Die erscheinende Welt: Festschrift für Klaus Held [1 ed.] 9783428508969, 9783428108961

Die Festschrift »Die erscheinende Welt« ist Klaus Held zu seinem 65. Geburtstag gewidmet. Held ist einer der einflußreic

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German Pages 777 Year 2002

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Die erscheinende Welt: Festschrift für Klaus Held [1 ed.]
 9783428508969, 9783428108961

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Festschrift für Klaus Held

Philosophische Schriften Band49

Die erscheinende Welt Festschrift für Klaus Held

Herausgegeben von

Heinrich Hüni und Peter Trawny

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2002 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Satz: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-6053 ISBN 3-428-10896-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@

Vorwort Die erscheinende Welt ist für Klaus Held das Hauptthema der Phänomenologie. Das erstaunliche Erscheinen und das, was damit zur Erscheinung kommt, indem es sich in bestimmte Grenzen schickt, hat ihn von Anfang an bewegt. Diese Orientierung hat sich mit der Zeit noch klarer herausgebildet. Dabei folgt er nicht nur der grundlegenden Phänomenologie Husserls und ihrer hermeneutischen Welterschließung im Denken Heideggers, sondern in ihrem Geiste und mit noch mehr Zuneigung vielleicht der antiken Philosophie. Die Welt als das Offene und Freie für die sich ergebenden Gegenden geschah und geschieht im Übernehmen des entsprechenden Unterscheidens dieser Bereiche. Ein solcher Einsatz und eine solche Haltung sind gefordert. Sie halten sich in der Spannung von Zutrauen und Gefährdung, die im Erscheinen der Welt selbst erfahren wird. Das Voraussein der Natur und der Sprache wie der Auftrag der politischen Lebensgestaltung und schließlich die kritische Selbsterforschung sind Teil dieses endlich-geschichtlichen Weltgeschehens. Dieser Offenheit für die Welt antworten Beiträge aus der weltweit lebendigen Phänomenologie, in denen Freunde, Kollegen und Schüler die Erscheinungen der Welt in den angesprochenen Bereichen und Grenzen erörtern. Als Zeugnis dieser lebendigen Phänomenologie soll die vorliegende Sammlung eine Festschrift zum 65. Geburtstag für den Phänomenotogen Klaus Held sein. Klaus Held, in der Nachfolge des ehemaligen Husserl-Assistenten Ludwig Landgrebe, hat sich die ursprüngliche phänomenologische Freiheit und Wachheit bewahrt, die jeder Frage, jeder Sache und vor allem jedem Mitsuchenden einen Vorschuß geben. Eindrücklich bleibt diese weitgefaßte Sachlichkeit in einer Atmosphäre persönlicher Verbindlichkeit. Hier stärkt sich die Strenge des Gedankens in einem energischen Dialog mit Positionen verschiedenster Herkunft. Wer ihn so als Kollegen oder Lehrer erlebt hat, wird sich dieser Begegnung gerne erinnern.

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Vorwort

Für das Zustandekommen dieses Bandes bedanken wir uns bei der Alexander von Humboldt-Stiftung, beim Deutschen Akademischen Austauschdienst, beim Fachbereich 2 und beim Rektorat der Bergischen Universität Wuppertal sowie bei der Gesellschaft der Freunde der Bergischen Universität. Dank gebührt auch Herrn Prof. Dr. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, der unsere Arbeit beratend unterstützte. Schließlich bedanken wir uns bei Frau Theresia Honig für technische Arbeiten, ohne die ein solches Buch nicht mehr entstünde. Wuppertal, im Juni 2001

Die Herausgeber

Inhaltsverzeichnis I. Natur und Leib Bemhard Waldenfels Leibhaftiges Vergessen und Erinnern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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lohn Sallis Die elementare Erde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Raphael Celis Die Phänomenologie und das Reisen im Weltraum. . . . . ... .. ... .. ....... . 41 Dean Kamel Die Erde als phänomenologisches Thema.............................. . 55 Oliver Cosmus Die Leiblichkeit im Denken Heideggers............................... . 71

II. Ethik und Politik Mario Ruggenini Die Welt der Anderen und das Rätsel des Ichs. Jenseits der Phänomenologie der Intersubjektivität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Peter Trawny Vom Verschwinden des Politischen. Überlegungen zum Verhältnis von Macht und Maß im Ausgang von Aristoteles. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Heinrich Hüni Das Hervortreten des Ethischen bei Aristoteles .......................... 135 Wolfgang Janke Eudämonie und Thanatos. Überlegungen zum Menoikeus-Brief des Epikur . 147 Georg Siegmann Selbstverwirklichung als Lebenslüge. Überlegungen zum Birnendiebstahl des Augustinus .. .. . . .. . . .. . ... . . .. .. ... . . ... . ...... . . . . .. . . . ....... . 161 Tadashi Ogawa Machiavelli und die Phänomenologie. Zu einer Möglichkeit der politischen Phänomenologie . .. .. .... ... . ....... .. .................. . . ... ..... . .. 185

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Inhaltsverzeichnis

Friederike Kuster "Das kleine Vaterland der Familie". Rousseaus Überlegungen zum Verhältnis von Familie und Staat. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Guillermo Hoyos Vdsquez Die Phänomenologie der Intersubjektivität in der Konvergenz von Ethik und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Anthony J. Steinbock Affektion und Aufmerksamkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Hans Rainer Sepp Zeit und Sorge. Eine Anmerkung zu Heideggers Kritik an Husserl. ........ 275 Kiyoshi Sakai Die Fensterlosigkeit der Monade. Ein Aspekt in der Frage nach dem Anderen 291 Motoaki Nakada Phänomenologie der Fremderfahrung der Anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311

111. Geschichte und Kultur Shigeto Nuki Phenomenology and the Problem of History . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Felix 6 Murchadha Ruine als Werk. Die Grenze des Handeins als Urmoment der Geschichtlichkeit .. . ............... . ..... .. .. . ....... . .................. . .. ..... . 351 Franeo Volpi Das Problem der Aisthesis bei Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Xiping Jin Beispielhaftes Mißverstehen in der Kulturgeschichte Chinas . . . . . . . . . . . . . . 387 Liangkang Ni Husserl-Rezeption in China .. ... ............................... .... ... 391 /smail El Mossadeq Interkulturelle Verständigung im technischen Zeitalter .. ... ........ . . . .... 401 Joachim Hagner/Ulrich Claesges Wozu Philosophie? Ein Versuch . ......... .. .... . ........... . . . . ..... .. 411 Karl Albert Philosophie in Wuppertal ..... .. ..... ......... ... . . . . . . . . . . ... . .... . .. 441

Inhaltsverzeichnis

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IV. Sprache und Dichtung Jean-Franrois Courtine Vom AOfO~ zur Sprache ............................................ 455 Jairo Escobar Moncada Sprache und Sein in Platons Sophistes ... . ..................... . ... . . . . 479 Sun Zhouxing Sage und Weg. Heideggers Sprachdenken in seinem Spätwerk .. .. ... . . .. . 493 Takako Shikaya Kunstwerk als Ort. Heideggers "Ort"-Begriff in bezug auf die "Gegenwärtigkeit" des Kunstwerkes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509 Franroise Dastur Rene Char, Dichter der Nacht und des Blitzes ....... . ...... . ... . ....... . 527

V. Phänomenologie des Bewußtseins Rudolf Bemet Die neue Phänomenologie des Zeitbewusstseins in Husserls Bemauer Manuskripten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539 Friedrich-Wilhelm von Herrmann Die Intentionalität in der hermeneutischen Phänomenologie. . . . . . . . . . . . . . . 557 Toru Tani Zeichen, Gegenwart und Ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573 Viktor Molchanov Die Grenzen der Evidenz und die Evidenz der Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 593 Uiszl6 Tengelyi Erfahrung und Ausdruck bei Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 609 Dann Welton Zur Räumlichkeit des Bewußtseins. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623 Antonio F. Aguirre Das intentionale Geflecht des Bewußtseinslebens. Genesis, Vermöglichkeit, Grenzenlosigkeit. ....... .. . . . .. ........... . .... .. .......... . . . . .... . . 651 Nam-ln Lee Der Begriff der Primordialität in Husserls Fünfter Cartesianischer Meditation ... . ... . . . . . ... . .. . .... .. . . . ...... .......... ...... .... ....... . . . 675 Dan Zahavi Husserl und das Problem des vor-reflexiven Selbstbewußtseins. . . . . . . . . . . . 697

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Inhaltsverzeichnis

Shinji Hamauzu Zur Phänomenologie des Unsichtbaren bei Husserl und Heidegger. . . . . . . . . 725 Ernst Wolfgang Onh Die Pluralität der transzendentalphänomenologischen Reduktion und das Problem des Reduktionismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 737 Dieter Lohmar Die Idee der Reduktion. Husserls Reduktionen - und ihr gemeinsamer, methodischer Sinn ......... ... .. ...... .. . .. ........ ... ..... . ...... . . . ... 751

Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 773

I. Natur und Leib

Leibhaftiges Vergessen und Erinnern Von Bernhard Waldenfels Für die Introduktion zu diesem Thema wähle ich zwei Autoren, die in dieser Hinsicht unerschöpflich sind. Der eine Autor ist Platon. In seiner Lehre von der Wiedererinnerung, der Anamnesis, die er im "Menon", im "Phaidon" und im "Phaidros" entwickelt, begnügt er sich nicht mit der selbstverständlichen Annahme, daß es neben anderen Seelenkräften auch die Kraft der Erinnerung gibt, sondern für ihn gilt: Erkennen ist Wiedererinnerung oder mit anderen Worten: Erkennen ist Wiedererkennen. Aus dieser Annahme erwächst eine eigentümliche Dramatik der Existenz. Diese setzt ein oder richtiger gesagt: sie hat immer schon eingesetzt mit einem Urvergessen. Mythisch gesprochen haben wir aus dem Auß Lethe getrunken, als wir die Schwelle zur leiblichen Existenz überquerten. Die irdische Existenz fällt daher zusammen mit einem Zustand des Vergessens, aus dem wir uns nur mit Mühe befreien. Der Körper, der uns mit der Geburt zuteil wird, umschließt unsere Seele wie eine Austernschale, und den Graden der Verkörperung entsprechen bestimmte Grade des Vergessens. Gleichzeitig ist dieser merkwürdige Leibkörper auch Ort des Gedächtnisses: als mehr oder weniger gefügige Wachstafel, in der Eindrücke ihre Spuren hinterlassen, als Taubenschlag, in dem die Gedankenvögel ihr geeignetes Bezugsobjekt suchen. Die Wiedererinnerung selbst spielt sich in einem affektiven Umfeld ab; Leier und Gewand des Geliebten setzen die Erinnerung in Gang. Für all dies hat die spätere Philosophie präzisere, aber auch simplere Begriffsworte gefunden: es gibt impressions, connections, associations, und es gibt Akte der Erinnerung. Bei Platon sind Vergessen und Erinnern in ein dramatisches Geschehen eingefügt, in dem Geburt und Tod sich mit Aufwachen und Einschlafen zu einem Lebens- und Todes-Rhythmus verbinden. Manches davon klingt an in Husserls ,Selbstvergessenheit', mit der wir uns der natürlichen Einstellung zur Welt überlassen, oder in Heideggers ,Seinsvergessenheit', die uns mit Auge und Hand an das Vor- und Herstellbare bindet. Das Paradox des Vergessens läßt sich wie folgt formulieren: Das Vergessene ist irgendwie da und nicht da, es ist uns vertraut und unvertraut in eins. Der zweite Autor, der uns auf das Thema einstimmen kann, ist Marcel Proust. Seine "Recherche", die der verlorenen Zeit gilt, hebt an mit einem alltäglichen und mehr als alltäglichen Spiel von Schlafen und Wachen. "Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen." Das Aufwachen in der frem-

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den Umgebung eines Hotelzimmers steigert sich zu einer Art von allmorgendlicher Wiederverkörperung. Die leiblichen Glieder, diese gardiens du passe, sorgen dafür, daß wir uns nicht im Schlaf verlieren wie in einem Nirwana. Die Vergangenheit, die in unseren Gliedern wohnt, taucht wieder auf in Form vielfältiger Gewohnheiten, die zugleich als Gedächtnisstützen dienen. Doch zu einer Wiedererinnerung, die über den Schlaf alltäglicher Gewährrungen hinausführt, bedarf es mehr. Es bedarf geringfügiger Phänomene, die vom normalen Gang der Dinge abweichen: das Fort-da-Spiel der Kirchtürme von Martinville, die auftauchen und wieder verschwinden; die kindheitsbeschwörende Kraft der in Tee getunkten Madeleine; der winzige ecart zwischen den fünf Noten der Sonate von Vinteuil; die inegalite der Pflastersteine im Hof des Stadtpalais der Guermantes . . . Im Wiederfinden des Verlorenen liegt wiederum ein Paradox: Man findet wieder, was man nie gehabt hat - "als ob unsere schönsten Ideen Melodien glichen, die uns wieder einfielen, ohne daß wir sie jemals gehört hätten". 1 Drei Motive mögen die folgenden Überlegungen leiten: die Nachträglichkeif unseres Redens und Tuns, die Leiblichkeit als ein Ineinander von Selbstbezug und Selbstentzug und das Wieder-, das zwischen Weckung und Re-sponse angesiedelt ist?

I. Bedeutungsvielfalt des Vergessens Schon die lexikalischen Konnotationen, die in den Ausdrücken der verschiedenen Sprachen auftreten, zeigen, wie vielfältig das Vergessen betrachtet werden kann. Vergessen und forgetting zeigen an, daß etwas unserem ,Griff' entgleitet; emA.avß-aveoß-m besagt, daß etwas ins Verborgene entschwindet; zabyvat' deutet an, daß etwas aus dem Sein (byt') tritt und nicht länger fortdauert; dimenticare erinnert daran, daß uns etwas aus dem ,Sinn' kommt; das japanische wasureru läßt uns geradezu ,das Herz verlieren' (das wir in der recordatio zurückgewinnen); oblivisci, dem das Spanische olvidar verwandt ist, verweist schließlich auf einen Vorgang des , Glättens', in dem sich das Erfahrungsrelief abflacht. In all diesen Varianten der Sprache erscheint das Vergessen als eine besondere Spielart des Verschwindens und Verlierens. Nähern wir uns dem Vergessen von der pragmatisch orientierten Sprechakttheorie her, so stoßen wir auf den merkwürdigen Umstand, daß wir für 1 A la Recherche du Temps perdu. Pleiade. Paris 1954. Bd. III, S. 878, dt.: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Übersetzt von E. Rechel-Mertens. Frankfurt/M. 1953-57. Bd. VII, S. 301. Vgl. dazu meine responsive Proust-Deutung "Die verspätete Antwort". In: Deutsch-Französische Gedankengänge. Frankfurt/M. 1995. 2 Zum allgemeinen Hintergrund der folgenden Überlegungen vgl. Antwortregister. Frankfurt/M. 1994. Kap. III, 5.

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bestimmte, durchaus vorhandene grammatische Formen keine Verwendung haben. Wir können nicht sagen: ,Ich vergesse', ,I am forgetting ', ,estoy olivando', sondern nur: ,Ich habe vergessen' oder: ,Ich fürchte oder hoffe, daß ich es vergessen werde'. Diese grammatische Eigenart, die an andere unmögliche Sätze wie ,Ich schlafe' (dormio) erinnert, weist darauf hin, daß das Vergessen einen Zustand bezeichnet, mit dem wir nicht nach Belieben schalten und walten können. Ferner sind verschiedene Formen des Vergessens zu unterscheiden. Einem Vorvergessen oder primären Vergessen ist all das zuzuschreiben, was wir nie bewußt durchlebt haben, so etwa die eigene Kindheit, die nächtlichen Träume, absonderliche Rausch- und Wahnzustände. Diese primäre Vergessenheit ist unter anderem daran zu erkennen, daß wir das, was wir auf diese Weise erleben, nicht gleichzeitig erläutern und erklären können, wie wir es tun, wenn wir etwas hier und jetzt erleben. Die alte Was-istFrage findet hier noch keinen Anknüpfungspunkt. - Davon zu unterscheiden ist ein normales Vergessen, in dem uns etwas entfällt, was bereits einmal verfügbar war und uns bis zu einem gewissen Grad weiterhin zur Verfügung steht. Die Suche nach einem vergessenen Namen ist niemals völlig hoffnungslos, auch wenn die eigentliche Verdrängung im Sinne Freuds eine Rolle spielt und Vergessen niemals auf triebentbundene Kognitionen reduzierbar ist. - Dieser Zweiheit von Primär- und Sekundärvorgang des Vergessens treten zwei weitere außergewöhnliche Formen an die Seite. Als Urvergessen bezeichne ich den äußersten Grenzfall des Vorvergessens. Er bezieht sich auf den "unreflektierten Untergrund" einer "ursprünglichen Vergangenheit", einer Vergangenheit nämlich, die nie Gegenwart war. 3 Dieses Urvergessen gehört zum Ereignis der Geburt, das sich in Wiedergeburten wiederholt. Es charakterisiert ein Selbst, das sich in der Selbstaffektion selbst vorausgeht. Dabei drängt sich die Frage auf, wie weit dieses Urvergessen sich mit der ,Urverdrängung' im Sinne Freuds berührt; diese Frage lasse ich offen.4 Schließlich bleibt noch eine besondere Form des Übervergessens, das ähnlich zu verstehen ist wie das Über-sehen und Über-hören und das uns mit einem Unvergeßlichen konfrontiert, das dem normalen Vergessen, aber auch der normalen Erinnerung entrückt ist. Davon wird weiter unten ausführlicher die Rede sein. 3 M. Merleau-Ponty: Phenomenologie de Ia perception. Paris 1945, S. 280; dt.: Phänomenologie der Wahrnehmung. Übersetzt von R. Boehm. Berlin 1966, S. 283. 4 Zur "Urverdrängung" bei Freud vgl. J. L. Laplanche, J.-B. Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt/M. 1973, S. 586: "sie bezieht sich nicht auf den Trieb als solchen, sondern auf seine Zeichen, seine ,Repräsentanzen', die nicht zum Bewußtsein gelangen und an die der Trieb fixiert bleibt. So wird ein erster unbewußter Kern gebildet, der als Anziehungspol für zu verdrängende Elemente funktioniert."

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Weitere Aspekte treten hinzu. Das Vergessen spezifiziert sich je nachdem, was jeweils vergessen wird. Dabei handelt es sich keineswegs um bloße Bewußtseinsinhalte, die - man weiß nicht wie - aus der ,Bewußtseinsschachtel' verschwinden, sondern es handelt sich vielmehr um Erfahrungsweisen, denen verschiedene Weisen des Vergessens entsprechen. Raum- und Zeitdaten entschwinden uns auf andere Weise als Namen, Bilder, Szenerien oder Erzählniden, wobei auch der Individuierungsgrad der Erfahrung eine Rolle spielt. Generell wäre zu beachten, daß Vergessen niemals ein rein kognitiver Vorgang ist, sondern daß es stets mit Trieben und Interessen, aber auch mit unserem Können im Bunde steht. Kein Kennen ohne Können, kein ,Ich weiß' ohne ein ,Ich kann', wie Husserl immer wieder hervorhebt. Insofern hat das Vergessen stets auch Züge eines Verlernens, eines Nicht-mehr-Könnens. Das Vergessen radikalisiert sich, wenn es sich selbst vergißt Der Sokratische Satz "Ich weiß, daß ich nichts weiß", in dem das Wissen seine eigenen Grenzen eingesteht, findet seinen Widerhall in dem Satz "Ich weiß, daß ich vergessen habe" - ein Satz der ebenso rätselhaft ist wie der erste, weil er uns an eine Schwelle führt, die im Erinnern überquert, aber nicht aufgehoben wird. Es wäre durchaus angebracht, nicht nur von einem Schwindel der Freiheit, sondern auch von einem Schwindel des Vergessens zu sprechen; denn auch dieses ist bodenlos. II. Kampf gegen das Vergessen Obwohl Erinnern ohne Vergessen nicht zu denken ist, bringt dieses uns in eine gewisse Verlegenheit. Vergessen erscheint schon bei Platon als ein merkwürdiger Unfall (crucrtuxta, Phaidros 248 c), und dieser Unfall gehört zum Geschick der Metaphysik. Nietzsche fungiert hier wie so oft als Seismograph, wenn er in seinen "Unzeitgemäßen Betrachtungen" gegen die Erinnerungsmanie und Überhistorisierung seiner Zeit ein aktives Vergessen zur Hilfe ruft. Doch der Kampf gegen das Vergessen dauert an, und er äußert sich auf verschiedene Weise je nachdem, was man als Grundzug des Erlebens und Verhaltens gelten läßt. Beginnen wir mit der Theorie des intentionalen Verhaltens, wie sie uns aus der Phänomenologie geläufig ist. Im Mittelpunkt steht der gemeinte Sinn. Dieser Grundorientierung setze ich die Behauptung entgegen: Das Vergessene hat Sinn, nicht aber das Vergessen. Das Vergessen ist nämlich kein Akt, der auf etwas abzielt; er läuft jeder Bewußtseins- oder Erfahrungsteleologie zuwider. Würden wir - was kein uninteressanter Gedanke wäre - ein Vergessensstreben annehmen, so käme dieses einem Todestrieb des Bewußtseins gleich. Doch selbst dann wäre das Vergessen, ähnlich wie der Tod, etwas, was uns zustößt. Im Zuge einer allgemeinen Sinnorientierung richtet sich bei Husserl der Kampf gegen das Vergessen, gegen eine

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Sinnentleerung und Sinnverdunkelung, wie sie beispielsweise den Einsichten der Geometrie widerfährt.5 Dieser Kampf wäre hoffnungslos, gäbe es nicht etwas Unvergeßliches. Im radikalen Sinne unvergeßlich ist bei Husserl das, was im Verborgenen schon da ist. Bei Platon fallt darunter die Seele und ihre Verwandtschaft mit den Ideen, für Husserl betrifft dies das Ich, dessen intentionales Leben ein Telos der Vernunft in sich trägt und dieses mit den Anderen gemeinsam verfolgt. Von Platon über Leibniz bis zu Husserl begegnen wir einer Metaphorik von Erwachen und Erweckung, mit denen der Schlaf der Seele, der Monade, der Vernunft unterbrochen wird. Gegen den Rückfall in diesen anfangliehen Schlaf wird die Wachsamkeit von Zweifel oder Kritik aufgeboten. Bei Lichtenberg richtet sich diese Wachsamkeit allerdings auch auf den Zweifel selbst. "Zweifel muß nichts weiter sein als Wachsamkeit, sonst kann er gefährlich werden", heißt es in einem seiner Aphorismen, in denen die Aufklärung ihre eigenen Schatten erkennen läßt. Die Szenerie ändert sich, wenn wir zu einer Theorie des regelgeleiteten Verhaltens übergehen, wie sie uns in der analytischen Philosophie im Gefolge Wittgensteins begegnet. Auch die zentrale Instanz der Regel findet im Vergessen ihren Meister: Das Vergessene untersteht bestimmten Regeln, nicht aber das Vergessen. Das Vergessen ist nämlich kein konventioneller Akt, der korrekt oder inkorrekt ausgeführt und der Nagelprobe der Erfolgsbedingungen unterzogen werden kann. Die Fixierung auf den Regelcharakter des Verhaltens führt dazu, daß der Kampf gegen das Vergessen erlahmt oder in einen regelfernen Untergrund abgedrängt wird. Doch auch hier gibt es etwas Unvergeßliches, nämlich die Geltung der Regel selbst. Schon Aristoteles betont: "Von der Phronesis gibt es kein Vergessen" (Nik. Ethik VI, 5, 1140 b 29 f.). Dies ist ein Gedanke, der von Heidegger und Gadamer auf die Ebene des Gewissens überführt wird.6 In der Tat gilt bis heute vor Gericht der Satz: "Unwissenheit schützt vor Strafe nicht." Wer eine gewisse Stufe der Regelhaftigkeit unterschreitet, wird nicht als vergeBlich, sondern als unzurechnungsfähig angesehen. Das Gesetz überwacht sich auf diese Weise selbst. Das Vergessen nimmt zu, verliert aber gleichzeitig an Gewicht, wenn wir ein Probeverhalten in Betracht ziehen, bei dem es in erster Linie auf geeignete Problemlösungen ankommt. Hier werden Möglichkeiten durchgespielt, und die Auswahl unterliegt pragmatischen Kriterien. Dem Vergessen von Möglichkeiten steht der ausdrückliche Verzicht gegenüber in all den Fällen, wo etwas für die Problemstellung von geringer Bedeutung oder gänzlich 5 Vgl. dazu die Beilage III aus der "Krisis", die zunächst bei Merleau-Ponty, dann bei Derrida besondere Aufmerksamkeit gefunden hat. 6 Vgl. dazu H.-G. Gadamer: Griechische Philosophie. Ges. Werke. Bd. 7. Tübingen 1991, S. 378.

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bedeutungslos ist. Das Vergessen dient allgemeinhin der Entlastung, der Schonung von Kräften, der besseren Nutzung der Ressourcen. Der Kampf gegen das Vergessen weicht dem bloßen NutzenkalküL Die Frage What is the use of it? wäre dann das einzige, was zählt und was dem Vergessen entrückt bleibt. Ein gewisser Endpunkt ist erreicht, wenn wir uns einem Konstruktivismus überlassen, der das Erinnern und Vergessen in computerähnliche Prozesse und Operationen umdeutet. 7 Die Argumentation derer, die eine solche Linie verfolgen, richtet sich zunächst gegen Speichermodelle des Gedächtnisses. Diese unzulänglichen Modelle erklären das Vergessen damit, daß ein Gedächtnisinhalt gelöscht bzw. der Zugriff zum Gedächtnisinhalt blockiert ist. Phänomenologen werden in dieser Ablehnung von bloßen Bewußtseinsspeichern Husserls Kritik an der Annahme einer , Bewußtseinsschachtel' wiedererkennen. Es fragt sich nur, was als Alternative angeboten wird, und diese Alternative erscheint mehr als kärglich. Vergessen wird zunächst als einmal als Komplement des Erinnerns gedacht, sozusagen als seine negative Hohlform. Was das Erinnern selbst angeht, so wird dieses als eine Beobachterkategorie gefaßt; es bezeichnet eine bestimmte Bewußtseinskapazität. Für das Vergessen bleibt demgemäß nichts weiter als ein "Nicht-erinnern-Können", das ich als interner bzw. externer Beobachter feststelle und das ich mir bzw. anderen zuschreibe. Gewiß ist das Erinnern auf bestimmte "Erinnerungsanlässe" angewiesen, die man traditionell als Reize bezeichnet. Wenn Augenzeugen (etwa des Dritten Reiches) aussterben, so treten Archive an ihre Stelle. "Im hier vorgeschlagenen Diskussionsrahmen kann die meist als zentrale , Funktion des Vergessens' angegebene Formel , vergessen, um erinnern zu können' übersetzt werden in die Formel ,Gegenwartsgebundenheit des kapazitätsbegrenzten Bewußtseins"'. Der Begriff des Vergessens wird damit, wie es ausdrücklich heißt, "obsolet". Er ist so obsolet wie jeder rein negative Begriff. Die entscheidende Voraussetzung dieser Technologie des Erinnerns und Vergessens liegt darin, daß Erinnern mit einem bloßen Können, Vergessen mit einem entsprechenden Nichtkönnen gleichgesetzt wird. Dies gibt zu einer Reihe von Fragen Anlaß. 1. Ist das Erinnern eine Operation oder eine Tätigkeit, die zu unserer freien Verfügung steht? 2. Wie steht es mit der Erinnerungswürdigkeit, die sich in den schon erwähnten Formen der Unvergeßlichkeit andeutet? Läßt sich die Frage, worin der Anspruch auf Erinnerung besteht, mit bloßen Kapazitätsberechnungen beantworten oder auch nur formulieren? 3. Wird nicht die Erfahrung des Vergessens schlichtweg übersprungen? Müßte eine Sprache, die der Erfahrung des Vergessens ge7 Vgl. das Eingangskapitel des Herausgebers in: Gedächtnis. Probleme und Perspektiven der interdisziplinären Gedächtnisforschung. Hrsg. von S. J. Schmidt. Frankfurt/M. 1991, S. 50-52.

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recht würde, nicht die Möglichkeit berücksichtigen, daß etwas als Abwesendes oder Verdrängtes da ist und daß dies nicht zusammenfällt mit dem bloßen Nichtvorhandensein von Kabelanschlüssen? Eine Technologie des Vergessens vergißt allzuleicht, daß der Technologie selbst Züge des Vergessens innewohnen. Die Erfindungen der Mnemotechnik, die von altersher zur Sprache der Körpertechnik gehören8, wären neu zu durchdenken; auch sie dienen dem Kampf gegen das Vergessen, setzen aber dieses eben deshalb voraus. 111. Einfallen und Entfallen

Ist das Vergessen ein ,Unfall', ein ,Fall', etwas, was der ,Fall ist'? Gehört nicht das Phänomen des ,Fallens' zu einem Reden und Tun, das nicht aus reinen Akten besteht und nicht bei sich selbst beginnt? Im Deutschen sprechen wir von Einfällen: etwas fallt mir ein, und wir sprechen ferner von Auffälligkeiten: etwas fallt mir auf, und dies mit mehr oder weniger großer Aufdringlichkeit.9 Ich komme hierbei durchaus vor, aber im Dativ. Dieses Mir, dieses Ich im Dativ tritt früher auf als das Ich im Nominativ, das ,Gegebenheiten' als Materialien benutzt und sie am Ende in ,Datenbänken' anlegt wie ein Vermögen. Sätze wie "Es fiel mir auf, daß .. ." lassen sich nicht in ein aktives Geschehen oder in einen performativen Akt umwandeln, ohne ihre eigene Genese zu verleugnen. Die Behauptung, alles sei Sprache oder alles sei in der Sprache, gehört zu den zeitgenössischen Halbwahrheiten. Daran ändert sich auch nichts, wenn man das Wort ,Sprache' durch ,Medien' ersetzt. Vielmehr gilt: etwas kommt zur Sprache, wie ein Gedanke kommt, wie der Schlaf kommt. 10 Mit der Sprache der Einfalle haben wir zugleich den Ort umschrieben, wo das Vergessen stattfindet. Das Vergessen spielt sich nicht irgendwo ab, es findet hier und jetzt statt. Das Behalten, die Retention, wie Husserl im Anschluß an Locke formuliert, geschieht im Herzen der Gegenwart, es gehört zur Gegenwart, die damit eine eigentümliche Schwäche erkennen läßt. Kein Behalten ohne ein genuines Entfallen. Wir behalten, was uns zu entfallen droht, was unserem ,Griff' entgleitet. 11 Wenn es im Sinne Husserls 8 Vgl. dazu M. Mauss: "Die Techniken des Körpers". In: Soziologie und Anthropologie. Bd. II. München 1975. 9 Vgl. dazu meine Hinweise auf Husserl, Scheler, Heidegger, Nietzsche und Lacan in: Antwortregister. A.a.O., S. 382. 10 Vgl. Merleau-Pontys eindringliche Beschreibung des Einschlafens in: Phenomenologie de la perception. S. 191, dt. S. 196. 11 Vgl. dazu "Ideen I" (Hua III), § 122. Im Französischen wäre auf die Skala von prise, reprise und surprise hinzuweisen, die sich Merleau-Ponty und H. Maldiney zunutze machen. 2*

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eine originäre Retention gibt, die nicht erst im nachhinein auftritt, so steht am Anfang kein Haben, kein fester Halt 12, sondern ein Ein-fall, eine Affektion, ein Vor-Anfang, ein originärer Entzug. In diesem Sinne vergessen wir, was wir nie gewußt haben, verlieren wir, was wir nie gehabt haben. Dieses Behalten, das nur als Kehrseite eines Entfallens auftritt, müßte also von den Assoziationen eines Behälters, eines Containers freigehalten werden. An diesem Punkt wäre der konstruktivistischen Kritik an den Speichermodellen des Gedächtnisses zuzustimmen. Was wir in der Erinnerung gewahren, ist nicht schon irgendwo verwahrt wie in einer Schatztruhe. Wenn Nietzsche sich für ein aktives Vergessen ausspricht, so führt dies zu einem unlöslichen Dilemma, sobald man diese Forderung imperativisch formuliert: "VergiB!" Dieses Dilemma löst sich, wenn man die Forderung nach einem Tun in ein Gewährenlassen verwandelt, das man strenggenommen nicht gebieten oder verbieten kann. Vergessen wäre dann ein Ingredienz dessen, was Erfahrung ausmacht, bei der Zu- und Abwendung nicht voneinander zu trennen sind. Wir müssen uns von der Vorstellung freimachen, es gebe eine reine Präsenz, die erst nachträglich durch Vergessenslükken durchlöchert wird. Im Spiel von Anwesenheit und Abwesenheit bedeutet Vergessen nicht, daß bestimmte Inhalte wie durch ein Sieb fallen. "Die Tatsache, daß man die Erinnerung nicht mehr sieht = Nicht Zerstörung eines psychischen Materials, welches das Sinnliche wäre, sondern seine Entstaltung, die bewirkt, daß es keine Abweichung, kein Relief mehr gibt." 13 Was vergessen ist, lagert nicht irgendwo in einer Vorratskammer, sondern es nistet in den Falten der Erfahrung, die keine vollständige Entfaltung zulassen. Vergessen heißt, mit Vergangenern leben. Vergangenheit gehört als ,leibhaftige Abwesenheit' zu dem, was wir als Fremdheit bezeichnen. IV. Die Rolle des Leibes Die Rede von einer ,leibhaftigen' Abwesenheit ist ebensowenig als eine bloße Metapher abzutun wie die Rede von einem ,leibhaftigen' Vergessen und Erinnern. Deutlich wird dies, wenn wir zwei Fallstudien aus MerleauPontys "Phänomenologie der Wahrnehmung" heranziehen, in denen der Zusammenhang von Leiblichkeit und Vergessen eine besondere Rolle spielt. 14 12 Vgl. den gleitenden Sinn von EXELV und habere als ,halten, festhalten, innehaben, haben'. 13 Merleau-Ponty: Le visible et !'invisible. Paris 1964, S. 250; dt.: Das Sichtbare und das Unsichtbare. Übersetzt von R. Giuliani u. B. Waldenfels. München 1986, s. 253. 14 Vgl. im folgenden "Phenomenologie de Ia perception", zur Aphonie: S. 187193, dt. S. 192-198, zum Phantomglied: ebd., S. 90-105, dt. S. 100-114. Zum allgemeinen medizinischen Hintergrund dieser Pathologien und entsprechender Thera-

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Es handelt sich einmal um einen Fall von Aphonie, von dem Ludwig Binswanger in seiner Schrift "Über die Psychotherapie" berichtet. 15 Ein Mädchen, dem die Mutter verbietet, den Geliebten zu sehen, reagiert mit Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit und schließlich mit Sprachlosigkeit. Noch zu erwähnen ist, daß das Mädchen schon früher bei Erdbeben oder starkem Angsterleben ähnlich reagiert hat; Kehle und Mund zeigen eine Überempfindlichkeit, was auf eine starke Ausprägung der oralen Entwicklungsphase schließen läßt. Der Sprachverlust gehört also zu einer Körpergeschichte, die nur in einer Art Somatagraphie ihren adäquaten Ausdruck findet. Der Zeitfaktor kommt auf besondere Weise ins Spiel, wenn wir nach der Erklärung dieses merkwürdigen Körpersymptoms fragen. Bei den Störungen handelt es sich, wie Merleau-Ponty ausführlich erläutert, um keine bloßen physiologischen Vorgänge in der dritten Person; denn es liegt keine Lähmung oder Schädigung des Sprachapparats vor. Es handelt sich aber ebensowenig um Akte in der ersten Person, um eine wissentliche und willentliche Sprachverweigerung, der man mit gutem Zureden oder mit Strafen beikommen könnte. Vielmehr ging die Sprache verloren, wie man die Erinnerung an eine Sache verliert. "Das Vergessen ist also ein Akt; im Vergessen halte ich eine Erinnerung auf Abstand, so wie ich an jemandem, den ich nicht zu sehen wünsche, vorbeisehe." 16 Wenn Merleau-Ponty von einem Akt des Vergessens spricht, so ist hierbei nicht an eine aktive Betätigung zu denken, sondern daran, daß im Vergessen selber etwas geschieht. Das Vergessen gleicht der Verdrängung, wie sie ein Mann erlebt, der ein Buch, das ihm seine Frau geschenkt hat, in einer Schublade seines Schreibtisches vergißt und es wiederfindet, nachdem er sich mit seiner Frau versöhnt hat. 17 Das Vergessen befindet sich also diesseits von Wissen und Nichtwissen, von willentlicher Bejahung und Vemeinung. Das Vergessene rumort in uns, aber es steht nicht zur freien Verfügung. Wenn hierbei Vergessen und Verdrängung einander angenähert werden, so sollte man dies nicht als bloße Vermengung abtun; vielmehr weist dieser Zusammenhang auf die schon erwähnten affektiven Hintergründe aller Kognitionen hin. Auch die Gleichgültigkeit ist noch als neutralisierte Form des Affekts zu betrachten und nicht etwa als pure Affektlosigkeit. Eben deshalb sind wir dem Spiel von Erinnern und Vergessen auf eine Weise ausgeliefert, wie es bei erlernbaren Akten nicht der Fall ist. pien vgl. meine Überlegungen in Grenzen der Normalisierung. Frankfurt/M. 1998, besonders S. 144-147. 15 Die erwähnte Arbeit ist wiederabgedruckt in L. Binswanger: Ausgewählte Werke. Bd. 3. Hrsg. von M. Herzog. Heide1berg 1994. 16 Phenomenologie de Ia perception, S. 189, dt. S. 194. 17 Das Beispiel, das Merleau-Ponty anführt, stammt aus Freuds "Einführung in die Psychoanalyse" (GW XI, 49).

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Das zweite Beispiel bezieht sich auf das Phantomglied, das uns schon in Descartes' "VI. Meditation" begegnet. Neueren Deutungen zufolge handelt es sich um einen Fall von Anosognosie. Auch dieses Krankheitsphänomen ist nicht rein physiologisch zu erklären, obwohl es physiologisch beeinflußbar ist. Es gibt Beispiele von Anästhesie, die das Phänomen keineswegs aufheben, und außerdem kann ein Phantomglied auch ohne Amputation bei bestimmten Gehirnstörungen auftreten. Umgekehrt läßt es sich aber auch nicht rein psychologisch erklären als Wahmehmungs- oder Erinnerungsstörung oder als willentliche Verweigerung, da der Patient trotz besseren Wissens und Willens seinem Körpergeschick ausgeliefert ist. Bloße Körpermechanik und bloße Moral sind gleichermaßen untaugliche Mittel, um den Patienten aus seiner Zwangslage zu befreien. Merleau-Ponty spricht, wiederum in Anlehnung an das psychoanalytische Vokabular, von "organischer Verdrängung"; sie führt zu einer "Scholastik der Existenz, die nur noch lebt von einer einstigen Erfahrung, oder gar nur von der Erinnerung, diese einstmals gehabt zu haben". 18 Der Konflikt zwischen vergangener und gegenwärtiger Gegenwart erzeugt einen lebendigen Anachronismus, eine leiblich verspürte UngleichzeitigkeiL Die Vergangenheit überlebt sich selbst, indem sie die Gegenwart aussaugt. Die Nichtanerkennung des vergangeneo Verlustes steigert sich bis zum Verlust der Gegenwart. Diese beiden Fälle illustrieren die generelle Rolle des Leibes. Wie ist es denkbar, daß der Leib zugleich als Hüter des Vergangeneo wie als Ort des Vergessens auftritt? Diese Doppelrolle bliebe unerklärlich, wenn der Körper dualistisch von der Seele oder dem Geist abgespalten würde, sei es in den antiken Modellen von Wachstafel oder Speicherhallen, sei es in den neueren Modellen von Hydraulik, Uhrwerk, Kraftmaschine, Telefonzentrale, neuralem Elektronengehirn, Informationsbank usf. Statt dessen verweisen die erwähnten Übergangsphänomene auf eine eigentümliche Seinsweise des Leibes, der weder schlicht Zwei noch Eines ist, sondern Zwei in Einem. Der Leib ist weder jemand: ein Subjekt, das Ichakte vollzieht, noch ist er etwas: ein Objekt, das Es-Prozessen unterliegt. Der Leib hat vielmehr eine eigene Seinsweise, ein Wie, und diese eigentümliche Modalität besteht in einer Selbstverdoppelung, einer Nichtdeckung in der Deckung, die MerleauPonty in seinem Spätwerk "Das Sichtbare und das Unsichtbare" als chair zu fassen versucht. Auf diese Weise entkommt er der Descartes-Sartreschen Dualität von corps sujet und corps objet. Diese Selbstverdoppelung findet ihren sprachlichen Ausdruck in Reflexivformen wie Sichempfinden, Sichwahrnehmen oder Sichbewegen. Das Sich unterliegt nicht der Spaltung in Subjekt und Objekt, es bildet vielmehr selbst einen Spalt, der durch eine dualistische Redeweise überdeckt wird. Das leibliche Selbst verwirklicht sich als Zugleich von Selbstbezug und Selbstentzug, und zeitlich-räumlich 18

Phenomenologie de la perception, S. 99, dt. S. 108.

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stellt es sich dar als Selbstverschiebung und Selbstverzögerung. Als leibliches Wesen bin ich hier - und zugleich anderswo; ich bin jetzt - und zugleich anderswann. Die Fremdheit, die sich hier auftut, gehört zur Seinsweise des Leibes und nicht zu einem überwindbaren Zustand der Entfremdung. Dazu Nietzsche: "Wir bleiben uns aber nothwendig fremd, wir verstehn uns nicht, wir müssen uns verwechseln, für uns heisst der Satz in alle Ewigkeit ,Jeder ist sich selbst der Fernste', - für uns sind wir keine ,Erkennenden'". 19 Gäbe es nicht diese Urferne in der Urnähe, die eben das ausmacht, was wir Leiblichkeit nennen, so wäre das Vergessen nur als eine Art Sturz in die Materie zu denken, die wir durch ideale Aufschwünge vergebens wettzumachen versuchen.

V. Erinnern als Wiederantworten Eine letzte Frage führt uns auf die Wege des Antwortens, die hier nur noch angedeutet werden sollen. Erinnern beginnt damit, daß mir etwas wiedereinfallt, daß meine Erinnerung geweckt wird; sie beginnt auf der Ebene einer memoire spontanee. Nicht umsonst endet die Heilung von der Aphonie mit einer Art Konversion. "Die Bewegung der Existenz auf die Anderen, auf die Zukunft, auf die Welt hin kann sich erneuern, wie ein gefrorener Strom, dessen Eis schmilzt. Der Kranke findet seine Stimme wieder, nicht durch eine intellektuelle Anstrengung oder ein abstraktes Gebot des Willens, sondern durch eine Wendung, in der sein ganzer Leib sich sammelt, durch eine Geste, so wie wir einen vergessenen Namen nicht ,in unserem Geist', sondern ,im Kopf' oder ,auf der Zunge' suchen und wiederfinden."20 Das Wiederaufbrechen zu neuen Ufern bringt etwas ins Spiel, das nicht von uns selbst ausgeht, einen fremden Anspruch, auf den wir antworten wie auf eine fremde Stimme, einen fremden Blick, eine fremde Berührung. Im Falle der Erinnerung stellt sich die Frage: Wer oder was erhebt Anspruch auf Erinnerung? Wie erweist sich etwas als erinnerungswürdig? Diese Frage ist keine bloße Frage des Könnens, der Möglichkeit, der Kapazität eines Bewußtseins oder einer Apparatur, deren Programm und Speicherraum beschränkt ist. Wo fremde Ansprüche ins Spiel kommen, meldet sich ein Ethos des Erinnerns und Vergessens, das über eine bloße Kognition des Vergangeneo weit hinausgeht. "[.. .] et rien nes chassera vos morts de nos memoires. Car nos memoires sont votre unique tombeau.", so steht es auf einer Gedenkschrift am Rande des venezianischen Ghettos. In diesem Spruch klingt etwas an von dem alten ofl!la, das Mal und Grabmal in eins besagt. Erinnern erscheint selbst als eine Form des Antwortens, des Wieder19 Nietzsche: Kritische Studienausgabe. Hrsg. von G. Colli u. M. Montinari. Berlin 1980. Bd. 5, S. 247 f. 20 Phenomenologie de la perception, S. 192, dt. S. 197.

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antwortens, sobald Ansprüche auftreten, die Nichtzuvergessendes enthalten. Hier ist der Ort für eine historische Gerechtigkeit, die über historische Gelehrsamkeit und historische Neugier hinaus die Frage aufwirft, was uns die Vergangenheit angeht. Eine vollendete historische Gerechtigkeit gibt es nicht, die Schatten der Ungerechtigkeit lassen sich nicht tilgen. Eine Allerinnerung, die dem Vergessen entkäme, kann es nur als Idealisierung geben, und dies wäre eine andere Form des Vergessens. Momente des Antwortens finden wir auch in den beiden Fallstudien, wo es um eine Wiederanknüpfung an die Vergangenheit geht. Die Aphonie erscheint als "Verweigerung des Anderen", als "Verweigerung der Zukunft"21 , und das Phantomglied wird deshalb zur Quelle des Leidens, weil es Antwortmöglichkeiten verstellt und den Patienten auf das Gewordene fixiert. Antworten als ein Geschehen, das nicht bei uns selbst beginnt, zeigt Momente einer Selbstvorgängigkeit, die zu den zeitlichen Kennzeichnungen der Leiblichkeit gehört. Paul Valery, der ebensowenig ein Verächter des Geistes wie ein Verächter des Leibes war, schreibt in seinen Tagebüchern: "L'esprit est un moment de la response du corps au monde. ,.zz Dies gilt auch für die Leiblichkeit des Erinnems, die im Vergessen ihr untilgbares Außen hat.

Ebd., S. 191, dt. 196: "refus d'autrui", "refus de l'avenir". Cahiers I. Paris 1973, S. 1125, dt.: Cahiers/Hefte. Frankfurt/M. 1989, Bd. 3, 312.

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Die elementare Erde Von John Sallis Seit Nietzsche unterliegt die Philosophie - zumindest das, was von der Philosophie bleibt - dem Imperativ, daß sie sich dem Sinnlichen zukehre, daß sie von jeglichem Übersinnlichen, Intelligiblen zurückkehre, und daß sie in der Tat gerade die Unterscheidung zwischen dem Sinnlichen und Intelligiblen destruiere. In dieser Kehre würde es darum gehen, das Sinnliche von seiner klassischen Bestimmung als Erscheinung oder Abbild des Intelligiblen zu befreien, es zu sich selbst zu befreien. Die Kehre würde auch eine Wende zur Natur sein, zu allen Dingen der Natur (und welche Dinge gehören nicht letztlich irgendwie zur Natur?); und auch eine Wende zu dem, was zur Natur gehört, aber nicht auf ein Ding reduziert werden kann, das, was angemessener Weise das Elementare [the elemental] in der Natur genannt werden könnte, das Elementare der Natur, oder sogar das Elementare als solches. Also führt die Kehre zum Versuch einer Rede über die Erde, zum Versuch einer Rede, die, in Nietzsches Worten, "der Erde treu" bleiben würde.1 Sogar bevor der Nietzschesche Imperativ erklang, verkündete SeheHing die Notwendigkeit der Wende zur Natur - und so auch zum Leben. Seine Aussage ist wohlbekannt: "Die ganze neu-europäische Philosophie seit ihrem Beginn (durch Descartes) hat diesen gemeinschaftlichen Mangel, daß die Natur für sie nicht vorhanden ist, und daß es ihr am lebendigen Grunde fehlt." 2 Ein Weg, die Wende zur Natur vorzubereiten, ist durch die Erinnerung an ihren antiken Sinn, selbst bei Aristoteles, für den qruOL~ die Weise nennt, in der naturhaft Seiendes - 'ta uaeL Öv'ta - west, nämlich durch das Wirken einer UQX~ in diesem Seienden. Oder, noch weiter abseits, bei Heraklit im Fragment welches lautet: uOL~ XQUJt'tEOß-m tA.e'i (in einer normalen Übersetzung: die Natur liebt es, sich zu verbergen). Oder in dem Echo 1 Friedrich Nietzsche: Also Sprach Zarathustra. In: Ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Bd. VI, 1. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin 1968, s. 9. 2 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: "Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände". In: Ders.: Sämtliche Werke. Stuttgart u. Augsburg 1860, Abt. l/7, S. 356.

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einer der deutlichsten Widerhalle der griechischen Rede über die Natur das hörbar ist, wenn Hölderlin Hyperion von der Natur als "der Wandellosen, stillen und schönen" schreiben läßt. 3 Dies besagt: als die CtQX~ des Wandels ist die Natur selbst wandellos und läßt Naturdinge hervortreten und sich in dem Licht entfalten, in dem sie hervorscheinen können, während sie sich zugleich in sich selbst zurückziehen in das verschlossene, stille Element. Doch kann Erinnerung nur dazu dienen, die Aufmerksamkeit und Scharfsicht vorzubereiten, die vor allem nötig sind, - d.h. einen gewissen Sinn der Natur, einen Sinn für die Natur zu erwecken und angemessen auszurichten. Solch ein Sinn scheint nie ganz zu fehlen. Wer hat nicht einen Sinn für das Meer, wenn dessen Oberfläche unter den intensiven Sonnenstrahlen des Sommers glänzt; und für die Luft darüber (den Äther, wie ihn die Alten nannten) an Tagen, an denen sie übervoll ist von blendendem silbrigen Licht; und für den Wind, wenn er in schwingenden Pinien hörbar wird; und für die dunklen, schnell näherkommenden Gewitterwolken und den starken Regenguss, den sie bringen werden; und für den klaren Nachthimmel inmitten des Winters mit seinem strahlenden Stemenreichtum; und für die Erde und den Wald, wenn sie zu Beginn des Frühlings wieder ihr Versprechen der kommenden Fülle bieten? Was ist erfordert, um genügend aufmerksam und scharfsichtig zu werden, wenn, wie in Griechenland noch heute, die Natur Szenen darbietet, die das Sichsammeln der Elemente in ihrer äußersten Sichtbarkeit vorführen? Wie auf der Insel in den Zycladen, ausblikkend auf den ägäischen Sonnenuntergang. In der Feme und ein wenig zur Seite ist eine andere Insel - Delos - Silhouettenhaft gegen den dunkler werdenden Himmel abgezeichnet. Das Feuer des Himmels hat seinen ganzen Glanz und seine Leichtigkeit abgelegt, um eine dichte, dunkelrote Sphäre zu werden, die sich, kaum wahrnehmbar, in das Meer senkt. Der niedrigste Punkt ihrer Peripherie dabei ist, den Horizont zu berühren, die dünnen Wolkensträhnen zu fangen, die horizontal ihr Gesicht durchqueren, ihre orangene Glut. Angesichts einer solchen Szene, solch ein sichtbares Sichversammeln von Sonne, Himmel, Wolken, Meer und Stein erblickend oder einen flüchtigen Blick von ihnen fangend - kann man einen Sinn dafür bekommen, wie die elementare Natur einst wahrgenommen wurde, und vielleicht anfangen, vielleicht auch woanders, das eigene Sehen dem Anspruch des Elementaren zu öffnen. Die Wende zum Sinnlichen soll ein Wiederdenken des Sinnlichen ganz außerhalb der klassischen Entgegensetzung zu einem Übersinnlichen oder Intelligiblen erwirken. Antwortet man dem Anspruch der elementaren Natur 3 "[••• ] in die Arme der Natur, der Wandellosen, stillen und schönen". Friedrich Hölderlin: Hyperion oder der Eremit in Griechenland. In: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. von Günter Mieth. München 1989, 1:582.

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auf aufmerksame und scharfsichtige Weise, so kann solches Wiederdenken durch ein Nachzeichnen der verschiedenen Artikulationen des Sensiblen, der Natur, erfolgen. Unter diesen Artikulationen ist die Unterscheidung zwischen einerseits dem, was elementar ist und andererseits dem, was bloß ein Ding ist - d.h. zwischen Elementen oder Elementaren und Dingen primär. Die Unterscheidung rührt vor allem von der Weise her, wie elementare, ungleiche Dinge, umgreifend sind. Wenn das Gewitter naht, wird die von dunklen Wolken bedeckte Landschaft noch düsterer, als bereite sie sich für die ersten schweren Regentropfen vor, die auf den bald kommenden Regenschauer deuten, der alles durchnässen wird. Eingeschlossen durch die niedrige Wolkendecke und durch und durch befallen von strömendem Regen, ist das ganze Tal vom Sturm eingefaßt. Lebewesen mögen vor dem ankommenden Sturm fliehen, um sich vor den Elementen zu bewahren; doch ist der Sinn ihrer Flucht und ihrer Suche nach einer Zuflucht mit dem unvermeidlich allumgreifenden Charakter der Sturmes verbunden, den sie auf gewisse Weise eher aushalten als daß sie ihm entrinnen. Wenn zudem ein starker Wind weht, wird auch er durch die ganze Länge des Tals fegen, es umfassend, wenn auch auf andere Weise als die Wolken und der Regen. Ebenfalls umfassend, wenn auch auf andere Weise, ist der Blitz, der augenblickshaft das ganze Tal beleuchtet, wie auch der Donner, wenn sein rollender Widerhall die Konturen der Erde abzeichnet, wie sie um und im Tal geformt sind. Der Sturm bringt diese verschiedenen Elemente zusammen, und, so wie jedes die Gegend auf seine besondere Weise einfaßt, durchkreuzen, überdecken und umhüllen sie sich auch gegenseitig. Das Gewitter ist in der Tat nichts anderes als diese Elemente, oder genauer, als ihr Zusammentreffen. In solchen Verbindungen wird der Sinn des Elementaren nicht im Hinblick auf Auflösung bestimmt, sondern durch die Konfiguration des Zeigens, des Erscheinens [manifestation], zu der die Elementaren [the elementals] gehören. Wo auch immer Dinge sich präsentieren, indem sie sich innerhalb ihrer Horizonte zeigen, wird der Ort ihres Erscheinens auf unterschiedliche Weisen von verschiedenen Elementaren eingefaßt, die sich durchkreuzen, überdecken und umhüllen, und die so zu einem gewissen Maß zusammenlaufen, d.h. selbst in einem gewissen elementaren Zusammentreffen konfiguriert sind. Doch trotz ihres Zusammenlaufens sind Elementare nicht - zeigen sie sich nicht als - bestimmt eingegrenzt wie es Dinge sind. Selbst wenn sie, wie bei dem Regen und dem Wind, die das Gewitter bringt, in ihrem Umfang nicht völlig grenzenlos sind - und auch nicht unangebrachter Weise so erscheinen -, hat der Umfang eines Elementaren, was auch immer die Lage sein mag, eine gewisse Unbestimmtheit, die es als Elementares konstituiert. Das heißt nicht, daß nicht gewisse me-

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teorologische Maßstäbe angebracht werden könnten: Doch sobald der Regen und der Wind einem solchen Maßstab unterliegen, ist ihr elementarer Charakter reduziert, und der Unterschied zwischen Elementaren und Dingen, der sich bei jeder Lage ihrer Offenbarung bestätigt, eingeebnet worden. Wenn sie einen Ort der Erscheinung offenhalten, wenn sie sich zeigende Dinge und ihre unmittelbaren Horizonte umgreifen, haben Elementare eine Ausdehnung, die nicht nur unbestimmt, sondern auch, als solche, riesenhaft ist, in dem Sinne, daß sie jeglicher Proportionalität in Hinblick auf Dinge, die sich zeigen, und denjenigen, denen sie sich zeigen, ermangelt, oder diese übersteigt. Während sie einerseits in ihrem Ausmaß unbestimmt und sogar gigantisch sind, bieten die Elementaren andererseits eine gewisse Einseitigkeit dar. Beim Durchzug des Sturmes ist der Windrand spürbar und, durch das Tal blickend, sind Regenflächen zu beobachten, welche die Erde, oder vielmehr ihre Oberfläche, völlig durchnässen, auf der Pfützen, kaum geformt, schon überfließen und eine Reihe von vorübergehenden Bächlein bilden. Die Einseitigkeit der Elementaren unterscheidet sich von derjenigen von Dingen. Die Seite, die ein Element darbietet, ist nicht eine Abschattung eines Dinges, und die Tiefe des Elementaren birgt keinen Reichtum an anderen Abschattungen in sich, die verschiedenen Perspektiven dargeboten werden könnten. Die Oberfläche der Erde ist nicht einfach eine Abschattung unter anderen, welche die Erde darbieten könnte; sie ist in einem gewissen Sinne die einzige Seite, die von Versuchen, zum Beispiel durch Ausgrabungen, andere Seiten zu öffnen, nur abermals dargeboten würde. Gewiß ist hinter der dargebotenen Seite eines Elementaren Tiefe, doch ist dies eine Tiefe anderer Art als diejenige von Dingen. Die Unterscheidung der Elementaren von Dingen wird in den sogenannten unpersönlichen oder subjektlosen Formulierungen angedeutet, in denen das Walten eines Elementaren gewöhnlicherweise ausgedrückt wird: Man sagt "es regnet", "es schneit", "es ist windig", ohne vortäuschen zu wollen, daß das Pronomen ein unausgedrücktes Antezedens hat, das ein agierendes Ding bezeichnet. Selbst wenn man sagt "der Blitz leuchtet" und "der Wind weht", genügt die geringste Reflexion, um einen daran zu erinnern, daß der Blitz nichts anderes als sein Leuchten und der Wind nichts anderes als sein Wehen ist. Elementare haben die Tendenz, den Unterschied zwischen dem Sinnlichen und Intelligiblen zu durchbrechen. In der Tat kann nur durch Reduktion des Elementaren zu dem bloßen Wovon der Komposition, zusammen mit einer Verschiebung des Elementaren in Bezug auf dessen Offenbarung durch das Intelligible, jene Unterscheidung zwischen dem Sinnlichen und dem Intelligiblen gegenüber der Gegenkraft des Elementaren gesichert werden und so - für eine Weile - intakt bleiben. Doch wenn jetzt, wie einst

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unter den Griechen, darauf bestanden wird, daß das Elementare für das Erscheinen von Dingen bestimmend ist, wird die Verschiebung in einem gewissen Sinne umgekehrt und die Unterscheidung zwischen dem Intelligiblen und dem Sensiblen gesprengt. Denn in ihrer Eigenschaft als bestimmende Erscheinung sind Elemente weder intelligible UQXUL, noch sinnliche Dinge. Selbst wenn ihre Sichtbarkeit sich auf einzigartige Weise entfaltet, sind sie sichtbar, sinnlich und nicht intelligibel. Wenn einige Elemente vor allem Erde und Himmel - immer noch UQXUL genannt werden können, so nur in einem anderen - ja in einem archaischen - Sinne. Andererseits unterscheiden sich Elementare von anderen sinnlichen Dingen, selbst wenn sie auf eigene Weise sinnlich sind und, vielleicht bis zu einem gewissen Punkt, als Dinge - oder als ob sie solche wären - entfaltet werden. In ihrer Unbestimmtheit und Unbegrenztheit, in ihrer einzigartigen Einseitigkeit und ihrer eigentümlichen Tiefe sind sie anders als Dinge. Sowohl von intelligiblen aQxai. als auch von sinnlichen Dingen unterschieden, bilden die Elementare eine dritte Art, die so beschaffen ist, daß sie die sonst exklusive Geltung der Unterscheidung zwischen dem Intelligiblen und dem Sensiblen durchbricht. An der Grenze, wo sich die Philosophie in einer gewissen Selbstverlassenheit zurück zu dem Sinnlichen wendet, kommt diese dritte Art, das Elementare, um das Grab des toten Gottes zu versiegeln. Also ist die Rückkehr zum Sinnlichen nicht nur eine Kehre zu sinnlichen Dingen, sondern auch - und in einem gewissen Sinne sogar zu allererst zum Elementaren. Doch was ist der Sinn dieser Kehre - der Rückkehr zum Elementaren? Genauer, was ist der Sinn, in dem man sich zur Erde kehrt - zu ihr zurückkehrt? Denn wie der Gefangene in der Höhle wird man in einer gewissen Hinsicht niemals die Erde hinter sich gelassen haben. Selbst dann nicht, wenn man die Haltung annimmt, von der Erde wegzusterben und wenn man dies mit allen Mitteln erzwingt, selbst indem man Selbstmord in Betracht zieht oder sich das eigene bevorstehende Ableben vorstellt. An jenem Morgen, als er sterben sollte, sprach Sokrates mit seinen Freunden über Philosophie und Tod und, wie es im "Phaidon" heißt, "als er dies sagte, ließ er seine Beine von dem Bett wieder herunter auf die Erde [Erd 't~V yflv] und so sitzend sprach er das Übrige"4 in einem Gespräch, das in den Augenblicken kurz vor den letzten Vorbereitungen für seinen Trank des UQf.tUXOV (wie es durchwegs genannt wird) mit dem großen Mythos über die Erde abschließt, in dem der Bestimmungsort selbst der reinsten und heiligsten Seelen als die obere Gegend der Erde dargestellt wird. Es gibt einen merkwürdigen Hinweis auf die Erde in Aristoteles' Bericht über die früheren Denker, die das eine oder andere der Elemente als UQX~ 4

Platon: Phaidon, 61c.

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nahmen. Gewiß wirken die das Elementare reduzierenden Momente nicht nur in Aristoteles' Bericht, sondern werden, wenn er beginnt, ausdrücklich aufgerufen. Von Anfang an verkündet er, daß diese cpuawA6yot sich darin geirrt haben, daß sie das Körperlose nicht erkannt haben und daß sie nicht das Sein (oua(a) oder die Washeit ("to "tL emt) als Ursache von Dingen gesetzt haben. Genau als er diese Verschiebung der UQX~ (ahwv) bejaht, führt er das Wort ÜAT] ein, das von jener Verschiebung unabtrennbar ist: Es heißt, daß diese früheren Denker eine Natur - d.h. ein Element - als ÜAT] gesetzt haben. Zudem erklärt er, daß "Dinge durch Verbindung und Trennung auseinander hervorgehen" - d. h. das Hervorgehen aus einem Element wird als Verbindung (oder Auflösung) vorbestimmt. Nachdem er diesen Kontext aufgestellt hat, bemerkt Aristoteles, wie unter den Elementen die Erde außergewöhnlich ist: Unter den cpumoA.Oyot, die ein Element (ta. 2. Nicht nur die Vollkommenheit der Erkenntnis, sondern ebenso sehr die kosmologische Würde des jeweils erkannten Gegenstandes bestimmt

Das Problem der Aisthesis bei Aristoteles

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nach Aristoteles den Wert des Erkenntisgrades und des entsprechenden Erkenntnisvermögens, und da Aisthesis auf sinnlich Wahrnehmbares, also auf sublunares, kontingentes Seiendes gerichtet ist, bleibt sie in der Stufenskala der Erkenntnis hinter dem Denken zurück, da dieses das unveränderliche, notwendig Seiende erfassen kann. Die Grenzen des Erkenntsniswertes der Aisthesis ergeben sich daraus, daß sie ein sinnliches Erkennen ist, eine cognitio sensitiva, welche traditionell als eine facultas cognoscitiva inferior angesehen wird. Zu Anfang der "Metaphysik" nennt Aristoteles zwei Gründe für die relative Minderwertigkeit des sinnlichen, aisthetischen Erkennens: 1. Aisthesis leistet nur die Erkennntis des Ö'tt., also des "Daß", und nicht die Erkenntnis des ÖLO'tL, der UQXUL, der Gründe und Ursachen. Das Beispiel aus "Metaphysik I, 1, 981b 10-13" lautet: Die Wahrnehmung bekundet uns etwa nur, daß das Feuer heiß ist (!J.Üvov Ö'tL ß-EQ!J.OV), nicht aber, warum es heiß ist (ou öul. 'tt ß-EQ!J.OV 'to mJQ). 2. Aisthesis kann nicht das Allgemeine ('to xaß-6/...ou), sondern je nur einzelnes ('to xatt' i::xacrtov) treffen, wie Aristoteles in den "Zweiten Analytiken" erklärt (I, 18, 81 b 6: 1:&v yO.Q xaß-' exacrtoov ~ a'Lofrr}m~). Die Erfassung von einzelnem durch die Aisthesis gilt also gegenüber der epistemischen, univ·ersellen Erkenntnis der Gründe und Ursachen als Einschränkung. Doch bei näherer Betrachtung erweist sich dieses Erfassen auch als eine notwendige Funktion, die zum Logisch-Epistemischen komplementär ist, weil sie genau dort zum Zuge kommt, wo das "Logisch-Epistemische" an seine Grenzen stößt. Denn dieses ist diskursiv strukturiert; es kommt dadurch zustande, daß in ihm durch den Logos eine Verbindung (