. Januar 1946. Die UdSSR und Polen einigten sich über die interne Aufteilung der sog. Ostmasse im Vertrag vom 16. August 1945 „über den Ersatz der durch die deutsche Besetzung verursachten Schäden“, nachdem Polen in einem anderen Vertrag vom selben Tag die Anerkennung der neuen polnischen Ostgrenze ausgesprochen hatte. 44 Die Aufteilung geschah in der Weise, daß Polen alle deutschen Vermögenswerte auf polnischem Gebiet einschließlich „des Gebietsteils Deutschlands, der an Polen fällt“, erhalten sollte, ferner 15 % der Entnahmen aus der sowjetischen Zone, zusätzlich noch entsprechende Prozentsätze der westlichen Lieferungen, wiederum teils gegen Gegenleistung. Da aber nach allen damaligen alliierten Absprachen die OderNeiße-Gebiete zum deutschen Inland zu rechnen und die Entnahmen von Inlandsvermögen nach den Vorstellungen der Besatzungsmächte auf die Entnahme von Industrieanlagen beschränkt waren, konnte Polen von der Sowjetunion hier auch keine darüberhinausgehenden Berechtigungen erlangen. Es ist keine Abmachung bekannt, daß das deutsche Vermögen in den Oder-Neiße-Gebieten einschließlich des Vermögens der vertriebenen Bevölkerung zur Reparationsquelle „deutsches Auslandsvermögen“ gehören sollte. Auch nach dem Versailler Vertrag oder den Friedensverträgen von 1947 war die Liquidation des Vermögens der ansässigen Bevölkerung abgetretener Gebiete zu Reparationszwecken nicht erlaubt, gleich ob sie verblieb oder optierte und das Land verließ. Die UdSSR hatte schon in Jalta als Summe der von Deutschland aufzubringenden Reparationen 20 Mrd. Dollar und davon 50 % für sich vorgeschlagen (Leistungen durch Zwangsarbeiter nicht mitgerechnet). Die Westmächte hielten die Forderung für zu hoch, eine Bezifferung im Hinblick auf ihre kombinierte Wirtschafts- und Reparationspolitik ohnehin nicht für nötig. Die UdSSR blieb bei der 10 Miliarden-Forderung für sich und Polen und trieb sie in den Folgejahren auch ein - und zwar durch Entnahmen allein aus dem Gebiet der SBZ bzw. DDR Längst nicht alle Leistungen waren auf das Reparationskonto verbucht worden 45 , so daß 1953 in der Abrechnung mit der DDR rechnerisch noch ein offener Posten von 2,5 Mrd. Dollar verblieb, auf den nunmehr „verzichtet“ wurde. Parallel zu dem von der BRD mit den westlichen Staaten abgeschlossenen Londoner Schuldenabkommen vereinbarten am 22. August 1953 die Sowjetunion und die DDR „im Hinblick auf die bereits in bedeutendem Maß von Deutschland erbrachten Leistungen“, daß die sowjetische Regierung „im Einverständnis mit der Volksrepublik Polen/ in bezug auf den sie betreffenden ___________ 44
UNTS 10,193. Genaue Erhebungen waren nach der Wiedervereinigung möglich, so durch die damals eingesetzte Bundestagsenquete. 45
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Anteil an den Reparationen“ die Reparationsentnahmen aus der DDR beenden werde. Die Sowjetunion erklärte, daß „Deutschland“ von der Zahlung staatlicher Nachkriegsschulden freigestellt werde. 46 Einen Tag später, am 23. August 1953, gab die Volksrepublik Polen die Erklärung ab, „mit Wirkung vom 1. Januar 1954 auf die Zahlung von Reparationen an Polen zu verzichten...“. Die Erklärung wurde in einem für öffentliche Bekanntmachungen genutzten Blatt veröffentlicht 47 , war rechtsverbindlich und hat zum Erlöschen etwa noch offener Reparationsforderungen einschließlich privater Anspruchspositionen geführt. Die gelegentlich von polnischer Seite angedrohte Rücknahme des Verzichts könnte diese Rechtswirkung nicht mehr beseitigen. 48 c) Ergebnis Mit den Potsdamer Beschlüssen ließen sich weder die Vertreibungen noch die umfassende Konfiskation praktisch aller in den Oder-Neiße-Gebieten befindlichen Vermögenswerte rechtfertigen. Polen stand nach den alliierten Reparationsabsprachen Industrievermögen in den Oder-Neiße-Gebieten und das Vermögen reichsdeutscher Rechtsträger zu, das auf polnischem Staatsgebiet belegen war. Weitere ernsthafte Rechtfertigungsgründe sind nicht ersichtlich (z. B. nach LAG oder Repressalienrecht). Ein nationaler Rechtsweg bestand nicht. Die Rechtswidrigkeit der Vertreibungs- und Konfiskationsmaßnahmen brachte daher polnische Haftungsverpflichtungen und entsprechende Berechtigungen der Bundesrepublik zum Entstehen, die auf die Rücknahme der Ausweisungsbefehle und Enteignungen bzw. die Anullierung der Konfiskationsgesetze abzielen könnten. Die Bundesrepublik als der in der Person ihrer Staatsangehörigen verletzte Staat ist nach Völkerrecht berechtigt, nicht verpflichtet, die Ansprüche im Wege des diplomatischen Schutzes geltend machen. 49 Ihr steht die Verfügungsbefugnis über den Wiedergutmachungsanspruch und die Schutzrechtsausübung zu. Der Berechtigte muß sowohl das Unrecht wie die Unrechtsfolgen geltend machen, wenn er seine Ansprüche durchsetzen will. Ziel muß eine Einigung mit dem Schädiger sein. Da Polen die deutschen Ansprüche nicht anerkannt hat, ist bisher eine Durchsetzung nicht in Frage gekommen. Die Bundesregierung hat zwar ihren Standpunkt von der Rechtswidrigkeit von Vertreibung und ___________ 46 Dokumente zur Außenpolitik der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik, Bd. IV, 1957, S. 39. 47 Zbiór Dokumentow 1953, Nr. 9, S. 1830 f.; s. auch BVerfGE 40, 141 (169). 48 Randelshofer/Dörr, Entschädigung für Zwangsarbeiter?, 1994, S. 70. 49 S. z. B. Geck, Diplomatischer Schutz, in: WVR I, S. 379.
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Enteignung klargestellt, hatte darüber hinaus aber nur die Wahl, die Frage offenzuhalten oder auf die Geltendmachung von Einwendungen zu verzichten. 2. Verzicht auf Einwendungen a) Überleitungsvertrag (ÜV) Die Frage wird diskutiert, ob die von Polen konfiszierten deutschen Vermögen von dem Einwendungsverzicht erfaßt wurden, den die westlichen Alliierten mit der Bundesrepublik in Teil VI des Überleitungsvertrags („Vertrag zur Regelung aus Krieg und Besatzung entstandener Fragen“) vom 26. Mai 1952 50 vereinbarten und in Verbindung mit dem anläßlich der Unterzeichnung des Zwei-plus-Vier-Vertrags erfolgten Notenwechsel vom 27./28. September 1990 weiter festschrieben. 51 Art. 3 Abs. 1 des VI. Teils des Überleitungsvertrags enthält einen von der Bundesrepublik gegenüber den drei westlichen Alliierten erklärten gültigen Verzicht auf Einwendungen gegen Maßnahmen, die die Allierten gegen deutsches „Auslands- und sonstiges Vermögen“ vor allem zu Reparationszwecken ergriffen hatten. Die Verzichtserklärung gilt seit der Wiedervereinigung auch mit Wirkung für das Gebiet der ehemaligen DDR. 52 Folgendes steht fest: Mindestens bis 1990 waren die Vermögen in Polen wie auch in den Oder-Neiße-Gebieten entgegen der in den siebziger Jahren im Bundestag 53 und im polnischen Schrifttum verbreiteten Meinung nicht von Art. 3 Abs. 1 erfaßt. Das ergibt sich eindeutig aus AHKG-Gesetz Nr. 63, das, gemäß Art. 2 des VI. Teils ÜV, ausdrücklich fortgalt und mit diesem Art. 2 erst 1990 entfiel. Art. 3 des VI. Teils ÜV entsprach dem Gesetz inhaltlich und hatte den Zweck, den Einwendungsverzicht in self executing-Vertragsrecht umzuformen, während AHKG Nr. 63 Besatzungsrecht war und blieb. Beide unterschieden zwischen deutschem Auslandsvermögen und „sonstigem Vermögen“. Nach AHKG Nr. 63 war vom erfaßten deutschen Auslandsvermögen solches Vermögen ausgenommen, das in einem der gesondert aufgelisteten Staaten ___________ 50 BGBl. 1955 II, S. 405 f. . Teil VI Art. 3 Satz 1 des Überleitungsvertrages lautet: „Die Bundesrepublik wird in Zukunft keine Einwendungen gegen die Maßnahmen erheben, die gegen das deutsche Ausland- oder sonstige Vermögen durchgeführt worden sind oder werden sollen, das beschlagnahmt worden ist für Zwecke dre Reparation oder Restitution oder aufgrund des Kriegszustandes oder aufgrund von Abkommen, die die Drei Mächte mit anderen alliierten Staaten, neutralen Staaten oder ehemaligen Bundesgenossen Deutschlands geschlossen haben oder schließen werden.“ 51 S. hierzu z. B. Blumenwitz, Staatennachfolge und die Einigung Deutschlands, Bd. I, 1992, S. 65 f. 52 Daran erinnerten die Alliierten die Bundesregierung ausdrücklich, dies ergibt sich aber auch aus dem sukzessionsrechtlichen Grundsatz der beweglichen Vertragsgrenzen, s. z. B. Doehring, Völkerrecht, 2004, Rz. 171. 53 Dt. Bundestag, 7. Wahlper., Sten. Ber. Bd. 90, S. 9534 f.; Bd. 92, S. 10949 f.
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v. a. des Ostblocks belegen war. Dazu gehörte Polen. Deutschland war zwar ausdrücklich mit den Grenzen von 1937 definiert; das vom Verzicht erfaßte „sonstige“ bzw. Inlandsvermögen war aber nur solches aus den westlichen Besatzungszonen und dazu gehörten die Oder-Neiße-Vermögen nicht. Ab 1990 käme eine Einbeziehung der Oder-Neiße-Vermögen in das von Art. 3 Teil VI ÜV erfaßte Auslandsvermögen nur in Betracht, wenn sich nicht nur die bisherigen Abgrenzungen zwischen Auslands- und sonstigem Vermögen durch die Grenzbestätigung von 1990 geändert hätten, sondern auch die Einbeziehung des in Polen befindlichen deutschen Vermögens dem Willen der Bundesrepublik und der westlichen Alliierten als den Vertragspartnern entsprochen hätte. Dafür sind aber keine Anhaltspunkte ersichtlich. Da der seinerzeitige Einwendungsverzicht nur Entnahmen der westlichen Siegermächte aus der Westmasse betraf, insbesondere nur gegenüber den Westmächten erklärt war, entstand offensichtlich auch durch die Festschreibung kein Zusammenhang zu den von Polen durchgeführten Konfiskationen. b) Kanzlerrede vom 1. August 2004 Am 1. August 2004 gab der Bundeskanzler bei einem Besuch in Warschau eine einseitige Erklärung für die Bundesregierung ab: „Wir Deutschen wissen sehr wohl, wer den Krieg angefangen hat und wer seine ersten Opfer waren. Deshalb darf es heute keinen Raum mehr für Restitutionsansprüche aus Deutschland geben, die die Geschichte auf den Kopf stellen. Die mit dem Zweiten Weltkrieg zusammenhängenden Vermögensfragen sind für beide Regierungen kein Thema mehr in den deutsch-polnischen Beziehungen. Weder die Bundesregierung noch andere ernst zu nehmende politische Kräfte in Deutschland unterstützen individuelle Forderungen, soweit sie dennoch geltend gemacht werden. Diese Position wird die Bundesregierung auch vor allen internationalen Gerichten vertreten“. 54 Diese Erklärung hat verbindlichen Charakter. Sie beinhaltet keinen Anspruchsverzicht, der mit einem Forderungsuntergang verbunden wäre, sondern einen Einwendungs- oder Interventionsverzicht, einen Verzicht auf die Geltendmachung von Ansprüchen – die Vermögensfragen sind fortan „kein Thema ___________ 54 Dazu wurde von den Völkerrechtlern Frowein/Heidelberg und Barcz/Warschau im Auftrag der polnischen und deutschen Regierung ein Gutachten vom 2. November 2004 erstellt Schon am 27. September hatte der Bundeskanzler in Berlin bei einer Pressekonferenz mit dem polnischen Premierminister von der Rechtsgrundlosigkeit aller Ansprüche deutscher Staatsbürger gegenüber Polen auf der Gundlage der Vertreibung und der Enteignungen gesprochen, desgleichen eine Bestätigung von polnischer Seite erwähnt, daß die Reparationsfrage abgeschlossen sei.
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mehr“. Die weitere Ausübung des Schutzrechts wird versagt. Das ist völkerrechtlich ohne weiteres und verfassungsrechtlich zulässig, wenn zwingende Gründe der allgemeinen Politik die Schutzausübung verbieten. Trotz nicht ganz eindeutiger Formulierungen ist davon auszugehen, daß die individuellen vermögensrechtlichen Ansprüche der Vertriebenen wie auch aus der Vertreibung resultierende Ansprüche nicht erfaßt sein sollen. Gleichwohl ist die Erklärung folgenschwer, denn die Betroffenen können auch hinsichtlich ihrer ohnehin begrenzten individuellen Ansprüche und Möglichkeiten nicht mehr mit der Hilfe des Staates rechnen.
III. Individualansprüche der Betroffenen 1. Rechtslage nach Völkerrecht Auf Grund der Mediatisierung des Menschen im Völkerrecht, das nur die Staaten als Völkerrechtssubjekte kennt, kann der Einzelne grundsätzlich nicht Träger völkerrechtlicher Rechte und Pflichten sein, auch nicht Träger von Wiedergutmachungsansprüchen oder -verpflichtungen, auch nicht, wenn sie sich auf Besatzungs-, Fremdenrecht oder die Verletzung elementarer Menschenrechte stützen. Derartige Berechtigungen müßten ihm vertraglich eingeräumt werden. Da hier ausschlaggebend nur das bei Kriegsende geltende Völkerrecht sein kann, kommen neuere menschenrechtliche Entwicklungen und Abkommen mangels Rückwirkung als Grundlage irgendwelcher Ansprüche nicht in Betracht. Polen ist Anfang der neunziger Jahre der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950 55 und dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966 56 beigetreten. Da die Pakte nur auf Tatbestände anwendbar sind, die sich nach dem Beitritt ereignet haben, kämen sie als Bewertungsgrundlage für die Vorgänge bei Kriegsende nur in Betracht, wenn von einer bis in die heutige Zeit hineinreichenden Art Dauerwirkung der seinerzeitigen Verfolgungs-, insbesondere Konfiskationsakte ausgegangen werden könnte. Die Annahme einer solchen Dauerwirkung erweist sich jedoch auch bei ius cogens-Verstößen als problematisch. Eher dürfte dem allgemeinen Diskriminierungsverbot des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte von 1966 angesichts der die Deutschen ausschließenden heutigen Reprivatisierungspraxis der Vertreiberstaaten Beachtung zu schenken sein. 57
___________ 55
BGBl. 1952 II, S. 585 i. d. F. BGBl. 1968 II, S. 1111, 1120. BGBl. 1973 II, S. 1533. 57 Zur Problematik s. Tomuschat Die Vertreibung der Sudetendeutschen, S. 17 f. 56
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2. Rechtslage nach deutschem Recht a) Pflicht zur Nichtanerkennung – Kollisionsrechtliche Lage Bei der Überprüfung der Folgen fremdstaatlicher Konfiskationsmaßnahmen kann die völkerrechtliche Haftung oder es kann auch die gewollte Wirkung der Maßnahme im Vordergrund stehen. Dann stellt sich die Frage, ob der Rechtsbruch den Eintritt der Wirkung verhindert (innerstaatlich: Unwirksamkeit der Enteignung, völkerrechtlich: Unbeachtlichkeit der Enteignung) oder von einer Erklärung des betroffenen Staates abhängig macht (Anerkennung oder Nichtanerkennung). Diese völkerrechtliche Fragestellung ist zugleich für das innerstaatliche Recht des Maßnahmestaates wie auch das innerstaatliche Recht, insbesondere Kollisionsrecht des betroffenen Staates oder dritter Staaten von Belang. Wo wegen der Schwere des Rechtsverstoßes von der Unwirksamkeit einer Enteignung im nationalen Recht des Maßnahmestaates und der Nichtanerkennungsfähigkeit oder Pflicht zur Nichtanerkennung auf völkerrechtlicher Ebene auszugehen ist, werden die nationalen Organe der Bundesrepublik über Art. 25 GG ebenfalls auf die Nichtanerkennung der völkerrechtswidrigen fremdstaatlichen Enteignung festgelegt, ohne daß der nationale ordre public des Art. 6 EGBGB bemüht werden muß. 58 Bei Annahme eines ius cogensVerstoßes kann es demnach im deutschen Recht keine Anerkennung der polnischen Konfiskationsmaßnahmen geben; der Territorialitätsgrundsatz des Internationalen Enteignungsrechts käme nicht zum Tragen. b) Anspruch auf Wahrnehmung des diplomatischen Schutzrechts Der von den rechtswidrigen polnischen Maßnahmen betroffene deutsche Staatsangehörige bzw. seine Erben mit deutscher Staatsangehörigkeit haben gegenüber der Bundesrepublik einen grundrechtlich abgesicherten Anspruch auf Ausübung des diplomatischen Schutzes im Hinblick auf die Wiedergutmachungsverpflichtungen Polens. Wie auch das Bundesverfassungsgericht mehrfach klargestellt hat, erstreckt sich dieser Anspruch auf Grund der im internationalen Verkehr vielfältig aufzubringenden Rücksichtnahmen nur auf eine ermessensfehlerfreie Ausübung des Schutzrechts; die Bundesregierung entscheidet über das Ob, Wann und Wie der Ausübung. 59 In bestimmten Situatio___________ 58
S. Blumenwitz, Interessenausgleich zwischen Deutschland und den östlichen Nachbarn (Forschungsergebnisse der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 27), 1998, S. 74 f. 59 Zum Ganzen u. a. Doehring, Die Pflicht des Staates zur Gewährung diplomatischen Schutzes, 1959, S. 127; E. Klein, Bundesverfassungsgericht und Ostverträge, S. 32 f.; ders., Diplomatischer Schutz im Hinblick auf Konfiskationen deutschen Vermögens durch Polen, 1992, S. 37 f.; BVerfGE 55, 349 f. (365).
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nen ist eine Reduzierung des Ermessens auf Null denkbar. Klagen, die sich auf das Vorbringen stützen, die Bundesregierung bzw. das Auswärtige Amt hätten zu einem bestimmten Anlaß in bestimmter Weise handeln müssen und durch ihre Untätigkeit ihre Amtspflichten oder gar Art. 14 GG verletzt, scheitern jedoch erfahungsgemäß. Eine ganz andere Frage als die nach dem Ob, Wann und Wie der Schutzrechtsausübung ist die, ob die auswärtige Verwaltung den ihr obliegenden verfassungsmäßigen Schutz überhaupt versagen kann. Dies wird nicht ausgeschlossen. Bei Versagung des diplomatischen Schutzes liegt eine ermessensfehlerfreie Entscheidung dann vor, wenn Gründe gegeben sind, die im konkreten Fall die Nichtausübung rechtfertigen. Das ist der Fall, wenn nach dem maßgeblichen Urteil des für die auswärtige Politik Verantwortlichen die Ausübung den Interessen der Allgemeinheit widerspräche 60 bzw. – mit anderen Worten und wie oben schon ausgeführt – Rücksichten auf die allgemeine Politik eine Schutzausübung verbieten. Vor diesem Hintergrund wird die Erklärung des Bundeskanzlers vom 1. August 2004 noch näher zu beleuchten sein. c) Ansprüche auf Grund eines Verstoßes gegen Art. 14 GG Um einen Verstoß gegen das Eigentumsgrundrecht des Art. 14 GG zu vermeiden, dürfen die Organe der Bundesrepublik keinerlei Maßnahme ergreifen und Erklärung abgeben, die einen Eingriff in noch vorhandenes Eigentum oder eine Beeinträchtigung vorhandener Eigentumsrechte bzw. vermögenswerter Rechtspositionen beinhalten könnte. Denn dann wäre sie selbst entschädigungspflichtig. Die Bundesregierung gibt daher auch vorsorglich zu gegebenem Anlaß Erklärungen ab, eine bestimmte Maßnahme beinhalte keine Eigentumsverfügung oder keinen Anspruchsverzicht. Die Rede des Bundeskanzlers vom 1. August 2004 beinhaltet keinen Verzicht auf Individualansprüche, daher dürfte z. B. eine auf die Verletzung von Art. 14 GG gestützte Verfassungsbeschwerde wenig erfolgversprechend sein. Andererseits bleibt zu klären, ob und unter welchen Voraussetzungen eine Schutzrechtsversagung einen Eingriff in den Schutzbereich des Art. 14 GG darstellen könnte. 3. Rechtslage nach polnischem Recht a) Ansprüche auf Wiederherstellung der früheren Rechtslage? Nicht nur die Regierung der BRD, sondern auch die Betroffenen selbst erfahren den polnischen Standpunkt zur Frage durchsetzbarer Rechte nach polnischem Recht sehr deutlich, wenn sie entsprechende Anfragen an amtliche ___________ 60 Geck, Diplomatischer Schutz, S. 381, Doehring, Die Pflicht des Staates zur Gewährung diplomatischen Schutzes, S. 100.
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Stellen richten. 61 Polen behandelt die Vertreibungs- und Konfiskationsmaßnahmen von 1945/46 als rechtmäßig, gültig und wirksam. aa) Kollision mit Völkerrecht Wie haben sich grundsätzlich innerstaatliche Organe, z. B. Gerichte zu verhalten, wenn ihr Landesrecht dem Völkerrecht widerspricht? Zum Verhältnis von Völkerrecht zum Landesrecht hat es lange einen heftig geführten Theorienstreit gegeben. Wenn nicht ausnahmsweise die Verfassung eines Staates die unmittelbare und vorrangige Geltung des Völkerrechts im Landesrecht anordnet, bleibt nach h. L. völkerrechtswidriges Landesrecht für die eigenen Organe und Untertanen verbindlich, bis die Forderung auf Wiedergutmachung, auf Aufhebung oder zum mindesten auf Nichtanwendung der völkerrechtswidrigen Norm, gegenüber dem Verletzerstaat durchgesetzt ist. 62 Eine Ausnahme bilden kompetenzüberschreitende Eingriffe, Verstöße gegen zwingendes Recht, jenseits völkerrechtlicher Befugnisse auf fremden besetzten Staatsgebiet durchgeführte Maßnahmen, wie sie im Fall der Vertreibungs- und Konfiskationsmaßnahmens Polens vorliegen. Hier wird davon ausgegangen, daß sie keine ___________ 61 In einem Schreiben der Botschaft der Republik Polen in der Bundesrepublik vom 12. 1. 1998 heißt es u. a.: „Ihre Behauptungen wie z. B. daß ,Polen alle Menschen wie Vieh verjagte und somit gegen die anerkannten Menschenrechte verstieß’, weist die Botschaft entschieden zurück. Sie wissen sicher, daß die Entscheidung über die Zwangsumsiedlung der deutschen Bevölkerung nicht Polen sondern die Alliierten in Potsdam getroffen haben. Sollten dabei Zwischenfälle passiert sein, müßten die einzelnen Täter zur Verantwortung gezogen werden, nicht aber das ganze polnische Volk. Es entspricht auch nicht den Tatsachen, daß Sie noch immer nicht enteignet worden und rechtlich immer noch Besitzer geblieben sind, wie Sie schreiben. Auf Grund einer ganzen Reihe von polnischen Verstaatlichungsgesetzen ist das Vermögen des III. Reiches und der deutschen Privatpersonen zum Vermögen des polnischen Staatsschatzes geworden. Schon deswegen kann Ihnen Polen Ihr ehemaliges Eigentum in Schlesien nicht zurückgeben. Polen hat schon mehrmals erklärt, daß die Eigentumsfragen auf seinem heutigen Territorium endgültig geregelt worden sind. ... Es ist schon bemerkenswert, daß Regierungen vieler Staaten, darunter auch die Regierung der Bundesrepublik Deutschland, an der EU-Reife Polens keinen Zweifel haben und die Bemühungen Polens um die Mitgliedschaft in den europäischen Organisationen stark unterstützen, wofür wir ihnen sehr dankbar sind; einige Personen dagegen fordern immer noch die Rückgabe ihres ehemaligen Eigentums oder Entschädigung vom polnischen Staat, abgesehen von internationalen Entscheidungen nach dem II. Weltkrieg und von deutsch-polnischen Verträgen, die Sie außer acht lassen. Zu Ihrer persönlichen Lage und Ihr Bekenntnis zu Schlesien berücksichtigend kann ich Ihnen mitteilen, daß Sie sich schon jetzt im polnischen Schlesien ansiedeln dürfen, allerdings unter bestimmten Voraussetzungen und unter Beachtung des polnischen Rechts. Diese Möglichkeit bedeutet auch nicht, daß Sie Ihr ehemaliges Eigentum zurückbekommen oder zurückerwerben können...“. Unterzeichner: Botschaftsrat Jan Kniaz. 62 S. z. B. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. I, 1960, S. 106.
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Rechtswirkung erzeugen können, sie gelten als unwirksam und im völkerrechtlichen Verkehr als unbeachtlich. Drittstaaten sind zur Nichtanerkennung verpflichtet. bb) Kollision mit höherrangigem Landesrecht Eine Überprüfung der antideutschen Sondergesetze von 1944 – 1946 könnte selbstverständlich auch am polnischen Recht vorgenommen werden. Hier bleiben nach wie vor Fragen offen, etwa die, wie sich die „Sondergesetze“ im Lichte der damaligen polnischen Verfassung ausnahmen. So galt beispielsweise der Minderheitenschutz trotz der Aufkündigung der Minderheitenschutzverträge von 1919 verfassungsrechtlich fort. Im Zusammenhang mit der neuen Verfassung von 1997 und den diesbezüglichen Expertendiskussionen faßte der polnische Senat im April 1998 einen Beschluß zur Frage der Identität und Kontinuität des polnischen Staates von 1918 bis in die Gegenwart. Der Senat hielt es für notwendig, die Gültigkeit der polnischen Gesetze 1944-1949 im Hinblick auf ihre Übereinstimmung mit der gegenwärtigen Rechtsordnung zu überprüfen. Die neue Verfassung von 1997 schützt nicht nur das Grundrecht auf Eigentum (Art. 64 III), sondern sichert auch das Gleichheitsprinzip und das Recht auf den gesetzlichen Richter. Es lassen sich daher Stimmen vernehmen, trotz der antideutschen Gesetzeslage seien die Chancen für eine Klage vor polnischen Gerichten nicht aussichtslos. 63 b) Reprivatisierungsgesetzgebung unter Ausschluß der Deutschen Die derzeit noch nicht abgeschlossene Reprivatisierungsgesetzgebung des polnischen Staates berücksichtigt die Maßnahmen gegenüber den Deutschen bisher nicht. Nach polnischem Recht stehen den Betroffenen auch insoweit keine Ansprüche gegenüber dem polnischem Staat, sei es auf Rückkehr in ihre Heimat, sei es auf Herausgabe ihres Eigentums oder Entschädigung, zu. Der polnische Präsident Aleksander Kwasniewski erklärte in Reaktion auf die von der Präsidentin des Bundes der Vertriebenen erhobenen Ansprüche, Forderungen auf Rückgabe von Privatbesitz seien „unter keinen Umständen akzeptabel“. 64 Es gehe in der Reprivatisierungsfrage nicht nur um deutschen, sondern auch um jüdischen Besitz in Polen und in den ehemaligen polnischen Ostgebieten. Eine völlige Reprivatisierung scheitere an den von den Großmächten angeordneten Grenzveränderungen. ___________ 63 S. v. Redeker, Die polnischen Vertreibungsdekrete und die offene Vermögensfrage zwischen Deutschland und Polen, 2001, S. 47 f. 64 Interview mit dem Berliner Tagesspiegel, dazu DOD Nr. 45 v. 6. 11. 1998, S. 1.
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aa) Entwicklung Die Reprivatisierung ist ein besonderes Kapitel aus dem Komplex der Privatisierung von Staats- oder „Volksvermögen“, die in Polen wie in den anderen ehemaligen sozialistischen Ländern seit der „Wende“ infolge der neuerlichen Umgestaltung der Wirtschafts- und Rechtsordnungen, der Überführung einer zentralistisch gelenkten staatlichen Wirtschaft in ein marktwirtschaftliches System, zur Lösung ansteht. Bei der Privatisierung geht es darum, das durch die Nationalisierung von Industrie- und landwirtschaftlichen Betrieben (in der Regel ab einer Größe von 50 bis 100 Hektar) und sonstige Enteignungsmaßnahmen in staatliche Hand gelangte Vermögen nach Möglichkeit wieder in private Hand zu überführen.Stets stellt sich die Frage nach dem heutigen, früheren und anvisierten künftigen Eigentümer. Polen versucht, ein „ausbalancierte Gesamtkonzeption“, d. h. eine aktive Wirtschafts- und Industriepolitik und dabei eine „soziale Privatisierung“ durchzuführen, bei der sowohl gewachsene Eigentumsstrukturen als auch die Vielzahl der zu bewältigenden Aufgaben, Wechselwirkungen und zwischenzeitlichen Erfahrungen berücksichtigt werden können. 65 Entsprechende Rücksichtnahmen erfordert auch die Reprivatisierung. Ihr Anliegen ist es, daß das zwischen 1944 und 1962 verstaatlichte Vermögen nicht wie bei der allgemeinen Privatisierung an beliebige Private, sondern an die Alteigentümer zurückgelangt oder ihnen gegebenenfalls Entschädigung gewährt wird. Der europäische Grundsatz der Unantastbarkeit des Eigentumsrechts soll wiederhergestellt und die verfassungsrechtliche Eigentumsgarantie (Art. 21 und 64 der Verf.) angemessen realisiert werden. bb) Verwaltungsgerichtsweg Die ersten Ansätze zur Reprivatisierung sind auf das polnische Privatisierungsgesetz vom Juli 1990 und die schon in den achtziger Jahren einsetzenden Reformen des Staatsunternehmensrechts zurückzuführen. Erfolg hatten von Anfang an solche Anträge, die sich auf eine nach den seinerzeit maßgeblichen Gesetzen rechtswidrige, nämlich verfahrenswidrige oder entschädigungslose Enteignung stützten. Auf der Grundlage des geltenden Verwaltungsverfahrens___________ 65 Lowitzsch/Hermann, Eigentumserwerb und Privatisierung in Polen, Teil I: Systematische Darstellung der Beteiligungsformen, in: ROW 1995, S. 1 f. Zu den verschiedenen in Polen angewandten Privatisierungsmodellen vgl. insbesondere Mohlek, Die Privatisierung von Staatsunternehmen, 1997, dessen Buch auch in der polnischen Literatur als Standardwerk gerühmt wird (s. B. Banaszak in: AöR 1999, S. 353 f.); zum Vergleich mit der Entwicklung in anderen Staaten s. Brunner, Privatisierung in Osteuropa – eine typologische Skizze, in: Osteuroparecht 45 (1999), S. 2 f.
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gesetzes von 1980 66 wurden Wohnhäuser, Geschäfte, Dienstleistungsbetriebe und Kleinunternehmen an Alteigentümer zurückgegeben. 67 Dieser Weg wird bis heute erfolgreich praktiziert. Es muß im Einzelfall vom Hauptverwaltungsgericht über die Nichtigkeit einer rechtswidrigen Enteignung und ggf. von den ordentlichen Gerichten über einen Herausgabeanspruch entschieden werden. 68 Die umfassende gesetzliche Regelung für die große Masse der sonstigen Anträge steht noch aus. Die Last der Problemlösung haben weiterhin die Gerichte zu tragen. 250 000 Anträge sollen vorliegen. cc) Gesetz vom 11. Januar 2001 Am 11. Januar 2001 beschloß der Sejm ein Reprivatisierungsgesetz, das zwar wegen des am 23. März 2001 vom polnischen Staatspräsident Kwasniewski eingelegten Vetos nicht in Kraft getreten ist, aber den bis dahin letzten Stand der Iniativen wiedergibt. Es bringt keine Lösungen für die Vertriebenen. Das Veto wurde u. a. damit begründet, daß der polnische Staat die notwendigen Mittel nicht aufbringen könne, ohne vorrangig zu erfüllende andere Aufgaben zu vernachlässigen und die wirtschaftliche Entwicklung Polens über Jahre zu blockieren. Die vorgesehene Methode der Rückerstattung sei mit den Grundsätzen der sozialen Gerechtigkeit und der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz nicht zu vereinbaren. Der Präsident verwies auf den Gerichtsweg als den gerechtesten, weil er von politischen Entscheidungen unabhängig sei. (1) Inhalt der Reprivatisierungsleistung Die Entschädigungslösung soll, soweit es sich nicht um Wälder und volkswirtschaftlich unverzichtbare Objekte handelt, in Rückgabe, vorzugsweise aber in der Ausgabe von übertragbaren Entschädigungsgutscheinen bestehen. Die Rückgabe kommt in Betracht, wenn sich die fraglichen Objekte in öffentlichem ___________ 66
Dz.U.R.P. Nr. 4, Pos. 8; Nr. 9, Pos. 26. Vgl. Lowitzsch, Wege zur Privatisierung in Polen: Verfahren und Rechtsquellen; das Privatisierungsangebot; die Sektoren, 1993, S. 70 f. Nach den auf S. 209 f. wiedergegebenen Statistiken wurden zwischen 01.01.1990 und 31.08.1992 von den einschlägigen Ressorts gemäß Art. 156 Abs. 1 Ziff. 2 Verwaltungsverfahrensgesetz in Reprivatisierungsangelegenheiten 552 Entscheidungen getroffen, die zur Hälfte Mühlen, Pensionate und Hotels, im übrigen Ziegeleien und kleinere Betriebe wie Bäckereien etc. und nur 19 landwirtschaftliche Immobilien betrafen. In der gleichen Zeit gingen beim Privatisierungsministerium 3508 Reprivatisierungsanträge ein, die auch Land, Wälder, Güter und große Industriebetriebe betrafen. Im späteren Beitrag von Lowitzsch/Hermann vom Januar 1995, a. a. O., S. 11, ist von 907 positiven Entscheidungen bei 8585 Anträgen die Rede. 68 Brunner, Privatisierung in Osteuropa, S. 16; Wyrzykowski, Reprivatisierung in Polen – ungelöste Probleme der Vergangenheit, in: Tomuschat (Hrsg.), Eigentum im Umbruch. Restitution, Privatisierung und Nutzungskonflikte im Europa der Gegenwart, 1996. 67
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Eigentum befinden. Gehören sie juristischen oder Privatpersonen, ist deren Zustimmung nötig. Nur ein Bruchteil der Antragsteller (geschätzt: 1/5) wird das alte Vermögen zurückerhalten (wollen). Die Entschädigungsgutscheine berechtigen zum Erwerb von im Staatseigentum stehenden Immobilien oder können in Reprivatisierungsfonds eingebracht werden. Diese sollen 15 % des in den nächsten Jahren zu privatisierenden Staatsvermögens und auch einen Teil des Verkaufserlöses verwalten, der in den weiteren Jahren bis 2009 erwartet wird. (2) Sachliche Voraussetzungen Sachliche Voraussetzung der Reprivatisierungspflicht ist nach Art. 2 ein Eigentumsverlust an Immobilien durch „Übernahme“ durch den polnischen Staat oder die Stadt Warschau – auf Grund von Dekreten oder Gesetzen aus den Jahren 1944-48, 1957/58, 1962, – unter krasser Beeinträchtigung sonstiger Vorschriften oder bei rechtsgrundloser Übernahme, – bei vorangegangener Enteignung bzw. Beschlagnahme durch die deutsche Besatzungsmacht nach dem 1. September 1939, – wenn Immobilien in den ehemaligen ostpolnischen Gebieten, „die wegen des II. Weltkriegs zum Gebiet der ehemalige UdSSR gehören“, hinterlassen wurden. Eine Reprivatisierungsleistung entfällt nach Art. 2 Abs. (2) in drei Fällenwenn Objekte bereits nach bisher gültigen Vorschriften zurückgegeben, Entschädigung nach Art. 160 Verwaltungsverfahrensgesetz zugesprochen oder anstelle des verlorenen Eigentums gleichwertige 99-jährige („ewige“) Nutzungsrechte an einem anderen Grundstück eingeräumt wurden. (3) Persönliche Voraussetzungen Anspruchsberechtigt sind grundsätzlich nur natürliche Personen. 69 Der Gesetzesbeschluß in seiner ursprünglichen Form sah vor, daß sowohl zum Zeitpunkt des Eigentumsverlusts als auch in der Gegenwart (31. Dezember 1999) die polnische Staatsangehörigkeit vorliegen müsse (3 Abs. 1). Nach dem Änderungsvorschlag des polnischen Senats soll die letztere Voraussetzung entfallen; auch auf einen Wohnsitz in Polen kommt es entgegen früherer Gesetzesentwürfe nicht mehr an. Die Anspruchsberechtigung wird ferner u. a. bejaht: ___________ 69
Anspruchsberechtigt sind im Fall des Todes eines an sich Antragsberechtigten diejenigen, die nach polnischem Recht seine gesetzlichen Erben bzw. deren gesetzliche Erben sind (Art. 3 Abs. 3).
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– wenn eine Person Immobilien im ehemaligen Ostpolen verloren und die ehemalige UdSSR, der diese Gebiete nach dem II. Weltkrieg „angeschlossen wurden“, bis 1. Januar 1999 verlassen hat – der Änderungsvorschlag des Senats will auf die Befristung verzichten, verlangt jedoch explizit das Vorliegen der polnischen Staatsangehörigkeit am 1. September 1939; – wenn eine Person das Eigentum „aufgrund von Vorschriften über Immobilien, die Eigentum von Staatsangehörigen fremder Staaten waren“, verloren hat, also als Reichsdeutscher enteignet wurde, und anschließend die polnische Staatsangehörigkeit aufgrund der Gesetze über die polnische Staatsangehörigkeit von Personen mit polnischer Nationalität in den Wiedergewonnenen Gebieten (Gesetz vom 28. April 1946) oder im Gebiet der ehemaligen Freistadt Danzig (Dekret vom 22. Oktober 1947) oder aufgrund von Art. 2 Punkt 3, Art. 3 des Gesetzes über die polnische Staatsangehörigkeit vom 8. Januar 1951 erworben hat, also den sog. Autochthonen zugerechnet wurde. Das gilt nicht, wenn sie bis 8. März 1984 das Gebiet Polens verlassen hat, nämlich als Spätaussiedler nach Deutschland kam. Diese Vorschrift wird heute kritisiert, weil die Voraussetzungen für den Vermögensverlust sich von anderen Fällen unterscheiden. Nichtberechtigt ist nach Art. 4 eine Person, – die bereits auf Grund von Abkommen zwischen Polen und einem fremden Staat, die nach dem 1. Januar 1944 abgeschlossen wurden, Ansprüche erlangt hat (Globalentschädigungsabkommen), – „die die die polnische Staatsangehörigkeit aufgrund des ‚Dekrets über den Ausschluß von Personen deutscher Nationalität aus der polnischen Gesellschaft vom 13. September 1946‘ verloren hat“ (deutsche Volkszugehörigkeit). (4) Würdigung Fortschrittlich ist, daß unter dem Einfluß des EU-rechtlichen Diskriminierungsverbots die Anspruchsberechtigung nicht mehr wie früher vom Vorliegen der polnischen Staatsangehörigkeit sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart abhängig gemacht wird. Im übrigen zeigt sich, daß sich gegenüber den bisherigen Gesetzesentwürfen nichts Wesentliches geändert hat. Die Agrarreform u. a. nach den Dekreten vom 6. September 1944 70 und 12. Dezember 1944 71 bleibt grundsätzlich unberührt, es sei denn, es lagen Gesetzesverletzungen vor. Hof- und Parkkomplexe ___________ 70
Dekret des polnischen Komitees der nationalen Befreiung über die Durchführung der Landwirtschaftsreform (Dz.U.R.P.1945 Nr. 3, Pos. 13). 71 Dekret des polnischen Komitees der nationalen Befreiung über die Übernahme einiger Wälder in das Eigentum des Staatsschatzes (Dz.U.R.P. Nr. 15, Pos. 82).
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nebst den wichtigsten Gebäuden können jedoch zurückgegeben werden. 72 Alteigentümer von Objekten, die unter die Unternehmensverstaatlichung nach Art. 3 des Gesetzes vom 3. Januar 1946 73 fielen, werden ebenso nur bei Gesetzeswidrigkeit berücksichtigt. Als rückgabefähig galten von Anfang an Apotheken. 74 Inter- essanterweise sind grundsätzlich der ukrainischen Bevölkerung im Gefolge der Aktion „W“ weggenommene Vermögen 75 wie auch zwei anfangs sehr streitige Fälle 76 , die in Ostpolen „zurückgelassenen“ Vermögen und die enteigneten Immobilien in Warschau 77 , in die Reprivatisierung einbezogen. (a) Deutsches Vermögen Eindeutig ist, daß vertriebenen Deutschen (einschließlich der ihnen bisher gleichgestellten Spätaussiedler, die bis 1984 die Heimat verließen) nach den bisherigen Reprivatisierungskonzeptionen keine Ansprüche zustehen. Die Liste der zwischen 1944 und 1960 erlassenen polnischen Gesetze, auf deren Grundlage die jetzt für eine Reprivatisierung in Betracht kommenden Vermögen enteignet wurden 78 , läßt die gegen reichsdeutsche oder Danziger Rechtsträger ___________ 72
Z. B. schon nach Art. 2 des Entwurfs von 1991. Übernahme der Hauptzweige der Nationalwirtschaft in das Staatseigentum (Dz.U.R.P. Nr. 3, Pos. 17). 74 Gesetz vom 8. 01. 1951 über die Übernahme von Apotheken in das Staatseigentum (Dz.U.R.P. Nr. 1, Pos. 1). 75 Dekret vom 27. 07. 1949 über die Übernahme von Immobilien, die nicht im faktischen Besitz ihrer Eigentümer stehen und sich in Kreisen der Wojewodschaft Bialystok, Lublin, Rzeszów und Kraków befinden (Dz.U.R.P. Nr. 46, Pos. 339). 76 Vgl. auch Kleer, a. a. O., S. 89 f. 77 Dekret vom 26. 10. 1945 (Dz.U.R.P. Nr. 50, Pos. 287). 78 Dekret vom 06. 09. 1944 (Durchführung der Agrarreform), s. o., Dekret vom 12. 12. 1944 (Übernahme einiger Forstgebiete in das Staatseigentum), s. o., Gesetz vom 08. 01. 1951 (Apotheken), s. o., Gesetz vom 03. 01. 1946, Art. 3 (Ubernahme der Hauptzweige der Nationalwirtschaft in das Staatseigentum), s. o. –„große Nationalisierung“ Dekret vom 27. 07. 1949 (Übernahme von ukrainischen Volkszugehörigen gehörenden Immobilien in Kreisen der Wojewodschaften Bialystok, Lublin, Rzeszów und Kraków), s. o., Dekret vom 28. 11. 1945 über die Übernahme einiger Liegenschaften zum Zwecke der Landwirtschaftsreform und der Ansiedlungen (Dz.U.R.P. Nr. 57, Pos. 321), Dekret vom 06. 09. 1946 über Landwirtschafts- und Siedlungsstruktur in den wiedergewonnenen Gebieten und auf dem Gebiet der ehemaligen Freien Stadt Danzig (Dz.U.R.P. Nr. 49, Pos. 279), Dekret vom 05. 09. 1947 über die Übernahme des Vermögens von in die UdSSR umgesiedelten Personen in das Staatseigentum (Dz.U.R.P. Nr. 59, Pos. 318), Gesetz vom 13. 07. 1957 über Änderungen des Dekretes vom 18. 04. 1955 über Eigentumsverleihung und Regelung anderer Angelegenheiten im Zusammenhang mit der Landwirtschaftsreform und landwirtschaftlichen Ansiedlung (Dz.U.R.P. Nr. 11, Pos. 37), 73
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gerichteten Konfiskationsbestimmungen im Gesetz vom 3. Januar 1946 und Dekret vom 8. März 1946 außer Betracht. Lediglich solche verbliebenen deutschen Staatsangehörigen, deren Vermögen nach den für Reichsdeutsche und Danziger geltenden Bestimmungen beschlagnahmt und evtl. enteignet wurde und die es trotz Erlangung der polnischen Staatsangehörigkeit (Gesetze 28. Januar 1946, 27. November 1947, 8. Januar 1951) nach den damaligen Regelungen ausnahmsweise nicht zurück- oder auch keinen Ersatz erhielten, sind anspruchsberechtigt. Auch die speziellen Regelungen, die gegen die geflüchteten, vertriebenen oder verbliebenen deutschen Volkszugehörigen im Polen in den Grenzen von 1939 ergangen sind, bleiben unberücksichtigt. Keinen Anspruch auf Reprivatisierungsleistung hat nach Art. 4 Ziff. 2 ausdrücklich „eine Person, die die polnische Staatsangehörigkeit aufgrund des „Dekrets über den Ausschluß von Personen deutscher Nationalität aus der polnischen Gesellschaft vom 13. September 1946“ verloren hat, also ausgebürgert, ausgewiesen und enteignet wurde. (b) Jüdisches Vermögen Aus altpolnischem Gebiet stammende ehemalige polnische Staatsangehörige polnischer bzw. jüdischer Nationalität, die im Zusammenhang mit dem Krieg flüchteten oder emigrierten, sind trotz massiver Vorstöße auf EU-Ebene 79 und amerikanischer Institutionen 80 im Gesetz zunächst nicht berücksichtigt worden. ___________ Dekret vom 25. 02. 1958 über die Regelung der Rechtslage von Vermögen, das unter staatliche Verwaltung gestellt wurde (Dz.U.R.P. Nr. 11, Pos. 37) – „kleine Nationalisierung“, Dekret vom 07. 04. 1948 über die Enteignung von Grundbesitz, der im Zeitraum 1939 1945 zum Zwecke des Allgemeingebrauches beschlagnahmt wurde, sonstige Gesetze, nach denen zwischen 1944 und 1960 gesetzeswidrig vom Staat Vermögen übernommen wurde. 79 1995 wandte sich z. B. die „Polish Association of Landowners in Great Britain and Canada“ in einem auch allen Mitgliedern des Europäischen Parlaments zugegangenen offenen Brief an den EU-Kommissar Hans van den Broek, der in der Kommission für die Beziehungen der Europäischen Union zu den ostmittel- und osteuropäischen Staaten zuständig war. Sie brachten vor, daß die geplanten Entschädigungsregelungen des polnischen Reprivatisierungsgesetzes eine schwerwiegende Diskriminierung vieler Landeigentümer darstellten, die nicht nur allen ihren Besitz inklusive der Wohnung ihrer Familien, Kunstwerke und persönliche Besitztümer verloren, sondern häufig auch Mißhandlungen, Haft und in einigen Fällen den Tod erlitten hätten. Mit Entschädigung oder Restitution sei bislang nur in einigen Fällen zu rechnen. Dieses menschenrechtswidrige Verhalten stehe einem EU-Beitritt Polens entgegen. 448 der Petenten lebten in Großbritannien, 287 im übrigen westlichen Ausland, 2012 in Polen selbst (DOD Nr. 36 vom 08.09.1995, S. 4). 80 – Mitte 10.1999 wandten sich 58 US-Kongreßmitglieder in einem Brief an den Präsidenten des polnischen Sejm mit der Forderung, das beabsichtigte Gesetz müsse die Rückgabe des während des Holocaust und nach 1945 durch „kommunistischen Terror“
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Nach Änderung der staatsangehörigkeitsrechtlichen Anforderungen dürften vor allem die Erben von Millionen getöteter Juden verbesserte Aussichten hinsichtlich ihrer Ansprüche gegen den polnischen Staat haben, der sich praktisch zum Rechtsnachfolger jüdischer Nachlässe gemacht hat. Bei einer Restitutionsklage eines jüdischen Eigentümers vor polnischen Gerichten wäre zu unterscheiden, ob er als ehemaliger polnischer Staatsangehöriger aus dem Gebiet Polens in seinen Vorkriegsgrenzen stammt oder ob er als deutscher Staatsangehöriger früher Besitz in den Oder-Neiße-Gebieten hatte. Im ersteren Fall kommt er als Inhaber von der deutschen Besatzungsmacht eingezogenen, deshalb „verlassenen Vermögens“ im Sinn von Art. 1 des Dekrets vom 8. März 1946 in Betracht, das der polnische Staat aber dann durch Ersitzung nach Art. 34 des Dekrets erworben haben will. Im zweiten Fall ist davon auszugehen, daß der Anspruchsteller sein Vermögen durch die antijüdische Gesetzgebung des Dritten Reiches schon vor, aber spätestens während des Krieges verloren hat 81 und daß es dann als Eigentum des deutschen Staates oder einer anderen deutschen Rechtsperson als ehemals deutsches Vermögen nach dem Dekret vom 8. März 1946 konfisziert wurde. Während Polen die auf seinem besetzten Staatsgebiet erfolgten Maßnahmen nach seiner Rückkehr als Souverän für unwirksam erklärte, sah er im zweiten Fall keine Veranlassung, Vermögensvorgänge, die sich auf fremdem Gebiet vor dessen Übernahme abgespielt hatten, durch Nichtanerkennung zu korrigieren. Einem an sich privilegierten Angehörigen einer verfolgten Nation (Art. 2 Ziff. 1b des Dekrets vom 8. März 1946) müßte der Weg in die Reprivatisierung eigentlich eröffnet werden.
___________ enteigneten polnisch-jüdischen Vermögens berücksichtigen. In einer Pressemitteilung des amerikanischen Repräsentantenhauses wurde festgestellt, es handele sich um rund 170 000 Objekte im Wert von zur Zeit 20 - 50 Mrd. US-Dollar (Rzeczpospolita online, http://www.rzeczpospolita.pl vom 20.10.1999). – Am 22.03.2001 wurde im Parlament des Staates New York eine öffentliche Anhörung durchgeführt mit dem Ziel, den Parlamentsmitgliedern das den polnischen Juden nach dem Zweiten Weltkrieg vom polnischen Staat zugefügte Unrecht, die daraus resultierende Verantwortung des polnischen Staates und die Folgen klarzumachen, die die Ablehnung der Rückgabe durch das polnische Gesetz für Bewohner des Staates New York und andere Betroffene hat (Pawelka, in: DOD Nr. 21. v. 25.05.2001). – Einige ab 1999 bei amerikanischen Gerichten eingereichte Sammelklagen scheiterten an der mangelnden Zuständigkeit der Gerichte. 81 Vgl. 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25.11.1941: Staatsbürgerschaft und Vermögen von Juden, die im Ausland leben (einschließlich der in den besetzten Osten deportierten), verfallen. Das Gesetz galt auch in den „eingegliederten Ostgebieten“ (RGBl. 1941 I, S. 722 f.).
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c) Grundstückserwerbsmöglichkeit nach polnischem Recht Hat ein Deutscher, etwa ein Vertriebener, die Möglichkeit, in Polen Grund und Boden, ein Haus oder eine Wohnung zu erwerben? Diese Frage ist zu beantworten nach dem Gesetz über den Erwerb von Immobilien durch Ausländer vom 24. März 1920 in der Fassung vom 15. März 1996 82 . aa) Grundsätzliche Möglichkeit des Grunderwerbs für Ausländer Ausländer i. S. des genannten Gesetzes ist nicht nur 1. jede natürliche Person ohne polnische Staatsangehörigkeit, sondern 2. auch eine juristische Person mit Sitz im Ausland und 3. eine juristische Person mit Sitz in Polen, die von den unter 1. oder 2. genannten Personen unmittelbar oder mittelbar kontrolliert wird (Art. 1 Abs. 2). Die Vorschriften des Gesetzes gelten für alle Fälle des Immobilienerwerbs 83 durch Ausländer auf Grund von Kauf-, Schenkungs- und anderen Verträgen, jedoch nicht bei Erwerb durch gesetzliche Erbfolge. Dem Eigentumserwerb ist die Begründung und Übertragung des vererblichen Nießbrauchsrechts – dies entspricht dem deutschen Erbbaurecht – oder lebenslangen Nutzungsrechts gleichgestellt. Die Vorschriften gelten auch für Versteigerungen. Insbesondere bei Versteigerungen empfiehlt sich die Einholung einer Genehmigungszusage, einer sog. Promesse (Art. 3 d). bb) Genehmigungspflicht und Ausnahmen aa) Es bedarf nämlich zum Erwerb von Grundeigentum und den gleichgestellten Rechsgeschäften grundsätzlich einer Genehmigung des Innenministers, die beim Erwerb von landwirtschaftlichen Flächen im Einvernehmen mit dem Landwirtschaftsminister und in speziellen anderen Fällen im Einvernehmen mit dem Verteidigungsminister erteilt wird. Die Genehmigung ist Wirksamkeitsvoraussetzung für den Erwerb, fehlt sie, ist der Erwerb nichtig (Art. 6 Abs. 1). Grundsätzlich ist die Erteilung der Genehmigung eine Ermessenssache des Innenministers. Bevorzugt erhalten jedoch eine Genehmigung ___________ 82 Dz.U.R.P. 1996 Nr. 54, Pos. 245; frühere Novellierungen u. a. Dz.U.R.P. 1990 Nr. 79, Pos. 466; 1993 Nr. 24, Pos. 202. Änderungen in Dz.U.R.P. 1997 Nr. 140, Pos. 939; 1998 Nr. 106, Pos. 668; 2001 Nr. 16, Pos. 166. Vgl. dazu Bundesstelle für Außenhandelsinformation (Hrsg.), Internationales und ausländisches Wirtschafts- und Steuerrecht, Polen, Grundstückserwerb, mit Anhang (1. Dt. Üb. der Information des Ministeriums für Innere Angelegenheiten Polens, 2. Dt. Üb. des Gesetzestextes, 3. Beitrag des BfAI zur Genehmigungspraxis); Zdanowicz, The Legal Status of Aliens in Poland, in: AVR 36 (1988), S. 444 f. (460 f.) ;Gralla, Immobilienerwerb und -nutzung in Osteuropa, Länderbericht Polen, Jahrb. f. Ostr. 2/1996, S. 303 f. 83 Grund und Boden, Gebäude oder Teile von Gebäuden (Wohnungen).
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– Personen polnischer Nationalität und Abstammung, – Ehegatten polnischer Bürger, – Personen, die eine vom zuständigen Wojewoden erteilte spezielle Daueraufenthaltsgenehmigung haben, – Angehörige der Leitungsgremien von Unternehmen mit ausländischer Beteiligung. Personen, die die genannten Voraussetzungen nicht erfüllen, werden nur in Sonderfällen positiv beschieden. Berücksichtigungsfähig ist in den ersten drei der genannten Fälle ein „Lebens“-Bedarf von 20 – 50 Ar. Geht es um die Ausübung unternehmerischer oder sonstiger Tätigkeiten von natürlichen oder juristischen Personen, wird auf den „gerechtfertigten“ Bedarf abgestellt. Polen hat durch die Gesetzesnovelle von 1996 Ausnahmen von der Genehmigungspflicht eingeführt und damit den Immobilienerwerb erleichtert, um das polnische Recht an europäische Standards anzugleichen. Genehmigungsfrei ist seit 1996 nach Art. 8: (1) der Erwerb von Wohnungseigentum, (2) der Erwerb durch einen Ausländer, der mindestens seit 5 Jahren mit Daueraufenthaltsgenehmigung in Polen lebt, (3) der Erwerb durch einen Ausländer, der seit mindetens 2 Jahren mit Daueraufenthaltsgenehmigung in Polen lebt und einen polnischen Ehegatten hat, wenn die Immobilie gemeinsames Eigentum der Ehegatten wird, (4) der Erwerb durch einen Ausländer, wenn dieser am Tag des Erwerbes zur gesetzlichen Erbfolge nach dem Veräußerer der Immobilie befugt ist und der Veräußerer seit mindestens 5 Jahren der Eigentümer oder ein Erbnießbraucher ist und (5) der Erwerb durch eine juristische Person mit Sitz in Polen zu Statutzwecken. Die Genehmigungsfreiheit gilt für unbebaute Immobilien in städtischem Gebiet bis zu einer Gesamtfläche von 0,4 Hektar im ganzen Land. Sie gilt nicht für Immobilien, die sich im Grenzgebiet befinden, sowie für Ackerland, wenn es einen Hektar überschreitet (Art. 8 Abs. 3). cc) Zur Behauptung des „Ausverkaufs Polens“ Vielfach, so auch bei den Novellierungsdebatten im polnischen Parlament, wurde vor einem „Ausverkauf Polens“ und der drohenden Germanisierung gewarnt. Das Innenministerium hat dem Parlament jährlich über seine Genehmigungspraxis Bericht zu erstatten. Die Statistiken zeigen, daß derartige Befürchtungen unbegründet sind. Hier einige Angaben:
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– Von 1990 bis 1994 sind von der Gesamtfläche des polnischen Staates von 312 683 qkm 5 163 Hektar (= 51,63 qkm) an Ausländer übergegangen. 84 – Im Jahr 1993 wurden 955 Genehmigungen – an 515 natürliche und 429 juristische Personen – erteilt und 1 670 Hektar Land verkauft. In 126 Fällen wurde die Genehmigung verweigert, dabei ging es um 1 086 Hektar Land und in 107 Fällen um Anträge auf Genehmigung zum Kauf größerer landwirtschaftlicher Flächen. Außerdem wurden 126 Promessen ausgestellt. 35 % der Genehmigungen wurden Deutschen erteilt. 85 – Im Jahr 1994 wurden 1 291 Genehmigungen erteilt, 117 Anträge abgelehnt. Es wurden 1 518 ha Land erworben. Die meisten Objekte wurden erworben von Personen aus der Bundesrepublik (357), aus Österreich (54), aus der ehemalen SU (49) und Schweden (40). Beim Erwerb von Grund und Boden dominierten Gesellschaften mit deutscher Beteiligung (231), gefolgt von Gesellschaften mit niederländischer (73), amerikanischer (48), italienischer (29) und österreichischer (26) Beteiligung. 86 – Im Jahr 1995 wurden 1 208 Genehmigungen zum Ankauf von 1 952 Hektar, im Jahr 1996 1 414 Genehmigungen zum Ankauf von 2 440 Hektar Land erteilt. Die Deutschen standen an der Spitze mit 520 Genehmigungen im Jahr 1996 und 285 Genehmigungen im Jahr 1995. 87 Zusammenfassend lässt sich festhalten: Die Gesetzesnovellierung von 1996 mit der Möglichkeit, genehmigungsfrei einzelne Wohnungen und unter bestimmten Voraussetzungen Grund bis 0,4 Hektar zu kaufen, galt als beträchtlicher Fortschritt. Gewisse weitere Erleichterungen gelten seit dem EU-Beitritt Polens für EU-Bürger. Mit einer Wiedergutmachung haben diese Möglichkeiten jedoch von vornherein nichts zu tun. Von der Möglichkeit des Grunderwerbs bleiben Vertriebene auch bisher ausgeschlossen, weil er nur Firmen oder Deutschen mit polnischen Ehepartnern bzw. mit Daueraufenthalt in Polen gestattet ist. ___________ 84
FAZ vom 17. 10. 1995. Roclawski, Immobilienerwerb in der Republik Polen durch Ausländer: Antrag auf die Gewährung der staatlichen Genehmigung nach dem AuslImmG, in: ROW 1995, S. 123 f. (124). 86 DOD Nr. 8 vom 24. 02. 1995, S. 9, unter Berufung auf eine Mitteilung in „Rzeczpospolita’“ vom 7. 02. 1995. 87 DOD Nr. 15 vom 11. 04. 1997, S. 4, unter Berufung auf eine dpa-Meldung. Leicht abweichende Angaben bei Zdanowicz, S. 464 Fn. 63, unter Berufung auf einen Bericht des polnischen Innenministers von 1997. Die Zahl der Genehmigungen betrug danach in den Jahren 1990/1991/1992/1993/1994/1995/1996 für Grundstückserwerb 565/604/ 876/967/1291/1342/1454, ferner wurden in dieser Zeit 80 Genehmigungen für den Erwerb oder die Übernahme von Gesellschaftsanteilen oder -vermögen und 41 sog. „penal permissions“ erteilt. 85
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IV. Der Einfluß des EU-Beitritts Polens auf die Vertreibungs- und Vermögensfrage 1. Polen und EU-Beitritt Wie vorgesehen wurden am 1. Mai 2004 Polen und neun weitere mittelosteuropäische Staaten Mitglieder der EU. Am 12./13. Dezember 2002 hatte der Europäische Rat nach langen Vorbereitungen in Kopenhagen die Beitrittsverhandlungen mit den Kandidaten beendet und ihnen die Beitrittsfähigkeit gemäß der Kopenhagener Kriterien bescheinigt. Die Beitrittsfähigkeit setzt voraus, daß in den Kandidatenländern neben einer funktionsfähigen Marktwirtschaft eine stabile demokratische und rechtsstaatliche Ordnung sowie die Wahrung der Menschenrechte und der Schutz von Minderheiten gewährleistet sind. Im April 2003 wurde in Athen der Beitrittsvertrag mit den Kandidatenländern abgeschlossen. Es folgten Volksbefragungen nach, die sämtlich positiv ausgingen; im Juni 2003 stimmten die Polen dem Beitritt zu. Der Aufnahme der zehn Staaten in die EU zum vorgesehenen Termin stand nichts mehr im Wege. Traditionell zu Europa gehörende Staaten, die durch den Ost-West-Konflikt getrennt waren, konnten wieder zusammengeführt werden. 2. Einfluß des Gemeinschaftsrechts auf die Rechtslage nach polnischem Recht Die offenen Vertreibungs- und Vermögensfragen mit Polen und auch Tschechien sind trotz des Drängens und der Erwartungen vor allem von Vertriebenenseite 88 nicht zum Gegenstand der Beitrittsverhandlungen gemacht worden. Die Kommission ging über die mangelnde Bereitschaft zur Aufarbeitung der Fragen der Vergangenheit in den Kanditatenstaaten hinweg und bestätigte das Vorliegen der Voraussetzungen für die Europareife. Aber auch die Bundesregierung hielt es nicht für erforderlich, die Vertreibungs- und Vermögensfragen als offene bilaterale Angelegenheit mit der EU-Erweiterung in Zusammenhang zu bringen. Andererseits hatte sie sehr häufig seit Abschluß des deutschpolnischen Vertragswerkes von 1990/91 auf die verbesserten Chancen zur Lösung der Vertriebenenproblematik durch den anvisierten EU-Beitritt Polens wie Tschechiens hingewiesen. Auf entsprechende Frage aus dem Bundestag
___________ 88 S. z. B. Fritz Wittmann, Erwartungen und Hoffnungen der Vertriebenen aus Anlaß des Beitritts ostmitteleuropäischer Staaten zur Europäischen Union, in: Blumenwitz, Gornig, Murswiek (Hrsg.), Der Beitritt der Staaten Ostmitteleuropas zur Europäischen Union und die Rechte der deutschen Volksgruppen und Minderheiten sowie der Vertriebenen (Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 16), 1997, S. 17 f. m. w. N.
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erklärte sie beispielsweise Anfang 1998 89 , die Politik der Aussöhnung und die Integration der bis vor kurzem noch kommunistisch beherrschten Länder in die europäischen Strukturen werde von der Bundesregierung als ein vorrangiges deutsches Interesse verfolgt. Der Beitritt werde ein intensiveres nachbarschaftliches Leben in Europa mit sich bringen, „was die Erledigung einiger offener Fragen zwischen Deutschland und den genannten Nachbarländern erleichtern könnte. Zu diesen neuen Möglichkeiten wird auch die Herstellung größerer Freizügigkeit gehören.“ Die Bundesrepublik sei überzeugt, daß der Beitritt „die rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen für die Lösung noch offener bilateraler Fragen verbessern wird.“ Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit seien Ausländern aus Staaten der EU, „letztlich also auch für seinerzeit vertriebene Deutsche, zu gewähren.“ Im übrigen bekräftigte die Bundesregierung ihre Auffassung von der Völkerrechtswidrigkeit der Vertreibung von Deutschen aus ihrer angestammten Heimat. Sie werde sich „auch weiterhin im Dialog mit den Regierungen unserer östlichen Nachbarländer für die legitimen Interessen der Heimatvertriebenen einsetzen.“ a) Vertreibungs- und Konfiskationsmaßnahmen im Lichte des Gemeinschaftsrechts Die Frage stellt sich daher, ob der Beitritt Polens zur EU zu einer Neubewertung der Ausweisungs- und Konfiskationsmaßnahmen von 1945/46 oder mindestens zu verbesserten Aussichten für Reaktionen im polnischen nationalen Recht, etwa die Einbeziehung des konfiszierten deutschen Vermögens in die polnische Reprivatisierungsgesetzgebung, führt. aa) Anwendungsvorrang des Gemeinschaftssrechts Eine entscheidende Rolle könnte spielen, daß in jedem Mitgliedstaat der EU neben dem nationalen Recht zugleich das Gemeinschaftsrecht gilt und dieses aus der Sicht des Gemeinschaftsrechts vorrangige Geltung, nämlich „Anwendungsvorrang“ besitzt, falls eine Materie vom nationalen und Gemeinschaftsrecht unterschiedlich geregelt ist. 90 Dem Gemeinschaftsrecht widersprechendes nationales Recht wird zwar überwiegend nicht als nichtig, aber als unbeachtlich angesehen. 91 ___________ 89
Frage der Bundestagsabgeordneten und BdV-Vizepräsidentin Erika Steinbach, CDU, mit Antwort des Staatsministers im Auswärtigen Amt Helmut Schäfer , in: DOD Nr. 17 v. 24. 04. 1998, S. 6. 90 Vgl. z. B. Schweitzer, Staatsrecht III, Staatsrecht, Völkerrecht, Europarecht, 8. Aufl., 2004, S. 20. 91 Vgl. Streinz, Europarecht, 1996, Rz. 180 f., 200; Blumenwitz, Interessenausgleich, S. 107 f. m. w. N. Bürger und Unternehmen können einen Mitgliedstaat vor nationalen
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Von Bedeutung könnte die wichtige Bestimmung des Art. 12 (6 alt) Abs. 1 EG-Vertrag sein, die lautet: „Unbeschadet besonderer Bestimmungen dieses Vertrages ist in seinem Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten.“ Das Diskriminierungsverbot käme demnach nur zum Tragen, wenn die seinerzeitigen gegen die Deutschen gerichteten polnischen Maßnahmen in den zeitlichen und sachlichen Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fielen. bb) Gemeinschaftsrecht und nationale Eigentumsordnung Dem könnte bereits entgegenstehen, daß die nationalen Eigentumsordnungen der Mitgliedstaaten grundsätzlich nicht in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fallen. Art. 295 (222 alt) EG-Vertrag lautet: „Der Vertrag läßt die Eigentumsordnung in den verschiedenen Mitgliedstaaten unberührt.“ Das bedeutet, daß die Mitgliedstaaten ihre Eigentumsordnungen nach eigenen wirtschaftspolitischen Vorstellungen ausgestalten, über die Zuordnung von Gütern zu Rechtsträgern, aber auch über die Voraussetzungen und Modalitäten einer Privatisierung oder Verstaatlichung selbst bestimmen können. Auch die Frage der Wiederherstellung früherer Eigentumsverhältnisse überläßt das EGRecht den Mitgliedstaaten. Unabhängig davon sind jedoch bei der Gewährleistung und organisatorischen Ausgestaltung des Eigentums Grundsätze des EG-Rechts zu beachten 92 ; Art. 295 EGV schließt nicht jede nationale Vorschrift mit Eigentumsrelevanz von einer Prüfung am EG-Recht aus. Das gilt gerade für das Verbot, zwischen verschiedenen Staatsangehörigen zu diskriminieren. 93 cc) Keine Anwendung des EG-Rechts auf zurückliegende Enteignungen (ratione tempore-Problem) Allerdings ist die Berufung auf den Anwendungsvorrang des EG-Rechts nicht bezüglich solcher Maßnahmen möglich, die – wie die polnischen Maßnahmen gegen die Deutschen bei Kriegsende – zeitlich vor der Schaffung des EG-Rechts und dessen Inkrafttreten für den einzelnen Mitgliedstaat liegen. 94 Bedauerlich ist, daß dies nach wohl überwiegender Meinung auch dann gelten soll, wenn ein gegen ius cogens verstoßender und damit eventuell nichtiger ___________ Gerichten verklagen und Ersatz für Schäden verlangen für den Fall, daß diese durch die Nichtumsetzung von Gemeinschaftsrecht in nationales Recht verursacht sind. 92 Geiger, EG-Vertrag, Kommentar, 2. Aufl. 1995, Art. 222 Rn. 1 und 2; Blumenwitz, Interessenausgleich, S. 108 m. w. N. 93 Blumenwitz, Interessenausgleich, S. 108 m. w. N. 94 Vgl. Blumenwitz, Interessenausgleich, S. 108 f.
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Eigentumseingriff vorliegt. Diesem wird also keine am EG-Recht meßbare Dauerwirkung zugeschrieben, obgleich er eine jahrzehntelange Besitzentziehung zur Folge hat. Er gilt als abgeschlossene Maßnahme, für die die jetzige Regierung nicht verantwortlich ist. Selbst unter Verstoß gegen Besatzungsrecht durchgeführte frühere Konfiskationen dürften nach dieser Auffassung nicht am EG-Recht gemessen werden können. Die Problematik kam auch in den folgenden Rechtsgutachten zur Sprache. dd) Rechtsgutachten Prof. Frowein u. a./ Prof. Blumenwitz Im September/Oktober 2002 wurden von den Professoren Frowein/Bernitz/Lord Kingsland im Auftrag des EU-Parlaments im Hinblick auf den bevorstehenden Beitritt Tschechiens zur EU Gutachten zur Frage der Vereinbarkeit der sog. Benesch-Dekrete von 1945/46 mit dem EU-Recht erstellt. Frowein, von dem das Hauptgutachten stammte, kam zum Ergebnis, daß diese hinsichtlich ihrer Rechtmäßigkeit zweifelhaften, aber 1945/46 vollständig vollzogenen Dekrete mit dem EU-Recht nichts zu tun hätten, weil dieses sich nicht auf die Vergangenheit beziehe. Für den EU-Beitritt Tschechiens relevante und ggf. zu ändernde diskriminierende Bestimmungen seien im heutigen tschechischen Recht nicht mehr enthalten. Froweins Darlegungen deckten sich im wesentlichen mit den Auffassungen der tschechischen Regierung und des EUKommissars Verheugen. Prof. Bernitz kam weitgehend zu denselben Schlußfolgerungen wie Frowein, etwa was des ratione tempore-Problem anlangt, betrachtete aber Froweins Bewertung der Benesch-Dekrete als „very cautious, perhaps too tactful“, lehnte auch die simple Übernahme der Unterscheidung der Sudetendeutschen in loyale und illoyale Staatsbürger ab und kritisierte u. a., daß Tschechien die Vorhaltungen des UN-Menschenrechtsausschußes zur diskriminierenden Restitutionsgesetzgebung nicht beachte. Prof. Blumenwitz bejahte anschließend in seinem für die Sudetendeutsche Landsmannschaft erstellten Gegengutachten die Frage, ob die Benesch-Dekrete noch in diskriminierender Weise fortgälten. Alle das Eigentum und staatsangehörigkeitsrechtlichen Status betreffenden Dekrete müßten angewendet werden, wenn die tschechische Gesetzgebung oder Rechtsprechung auf sie verweise. Diese „Nachbefolgung“ zeige sich an den nach 1991 erlassenen Restitutionsgesetzen. Nach tschechischer höchstrichterlicher Rechtsprechung müßten sie auch „nachvollzogen“ werden. Die Restitutiongesetzgebung sei diskriminierend im Sinn des Gemeinschaftsrechts. Diesem Vorwurf könne sich der Tschechische Staat nicht mit der Behauptung entziehen, die Restitutionsgesetzgebung sei schon 1996 abgeschlossen worden. Die Konfiskationen von 1945/46 seien nicht zur Gänze „vollzogen“, sondern völkerrechtswidrig und deshalb noch „offen“.
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Der überwiegend vertretenen Auffassung, EU-Recht lasse die alte Rechtslage völlig unberührt, stehen also gewichtige Argumente gegenüber. Der Meinungsstreit ist noch nicht beigelegt. b) Privatisierung und EG-Recht Unabhängig von der Frage, ob und wie zurückliegende Enteignungen am EG-Recht gemessen werden können, stellt sich die andere Frage, wie sich heutige Privatisierungen und Reprivatisierungen im Lichte des EG-Rechts ausnehmen. Wie Enteignungen sind auch Privatisierungen bzw. Reprivatisierungen Angelegenheit der nationalen Eigentumsordnungen und fallen nicht ohne weiteres in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts. Sie können nur im Rahmen einzelner Regelungskomplexe des EG-Rechts zu berücksichtigen sein. So ist die Privatisierung auf landwirtschaftlichem Sektor wegen der Auswirkung für die Wettbewerbsstrukturen für den Regelungskomplex „Landwirtschaft“ (Art. 32 f. bzw. 38 f. alt EG-Vertrag) relevant. 95 Daher ist aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht bei der in Polen in Gang befindlichen Privatisierung von landwirtschaftlichen Anwesen und Nutzflächen, die seinerzeit unter das Dekret vom 6. September 1944 über die Durchführung der Bodenreform wie auch unter das Konfiskationsdekret vom 8. März 1946 über das verlassene und ehemalige deutsche Vermögen fielen, das Diskriminierungsverbot des Art. 12 (6 alt) EG-Vertrags zu beachten. Deutsche dürfen nicht ausgeklammert werden und sind grundsätzlich zu behandeln wie andere Europäer auch; ob es sich bei einem Interessenten um einen Vertriebenen handelt, interessiert nicht. Bedenken sind insbesondere hinsichtlich der die Deutschen explizit ausschließenden polnischen Reprivatisierungspraktiken und -gesetzesvorhaben angebracht. Das bestätigen die angeführten gutachterlichen Stellungnahmen mit aller Deutlichkeit. 3. Der Einfluß des Gemeinschaftsrechts auf völkerrechtliche Wiedergutmachungsansprüche Das Gemeinschaftsrecht hat keinen Bezug zu völkerrechtlichen Ansprüchen, die aus völkerrechtlichen Unrechtstatbeständen der Vergangenheit resultieren. 96 Für eigentumsbezogene völkerrechtliche Ansprüche ergibt sich dies aus Art. 295 (222 alt) EGV. Was die Ansprüche auf Wiedergutmachung des Vertreibungsunrechts anlangt, so ist zwar an das aus der Unionsbürgerschaft folgende Recht zum Aufenthalt in allen EU-Staaten zu denken. Dies aber steht allen Unionsbürgern gleichermaßen und nicht nur den Vertriebenen und ihren ___________ 95 96
Vgl. Blumenwitz, Interessenausgleich, S. 110. Vgl. Blumenwitz, Interessenausgleich, S. 113 f.
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Nachkommen zu, hat also mit der Wiedergutmachung der Vertreibung nichts zu tun. 4. Rückkehr- und Rückerwerbsmöglichkeiten als Verbesserung der bisherigen vermögensrechtlichen Lage? Wenn sich aus dem Gemeinschaftsrecht schon keine Rechtsgrundlage für eine Neubewertung der Konfiskationsgesetze bzw. auch die Möglichkeit einer Restitution ergibt, könnte es vielleicht einen Weg für einen erleichterten Rückerwerb bereitstellen. a) Im Rahmen der Grundfreiheiten? aa) Allgemeines Seit seinem Beitritt zur Europäischen Union hat Polen den Staatsangehörigen aller Mitgliedstaaten und damit auch den Staatsangehörigen der Bundesrepublik Freizügigkeit, Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit zu gewähren. 97 Vorrangig geht es bei der damit gewährleisteten sog. Freiheit des Personenverkehrs – wie schon zuvor im Rahmen der in den neunziger Jahren abgeschlossenen Assoziierungsabkommen – darum, die Aufnahme von Erwerbstätigkeit und die Gründung von Unternehmungen zu fördern: – Das Recht auf Freizügigkeit (Art. 39 f. bzw. Art. 48 f. alt EG-Vertrag) gibt dem Bürger eines EU-Staates das Recht, in jedem anderen EU-Staat ein Beschäftigungsverhältnis einzugehen. – Die Niederlassungsfreiheit (Art. 43 f. bzw. Art. 52 alt EG-Vertrag) gewährleistet natürlichen und juristischen Personen das Recht der Aufnahme und Ausübung einer selbständigen Tätigkeit und zur Gründung von Unternehmen oder Zweigniederlassungen im anderen Staat. Sie ist an eine feste Einrichtung, zeitlich aber nicht gebunden. – Die Dienstleistungsfreiheit (Art. 52 f. bzw. Art. 59 f. alt EG-Vertrag) berechtigt zu selbständigen Tätigkeiten mit grenzüberschreitendem Charakter, ohne daß es einer festen Niederlassung bedarf. ___________ 97 Vgl. dazu u. a. Randelzhofer, in: Grabitz, Kommentar zum EWG-Vertrag, Loseblattwerk, Kommentierung zu Art. 48 f. und 52 f.; Streinz, Europarecht, 6. Aufl., 2003, S. 321 f.; Geiger, R., EG-Vertrag, Kommentar zu dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 1993, Art. 48 f., 52 f.; Gornig, Niederlassungsfreiheit in den EuropäischenGemeinschaften im Lichte des Rechts auf die Heimat, in: Blumenwitz/Gornig/Murswiek (Hrsg.), Der Beitritt der Staaten Ostmitteleuropas zur Europäischen Union und die Rechte der deutschen Volksgruppen und Minderheiten sowie der Vertriebenen (Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 16), 1997, S. 115 f.; jeweils m. w. N.
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bb) Kein Ersatz für Rückkehrrecht Im Rahmen der gewährten „Grundfreiheiten“ unterliegt der Aufenthaltsstaat zwar einem Diskriminierungsverbot, auf das sich der Einzelne gegenüber dem Aufenthaltsstaat berufen kann. 98 Er hat das Recht, die jeweiligen Tätigkeiten zu den gleichen Bestimmungen und Bedingungen aufzunehmen und auszuüben, die für Inländer gelten. Der Zweck und persönliche wie sachliche Anwendungsbereich der Freizügigkeit, Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit im Sinn der genannten Bestimmungen des EG-Vertrags sind jedoch begrenzt. Tätigkeiten, bei denen hoheitliche Gewalt ausgeübt wird, sind ausgenommen. Beschränkungen sind möglich, wenn Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit dies erfordern. 99 Auch wird ein über die Tätigkeit hinausgehender, längerfristiger Verbleib dem abhängig wie dem selbständig Beschäftigten nur unter sekundärrechtlich festgelegten Bedingungen zugestanden. 100 Diese Grenzen und Beschränkungen zeigen, daß die Rechte aus dem EGVertrag die Ansprüche der Vertriebenen auf Wiedergutmachung des Vertreibungsunrechts und Verwirklichung des Rechts auf die Heimat nicht erfüllen können. Denn diese zielen auf ein umfassendes Rückkehrrecht in die angestammte Heimat ab, das nach dem Kreis der Berechtigten, seinem Ziel und Inhalt von Erwägungen über Notwendigkeiten und Nützlichkeiten des Wirtschaftsverkehrs, wie sie das EG-Recht kennzeichnen, völlig unabhängig ist. 101 cc) Keine Rückgewähr alten Besitzes In vermögensrechtlicher Hinsicht bieten sich keinerlei Möglichkeiten. Die Wiedergutmachung für völkerrechtswidrige Vertreibungskonfiskationen hat grundsätzlich durch Rückgewähr des alten Besitzes zu erfolgen, das Recht auf die Heimat ist ein „right to home and property“. Nach EG-Recht gibt es, wie gezeigt, keine Regelung von Restitutionsfragen, hier kann es von vornherein nur um die dem EG-Ausländer (ggf. auch einem deutschen Vertriebenen) wie dem Inländer einzuräumende Möglichkeit des Ankaufs von Grund und Boden oder auch beweglichem Vermögen im Zusammenhang mit einer Erwerbstätigkeit gehen. Der Niederlassungsstaat soll nicht nur die für die Erwerbstätigkeit zwingend notwendigen, sondern auch die lediglich nützlichen Befugnisse Ausländern wie Inländern gleichermaßen einräumen, damit die Gleichheit im ___________ 98
Vgl. dazu im einzelnen Gornig, Niederlassungsfreiheit, S. 123 f. Vgl. Art 46 .EG-Vertrag. 100 Streinz, S. 745, 754; Gornig, Niederlassungsfreiheit, S. 120. 101 Vgl. dazu die fundierte Analyse von Gornig, Niederlassungsfreiheit, S. 115 f., 130 f., 141 f. 99
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Wettbewerb gewährleistet ist. 102 Dazu gehört das Recht, Grundbesitz zu erwerben, wenn er für die geschäftliche Tätigkeit eingesetzt wird. Zurückhaltend ist die Rechtsprechung des EuGH, wenn er für private Wohnzwecke verwendet werden soll. 103 Im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit nach Art. 52 EG-Vertrag kommen derartige Überlegungen zum Recht auf Erwerb von Grund und Boden nicht zum Tragen, da dabei nur selbständige Tätigkeiten mit lediglich vorübergehendem Aufenthalt im fremdem Mitgliedstaat vorgesehen sind. Der im Rahmen der Freizügigkeitsregelung nach Art. 39 EG-Vertrag im fremden Land abhängig Tätige kann sich auf ein solches Recht ebenfalls nicht berufen, weil für seine Art der Tätigkeit Grund und Boden weder „notwendig“ noch „nützlich“ im Sinn der Überlegungen zur Niederlassungsfreiheit sind. 104 Art. 9 räumt dem Freizügigkeitsberechtigten hinsichtlich einer Wohnung, einschließlich der Erlangung des Eigentums an der von ihnen benötigten Wohnung, die Rechte und Vergünstigungen wie inländischen Arbeitnehmern ein. Aus alledem ergibt sich: Die europarechtlichen Schutzbestimmungen zur Freizügigkeit, Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit sind für die heimatund vermögensrechtlichen Anliegen eines Vertriebenen selbst für den Fall unergiebig, daß er sich zur Aufnahme einer Tätigkeit in Polen entschließt und zum Rückkauf seines früheren Besitzes bereit ist. Lediglich der Niederlassungswillige hat das Recht, Grund und Boden zu erwerben, soweit dieser für seine Tätigkeit notwendig oder nützlich ist und nicht sachliche Ausnahmegründe entgegenstehen. Auf die deutsche Staatsangehörigkeit oder die Vertriebeneneigenschaft könnte ein Ausnahme allerdings nicht gestützt werden. Die Möglichkeit anderer ausländischer oder auch inländischer Unternehmer zum Grunderwerb geht allerdings zu Lasten der Vertriebenen und ihres insbesondere in den Oder-Neiße-Gebieten oder im Gebiet der Freien Stadt Danzig belegenen restitutionspflichtigen Vermögens. Die angreifbaren Fälle häufen sich. 105
___________ 102
EuGH wie vor; Randelzhofer, in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur Europäischen Union, Rnr. 19; Blumenwitz, Interessenausgleich, S. 118. 103 Vgl. Blumenwitz, Interessenausgleich, S. 118 f. 104 Vgl. Blumenwitz, Interessenausgleich, S. 119. 105 Beispielsweise wurde ein in der Hand des polnischen Staates verbliebenes konfisziertes Gut in den Oder-Neiße-Gebieten zu einem Teil an einen Ausländer zum Betrieb einer Fabrik veräußert. Der Antrag des vertriebenen Deutschen auf Erwerb des anderen Grundstücksanteils, einer abgeholzten ehemaligen Parkfläche, zur Aufnahme eines forstwirtschaftlichen Unternehmens wurde hingegen abgelehnt.
Siegrid Krülle
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b) Niederlassungsrecht und vermögensrechtliche Perspektiven als Unionsbürger Von seinem Beitritt an hat Polen über die Regelungen der Art. 39 f., 43 f. und 52 f. EG-Vertrag hinaus die erweiterten Freizügigkeitsbestimmungen des Art. 18 (8 a alt) EG-Vertrag zu berücksichtigen, der allen Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten zugutekommen soll: „Jeder Unionsbürger hat das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in diesem Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten.“ Art. 18 EG-Vertrag gehört zu den Bestimmungen, mit denen die Maastricher Beschlüsse umgesetzt werden und durch Einführung einer Unionsbürgerschaft (Art. 17) den Interessen der Angehörigen der Mitgliedstaaten auf breiterer Basis entsprochen werden soll. Die Union will den Einzelnen über das bisherige Konzept des „Marktbürgers“ hinausführen und nicht nur wirtschaftliche, sondern letztlich auch politische Zielsetzungen verwirklichen. Daher soll den EU-Bürgern in anderen Mitgliedstaaten ein von wirtschaftlicher Betätigung unabhängiger Zuzug und Aufenthalt ermöglicht werden. Ohne daß es auf den Zweck des Aufenthalts ankommt, werden die freie Ein- und Ausreise, ein Aufenthalt ohne zeitliche und grundsätzlich ohne inhaltliche Beschränkung, damit die volle Bewegungsfreiheit im Lande gewährleistet. Dazu gehört auch das Recht, bei der Einreise und im Landesinnern keinen anderen als den gegenüber Inländern zulässigen Kontrollen unterworfen zu werden. 106 Nach fünfjährigem ununterbrochenem Aufenthalt in einem Mitgliedstaat besteht fortan ein Rechtsanspruch auf unbefristete Niederlassung. 107 Art. 18 EG-Vertrag gewährt nach h. L. ein „vertraglich konsolidiertes subjektiv-öffentliches Recht“ 108 , wenn es auch nur mit Rücksicht auf die vorbehaltenen weiteren vertraglichen Normen und deren sekundärrechtliche Durchführungsvorschriften in Anspruch genommen und eingeklagt werden kann. 109 So muß etwa nach den derzeit geltenden Richtlinien eine Krankenversicherung vorliegen und die Existenz gesichert sein. 110 Damit soll verhindert werden, daß ___________ 106 Hilf, Rnr. 7 zu Art. 8 a EGV m. w. N., in: Grabitz/Hilf, Kommentar zur Europäischen Union, Stand Mai 1998. 107 Neue Richtlinie vom März 2004, s. FAZ v. 11. 3. 2004, S. 2. 108 Hilf, Rnr. 1, 21. 109 Zur Frage der „unmittelbaren Anwendbarkeit“ s. Blumenwitz, Interessenausgleich, S. 114. Der EuGH hat diese in einer Entscheidung vom 17. 9. 2002 klar bejaht (Fall Baumbast, C-413/99). 110 Die entsprechenden Nachweise werden verlangt, seit im Vorfeld des Inkrafttretens der Art. 8 f. (alt) die Richtlinie über das Aufenthaltsrecht von aus dem Erwerbsleben ausgeschiedenen Arbeitnehmern und Selbständigen angenommen (Abl. 1989 C 191/3, geändert in Abl. 1990 C 26/19) und auch weiteren Gruppen („Studentenrichtli-
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öffentliche Kassen des Aufenthaltsstaates belastet werden und das Freizügigkeitsrecht zum Zuzug in den EU-Staaten mit besserem Sozialsystem mißbraucht wird. Auch hier können – wie bei den sog. vier Grundfreiheiten die Souveränitätsvorbehalte, insbesondere Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit, der Ausübung des Rechts Grenzen setzen. Beschränkungen und Bedingungen nach nationalem Recht sind ansonsten, wie die Formulierung von Abs. 1 eindeutig zeigt, unzulässig. Wie sonstige Deutsche und andere EU-Bürger können sich demzufolge fortan auch Personen, die aus den Oder-Neiße-Gebieten, Polen (in seinen Vorkriegsgrenzen) oder Danzig vertrieben wurden, in den heutigen Grenzen Polens, deshalb auch in der alten Heimat, niederlassen, ohne hier einer Tätigkeit nachgehen zu müssen. Voraussetzung wird lediglich sein, daß ihre wirtschaftliche Situation gesichert ist. 111 Schon dies zeigt allerdings, daß von dem Zuzugs- und Aufenthaltsrecht nach Art. 18 EG-Vertrag vermögensrechtliche Gewährleistungen nicht zu erwarten sind. Wer von diesem Recht Gebrauch macht und Vertriebener ist, hat keinen Anspruch auf Wiedereinräumung seines konfiszierten früheren Besitzes. Art. 18 knüpft weder an einen früheren Aufenthalt noch an frühere Besitzstände an. Ein Zurück zu Haus und Hof im Verbund mit Schicksalsgefährten und alten Nachbarn kennt Art. 18 nicht. Die alte Heimat als Bezugspunkt familiärer und nachbarschaftlicher Bindungen und gemeinsamer Traditionen und die Wiederherstellung des früheren Zustands fallen nicht in den Schutzbereich und Wertegehalt des Art. 18. Das allgemeine, allen Unionsbürgern zustehende Zuzugsund Aufenthaltsrecht geht über diese verlorenen Positionen schlicht hinweg.
Zusammenfassung Die Austreibung und Enteignung von Millionen von Menschen, nur weil sie Deutsche waren, nicht nur aus polnischem Staatsgebiet, sondern auch aus den in polnische Verwaltung übernommenen ostdeutschen Gebieten jenseits der Oder-Neiße-Linie sowie dem Gebiet der Freien Stadt Danzig verstießen schon bei Kriegsende gegen grundlegende, zum ius cogens zählende Bestimmungen der internationalen Ordnung. Polens Versuche, sich mit den Abmachungen der Allierten auf der Konferenz von Potsdam vom August 1945 zu rechtfertigen, überzeugen nicht. Es handelte sich dabei zum einen um für Deutschland unver___________ nie“, „Auffangrichtlinie“) ein allgemeines Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht unabhängig von einer Erwerbstätigkeit zugestanden wurde. S. z. B. Hilf., Rnr. 3. 111 Zu Stimmen, die die finanzielle Absicherung mit dem subjektiv-rechtlichen Gehalt des allgemeinen Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts für unvereinbar halten, s. Hilf, Rnr. 13.
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bindliche Übereinkünfte, an denen es nicht beteiligt war. Zum anderen lässt sich nicht erkennen, dass die Siegermächte die Ausweisungen angeordnet oder dass sie die umfassende Konfiskation allen privaten Vermögens insbesondere in den Oder-Neiße-Gebieten (allein ca, 100 000 qkm Land) zu Reparationszwecken vorgesehen hätten. Die diesbezüglichen Absprachen zwischen den Sowjets und Polen im Vertrag vom 16. August 1945 behandelten außerdem den Vermögenszuwachs zu einem erheblichen Teil als Entschädigung für die Verluste im abgetretenen Ostpolen und waren für Deutschland daher im doppelten Sinn eine res inter alios gesta. Aber auch mit dem Terror der deutschen Besatzungszeit lässt sich das polnische Vorgehen nicht rechtfertigen. Rechtliche Konsequenz der Rechtsverstöße sind völkerrechtliche Wiedergutmachungsverpflichtungen Polens, die es nie anerkannt hat, so dass die Bundesrepublik darauf bisher nur mit einer Politik des Offenhaltens reagieren konnte. Vom fortgeschriebenen Einwendungsverzicht des Überleitungsvertrags waren die polnischen Konfiskationsmaßnahmen nicht erfasst. Dagegen signalisierte Bundeskanzler Schröder die Bereitschaft zur Hinnahme der von Polen geschaffenen Vermögenslage (Rede vom 1. August 2004). Der Gang nach Europa hat das Thema zweifelsohne belebt. Die Einbeziehung Polens in die EU löst die Problematik aber nicht automatisch. Ohne Zweifel dürfen Polen wie auch Tschechien die Deutschen nicht aus Gründen der Staatsangehörigkeit diskriminieren. Die bisherigen Reprivatisierungsaktionen verlaufen jedoch ausdrücklich unter Ausschluß der Deutschen. Es widerspricht jedem Rechts- und Moralgefühl und beweist auch unökonomisches Denken, wenn im Zuge der Privatisierung in den Oder-Neiße-Gebieten belegene Objekte statt den Alteigentümern sonstigen Ausländern zur Verfügung gestellt werden. Das Niederlassungsrecht eröffnet jedem EU-Bürger die Möglichkeit, in Polen „wie in seinem Heimatland“ zu leben – auch dem Vertriebenen. Über dessen altes Recht auf die Heimat, das „right to home and property“, aber geht das EU-Recht hinweg. * * *
Abstract Siegrid Krülle: Expulsion and Expropriation of Germans by Poland. On the Present Juridical Situation under Consideration of the Accession of Poland to the European Union, In: The European Union as a Community of Values. Ed. by Dieter Blumenwitz, Gilbert H. Gornig and Dietrich Murswiek (Berlin 2005) pp. 201-249.
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The expulsion and expropriation of German people by Poland at the end of the Second World War was an unprecedented process in terms of dimensions at least. In a historical review, Siegrid Krülle presents the most relevant decrees and laws on the basis of which measures were taken against the then German minority in Poland, against Dansk people, and against the population of the German eastern territories placed under Polish administration. About 9 million people were affected. In the then German eastern territories no less than 100.000 square kms of land property were confiscated. The question of illegality of these measures and of titles of restitution possibly resulting herefrom are examined in the frame of international law as well as national Polish law. The reparational intentions of the victor powers after the war were taken into consideration as well. After the refugees had been separated by the Iron Curtain from their home country for decades, many of those concerned now expect novel developments resulting from the accession of Poland to the EU. Even these, however, do not bring forth the‚right to home and property‘.
Rehabilitierung und Entschädigung der Ungarndeutschen Von János Wolfart 1. Die Enteignung der Ungarndeutschen begann 1945. Die Verschleppung in sowjetische Arbeitslager fand um die Wende 1944/45 statt. Nur ein Bruchteil der Verschleppten kehrte nach drei oder vier Jahren wieder in die Heimat zurück: viele wurden gleich in ein anderes Arbeitslager gebracht. Manche kamen erst Anfang oder Mitte der fünfziger Jahre wieder nach Hause, hatten aber kein Zuhause oder keine Familie mehr, da diese wiederum vertrieben worden war. Manche wurden Anfang 1948 in die sowjetische Zone deportiert. In Arbeitslagern in der Sowjetunion wurden fast 60.000 Ungarndeutsche beschäftigt. Die Internierung betraf nicht nur die Ungarndeutschen, sondern auch andere Minderheitenangehörige oder andere Schichten der ungarischen Bevölkerung. „Hortobágy“ ist eine Umschreibung für Holocaust. Es handelt sich also dabei nicht nur um eine berühmte Pusztalandschaft, sondern auch um ein Internierungslager zwischen 1951 und 1953. Im Jahr 1946 wurden 130.000 Personen in die amerikanische Zone und in den Jahren 1947–48 etwa 50.000 Personen in die sowjetische Zone, die spätere DDR, deportiert. 2. Entrechtung und Enteignung erfuhren jedoch nicht nur die Vertriebenen, sondern auch diejenigen, die in der Heimat bleiben durften. Schon frühzeitig tauchte auf politischer Ebene und auch im Kreise der Ungarndeutschen – beispielsweise beim Verband der Ungarndeutschen – die Frage auf, wie man dieses Unrecht wieder gutmachen könnte: In Frage kamen Entschädigung und Rehabilitierung. Aber auch in der ungarischen Öffentlichkeit wurde um die Wendezeit, aber auch schon im Vorfeld, diskutiert, ob Reprivatisierung und Entschädigung stattfinden solle und wenn ja, in welchem Maße und in welchem Umfang! Am 14. März 1990 im Vorfeld der Parlamentswahlen 1 – sie fanden Ende März 1990 statt – gab das sogenannte kommunistische Parlament Beschlüsse bekannt, in denen um Vergebung gebeten wurde: ___________ 1
Die alte Staatspartei, die alte Regierung und die neuen Parteien oder wieder neu gegründeten Parteien saßen bereits am Nationalen Runden Tisch und diskutierten über den friedlichen Übergang und auch über die Neugestaltung der Verfassung.
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„Beschlüsse des Parlaments über die Wiedergutmachung des Kollektivunrechts an der deutschen Minderheit in Ungarn 1. Das Parlament stellt fest, daß die 1944 begonnene Verschleppung und die dann folgende Aussiedlung der Ungarndeutschen ein die Menschenrechte schwer verletzendes, ungerechtes Verfahren war. Die Betroffenen mußten unschuldig wegen ihrer Nationalitätenzugehörigkeit leiden. Diese Maßnahmen waren Zeichen des kollektiven Zur-Verantwortung-Ziehens der Ungarndeutschen. Deshalb spricht das Parlament den Angehörigen der Verstorbenen sein Beileid und den leidenden Überlebenden sein Mitgefühl aus. 2. Das Parlament fordert den Ministerrat auf, einen Gesetzvorschlag zur Entschädigung zu unterbreiten, der besagt, daß die Ungarndeutschen der gleichen Beurteilung teilhaftig werden wie jene ungarischen Staatsbürger nichtdeutscher Nationalität, denen ähnliches Unrecht widerfuhr.“ Man wollte also ein Unrecht nicht so begleichen, daß man neues Unrecht begeht, also wieder diskriminiert. Man entschädigte also nicht die Ungarndeutschen, man gab nicht das deutsche Privatvermögen zurück, man reprivatisierte nicht, sondern versuchte, die Leiden in verschiedene Epochen einzuteilen. Erst regelte man die zeitlich näher stehenden Maßnahmen: Das war politisch verständlich, da der Öffentlichkeit die Revolution und der Freiheitskrieg 1956 noch sehr bewußt war und so beispielgebend, daß man sich sagte, 1989 und 1990 passiere in Ungarn endlich, was schon 1956 hätte passieren sollen. Das Jahr 1956 hatte zudem seine Folgen und Repressalien dauerten ja im Prinzip bis 1989, also war diese Zeitspanne die längste. Danach ging man zeitlich von 1956 auf das Jahr 1949 zurück. Da viele überlebt hatten, verfolgte man die Konzeption, Personen, die zwischen 1949 und 1956 ihrer Freiheit beraubt worden sind, eine Entschädigung zuzuweisen. Der dritte Abschnitt betraf die Zeit von 1949 bis 1939 und der vierte die Zeit von 1939 bis in die 1930er Jahre. Die Tatsache, daß Entschädigung geleistet wurde, war für alle von großer Bedeutung, sowohl für die Daheimgebliebenen als auch für die in der DDR und in der Bundesrepublik lebenden Ungarndeutschen. Die Tatsache, dass ihnen ihre Heimat entzogen wurde, und damit verbunden auch die ungarische Staatsbürgerschaft, bedeutete eine Entrechtung, die viele so nicht hinnehmen wollten und noch zu Lebzeiten zu regeln versuchten. Dieses Unrecht wurde durch die politische und moralische Rehabilitierung, die durch die Geste des alten Parlaments erfolgte, wiedergutgemacht. In Ungarn mußte man in der Nachwendezeit sehr schnell reagieren. Man hatte die Institutionen der Rechtsstaatlichkeit auszubauen und das nach deutschem Modell aufgestellte Verfassungsgericht anzuhören. Das Verfassungsgericht billigte einige Regelungen, die die Entschädigung betrafen, nicht. Man argumentierte, dass man doch zunächst diejenigen entschädigen müsse, die die ursprünglichen Eigentümer gewesen seien, denn erst später seien anstelle der
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Ungarndeutschen Neusiedler gekommen, meistens Ungarn aus der Tschechoslowakei, aber auch aus dem Inland. Diese erfuhren ihr Unrecht später, erhielten aber bereits im ersten Entschädigungsgesetz eine Entschädigung zugesichert. Das sogenannte zweite Entschädigungsgesetz, das Gesetz Nr. 24 aus dem Jahre 1992, ist ein Gesetz, das eine teilweise, symbolische, einheitliche, rückwirkende und einmalige Entschädigung festsetzt. Man bekommt danach zwar eine Entschädigung, hat aber keine Möglichkeit, an das ursprüngliche Vermögen, das man einmal besaß, heranzukommen. Das hing mit der Leistungsfähigkeit der damaligen ungarischen Wirtschaft zusammen; das sahen im übrigen auch alle ein, sowohl die Daheimgebliebenen als auch die Vertriebenen. Die vertriebenen Deutschen wollten von ihrer alten Heimat nicht mehr, als daß ihre Rechte wieder anerkannt würden und daß sie nach Ungarn wieder zurückkehren dürften. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die in Ungarn lebenden Ungarndeutschen sich in den Zwischenjahren eine neue Existenz aufgebaut haben und zum Teil wirtschaftlich wohlhabend waren. Sie waren nicht in der Situation, auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein. Aber für sie war es emotional wichtig, von diesen Entschädigungsregelungen betroffen zu werden. Allerdings erörterte man nun etwas, was lange Zeit als Tabu galt. Dies hängt vor allem mit der ungarischen politischen Entwicklung zusammen. Man konnte zwar in den 80er Jahren im ungarischen staatlichen Fernsehen bereits Dokumentarfilme über die Geschichten der Verschleppung, über all die Leiden, die die Menschen nach 1956 erfahren haben, sehen. Es war also der Boden schon bereitet, aber die betroffenen Menschen waren sich noch nicht einig, ob sie die Diskussion jetzt in die Öffentlichkeit tragen wollten oder mit ins Grab nehmen sollten. Ich selber habe viele Freunde, die erst in dieser Zeit als Erwachsene erfahren haben, daß ihre Mütter als Verschleppte in den Kohlengruben bei Donez arbeiten mußten und erst nach drei oder vier Jahren zurückkamen. Man sprach aber in der Familie nicht darüber, rühmte sich nicht seines schweren Schicksals und wußte, daß man darauf keine neue Leistung aufbauen könne. Es war keine Leistung, gelitten zu haben. Es war also verständlich, daß es in vielen Gemeinden und kleinen Gemeinschaften Zwistigkeiten gab, weil die Menschen das Schicksal des anderen kannten und natürlich auch den Postträger und Rententräger danach fragten, wie viel Rentenzuschlag denn der Nachbar im Vergleich zu einem selbst bekomme. Der eine habe etwa ein halbes Jahr in der Kohlengrube gearbeitet und der andere zwei Jahre. Sofort wurde gerechnet, ob man gerecht behandelt worden sei. Die Leute waren nicht vorbereitet. Sie hatten 120 Tage dafür Zeit, ihre Fragebögen auszufüllen und Zeugen zu bringen. Keiner rechnete damit und keiner bewahrte die Dokumente auf. Viele Zeugen erlebten die Rehabilitierung nicht mehr.
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Wichtig war jedoch für das Bewusstsein der Gemeinschaft, daß man die Geschichte aufarbeitete, eine Aufarbeitung, die bis zum heutigen Tag noch nicht abgeschlossen ist. Jedenfalls konnten in Ungarn die vertriebenen Ungarndeutschen an der Entschädigung teilhaben. Einige von den Vertriebenen siedelten als Rentner wieder zurück oder beantragten ihre ungarische Staatsbürgerschaft. Sie verbringen nun ihren Lebensabend wieder vollständig in Ungarn. Wichtig ist, daß diese Möglichkeit besteht. Das ist eine großartige Sache! Die Entschädigung der Ungarndeutschen erfolgte allerdings nicht reibungslos. Ihre Organisation, der Verband der Ungarndeutschen, rief aber tatkräftig zur Mitarbeit auf. Es gab eine Unterschriftenaktion, die von großer Bedeutung war. Im Jahr 1980 bekannten sich erst 10.000 Ungarndeutsche zur deutschen Nationalität. Es wirkten immer noch die Nachempfindungen der Vertreibung. Ein Jahrzehnt später waren es schon 30.000 Ungarndeutsche. Heute sind es noch immer nicht die geschätzten 200.000 oder 220.000, aber die Zahl hat sich erneut verdoppelt und das ist eine gute Tendenz. Man muss bedenken, daß die Ungarndeutschen im ganzen Lande zerstreut lebten und leben, gemeinsam mit anderen, mit Ungarn und anderen Minderheitenzugehörigen. Die Situation ist nicht mit den Siedlungsgebieten der Deutschen in Belgien oder Südtirol zu vergleichen, aber auch nicht mit den Auslandsungarn, die entlang der ungarischen Staatsgrenze in einem anderen Staat leben, eben wie vor 100 oder 120 Jahren. Sie mußten im Laufe der Zeit erfahren, daß man Toleranz nicht nur lernen kann, sondern auch ausüben muß. Anfang der 90er Jahre fanden auch noch ganz andere Ereignisse statt. So haben viele die 250-jährige oder 300-jährige Gründung ihrer Heimatgemeinden gefeiert, die daheimgebliebenen Ungarndeutschen, die vertriebenen Ungarndeutschen mit den neu angesiedelten Ungarn aus Oberungarn oder aus Transsylvanien. Man stellte gemeinsame Denkmäler auf, auf denen die Personen aufgezählt wurden, die leiden mußten, die Vertriebenen, die Verschleppten, die Kriegsgefallenen des Zweiten Weltkriegs, egal welcher Nationalität oder Konfession sie angehört hatten. Es war die Zeit, in der man Zwistigkeiten ausräumen konnte. 3. Man konnte die betroffenen Menschen sicher nicht vollem Umfang entschädigen. Man konnte ihnen keine neue Existenz aufbauen. Das wollten viele auch gar nicht mehr. Die Schusterwerkstatt um die Ecke in einer Kleinstadt war nicht mehr herzustellen, da dort vielleicht beispielsweise ein Kindergarten steht. Hier wollte keiner diesen Kindergarten abreißen, um sein Geschäft wiederzubekommen. Man war immer noch dem Gemeinwohl verpflichtet und über das Gemeinwohl einander näher gekommen. Es läßt sich aber feststellen, daß ein Prozeß, der mit einer politisch-moralischen Genugtuung begann, mit der Schaffung eines Minderheitengesetzes, das neue Chancen bietet, abgeschlossen wurde. Man genießt öffentlich-rechtliche Selbstverwaltung auf kommunaler
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und Landesebene, man hat einen Minderheitenombudsmann im Parlament. Durch das zweite Entschädigungsgesetz hat eine einmalige, gleichgestellte, aber nicht vollständige, rückwirkende Entschädigung stattgefunden. * * *
Abstract János Wolfart: Rehabilitation and Compensation of the Hungarian Germans, In: The European Union as a Community of Values. Ed. by Dieter Blumenwitz, Gilbert H. Gornig and Dietrich Murswiek (Berlin 2005) pp. 251-255. The Hungarian Parliament decided 1990 that the deportations which began in 1944 and the following emigrations of the Hungarian Germans were an unfair process which injured human rights. But the laws on restitution could not fully repair the suffered damage.
Rechtsfragen der Europäischen Integration. Der Fall Rumänien Von Monica Vlad „Ich habe ein Gewissen zu verkaufen – und niemand will es mir abkaufen“, wiederholte ein rumänischer Journalist mit Vergnügen. „Auf dem Balkan gibt es Dimensionen des Zynismus, die ein Westlicher nicht ahnen kann. In ihm kommen undenkbare Demütigungen zum Ausdruck, und Verzweiflung – so uralt, daß sie nicht mehr wahrgenommen wird“. 1 Mit dieser (ungewöhnlichen?) Bemerkung beginne ich meinen Beitrag zu dem Thema „Die Europäische Union als Wertegemeinschaft.“ Die europäische Integration ist heute eine nationale Priorität für Rumänien. Eine andere Alternative existiert politisch eigentlich überhaupt nicht: sollte die europäische Integration Rumäniens scheitern, würde dieses Land totaler Richtungslosigkeit ausgesetzt sein, weil es für diese Situation keine Strategie zusammengestellt hat. Rumänien ist sich bewusst, daß eine dauerhafte Gemeinschaft nur auf Gemeinschaft der Werte beruhen, bzw. aufgebaut werden kann. Die Verzweiflung des hier zitierten rumänischen Philosophen, der in seinen Exiljahen der Tragödie seines Heimatlandes (nur noch) bewusster wurde, bringt eine erste Frage in die Diskussion: 1.Wie kann/soll die Europazugehörigkeit Rumäniens beurteilt werden? Seit dem Sturz des kommunistischen Regimes hat es diesbezüglich unendliche politische Auseinandersetzungen gegeben, aber keine eindeutige Schlußfolgerung: „Rumänien betrachtet sich zwar als ein europäisches Land, das sich aber mit seinem kommunistischen Erbe und mit dessen Folgen auseinandersetzen muß. Dieser Prozeß hat wesentliche juristische und politische Seiten. Was die Rechtsfragen betrifft, heißt „europäische Integration“ Klärung sowohl rechtspositivistischer, als auch metajuristischer Probleme. Rechtsvergleichung ist als Kulturvergleichung zu verstehen, und da gibt es die größten Schwierigkeiten. Als atavistisches und skeptisches Volk sind die rumänischen Bürger ___________ 1
Emil Cioran, Cahiers, 1957-1972, Gallimard, 1997, S. 144.
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einer riesigen Herausforderung ausgesetzt: der „Europäisierung Rumäniens“. In dieser Hinsicht sind Gelegenheiten zur „Kommunikationskultur“, z.B. Tagungen wie die jetzige in Köngswinter, sowohl willkommen, als auch dringend notwendig. Juristisch argumentiert Rumänien seine Zugehörigkeit zu dem europäischen Wertesystem durch die Rezeption des römischen Rechts. Auch wenn das „gemeineuropäische“ in seinen offenen Grenzen unbestimmt bleibt, bildet ein Element der Europazugehörigkeit gewiss auch das eigene Selbstverständnis. Doch muß die Frage der europäischen Identität eines Landes „auch nach anderen Elementen wie die kulturellen, rechtskulturellen, politischen, historischen, wirtschaftlichen und geographischen ,vom übrigen Europa her‘ beantwortet werden“. 2 Rechtspositivistisch ist die Harmonisierung der rumänischen Gesetzgebung mit derjenigen der Europäischen Gemeinschaft die erste Priorität. Das gilt vor allem, weil Rumänien so lange in einer juristischen Scheinwirklichkeit gelebt hat. Natürlich gab es rechtliche Vorschriften, diese wurden aber in ihrem Wesentlichsten nicht respektiert. Während des Kommunismus pflegte man (z. B.) über die Arbeitsverhältnisse zu sagen: „Wir tun, als ob wir arbeiten würden, und die tun, als ob sie uns bezahlen würden“. Die Ironie der Bemerkung gilt leider für alle Bereiche des sozialen Lebens. Im heutigen Rumänien ist es zu einer Krise der wichtigsten Werte gekommen. Die Armut der Bevölkerung, die Auswanderung der Jugend – die von der massiven Arbeitslosigkeit am meisten betroffen ist – und eine täglich zunehmende Politikverdrossenheit sind eindeutige Zeichen der Richtungs- und Hoffnungslosigkeit. In diesem Kontext erscheint die Zukunft Rumäniens als Mitglied der Europäischen Union nochmals in ihrer ganzen Bedeutung. Die europäische Integration ist das wichtigste politische Projekt Rumäniens, auch wenn sie das Ergebnis einer passiven Wahl war. Als einzig realistische Hoffnung auf eine normale Zukunft, bietet die europäische Integration wesentliche Vorteile für Rumänien: ein stabiles politisches Klima, welches die soziale Entwicklung ermöglichen würde, nationale Sicherheit, ein stabiles internationales Ansehen, Rechte für die rumänischen Bürger, die aus der europäischen Bürgerschaft abgeleitet werden, Beteiligung an den politischen Entscheidungen, die die europäische Zukunft betreffen. Sollte Rumänien als Mitgliedstaat der Europäischen Union nicht akzeptiert werden, so würde es der Isolation ausgesetzt, aus dem europäischen Markt ausgeschlossen, weniger Chancen für einen erneuten Beitrittsversuch haben, ___________ 2 Peter Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, Basler Schriften zur europäischen Integration, Heft Nr. 31, S. 8.
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keine kompetitive Agrikultur entwickeln können und in – wahrscheinlich – totalen wirtschaftlichen Kollaps stürzen. Welches ist aber die aktuelle Realität des Landes? Rumänien wird von einer Finanz- und Bankoligarchie dominiert, die in vorteilhafter Symbiose mit der staatlichen Bürokratie lebt. 3 Die Staatsoligarchie ist aus den Managers und den Gewerkschaften gebildet, die die großen Staatsmonopole (Gas, Energie) dominieren. Immun gegenüber der Reform, plündert diese Oligarchie die Bevölkerung durch die Einnahme von Monopolgebühren. Für die Staatsindustrie und für die „aus dem Nichts gewachsenen Kapitalisten“ ist jede Investition aus dem Ausland ein Risiko, welches Verlust von politischem Status und Einfluß bringt. 4 Die Hauptursachen der Blockade, die heute auf nationalen Niveau festgestellt werden kann, sind folgende: 1. Die rumänische Bürokratie ist entmutigend: jedes zusätzliche bürokratische Verfahren, das einem ausländischen Investitoren verlangt wird, ist sowohl eine Quelle der Macht für diese Bürokratie, als auch ein protektionistisches Hindernis, welches von der rumänischen Oligarchie ausgenützt wird; 2. Die legislative Instabilität, zum wesentlichen Teil dem Einfluß der Bürokratie in dem politischen Leben zu verdanken, ist ein Faktor von totaler Verunsicherung in der Gesetzgebung; 3. Die Korruption ist eine protektionistische Schranke für die Industrie, ein konstantes Einkommen für die Bürokratie und eine Garantie für die langfristige Isolierung Rumäniens. 5 In diesem Kontext gibt es trotzdem auch positive Signale: Als erster Fortschritt soll bemerkt werden, daß die informativen Zeitschriften, die für die europäischen Integration sprechen, die „Chancen“ der Integration Rumäniens erwähnen, und auch die Tatsache, daß Rumänien „geholfen“ werden muß. 6 Solche Bewertungen deuten ein realistisches Angehen des Problems an. Aber Harmonisierung der Gesetzgebung und Unterstützung von Seiten der Europäischen Gemeinschaft sind nur einige Aspekte der Integration Rumäniens: die wichtigsten Hindernisse befinden sich in den kollektiven Überzeugungen und Wertvorstellungen des rumänischen Volkes, die von den Reali___________ 3 Sorin Moisă, Proiectul european: o viziune românească, in: Un concept românesc privind viitorul Uniunii Europene, Ed. Polirom, S. 90 -91. 4 Idem, S. 91. 5 Idem, S. 92. 6 ùansele integrării României în Uniunea Europeană, in: Economie úi administraĠie locală, S. 26-28.
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täten des patriarchalischen Staates dominiert sind. Daß diese dramatische Situation aber wahrgenommen wird beweist die Veröffentlichung von realistischen Gedanken wie die folgenden: Wenn die „Normalisierung Rumäniens“ exklusiv durch den politischen Druck der Europäischen Union erreicht werden würde, dann muß Rumänien „für immer ein Defizit seiner politischen Persönlichkeit wahrnehmen und mit diesem Bild leben“. 7 Die zweite Frage der Integration lautet: 2. Welches sind die Beziehungen der Europäischen Union zu Rumänien und wie kann der Beitritt Rumäniens als Mitglied der Europäschen Gemeinschaft verwirklicht werden ? Im Vergleich zu den anderen Staaten Osteuropas hat Rumänien den Beitritt zur Europäischen Union relativ spät beantragt (1991). Dazu kommen seine schwachen wirtschaftlichen und politischen Leistungen. Demzufolge hat sich die Europäische Union gegenüber Rumänien (auch) konstant zurückhaltend geäußert. Dieses wurde von der Abwesenheit einer nationalen politischen Strategie zur Integration, des wirtschaftlichen Fortschritts, aber auch durch die ungünstige geopolitische Lage dieses Landes motiviert: es wurde behauptet, daß die Europäische Union eine gemeinsame Grenze mit Konfliktzonen wie Rußland und dem ehemaligen Jugoslawien ursprünglich vermeiden wollte. 8 Hingegen bringt der Bericht der Europäischen Kommission für das Jahr 1998 positive Einschätzungen für Rumänien – und auch den Vorschlag, die Beitrittsverhandlungen sollten im Jahre 2000 beginnen. Es wird noch bewertet, daß 70% der den Verhandlungen unterworfenen Bereiche mit der europäischen Gesetzgebung kompatibel sind. 9 Diese plötzliche Schwankung ist auf ein neues Konzept der Erweiterung der Europäischen Union zurückzuführen. Auch hat der Krieg im ehemaligen Jugoslawien die Rolle Rumäniens als Stabilitätsfaktor auf dem Balkan klar gezeigt. Überraschenderweise enthält der Bericht der Europäischen Kommission für das Jahr 2000 total entgegengesetzte Schlußfolgerungen: die wirtschaftliche Lage Rumäniens ist katastrophal, es wird gegen die Minderheiten diskriminiert, insbesondere gegen die Roma, und die Situation der Waisen hat sich nicht wesentlich geändert. Und sollte das Gesundheitswesen ein Kriterium der Integ___________ 7
Sorin Moisă, zitiertes Werk, S. 92. Laura Păun, Gabriela Dobrot, Dragoú Pâslaru, A adera sau a nu adera ? in: Un concept românesc privind viitorul Uniunii Europene, Ed. Polirom, 2001, S. 386. 9 Idem, S. 387. 8
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ration sein, dann könnte Rumänien nie Mitglied der Europäischen Union werden. 10 Es stellt sich die Frage, ob Rumänien in Abwesenheit des Brennpunktes Balkan für Europa kein Interesse mehr bietet (?) Jedenfalls sollte in Rumänien über die Aussage von Kommissar Verheugen reflektiert werden: „Was die Beitrittsverhandlungen betrifft, sind nicht die zur Diskussion geöffneten Kapitel bedeutend, sondern diejenigen, die geschlossen wurden“. 11 Diese Schlußfolgerung ist wichtig, weil die große Mehrheit der rumänischen Bürger der Meinung ist, daß die europäische Integration unterstützt werden muß, aber keinen Zusammenhang sieht zwischen der Integration und den Veränderungen, die im Lande vorgehen. Ob die Bürger daran schuld sind oder die Behörden, die kompetent informieren sollten über die Tatsache, daß die europäische Zugehörigkeit nicht ohne Aufopferung (d.h. Austerität, soziale Reform, Arbeitslosigkeit) erreicht werden kann ist eine komplizierte Frage. Das schwierigste daran ist, daß die Bevölkerung die notwendigen Reformen sich nur nach der Integration vorstellt, bzw. deren Rolle als Bedingungen und Voraussetzungen des Beitritts nicht wahrnimmt. Das größte Paradox folgt, und zwar daß die Reformen noch immer (und völlig!) vom Staat erwartet werden, wobei die nationalen Institutionen sich in einer tiefen Legitimationskrise befinden und die Statistiken das totale Mißtrauen der Bürger bestätigen. In diesem Kontext erscheint das Beitrittsjahr 2007 als total unrealistisch oder wenigstens als sehr anspruchsvoll! Die Europäische Union ist eine Gemeinschaft der Demokratien. Die Zugehörigkeit zu diesen Demokratien setzt eine drastische Reform der rumänischen Gesetzgebung voraus, die mit der Verfassungsreform beginnt. Die Idee der Verfassungsreform wurde zuerst mit Reserve empfangen, 12 aber heute herrscht die Überzeugung, daß viele Vorschriften des fundamentalen Gesetzes der europäischen Integration nicht entsprechen. Seit zwei Jahren arbeitet eine nationale Kommission an dem Projekt der neuen Verfassung, welches folgende neue Regelungen vorsieht: 1. Die ausdrückliche Formulierung der Suprematie des Europarechts gegenüber dem nationalen (rumänischen Recht); ___________ 10
Deklaration von Andre Ernst, der Vertreter Frankreichs bei der Konferenz für gemeinsame Probleme der EU und Rumäniens im Bereich Gesundheitswesen, Oktober 2002, zitiert von Mediafax, 3. November 2000. 11 C. Terenche, România, codaúa Ġărilor candidate la numărul de capitole închise cu UE, in: România liberă, 14. Juni 2001. 12 Aurel Ciobanu Dordea, “Anumite dispoziĠii din ConstituĠia României trebuie modificate, fiind incompatibile cu legislaĠia UE”, Interview bei Radio România ActualităĠi, am 27. September 2000.
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2. Die Anerkennung der legislativen Befugnisse des Europäischen Parlaments, der Europäischen Kommission und des Europäischen Rates durch die Neuformulierung von Artikel 58, der (nur) die legislativen Befugnisse des rumänischen Parlaments definiert; 3. Die ausdrückliche Regelung der Gewaltenteilung im rumänischen Staat, ein Prinzip, dessen ausdrückliche Formulierung in der Verfassung Rumäniens bis jetzt vermieden wurde; 4. Dieses Prinzip wird die Rolle der Richter in dem rumänischen Rechtsystem auf bedeutende Weise beeinflußen. Korruptionsskandale haben das Bild der rumänischen Justiz diskreditiert und den Zugang zu einem fairen Prozeßverfahren zu einem „toten Buchstaben“ der Verfassung reduziert. Die Unabhängigkeit der Justiz ist für die europäische Zivilisation wesentlich; ohne sie zu garantieren, hat Rumänien wenige Chancen zur Integration. Die Reform muß daher mit der totalen Neudefinierung der Rolle des Richters beginnen. Das rumänische Rechtssystem sieht den Richter als Anwender des Gesetzes. In der rumänischen Rechtssprechung herrscht die Fiktion, die Gesetzgebung sei klar und es gebe keine „wesentlichen Probleme“ der Interpretation. Solch unrealistisches Verständnis ist Resultat des Einflußes des französischen Privatrechts. Daher die Abwesenheit einer Tradition in der Rechtstheorie, die die Bedeutung der Interpretation hätte erklären können. In diesem Kontext werden die legislativen Lücken als einfach „von dem Gesetz nicht vorgesehene Situationen“ behandelt. In der Perspektive der europäischen Integration wird der rumänische Richter – im Gegenteil –sehr kreativ sein müssen, vor allem in den folgenden Bereichen: direkte Anwendung des Europarechts, Beseitigung der nationalen Rechtsnormen, die den europäischen Regelungen nicht entsprechen und Interpretation der nationalen Gesetze gemäß den Normen des Europarechts. Daß diese Ansprüche Schwierigkeiten bieten werden kann man in der unkoordinierten Natur der aktuellen rumänischen Rechtsprechung sehen. Da auch die klassischen Methoden der juristischen Interpretation in der Ausbildung der Richter fehlen, werden die Richter Europarecht schwer verstehen und anwenden können. Diese Hindernisse sind entscheidend, wenn man bedenkt, daß der Europäische Gerichtshof das Monopol der Interpretation des Europarechts in der Europäischen Union besitzt – eine Idee, die von den rumänischen Richtern schwer akzeptiert wird. 5. Dieser „juristische Nationalismus“ wird auch in der Anwendung von Artikel 20 der aktuellen Verfassung deutlich. Dieser Artikel bestimmt, daß Menschenrechte und Bürgerrechte in Übereinstimmung mit der Universalen Menschenrechtserklärung und den im Bereich Menschenrechte von Rumänien ratifizierten internationalen Konventionen ausgelegt und angewendet werden sollen. Sollten die verfassungsrechtlichen Bestimmungen mit den internationalen Abkommen nicht übereinstimmen, haben die internationalen Abkommen den Vorrang. Trotz des klaren Vorrangs des Völkerrechts, der in diesem Artikel verankert wird, wird z.B. die Europäische Menschenrechtskonvention
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weiter als soft law betrachtet. Anwälte und Richter berufen sich selten auf die Konvention, obwohl die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die gegen den rumänischen Staat ausgesprochen worden sind, einen eindeutig verbindlichen Charakter für die rumänische Rechtsordnung haben. 6. Garantien für die wichtigsten bürgerlichen Rechte und Freiheiten. Die juristische Bedeutung des Ausdrucks „Garantie“ ist viel substantieller als diejenige des „Schutzes“ von Rechten und Freiheiten. Demzufolge schlägt die neue Fassung des fundamentalen Gesetzes „Garantien“ statt „Schutz“ des privaten Eigentums und der Bewegungsfreiheit vor, und auch die Gleichberechtigung der ausländischen und den rumänischen Bürgern, vor allem im Bereich des Privateigentums. Die bisjetztige verfassungsrechtliche Regelung verbat den Ausländern den Ankauf von Boden in Rumänien, eine Diskriminierung, die in der neuen Verfassung abgeschafft werden soll. Die Rolle des rumänischen Ombudsmannes soll in mehr Einzelheit definiert werden, weil diese Institution seit ihrer Gründung (1995) eine nur noch größere Bürokratie geschaffen hat, statt die Bürger in ihren Verhältnissen mit der öffentlichen Verwaltung effektiv zu schützen. 7. Die Einschränkung der legislativen Rolle der so genannten „Notfallverordnungen“. Die aktuelle Verfassung sieht vor, daß die Regierung durch das Erlassen von Notfallverordnungen ausnahmsweise in die legislativen Befugnisse des Parlaments eingreifen kann. Diese ganz außergewöhnliche Situation ist in den letzten sieben Jahren zu einer laufenden Praxis geworden. Die rumänische Regierung hat eine Inflation von „Notfallverordnungen“ verabschiedet, welche in die legislative Autorität des Parlaments eingreifen, verwirrende legislative Instabilität verursachen und beweisen, daß es in Rumänien keine Tradition von Impartialität und Unabhängigkeit der Judikative von der exekutiven Gewalt gibt. Diese exekutiven Verordnungen verletzen die Gesetze, auf denen sie beruhen, indem sie ironischerweise beanspruchen, sie zu „erklären“ und „konkret anzuwenden“. 13 Die neue Verfassung soll den Begriff „exekutive Verordnungen“ klar definieren und drastisch einschränken. Damit wird das verfassungsrechtliche Ideal des Rechtsstaates zu einer konkreten Realität. 8. Die Befugnisse der beiden Kammern des Parlaments sollen abgegrenzt und neu definiert werden. In der neuen Fassung wird sich die Abgeordnetenkammer mit der Verabschiedung von inneren Gesetzen beschäftigen, während ___________ 13 Im September 2003 wurde eine neue Verfassung für Rumänien verabschiedet (Gesetz Nr. 375/2003). Die hiererwähnten Prinzipien wurden zur rechtspositivistischen Realität, auch die restriktive Regelung der Notfallverordnungen, deren außergewöhnliche Natur stark betont wird. Diese Verordnungen funktionieren nur als Resultat eines klaren Gesetzes des rumänischen Parlaments, welches auch deren zeitliche Grenzen festsetzt.
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der Senat die internationalen Abkommen ratifizieren wird. Diese klare Abgrenzung sollte den Prozeß der Gesetzgebung substanziell beschleunigen. 9. Als zukünftiges Mitglied der Europäischen Union wird Rumänien den Schutz des rumänischen Staates für alle europäischen Bürger garantieren, und der Schutz der rumänischen Bürger in allen Staaten der Europäischen Union wird (also auch) von den rumänischen Staatsbürgern beansprucht werden. Das bedeutet Notwendigkeit der Neudefinierung der rumänischen Staatsangehörigkeit. 10. Die aktuelle Verfassung (Art. 50) spricht von der Vaterlandstreue als „höchste Pflicht“ der rumänischen Bürger. Wie wird die zukünftige Fassung dieses Artikels lauten, da die rumänische Gesellschaft heute von einem sehr nationalistischen Denken geprägt wird? Die Bildung der neuen „Gemeinschaftstreue“, der Glaube an eine supranationale Identität und die Loyalität gegenüber dieser neuen Wertegemeinschaft wird sich als langfristiger Prozeß erweisen. Im Bereich Umweltschutzrecht braucht Rumänien ein neues Gesetz der Naturschutzgebiete, die ausdrückliche – und gesetzlich garantierte – Unabhängigkeit der Umweltschutzbehörden von dem Umweltschutz-Ministerium, da diese bis heute dem Ministerium unterworfen sind und (demzufolge) bürokratisch überfordert sind. Auch eine neue Regelung der Forstverwaltung und der nationalen Gewässer, vor allem im Bereich der staatlichen Kontrolle über die wichtigsten nationalen Bodenschätze sind dringend notwendig. 14 Effizienter Rechtschutz wird auch im Bereich der Umweltverschmutzung des Donaudeltas gebraucht. Dessen Status als wichtigstes Ökosystem Europas benötigt Rechtsgarantien – auf nationaler und internationaler Ebene – zur Vorbeugung weiterer Vernichtung des dort existierenden Naturlebens. Ein neues Gesetz der radioaktiven Abfälle ist genauso wichtig. Im Bereich Familienrecht hat Rumänien große Probleme. Die Familie ist von legislativen Lücken und ungenügendem Sozialschutz besonders betroffen. Die Situation der Waisen und der Straßenkinder lassen (zurecht) den Eindruck eines unterentwickelten Landes. Die Europäische Kommission hat auf die grausame Realität der ausgesetzten neugeborenen Kinder aufmerksam gemacht, auch auf den massiven sexuellen Missbrauch der Frauen, den Drogenhandel und die allgemeine Promiskuität der rumänischen Gesellschaft. Das Ministerium für Europäische Integration beschäftigt sich seit 1993 mit möglichen langfristigen Lösungen für diese Probleme, stößt aber wiederholt auf die ___________ 14 Daß die Kontrolle des Staates wichtig ist, ist Folge der Auflösung dessen Autorität, und keinesfalls ein Plädoyer für die Wiederherstellung der alten Machtstrukturen. Insbesondere im Bereich des Umweltschutzes soll eine strenge Gesetzgebung den privaten Missbrauch der nationalen Bodenschätze verhindern.
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träge Mentalitätsänderung der Bevölkerung. Wie schon erwähnt ist es weder normal, noch erfreulich, daß sich die Europäische Union mit diesen Problemen beschäftigen muß, und nicht die rumänische Gesellschaft selbst, auch wenn sie dadurch einem „unerträglichen Prozeß der öffentlichen Katharsis ausgesetzt wird“. 15 Im Bereich Verwaltungsrecht ist die Verwaltungsreform eine nationale Priorität. Das neue Gesetz der lokalen öffentlichen Verwaltung (2001) erwähnt die Prinzipien der lokalen Autonomie, so wie diese von der Europäischen Charta für lokale Autonomie 1985 definiert wurden. Aber die Autonomie der Verwaltung ist in Rumänien eine administrative und finanzielle Autonomie, nicht auch eine politische. Eine reale Reform der Verwaltung sollte folgende Ziele verfolgen: – eine klare Definierung des Subsidiaritätsprinzips, insbesondere weil die rumänische Mentalität noch immer dem paradoxen „demokratischen Zentralismus“ der kommunistischen Diktatur entspricht (mit anderen Worten erwartet man die Entscheidungsprozesse noch immer „von Bukarest aus“, trotz der Gesetzgebung, die ganz konkrete Befugnisse für die lokalen Behörden vorsieht!); – Entpolitisierung der öffentlichen Verwaltung und Abschaffung des politischen Kliententums; – Trennung von zentralen und lokalen Verwaltungsfunktionen, inklusiv auf regionaler Ebene; – Verabschiedung des Gesetzes zur ministeriellen Verantwortung (Rumänien hat noch immer keines); – Detailierte Regelung des Zugangs der Bürger zu der öffentlichen Information im Verwaltungsbereich. Im Bereich Strafrecht hätte der Integrationsprozeß vielleicht die günstigsten Folgen, weil das Strafrecht dem totalitären Staat so lange als wesentliche Waffe der Repression gedient hat. Rumänien hat die Todesstrafe noch im Jahre 1990 abgeschafft. Die Ratifizierung der Europäischen Konvention zur Verhütung von Folter im Jahre 1994 war eine Formalität, weil das rumänische Strafgesetzbuch schon 1968 erniedrigende und grausame Behandlungen oder andere Formen von Folter als strafrechtliche Verbrechen vorsah und bestrafte. Auch das Verbot der Sklaverei und
___________ 15 Sorin Moisă, Proiectul european: o viziune românească, in: Un concept românesc privind viitorul Uniunii Europene, Ed. Polirom, 2001, S. 94.
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der Zwangsarbeit war in dem rumänischen Strafgesetzbuch schon vor der Ratifizierung der oben genannten Konvention vorgesehen. 16 Der Rechtsprechung des Europäischen Gerichthofes für Menschenrechte folgend, sieht das rumänische Strafgesetzbuch vor, daß Haft eine Frist von 30 Tage nicht überschreiten kann und daß deren Verlängerung nur vom Gericht angeordnet werden kann. 17 Wichtig ist auch, daß die Unverjährbarkeit der Kriegsverbrechen schon vor Ratifizierung der Strasbourger Konvention (1974) in dem rumänischen Strafgesetzbuch vorgesehen war, und daß die Homosexualität Folge der Abschaffung von Artikel 200 Strafgesetzbuch kein strafrechtliches Verbrechen mehr ist. Praktische Beispielsfelder und Schlußfolgerungen Seit 1995 beteiligt sich Rumänien an der Europäischen Kommission für Demokratie durch das Recht. Dadurch wurde der Dialog möglich, der die verschiedenen Rechtskulturen vergleicht und zum gegenseitigen Verstehen der Schwierigkeiten beiträgt. Seit 1991 funktioniert in Rumänien ein Institut für Menschenrechte, und 1998 wurde das Europäische Institut gegründet. Durch diese neuen Institutionen haben die Bürger Zugang zur Information über die Garantien der Menschenrechte in anderen Ländern, besonders in den Mitgliedstaaten der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Die Europäische Union hat mit Rumänien ein Vereinigungsabkommen geschlossen, das 1993 unterzeichnet wurde und 1995 in Kraft getreten ist. Dieses Abkommen sieht die Anwendung aller Prinzipien des Europarechts in den Beziehungen zwischen Rumänien und der Europäischen Gemeinschaft vor. Die Bewegungsfreiheit im europäischen Raum und die Möglichkeit der beruflichen Ausbildung in den Ländern der Europäischen Union sind wichtige Erfolge für Rumänien. Das Abkommen sieht vor, daß die wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, touristischen, geschäftlichen Beziehungen auf den gegenseitigen Interessen der Unterzeichneten beruhen. Es gründet also einen politischen Rahmen der Mitarbeit und sieht noch vor, daß ein Vereinigungsrat die Fortschritte Rumäniens in periodischen Sitzungen analysieren wird. Dadurch ist die Kommunikation institutionalisiert und die Distanz wesentlich reduziert worden. ___________ 16 Constantin Butiuc, The Harmonisation of Romanian Criminal Law with the European Union’s Regulations, in: The Modernisation of Public Administration in the European Integration Process, S. 213. 17 Vor dieser Refom des Strafrechts wurde die Verlängerung der Haft nur vom Staatsanwalt angeordnet.
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Real politisch gesehen, hat die Europäische Union keine Wahl: „Entweder wird der Westen den Osten stabilisieren, oder der Osten wird den Westen destabilisieren“ 18 , so der deutsche Außenminister. Aber die Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft bringt auch wichtige neue Werte mit: die Vielfalt und Gleichwertigkeit der nationalen Rechtskulturen soll respektiert werden, weil es viele Völker in Europa gibt, aber kein europäisches Volk. 19 Eine solche Auffassung würde den Mangel an Selbstbewusstsein und Selbstachtung, der in Rumänien herrscht, relativieren 20 , und Vertrauen aufbauen, daß Europa als Vertrag der Bürger, und nicht (nur) als Konstruktion von Funktionären und Experten existieren wird. 21 Zusammenfassend sollen folgende Richtlinien vorgeschlagen werden: a) Faktoren, die Rumänien betreffen: – Respekt für die Würde des Menschen, in dessen Abwesenheit keine verfassungsrechtlichen Garantien der Rechte möglich sind; – Wahrnehmung der zusätzlichen bürgerlichen Verantwortungen, die die Mitgliedschaft in der Europäischen Union voraussetzt; – eine durch das Gesetz geregelte Kontrolle der bürgerlichen Behörden über die militärischen Strukturen des Landes; – Relativierung der Befugnisse des Präsidenten der Republik, besonders nach der Ceauúescu Erfahrung; – Bewertung der demokratischen Fortschritte nicht an der einfachen Existenz eines Verfassungsgerichthofes, sondern an dessen demokratischen Rechtssprechung; – vorzeitige Anerkennung der Vertiefung der Integrationsprozeße innerhalb der Europäischen Union, z. B. die ständige Verfeinerung der Grundrechte;
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Cătălina Mihai, „Extinderea spre Vest va costa UE 80 miliarde euro“, in: Cronica Română, 18 September 2002, zitiert nach „Die Welt“, Aussage des deutschen Außenministers. 19 H.H.Klein, Europa-verschiedenes gemeinsam gelebt, Es gibt kein europäisches Volk, sondern nur die Völker Europas, FAZ vom 17. Oktober 1994, S. 12. 20 Häufig motivieren die Leute ihre Zustimmung zur Europäischen Union durch Argumente wie: „damit wir nicht wieder mit den Russen sein müssen“, oder „damit wir das Land nicht verlassen müssen“. Siehe Georgeta Lăcrămioara Loghin, CetăĠeanul român – un sprijin sau un obstacol în calea integrării României in Uniunea Europeană ? Polirom Verlag, 2001, S. 179. 21 Zu diesem Thema siehe auch Peter Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, Basler Schriften zur europäischen Integration, Nr. 31, S. 39.
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– Änderung der passiven Mentalität der rumänischen Bürger: solange diese überzeugt sind, daß sie die Entscheidungsprozesse auf nationaler Ebene nicht beeinflussen können, werden sie sich umso hilfloser fühlen gegenüber den transnationalen europäischen Strukturen (selbst wenn die Nizza-Verhandlungen entschieden haben, daß Rumänien 33 Sitze im Europäischen Parlament haben wird und 14 im europäischen Rat); – drastische Reform, wodurch die soziale und wirtschaftliche Polarisierung der Gesellschaft, die dem zentral-amerikanischen Modell gleicht, gestoppt werden soll; – Kommunikation, realistischer Dialog zwischen dem Staat und der zivilen Gesellschaft, ohne Einmischung der orthodoxen Kirche in die Entscheidungen des Staates; – Klärung der Beziehungen zu den Nachbarstaaten (neue Abkommen mit Rußland, der Republik Moldau, dem ehemaligen Jugoslawien). b) Faktoren, die die Europäische Gemeinschaft betreffen: – differenziertes Betrachten der individuellen osteuropäischen Kandidatenstaaten, Überschreiten der “Ostblock-Mentalität”, weil es zwischen diesen Staaten große Unterschiede gibt (z.B. könnte Rumänien das im Jahre 1997 in der Europäischen Gemeinschaft vorhandene Entwicklungsniveau in 40 Jahren erreichen, wenn das wirtschaftliche Wachstum 4% betragen würde. Dieses ist nicht auch der Fall der anderen osteuropäischen Staaten, die verschiedene Wachstumsraten haben). 22 – Förderung von radikaler Reform, um zu der Bildung von starken proeuropäischen Eliten in der rumänischen Gesellschaft beizutragen. * * *
Abstract Monica Vlad: The legal questions of the European Integration. The case Romania, In: The European Union as a Community of Values. Ed. by Dieter Blumenwitz, Gilbert H. Gornig and Dietrich Murswiek (Berlin 2005) pp. 257269.
___________ 22
Laura Păun, Gabriela Dobrot, Dragoú Pâslaru, zitiertes Werk, S. 392.
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This study is actual – and essential –for Romania´s European integration process, as it cites documents of surprinsing honesty concerning the legal and political dilemmas the country faces in this respect. Integration into Europe is mainly one of the European Union’s concerns, and not a major priority for Romania herself. This irony becomes visible while reflecting on the citizens’ atitude and their thinking: difficulties will be overcome as soon as Romania becomes a member state of the EU, there is no awareness on the social complexity of EU extension. The social and legal problems are described for each area of law, insisting upon the very need of changing people’s mindset (Constitutional Law, Administrative Law and Reform, Family Law and Child Care, Environmental Law). The role of national judges is crucial in terms of creating the law (which is not a principle of the Romanian legal system) and in terms of applying only those provisions which do not contradict European norms. The absence of legal interpretation within the Romanian legal tradition is a main obstacle, when it comes to creating a common legal culture in Europe. However, a sincere mirror is found in different publications’ statements which criticize the incomplete information citizens have access to on European integration aspects, as well as the total absence of alternative governmental strategies, in case of Romania’s rejection as a EU member state. A new Constitution has been passed in September 2003, which creates restrictive rules on the government’s legislative competencies and which explicitly states on the supremacy of European Law. Last but not least, the dialogue should include several main lines of reform which go both ways, as there are many European peoples, but there is no European people as a separate identity.
Rechtstatus des Kaliningrader Gebiets als Subjekt der Russischen Föderation Von Oxana Vitvitskaya
I. Das Konfliktgebiet Das Kaliningrader Gebiet wurde durch Erlaß des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 7. April 1946 gegründet. Damals wurde Nordostpreußen in das Staatsgebiet der UdSSR eingegliedert. Durch Erlaß des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 4. Juli 1946 wurde Königsberg in Kaliningrad und das Verwaltungsgebiet in Kaliningrader Gebiet umbenannt. 1 Die Stadt erhielt den Namen des im gleichen Jahr verstorbenen sowjetischen Staatsoberhaupts Michail Kalinin. 2 Heute wohnen im Gebiet ca. 1 Mio. Einwohner. Das Gebiet Kaliningrad umfaßt territorial ca. 15000 Quadratkilometer. 3 Zur russischen Exklave an der Ostsee wandelte sich das Gebiet Kaliningrad nach dem Zerfall der ehemaligen Sowjetunion. Damals entstanden auf dem Territorium der an das Gebiet grenzenden sowjetischen Republiken unabhängige Staaten. Das Gebiet Kaliningrad wurde weder von den Nachbarstaaten „geschluckt“ noch bekam es eigene Souveränität. Seit 1991 ist Kaliningrad von Rußland abgeschnitten und eine Exklave. 4 Seit seiner Entstehung in der Zeit des Zweiten Weltkriegs ist das Gebiet Gegenstand territorialen Streits zwischen Deutschland und Rußland. 5 Die Streitfragen wurden erst nach der Unterzeichung des Vertrages über gute Nachbar-
___________ 1
Gornig, Gilbert, Das nördliche Ostpreußen, 1996, 2. Aufl. S. 124 ff. Chod, Kathrin, Königsberg – Kaliningrad: Rückkehr der Geschichte. Berliner Lesezeichen. Nr. 12/2000. www.berliner-lesezeichen.de. 3 Allgemeine Information über das Kaliningrader Gebiet, Vertretung der Handelskammer Hamburg in Kaliningrad, http://www.hkhamb-ahk-kaliningrad.com/de/chap 01. html. 4 Gornig, Gilbert, Territoriale Entwicklung und Untergang Preußens, 2000, S. 248 ff. 5 Text: BGBl. 1991 II, S. 702 ff. 2
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Oxana Vitvitskaya
schaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Sowjetunion geregelt. 6 Damals erreichten die Vertragsparteien eine Vereinbarung, daß sie gegeneinander „keine Gebietsansprüche haben, solche auch in Zukunft nicht erheben werden und heute sowie künftig die Grenzen aller Staaten in Europa als unverletzlich betrachten.“ 7 Der Vollständigkeit halber muß man auch die territorialen Ansprüche der Grenzstaaten erwähnen (nämlich Polens und Litauens). Die Geschichte der nahen Nachbarschaft beider Länder zu Rußland war eine Geschichte von Kriegen, Aufteilungen und Deportationen. 8 Bis zum Anfang der neunzigen Jahre förderte die Litauische Führung die Souveränisierung des Kaliningrader Gebietes. Später nach der Äußerung der Beitrittsbereitschaft zur EU bemühte sich die Litauische Regierung, die Beziehungen zu Rußland und zum Kaliningrader Gebiet auf der Basis der guten Nachbarschaft und Kooperation aufzubauen. Die Beziehungen Litauens zu dem Kaliningrader Gebiet Rußlands wurden durch mehrere Verträge ausgestaltet, die u.a. die Fragen des kleinen Grenzverkehrs regelten. Zum Beispiel hatten bis zum Beitritt Litauens in die EU die Bewohner der Region Kaliningrad noch die Möglichkeit der visumfreien Einreise nach Litauen ebenso wie Litauer in umgekehrte Richtung. 9 Auf Seiten von Polen kann man derzeit nur wirtschaftliche Interesse beobachten, weil Polen den größten Einkaufsmarkt für die Kaliningrader Händler bildet. Die Beziehungen zwischen Polen und dem Kaliningrader Gebiet wurden aufgrund mehrerer Abkommen über grenzüberschreitende wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit beider Nachbarländer ausgestaltet. 10 Heute verlangt dieses Territorium wieder besondere Aufmerksamkeit wegen der erfolgreichen Erweiterung der EU nach Osten. Das Gebiet Kaliningrad war nach dem Zweiten Weltkrieg geschlossen und das Territorium diente militärischen Zwecken. Deswegen erlebte das Kaliningrader Gebiet nach dem Zerfall der UdSSR eine tiefe wirtschaftliche und soziale Krise. 11 Viele Unternehmen, die einseitig für das Militär und die Weltraumtechnik produzierten, verloren die Basis ihrer Existenz. Gleichzeitig konnten die örtlichen Produzenten dem Kon-
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Text: BGBl. 1991 II, S. 702 ff. Gornig, Gilbert, Territoriale Entwicklung und Untergang Preußens, S. 258. 8 Major, Viktor, Kaliningrad/Königsberg. Auf dem schweren Weg zurück nach Europa, 2000, S. 89. 9 Major, Viktor, Ebd., S. 90. 10 Major, Viktor, Ebd., S. 91. 11 Timmermann, Heinz, Die russische Exklave Kaliningrad im Kontext regionaler Kooperation. In: Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Nr. 20, 2000, S. 5. 7
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kurrenzdruck der Nachbarländer nicht widerstehen. 12 Seit 1991 kann die Region selbständig den Rohstoffbedarf für die örtliche Industrie nicht decken, deswegen entstand die ständige Notwendigkeit von massiven Rohstoff- und Energielieferungen ins Gebiet, was die Region von Energielieferungen aus dem Mutterland stark abhängig machte. 13 Im Zuge der EU-Erweiterung entstand für das Gebiet ein weiteres Risiko, wegen seiner Isolation in eine schwierige Lage zu geraten. Der Prozeß der Übernahme des gemeinschaftlichen Besitzstandes durch Polen und Litauen führt dazu, daß sich einige der bisherigen Ordnungen und der praktischen Regelungen zwischen EU, Rußland und den neuen Mitgliedstaaten ändern, was solche Aspekte wie Waren- und Personenverkehr oder Energieversorgung betrifft. 14 Deswegen entstand eine Reihe von neuen Problemen, die mit der Zollabfertigung, Nützung der Küstengebiete, Visumregelungen und Wirtschaftsentwicklung des Gebietes verbunden ist. Die wirtschaftliche Krise nach dem Zerfall der UdSSR machte die Frage der Statusveränderung des Gebietes aktuell. Einige Probleme kann man dadurch lösen, daß spezielle Programme für Wirtschaftsförderung des Gebietes ausgearbeitet werden. Manche verlangen eine neue Gesetzgebung und fordern gemeinsame Bemühungen der EU und Rußlands im Rahmen der strategischen Partnerschaft, der im Rahmen des Abkommens über Partnerschaft und Zusammenarbeit zur Gründung einer Partnerschaft zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Russischen Föderation andererseits existiert. 15 Das Gebiet Kaliningrad bestätigt die These, daß sich die Geschichte immer wiederholt. Dieses Land hat schon die Rolle einer Exklave gespielt. Gemäß der Versailler Beschlüsse vom 28. Juni 1919 gehörte ein Teil des ostpreußischen Territoriums zu Polen. Zwischen Berlin und Königsberg lag ein Territorium eines fremden Landes. 16 Damals hatte die deutsche Regierung dieselben Fragen zu lösen, mit denen sich gegenwärtig die russische Behörden beschäftigen: wie kann man die zerstörten wirtschaftlichen Beziehungen wiederherstellen; was muß man machen, damit sich die Bevölkerung von Königsberg nicht vom „großen Heimatland“ abgeschnitten fühlt; wie sind Transitwege zum Kerngebiet zu organisieren? Diese Ziele erreichte man damals durch einen Ostpreußischen Handels- und Industriemarkt und die Entwicklung der speziellen touristi___________ 12
Allgemeine Information über das Kaliningrader Gebiet, Vertretung der Handelskammer Hamburg in Kaliningrad, http://www.hkhamb-ahk-kaliningrad.com/de/chap 01. html. 13 Major, Viktor, ebd., S. 89. 14 Die Europäische Union und Kaliningrad, Mitteilung der Kommission an den Rat. http://www.eurlex.com. 15 BGBl. II 1997, S. 847-893. 16 Solche Lage existierte bis zum 1939.
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schen Marschroute. 17 Eigentlich sind auch gegenwärtige wirtschaftliche Probleme des Gebietes durch reine administrativen Maßnahmen lösbar. Dazu braucht man aber einen Willen zur richtigen Partnerschaft und Kooperation zwischen der EU und Rußland.
II. Der rechtliche Status des Gebietes innerhalb Rußlands 1. Das Gebiet als Subjekt der Russischen Föderation (RF) 18 Laut Art. 72 der Verfassung der RF und Art. 8 des Statuts (Grundgesetzes) des Gebiets ist das Kaliningrader Gebiet 19 ein Bestandteil der Russischen Föderation und in ihr gleichberechtigtes Subjekt. 20 Geographisch gesehen ist das Gebiet über 500 km von Rußland entfernt und befindet sich innerhalb des Territoriums der Europäischen Union. Die Verwaltungsgrenze des Gebiets stellt gleichzeitig die staatliche Grenze der RF dar, die entsprechend der föderalen Gesetzgebung festgelegt wird. 21 Das Territorium des Gebietes Kaliningrad ist also ein von Rußland untrennbarer Bestandteil des staatlichen Territoriums. Gleichzeitig stellt es eine von Rußland entfernte Enklave und somit eine Exklave innerhalb der Europäischen Union dar. Im Zusammenhang mit einer solchen besonderen territorialen Lage des Gebietes und daraus folgenden Schwierigkeiten mit der Förderung des Wirtschaftswachstums wird in der wissenschaftlichen Literatur die Notwendigkeit des speziellen Rechtsstatus des Gebietes innerhalb Rußlands erörtert, beispielsweise die Möglichkeit der Schaffung einer Republik Kaliningrad. 22 ___________ 17
Pesozkaja, Svetlana, Hinten den drei Grenzen. In: Rossijskaja Gaseta, 17.08.04. Laut der Verfassung der Russischen Föderation bezeichnet man „Land“ als „Subjekt“ der Russischen Föderation. Dazu gehören: Gebiet, autonomes Gebiet, Republik, autonome Republik, autonome Bezirke, Kraj (Region), Städte föderalen Ranges (Moskau, Sankt Petersburg). Der Begriff Subjekt der Föderation, der in das russische Verfassungsrecht 1993 zum ersten Mal eingeführt wurde, hat eine besondere Bedeutung. Die Erfassung all dieser Formen durch den Begriff „Föderationssubjekt“ betont ihre Gleichheit und schließt zugleich bestimmte Unterschiede im Rechtsstatus nicht aus. 19 Weiterhin wird der Statut (Grundgesetz) des Kaliningrader Gebiets als Statut bezeichnet. 20 Die Verfassung der Russischen Föderation. In: Rosijskaja Gazeta 25.12.1993. Der Satzung (Grundgesetz) des Kaliningrader Gebietes. In: Kaliningradskaja Pravda, 10.01.1995. 21 Art. 9 der Satzung (Grundgesetz) des Kaliningrader Gebietes. In: Kaliningradskaja Pravda, 10.01.1995. 22 Gorodilov, A., Gomin, A, Kargopolov C, Kulikov A., XXI Jahrhundert, Freie Wirtschaftzone und besonderes Status, 2001, S. 43. 18
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Um eine bessere Darstellung der Problematik der föderalen Struktur Rußlands zu vermitteln, muß man zunächst eine kurze Auskunft über den föderalen Aufbau Rußlands geben. Nach der Form seines Staatsaufbaus ist Rußland eine Föderation. Zu ihr gehören 21 Republiken, sechs Regionen, 49 Gebiete, zwei Städte föderalen Ranges, ein autonomes Gebiet und 10 autonome Bezirke. Alle diese Staatsgebilde – es gibt in Rußland 89 – heißen Subjekte der Föderation. 23 Dieser Begriff, der in das russische Verfassungsrecht 1993 zum ersten Mal eingeführt wurde, hat eine besondere Bedeutung. Die neue Verfassung vom Dezember 1993 proklamierte die Gleichberechtigung aller Subjekte der Rußländischen Föderation sowohl zueinander als auch im Verhältnis zur Föderation. Die Erfassung all dieser Formen durch den Begriff „Föderationssubjekt“ betont ihre Gleichheit und schließt zugleich bestimmte Unterschiede im Rechtsstatus nicht aus. Unter den 89 Subjekten der Föderation gibt es drei verschiedene Typen: erstens Republiken mit dem formalen Status eines nationalen Staates; zweitens autonome Gebiete (Oblasti) und autonome Kreise (Okruga) mit nationalterritorialem Status; drittens Gebiete, Regionen (Kraja) und die Städte Moskau und St. Petersburg mit einfachem territorialen Status. 24 In der Verfassung Rußlands, die die Gleichberechtigung aller Subjekte der Rußländischen Föderation sowohl untereinander als auch im Verhältnis zur Föderation festgestellt hat, sind einige Widersprüche vorhanden. Nur die Republiken wurden als „Staat“ bezeichnet und haben Recht auf eine eigene Verfassung. Die übrigen Subjekte sind im Unterschied zu den Republiken keine „Staaten“, sie verfügen über das Recht auf den Erlass von Statuten anstelle von Verfassungen. Nur die Bevölkerung der Republiken hat die republikanische Staatsangehörigkeit und das Recht auf eigene Sprache (Art. 68 der Verfassung der RF). Ausgehend davon, daß die Republik als Staat in der Verfassung anerkannt ist, werden Ideen über den Umbau des Status des Kaliningrader Gebietes zur Republik verbreitet. Dadurch sollte das Gebiet eine partielle internationale Rechtssubjektivität bekommen, also die Möglichkeit, selbständig die Vereinbarungen über die regionale Entwicklung mit den Nachbarländern zu schließen und Probleme wie Transit, Abhängigkeit von den Lieferungen der Energie, Zolltarife, Förderung des Grenzhandels auf dem Niveau des Gebietes zu lösen. 25 Jedoch ist zu berücksichtigen, daß die Annerkennung der Republik als Staat jetzt nur eine Tradition ist. In der „Republik“ findet das Gebot der nationalen ___________ 23
Die Verfassung der Russischen Föderation. Rosijskaja Gazeta 25.12.1993. Umnova, Irina, Die verfassungsrechtlichen Gründlagen der modernen russischen Föderalismus. 1998, S. 144. 25 Ebd., S. 145. 24
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Selbstbestimmung der Völker seine Existenz. Die Geschichte der Republiken ist noch mit der sowjetischen Periode verbunden, obwohl manche autonome Ausbildungen schon im Mittelalter als selbständige Staaten existierten. Das System der Autonomien wurde von Stalin aufgebaut. Nach seinem Konzept müßten die Völker verschiedene Stadien in einer Entwicklung zur Nation durchgehen. Stalin stellte sechs „Stufen“ der Autonomien fest: Republik der UdSSR, autonome Republik, autonomes Gebiet, nationale Region, nationaler Teil einer Region (Rajon), nationaler landwirtschaftlichen Rat (Selsovet). Die beiden letzten verloren ihre Existenz vor 40 Jahren. Nationale Regionen stellen derzeit autonome Kreise (Okruga) dar. 26 Republiken der Russischen Föderation verfügen über keine staatliche Souveränität. Deswegen kann man die Republik in Rußland kaum als Staat bezeichnen. Wie oben festgestellt wurde, ist das Gebiet Kaliningrad eines der gleichberechtigten Föderationssubjekte. Darunter versteht man, daß alle Teileinheiten der Russischen Föderation in den Beziehungen mit föderalen Organen gleiche Position haben. Jedes Subjekt hat dieselben Rechte und Pflichten (Art. 5 Abs. 5 Verfassung der Russischen Föderation). Das in der Verfassung verankerte Prinzip der „Gleichheit der Subjekte der Föderation“ sieht zunächst die Gleichheit in Organisation und Aufbau der Organe der staatlichen Macht der Föderationssubjekte, Gleichheit bei Kompetenzenteilung zwischen der Föderation und deren territorialen Einheiten vor. Diese Grundlagen wurden erfolgreich in der föderalen Gesetzgebung verankert. Das föderale Gesetz „Über Prinzipien und Ordnung der Abgrenzung von den Kompetenzen und Vollmächten zwischen den Organen der Staatsmacht der Russischen Föderation und den Organen der Staatsmacht der Subjekte der Russischen Föderation“ bestimmte die rechtlichen Voraussetzungen für selbständige rechtliche Regelungen auf regionaler Ebene sowie die Prozedur von Vertragsabschlüssen zwischen der Föderation und ihren Subjekten. 27 Ein weiterer Schritt in Richtung Zentralisierung des Staates erfolgte im Gesetz „Über Prinzipien der Organisation der Exekutive und Legislative in den Föderations-
___________ 26
Föderalismus in Rußland. 1997, S. 228. Föderales Gesetz „Über Prinzipien und Ordnung der Abgrenzung der Gegenstände der Kompetenzen und Vollmächte zwischen den Organen der Staatsmacht der Russischen Föderation und den Organen der Staatsmacht der Subjekte der Russischen Föderation“. In: Rosijskaja Gazeta, Nr. 21, 30.06.1999. 27
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subjekten.“ 28 Das oben erwähnte Gesetz bestimmte das einheitliche System und die Kompetenzen der Staatsorgane auf regionaler Ebene. 29 Wie jedes der 79 Subjekte der Föderation hat das Kaliningrader Gebiet eigene Organe. Dazu gehören die Gebietsduma als Legislative sowie der Gouverneur und die Administration des Gebiets als Exekutive. Sie verfügen über eigene Kompetenzen, die auf Art. 72 der Verfassung der Rußländischen Föderation und auf Art. 14 bis 53 des Statuts des Gebiets gegründet sind. Dies bedeutet, daß das Kaliningrader Gebiet, wie jedes der 79 Subjekte der Föderation, einen gemeinsamen Kompetenzbereich mit der Föderation hat. Dazu gehören: der Schutz der Rechte und Freiheiten der Menschen, Fragen des Besitzes, der Nutzung und der Verfügung über Grund und Boden, Naturnutzung, Umweltschutz, allgemeine Fragen der Erziehung, der Bildung, der Wissenschaft, der Kultur, Koordination von Fragen des Gesundheitsschutzes, die Festlegung allgemeiner Prinzipien der Besteuerung, die Verwaltungs-, Verwaltungsprozeß-, Arbeits-, Familien-, Wohnungs- , Boden-, Wasser- und Forstgesetzgebung, die Festlegung allgemeiner Organisationsprinzipien für das System der Organe der Staatsgewalt und der örtlichen Selbstverwaltung, die Koordinierung der internationalen und außenwirtschaftlichen Beziehungen der Subjekte der Rußländischen Föderation und die Erfüllung der völkerrechtlichen Verträge der Rußländischen Föderation u.s.w. 30 Außerhalb der Zuständigkeit der Rusßländischen Föderation und der Befugnisse der Föderation im Bereich der gemeinsamen Zuständigkeit der Föderation und der Subjekte verfügt das Gebiet über die gesamte Fülle der Staatsgewalt. 31 Das heißt, daß die Subjekte der Rußländischen Föderation befugt sind, bis zur Annahme der föderalen Gesetze über die Fragen, die auf Gegenstände der gemeinsamen Leitung bezogen sind, ihre eigene rechtliche Regelung zu verwirklichen. Nach der Annahme des entsprechenden föderalen Gesetzes sollen die Gesetze und andere normative rechtliche Akte der Subjekte der Rußländischen Föderation in Übereinstimmung mit dem angenommenen föderalen Gesetz gebracht werden. ___________ 28
Föderales Gesetz „Über Prinzipien der Organisation der Exekutive und Legislative in den Föderationssubjekten“ . In: Rosijskaja Gazeta, No 206, 19.10.1999. 29 In verschiedenen Regionen Rußlands erließen die Vorsteher der Administrationen gesetzliche Verfügungen, welche die Vormacht der Exekutive untermauern sollten, so etwa in den Gebieten Saratow, Wologda, Wolgograd. Daneben versuchten die Gouverneure, die Volksvertretungsorgane mit verschiedenen anderen Methoden, etwa durch Kooptation von Deputierten in die Administration zu kontrollieren. Gesetzliche Bestimmungen, das System und Kompetenzen der Staatsorgane auf regionaler Ebene schufen das Gleichgewicht zwischen Exekutive und Legislative und den einheitlichen Aufbau der Legislative und Exekutive in jeder Region. 30 Verfassung der Russischen Föderation, Art.73. 31 Ebd. Art.73.
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In der Periode zwischen 1999 und 2004 schuf Rußland eine föderale Gesetzgebung, in der die gemeinsamen Zuständigkeiten der Föderation und ihrer Subjekte geregelt war. Eine besondere Bedeutung hat diese Tatsache für das Kaliningrader Gebiet im Bereich der Koordinierung der internationalen und außenwirtschaftlichen Beziehungen, weil sich von 1991 bis 2003 der Begriff „partielle Völkerrechtsfähigkeit des Gebiets“ 32 grundsätzlich veränderte. Im Jahr 1999 ist das Gesetz „Über die Koordinierung der internationalen und außenwirtschaftlichen Beziehungen der Subjekte der Rußländischen Föderation“ in Kraft getreten. 33 In diesem Gesetz wurde noch einmal klargestellt, daß die Unterschreibung der völkerrechtlichen Verträge den Regionen verboten ist. Es gewährte den Regionen nur die Möglichkeit der Verwirklichung internationaler und außenwirtschaftlicher Kontakte und verpflichtete die Föderationssubjekte, alle Entwürfe für Abkommen über internationale und außenwirtschaftliche Tätigkeit dem Außenministerium der Rußländischen Föderation und den zuständigen Ministerien zu Begutachtung vorzulegen. Eine Unterzeichnung des Abkommens über die Durchführung der formalen Maßnahmen kann oft mehr als ein Jahr in Anspruch nehmen. Das erschwert wesentlich die außenwirtschaftlichen Beziehungen des Gebiets. Laut Art. 1 des Gesetzes haben Subjekte der Rußländischen Föderation das Recht der Realisierung internationaler und außenwirtschaftlicher Beziehungen mit den Teileinheiten ausländischer Staaten, und können an den Aktivitäten internationaler Organisationen teilnehmen. Es besteht also für das Kaliningrader Gebiet prinzipiell die Möglichkeit, nur mit den oben genannten Partnern Abkommen zu schließen. Das Gebiet verfügt nicht über die Kompetenz, völkerrechtliche Verträge im Sinne von Art. 2 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 oder im Sinne von Art.1 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge zwischen den Staaten und Internationalen Organisationen oder zwischen Internationalen Organisationen von 1986 zu schließen. 34 Das Gebiet kann nicht als selbständiges Subjekt der völkerrechtlichen Beziehungen bezeichnet werden. 35 Deswegen gibt es heutzutage für das Kaliningrader Gebiet keine rechtlichen Möglichkeiten einer selbständigen Beteiligung an Freihandelsabkommen oder Freihandelzone mit der EU oder im Europäischen Wirtschaftsraum. Das ist föderaler Kompetenzbereich. 36 ___________ 32 Gornig, Gilbert/Anweiler, Jochen, Das nördliche Ostpreußen und die Europäische Gemeinschaft. In: Recht in Ost und West. Zeitschrift für Ostrecht und Rechtsvergleichung. Heft 4, 15. August. 1994. S.126. 33 Der Versammlung der Gesetzgebung Russischen Föderation. 11.01.1999, Nr. 2, Art. 231. 34 Ipsen, Knut, Völkerrecht. 3 Aufl. München, 1990. S. 97. 35 Ebd. S. 5. 36 Verfassung der Russischen Föderation. Art. 5, Art. 71 (j) (k) In: Rosijskaja Gazeta. 25.12.1993.
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Das Kaliningrader Gebiet hat also einen ähnlichen Aufbau und dieselben Kompetenzbereiche wie andere Föderationssubjekte. Das Gebiet verfügt im Sinne der Verfassung der Rußländischen Föderation nicht über einen „speziellen“ Status. 37 Von einem „Sonderstatus“ des Kaliningrader Gebiets können wir ausschließlich im wirtschaftlichen Sinne sprechen, weil das Gebiet eine freie Wirtschaftszone ist.
2. Freie Wirtschaftszone auf dem Territorium des Kaliningrader Gebietes Konzeptuell stellt die freie Wirtschaftszone ein auf dem Territorium der Russischen Föderation geographisch abgesondertes Gebiet dar. Sie bildet einen Teil des nationalen Wirtschaftsraums, in dem das System der Vergünstigungen und Förderungen eingeführt ist, das auf anderem Territorium des Staates nicht existiert. Man kann folgende Vergünstigungen und Förderungen aufzählen: –
außenwirtschaftliche (Abbau oder Abschaffung der Einfuhr- und Ausfuhrzolle, vereinfachte Regulierung der außenwirtschaftlichen Tätigkeit);
–
steuerliche, d. h. die Förderung von bestimmten Tätigkeiten. Diese Vergünstigungen können die Steuerbasis (z. B. Gewinn, Einkommen, Vermögenswert usw.) und ihre einzelnen Komponente (Abschreibungen, Personalkosten, Transportkosten) sowie das Niveau der Steuersätze beeinflußen oder ständige oder vorläufige Befreiung von der Besteuerung bedeuten;
–
finanzielle, die verschiedene Formen von direkten (auf Kosten der Haushaltsmittel und staatliche Kredite) als auch indirekte (niedrige Preise für kommunale Leistungen, Senkung der Miete für Benutzung der Gründstücke usw.) Subventionen vorsehen.
–
administrative d. h. vereinfachtes Verfahren der Registrierung von Unternehmen durch die staatlichen Behörden, vereinfachte Einreise ins Land und Ausreise aus dem Land für ausländische Bürger, vereinfachter Gütertransit. Dabei wurden bei Gründung der freien Wirtschaftszonen in der Russischen Föderation folgende Forderungen zum Territorium vorgelegt: günstige geographische Verkehrslage, Nähe zu den Märkten, das Vorhandensein der Transportverbindung, hoch entwickelte Produktion und Infrastruktur, Rohstoffreserven.
Von den obengenannten Kriterien ausgehend wurden vom Staat als die günstigsten die Grenzgebiete anerkannt, die über Seehäfen und Transportnetz ver___________ 37
Ebd. Art. 5, Art. 71.
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fügen, wobei günstige Bahn- und Autoverbindung, Schiffsverkehr und Luftverkehr besondere Bedeutung haben. Der Prozeß der Entwicklung von freien Wirtschaftszonen in Rußland begann Ende der 80er Jahre. Die freien Wirtschaftszonen stellten damals ein wichtiges Element der staatlichen Außenwirtschaftspolitik dar und waren eine Methode für Förderung der internationalen Beziehungen zwischen der ehemaligen Sowjetunion und ausländischen Wirtschaftpartnern. Staatliche Förderung wurde auf dem Territorium der Freien Wirtschaftlichen Zonen (FWZ) nur in bezug auf das Unternehmen mit ausländischen Investitionen vorgesehen. Dieses Konzept wurde zum Beginn der 90er Jahre durch viele regionale Initiativen ergänzt. Im Juni 1990 hat der Oberste Rat Rußlands die Vorschläge von 11 Regionen über die Schaffung auf deren Territorien Zonen des freien Unternehmertums angenommen. Solche Zonen wurden in den Staaten Leningrad, Viborg, Nachodka, Zelenograd, in Gebieten Kaliningrad, Sachalin, Tschita, Kemerovo, Novgorod, in Altayskyj Kraj, und im Jüdischen Autonomen Gebiet organisiert. In den neunziger Jahren verabschiedete der Ministerrat und der Oberste Rat der RSFSR für jede Zone eine eigene Verordnung, in der der neue Wirtschaftsstatus bestimmt wurde. 38 Die Frage, warum das Gebiet Kaliningrad neben anderen Territorien für die Schaffung der freien Wirtschaftszone ausgewählt wurde, ist ganz einfach zu beantworten. Die geopolitische Lage der Region Kaliningrad und die ernsthaften wirtschaftlichen und politischen Probleme, die nach dem Zerfall der UdSSR entstanden, führten zur Notwendigkeit eines besonderen Status für das Gebiet. Die Frage über den zukünftigen Status des Gebietes nach dem Zerfall der UdSSR wurde ständig in der Presse und in offiziellen Schichten diskutiert. Es wurden verschiedene Varianten der Veränderung des Status des Gebietes vorgeschlagen: von der selbständigen Republik innerhalb der RSFSR bis zum Anschluß an Litauen oder Polen. 39 Diese Separatismusdrohung des Gebiets hatte ökonomische Motive. Hinzu kommt, daß die Region wegen ihrer strategischen Bedeutung stark militarisiert war. 40 Als Entscheidung für ökonomische Probleme des Gebiets schlug die Regierung Rußlands einen „Sonderstatus des Gebietes“ vor. Von einem „Sonderstatus“ des Kaliningrader Gebiets können wir seit 1990 sprechen. Am 14. Juli 1990 hat der Oberste Sowjet der RSFSR die Verordnung „Über die Schaffung von Zonen freien Unternehmertums“ verabschiedet. Am 3. Juni 1991 wurde die Verordnung „Über den wirtschaftlichen und rechtlichen ___________ 38
Gorodilov, A., Gomin, A, Kargopolov C, Kulikov A., XXI Jahrhundert, Freie Wirtschaftzone und besonderer Status, 2001, S. 43. 39 Mazosious Lietavos. Reikalu Taruba, Die Zukunft des Königsberger Gebietes – mit Litauen! http://www.mbrt.lt/atdeu.html. 40 Wenger, Andreas/ Perovic, Jeronim, Rußland zwischen Zerfall und Großmachtanspruch: Herausforderungen der Regionalisierung. Zürcher Beiträge zur Sicherheitspolitik und Konfliktforschung, No. 47, Zürich. 1998. S. 22.
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Status der Freien Wirtschaftszone „Bernstein“ (russisch „Jantar“) im Kaliningrader Gebiet“ gebilligt. Die seit 1991 existierende Freihandelszone auf dem Territorium Kaliningrads wurde zur Stimulierung ausländischer Investitionen und Erhöhung der Unternehmenswirksamkeit geschaffen. Ursprünglich sollte eine besondere Wirtschaftszone mit Steuer- und Zollprivilegien organisiert werden sowie ein erleichtertes System der Registrierung von Unternehmen mit ausländischer Beteiligung geschaffen werden. Das Kaliningrader Gebiet sollte eine besondere wirtschaftliche territoriale Verwaltungseinheit innerhalb des Territoriums des RSFSR darstellen. Wegen der herrschenden rechtlichen Instabilität wurden jedoch diese Pläne nicht realisiert und in der Wirklichkeit funktionierte die angekündigte „freie Wirtschaftzone“ schon seit 1993 nicht mehr. Einen erneuten Versuch, die Idee der freien Wirtschaftszonen zu reanimieren, unternahm die Russische Regierung im Jahr 1996. Damals verabschiedete die Staatsduma 41 das föderale Gesetz „Über die Sonderwirtschaftszone im Kaliningrader Gebiet“. 42 Die Sonderwirtschaftszone wurde in Grenzen des ganzen Territoriums des Gebiets geschaffen (mit Ausnahme der Territorien von Objekten, die verteidigungsfähige und strategische Bedeutung hatten) als Teil des staatlichen und zollamtlichen russischen Territoriums. Die Grundpositionen des Gesetzes betreffen vor allem den Einsatz ausländischer und einheimischer Investitionen, Gütertransit, Zoll, Steuer und Migrationregelungen, die Bodennutzung, den Ausbau des Gebiets zu einem internationalen Transportknotenpunkt und Finanzzentrum. Im Zuge der Reformierung der Gesetzgebung in Rußland waren viele Gesetzesvorschriften jedoch deklarativ geblieben. Nicht zuletzt hat die staatliche Politik eine Rolle gespielt, die sich an der Schaffung der gleichen Spielregeln für alle Subjekte der Rußländischen Föderation orientierte.
3. Bedeutung der Sonderwirtschaftzone im Kaliningrader Gebiet und neue wirtschaftliche und rechtliche Bedingungen Alle Vorschriften des Gesetzes „Über die Sonderwirtschaftszone im Gebiet Kaliningrad“, die Investitionstätigkeit, Registrierung der Unternehmen, Tätigkeit der ausländischen Banken, Steuerfragen regulieren, sind gegenwärtig durch spezielle föderale Gesetze geregelt und gelten in ganz Rußland. ___________ 41
Das Parlament der Russischen Föderation. Das Föderale Gesetz „Über die Sonderwirtschaftszone im Kaliningrader Gebiet“. Rosijskaja Gazeta. N 19, 31.01.1996. 42
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Zur Zeit existiert in Rußland auch ein neues System der Registrierung von Unternehmen und ein neues Steuer- und Budgetsystem. 43 Die Russische Regierung hat eine Reihe von Schritten zur Verbesserung des Investitionsklimas im Land gesetzt. Im Juli 1999 wurde das Gesetz „Über ausländische Investitionen in der Russischen Föderation“ erlassen. Es sieht für den ausländischen Investor ein nationales Regime vor, d. h. gleiche Bedingungen von Investitionstätigkeit bei Vorlage von bestimmten Steuer- und Zollprivilegien. Das Gesetz beinhaltet wesentliche Rechte zum Schutz von Investoren. Dazu gehören: Schutz vor Verstaatlichung und Enteignung, Bestandschutz vor späteren Rechtsänderungen für ausländische Gesellschaftsbeteiligungen, das Recht auf vollen Schadensersatz, einschließlich verhinderter Gewinnmöglichkeiten, im Fall von unrechtmäßigen Handlungen seitens staatlicher Organe und Amtspersonen. Wegen dieser Veränderungen hat das „Föderale Gesetz über die Sonderwirtschaftszone (SWZ) im Kaliningrader Gebiet“ gegenwärtig seine praktische Bedeutung nur im Zollbereich. Waren, die im Kaliningrader Gebiet verbleiben oder in ihm hergestellt werden und anschließend in das übrige Zollterritorium der Rußländischen Föderation, in die Territorien der Zollunion der GUSStaaten bzw. ins Ausland gebracht werden, sind vom Zoll und anderen Abgaben befreit und unterliegen keinen Maßnahmen der außertariflichen staatlichen Regulierung der Außenhandelstätigkeit der Rußländischen Föderation. Diese Regulierung sollte in diesem Gebiet die Voraussetzungen zur Errichtung von Produktionsstätten als Ersatz für Importe schaffen. Allerdings wird Export im Kaliningrader Gebiet durch diskriminierende Beschränkungen der importierenden Länder u. a. EU-Länder erschwert. Deswegen hat das Gesetz seine Ziele nicht erreicht und der Importersatz entwickelt sich sehr langsam. Für den Import von Waren in die SWZ wurden Mengenbeschränkungen mit der Folge festgelegt, daß auf die betroffenen Waren, die über die festgesetzten Mengen hinaus eingeführt werden, die Zollvergünstigungen keine Anwendung finden. 44 Weitere Beschränkungen wurden am 1. Januar 2003 eingerichtet. Zollbefreiung gelten jetzt nicht mehr für Akzisen und Mehrwertsteuern auf Import von Waren. 45 ___________ 43 Föderales Gesetz „Über staatliche Registrierung von juristischen Personen“ 08.09.2001.ʋ 129 ɎZ. In: Rosijskaja Gazeta. N 120, 11.09.2001; Der Haushaltsmäßige Kodex der Rußländischen Föderation vom 31.07.1998 N 145-ɎɁ. Das Gesetzblatt der Rußländischen Föderation 03.09.1998, N 31, 3823. 44 Allgemeine Information über das Kaliningrader Gebiet, Vertretung der Handelskammer Hamburg in Kaliningrad, http://www.hkhamb -ahk- kaliningrad. com/de /chap 01.html. 45 Föderales Gesetz von 24.12.2002 N 176-FZ. Rossijskaya Gazeta. N208 26.12.02.
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Die russische Regierung hat im Dezember 2001 für Kaliningrad ein „Föderales Zielprogramm zur Entwicklung des Verwaltungsgebiets Kaliningrad bis zum Jahre 2010“ verabschiedet, das eine Reihe positiver Elemente enthält. Dieses Programm gilt es, zu einem strategischen Konzept für die Sonderwirtschaftszone Kaliningrad weiter zu entwickeln. Der Rahmen wäre so zu gestalten, daß Projekte und Instrumente von Rußland und der Europäischen Union ineinander greifen und ein Hochmaß an Synergieeffekten erzielen. Es sieht u. a. die Umsetzung einer Anzahl von groß angelegten Projekten strategischer Natur vor, wie die Entwicklung des Energiesektors, der Seefahrt, des Transports und der Telekommunikationsinfrastruktur. Die Umsetzung des Programms wird erhebliche Summen beanspruchen – um die 3 Milliarden USD. Die Regierung geht davon aus, daß die besagten Vorhaben einen kräftigen Einfluß auf die Investitionsaktivitäten in der Region haben werden, es wird also ein günstiges Klima in der Region Kaliningrad entwickelt werden, einschließlich für ausländische Investoren. Mit dem Inkrafttreten des zweiten Teiles des Steuergesetzbuchs wurde die Kompetenz der Regionen bestimmt, Steuervergünstigungen zu vergeben. Deswegen verabschiedete die Kaliningrader Duma das Gesetz des Kaliningrader Gebiets „Über die Einräumung von Steuervergünstigungen für die Organisationen, die Investitionsprojekte im Kaliningrader Gebiet verwirklichen“, das die Investitionsförderung auf dem Territorium des Gebiets reguliert. Organisationen, die Investitionsprojekte im Kaliningrader Gebiet realisieren, haben Recht auf die Steuervergünstigungen während der Rückflußdauer vom Projekt. Im Jahre 2002 wurde noch ein spezielles Gesetz im Kaliningrader Gebiet „Über die staatliche Förderung von den Organisationen, die, in der Form von Kapitalinvestitionen betriebene Investitionstätigkeit auf dem Territorium des Kaliningrader Gebiets realisieren“, verabschiedet. Es wurde die staatliche Unterstützung in Form von Steuervergünstigungen, Steuerkrediten (Vermögensteuer von Unternehmen) und staatlichen Garantien für den Investor, Beratungshilfe bei der Verwirklichung von Investitionsprojekten vorgesehen.
III. Das Kaliningrader Gebiet und die EU-Erweiterung 1. Initiativen für Kaliningrad Die spezifische, politisch sensitive geographische Lage des Gebiets als Enklave der EU drängt nach Lösungen, die Kaliningrad als integralen Bestandteil Rußlands und zugleich als aktiven Partner der EU und der Ostseekooperation
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ausweisen. 46 Es ist ein einzigartiges Territorium, das von Rußland abgetrennt ist, und im Zuge der EU-Erweiterung nach Osten innerhalb der Europäischen Union liegt. Für die Reise „vom kleinen Rußland (Kaliningrad) ins große“ ist eine Überschreitung von drei staatlichen Grenzen und eine besondere VisaRegelung nötig. Einige Probleme, z. B. eine Regelung des Warenverkehrs, betreffen die ganze Rußländische Föderation, einige dagegen nur Kaliningrad. Auch Fragen, die mit den Transportkorridoren verbunden sind, die die Überschreitung der Grenzen, einschließlich die Fragen des Zollamtes, der Veterinärmedizin und der Gesundheit regeln, müssen revidiert werden. 47 a) Die „Nördliche Dimension“ Die „Nördliche Dimension“ war die erste EU-Initiative, die besondere Aufmerksamkeit dem Problem Kaliningrad gewidmet hatte. Die „Nördliche Dimension“ umfaßte insgesamt 11 Länder: sämtliche Ostseeländer der EU (Deutschland, Dänemark, Schweden, Finnland), dazu die drei baltischen Staaten sowie Polen, Rußland, Norwegen und Island. Die Initiative bezieht sich auf solche Fragen wie Entwicklung und Nutzung der natürlichen Ressourcen im Nordwesten Rußlands, Ausbau der Energieinfrastrukturen zu einem Energienetzwerk im Ostseeraum, Schutz der Umwelt und nukleare Sicherheit, Modernisierung und Ausbau der Verkehrs- und Telekommunikationsnetze sowie deren Anbindung an die europäischen Infrastrukturen, Zusammenarbeit zwischen den Grenzregionen und auf grenzübergreifende Aktivitäten und grenzüberschreitende Kooperation von Regionen, Städten, Geschäftsleuten, Wissenschafts- und Bildungsinstitutionen sowie von sozialen und kulturellen Organisationen. 48 b) Die „Mittelfristige Strategie zur Entwicklung der Beziehungen zwischen der Rußländischen Föderation und der Europäischen Union“ Die „Mittelfristige Strategie“ Moskaus betrachtet das Kaliningrader Gebiet als „Pilot“-Region im Rahmen der Zusammenarbeit zwischen Rußland und der EU im 21. Jahrhundert. Einen besonderen Abschnitt widmet das Dokument der Situation im Gebiet angesichts der bevorstehenden Erweiterung der EU. 49 ___________ 46
Timmermann, Heinz, Rußlands Strategie für die Europäische Union. Aktuelle Tendenzen, Konzeptionen und Perspektiven. In: BIOst. N5, 2000.S.16. 47 Ebd. S. 16. 48 Timmermann, Heinz, Rußland und seine Region Kaliningrad als Partner der „Nördlichen Dimension“. BIOst. Nr. 5 2000. 49 Timmermann, Heinz, Rußlands Strategie für die Europäische Union. Aktuelle Tendenzen, Konzeptionen und Perspektiven. BIOst. Nr. 5, 2000.
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Rußland schlägt in diesem Zusammenhang ein spezielles Abkommen mit der EU vor und regt an, das Gebiet Kaliningrad als eine Pilotregion für die Gestaltung der europäisch-russischen Beziehungen im 21. Jahrhundert zu entwickeln. 2. Transit Nach der EU-Erweiterung im Jahr 2004 hat sich die existierende rechtliche Lage zwischen Rußland und der EU verändert. Schon im Januar 2003 führte Litauen und im Juli 2003 Polen, die Visumpflicht für russische Bürger ein. Die russische Exklave Kaliningrad hat 23 Grenzübergänge nach Litauen und Polen. Mit der Aufnahme beider Staaten in die EU ist auch hier das „Grenzregime“ der EU eingeführt worden. Während des Jahres 2002 war die Diskussion auf der EU-Ebene um die Frage des Gebiets besonders scharf. Diskutiert wurde, ob besondere Transitvisa (billige Mehrfachvisa, gebührenfreie Visa oder Ausnahmen von Visaerfordernissen für die Kaliningrader Bürger) ausgestellt werden sollen. Einerseits hatte Rußland das Transitrecht auf freie Verbindung zwischen dem Mutterland und der Exklave. Es ging auch um die Rechte der Kaliningrader, mit ihrem Mutterland Verbindung zu haben. Auch den Einwohnern des übrigen Rußlands sollte die Verbindung mit ihrem Ostseegebiet ermöglicht werden. Andererseits behauptete die EU, daß das Visum-Regime des Schengener Abkommens „Besitzstand“ der EU sei und die beitretenden Länder müssten sich diesem Regime unterwerfen. 50 Die die Grenzenversicherung betreffenden Fragen sowie die Sicherheit der EU-Bürger sind für die EU auch von primärer Bedeutung. In dieser Situation hat Litauen die Bereitschaft geäußert, mit Rußland in praktischen Fragen zusammenzuarbeiten, soweit dies nicht den aus dem Besitzstand erwachsenden Verpflichtungen zuwiderläuft. Polen betrachtete sich nicht als Transitland. 51 Wie die Mitteilung der Kommission über das Kaliningrader Gebiet zeigt, existierten bisher keine speziellen Rechtsvorschriften über den Personenverkehr, der von einem Drittland zum selben Drittland durch das Gebiet der EU geht. 52 Es müßte daher eine ausgewogene Lösung gefunden werden, die sowohl das russische Bedürfnis nach Transit, als auch den Wunsch Litauens nach ___________ 50
Seiffert, Wolfgang, Bleibt Ostpreußen russisch? In: Junge Freiheit Verlag GmbH & CO. www.jungefreiheit.de, 24.07 2002. 51 Mitteilung der Kommission an den Rat über das Kaliningrader Gebiet: Transitverkehr. Vom 18. September 2002. www.eurlex.com. 52 Ebd.
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voller Souveränität über sein Staatsgebiet und die wesentlichen Bedingungen des Schengen-Besitzstandes berücksichtigt. Nachgedacht wurde auch über das, einem Mehrfachvisum entsprechende, „Dokument für den erleichterten Transit“ sowie über die Befreiung von der Visumspflicht für Reisende im Transitverkehr ohne Halt. 53 Für Rußland waren solche Vorschläge nicht akzeptabel, weil diese alle Reisen Richtung Kaliningrad für russische Bürger erschweren und vor allem verteuern würden, besonders für Rentner. Deswegen forderte Rußland eine visumsfreie, direkte Zugverbindung in die russische Exklave über litauisches Gebiet. 54 Solche Transitrechte existierten schon in der internationalen Praxis. Das Problem des Transits zwischen den USA und Alaska wurde dadurch gelöst, daß die USA eine Straße quer durch Kanada zu ihrem Bundesstaat Alaska haben. Ab Mitte der 70er Jahre funktionierte ein Transitsystem zwischen Westberlin und der Bundesrepublik. Es gibt auch Länder, die den Schengener Vertrag nicht unterzeichnet haben, und dennoch können ihre Bürger für maximal zwei Monate in die Schengener Staaten frei einreisen. 55 Am 11. November 2002 haben sich in Brüssel Rußland und die Europäische Union nach schwierigen Verhandlungen auf eine Regelung für Transitreisende von und nach Kaliningrad geeinigt. 56 Nach dieser Einigung soll es zwei Formen eines „Vereinfachten Transitdokuments“ geben. Ein „Vereinfachtes Transitdokument für Bahnfahrten“ soll für durchgehende Bahnfahrten zwischen beiden Gebieten zusammen mit der Fahrkarte vor der Abfahrt des Zuges erhältlich sein. Angaben zu den Reisenden sollen elektronisch an die litauischen Behörden übermittelt werden. Ein „Vereinfachtes Transitdokument" für alle weiteren Verkehrswege zwischen dem Königsberger Gebiet und dem übrigen Rest Rußlands sollen russische Bürger in den litauischen Konsulaten beantragen können. Ab 31. Dezember 2004 wird Litauen die Visa nur noch auf der Grundlage der international gültigen russischen Reisepässe ausstellen. Außerdem erklärte sich die EU
___________ 53
Ebd. Frankfurter Allgemeine Zeitung. Über Königsberg-Transfer weiter uneins. 25.06.02. 55 Seiffert, Wolfgang, Bleibt Ostpreußen russisch? 2002, S. 2. In: Junge Freiheit Verlag www.jungefreiheit.de. 56 Frankfurter Allgemeine Zeitung. EU und Rußland einig über Konigsberg-Transit. 25.06.02. 54
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bereit, den Bau einer visumsfreien Non-Stop-Schnellzugverbindung prüfen zu lassen. 57 Es scheint, daß die Probleme des Personenverkehrs zwischen dem Kaliningrader Gebiet und Rußland gelöst sind. Russische Zugreisende zwischen Rußland und seiner Exklave benötigen künftig statt eines Visums einen litauischen Passierschein. Damit würde die bisherige Reisefreiheit russischer Staatsbürger auf dem Landweg eingeschränkt. 58 Zum Beispiel führte Litauen schon ab 1. Februar 2003 die neuen Zollregelungen ein. Personalausweise des Militärs können während der Transitreise durch Litauen nicht benutzt werden. Die Russischen Staatsangehörige müssen für jede Reise in die EU-Länder ein Visum beantragen. Für die Bewohner des Gebietes Kaliningrad ist das fast jeder Ausflug außerhalb der Gebietsgrenze. Dieses Problem kann nur dadurch gelöst werden, daß Rußland das Schengen-Übereinkommen unterschreiben wird. Es ist notwendig, nach weiteren Lösungen im Bereich des Güterverkehrs, der Wirtschaftsentwicklung, der Energieversorgung und des Umweltschutzes zu suchen. 35 % des Exports aus Rußland richtet sich bereits in die EU. Nach der EU-Erweiterung wird er mehr als 50 % einnehmen. Die Zollabfertigung und der Gütertransit sind schon heute teurer geworden und das beeinflußt auch die außenwirtschaftlichen Beziehungen des Gebiets. Sowohl ein Mechanismus für den ungehinderten Gütertransport, einschließlich Öl-, Gas- und Stromleitungen, als auch ein Mechanismus für Fischfangquoten sollen festgelegt werden.
IV. Zusammenfassung Der Waren- und Transitverkehr ist nur eine der Fragen, die das Kaliningrader Gebiet betreffen und bei denen die Russische Föderation und die Europäischen Union zusammenwirken müssen. Wichtig sind auch die Probleme der Entwicklung und Nutzung der natürlichen Ressourcen, der Ausbau der Energieinfrastrukturen, Schutz der Umwelt, nukleare Sicherheit, Arbeitslosigkeit und die wirtschaftliche Situation im Gebiet. Die EU-Erweiterung stellt für das Gebiet eine große Chance dar. Um diese Chance voll zu nutzen, muß das Gebiet die in der EU geltenden technischen Normen und Standards übernehmen. Da das Kaliningrader Gebiet jedoch ein fester Bestandteil der Russischen Föderation ist, ist es schwierig, dem Gebiet ___________ 57 Joint Statement on Transit between the Kaliningrad Region and the Rest of the Russian Federation. 11.11.2002. 58 GUS-Barometer „Putin setzt aut Amerika“. Januar 2003. N 32, 9 www.dgap.org.
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einen Sonderstatus – beispielsweise einer Freihandelszone oder einer Zollunion – einzuräumen. Eine Prozedur der Annäherung der Gesetzgebung Rußlands und der EU war in Artikel 55 des Abkommens über die Partnerschaft und die Zusammenarbeit vorgesehen. 59 Rußland und die EU können im Rahmen des Konzepts eines gemeinsamen europäischen Wirtschaftraums kooperieren. Dabei wird eine gewisse Harmonisierung von Rechtsnormen angestrebt, um den Handel zu vereinfachen. Die Vereinheitlichung der Gesetzgebung Rußlands und der EU ist ein schwer lösbares bilaterales Problem, das durch das Fehlen einer einheitlichen Strategie zur Durchführung solcher Annäherung und durch das Vorhandensein unterschiedlicher politischer Interessen kompliziert wird. Die EU geht von der Voraussetzung aus, daß die Unifizierung der Gesetzgebung nach westlichem Muster entstehen wird. Aber Rußland hat Besonderheiten der Rechtsschöpfung und des Rechtsbewußtseins. Nicht alle Modelle der Europäischen Union sind für Rußland akzeptabel. Einige sind unannehmbar und generell nicht realisierbar. Neben den politischen Schwierigkeiten der Vereinheitlichung der Gesetzgebung existieren Organisationsprobleme. Beispielsweise gibt es keine Prozedur der Annäherung der Gesetzgebung Rußlands und der EU, die in Artikel 55 des Abkommens über die Partnerschaft und die Zusammenarbeit vorgesehen war. Es gibt praktisch keine Maßnahmen zur Realisierung des oben genannten Abkommens, obwohl wegen der EU-Erweiterung die Möglichkeit einer aktiven Entwicklung der Zusammenarbeit wächst. Sie könnte auch einer baldigen Integration Rußlands und insbesondere des Kaliningrader Gebiets in die Europäische Union dienen. Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Gebiets und dessen Lebensgrundlagen sind unmittelbar von ihren Verbindungen sowohl zum Kernland Rußlands als auch zur restlichen Außenwelt abhängig. Gegenwärtig muß ein klares Konzept für die weitere Entwicklung des Gebiets erarbeitet werden, um Bedingungen für ein normales Leben in Würde und Wohlstand für die Bevölkerung Kaliningrads zu schaffen. * * *
___________ 59
Abkommen über Partnerschaft und Zusammenarbeit zur Gründung einer Partnerschaft zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Russischen Föderation andererseits vom 24.06.94, BGBl. 1997 II, S. 847-893.
Der Rechtsstatus des Kaliningrader Gebiets
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Abstract Oxana Vitvitskaya: The Legal status of the Kaliningrad Region, In: The European Union as a Community of Values. Ed. by Dieter Blumenwitz, Gilbert H. Gornig and Dietrich Murswiek (Berlin 2005) pp. 271-289. The Kaliningrad region was organised on the decree of the Supreme Soviet of the USSR on 7th of April 1946. After the World War II the Notheastpreussia was included in the Sowjet Union. The disintegration of the USSR turned the Kaliningrad region into the enclave on the Baltic Sea. As soon as the region came into being it became the knot of territorial contradictions between Germany and Russia. Nowadays, after the EU enlargement to the East, Kaliningrad has required again a special attention. The Process of the EU law implementation in Poland und Lithuania has as a result the change of the custom law and the regulation of turnower, goods and people transfer. Therefore the number of new problems for the Region has appeared, that are connected with using of the sea coast, visa legislation, economical development of the Russian territory inside Europe. After the economical Collapse of 1990 the Problem of the change of law status of these Regions became vital significance. The Question now is it really necessary to alter the law status of this region. The Kaliningrad region is the part of the Russian Federation. Nowadays the changes of the law status can lead to the conflict between Russian authority and the EU. Therefore problems of the Region should be solved in the frame of the existent law. The instruments for solving of the economical problems are the approaching of legislation between Russia and EU, intensive Work in the frame of strategic partnership of EU and Russia, realisation of joint projects, for example Russia and EU could cooperate inside the concept of the universal European economic space.
Die Autoren / The Authors
Prof. Dr. Dieter Blumenwitz Persönliche Angaben / Personal Data: Dieter Blumenwitz (geb. 1939): 1958-1963 Studium der Politischen Wissenschaften und der Rechtswissenschaften; 1965 Promotion und 1970 Habilitation für die Fächer Öffentliches Recht, Schwerpunkt Völkerrecht und Internationale Privatrecht; Lehrstuhlvertretung in München; 1972 Berufung auf den Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Völkerrecht und Europarecht an der Universität Augsburg; 1976 Berufung auf den Lehrstuhl für Völkerrecht, allgemeine Staatslehre, deutsches und bayerisches Staatsrecht und politische Wissenschaften an der Universität Würzburg; zugleich verantwortlich für den Lehrbereich „Internationale Politik“ an der Hochschule für Politik in München. Dieter Blumenwitz (born 1939): 1958/1963 studies in Political Sciences and Jurisprudence; 1965 doctorate in Jurisprudence and 1970 Habilitation in Public International Law; 1972 Professor of Administrative Law, Public International Law and European Law at Augsburg University; since 1976 Director of the University of Wuerzburg’s Institute for Public International Law, European Law and International Commercial Law; outside this capacity, he is responsible for the Department of International Relations of the Munich School of Politics.
Auswahlbibliographie / Selected Publications: Internationale Schutzmechanismen zur Durchsetzung von Minderheiten- und Volksgruppenrechten. Köln 1997; Interessenausgleich zwischen Deutschland und den östlichen Nachbarstaaten. Die deutsch-tschechische Erklärung vom 21. Januar 1997. Köln 1998; Wahlrecht für Deutsche? Zur Möglichkeit einer Beteiligung der deutschen Volksgruppe in Polen an den Wahlen zum Deutschen Bundestag. Köln 1999; Positionen der katholischen Kirche zum Schutz von Minderheiten und Volksgruppen in einer internationalen Friedensordnung. Eine völkerrechtliche Untersuchung, Köln 2000.
Forschungsschwerpunkte / Research interests: Menschen- und Gruppenrechte als Bestandteile des Völkerrechts und der staatlichen Rechtsordnungen; internationales Enteignungsrecht und internationale ordre Public.
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Die Autoren / The Authors
Protection of Human- and Group Rights under Public International Law and the Constitutional Order of states; International Law of Expropriation; International Ordre Public.
Kontaktadresse / Contact address: Bayerische Julius-Maximilians-Universität Würzburg Lehrstuhl für Völkerrecht, allgemeine Staatslehre, deutsches und bayerisches Staatsrecht und politische Wissenschaften Domerschulstr. 16 D-97070 Würzburg/Deutschland Tel.: 0931-31-2308 Fax: 0931-31-2793 Email: [email protected] Internet: www.jura.uni-wuerzburg.de
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Prof. Dr. Hubert Isak Persönliche Angaben / Personal Data: Hubert Isak geb. 1955 in Eibiswald; 1974-1978 Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Graz, 1978 Promotion zum Dr. jur.; 1978 – 1991 Assistent am Institut für Völkerrecht und Internationale Beziehungen, Universität Graz; 1980/81 Studienaufenthalt in Paris; Juli-August 1982 Teilnahme an der Hague Academy of International Law; 1985/86 BM für ausw. Angelegenheiten, Referent im Völkerrechtsbüro; 1986 Mitglied der österr. Delegation bei der UN-Konferenz über das Recht der Verträge zwischen Staaten und Int. Organisationen und zwischen Int. Organisationen in Wien; seit 1992 Dienstzuweisung ans (Forschungs-) Institut für Europarecht; 1995 Ernennung zum Jean Monnet Professor für Europäisches Gemeinschaftsrecht und Recht der Europäischen Union; 1996 Verleihung der Lehrbefugnis für die Fächer Völkerrecht und Europarecht; 1997-1999 stv. Leiter des Forschungsinstituts für Europarecht; 1999-2002 und seit 10/2003 Leiter des Instituts für Europarecht 1997 und 2004 Gastprofessur für „European Law“ an der Rutgers State University of New Jersey, School of Law, Camden N.J. Hubert Isak, (born 1955 in Eibiswald/Austria); 1974-1978 Law Studies, University of Graz; 1978 Doctor iuris; 1978 – 1991Assistant at the Institute of International Law and International Relations, University of Graz; 1980/81 Studies of International Law, European Law and Legal Philosophy at the Universities of Paris; July-August 1982 Hague Academy of International Law; 1985/86 International Legal Office of the Ministry for Foreign Affairs, Vienna; Member of the Austrian Delegation to the U.N. Conference on the Law of Treaties between States and International Organizations or between
Die Autoren / The Authors
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International Organizations; 1992 (temporary) Delegation to the Research Institute of European Law (2002); 1996 venia legendi: Public International Law and European Law; 1995-2003 Chairholder Jean Monnet Chair: “Law of the European Union and European Community Law”; 1996 Member of the Advisory Committee in European Affairs to the Ministry for Foreign Affairs; 1997 Deputy Director of the Research Institute of European Law; 1997 Extraordinary Professor; 1999 - 2002, October 2003 Head of the Institute of European Law; since June 2002 Representative of the University of Graz and Academic Coordinator in the Coimbra Group Winterschool in Split, CRO.
Forschungsschwerpunkte / Research interests: Völkerrecht, Europarecht Public international law, european law
Auswahlbibliographie / Selected Publications: Europarecht I. Strukturen-Institutionen-Verfahren, Rechtsskriptum (2000); Die Erfüllung der Kyoto-Verpflichtungen durch die EU bzw. ihre Mitgliedstaaten und die Rechtsfolgen einer allfälligen Nichterfüllung, in: FS Uibopuu (erscheint 2004); Calliess/Isak (Hg.), Der Konventsentwurf für eine EU-Verfassung im Kontext der Erweiterung (erscheint 2004); Zur Entwicklungsfähigkeit von Recht und Struktur der Europäischen Union, in: Hummer (Hg.), Paradigmenwechsel im Europarecht zur Jahrtausendwende. Ansichten österreichischer Integrationsexperten zu aktuellen Problemlagen. Forschung und Lehre im Europarecht in Österreich (2004); Financing Enlargement, in: Ott/Inglis (eds.), Handbook on European Enlargement (HEE) (2002); Die neuen Medien im Spannungsfeld zwischen Europarecht und internationalem Recht, in: Neue Medien (2001); Politik und Krieg, in: Die Rolle des Krieges in der Europäischen Gesellschaft am Beginn des 21. Jahrhunderts (2000);
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Alexis von Komorowski Persönliche Angaben / Personal Data: Alexis v. Komorowski (geb.1970): Studium der Rechts- und Geschichtswissenschaften; 1995 Erstes Juristisches Staatsexamen; 1995 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Öffentliches Recht der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg (Lehrstuhl Professor Murswiek); 2000 Zweites Juristisches Staatsexamen; 2000 Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Öffentliches Recht der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg; 2000 nebenamtlicher Referendarausbilder im Öffentlichen Recht an den Landgerichten Freiburg und Waldshut-Tiengen.
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Die Autoren / The Authors
Alexis v. Komorowski (born 1970): University qualifications in law and history; 1995 First State Examination in Law; 1995 research assistant at the Institute of Public Law of the Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg (chair of Professor Murswiek) 2000 Second State Examination in Law; 2000 research fellow at the Institute of Public Law of the Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg; lecturer in public law for junior jurists at the regional courts of Freiburg and Waldshut-Tiengen.
Forschungsschwerpunkte / Research interests: Verfassungsrecht mit den Bezügen zum Völker- und Europarecht; öffentliches Umwelt- und Planungsrecht einschließlich des Verwaltungsprozeßrechts. Constitutional law including its links to international and European law; public environmental law, planning law including the law of administrative procedure.
Auswahlbibliographie / Selected Publications: Europa- und völkerrechtliche Probleme eines bundesgesetzlichen Wiederaufarbeitungsverbots, in: Natur und Recht (NuR) 2000, S. 432 – 438; Rückübertragungsansprüche bei zweckverfehlten DDR-Enteignungen? Zugleich ein Beitrag zur Eigentumsdogmatik des WiedervereinigungsProzeßes, in: Archiv des Öffentlichen Rechts (AöR) Bd. 126 (2001), S. 508-562; Amtshaftungsansprüche von Gemeinden gegen andere Verwaltungsträger, in: Verwaltungs-Archiv (VerwArch.) Bd. 93 (2002), S. 62-99; Normenkontrolle bei außer Kraft getretener Veränderungssperre, in: Umwelt- und Planungsrecht (UPR) 2003, S. 175-180; Beiladung im Normenkontrollverfahren. Der neue § 47 II 4 VwGO und seine grundgesetzliche Fundierung, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ) 2003, S. 1458 – 1463.
Kontaktadresse / Contact Address: Alexis v. Komorowski Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Öffentliches Recht D-79085 Freiburg / Deutschland Tel.: 0761/203-2237, -2241 Fax: 0761/203-2240 Email: [email protected]
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Die Autoren / The Authors
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Dr. jur. Siegrid Krülle Persönliche Angaben / Personal Data: Siegrid Krülle (geb. 1939 in Waldenburg/Niederschlesien): Studium der Rechtswissenschaften an der Univ. München 1958-63. Rechtsanwältin, Mitglied der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht. Siegrid Krülle (born 1939 in Waldenburg/Lower Silesia): studied law at the University of Munich1958-63. Lawyer, Member of the Study Group of Politics and In-
ternational Law (Bonn). Auswahlbibliographie / Selected Publications: Die völkerrechtlichen Aspekte des Oder-Neiße Problems, Berlin 1970; Options- und Umsiedlungsverträge, in: Blumenwitz (Hrsg.), Flucht und Vertreibung, Würzburg 1985; Die Konfiskation deutschen Vermögens durch Polen, Teil 1, Die Enteignungsmaßnahmen (Forsch.ergeb. d. Studiengruppe f. Politik u. Völkerrecht, Bd. 16), Bonn 1993.
Kontaktadresse / Contact address: Ringstr. 10, 71134 Aidlingen (Baden-Württ.) Tel. /Fax 07034-99339-1/-2; E-mail [email protected]
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Prof. Dr. Christoph Pan Persönliche Angaben / Personal Data: Christoph Pan (geb. 1938 in Bozen). Studium der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in Fribourg, Schweiz. 1964 Promotion an der Universität Fribourg. Habilitation in politischer Soziologie in Innsbruck/Österreich 1971. Ernennung zum Univ.-Prof. 1982. Hochschullehrer an den Universitäten Innsbruck (1971-2000) und zugleich auch Salzburg (1974-79). Seit 1961 Leiter des Südtiroler Volksgruppen-Instituts in Bozen mit Aufgaben der angewandten Forschung und Landesentwicklung. Studien- und Vortragsreisen in Asien, Afrika, USA, Südamerika. Als Minderheitenexperte seit 1993 über 140 Vorträge in etwa zwei Dutzend Staaten Europas und Übersee sowie Beratungsaktivitäten bei OSZE, Europarat, Europaparlament. Gründungsmitglied des Europäischen Ombudsmann-Instituts (1988). Präsident der Föderalistischen Union Europäischer Volksgruppen - FUEV (1994-96). Mitglied des internationalen Komitees zur Verleihung des Minderheitenpreises der Stiftung PRO MINORITATE, Budapest. Mitglied des wissenschaftlichen Beirates der Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen, Berlin.
Die Autoren / The Authors
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Christoph Pan (born 1938): studied economics and social sciences in Fribourg, Switzerland; 1964 doctorate at the University of Fribourg; 1971 postdoctoral qualification at the University of Innsbruck; University Teacher at the University of Innsbruck (1971-2000) and at the University of Salzburg (1974-1979); 1982 Associate Professor at the Institute of Public Law and Political Science of the University of Innsbruck. Since 1961 Head of the South Tyrol Institute of Ethnic Groups in Bozen. Study and lecturing trips in Asia, Africa, the United States, South America. Lecturing activity as an expert on minorities in various European states and advisory activity for the OSCE, The Council of Europe, the European Parliament; Founding member of the European Ombudsman-Institute. 1994-1996 President of the Federal Union of European Nationalities (FUEN). Member in the international committee of the PRO MINORITATE Foundation, Budapest. Also member in the scientific advisory panel of the Foundation Zentrum gegen Vertreibungen, Berlin.
Forschungsschwerpunkte / Research interests: Demokratie-, Konflikt- und Volksgruppenforschung. Democracy, conflicts, ethnic groups.
Auswahlbibliographie / Selected Publications: Fundamental Rights of Ethnic Groups in Europe/ Droits Fondamentaux des Groupes Ethniques Européens/ Diritti Fondamentali dei Gruppi Etnici in Europa/ Az Európai Népcsoportok Alapvetö Jogai, (zusammen mit Felix Ermacora et alii) 1993; Quellensammlung zum Entwurf einer Charta der Volksgruppenrechte/ Collection of Sources to the Draft of a Charter of Rights for Ethnic Groups, 1994; Volksgruppenschutz in Europa/ Protection of Ethnic Groups in Europe/ Protection des Groupes Ethniques en Europe/ Tutela dei Gruppi Etnici in Europa, (zusammen mit Felix Ermacora et alii) 1995; Die Volksgruppen in Europa. Ein Handbuch, (zusammen mit Beate Sibylle Pfeil), 2000; Minderheitenrechte in Europa. Handbuch der europäischen Volksgruppen, (zusammen mit Beate Sibylle Pfeil), 2002; National Minorities in Europe. Handbook, (zusammen mit Beate Sibylle Pfeil) 2003; Le minoranze in Europa. Manuale, (zusammen mit Beate Sibylle Pfeil) 2003. Zahlreiche Beiträge.
Kontaktadresse / Contact address: Univ.-Prof. Dr. Christoph Pan Südtiroler Volksgruppen-Institut Laubengasse 9 I-39100 Bozen Tel. +39-0471-978 703 Fax. +39-0471-980 427 E-Mail: [email protected]
Internet: www.svi-bz.org * * *
Die Autoren / The Authors
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Dr. iur. Beate Sibylle Pfeil Persönliche Angaben / Personal Data: Beate Sibylle Pfeil (geb. 1967 in Stuttgart): Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Heidelberg, 1993 Erstes Juristisches Staatsexamen. Während des Referendariats Wahlstation beim FUEV-Präsidenten Univ.-Prof. Dr. Christoph Pan in Bozen. 1995 Zweites Juristisches Staatsexamen in Freiburg i.Br. 2001/2002 Doktoratsstudium und Promotion bei Univ.-Prof. Dr. Peter Pernthaler an der Universität Innsbruck. 1995/1996 anwaltliche Tätigkeit im Landgerichtsbezirk Freiburg i.Br. Ab 1996 Mitarbeiterin des Südtiroler Volksgruppen-Instituts in Bozen, seit 1999 als stellvertretende Institutsleiterin. Seit 2002 Mitredakteurin der in Wien erscheinenden Fachzeitschrift für Minderheitenfragen Europa Ethnica. Publikationen zum Thema Minderheitenschutz / Minderheitenrechte, Minderheitensprachen, Recht auf die Heimat. Vorträge in Deutschland, Italien, Polen, der Slowakei und Ungarn. Beate Sibylle Pfeil (born 1967 in Stuttgart): studies in law at the University of Heidelberg, 1993 graduation. As junior lawyer worked for FUEV president professor Christoph Pan in Bozen. 1995 second state examination in Law. 2001-2002 studies and doctorate at the University of Innsbruck. 1995-1996 lawyer at the Landgerichtsbezirk in Freiburg i.B. Since 1996 has worked at the South Tyrol Institute of Ethnic Groups in Bozen, since 1999 as representative Head of the Institute. Since 2002 co redaction of Europa Ethnica Magazine in Vienna. Publications in minority protection law, minority languages, right to patria. Lecture activity in Germany, Italy, Poland, Slovakia and Hungary.
Forschungsschwerpunkte / Research interests: Volksgruppenforschung mit v.a. staats- und völkerrechtlicher Ausrichtung. Ethnic groups, constitutional law, public international law.
Auswahlbibliographie / Selected Publications: Die Volksgruppen in Europa. Ein Handbuch, (zusammen mit Christoph Pan) 2000; Minderheitenrechte in Europa. Handbuch der europäischen Volksgruppen, Band 2, (zusammen mit Christoph Pan) 2002; National Minorities in Europe. Handbook, (zusammen mit Christoph Pan) 2003; Le minoranze in Europa. Manuale, (zusammen mit Christoph Pan) 2003. Zahlreiche Beiträge.
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Die Autoren / The Authors
Richter a. D. Dr. Dieter Radau Persönliche Angaben / Personal Data: Dieter Radau. (geb. 1934 in Kolberg), Studium der Staats- und Rechtswissenschaften in Göttingen und Kiel, Promotion 1964, Thema der Dissertation: „Das Bundesverfassungsgericht – Träger einer besonderen verfassungsrechtsprechenden Gewalt im Bunde“. Mitglied des Präsidium des Bundes der Vertriebenen mit den Aufgabenbereichen „Völkerrechts-, Europarechts- und Eigentumsfragen“. Dieter Radau (born 1934 in Kolberg). Studied law and political sciences in Göttingen and Kiel, 1964 doctorate. Subject: “Das Bundesverfassungsgericht – Träger einer besonderen verfassungsrechtsprechenden Gewalt im Bunde“. Member of the Expellee’s Union with tasks in public international law, European law and property law.
Auswahlbibliographie / Selected Publications: Moskau Bonn Warschau – Zehn Thesen zur Neuen Ostpolitik; Einheit Recht Freiheit – Deutschlands europäischer Weg; Das Recht auf die Heimat hilft Brücken bauen.
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Prof. Dr. Dr. h. c. Anton Rauscher Persönliche Angaben / Personal Data: Anton Rauscher (geb. 1928 in München): Studium der Philosophie, der Theologie und der Christlichen Gesellschaftslehre in Rom 1948-1956. Promotion in Theologie 1956. Eintritt in die Gesellschaft Jesu 1956. 1957-1960 Aufenthalt in Japan, Dozent für Sozialtechnik an der Sophia-Universität in Tokio. 1960-1964 Studium der Wirtschaftswissenschaften in Münster. 1968 Habilitation für das Fach Christliche Sozialwissenschaften. Von 1971 bis zur Emeritierung 1996 Inhaber des Lehrstuhls für Christliche Gesellschaftslehre an der Universität Augsburg. 1999 Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Katholische Universität Lublin (Polen).Seit 1963 Direktor der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle Mönchengladbach. Seit 1998 Gastprofessor an der Sogang Universität in Seoul (Korea). Berater der Kommission VI der Deutschen Bischofskonferenz und Initiator wissenschaftlicher Tagungen in Deutschland und in anderen europäischen Staaten, sowie in den USA und in Südkorea. Anton Rauscher (born 1928 in Munich): studied philosophy, theology and Christian social doctrine in Rom 1948-1956. Doctorate 1956 in theology. 1956 entry into the Society of Jesus. 1957-1960 stay in Japan, lecturer in the social ethics at the SophiaUniversity in Tokyo. 1960-1964 studied economics in Münster. 1968 postdoctoral qualification in the Christian social science. 1971-1996 head of chair of Christian social doctrine at the University in Augsburg. 1996 retirement. 1999 conferment of honorary
Die Autoren / The Authors
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doctor title by the Catholic University in Lublin (Poland). Since 1963 director of the Central of Catholic Social Science in Mönchengladbach. Since 1998 guest professor at the Sogang University in Seoul (Korea). Advisory activity at the 6th Commission of the German Episcopal Conference and initiator of scientist conferences in Germany and in other European states as well as in the USA and South Korea.
Auswahlbibliographie / Selected Publications: Subsidiaritätsprinzip und berufsständische Ordnung in „Quadragesimo anno“, 1958 (Dissertation); Die soziale Rechtsidee und die Überwindung des wirtschaftsliberalen Denkens. Herrmann Roesler und sein Beitrag zum Verständnis von Wirtschaft und Gesellschaft, 1968 (Habilitation); Die Eigenart der kirchlichen Dienstes. Zur Entscheidung der katholischen Kirche für den „dritten Weg“, 1983; Kirche in der Welt (mit ausführlicher Bibliographie), Bd. 1 und Bd. 2:1988, Bd.3: 1998; (Hrsg.)Wider den Rassismus. Entwurf einer nicht erschienenen Enzyklika (1938). Texte aus dem Nachlass von Gustav Gundlach SJ, 2001.
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Dr. Thilo Rensmann, LL.M. Persönliche Angaben / Personal Data: Thilo Rensmann (geb. 1963), Studium der Rechtswissenschaft an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Fulbright-Stipendiat an der University of Virginia in Charlottesville (USA), wissenschaftlicher Assistent am Institut für Öffentliches Recht der Universität Bonn, Leiter des von der Volkswagenstiftung geförderten Forschungsprojekts „Die Verfassung der internationalen Gemeinschaft als Wertordnung“. Thilo Rensmann (born 1963), studied law at the Rheinische Friedrich-WilhelmsUniversity Bonn, Fulbright-Scholar at the University of Virginia in Charlottesville (USA), Research Fellow at the Institute of Public Law at the University of Bonn, Head of the research project “The Constitution of the International Community as an Order of Values” sponsored by the Volkswagenstiftung.
Auswahlbibliographie / Selected Publications: Anationale Schiedssprüche (Duncker & Humblot, 1996); Internationale Organisationen im Privatrechtsverkehr, Archiv des Völkerrechts 3 (1998), S. 305 ff.; Reformdruck und Vertrauensschutz, Juristenzeitung 1999, S. 168 ff.; Internationale Verbrechen und Befreiung von staatlicher Gerichtsbarkeit, IPRax 1999, S. 268 ff.; Vom Staatsbürger zum Unionsbürger in Uniform, Neue Zeitschrift für Wehrrecht 2002, S. 111 ff.; Procedural Fairness in a Militant Democracy, German Law Journal 4 (2003).
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Die Autoren / The Authors
Kontaktadresse / Contact address: Institut für Öffentliches Recht – Abteilung Verwaltungsrecht Adenauerallee 24-44 53113 Bonn [email protected]
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Privatdozent Dr. Thomas Schmitz Persönliche Angaben / Personal Data: Thomas Schmitz, Jahrgang 1960, vertritt in Forschung und Lehre die Fachgebiete Öffentliches Recht und Rechtsvergleichung. Er ist zur Zeit tätig an der Universität Göttingen, wo er sich 2001 habilitierte. Ein besonderer Interessenschwerpunkt liegt in der akademischen Lehre (seit 2001 internetgestützt) und in der Vermittlung neuerer Entwicklungen und Forschungsergebnisse an Studierende und interessierte Fachöffentlichkeit über das Internet (siehe www.jura.uni-goettingen.de/schmitz). Thomas Schmitz (born 1960) represents public and comparative law in research and science. He works at the University Göttingen, where he 2001 acquired his postdoctoral qualification. The specially interests in academic science (since 2001 internet supported) and in imparting of new development and researching results for students and other interested people in internet (www.jura.uni-goettingen.de/schmitz).
Forschungsschwerpunkte / Research interests: Forschungsschwerpunkte: Grundlagen der europäischen Integration (insbes. europäische Verfassungstheorie), Europarecht, Allgemeine Staatslehre, Staatsrecht, Verwaltungsrecht und Rechtsvergleichung im Öffentlichen Recht.
Auswahlbibliographie / Selected Publications: Dissertation zum Thema „Rechtsstaat und Grundrechtsschutz im französischen Polizeirecht“ (1989); die Habilitationsschrift „Integration in der Supranationalen Union. Das europäische Organisationsmodell einer Prozeßhaften geo-regionalen Integration und seine rechtlichen und staatstheoretischen Implikationen“ (2001); Beiträge zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union (u. a. JZ 2001, 833), zum europäischen Volk und seiner Rolle bei der Verfassunggebung in der Europäischen Union (EuR 2003, 217; RDP 2003, 1709) und zur Normenkontrolle in den baltischen Staaten (ZSE 2003, 255).
Die Autoren / The Authors
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Kontaktadresse / Contact address: Juristische Fakultät der Georg-Augustin-Universität Göttingen, Platz der Göttinger Sieben 6, 37073 Göttingen, E-mail [email protected]
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Oxana Vitvitskaya Persönliche Angaben / Personal Data: Oxana Vitvitskaya, (geb. 1974) in Rostov am Don, Rußland; 1991- 1996 Studium der Rechtswissenschaften an der Rostower Staatlichen Universität, Schwerpunkt: Völkerrecht; 02.98 – 06.98 European Union EDRUS 9409 Projekt; 09.01 – 12.01: Rostower Staatliche Universität – Einkaufsmanagement für Erzeugnisse des Staatsbedarfs; 02.02 – 04.03 Sprachstudium: Schule für EDV und berufliche Bildung VHS Hanau, Karl Duisberg Center, Mannheim, Philipps Universität Marburg (DSH); ab 05.02 Doktorandin an der Philipps Universität Marburg, Schwerpunkte: Europarecht, Beziehungen EURußland; seit 06.1996 Beamtin – Administration des Rostower Gebiets, Außenwirtschaftsabteilung; Fachschwerpunkte: Vorbereitung der Seminaren mit den internationalen Organisationen auf dem Territorium des Rostover Gebiets, Vertragsrecht, Verfassungsrecht, Staatsrecht, Investitionsrecht, Ausarbeitung der Projekte der Gebietsgesetze; Rechtsberatung in Fragen des Völker- und Zivilrechts, Vertragsrechts. Rechtsbegutachtung der Gründungsdokumente der joint ventures. Begutachtung von den Export-Import Verträgen, Vertretung in allen Rechtsangelegenheiten. Oxana Vitvitskaya, (born 1974) in Rostov am Don, Russia; 1991 – 1996 studies at the Rostov State University (law faculty); 02.98 – 06.98 European Union EDRUS Project Strengthening Public Administration, Southwest Russian Federation; 09.01 – 12.01 Rostov State University Project course on Management of the State Purchase; 02.02 – 04.03 studying of German: School for EDV and professional Education, VHS Hanau, Karl Duisberg Center, Mannheim, Philipps Universität Marburg (DSH);since 05.2002 studying for the doctor degree, Philipps Universität Marburg; professional specialization: European law, contacts EU – Russia; since 06.96 official - Rostov Regional Administration, Foreign Economic Department, professional specialization: preparation of the seminars with the international organizations in the Region Rostov, coordination of the activity of the international organizations, contract law, constitutional law, state law, law of investments, elaboration of the regional law on the economical, international and external economic relations; Expertise in the international and civil law, Contract law, expertise of the documents for joint ventures. Representation in the law questions.
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Die Autoren / The Authors
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Dr. Monica Vlad Persönliche Angaben / Personal Data: Monica Vlad (geb. 1967): Studium der Rechtswissenschaft an der Universität „Babes-Bolyai“ in Cluj (Klausenburg)/Rumänien (1985-1989); 1991-2003 Assistentin für Strafrecht und Umweltschutzrecht an der Universität Sibiu (Hermannstadt)/Rumänien; seit 1995 Assistenzprofessorin für Völkerrecht; 1995-1998: verschiedene Forschungsaufenthalte am Institut für Föderalismus in Fribourg/Schweiz als Stipendiatin des Fürstentums Lichtenstein; 1998: Habilitation für Verfassungsrecht an der Universität Cluj (Klausenburg)/Rumänien; 1998-1999 Fulbright Scholar bei der American University, Washington, DC (LL.M. in International Legal Studies); 1999-2001: Senior Legal Spezialist für die Balkanländer bei der Library of Congress. Forschung in der Umsetzung von aquis communautaire in das rumänische Rechtssystem (2004), Gastprofessorin in Marburg (Sommerakademie): Rechte der ethnischen und sprachlichen Minderheiten in Mitgliedstaaten des Europarats, 2003. Monica Vlad (born 1967) studied law at the Babes-Bolyai University in Cluj/Klausenburg (1985-1989; 1991-2003 Assistant for Criminal and Environmental Law at the University of Sibiu/Hermannstadt; since 1995 Assistant Professor for International Law; 1995/1998 various research trips at the Institute of Federalism in Fribourg as recipient of a scholarship from the Grand Duchy Lichtenstein; 1998 postdoctoral qualification in Constitutional Law at the American University, Washington, D.C. (LL.M. in International Legal Studies); 1999/2001 Senior Legal Specialist for the Balkan states at the Library of Congress. Research activities on the Chapters of the Acquis Communautaire involving Romanian Legislation, The European Commission’s Delegation in Bucharest (2004); Visiting Professor, University of Marburg Summer School: Legal Rights of Ethnic and Linguistic Minorities in the Countries of the Council of Europe (July-August 2003).
Forschungsschwerpunkte / Research interests: Minderheitenschutz in Europa, die Europäische Verfassung, Europarecht. Minority Law in Europe, The European Constitution, European Integration Law, Law of Indigenous Peoples.
Auswahlbibliographie / Selected Publications: Der Ombudsman im vergleichenden Verfassungsrecht (Dissertation 19998), 2000; Herausgabe des Sammelwerkes „Rumänien und das Völkerrecht“, 1999; Religious Freedom in Romania. A Geo-political Perspective, in: Menschenrechte und Bürgerrechte in einer vielgestaltigen Welt. Wissenschaftliche Begegnung einiger Freunde von
Die Autoren / The Authors
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Thomas Fleiner zur Ehren seines 60. Geburtstags, hrsg. Von P. Häberle und J.P. Müller, 2000; Verfassungsentwicklung und Stellung der Minderheiten in Rumänien (Reihe “Forschungsarbeiten“, Institut für Föderalismus, Fribourg/Schweiz, Nr. 27), 2002.
Kontaktadresse / Contact address: Dr. Monika Vlad Associate Professor for Public International Law, Constitutional Law The Romanian-German University of Sibiu, Romania Str. LUNGA BL: 101, SCARA B APT. 37 550701 Sibiu, Romania
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János Wolfart János Wolfart, Gesandter a.D., Beauftragter des Ministers – Ministerium für Nationales Kulturerbe, Collegium Hungaricum Berlin.
Kontaktadresse / Contact address: H-1077 Budapest Wesselényi u. 20-22 Tel. / Fax (36-1) 413-2576 E-Mail: [email protected]
Personenregister / List of Names Abraham 22
Maier, Hans 26
Adenauer, Konrad 19
Mohl, Robert von 156
Albert der Große 26 Anselm von Canterbury 26
Pan, Christoph 179, 195
Aristoteles 20
Paulus, Apostel 23
Augustus, Kaiser 21
Petrus, Apostel 25 Pius XII. 26
Beneš, Edvard 186 f.
Plato 20
Berthu, Charles (MdEP) 29
Posselt, Bernd 179
Böckenförde, Ernst-Wolfgang 67 Bonifatius 25
Raczynski, Edward 161
Bourlanges (MdEP) 29 Bürgle, Horst 21
Schmid, Carlo 100, 104, 124 Schmitt, Carl 50
Forsthoff, Ernst 50
Schuman, Robert 19 Smend, Rudolf 53 f.
Gasperi, Alcide de 19
Stalin, Josef 202, 276
Gaulle, Charles de 19 Giscard d’Estaing, Valerie 39 f.
Teufel, Erwin 44 Thomas von Aquin 24, 26
Heller, Hermann 197 ff.
Thürer, Daniel 35 f.
Herzog, Roman 58, 75, 79, 83 Fn. 36 Hitler, Adolf 202 f.
Voggenhuber, Johannes (MdEP) 29
Kalinin, Michail 271
Windhorst, Ludwig 23
Karl der Große 25 Kohl, Helmut 172 Kwasniewski, Aleksander 227 Kühnhart, L. 22
Zayas, Alfred de 164
Sachregister/ Index abendländische Kultur 22 Adaption (Adoption) 140f., 146 ff. aktive Förderung der Grundwerte 62 ff. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 59, 88, 117 „Anerkannte Deutsche“ 208 Änderungsprotokoll zur ESC 1991 105
Charta der deutschen Heimatvertriebenen vom 5.8.1950 159 Christentum 21 ff., 44, 83, 86 f. christliche Kultur 25 christlicher Glaube 25 f., 86 christliches Menschenbild 21 ff., 61 Conseil Constitutionnel 60
Arbeitnehmerfreizügigkeit 95, 245 Arbeitsvermittlung 91 Atlantik Charta 161 Aufklärung 83 Ausbürgerung 173, 175, 207 Ausweisung 171, 207 f., 211, 215, 217, 220 Ausweisungsverbote 89, 162, 164 Autochthone 208, 231 Autonomie 85, 265, 276
Beitrittsfähigkeit 66 ff., 238 Beitrittsverfahren 66 Beneš-Dekrete 66, 94, 169 ff.,183 ff., 241 Berichtssystem der ESC 112 ff. Berliner Erklärung von 5.6.1945 212, 216, 218 Besatzungsrecht 212 f., 215, 221 – Haager Landkriegsordnung (HLKO) 165, 213 – IV. Genfer Konvention 213 Bundesstaatlichkeit 80 Bürgerrechte 86, 89, 96, 262
Demokratie 26, 41, 53, 56 f., 62, 66, 68 f., 80, 82 ff., 96, 99, 137, 176, 261, 266 deutsche Minderheit – in Böhmen, Mähren und Schlesien 183 – in Tschechien 178 f., 183 f., 187 f., 193, 195 deutsche Volksliste 203, 206 f., 215 diplomatisches Schutzrecht 224 f. Diskriminierung 94 f., 165, 175, 177, 180, 186, 191f., 203, 215, 240 Diskriminierungsverbot 186 f., 223, 240, 242, 244 Dominikaner 25
EAG 42 Ehe und Familie 89 Eigentum 161 ff., 173 f., 184, 187 ff., 209 f., 214, 225 ff. Eigentumsrestitution 175 Einheitsstaatlichkeit 80 Einschränkungsvorbehalte ESC 126, 131 ff. Einwendungsverzicht 221 f., 248
308
Sachregister / Index
Enteignung – der Deutschen 171, 183, 186 ff., 201 ff., 224, 230, 240 – entschädigungslose 165, 188, 215, 217, 228 – der Ungarndeutschen 189, 252 Entschädigung der Ungarndeutschen 251 ff. Entschädigungsgesetz, zweites ungarisches 253, 255 ethnische Identität 186 f., 195 Europäische Gemeinschaft (EG) 32, 36, 40, 42, 46 f., 53, 66, 84, 180, 240 ff. europäische Identität 83, 85, 258 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) 58, 63, 73 f., 84, 93, 112, 162 ff., 178, 187 Europäische Sozialcharta 84, 99 ff., 112 ff., 139 f., 144 ff. Europäische Union (EU) – Erweiterung 54, 68, 338, 260, 267, 272 f., 283, 285, 287 f. – Rechtspersönlichkeit 40, 44 – Rechtsquellensystem 36, 41, 48 – Verfassung 5 f., 29 ff., 61, 87, 155 – Verfassunggebung 33, 51, 54 f. – Zuständigkeiten 41 f., 45 f., 52 Europäische Wertegemeinschaft 5 f., 31, 33, 49, 51 ff., 73, 80, 99 ff., 183, 257, 264 Europäische Wirtschaftsgemeinschaft 33 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte 63 ff., 178, 263 Europäischer Konvent 38, 50, 55 f., 63, 67 f., 75 f. 84, 95 Europäischer Rat in Laeken 37 f., 45, 55, 76 Europäisches Komitee der sozialen Rechte (EKSR) 112 f., 115, 130, 152 Europarat 106, 114 Europaratssatzung 99 ff., 106 f.
Europazugehörigkeit 257 f. Expropriation 175
Familienrecht 264 Flexibilitätsklausel 46 f. föderale Struktur Russlands 275 ff. Franziskaner 25 Freie Stadt Danzig 203 ff., 212, 215, 231 ff., 245, 247 Freie Wirtschaftszone 279 ff. Freiheitsrechte 23, 63, 88 ff., 104, 126, 135 f., 145 Freizügigkeit 162, 239, 243 ff. Fremdenrecht 215, 223 Frieden von Riga 1921 202
geistig-religiöses Erbe 86 f., 100, 102, 105 f. geistig-sittliche Werte 99 f., 107 Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) 32, 40, 44, 89 Genozid 174 Gerechtigkeit 21, 26, 44, 61, 84, 101, 229 Gesundheitsschutz 277, 244 Gesundheitsvorsorge 91 Gewährleistungsgehalt sozialer Grundrechte 124 ff., 128 f., 131, 134 Gewaltenteilung 35, 155, 262 Gleichheitsrechte 88, 117, 142 Globalisierung 102 ff. Gottesbezug 6, 44, 86 Gottesfriedensbewegung 26 Grenzverkehr Litauen-Kaliningrad 272 Grundrechte-Charta 73 ff., 154, 165, 187, 192 Grundrechte-Konvent 76, 80, 86, 89, 91
Sachregister / Index Grundrechtskatalog 35, 40, 73 ff., 77, 80, 82, 85, 89, 91 ff., 108, 142 Grundrechtsverbürgungen 34, 116 f., 120, 123, 137 f., 145, 148 f., 154 Grundwerte- und Homogenitätsklausel 65, 69, 82 f. Grundwertekanon 58, 85, 91, 96, 102
Kommunikationsgrundrechte 94 Kompetenzordnung 45 Konfiskationen 165, 177, 208, 214 f., 222, 241, 244 Kontrollsystem der ESC 112 ff. Korruption 259, 262
Haftung, völkerrechtliche 171, 211, 224
Laeken, Erklärung von 37, 76
Holocaust 174, 251
Litauen 60, 272 f., 280, 285 ff. Lückenschließungsklausel, Art. 308 EGV 46
Homogenitätsprinzip 57, 66 ff., 82 Hortobágy 251
Imago-Dei-Lehre 23 Individualrechte siehe subjektivöffentliche Individualrechte Informationsrecht 193 Integration von Menschen mit Behinderung 88 Integrationsgemeinschaft der Bürger 35, 46, 74 Integrationsprozeß 19, 43, 51, 265, 267
Jean-Monnet Methode 36 Jesuiten 25 justizielle Rechte 86, 96
309
Landfriedensbewegung 26
Mehrheitsentscheidung 47 Menschenrechte 44, 56 ff., 63, 66, 82, 84, 86, 105, 123, 138, 162 ff., 178, 213, 238, 252, 262, 266 Menschenrechtskonferenz 1993 105 Menschenrechtssystem des Europarates 60 Menschenwürde 23, 44, 51, 56 ff., 80, 82, 86, 88, 92 f., 96 f., 101, 163f., 214, 267 Menschenrechtsausschuß der Vereinten Nationen 175, 177, 241 Minderheit, polnische 192 f. Minderheitenschutz 44, 68, 184, 190, 227 Minderheitensprache 191
Kaliningrader Gebiet, Organe 277 Kirche 21 ff., 25 f., 44, 86 f. Klonen – von Embryonen 88 – von Menschen 87 f., 92 Koalitionsfreiheit 125, 132, 142 Kollektivausweisung 94, 164, 168, Kollektivbeschwerde 113, 139 kommunale Selbstverwaltung 254, 277
Mißbrauchsverbot 133 Muttersprache, Gebrauch der 191 f.
Niederlassungsrecht 246, 248 Nizza, Regierungskonferenz 32, 35, 37, 47 Notstandklausel ESC 131
310
Sachregister / Index
Oder-Neiße-Gebiete 203 ff., 208, 212,
Reparationen 161, 219 f.
Organhandel 88
Reprivatisierung 223, 227 ff., 239 f. Restitutionsgesetz 175, 177, 186 f., 241
Osterweiterung 66, 95, 176, 183, 284
Restitutionsklage 234
Ostpreußen 203, 208, 271, 285
Retribution 172
215, 219 ff, 234, 245, 247 f. Optionssystem der ESC 118, 120, 122
pax romana 21 Pluralismus 56 Pluralismustheorie 65 Potsdamer Abkommen vom 2.8.1945 170f., 204, 212, 216 f., 220, 247 Präsidentschaft der EU 30, 40, 47 Privatisierung 210, 242, 248 Privatschulfreiheit 94
Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten 185, 187 f., 195 Recht auf Arbeit 117, 127, 137, 148 Recht auf Chancengleichheit 138 Recht auf die Heimat 94 f., 159 ff. Recht auf ein gerechtes Entgelt 117, 129 ff., 143 Recht auf Fürsorge 89, 117, 153 Recht auf gute Verwaltung 89 Recht auf soziale Sicherheit 117, 142, 148 Recht auf unentgeltlichen Pflichtschulunterricht 89 Recht auf Wohnung 128, 162 Rechte älterer Menschen 87 f. Rechte behinderter Menschen 117 Rechte der Unionsbürger siehe Unionsbürger
Roma 260 Rückgabe von Eigentum im Restitutionsgesetz 186 f. Rückkehr von Vertriebenen 94, 97, 160 ff., 227, 234, 243 Rückwirkung der Beneš-Dekrete 194 f. Rumänien – Gesundheitswesen 260 f. – Strafgesetzbuch 265 f. – Umweltschutz 264 rumänische Notstandsverordnungen 263
Sanktionen gegen die österreichische Regierung 70 Sanktionsverfahren 69 f. Satzung des Europarates vom 5.5.1949 99, 102 Schengen-Abkommen 285 ff. Schrankenregelungen der ESC 125, 129, 131 ff. Schutz von Minderheiten siehe Minderheitenschutz self-executing Normen 141 ff. Sklaverei 89, 265 Smends Integrationslehre 53 Solidarität 54, 56, 61, 82, 84 ff., 92, 95 f., 101, 164 soziale Dienste 91
Rechte des Kindes 88 f., 92, 95, 153
soziale Gerechtigkeit 61 ff., 101, 229 soziale Grundrechte 84, 88, 91, 95, 99, 104 f.
Rehabilitierung 206, 251 ff.
soziale Rechtsgrundsätze 100 ff.
Religionsfreiheit 23, 87, 94, 162
Sachregister / Index soziales Urgrundrecht – –
auf Arbeit 117, 127, 142 auf soziale Sicherheit 117, 127, 142
Sozialmodelle 102 Sozialstaatlichkeit 80, 83 ff., 96 Spätaussiedler 209, 232
311
ungarisches Gesetz „über die Rechte der nationalen und ethnischen Minderheiten“ 159 Ungarndeutsche 251 ff. Unionsbürger 41, 53 f., 88 f., 94, 162, 166, 177, 242, 246 f. Unionsgrundrechte 62 f.
Staatenpflichten –
Leistungspflichten 126 ff.
–
Schutzpflichten 63, 123, 125 ff.
–
Unterlassungspflichten 124 ff.
Straffreiheitsgesetz 178 f. Strategische Partnerschaft 272 ff. Subjekte der Russischen Föderation 275 ff. subjektiv-öffentliche Individualrechte 115 f., 138 ff., 148 ff. Subsidiaritätsprinzip 46, 80, 265 Sudetendeutsche 169, 171 ff., 188, 241
Verbraucherschutz 91 f. Verbrechen gegen die Menschlichkeit 167, 173 f., 178, 213 f. Vereinigungsfreiheit 117, 162, 164 Verfassung der Russischen Föderation 274 ff. Verfassungsentwurf 30, 50 f., 55 ff., 62, 64, 66, 68 f. Verfassungsreform, rumänische 261 Verfassungsvertrag 41 ff., 50 ff., 64, 77, 79 f., 85 f., 95, 163 Vermögen, jüdisches 233 ff. Versailler Beschlüsse 1919 273
Terroristen 26 Todesstrafe 88 f., 205, 265
verstärkte Zusammenarbeit 43 Vertrag von Amsterdam 37, 66, 69, 83, 87, 162
Toleranz 56, 84, 195, 254
Vertrag von Maastricht 93, 37
Transformation 140 f., 148 f., 152
Verstaatlichung 240, 282 Vertreibung 164, 166 f., 171 ff., 183, 189, 210 ff., 223, 238 f., 242 f., 254
Tierschutz 92
Transit 273 ff., 285 ff. Transitdokument 286 Transparenz 38, 41, 48, 75 f. Tschechien 167, 171, 176, 179 f., 193 ff., 217, 238, 241, 248 Tschechische Republik siehe Tschechien
Vertreibungsverbot 164, 212 f. Visumspflicht 286 Volksdeutsche 202 f., 206 ff. Vollzugsfähigkeit der sozialen Grundrechte 124, 142, 144
Tschechoslowakei 169 ff., 216 Türkei, Beitrittsverhandlungen 33
Überleitungsvertrag 221, 248 Umsiedlungsvertrag 217 Umweltschutz 92, 264, 277, 287
Werte der Union 50, 55 ff., 66 ff., 96 Wertegemeinschaft siehe Europäische Wertegemeinschaft Wertegrundlage 81 Wertekanon siehe Grundwertekanon
312
Sachregister / Index
Werteunion 54
Zerfall der UdSSR 271 ff., 280
wiedergewonnene Gebiete 204, 231 Wiedergutmachung 94, 97, 161, 164, 174, 198, 226, 237, 242 ff., 252 Wiedergutmachungsanspruch 211 f., 220, 223, 242 Wiener Vertragskonvention 118, 164, 278
Ziele der Union 41, 55 f. Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen den Unionsbürgern 53 Zusatzprotokolle zur ESC 1988, 1995 105, 114 Zwangsarbeit 88 f., 196, 205, 213, 219, 266
Wohlfahrtsstaat 101 Würde des Menschen siehe Menschenwürde
Staats- und völkerrechtlichen Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht Die Staats- und völkerrechtlichen Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht sind bis einschließlich Band 19 im Verlag Wissenschaft und Politik, Köln, erschienen. Mit dem Band 20 ist die Reihe in den Verlag Duncker & Humblot, Berlin, überführt worden. Band 22: Die Europäische Union als Wertegemeinschaft. Hrsg. von Dieter Blumenwitz, Gilbert H. Gornig und Dietrich Murswiek. 2005. Band 21: Minderheitenschutz und Menschenrechte. Aktuelle Probleme insbesondere im deutsch-polnischen Verhältnis. Hrsg. von Dieter Blumenwitz, Gilbert H. Gornig und Dietrich Murswiek. 2005. Band 20: Minderheitenschutz und Demokratie. Hrsg. von Dieter Blumenwitz, Gilbert H. Gornig und Dietrich Murswiek. 2004. Band 19: Ein Jahrhundert Minderheiten- und Volksgruppenschutz. Hrsg. von Dieter Blumenwitz, Gilbert H. Gornig und Dietrich Murswiek. 2001. Band 18: Fortschritte im Beitrittsprozeß der Staaten Ostmittel-, Ost- und Südosteuropas zur Europäischen Union. Hrsg. von Dieter Blumenwitz, Gilbert H. Gornig und Dietrich Murswiek. 1999. Band 17: Rechtsanspruch und Rechtswirklichkeit des europäischen Minderheitenschutzes. Hrsg. von Dieter Blumenwitz, Gilbert H. Gornig und Dietrich Murswiek. 1998. Band 16: Der Beitritt der Staaten Ostmitteleuropas zur Europäischen Union und die Rechte der deutschen Volksgruppen und Minderheiten sowie der Vertriebenen. Hrsg. von Dieter Blumenwitz, Gilbert H. Gornig und Dietrich Murswiek. 1997.
Band 15: Der Schutz von Minderheiten- und Volksgruppenrechten durch die Europäische Union. Hrsg. von Dieter Blumenwitz und Gilbert H. Gornig. 1996. Band 14: Rechtliche und politische Perspektiven deutscher Minderheiten und Volksgruppen. Hrsg. von Dieter Blumenwitz und Gilbert H. Gornig. 1995. Band 13: Aktuelle rechtliche und praktische Fragen des Volksgruppen- und Minderheitenschutzrechts. Hrsg. von Dieter Blumenwitz und Dietrich Murswiek. 1994. Band 12: Minderheiten- und Volksgruppenrechte in Theorie und Praxis. Hrsg. von Dieter Blumenwitz und Gilbert Gornig. 1993. Band 11: Fortentwicklung des Minderheitenschutzes und der Volksgruppenrechte in Europa. Hrsg. von Dieter Blumenwitz und Hans von Mangoldt. 1992. Band 10: Neubestätigung und Weiterentwicklung von Menschenrechten und Volksgruppenrechten in Mitteleuropa. Hrsg. von Dieter Blumenwitz und Hans von Mangoldt. 1991. Band 9: Menschenrechtsverpflichtungen und ihre Verwirklichung im Alltag. Auswirkungen für die Deutschen. Hrsg. von Dieter Blumenwitz und Hans von Mangoldt. 1990. Band 8: 40 Jahre Bundesrepublik Deutschland. Verantwortung für Deutschland. Hrsg. von Dieter Blumenwitz und Gottfried Zieger. 1989. Band 7: Die deutsche Frage im Spiegel der Parteien. Hrsg. von Dieter Blumenwitz und Gottfried Zieger. 1989.
Band 6: Das deutsche Volk und seine staatliche Gestalt. Hrsg. von Dieter Blumenwitz und Gottfried Zieger. 1988. Band 5: Menschenrechte und wirtschaftliche Gegenleistungen. Aspekte ihrer völkerrechtlichen Verknüpfungen. Hrsg. von Dieter Blumenwitz und Gottfried Zieger. 1987. Band 4: Die Überwindung der europäischen Teilung und die deutsche Frage. Hrsg. von Dieter Blumenwitz und Boris Meissner. 1986. Band 3: Staatliche und nationale Einheit Deutschlands – ihre Effektivität. Hrsg. von Dieter Blumenwitz und Boris Meissner. 1984. Band 2: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die deutsche Frage. Hrsg. von Dieter Blumenwitz und Boris Meissner. 1984. Band 1: Staatliche Kontinuität unter besonderer Berücksichtigung der Rechtslage Deutschlands. Hrsg. von Boris Meissner und Gottfried Zieger. 1983.
Forschungsergebnisse der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht Die „Forschungsergebnisse der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht“ sind zuletzt im Verlag Wissenschaft und Politik, Köln, erschienen. Zuvor wurden sie vom Verlag Gebr. Mann, Berlin, aufgelegt. Band 32: Dieter Blumenwitz: Positionen der katholischen Kirche zum Schutz von Minderheiten und Volksgruppen in einer internationalen Friedensordnung. 2000. Band 31: Gilbert H. Gornig: Territoriale Entwicklung und Untergang Preußens. 2000. Band 30: Michael Silagi: Vertreibung und Staatsangehörigkeit. 1999. Band 29: Dietrich Murswiek: Das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes und die Grenzen der Verfassungsänderung. Zur Frage nach der Verfassungswidrigkeit der wiedervereinigungsbedingten Grundgesetzänderungen. 1999. Band 28: Wilfried Fiedler: Deportation, Vertreibung, „ethnische Säuberung“. 1999. Band 27: Dieter Blumenwitz: Interessenausgleich zwischen Deutschland und den östlichen Nachbarstaaten. 1998. Band 26: Otto Luchterhandt: Nationale Minderheiten und Loyalität. 1997. Band 25: Dietrich Murswiek: Peaceful change – ein Völkerrechtsprinzip? 1998. Band 24: Dieter Blumenwitz: Internationale Schutzmechanismen zur Durchsetzung von Minderheiten- und Volksgruppenrechten. 1997.
Band 23: Hans Victor Böttcher: Die Freie Stadt Danzig. 1995. Band 22: Gilbert-Hanno Gornig: Das nördliche Ostpreußen gestern und heute. 1995. Band 21: Boris Meissner: Die Sowjetunion und Deutschland von Jalta bis zur Wiedervereinigung. 1995. Band 20: Dieter Blumenwitz: Volksgruppen und Minderheiten. 1995. Band 19: Rainer Hofmann: Minderheitenschutz in Europa. 1995. Band 18: Wolfgang Seiffert: Die Verträge zwischen Deutschland und seinen östlichen Nachbarn. 1994. Band 17: Christian Hillgruber; Matthias Jestaedt: Die europäische Menschenrechtskonvention und der Schutz nationaler Minderheiten. 1993. Band 16: Siegrid Krülle: Die Konfiskation deutschen Vermögens durch Polen. – 1, 1993. Band 15: Dieter Blumenwitz: Minderheiten- und Volksgruppenrecht. 1992. Band 14: Mechthild Steffens; Alexander Uschakow: Die deutsche Frage in der juristischen und politikwissenschaftlichen Literatur des Auslandes seit 1980. 1993. Band 13: Dieter Blumenwitz: Das Offenhalten der Vermögensfrage in den deutschpolnischen Beziehungen. 1992. Band 12: Eckart Klein: Diplomatischer Schutz im Hinblick auf Konfiskationen deutschen Vermögens durch Polen. 1992.
Band 11: Gilbert-Hanno Gornig: Staatennachfolge und die Einigung Deutschlands (Bd. 2). 1992. Band 10: Dieter Blumenwitz: Staatennachfolge und die Einigung Deutschlands (Bd. 1). 1992. Band 9: Dietrich Murswiek: Die Vereinigung Deutschlands. 1992. Band 8: Otto Kimminich: Deutschland und Europa. 1992. Band 7: Wilfried Fiedler: Internationaler Kulturgüterschutz und deutsche Frage. 1991. Band 6: Otto Kimminich: Die Menschenrechte in der Friedensregelung nach dem Zweiten Weltkrieg. 1990. Band 5: Gottfried Zieger: Vier-Mächte-Verantwortung für Deutschland als Ganzes als Grundlage der staatlichen Einheit Deutschlands und Basis seiner Reorganisation. 1990. Band 4: Eckart Klein: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die deutsche Frage. 1990. Band 3: Dieter Blumenwitz: Die Überwindung der deutschen Teilung und die Vier Mächte. 1990. Band 2: Mechthild Steffens: Der Beitritt der DDR zu multilateralen Verträgen und seine Auswirkungen auf die innerdeutschen Beziehungen und den Status Gesamtdeutschlands. 1989.
Band 1: Mechthild Steffens: Die deutsche Frage in der juristischen Literatur des Auslandes seit 1970. 1989.