Die Entzauberung des kritischen Geistes: Intellektuelle und Politik in Lateinamerika [1. Aufl.] 9783839402207

In kaum einer anderen Weltregion wird den Intellektuellen - den Wissenschaftlern, Schriftstellern und Künstlern - so vie

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German Pages 240 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Intellektuelle und Politik in Lateinamerika. Kurze Einführung zu einer grundlegenden Ambivalenz
Die Intellektuellen und der Übergang zur Demokratie. Von der Nonkonformität als Beruf zur politischen Verantwortung
Die unglückselige Subjektivität der guatemaltekischen Intellektuellen
Einige Hypothesen zur Beziehung zwischen den Intellektuellen und der Politik in Venezuela
Die Intellektuellen und die Politik in Kolumbien
Von der zentralen Rolle des Proletariats zur Regierbarkeit des politischen Systems. Anmerkungen zu den Intellektuellen und der Politik in Bolivien
Die politischen Intellektuellen in Chile: Führung im ständigen Zwiespalt
Intellektuelle und Politik in Argentinien. Anmerkungen zu einer schwierigen Beziehung
Linksintellektuelle, Politik und demokratische Wende in Argentinien und Brasilien
Die lateinamerikanischen Intellektuellen – gestern und heute
Autorenverzeichnis
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Die Entzauberung des kritischen Geistes: Intellektuelle und Politik in Lateinamerika [1. Aufl.]
 9783839402207

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Wilhelm Hofmeister/H.C.F. Mansilla (Hg.) Die Entzauberung des kritischen Geistes Intellektuelle und Politik in Lateinamerika

Wilhelm Hofmeister/H.C.F. Mansilla (Hg.)

Die Entzauberung des kritischen Geistes Intellektuelle und Politik in Lateinamerika

Die Veröffentlichung des Werkes wurde durch die Konrad-Adenauer-Stiftung gefördert.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2004 transcript Verlag, Bielefeld Innenlayout und Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Übersetzung: Siegliende Oehrlein (aus dem Spanischen), Roland Körber (aus dem Portugiesischen) Satz: more! than words, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-220-1

Inhalt Wilhelm Hofmeister Einleitung ...................................................................................................

7

H.C.F. Mansilla Intellektuelle und Politik in Lateinamerika. Kurze Einführung zu einer grundlegenden Ambivalenz ...........................

13

Rogelio Hernández Rodríguez Die Intellektuellen und der Übergang zur Demokratie. Von der Nonkonformität als Beruf zur politischen Verantwortung ...........

39

Edmundo Urrutia Die unglückselige Subjektivität der guatemaltekischen Intellektuellen .....

69

Alfredo Ramos Jiménez Einige Hypothesen zur Beziehung zwischen den Intellektuellen und der Politik in Venezuela ......................................................................

97

Fernando Uricoechea Corena Die Intellektuellen und die Politik in Kolumbien ......................................

117

Omar Chávez Zamorano Von der zentralen Rolle des Proletariats zur Regierbarkeit des politischen Systems. Anmerkungen zu den Intellektuellen und der Politik in Bolivien .........................................................................

131

Alfredo Jocelyn-Holt Letelier Die politischen Intellektuellen in Chile: Führung im ständigen Zwiespalt ............................................................... 159 Hugo Quiroga Intellektuelle und Politik in Argentinien. Anmerkungen zu einer schwierigen Beziehung ........................................ 185 Stefan Hollensteiner Linksintellektuelle, Politik und demokratische Wende in Argentinien und Brasilien ..................................................................... 207 Maria Susana Arrosa Soares Die lateinamerikanischen Intellektuellen – gestern und heute ................. 229 Autorenverzeichnis .................................................................................... 241

Einleitung | 7

Einleitung Wilhelm Hofmeister Intellektuelle und Politik haben zuweilen ein schwieriges Verhältnis zueinander. Die Intellektuellen betreiben die Interpretation der Realität bzw. die symbolische Ordnung der Dinge. Sie sprechen in der Regel im Namen allgemeinverbindlicher Werte und sind als »Wissenshalter« und »Wissensvermittler« einer Gesellschaft daran beteiligt, das Verhalten der Mitglieder einer Gesellschaft gemäß kultureller Normen und Werte zu orientieren und Ziele und Zwecke gesellschaftlicher Entwicklung zu bestimmen. Intellektuelle haben insofern eine politische Funktion; denn die Politik dreht sich darum, das Zusammenleben in einer Gesellschaft zu organisieren. Intellektuelle mischen sich ein. Seit dem offenen Brief von Emile Zola in der Dreyfuss-Affäre an den französischen Staatspräsidenten – »J’accuse« – und dem »Manifest des Intellectuels« vom 14. Januar 1898 wird den Intellektuellen die Funktion zugeschrieben, ewige, universelle und interessenfreie Werte wie Gerechtigkeit, Wahrheit und Vernunft zu verteidigen. In der Tat haben sich Intellektuelle zumindest in der Moderne schon immer für diese Werte eingesetzt – die Aufklärung selbst, die den »modernen« Anschauungen über die Gesellschaft, individuelle Selbstbestimmung und politische Demokratie zum Durchbruch verhalf, ist letztlich das Werk von Intellektuellen. Andererseits zeigte aber die Erfahrung, dass Intellektuelle ihr Wissen auch immer schon zugunsten von exklusiven und partikularen National-, Volks-, Rassen- oder Klasseninteressen eingesetzt haben. Besonders dann, wenn Intellektuelle in die Nähe der politischen Macht rücken, kann es schnell geschehen, dass neben die Verpflichtung auf Wahrheit und Vernunft auch politische Interessen treten und der herrschaftsfreie Diskurs von den politischen Sachzwängen beeinflusst, manchmal vielleicht sogar ersetzt wird. Gerade wenn Intellektuelle politisch wirken wollen, sind sie diesem Spannungsverhältnis zwischen Diskurs und Sachzwängen, zwischen Geist und Politik ausgesetzt. Wie die Intellektuellen in Lateinamerika mit diesem Spannungsverhältnis umgehen, welche Rolle sie in den politischen Transformationsprozessen der letzten Jahre gespielt haben, wie sie sich den neuen Verhältnissen angepasst haben oder diese Verhältnisse selbst mitgestalteten, ist Gegenstand des vorliegenden Buches. In kaum einer anderen Weltregion wird den Intellektuellen, den Wissenschaftlern, Schriftstellern und Künstlern, so viel Einfluss auf Politik und Gesellschaft zugesprochen, wie in Lateinamerika. Angesichts der traditionellen Schwäche politischer Institutionen bei der Wahrnehmung ihrer Mittlerrolle zwischen Staat und Gesellschaft haben Intellektuelle seit der Kolonialzeit eine maßgebliche Rolle bei der Entstehung und Verbreitung gesellschaftlich relevanter Ideen und Symbole gespielt. Die Intellektuellen konnten nicht zuletzt deshalb eine so zentrale Rolle in Gesellschaft und Politik einnehmen, weil bis in die jüngere Zeit die Gesellschaften noch sehr stark durch eine kleine gebildete Minderheit und eine große illiterate Masse geprägt waren und Rhetorik und Personalismus einen großen Einfluss auf den politischen Stil ausübten. Das hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich geändert. Wenn die Intellektuellen heute in einzelnen Ländern offensichtlich an Einfluss eingebüßt haben oder besser: sie heute nicht mehr so exponiert zu Wort kommen und

8 | Wilhelm Hofmeister gehört werden, wie das die Beiträge dieses Buches zeigen, dann mag das möglicherweise auch damit zusammenhängen, dass trotz aller politischen und sozialen Probleme in den Ländern Lateinamerikas die Institutionen heute etwas gefestigter sind und der allgemeine Bildungsstand erheblich zugenommen hat. So mag es heute zwar nicht mehr Intellektuelle geben als früher, dafür aber viel mehr Technokraten und »Experten«, die sich mit fachlicher Kompetenz und Wissenschaftlichkeit zu den gesellschaftlich relevanten Fragen äußern. Darunter leidet natürlich die Wahrnehmung der Intellektuellen. Gleichwohl dürften weiterhin in keiner anderen Region der Erde, Intellektuelle und Künstler beispielsweise so viel Raum in Zeitungen für politische Meinungsäußerungen erhalten wie in Lateinamerika. Gleichwohl muss man konstatieren: Der demokratische Prozess hat die Intellektuellen entzaubert. Zuletzt war dieses Phänomen in Brasilien zu beobachten. 1996 wurde dort der Intellektuelle Fernando Henrique Cardoso, seit den 1960er Jahren als kritischer Soziologe international bekannt, zum Staatspräsidenten gewählt und seine Wahl ist in den brasilianischen Meinungsmedien und bei vielen (Links-)Intellektuellen weltweit begrüßt worden. Während seiner achtjährigen Amtszeit hat Cardoso das Image des Intellektuellen vor allem im Rahmen seiner internationalen Auftritte auch zelebriert. Doch die Reputation in der Welt hat im Lande selbst unter dem Parteienstreit, der Suche nach Mehrheiten, den Verhandlungen, Kompromissen und politischen Kuhhändeln, den unbefriedigten Erwartungen und alltäglichen Problemen gelitten. Dem brillanten Intellektuellen Cardoso folgte der Arbeiter und Gewerkschaftsführer Lula da Silva auf den Präsidentenstuhl, der nur eine rudimentäre formale Schulbildung nachweisen kann und keineswegs so weltläufig und sprachgewandt ist wie sein Vorgänger. Dennoch weist alles darauf hin, dass auch er eine gute Regierungsarbeit leisten wird. Intellektuelle, so zeigt dieses Beispiel, können gute Politiker sein – doch weder besteht die Garantie, dass Intellektuelle tatsächlich »gute« Politiker sind, noch muss ein »guter« Politiker in seinem Vorleben ein Intellektueller gewesen sein. Was das Verhältnis zur Politik angeht, scheint es so, dass auch Intellektuelle der Anziehungskraft der politischen Macht häufig nicht widerstehen können. Das ist zumindest eine der Schlussfolgerungen aus der Lektüre der Beiträge dieses Buches, in dem – dies eine wichtige Einschränkung – insbesondere von Intellektuellen aus den Sozialwissenschaften die Rede ist. Gleich zu Beginn betont H.C.F. Mansilla im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Intellektuellen und Politik in Lateinamerika einige Ambilvalenzen, darunter zu allererst diejenige zwischen dem Streben nach Autonomie des Denkens und nach eigenständiger Schöpfung einerseits sowie der Übernahme von Ideen, Theorien und Richtlinien aus der nördlichen Hemisphäre andererseits. Mansilla geißelt eine »pervertierte Beziehung« der Intellektuellen zur Macht, ihr Streben dazu zu gehören, während doch bei Lichte besehen in vielen Fällen ihr Einfluss gar nicht so entscheidend gewesen sei. Vielmehr hätten sich die Intellektuellen von den verschiedenen Regimen rasch kooptieren lassen und sich zu »rituellen Garanten der Legitimierung der Macht« verwandelt: »ihr Hochmut hinderte sie daran, die Komplexität und Vielschichtigkeit der Realität zu erkennen und förderte eher den extremistischen äußerst gefährlichen politischen Voluntarismus.« Trotz dieser Kritik würdigt Mansilla jedoch

Einleitung | 9 insgesamt den Beitrag der Intellektuellen zur Schaffung der kollektiven Identitäten und er unterstreicht den Bedarf an Intellektuellen und dem Vorhandensein eines kritischen, unabhängigen Geistes. Rogelio Hernández sieht Lateinamerika in den letzten Jahrzehnten als eine Art Labor, in dem man die verschiedenen politischen und ideologischen Positionen sehr gut studieren könne, die Intellektuellen gegenüber kritischen Situationen einnahmen. Er vergleicht lateinamerikanische Intellektuelle mit denen Osteuropas. Einerseits, so stellt er fest, haben viele der so genannten Linksintellektuellen Lateinamerikas dem marxistischen Denken sehr unkritisch gegenüber gestanden, während die Intellektuellen Osteuropas sehr stark unter den Regimen des real existierenden Sozialismus litten, den man in Lateinamerika gelegentlich idealisierte. Andererseits aber sei das Ergebnis der Anstrengungen der Intellektuellen im Rahmen der demokratischen Transformationsprozesse ähnlich frustrierend: hier wie dort mussten die Intellektuellen erkennen, dass das politisch Wünschenswerte nur sehr schwer mit den Möglichkeiten und der Realität in Einklang zu bringen ist. Dass diese Realität zumindest in den Zeiten der diktatorischen Regime sehr brutal mit Intellektuellen umgesprungen ist, beschreibt Edmundo Urrutia am Fall Guatemalas. In diesem zentralamerikanischen Land hatten die Intellektuellen sozusagen an zwei Fronten zu kämpfen. Zum einen gegen die Willkür und Repression der autoritären Regimes; viele Intellektuelle konnten nur durch die Flucht ins Exil der Verfolgung und Ermordung entgehen. Zum anderen fand innerhalb der intellektuellen Zirkel – sofern das Regime Freiräume ließ – über mehrere Jahrzehnte hinweg eine sehr heftige Kontroverse über Gesellschaftsentwürfe und politische Strategien zu ihrer Verwirklichung statt. Erst mit dem Demokratiesierungsprozess ab Mitte der 1980er Jahre öffneten sich Freiräume für eine Debatte, ohne dass die Intellektuellen gleich um Leib und Leben fürchten mussten. Manche Intellektuelle wurden eingeladen, sich an Regierungen zu beteiligen – und sahen sich dann sofort dem Vorwurf gegenüber, von der Macht kooptiert zu werden. Doch sollen sich Intellektuelle wegen dieses – häufig zu hörenden – Vorwurfs ganz aus der Politik heraushalten? Für die Politik kann das recht problematisch sein. In Venezuela beispielsweise stellt Alfredo Ramos Jimenez einen Rückzug der Intellektuellen und eine Ent-Ideologisierung der Politik fest, die möglicherweise zur Schwächung der politischen Institutionen und zu der komplizierten politischen Situation des Landes beigetragen haben. Bemerkenswert ist, dass sich der populistische Präsident Chávez und seine Bewegung nie veranlasst sahen, die angestrebten Veränderungen in Gesellschaft und Politik sozusagen mit einem ideologischen Projekt zu unterfüttern. Andererseits steht wohl die große Mehrheit der Intellektuellen, zusammen mit den Medien und der Opposition, dem Regime kritisch bis ablehnend gegenüber, ohne dass dies die Herrschaft des Präsidenten bisher erschüttert hätte. In Kolumbien ist es nach Ansicht von Fernando Uricoechea weniger politische Abstinenz als die Tradition der Staatsnähe, die die Einstellung der Intellektuellen lange Zeit kennzeichnete. Für diesen Autor bedeutete die »Geburt« des amerikanischen Intellektuellen in keiner Weise einen Bruch mit der Vergangenheit, sondern die institutionelle Fortsetzung und geographische Ausweitung dieser Vergangenheit. Der Intellektuelle erfüllte von alters her eine grundlegend konservative und ordnen-

10 | Wilhelm Hofmeister de Funktion, indem er in ideologischer Hinsicht daran mitwirkte, die Verpflanzung der Institutionen der alten Ordnung des spanischen Imperiums auf amerikanischen Boden zu befördern. An die Stelle der ursprünglichen und wesensmäßigen Spannung zwischen dem Intellektuellen und der Macht, die für den europäischen Kontext charakteristisch ist, trat hier eine Solidarität zwischen den beiden Seiten. Während das Erscheinen des europäischen Intellektuellen mit der Aufklärung und der Infragestellung der aristokratischen und hierarchischen Ordnung verbunden ist, die Königtum und Papsttum zu eigen sind, wurde der lateinamerikanische Intellektuelle zum Verteidiger der Gegenreformation und der monarchischen Autorität. Diese Merkmale bestimmten den kolumbianischen Intellektuellen noch heute und führten dazu, dass sich das kritische Denken in Kolumbien erst spät entfalten konnte. Völlig anders gelagert scheint dagegen der Fall Boliviens zu sein, wo die vom Marxismus-Leninismus beeinflussten revolutionären Intellektuellen nicht nur relativ früh die soziale Frage entdeckten, sondern sich, wie Omar Chávez Zamorano behauptet, erkenntnistheoretisch den sozialen Bewegungen unterwarfen und der Bergarbeiterbewegung eine größere Kapazität zum Erkennen der gesellschaftlichen Realität und ihrer Veränderung zuerkannten. Folge war das Ende der engen Beziehung zwischen Ideen und Politik, zwischen Intellektuellen und Politik und zwischen Intellektuellen und Parteien, so dass Intellektuelle in Bolivien heute weder populär sind, noch eine entsprechende gesellschaftliche Anerkennung erfahren. Da kein gesellschaftlicher Sektor den Intellektuellen eine größere Bedeutung beimesse, hätten diese keine Möglichkeit, Einfluss auf die öffentliche Meinung, die Regierenden oder die Politik auszuüben. Deshalb hätten sie auch kein solides Bewusstsein ihrer Bedeutung für die Gesellschaft und kein echtes soziales Verantwortungsgefühl dieser Gesellschaft gegenüber entwickelt. Für Chile zeichnet sich dagegen wiederum ein völlig anderes Bild. Dieses Land ist bekannt für die Intellektualisierung der Politik, d.h. die maßgebliche Beteiligung von Intellektuellen an der Politik. Alfredo Jocelyn-Holt betrachtet dies jedoch aus einer etwas kritischen Perspektive, indem er die Widersprüchlichkeit der Intellektuellen und ihrer Rolle, ihre »Gier nach Macht und ihrer Manipulation« sehr stark betont. Mit der wachsenden Macht der Intellektuellen ginge eine Entwicklung des Anti-Intellektualismus und politischer Annäherungsversuche einher. Hugo Quiroga jedoch beklagt im Falle Argentiniens das Fehlen von Intellektuellen in der gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Krise. Die Darstellung der Krise und ihrer Merkmale sowie die Interpretation der gegenwärtigen Probleme würden von Journalisten übernommen und nicht so sehr von Intellektuellen und noch viel weniger von den politischen Parteien. Aufgabe des Intellektuellen, den es derzeit nicht gäbe, wäre es, der »gegenwärtigen Erfahrung der Verunsicherung, der Haltlosigkeit und des fast völligen Verstummens« Ausdruck zu verleihen. Es gehe darum, den Weg zur Neuerschaffung der demokratischen Gesellschaft und den Reformen ihrer Unvollkommenheiten mit verständlichen Ideen zu begleiten. Quiroga sieht eine Verantwortung der Intellektuellen und der Politiker darin, eine neue Beziehungen zwischen den »Männern der Ideen« und der Demokratie in einer globalisierten, von Ungerechtigkeiten gespaltenen Welt aufzubauen. In Brasilien ist dieses Verhältnis zwischen Geist und Politik, symbolisiert in der

Einleitung | 11 Präsidentschaft von Fernando Henrique Cardoso, möglicherweise schon etwas weiter gediehen. Das ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass die sozialwissenschaftlichen Linksintellektuellen in Argentinien und Brasilien auf den Autoritarismus und den demokratischen Wandel in unterschiedlicher Weise reagiert haben. Stefan Hollensteiner veranschaulicht diese Unterschiede in seiner vergleichenden Analyse. In allgemeinerer Form diskutiert auch Susana Arrosa de Souza Suarez noch einmal die Veränderungen im Verhalten vieler lateinamerikanischer Intellektueller. Vor mehr als zehn Jahren hatte sie in Porto Alegre eine Konferenz mit Intellektuellen über die Rolle der Intellektuellen in der Politik organisiert. Jetzt fragt sie, was sich seither verändert hat. Viele lateinamerikanische Intellektuelle haben in den letzten Jahren mit der Wende zur Demokratie in einzelnen Ländern wichtige Regierungsfunktionen übernommen. Manche haben sich zu »Experten« gewandelt, mit den Technokraten vereint und wurden schließlich zu Propheten des Endes der Utopien. Susana Arrosa de Souza Suarez verweist jedoch darauf, dass ohne die Intellektuellen, oder nur mit »reformierten« Intellektuellen, die Utopie verschwinden kann. Utopie versteht sie nicht nur als Vision einer zukünftigen Gesellschaft, sondern als eine andere Art die Dinge zu sehen, die uns vielleicht eine klarere Sicht auf die Realtität und ihre Möglichkeiten erlaubt. Es ist Aufgabe der Intellektuellen, wie diese Autorin betont, zu verhindern, dass nur die Experten für uns entscheiden. Freiräume sind für den Bürger offen zu halten, die Mitwirkung und Mitentscheidung in der Politik gestatten. Deshalb haben die Intellektuellen nach wie vor die wichtige Funktion der Kritik, des Widerspruchs und der Kontrolle. Ihr Glanz ist heute im Kontext der demokratischen »Normalisierung« etwas verblasst und ihr Einfluss auf Politik und Öffentlichkeit hat sich etwas relativiert, zudem haben sich die Unterschiede zwischen einzelnen Ländern eher noch vertieft. Für das Funktionieren und die Entwicklung der demokratischen Ordnungen bleiben die Intellektuellen in Lateinamerika freilich unverzichtbar. Dieses Buch ist entstanden aus einer Konferenz über Intellektuelle und Politik in Lateinamerika, die die Konrad-Adenauer-Stiftung im Jahr 2002 in Rio de Janeiro veranstaltet hat. Bei der Redaktion und Druckvorbereitung der einzelnen Aufsätze haben Kerstin Uebel und Jens Giersdorf maßgeblich mitgeholfen; ihnen sei dafür herzlich gedankt.

Intellektuelle und Politik in Lateinamerika | 13

Intellektuelle und Politik in Lateinamerika. Kurze Einführung zu einer grundlegenden Ambivalenz H.C.F. Mansilla

Vorbemerkungen Es ist relativ einfach, sich einen Intellektuellen vorzustellen, aber den Begriff des Intellektuellen zu definieren und ihn einer bestimmten Gruppe zuzuordnen, ist weit schwieriger.1 Zu der Gruppe der »Intellektuellen« kann man Spezialisten für technisch-organisatorische Aufgaben in der öffentlichen Verwaltung, der Wirtschaft und der Geschäftsführung generell zählen, ebenso Fachleute für Analysen der politischen Konjunktur, Zukunftsforscher und Planungsexperten, Universitätsprofessoren sowie Journalisten und herausragende Vertreter der Massenmedien.2 Üblicherweise meint man mit diesem Begriff jedoch die »unabhängigen« Schöpfer von geistigen Werten im engeren Sinne, die Schöpfer von Sinn und Inhalten, die sich die neuesten Erkenntnisse der internationalen kulturellen Gemeinschaft insgesamt sowie der Sozialwissenschaften im Besonderen zunutze machen. Hierbei trifft man bereits auf eine der wesentlichen Ambivalenzen, die unter den lateinamerikanischen Intellektuellen festzustellen ist: das Streben nach Autonomie des Denkens und nach eigenständiger Schöpfung einerseits sowie die Übernahme von Ideen, Theorien und Richtlinien aus den weiter entwickelten Ländern des Nordens andererseits. Auf alle Fälle kann man sagen, dass es in Lateinamerika in erster Linie die Intellektuellen waren, die den Weg bereitet haben für die gelungene Einführung und Übertragung von in Westeuropa und den Vereinigten Staaten entstandenen Normen, die später von den Massenmedien und dem Schulsystem popularisiert wurden. Die alte Frage nach dem Schicksal und der Berufung der Gesellschaften der Neuen Welt hat in Lateinamerika eine lange Tradition; sie ist tief verwurzelt bei den großen Essayisten, die sich den klassisch gewordenen Fragen nach der kollektiven Identität der lateinamerikanischen Nationen, den angemessenen Modellen der sozialen Ordnung, den komplexen Bindungen an die hochentwickelten Länder und der Zukunft der Region zugewandt haben. Diese Forschungen, die Mitte des 19. Jahrhunderts begannen, waren häufig sehr schwierig, bisweilen sogar schmerzhaft, und haben zu einigen der bemerkenswertesten und umstrittensten Kapitel der lateinamerikanischen Kultur beigetragen.3 Die Autoren der politisch-historischen Essays 1 Siehe: BLANCHOT, Maurice: Les intellectuels en question, Ebauche d’une reflexion, Paris, 1996, ein Werk, das in Lateinamerika gewissen Einfluss hatte. 2 BRUNNER, José Joaquín: Intelectuales y democracia. América Latina, cultura y modernidad, Mexiko, 1992, S. 182. 3 Siehe MARICHAL, Juan: Cuatro fases de la historia intelectual latinoamericana, Madrid, 1978; PINEDO, Javier: »Identidad y método: aproximaciones a la historia de las ideas en América Latina«, in: TRONCOSO, Hugo CANCINO/Susanne KLENGEL/Nanci LEONZO

14 | H.C.F. Mansilla verkörperten bis ungefähr 1960 einen menschlich-professionellen Typus, den man als den Intellektuellen an sich betrachtete.4 Der Essay, ein schwer einzuordnendes, nicht fest umrissenes Genre, das auf immer neues Terrain vordringt, erlaubt eine Betrachtung der behandelten Themen unter dem Blickwinkel verschiedenster Disziplinen, womit extreme Gelehrsamkeit ebenso vermieden wird wie Dilettantismus. Es hat ebenso Anteil an der Aura einer erlesenen Ästhetik, wie sie die Literatur umgibt, wie auch am Prestige, das die Sozialwissenschaften gegenwärtig genießen. Lange Zeit hindurch war der Essay der kreativste und bekannteste Bereich der intellektuellen Betätigung in Lateinamerika; eines seiner wichtigsten (und fruchtbarsten) Themen waren die zwiespältigen und komplexen Beziehungen zwischen den theoretischen Ansprüchen der modern gesinnten Eliten und den bescheidenen Ergebnissen der alltäglichen politischen Praxis. Die Geschichte und die Funktionen der Intellektuellen waren in den großen geographisch-kulturellen Räumen der Erde zudem sehr unterschiedlich, so dass allgemeine Aussagen über diese soziale Gruppe häufig auf nicht zu überwindende Hindernisse stoßen. In der Neuen Welt bestand von Beginn an ein grundlegender Unterschied zwischen dem lateinamerikanischen und dem angelsächsischen Kulturkreis hinsichtlich des Selbstbewusstseins der Intellektuellen und ihrem öffentlichen Ansehen. Die strengere Trennung zwischen den Rollen in den Vereinigten Staaten und in Kanada, der größere Unterschied zwischen den geistigen und politischen Tätigkeiten und das geringere öffentliche Ansehen, das man den »Gelehrten« im Allgemeinen entgegenbringt, führten dazu, dass die Intellektuellen in den nördlichen Ländern nicht die bevorzugten Schöpfer von Sinn und Inhalten wurden, keinen entscheidenden Einfluss auf das ethische Bewusstsein der Gesellschaft ausübten und sich häufig mit Spezialaufgaben im akademischen oder universitären Bereich zufriedengaben. Mit Beginn der 60er Jahre vollzieht sich in den lateinamerikanischen Gesellschaften eine langsame aber unaufhaltsame Annäherung ihrer kulturellen Welt an die entsprechenden Parameter Nordamerikas. Die klassischen hommes de lettres – Schöpfer von geistigen Werken, Lehrmeister ex cathedra, Kritiker und Vermittler in einer Person – werden in zunehmendem Maße von Universitätsabsolventen mit immer stärker spezialisiertem Fachwissen ersetzt, die aber nicht mehr den Glanz der großen Universalisten der Vergangenheit besitzen. Dies gilt ebenso für die revolutionären, linksgerichteten Intellektuellen.5 Außerdem muss man berücksichtigen, dass die Zeiten seit ungefähr 1980 für die traditionellen Intellektuellen der Linken nicht günstig waren; sie trafen nicht nur Vorhersagen, die sich nicht erfüllen sollten, (Hrsg.): Nuevas perspectivas teóricas y metodológicas de la historia intelectual de América Latina, Frankfurt/Madrid, 1999, S. 15-34. 4 Zu diesem Thema sind die folgenden Werke weiterhin von Bedeutung: MEAD, Robert G.: Breve historia del ensayo hispanoamericano, Mexiko, 1956; STABB, Martin S.: América Latina en busca de una identidad. Modelos del ensayo ideológico hispanoamericano 18901960, Caracas, 1969; RIPOLL, Carlos: Consciencia intelectual de América. Antología del ensayo hispanoamericano, New York, 1970. 5 Cf. LÖWI, Michel: Para una sociología de los intelectuales revolucionarios, México, 1978; OLTRA, Benjamín: Una sociología de los intelectuales, Barcelona, 1978.

Intellektuelle und Politik in Lateinamerika | 15 sondern schufen auch selbst eine Athmosphäre, die Dogmatismus und falschen Illusionen den Boden bereitete.6 Es genügt hier, darauf hinzuweisen, dass die Intellektuellen der radikalen Linken in Chile, die einen Hang zu apokalyptischen Ahnungen hatten, möglicherweise mit zum Scheitern der Regierung von Salvador Allende (1970-1973) und damit zur Errichtung einer Militärdiktatur beigetragen haben.7 Es gibt keine mehr oder weniger vollständige und zuverlässige Geschichte der Intellektuellen oder eine Geschichte ihrer Verbindung zur Politik im Besonderen.8 Natürlich liegen Veröffentlichungen über die Ideen-Geschichte in Lateinamerika9 vor, aber es fehlt noch immer eine differenzierte politisch-soziologische Untersuchung über die Intellektuellen, die ihre tieferen Motive, die Werte, an denen sie sich tatsächlich orientieren, und die Normen, auf die sie in ihrem praktischen Verhalten in der Öffentlichkeit zurückgreifen, analysieren würde. Es gibt dagegen viele interessante Arbeiten, die Teilaspekte dieser umfassenden Problematik behandeln.10 Diese 6

Schon sehr früh hat Raymond Aron die vielfältigen Auswirkungen dieser Situation erkannt und er war einer der ersten und einflussreichsten Kritiker. Siehe ARON, Raymond: L’opium des intellectuels, París, 1955. Siehe auch BAVEREZ, Nicolas: Raymond Aron. Un moraliste au temps des idéologies, Paris, 1993. 7 BRUNNER, José Joaquín [Diskussionsbeitrag], in: ARROSA SOARES, Maria Susana (Hrsg.): Os intelectuais nos processos políticos da América Latina, Porto Alegre, 1985, S. 62 ff. – Wie Brunner schildert, diskutierten die linken Intellektuellen damals, in welcher Etappe sich das sozialistische Chile im Vergleich mit der klassischen Geschichte des Sozialismus in Europa befand; über die konkreten Hindernisse für den Sozialismus (wie die Situation innerhalb der Streitkräfte) machten sich die Intellektuellen weniger Gedanken; ihre Überlegungen konzentrierten sich vor allem auf die unmittelbare Einführung des Sozialismus und nicht auf die komplizierten Aspekte der Demokratie. 8 Für den Fall Europas siehe auch die interessante kommentierte Bibliographie: HÜBINGER, Gangolf: »Die europäischen Intellektuellen 1890-1930«, in: Neue Politische Literatur, Bd. 35, 1994, Nr. 1, S. 34-54. 9 JORRIN, Miguel/John D. MARTZ: Latin American Political Thought and Ideology, 1970; QUESADA, Francisco Miró/Leopoldo ZEA (Hrsg.): La historia de las ideas en América Latina, Tunja, 1975; ZEA, Leopoldo: Filosofía de la historia americana, Mexiko, 1978; ROIG, Arturo A.: Historia de las ideas, teoría del discurso y pensamiento latinoamericano, Santafé de Bogotá, 1993; GULDBERG, Horacio Cerutti: Hacia una metodología de la historia de las ideas (filosóficas) en América Latina, Mexiko 1997; TRONCOSO et al.: Ideas, cultura e historia en la creación intelectual latinoamericana, siglos XIX y XX, Quito, 1998. – Viel wertvolle Information findet sich in dem vierbändigen Werk: STOETZER, O. Carlos: Iberoamérica. Historia política y cultural, Buenos Aires, 1996-98. 10 Siehe Los intelectuales políticos, Buenos Aires: Nueva Visión 1971; BRUNNER, José Joaquín/Angel FLISFISCH: Los intelectuales y las instituciones de la cultura, Santiago de Chile, 1983; MICELI, Sérgio: Intelectuais e classe dirigente no Brasil, Sâo Paulo/Rio de Janeiro, 1979; ARDAO, Arturo: Etapas de la inteligencia uruguaya, Montevideo, 1971; CAMP, Roderic A.: Intellectuals and the State in Twentieth-Century Mexico, Austin, 1985; CRISTOFFANINI, Pablo R.: »Esencial o híbrida? La cuestión de la cultura nacional en México«, in: TRONCOSO, Cancino et al. (Hrsg.), op. cit. (Anm. 3), S. 95-122.

16 | H.C.F. Mansilla Studien, die mit den Jahren eindeutig immer präziser und aufschlussreicher wurden, tragen dazu bei, eine Thematik zu beleuchten, die zum Verständnis des politischen Szenariums der Neuen Welt von größter Bedeutung ist.

Die Intellektuellen in Lateinamerika Bereits vor der Unabhängigkeit der Länder Lateinamerikas gab es eine ganze Reihe mehr oder weniger wichtiger Gelehrter, die sich den Erziehungsaufgaben, der Verwaltung und der Christianisierung widmeten, Gelehrte, die den Intellektuellen von heute ähnlich waren: sie dachten systematisch, schrieben ziemlich eifrig und verfassten gelegentlich Werke philosophischen und sozialkritischen Inhalts. Ihre Bildung war im Allgemeinen beachtlich. Es waren Personen, die zumeist irgendeine Art universitärer Studien absolviert hatten und eine soziale Schicht mit ungenauen Grenzen und unbestimmten Rollen innerhalb der Kolonialgesellschaft bildeten. Dies sollte sich auch im ersten Jahrhundert des Bestehens der jungen Republiken nicht ändern. Vor dem Jahr 1960 bestanden kaum Zweifel an dem »Wesen« und den Funktionen der Intellektuellen: es war klar, dass sie eine Art historischer Verpflichtung gegenüber der »Wahrheit« (Erinnerungen an die Affäre Dreyfuss und ähnliche Fälle) hatten, dass sie abstrakte, fast absolute normative Werte vertraten wie Wahrheit, Gerechtigkeit und Demokratie und dass sie sich nicht damit zufriedengaben, Werte von beschränkter Gültigkeit und begrenzter Bedeutung zu propagieren. In ihrer Selbsteinschätzung und in den Augen der Öffentlichkeit standen sie oft jenseits der gängigen Vorstellungen von Gut und Böse; sie sahen sich selbst als Personen, die das Privileg besaßen, sich am Rande der Widersprüche und Konflikte ihrer Umgebung zu bewegen, ohne ihrerseits von ihrer Position oder ihrer sozialen Herkunft bestimmt zu werden, und so wurde ihre Position auch von den anderen eingeschätzt. Daher existierten bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein keine ernsthaften kritischen wissenschaftlichen oder politischen Untersuchungen, die die Rolle der Intellektuellen in Frage stellten. Die »Ent-Heiligung« der Person des Intellektuellen und die Desillusionierung angesichts seiner Rolle sind, wie Maria Susana Arrosa Soares sagt, Prozesse der jüngsten Vergangenheit, die ihrerseits zu Zwistigkeiten über ihre Identität innerhalb der eigenen »Zunft« geführt haben.11 Bis in die 1970er Jahre hinein konnte man von umfassenden und vielschichtigen Funktionen der lateinamerikanischen Intellektuellen sprechen; sie waren sowohl politische Denker, Schriftsteller und Diplomaten wie auch Gründer und Anführer von Parteien, Schöpfer von Ideologien und Kritiker der kollektiven Träume der Gesellschaft. In diesem Zusammenhang möchte ich nur den seinerzeit beträchtlichen Einfluss von Lucas Alamán, Bartolomé Mitre, Domingo Faustino Sarmiento, José Vasconcelos, Rómulo Gallegos, Arturo Uslar Pietri, Mario Vargas Llosa und vielen anderen Intel11 ARROSA SOARES, Maria Susana: »Apresentação«, in: ARROSA SOARES, M.S. (Hrsg.), op. cit. (Anm. 7), S. 8. – Diese Zusammenstellung von zumeist hervorragenden Essays ist eine Pionierarbeit im Bereich der politischen Soziologie der Intellektuellen und der mit ihnen verwandten Gruppen.

Intellektuelle und Politik in Lateinamerika | 17 lektuellen in fast allen Ländern Lateinamerikas erwähnen.12 Bis vor wenigen Jahrzehnten war es üblich und sogar ein Anlass des Stolzes für das jeweilige Land, berühmte Dichter und Literaten mit konsularischen oder diplomatischen Posten zu betrauen; Miguel Angel Asturias, Pablo Neruda, Alcides Arguedas, Octavio Paz, Carlos Fuentes und Jorge Edwards sind einige der bekanntesten Beispiele. Dies gibt es heute kaum noch. Die gegenwärtigen Regierungen können auf diese Art von Intellektuellen verzichten, denn selbst gesellschaftlicher Glanz und öffentliches Ansehen werden heute mit anderen, eher materiellen und weniger geistigen Parametern assoziiert. Diese Gruppen unterhielten eine ambivalente und instabile, manchmal jedoch auch sehr enge Beziehung zur politischen Macht. Sie stellten möglicherweise eine »untergeordnete, beherrschte Gruppe« innerhalb der »herrschenden Klasse« dar.13 Es waren Dilettanten, die als bevorzugte Schöpfer von Sinn und Inhalten auftraten, zumeist außerhalb des akademischen und universitären Bereichs; unabhängig von ihren gegebenenfalls linksorientierten ideologisch-politischen Präferenzen gehörten sie den höheren sozialen Schichten an, wenngleich möglicherweise den bereits problematischen Randgruppen dieser Schichten. In dem relativ gut dokumentierten Fall Chiles kann man feststellen, dass der Präsidentialismus des bis 1973 herrschenden Regimes zu einer klaren Intellektualisierung der Politik führte. Den Intellektuellen gelang es, »entscheidenden Einfluss« sowohl im parteiinternen Leben wie auch bei der Definition der großen politischen Projekte auszuüben.14 In vielen Ländern Lateinamerikas glaubte man, dass die tiefgreifende Reform des Staates und der Gesellschaft, wie sie von verschiedenen Seiten propagiert wurde, von den Intellektuellen angeregt und verwirklicht worden sei: man glaubte, die Denker seien nicht nur privilegierte Staatsbeamte, sondern auch die höchsten Richter der Politik. Dieser Idee lag die Annahme zugrunde, dass die Gesellschaft etwas ständig Veränderbares, Durchlässiges und von Planern und Experten Formbares sei, wobei die Traditionen und die gesetzlich-administrativen Praktiken wenig Gewicht haben und wo letztlich alles von oben herab und von der Zentrale aus entschieden werden kann. Zu dieser Auffassung, die einem technokratischen Illuminismus jakobinischen Zuschnitts sehr nahe steht, kam es, da es weder eine funktionierende Bürokratie noch eine politische Klasse oder eine gründlich fundierte auf einem soliden beruflichen Niveau beruhende öffentliche Meinung gab, die die tatsächlichen Errungenschaften der Intellektuellen hätte kontrollieren und somit deren Fähigkeiten bei der Manipulation der Dimension des Symbolischen hätte neutralisie12 Siehe einige interessante Aspekte zu dieser Problematik in: FRANCO, Jean: La cultura moderna en América Latina, Mexiko, 1971; MARSAL, Juan F. u.a.: El intelectual latinoamericano, Buenos Aires, 1970. 13 MARQUES DE SAES, Décio Azevedo: »Os intelectuais e suas associaçôes«, in: ARROSA SOARES, Maria Susana (Hrsg.), op. cit. (Anm. 7), S. 179 (einer Argumentation von Pierre Bourdieu folgend). 14 FLISFISCH, Angel: »Algunas hipótesis sobre la relación entre intelectuales y partidos políticos en Chile«, in: ARROSA SOARES, Maria Susana (Hrsg.), op. cit. (Anm. 7), S. 1221.

18 | H.C.F. Mansilla ren können.15 Aus dieser Situation entstand eine »pervertierte Beziehung« der Intellektuellen zur Macht:16 In Wirklichkeit war ihr Einfluss nicht so entscheidend, denn sie wurden ohne Schwierigkeiten von den verschiedenen Regimen aus deren Reihen kooptiert und verwandelten sich in »rituelle Garanten der Legitimierung« der Macht; ihr Hochmut hinderte sie aber daran, die Komplexität und Vielschichtigkeit der Realität zu erkennen und förderte eher den extremistischen äußerst gefährlichen politischen Voluntarismus.17

Die Intellektuellen und der gegenwärtige Prozess der Modernisierung Im Allgemeinen gehört diese Konstellation der Vergangenheit an. Die so genannten wirklichen Intellektuellen, die echten, kompromisslosen Denker mit emanzipatorischen Absichten, die Experten im »Verstehen« der volkstümlichen Schichten, haben zweifellos an Bedeutung verloren.18 In fast allen Bereichen, in denen diese denkenden und schreibenden Intellektuellen agieren, ist es in kurzer Zeit zu einer tiefgreifenden Veränderung gekommen, und nicht nur in dem begrenzten Zirkel, mit dem die berühmtesten Intellektuellen engste, wenn auch sicherlich sehr schwierige Beziehungen unterhielten: der Spitze der politischen Macht. Der klassische universell gebildete Intellektuelle, der gerne den literarischen Essay pflegt und bestens ausgestattet ist mit historischen und theoretischen Kenntnissen enzyklopädischer Art, stirbt zwar noch nicht aus, wird aber immer seltener; an seine Stelle tritt der Experte mit eher technokratischen Neigungen und einer akademischen Fachausbildung, dessen berufliche Praxis bestimmt wird von den Erfordernissen des Arbeitsmarktes. Heutzutage spielen die Intellektuellen im gesellschaftlichen und politischen Leben Lateinamerikas eine wesentlich geringere Rolle als vor vielleicht vierzig Jahren, einer der Epochen, als sie größten Glanz und höchstes Ansehen genossen. Während der vergangenen Jahrzehnte besaßen die Intellektuellen – die jetzt aus der Mittelschicht stammen – keine frei verfügbaren Einkünfte mehr wie die Angehörigen der traditionellen Eliten, heute sind sie abhängig von einem regelmäßigen Einkommen, das sie oft im Universitätsbereich oder in öffentlichen Bildungsinstitutionen, der Verwaltung von Kulturgütern und ganz gelegentlich durch wissenschaftliche Forschung erzielen. Dies hängt auch zusammen mit der ungeheuren Ausweitung des Universitätssystems (einschließlich der Postgraduierten-Studien) und der berufsbildenden Einrichtungen während der vergangenen fünfzig Jahre.19 15 Siehe das brillante Essay von BRUNNER, José Joaquín: »La función utópica de los intelectuales«, in: ARROSA SOARES, Maria Susana (Hrsg.), op. cit. (Anm. 7), S. 22-31, vor allem S. 26 f. 16 Ibid., S. 26. 17 RIAL, Juan: »Los intelectuales y la política en el Uruguay. Soberbia y expiación«, in: ARROSA SOARES, Maria Susana (Hrsg.), op. cit. (Anm. 7), S. 38, 40. 18 Siehe BUCI-GLUCKSMANN, Christine: »Los intelectuales y el Estado«, in: ARROSA SOARES, Maria Susana, op. cit. (Anm. 7), S. 119-123. 19 DO MARQUES DE SAES, Décio Azeve, op. cit. (Anm.13), S. 180 f..

Intellektuelle und Politik in Lateinamerika | 19 Es besteht jedoch kein Zweifel daran, dass die Intellektuellen noch immer eine verhältnismäßig wichtige Rolle spielen, wenn es darum geht, politische Ideen zu entwickeln, das Vorgehen der Regierungen zu loben oder entschiedene Kritik zu üben, Themen von allgemein gültigem Interesse in den Massenmedien zu diskutieren und Richtlinien für ein künftiges nationales Bewusstseins zu entwerfen. Diese Behauptung trifft vielleicht auf Grund der historischen Entwicklung eher auf die mittleren und kleinen Länder der Neuen Welt zu, da in diesen Ländern die Eliten noch immer eine begrenzte, geschlossene Gesellschaft ohne größere interne Differenzierung bilden. Auf alle Fälle kann man sagen, dass die Bedeutung der Intellektuellen, wenngleich sie in allen Ländern im Abnehmen begriffen ist, in Lateinamerika noch größer ist als in den hochindustrialisierten Gesellschaften des Nordens, da die Spezialisierung der Rollen und Funktionen, wie wir bereits gesehen haben, in Lateinamerika weniger ausgeprägt ist als in den fortschrittlicheren Ländern.20 Trotz der nicht zu verkennenden Prozesse der Modernisierung und Globalisierung, die wir gegenwärtig21 erleben, hat dieser Wandel im Typus der Intellektuellen sowie das fast völlige Aussterben ihrer klassischen Funktionen auch negative Seiten. Ich werde versuchen, diesen nur schwer in wenigen Worten zu erklärenden Aspekt etwas näher zu beleuchten. Eine der wichtigsten Erkenntnisse ist, dass die gegenwärtige Entwicklung, so unumgänglich sie sein mag, auch Nachteile mit sich bringt, wie den Verfall des kritischen Geistes und die Unfähigkeit, umfassende Synthesen zu formulieren. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts und trotz der Demokratisierungsprozesse, die im lateinamerikanischen Raum stattfinden, kann man eine allgemeine Stimmung der Enttäuschung und des Pessimismus feststellen, die man besonders in gesellschaftlich-kulturellen Kreisen wahrnimmt, eine Enttäuschung, die letztlich verursacht wurde von der keineswegs vielversprechenden Entwicklung der wirtschaftlichen und politisch-institutionellen Variablen. Es gibt noch einen anderen, obgleich weniger wichtigen Grund für diese allgemeine Atmosphäre der Frustration. Ein beträchtlicher Anteil der Intellektuellen Lateinamerikas hat sich von der kritischen bis oppositionellen Haltung losgesagt und sich mit überraschender Leichtigkeit in die Machtstrukturen der neoliberalen Regime integriert. Dies bedeutete einen Verlust an intellektuellem Potenzial, das sich der Konzeption von gesellschaftlich-politischen Alternativen und der Korrektur von vorhandenen Missständen gewidmet hätte. Es erscheint mir wichtig, auf dieses Problem hinzuweisen und es mit einigen Beispielen zu illustrieren. Zum speziellen Fall Boliviens schreibt Omar Chávez Zamorano: »Die Intellektuellen sind schuld an einem der schlimmsten Übel des Lan20 Siehe beispielsweise die Überlegungen von BRUNNER, José Joaquín: »Los cambios en la cultura y la civilización emergente«, in: UNIVERSUM. Revista de la Universidad de Talca, Bd. 12 (1997), S. 23-32; AINSA, Fernando, El desafío de la identidad múltiple en la sociedad globalizada, in: ibid., S. 7-22. 21 Zu diesem Begriff der Mode im Zusammenhang mit dem hier behandelten Thema siehe GARCIA CANCLINI, Néstor, La globalización imaginada, Mexiko: Paidós 1999; GARRETON, Manuel Antonio, La faz sumergida del iceberg. Estudios sobre la transformación cultural, Santiago de Chile: CESOC/LOM 1994.

20 | H.C.F. Mansilla des, dem Fehlen strategischer Visionen. Wegen der Unfähigkeit der nationalen Intelligenz, die offenbar darauf verzichtet hat, Ideen zu liefern und Horizonte abzustecken, ist die Politik Boliviens orientierungslos. […] Die Parteien sind nur noch Wahlmaschinen, und die politischen Führer verspüren keine Berufung als Regierende, da ihnen Zukunftsvisionen fehlen. Aber es ist nicht gerecht, die Politiker für dieses Fehlen von Ideen verantwortlich zu machen, worunter die Politik des Landes leidet. Dieses Fehlen von Ideen und Visionen zeigt, dass eines der Rädchen in der gesellschaftlichen Maschinerie schlecht oder gar nicht funktioniert. Dieses Rädchen sind die Intellektuellen.«22 Ich gebe zu, dass es dieser Art der Kritik und sogar der Schelte an den Intellektuellen vielleicht an Präzision und empirischer Grundlage mangelt. Seltsamerweise wissen wir relativ wenig – oder hegen nur Vermutungen – über die familiären Umstände, die gängigen Vorurteile und die Grundideen, welche die lateinamerikanischen Intellektuellen prägen und inspirieren. Eine erste Annäherung an die Frage: »Wovon leben die lateinamerikanischen Intellektuellen?«, eine Frage, die nur illustrativen Charakter hat, belehrt uns, dass die Intellektuellen zu wirtschaftlichen wie politischen Themen heute vor allem Werke nordamerikanischer Provenienz lesen (und an zweiter Stelle, aber mit weitem Abstand, Schriften europäischer Autoren) und nicht Werke aus der eigenen Region. Arbeiten zu bestimmten klar umrissenen Themen haben eindeutig Vorrang vor umfassenden theoretischen Untersuchungen. Dietmar Dirmoser, Direktor der Zeitschrift NUEVA SOCIEDAD, behauptet mit Entschiedenheit: »[…] die Paradigmen der Linken sind verschwunden, und es kamen keine neuen, um sie zu ersetzen.«23 Es ist ebenfalls interressant, zu vermerken, dass diese Beziehungen nicht gegenseitig sind: sie sind eher eine neue Variante der kulturellen Abhängigkeit des Südens vom Norden, da in den Ländern nördlicher Breiten kaum jemand sozialwissenschaftliche und philosophische Werke von Autoren aus dem Süden liest. Einige charakteristische Phänomene scheinen sich bei fast allen Gruppen von Intellektuellen zu allen Zeiten und in den verschiedensten geographischen Räumen zu wiederholen. Was immer die Aufmerksamkeit ausländischer Beobachter erregt hat, war die Neigung der lateinamerikanischen Intellektuellen, die gerade in den großen Metropolen herrschenden Strömungen zu kopieren sowie ihre Angst, unmodern zu erscheinen. Diese – manchmal geradezu krankhafte – Tendenz, die jeweils jüngste europäische (oder die neueste nordamerikanische) Mode zu übernehmen, hat möglicherweise das Entstehen eigener intellektueller Schöpfungen auf dem Gebiet der politischen Theorie und Philosophie verhindert. Und dieselbe Tendenz ist 22 CHAVEZ ZAMORANO, Omar: »Los pensadores en huelga indefinida«, in: LA RAZON (La Paz), Beilage VENTANA vom 18. März 2001, S. 4. 23 Dietmar Dirmoser, Segunda página, in: NUEVA SOCIEDAD (Caracas), Nr. 170, November/Dezember 2000, S. 3 f. (gewidmet dem Thema »Bücher und Ideen«, auf die sich die lateinamerikanischen Intellektuellen stützen. Einige Jahre zuvor hatte die gleiche Zeitschrift eine Art Umfrage zu einem ähnlichen Thema veranstaltet: NUEVA SOCIEDAD, Nr. 139, September/Oktober 1995; siehe als Synthese: Martin Hopenhayn, América Latina: la visión de los cientistas sociales, in: ibid., S. 139 ff.).

Intellektuelle und Politik in Lateinamerika | 21 sehr wahrscheinlich verantwortlich für das Fehlen von eigenen Elementen in der politisch-institutionellen Praxis aller lateinamerikanischer Länder. Hierzu hat paradoxerweise der niemals in Frage gestellte Glaube beigetragen, dass den Lateinamerikanern fast immer eine innovative Übernahme, eine eigenständige Neubearbeitung und eine originelle Neuschöpfung der Paradigmen der Metropolen Europas und Amerikas gelungen sei. Diese verwunderliche Überzeugung vom angeblich autonomen Charakter des intellektuellen Schaffens in Lateinamerika stand einer nüchterneren und realistischeren Betrachtung jener theoretischen Produktion Lateinamerikas im Wege, die als Inbegriff des fortschrittlichen Denkens auf politischem und institutionellem Gebiet galt. Auf Grund der gleichen beinahe dogmatischen Überzeugung kam es zu keiner tiefer gehenden Analyse der herrschenden Mentalität. All dies hat zu einem grundlegenden ethisch-politischen Zwiespalt innerhalb der Intellektuellen geführt, die sich öffentlichen Angelegenheiten gewidmet haben (ein Zwiespalt, dem von vornherein der Makel der Unehrlichkeit anhaftet), und die dazu neigen, das Prinzip der Nachahmung auf dem Gebiet des theoretischen Denkens und der politischen Praxis zu festigen. So wie der Marxismus und ihm verwandte Strömungen (beispielsweise die lateinamerikanische Dependenztheorie) der unantastbare Bezugsrahmen in vergangenen Jahrzehnten waren, so scheinen heute der Neoliberalismus und die postmodernistische Philosophie das verbindliche Paradigma zu sein; sich von diesem main stream zu distanzieren, wäre dumm, unproduktiv und unnötig. Es ist einleuchtend, dass der Untergang des Marxismus und des Sozialismus niemals richtig verarbeitet wurde, da der unkritische Geist selbst verantwortlich war für die schnelle Zuwendung der Lateinamerikaner zum Neoliberalismus – oder der darauf folgenden Mode, dem Populismus, der Verteidigung der Rechte der Eingeborenen oder der heute sehr verbreiteten Infragestellung des Neoliberalismus. Die vorherrschende Haltung in vielen intellektuellen und universitären Kreisen scheint vor allem Bequemlichkeit und Opportunismus sowie das Streben nach kurzfristig zu verwirklichenden Zielen zu sein;24 den Strömungen der Linken fehlte es beispielsweise an einer differenzierten Sicht von Phänomenen wie dem Markt und der repräsentativen Demokratie: bezeichnenderweise sind sie von einer dogmatischen Ablehnung übergegangen zur opportunistischen Akzeptanz, was den stillschweigenden – niemals bedauerten – Verzicht auf die klassisch progressistische Vorstellung von Gleichheit und Solidarität einschließt.25 Festzustellen ist auch eine mangelnde Reflexion über ethische Themen, was eine ständige Beschäftigung der Intellektuellen sein müsste.26 Aber auch gute Nachrichten sollen nicht unterschlagen werden. Die heutige Gesellschaft des Wissens und der Information einerseits sowie das Aufkommen von neuen Ungleichheiten und sich verändernden und unentschiedenen Identitäten an24 Vergleiche hierzu die eindeutig übertriebene Meinung von PETRAS, James F.: »The Metamorphosis of Latin America’s Intellectuals«, in: LATIN AMERICAN PERSPECTIVES, Bd. 17 (1990), Nr. 2, S. 102-112. 25 PARAMINO, Ludolfo: Tras el diluvio, Madrid: Siglo XXI 1989, passim. 26 Zum Fall Boliviens siehe CHAVEZ ZAMORANO, Omar: »La desorientación ética de los nuevos intelectuales«, in: PULSO (La Paz) vom 27. Juli 2001, Bd. 2, Nr. 105, S. 6.

22 | H.C.F. Mansilla dererseits zeigen uns die Bedeutung und das Gewicht von Berufen, Haltungen und Werten, die eng mit dem kognitiven und folglich intellektuellen Bereich im weitesten Sinne in Verbindung stehen. Die Massenmedien könnten ein nicht zu verachtendes Forum für umfassend gebildete Intellektuelle bieten, die fähig sind, Analysen und Kommentare für ein breites Publikum zu liefern. Selbstverständlich bedeutet diese Funktion eine gewisse Einflussmöglichkeit auf die öffentliche Meinung und die Konzeption der Regierungspolitik, selbst wenn diese Posten alles andere als sicher sind. Zumindest auf einem Gebiet scheint es eine große Nachfrage nach Sozialwissenschaftlern und Politologen zu geben – auf dem Gebiet der institutionellen Konzeption und der politischen Planung. In diesen Bereichen gibt es einige Gemeinsamkeiten zwischen den Fachleuten und den klassischen Intellektuellen, so zum Beispiel pflegen beide die Diskussion von Alternativen und nutzen die Erfahrungen auf anderen Feldern. Der Rückgang der Forschungsbemühungen an öffentlichen und privaten Universitäten, ihre Verlagerung in private Forschungszentren und das Entstehen eines neuen, von Privatunternehmen finanzierten Typs von Mäzenatentum verändern selbstverständlich sowohl die Themen wie auch die Vorgehensweise bei der Forschung; keineswegs immer wird dabei die Freiheit des Forschers eingeschränkt oder ihm ein einziges Denkmodell aufgezwungen.27 Zum anderen ist eine klare Ausweitung der technokratischen Sphäre festzustellen. Auffallend ist diese »Kultur der Beratungsbüros und der Expertengutachten« vor allem im politisch-wirtschaftlichen Bereich.28 Sie präsentiert sich als die Verkörperung wissenschaftlicher Objektivität und ideologischer Neutralität, geht aber von Normen und Voraussetzungen aus, die a priori als unumstößlich und gültig angesehen werden, eine Methode, die allen wirklich wissenschaftlichen Prinzipien zuwider läuft. Deshalb ist eine Analyse der gegenwärtigen Mechanismen des Austausches zwischen den Intellektuellen und der Macht oder zwischen Experten und der Formulierung staatlicher Politik noch immer ein ernst zu nehmendes Problem. Die nachlassende Qualität im Angebot vieler staatlicher Universitäten geht auch Hand in Hand mit der Tendenz der Privatuniversitäten, einträgliche Studiengänge (wirtschaftlicher Ausrichtung) anzubieten, was eine Atmosphäre schafft, die der Forschung im Allgemeinen, den Sozialwissenschaften und den humanistisch-philosophischen Fächern29 wenig günstig ist, eine Atmosphäre, die dagegen in Einklang steht mit der Verbreitung einer Kultur der Unterhaltsamkeit und der Glanzzeit der postmodernistischen Moden. In Übereinstimmung mit diesen Strömungen haben das Prinzip der Unbestimmtheit, die Unmöglichkeit, eine Rangordnung innerhalb der Kenntnisse herzustellen, die These, »alles hat seinen Wert« und die unendliche Vielfalt der kulturellen Ausdrucksformen insgesamt, zwar zu einem lobenswerten 27 MIRES, Fernando: Teoría política del nuevo capitalismo o el discurso de la globalización, Caracas: Nueva Sociedad 2000, S. 97-103. 28 Siehe CENTENO, Miguel A./SILVA, Patricio (Hrsg.), The Politics of Expertise in Latin America, London/New York: Macmillan/St. Martin’s Press 1998. 29 Siehe das exzellente Essay von BAGU, Sergio: »Universidad y Estado en América Latina: historia de encuentros y desencuentros«, in: REVISTA MEXICANA DE CIENCIAS POLITICAS Y SOCIALES (Mexiko), Bd. XXXIV, Nr. 134, Oktober/Dezember 1988, S. 17-37.

Intellektuelle und Politik in Lateinamerika | 23 Pluralismus der Werte geführt. Zugleich wurde damit aber auch Ungenauigkeit, Willkür und Opportunismus Tür und Tor geöffnet. Obwohl keine empirisch belegten Daten existieren, die eine sichere Aussage erlauben, scheint die Beobachtung vieler Erscheinungen auf diesem Gebiet doch folgende Feststellung zu gestatten: während die Bedeutung der Technokraten neoliberaler Tendenz zunimmt, leiden Kultur, wissenschaftliche Veröffentlichungen und Forschung gleichzeitig unter finanziellen Kürzungen. Der Bereich der Sozialwissenschaften scheint Opfer von »Einschränkungen und Diskriminierung« zu sein. Einer der Autoren schreibt, man versuche, diese Disziplinen »zu korrumpieren« und sie »den Erfordernissen des Kapitals und der herrschenden Ideologie unterzuordnen. Die Intellektuellen sehen sich oft gezwungen, ihre Kritiken zu mäßigen, wenn nicht ganz zu unterlassen.«30 Wenngleich diese Meinungen von herkömmlichen linken Ideologien »gefärbt« sind, ist dennoch die Möglichkeit nicht auszuschließen, dass das neoliberale Modell – wenn auch nur indirekt – die Sozialwissenschaften gewissermaßen in Misskredit gebracht hat. Dies wiederum führte zu einem Verlust an intellektueller Qualität in den Ergebnissen dieser Disziplinen und somit zu einem Nachlassen des kritischen Bewusstseins der Gesellschaft gegenüber sich selbst.

Die Intellektuellen und die Macht Das bestimmende und beängstigende Merkmal der Intellektuellen der Neuen Welt ist seit der Unabhängigkeit ihrer Länder ihr ambivalentes und instabiles, gelegentlich aber sehr enges Verhältnis zur politischen Macht. Einigen historischen Studien zufolge, die auf reichem dokumentarischem Material beruhen, zeigten die meisten derer, die wir heute als Intellektuelle bezeichnen würden, schon vor der Unabhängigkeit eine scholastische, prämoderne, traditionalistische und autoritäre Mentalität, die der faktischen staatlichen Macht sehr nahe stand, obwohl sie ausgiebig die Autoren der französischen und englischen Aufklärung lasen und obwohl sie deutlich eine liberal-demokratische Ideologie und modernisierende Programmatik zur Schau stellten.31 Laut Norbert Lechner haben die Intellektuellen, unabhängig von ihrer ideologischen Ausrichtung, seit Beginn der republikanischen Epoche nicht aufgehört, Einfluss auf das politische Leben in Lateinamerika auzuüben: »[…] sie waren die Spezialisten bei der Formulierung oder Reproduktion von Werten und der Erschaffung 30 RODRIGUEZ ARAUJO, Octavio: »Neoliberalismo, crisis y universidades en México«, in: NUEVA SOCIEDAD, Nr. 107, May/Juni 1990, S. 145; zu anderen Aspekten im Falle Mexikos siehe ibid., S. 146-153; SCHOIJET, Mauricio: »La ciencia en México. Del desarrollo al retroceso«, in: ibid., S. 138-144. 31 STOETZER, O. Carlos, El pensamiento político en la América española durante el periodo de la emancipación (1789-1825), Madrid: Instituto de Estudios Políticos (Institut für Politische Studien) 1966 (2 Bde.); STOETZER, O.C.: Las raíces escolásticas de la emancipación de la América española, Madrid: Centro de Estudios Constitucionales (Zentrum für Verfassungsstudien) 1982.

24 | H.C.F. Mansilla symbolischer Welten, der Erstellung von Glaubensinhalten und kollektiven Identifikationsmustern, alles in allem, waren sie die Schöpfer von Visionen und Vorstellungen, die eine Gesellschaft von sich selbst hat.«32 Für Octavio Paz ist das unterscheidende Merkmal in Lateinamerika das Fehlen einer Tradition der Kritik, einer modernen Kritik, die offen ist gegenüber der Wissenschaft, der Analyse und der Infragestellung ihrer eigenen Prämissen.33 Es besteht kein Zweifel daran, dass die Intellektuellen bei der Verwurzelung einer grundsätzlich kritischen Haltung in diesen Ländern wirksamere Arbeit geleistet haben könnten. Zahlreiche Intellektuelle hatten und haben oft noch immer beste Beziehungen zur politischen Macht, was die Neigung zu tiefschürfendem Infragestellen nicht notwendigerweise fördert. Gleichzeitig aber – und hierauf gründet sich die Komplexität und ursprüngliche Ambivalenz der Angelegenheit – waren die Intellektuellen die Schöpfer der bemerkenswerten gelehrten Kultur der Neuen Welt, einer Kultur von ganz hervorragender eigenständiger Qualität, der es weder an Forschergeist noch an kritischem Bewusstsein fehlt.34 Außerdem haben die Intellektuellen seit Beginn der Unabhängigkeitsepoche eine herausgehobene Rolle bei der Bildung der kollektiven Identitäten gespielt; diese Rolle als soziale und kulturelle Akteure spielten sie häufig von ihrem jeweiligen Staat und, vor allem, von der jeweiligen Regierung unbeobachtet – das heißt sozusagen hinter den Kulissen – und übten damit größten Einfluss auf die privilegierten Schichten der Bevölkerung aus.35 Ohne diesen wesentlichen Beitrag zur Herausbildung der nationalen Identitäten wäre die Geschichte Lateinamerikas jedoch gänzlich anders verlaufen, denn die Intellektuellen waren, zumindest teilweise, die wichtigsten Schöpfer von Sinn und Inhalten, die die lateinamerikanischen Gesellschaften hervorgebracht haben. Obwohl die Intellektuellen von Anfang an eine sehr enge Verbindung zum Staat und zu den Regierungen unterhielten, haben sie ihre Spuren auf einem viel weiteren Gebiet hinterlassen; sie waren grob gesagt die Vordenker für die Formulierung der normativen Ziele der lateinamerikanischen Gesellschaften, für die Projekte der Modernisierung und Demokratisierung. Ausgerechnet die bescheidenen Errungenschaften einer nur begrenzten Modernisierung und einer nur rudimentären Demo32 LECHNER, Norbert: »Intelectuales y política: nuevo contexto y nuevos desafíos«, in: Los intelectuales y los dilemas políticos en el siglo XX, Mexiko: FLACSO/Triana 1997, S. 34. 33 PAZ, Octavio: Tiempo nublado, Barcelona: Seix Barral 1983, S. 152 f. 34 Cf. GONZALES STEPHAN, Beatriz (Hrsg.): Cultura y Tercer Mundo, Bd. II: Nuevas identidades y ciudadanías, Caracas: Nueva Sociedad 1996; MATO, Daniel (Hrsg.), Teoría y política de la construcción de identidades y diferencias en América Latina y el Caribe, Caracas: Nueva Sociedad/UNESCO 1994. 35 Siehe hierzu das große komparative Werk von MILLER, Nicola: In the Shadow of the State: Intellectuals and the Quest for National Identity in Twentieth-Century Spanish America, London/New York: Verso 1999. – Zum konkreten Fall Peru siehe NEIRA, Hugo: Hacia la tercera mitad. Perú siglos XVI-XX. Ensayos de relectura herética, Lima: SIDEA 1996; zum Fall Boliviens siehe PRESENCIA (La Paz) vom 13. Mai 2001, Beilage REPORTAJES, ausschließlich dem Thema gewidmet: »En el siglo XX. La herencia del pensamiento boliviano.«

Intellektuelle und Politik in Lateinamerika | 25 kratisierung sind die bevorzugten Themen der Reflexion und Kritik der Intellektuellen bis zum heutigen Tag, da diese Errungenschaften weit hinter den Erwartungen der politischen Denker und Essayisten selbst zurück blieben. Viele von ihnen haben sich darauf verlegt, immer wieder die Mängel einer stets als unbefriedigend empfundenen nationalen Identität aufzuzeigen. Um die vielfältigen Beziehungen zwischen den Intellektuellen und der Macht zu skizzieren, gibt es, laut Heidulf Schmidt, mehrere Möglichkeiten. Sie reichen von der vollen Machtausübung durch die Intellektuellen über Funktionen wie Legitimierung der Macht, Beratung von auf rechtlichem Wege an die Macht gekommenen Regierungen und Kritik an der jeweiligen Regierung bis zum absoluten Fehlen jeglicher Beziehung. Diese Unterscheidung würde, laut Schmidt, das »heterogene Engagement«36 der Intellektuellen gegenüber der wirklichen Macht widerspiegeln, eine Typologie, die durch eine Einteilung der Intellektuellen in »Utopisten versus Realisten«, »Fanatiker versus Zyniker«, »Engagierte« gegenüber »Indifferenten«, »Erneuerer« gegenüber »Traditionalisten« und verschiedene weitere Alternativen ergänzt werden kann. Wie Schmidt sagte, zeigt diese Fülle von Möglichkeiten, »dass es keinen für alle Zeiten absolut gültigen Typus des Intellektuellen gibt« und dass man deshalb nicht vorschreiben kann, was die Intellektuellen unter verschiedenen historisch-politischen Umständen tun sollten.37 Wie ich weiter oben bereits sagte, haben sich der allgemeine Bezugsrahmen und das Verhältnis der Intellektuellen zu den unterschiedlichen Instanzen der politischinstitutionellen Macht hinsichtlich der Zeit vor 1980 beträchtlich verändert. Vor 1980 herrschte ein revolutionäres Klima, galten die Idee von der Unerlässlichkeit einer radikalen Reform sowie der Glaube an den Fortschritt und eine vorwärts gerichtete historische Entwicklung. Auf die Konfrontation von zwei grundsätzlich verschiedenen zivilisatorischen Projekten – das frühere lateinamerikanische, das vor allem auf einer prämodernen Vorstellung der Welt beruhte, und das nordamerikanische, das auf einem Modernismus des Konsums38 basierte – folgte innerhalb einer sehr kurzen Zeitspanne die hemmungslose Nachahmung (häufig mit zynischer Rechtfertigung) des so genannten neoliberalen und postmodernistischen39 Musters; und bei diesem Unternehmen haben die heutigen Intellektuellen, wie die Universitätsprofessoren für Sozialwissenschaft, eine sicherlich bedeutsame, wenn auch nicht 36 SCHMIDT, Heidulf: »Los intelectuales latinoamericanos: crisis, modernización y cambio«, in: HENGSTENBERG, Peter/KOHUT, Karl/MAIHOLD, Günther (Hrsg.): Sociedad civil en América Latina: representación de intereses y gobernabilidad, Caracas: Nueva Sociedad/ADLAF/Friedrich-Ebert-Stiftung/ILDIS 1999, S. 361 (einer Argumentation von Norberto Bobbio folgend). 37 Ibid., S. 361 f. 38 BAPTISTA GUMUCIO, Mariano, Latinoamericanos y norteamericanos. Cinco siglos de dos culturas, La Paz: Artística 1986. 39 Zu den Beziehungen zwischen Neoliberalismus und Postmodernismus und den Gründen ihrer Verbreitung unter den lateinamerikanischen Intellektuellen siehe das hervorragende Werk von LARRAIN IBAÑEZ, Jorge, Modernidad, razón e identidad en América Latina, Santiago de Chile: Andrés Bello 1996.

26 | H.C.F. Mansilla entscheidende Rolle gespielt. Wie bereits gesagt, oft fehlte ihnen und fehlt ihnen immer noch ein wirklich kritischer Blickwinkel.40 Es besteht allerdings kein Zweifel daran, dass die Intellektuellen auch einen sehr positiven Einfluss auf die Prozesse der politischen Veränderungen haben konnten – wie offenbar in Chile der Fall –, wenn sie Zentren von hervorragendem akademischem Ruf und mit institutioneller Stabilität gründeten und wenn es ihnen gelang, positiv und kontinuierlich auf die öffentliche Meinung einzuwirken.41 Dies ist leider nicht die Norm in der Neuen Welt. Um die Entwicklung der Intellektuellen während der vergangenen Jahrzehnte zu erklären, stellte James Petras, eine Stimme der radikalen Linken, die These auf, dass die Militärdiktaturen und die Grausamkeiten des Staates einerseits, und die internationalen Agenturen der Länder des Nordens mit ihren vorteilhaften Finanzierungssystemen andererseits einen »zähmenden« und besänftigenden Einfluss auf die Intellektuellen ausgeübt hätten, wovon diese sich nicht hätten erholen können.42 Die Intellektuellen auf der ganzen Welt hätten sich von ungefähr 1980 an von marxistischen, revolutionären Positionen ab- und realistischeren, bequemeren und für ihre berufliche Karriere nützlicheren Haltungen zugewandt. Die Intellektuellen, die auf Veränderungen der Machtverhältnisse in den Bereichen Politik, Wirtschaft und Kultur sehr empfindlich reagierten, hätten den Niedergang der Gewerkschaftsbewegung und den Aufstieg eines neuen Kapitalismus registriert und sich den gerade herrschenden Kräften gebeugt, ohne jedoch zu bemerken, dass der Triumph des Neoliberalismus auf einer unsicheren Grundlage (dem Ausverkauf des Staates) und auf der Zerstörung des sozialen Gefüges und der Umwelt beruht. Der Aufruf zum Kampf gegen die Vorherrschaft eines starken Zentralstaates, der nun erging, erfolgte im Namen einer »illusionären bürgerlichen Gesellschaft«,43 unter dem Deckmantel eines »Revisionismus nach dem Muster von Gramsci«, getarnt als »Doktrin der Unbestimmtheit« oder zynisch-realistisch gesagt auf Grund einer gut dotierten Beraterfunktion. Die »wirklichen Intellektuellen« der Vergangenheit, »die mit den Volksbe40 Zum chilenischen Fall siehe HOLT, Alfredo Jocelyn: El Chile perplejo. Del avanzar sin transar al transar sin parar, Santiago de Chile: Planeta/Ariel 1998. Hier stellt sich der Autor in pessimistischem Ton die Frage, wozu die Analysen und Reflexionen der Intellektuellen während der vergangenen Jahrzehnte gedient haben. Zu anderen Perspektiven vergleiche: MOULIAN, Tomás: »Una reflexión sobre intelectuales y política«, in: MOULIAN, T., Democracia y socialismo en Chile, Santiago 1983, S. 7-19; BRUNNER, José Joaquín: »Los intelectuales y la democracia«, in: STUVEN, Ana M. (Hrsg.), Democracia contemporánea, Santiago 1990, S. 177-190. 41 PURYEAR, Jeffrey M.: Thinking Politics. Intellectuals and Democracy in Chile, 19731988, Baltimore/London: Johns Hopkins U.P. 1994. – Für die anderen lateinamerikanischen Länder gibt es keine derartigen Untersuchungen von gleicher Qualität. 42 PETRAS, James: »Una pequeña parte de la lucha«, in: NUEVA SOCIEDAD, Nr. 123, Januar/Februar 1993, S. 166; siehe die Antwort von VILAS, Carlos M.: »Contra el sectarismo«, in: ibid.,S. 165-169. 43 PETRAS, James: »Los intelectuales en retirada«, in: NUEVA SOCIEDAD, Nr. 107, MaiJuni 1990, S. 92 f.

Intellektuelle und Politik in Lateinamerika | 27 wegungen verbunden und von ihnen abhängig waren«, so der Autor, seien zu »institutionalisierten Intellektuellen geworden, die sich ausländischen Finanzagenturen gegenüber verantwortlich fühlten.« Diese Intellektuellen hätten nichts mehr mit den populären politischen Aktivisten zu tun, sondern wären »ihren Herren im Ausland« und ihrem jeweiligen Publikum und dessen Forderungen verpflichtet.44 Diese Meinung, die in den verschiedensten gesellschaftlichen Kreisen45 noch immer äußerst verbreitet ist, berücksichtigt weder die tatsächliche Geschichte der vergangenen Jahrzehnte noch entspricht sie dem Grad an Komplexität, welchen die lateinamerikanischen Gesellschaften unterdessen erreicht haben. Sie breitet lediglich den schützenden Mantel des Schweigens und des Vergessens über die unzähligen negativen – bis barbarischen – Geschehnisse im Zusammenhang mit sozialistischen Regimen, den Volksbewegungen und den wirklichen Intellektuellen. Für Vertreter dieser Meinung gibt es im heutigen Kuba nichts zu kritisieren, und sie finden auch nichts Problematisches an den anderen revolutionären Regimen der Dritten Welt und den gefährdeten kommunistischen Staaten des Nordens. Carlos M.Vilas weist jedoch noch auf eine Tatsache hin, die James Petras nicht mit einem Wort erwähnt und die die »Zähmung« der wahren Intellektuellen ermöglicht hat. Sie zeichneten sich in allen ihren Varianten durch ihre elitäre und jakobinische Sicht der Politik aus, durch ihre übertriebene Rücksicht gegenüber allem, was mit dem Staat und seinem Apparat zu tun hat, sowie durch eine eindeutig bürokratische und technokratische Auffassung der politischen, sozialen und kulturellen Angelegenheiten.46 Anlass zur Hoffnung sind für Vilas jene Intellektuellen, die weder die apokalyptischen Visionen der Vergangenheit propagieren noch als die »Gezähmten« von heute auftreten, sondern die je nach den gegebenen Möglichkeiten »bereit sind, ihre besonderen Fähigkeiten in den Dienst eines tatsächlichen gesellschaftlichen Wandlungsprozesses zu stellen.«47 Einige radikale Denker sind noch immer der Meinung, dass es trotz des »Zähmungsprozesses« unter den Intellektuellen eine »universelle Bruderschaft« gibt, die »sich politisch gegen die herrschenden Systeme wendet«,48 selbst wenn es noch so schwierig ist, ihre theoretischen Grundlagen und ihr politisches Programm zu benennen und diese Bruderschaft ausfindig zu machen. 44 Ibid., S. 103, 107, 109. – Zu dieser Position vergleiche SCHMIDT, Heidulf, op. cit. (Anm. 36), S. 361-368. 45 Franz J. Hinkelammert ist der Meinung, dass es noch heute eine »institutionalisierte Kontrolle« gibt, die eine wirksame, wenn auch verschleierte Zensur über die Inhalte von Lehre und Forschung an den Universitäten Lateinamerikas ausübt. Diese »Zensur« unterbindet vor allem ein Denken in ernsthaften Alternativen zum gegenwärtigen Regime und behindert eine wirklich eigenständige intellektuelle Arbeit (subversives Wissen). Siehe HIKELAMMERT, F.J.: »La libertad académica bajo control en América Latina«, in: NUEVA SOCIEDAD, Nr. 107, Mai/Juni 1990, S. 131-137. 46 VILAS, Carlos M.: »Sobre cierta interpretación de la intelectualidad latinoamericana«, in: NUEVA SOCIEDAD, Nr. 107, Mai/Juni 1990, S. 129. 47 Ibid., S. 130. 48 FALS BORDA, Orlando: »El Tercer Mundo y la reorientación de las ciencias contemporáneas«, in: NUEVA SOCIEDAD, Nr. 107, Mai/Juni 1990, S. 86.

28 | H.C.F. Mansilla Benjamín Arditi seinerseits meint, dass die wahren Intellektuellen, wie sie von James Petras beschrieben werden, das Problem ihrer Identität weder behandelt noch gelöst haben (die Frage, wer sie waren und was sie wirklich wollten) und dass sie daher nie in der Lage waren, die gerade aktuellen Fragen zu formulieren und realistische und praktikable Antworten zu bieten. Für Arditi ist die Identität der Intellektuellen heute ein weit komplexeres Problem: die Arbeit des Sozialwissenschaftlers ist wesentlich professioneller und spezialisierter geworden und einer viel strengeren Überprüfung unterworfen als früher; die heutigen Intellektuellen müssen das Risiko von Irrtümern und falschen Prognosen als fast alltägliche Herausforderung auf sich nehmen. Im politischen Leben wie in der Arbeitswelt muss man die Notwendigkeit ständiger Verpflichtungen und Verhandlungen akzeptieren – und all das, ohne die geschichtliche Kontinuität aus den Augen zu verlieren, welche die Intellektuellen von heute mit denen von gestern verbindet.49

Wenig erforschte Gebiete In diesem Zusammenhang müssen einige in der Vergangenheit wenig erforschte Gebiete erwähnt werden, die heute sehr wohl eine Analyse verdienen. Die tieferen Gründe für den Niedergang der Linken in Lateinamerika und die damit zusammenhängende Schwächung der einstmals starken Bindung zwischen Intellektualität und progressistischen Bewegungen verschiedenster Art und Zusammensetzung sind noch nicht erschöpfend diskutiert worden.50 Interessant sind die Selbsteinschätzung und das Bild, das einige Intellektuelle der Linken, die eine wichtige politische Rolle inne hatten, von sich selbst haben, denn in diesem Zusammenhang zeigt sich ihr Befremden angesichts der gegenwärtigen Problematik.51 Es ist daher nicht überraschend, dass einige der interessantesten Studien über die Linke ausgerechnet von Autoren stammen, die als konservativ oder gemäßigt gelten.52 Die politische und gesellschaftlich-kulturelle Bedeutung der Intellektuellen – beispielsweise beim Knüpfen von Verbindungen zwischen den politischen Parteien und der Sphäre der Ideen und Programme oder, wie erst jüngst, in Gestalt ihres theoretischen Beitrags zur Errichtung einer modernen Demokratie in der Neuen

49 ARDITI, Benjamín: »Intelectuales y política«, in: DAVID & GOLIATH (Buenos Aires), Bd. 1990, Nr. 56, passim. 50 Siehe VILAS, Carlos M.: »La izquierda latinoamericana«, in: NUEVA SOCIEDAD, Nr. 157, September /Oktober 1998, S. 64-74. 51 Siehe RAMIREZ, Sergio: Adiós muchachos. Una memoria de la revolución sandinista, Mexiko: Aguilar 1999. 52 GHIRETTI, Héctor: La izquierda. Usos, abusos, confusiones y precisiones, Barcelona: Ariel 2002 (in dem Buch werden unter anderem Beiträge von Raymond Aron, Jürgen Habermas, Leszek Kolakowski, Thomas Molnar, Richard Rorty und Robert Spaemann untersucht, die sich damit beschäftigen, was die Linke sein kann).

Intellektuelle und Politik in Lateinamerika | 29 Welt – ist jedoch ein Thema, das neuer Untersuchungen und weiterer Erforschung würdig ist.53 Die Tatsache, dass die Intellektuellen innerhalb der Parteien, einschließlich der progressistischen, die Festlegung von Werten beeinflussen, verdient besondere Aufmerksamkeit. Beispielhaft war der Fall des Partido Aprista Peruano (PAP), einer Partei sozialdemokratischer Prägung, die sich der Modernisierung Perus in jeglicher Hinsicht verschrieben hat, die jedoch durch die Intellektuellen in ihren eigenen Reihen ständig und absichtlich prämoderne, pseudoreligiöse und auch irrationale Werte vertrat – und weiterhin vertritt –, wie beispielsweise den Mythos des Refugiums, der blinden Verehrung der Anführer und den Gegensatz Freund/Feind, um die gesellschaftliche Vielschichtigkeit zu erklären.54 Dieser Fall ist natürlich nicht der einzige. Außerdem muss man die Studien zur Rolle der Intellektuellen innerhalb der modernen Kommunikationsmedien vertiefen, vor allem angesichts ihres massifizierten und tendenziell unpolitischen Charakters,55 sowie ihr Verhalten gegenüber der zunehmenden politisch-kulturellen Manipulation durch weit verbreitete Massenphänomene wie Sport und Unterhaltung untersuchen.56 Seltsamerweise gibt es keine Untersuchung der wichtigsten Werte, an denen sich die Intellektuellen vorrangig orientieren und die sich während der vergangenen Jahrzehnte wahrscheinlich nicht sehr verändert haben. Ein möglicher Beweis dafür ist der unerschütterlich scholastische Charakter der lateinamerikanischen Universitäten, der öffentlichen wie der privaten, die mehr Ähnlichkeit haben mit den »Hohen Schulen« des Mittelalters als mit Instituten, an denen tatsächlich wissenschaftliche Forschung betrieben wird und die sich der Verbreitung universellen Wissens widmen und nicht nur der Anwendung begrenzter technischer Kenntnisse, wie es den heutigen kommerziellen Tendenzen und den Erfordernissen des modernen Unter53 Siehe WEFFORT, Francisco C.: »A contribuçâo teórica dos intelectuais ao processo de construçâo da democracia«, in: ARROSA SOARES, M.S. (Hrsg.), op. cit. (Anm. 7), S. 234-241. 54 Vergleiche das große sozial-anthropologische Werk, das auf reichhaltigem empirischem und dokumentarischem Material beruht, von: VEGA-CENTENO, Imelda: Aprismo popular. Cultura, religión y política, Lima: Tarea/CISEPA 1991; siehe auch ADRIANZEN, Alberto: »Perú. Adiós a la izquierda«, in: NUEVA SOCIEDAD, Nr. 157, September/Oktober 1998, S. 75-86. 55 Siehe unter anderem die monographische Ausgabe von CONTRIBUCIONES (Buenos Aires), Bd. XIII, Nr. 2 (= 50), April/Juni 1996, zu dem Thema: »Medios de comunicación en tiempos de cambio«, insbesondere die Essays: BRUNNER, José Joaquín: »Comunicación y política en la sociedad democrática«, in: ibid., S. 7-18; FERNANDEZ, Eduardo: »Medios de comunicación: ¿Substitutos de la actividad política?«, in: ibid., S. 19-31; TERRERO, Patricia: »Tecnopolítica, cultura y mercado en la sociedad mediática«, in: ibid., S. 89-103. 56 Siehe MONSIVAIS, Carlos, Aires de familia. Cultura y sociedad en América Latina, Barcelona: Anagrama 2000; ESCALANTE GONZALBO, Fernando: El principito o al político del porvenir, Mexiko: Cal y Arena 1994.

30 | H.C.F. Mansilla nehmertums entspricht.57 Obwohl es keine empirischen Belege dafür gibt, ist die Hypothese einleuchtend, dass die Intellektuellen seltsamerweise weiterhin die konventionellsten Werte der traditionellen politischen Kultur Lateinamerikas verkörpern, einschließlich einiger autoritärer Züge, aber heute unter einem technokratischen Deckmantel, wie es zur Zeit üblich ist.58 (Hier muss jedoch unbedingt darauf hingewiesen werden, dass die Rückkehr der liberalen Demokratie das traditionelle Gewicht der Kultur des Autoritarismus erfolgreich verdrängt und in fast allen gesellschaftlichen Schichten und Berufsgruppen eine Abneigung gegen das autoritäre Erbe verbreitet hat.) Zahlreiche Intellektuelle neigen zu einem unverbesserlichen Opportunismus, ziehen Raffiniertheit der Intelligenz und kulturelle Moden einer ernsthaften wissenschaftlichen Analyse vor.59 Der drastische Wandel, den das Bild der Vereinigten Staaten in der allgemeinen Sicht der lateinamerikanischen Intellektuellen während der vergangenen fünfzehn oder zwanzig Jahre erfahren hat, muss überdacht werden, ebenso wie das Bild, das die Lateinamerikaner folglich gegenüber Europa und den Vereinigten Staaten von sich selbst zeichnen. Die diesbezüglichen Veränderungen sind symptomatisch für das Verständnis der starken Veränderungen in der Mentalität der Allgemeinheit, die sich während der vergangenen Jahrzehnte vollzogen haben und die in erster Linie die Vorstellungswelt der Intellektuellen60 betreffen, sowie der paradoxen Leichtigkeit, mit der herausragende fortschrittliche Intellektuelle von neoliberalen Regimen kooptiert und auf hohe Posten der öffentlichen Verwaltung und der Diplomatie berufen wurden. Dies hat auch zu tun mit einem Phänomen, das noch nicht genügend untersucht wurde: die Faszination, die die Ausübung der Macht fast immer auf zahlreiche Intellektuelle, unabhängig von ihrem ideologischen Standpunkt, ausgeübt hat. Die Intellektuellen, so Octavio Paz, waren besessen von der Macht, mehr als vom Erlangen von Reichtum und »natürlich« weit mehr, fügt Paz hinzu, als von der Erweiterung ihres Wissens.61 Auch die Besessenheit der Intellektuellen von einigen dauerhaft gültigen Aspekten des utopischen Denkens, wie beispielsweise die Leidenschaft für die Unendlichkeit, ist noch nicht ausreichend erforscht.62 Besondere Aufmerksamkeit verdient

57 MOLS, Manfred: Demokratie in Lateinamerika, Stuttgart etc.: Kohlhammer 1985, S. 114. 58 MOLS, ibid., S. 124-132. Vergleiche auch: WIARDA, Howard J., Democracy and Its Discontents. Development, Interdependence, and U.S. Policy in Latin America, Lanham/ London: Rowman & Littlefield 1995, passim. 59 Siehe als frühes Zeugnis: DEMO, Pedro: Intelectuais e vivaldinos. Da crítica acrítica, São Paulo 1982, S. 89-123. 60 RUSSELL, Robert: »The Image of the United States in Latin America«, in: REINHARD, Wolfgang/Peter WALDMANN (Hrsg.), Nord und Süd in Amerika. Gegensätze, Gemeinsamkeiten, europäischer Hintergrund, Freiburg: Rombach 1992, Bd. II, S. 977-985; GRAF, Marga: »Zivilisation und Barbarei.« Zur Selbstdarstellung Lateinamerikas gegenüber Europa, in: ibid., S. 999-1010. 61 PAZ, Octavio: El ogro filantrópico, Barcelona: Seix Barral 1979, S. 324. 62 Siehe DOMENACH, Jean-Marie: »Las causas de un fracaso«, in: MOLNAR, Thomas/

Intellektuelle und Politik in Lateinamerika | 31 auch die Rolle der Intellektuellen in den vergangenen Jahren, als das neoliberale Modell anfing, zu zerfallen und einige Vertreter dieser Kreise ihre dem Kapitalismus gegenüber kritischen Ideale wieder entdeckten, eine Zeit, als sich die vom Neoliberalismus hervorgerufe Apathie und Entpolitisierung in einer neuen Generation von populistischen Anführern mit messianischen und autoritären Ansprüchen äußerten, eine Strömung, an der nicht wenige politische Essayisten beteiligt waren.63 Es wäre interessant, herauszufinden, weshalb die Intellektuellen während der vergangenen Jahrzehnte (fast systematisch) weite Bereiche in den Beziehungen zwischen Theorie und Praxis, zwischen Spezialwissen und alltäglichem Handeln vernachlässigt haben, wie zum Beispiel die Struktur und die Äußerungen der traditionellen politischen Kultur des Autoritarismus (ein Phänomen, das fast ausschließlich von Autoren aus anderen geographischen Breiten untersucht wurde). Andere vernachlässigte Themen sind die Verbindungen zwischen der Religion und den verschiedenen Ausprägungen des Volksglaubens einerseits und die Erstellung von immer wiederkehrenden sozio-politischen Verhaltensmustern andererseits sowie das Netz von bürokratischen Vorgängen und Reglementierungen, die das Leben des Normalbürgers erschweren. Anderen Bereichen haben sich die Intellektuellen (mit einer bezeichnenderweise verdächtig verspäteten Begeisterung) verschrieben, nachdem diese Sparten zuvor von internationalen Organisationen wie der Weltbank zu Studiengebieten und Arbeitsbereichen erklärt worden waren. Dazu gehören vor allem die Probleme Ökologie und Umwelt, die Reform des Justizwesens, die Bereiche, die wir sehr ungenau als bürgerliche Gesellschaft64 bezeichnen, und das komplexe und allgegenwärtige Problem der Korruption.

Jean-Marie DOMENACH/Juan Marcos DE LA FUENTE, La izquierda en la encrucijada, Madrid: Unión 1970, S. 37. 63 Zu dieser komplexen Thematik siehe unter anderem: MADUEÑO, Luis E.: »Crisis y descomposición de la política en América Latina«, in: REVISTA VENEZOLANA DE CIENCIA POLITICA (Merida), Nr. 12, Bd. 1997, S. 31-56; CANSINO, César/Angel SERMEÑO: »América Latina: una democracia toda por hacerse«, in: METAPOLITICA (Mexiko), Bd. I (1997), Nr. 4 (= 10-12), S. 557-571; LECHNER, Norbert: »A la búsqueda de la comunidad perdida. Los restos de la democracia en América Latina«, in: REVISTA INTERNACIONAL DE CIENCIAS SOCIALES (Madrid), Bd. 1991, Nr. 9 (= 129), S. 569-581; RIVAS LEONE, José Antonio: »Repensar la democracia. Una lectura de Norbert Lechner«, in: NUEVA SOCIEDAD, Nr. 170, November/Dezember 2000, S. 6-12. 64 Zu den verschiedensten Aspekten der bürgerlichen Gesellschaft siehe das ausführliche Werk von LAUGA, Martín: Demokratietheorie in Lateinamerika. Die Debatte in den Sozialwissenschaften, Opladen: Leske + Budrich 1999, S. 265-296.

32 | H.C.F. Mansilla Vorläufige Schlussfolgerungen Die Prozesse der Globalisierung und Modernisierung machen nicht alle Funktionen und Aufgaben der Intellektuellen in Lateinamerika hinfällig, aber verändern sie möglicherweise tiefgreifend. Mit einer gewissen Sicherheit kann man erwarten, dass die zunehmende Differenzierung der beruflichen Rolleneinteilung die klassische Funktion der Intellektuellen als bevorzugte Schöpfer von Sinn und Inhalten aushöhlen wird. Die Intellektuellen werden diese Veränderungen vielleicht als Experten in immer weiter spezialisierten Bereichen und Themengebieten, als politische Berater, Angestellte bei Forschungsinstituten, Universitätsprofessoren, Gymnasiallehrer oder als Journalisten und Mitarbeiter bei den Massenmedien überstehen, wo noch immer – wenn auch in popularisierter und vereinfachter Form – Schöpfer von Sinngehalten und mehr oder weniger kritische Interpreten allgemeiner Werte und kollektiver Verhaltensmaßregeln gesucht werden. Von ungefähr 1980 an spielten die Intellektuellen eine wichtige Rolle in dem so genannten Prozess des Übergangs zur Demokratie, als sie die äußerst bedeutsame Aufgabe übernahmen, den unveränderlichen (nicht nur zweckbestimmten und vorübergehend gültigen) Werten der modernen repräsentativen und pluralistischen Demokratie und der Menschenrechte wieder zu Anerkennung zu verhelfen, sie in der Öffentlichkeit zu verbreiten und den spezifischen Gegebenheiten der einzelnen Länder anzupassen. Die Intellektuellen begannen außerdem, die Verbindungen von weiten Sektoren der Linken mit der kulturellen Tradition des Autoritarismus, des Zentralismus und der Bürokratie sowie ihre Nähe zu den verhängnisvollen Utopien der Globalisierung zu kritisieren. Der gegenwärtige Prozess der Modernisierung, der sich in der bereits erwähnten Professionalisierung der Intellektuellen und der Differenzierung ihrer Funktionen widerspiegelt, trägt dazu bei, eine Konstellation zu schaffen, die nach Néstor García Canclini für den Fortschritt des intellektuellen Lebens und die Festigung der Demokratie von Vorteil ist, eine Erscheinung, die in der wachsenden »Autonomie auf kulturellem Gebiet«65 offenbar wird. Abschließend bietet sich uns ein wohlabgewogenes Bild der Intellektuellen, welches uns zeigt, dass sie nicht die einzigen Verantwortlichen für die Mängel und Schwächen sind, die den nationalen Identitäten und der politischen Kultur anhaften, dass ihre Rolle wichtig, wenngleich nicht entscheidend war, und dass ihre geheimsten Neigungen oft eines kritischen, unabhängigen Geistes entbehrten; wir können aber auch festhalten, dass sie einen bedeutsamen Beitrag zur Schaffung der kollektiven Identitäten geleistet und häufig eine zutreffende und leidenschaftslose Schilderung von Gesellschaften geliefert haben, die gleichzeitig von historischer Rückständigkeit wie der Komplexität ihres gesellschaftlichen Systems gekennzeichnet waren.

65 GARCIA CANCLINI, Néstor: »Campo intelectual y crisis socio-económica«, in: ARROSA SOARES, M.S. (Hrsg.), op. cit. (Anm. 7), S. 153.

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Die Intellektuellen und der Übergang zur Demokratie | 39

Die Intellektuellen und der Übergang zur Demokratie. Von der Nonkonformität als Beruf zur politischen Verantwortung Rogelio Hernández Rodríguez

Kritik als Beruf Die Person des Intellektuellen ist umstritten und wird, entgegen den Vorstellungen dieser Personengruppe selbst, nicht immer positiv beurteilt. In kritischen Situationen reagieren die Betroffenen häufig empfindlich und sind Beweis dafür, dass die Gesellschaft im Allgemeinen in der Lage ist, andere Meinungen zu vertreten als die Mächtigen und eigene Möglichkeiten für den Fortschritt aufzuzeigen. In diesem Sinne scheinen die Intellektuellen mit ihren Ansichten stets nur das Reine und Edle der menschlichen Rasse zu vertreten, um deren Vervollkommnung zu erreichen. Dabei stehen sie einer nicht immer kultivierten Gesellschaft und vor allem Regierenden gegenüber, die eher mit politischen Streitereien und der täglichen Bürokratie beschäftigt sind. Bei anderen Gelegenheiten treten die Intellektuellen als eine eigenständige gesellschaftliche Gruppe auf, selbstverständlich als eine Elite, das heißt, als ein Kreis von Personen, die auf Grund ihrer Ausbildung, Kultur und Fähigkeiten eine privilegierte Stellung innehaben, sich aber in den Augen vieler die Rolle als Vertreter einer Gesellschaft anmaßen, von der sie sich in Wirklichkeit klar abgrenzen. Für viele wirkt daher die Kritik der Intellektuellen, vor allem, wenn es keinerlei Probleme zu geben scheint, wie eine Kritik aus Prinzip, eine Kritik an Lappalien, die lediglich darauf aus ist, bei den Mächtigen wie bei der Gesellschaft Aufmerksamkeit zu erregen. Deshalb wird bei jeder Untersuchung des Begriffs der »Intellektuellen« großer Wert darauf gelegt, sie sowohl als gesellschaftliche Gruppe zu definieren wie auch ihre sogenannte »Rolle« zu bestimmen. Wer sind sie, wie integrieren sie sich in die exklusive Gruppe von ihresgleichen und was tun sie – dies sind die wichtigsten Fragen bei allen Essays, die sich mit den Intellektuellen beschäftigen. Interessant ist dabei, dass die Frage nach ihrer sozialen »Funktion« im Grunde die Frage nach ihrem gesellschaftlichen Nutzen ist. Denn im Stillen ist man sich einig, dass ihre hauptsächlichen Beschäftigungen (Malerei, Bildhauerei, Schriftstellerei, Forschung und Lehre) ihre Tendenz, ständig Kritik zu üben oder zumindest, sich zu jeglichem gesellschaftlichen oder politischen Thema zu äußern, nicht hinreichend erklären. Mit anderen Worten, es sieht so aus, als würden sie sich bei Angelegenheiten zu Wort melden, für die sie eigentlich nicht zuständig sind. Dies wird, je nach den Umständen, gutgeheißen oder missbilligt. Dafür und für die umstrittene gesellschaftliche Stellung der Intellektuellen gibt es mehr als genügend Beispiele. Anders als der historische Brief Emile Zolas zum Fall Dreyfus, den unter anderem Anatole France und Marcel Proust unterschrieben und der bisher nahezu unumstritten als ehrenhaft und mutig gilt, erweckt das Schreiben zum Fall Padilla, das neben Jean Paul Sartre auch Simone de Beauvoir, Juan

40 | Rogelio Hernández Rodríguez Marsé, Octavio Paz, Mario Vargas Llosa und andere unterzeichneten, noch immer Kritik unter den Intellektuellen selbst. Sie werfen den Unterzeichnern vor, sie hätten es gewagt, das Verhalten der »neuen Gesellschaft« Kubas zu kritisieren. Aber es gibt auch kuriose Episoden. Im August 1994, wenige Tage bevor die PRI, die »Partei der Institutionalisierten Revolution«, bei den Präsidentschaftswahlen von Mexiko zum letzten Mal gewinnen sollte, äußerte sich der angesehene Schriftsteller Carlos Fuentes freimütig über die nationale Politik, über die Fehler der PRI, die negativen Bilanzen und die Unverzichtbarkeit der Demokratie. Er saß dabei gemütlich auf der Terrasse des Hotels St. Rupert in Salzburg (eines der exklusivsten nicht nur wegen der Preise, sondern als ehemaliges mittelalterliches Schloss auch eines der angesehensten) und wartete auf den Beginn eines Konzertes bei den Festspielen.1 Dieses Exempel möge zeigen, mit welcher Distanz viele Intellektuelle – so wie Fuentes – über die Realität sprechen, inmitten einer beneidenswerten Umgebung und vor allem fernab der Realität der Normalbürger. Das heißt nicht, dass ihre Meinungen falsch wären, viel mehr sind sie wohl das Ergebnis ihrer Privilegien und nicht notwendigerweise Folge ihrer Vertrautheit mit den gesellschaftlichen Problemen. Die Standpunkte variieren selbstverständlich je nachdem, ob es sich um schöpferische Intellektuelle oder wissenschaftlich arbeitende Intellektuelle2 handelt, die durch ihre Tätigkeiten per definitionem der Realität, über die sie urteilen, mehr oder weniger nahestehen. Im Allgemeinen jedoch stimmen beide Gruppen in ihrer gesellschaftlichen Selbsteinschätzung überein, die sie unausweichlich zu einem gemeinsamen Schicksal verurteilt. Streng genommen betrachten sie sich alle, unabhängig von ihrer Position oder Tätigkeit, als gleichgestellt und glauben sich im Besitz einer nicht üblichen Eigenschaft: Sie sehen sich als Inhaber von Wissen und Kenntnissen, sei es, weil sie darauf vorbereitet wurden oder weil sie von Natur aus schöpferisches Talent oder gedanklichen Scharfsinn besitzen. Wenn diese Eigenschaften nicht bei allen Mitgliedern der Gesellschaft anzutreffen sind, so bringt ihr Besitz doch unabwendbar die moralische Verpflichtung mit sich, dieses Wissen weiter zu vermitteln, jene, die es nicht besitzen, von seiner Richtigkeit zu überzeugen und schließlich die Gesellschaft in diese Richtung zu führen. 1 Zeitschrift Proceso, Nr. 926, 1. August 1994. 2 C. Wright Mills hatte bereits eine ähnliche Unterscheidung vorgeschlagen: White Collar. Las clases medias en Norteamérica, Aguilar, Madrid 1973, S. 192. Ohne die stets problematische Definition des Intellektuellen-Begriffes zu versuchen, sollen in diesem Essay nur zwei Typen zur Sprache kommen: die schöpferischen Intellektuellen (vor allem Literaten) und die Sozialwissenschaftler. Zur besonderen Auflistung von Definitionen siehe MARSAL, Juan F.: »Los ensayistas socio-políticos de Argentina y México«, in Juan F. Marsal (Hrsg.) El intelectual latinoamericano. Un simposio sobre la ideología de los intelectuales, Instituto Torcuato Di Tella, Buenos Aires, 1970. Außer den sehr bekannten Texten von ARON, Raymond: El opio de los intelectuales, Leviatán, Buenos Aires, 1957; LIPSET, Seymour M.: Political Man, Anchor Books, Doubleday and Co., New York, 1963; MARSAL, Juan F.: »Los intelectuales y el cambio social«, Desarrollo Económico, Nr. 22 – 23, Juli-Dezember 1966; BODIN, Louis: Los intelectuales, EUDEBA, Buenos Aires, 1965, und Carlos M. RAMA (Hrsg.) Los intelectuales y la política, Nuestro Tiempo, Monteviedeo, 1968.

Die Intellektuellen und der Übergang zur Demokratie | 41 Selbstverständlich wird dieser Auftrag als vorrangig gegenüber der eigentlichen Arbeit oder Berufstätigkeit angesehen, die letztlich vor allem persönliche Befriedigung bereitet. Menschen zu führen ist eine soziale Tätigkeit und daher eine moralisch höherwertige, fast heldenhafte Mission. Zu dieser höheren Form der Verantwortung fühlen sich sowohl Literaten wie Sozialwissenschaftler berufen. Carlos Fuentes beispielsweise sah die Aufgabe des Schriftstellers darin, »jenen eine Stimme zu verleihen, die sich kein Gehör zu verschaffen wissen«,3 was den Intellektuellen eindeutig eine doppelte Verantwortung der Gesellschaft gegenüber auferlegt. Diese Verantwortung hat ihnen niemand aufgezwungen; dass sie sie übernehmen, ist vielmehr Ergebnis ihres eigenen Pflichtbewusstseins. Sie werden somit zu Vertretern dieser Gesellschaft vor einem unbestimmten, aber benennbaren Wesen, der Macht. Seltsamerweise wollen die Intellektuellen, dass beide Seiten ihnen diese tiefgründende und mutig übernommene Verantwortung zuerkennen, obwohl sie ihnen niemand übertragen hat. Deutlicher haben das die Sozialwissenschaftler ausgesprochen. Angel Flisfisch, bedeutender Wissenschaftler und seit der Wiedereinführung der Demokratie in der Politik tätig, sagte in den 1980er Jahren, die Intellektuellen nähmen an der Politik teil, da diese sich »intellektualisiert« habe. Um weiter im Bild zu bleiben, sagte Flisfisch, Politik sei zu einem Mechanismus geworden, dessen Ziel es ist, »der Gesellschaft eine Wahrheit zu vermitteln.« Diese Wahrheit ergebe sich aus dem »rationalen Wissen«, das selbstverständlich in Händen der Intellektuellen liege.4 Diese Feststellung ist überraschend, denn sie definiert einerseits die Inhalte dieser Aktivität und erlaubt andererseits, die Ideologisierung zu verstehen, welche die 1970er Jahre kennzeichnete; sie wird später noch genauer behandelt. Die Überzeugung, dass es Aufgabe der Politik sei, »eine Wahrheit zu vermitteln«, rechtfertigt nicht nur die Beteiligung der Intellektuellen am politischen Geschehen, sondern verfälscht die Funktionen der Politik selbst, die sich dann nicht mehr in der praktischen Verantwortung gegenüber der Gesellschaft sieht – eine Verantwortung, die unbestritten von der Regierung aus wahrgenommen werden muss. Ist dies nicht der Fall, hat das seinen Preis, es kommt zu Versäumnissen und Mängeln. Politik wird schließlich zu einer reinen Geistestätigkeit, zu einer abstrakten gedanklichen Aktivität, die sich nur an ihresgleichen wendet. Flisfisch selbst kommt zu dem Schluss: »Der Intellektuelle ist es, der das wirklich Wertvolle in die Politik einbringt: ihren Inhalt […] Der Berufspolitiker und seine Tätigkeit sind nur noch simple Werkzeuge im Dienste der Verwirklichung der Ziele.«5 Selten findet man eine so hochmütige Definition wie diese. Der Intellektuelle lebt jenseits der realen Welt der Normalsterblichen, er denkt darüber nach und bestimmt, was zu tun sei, mehr noch, er verfügt über »Untergebene«, die seine Ideen 3 FUENTES, Carlos: Tiempo mexicano, Joaquín Mortiz, Mexiko, 1992, S. 64. 4 FLISFISCH, Angel: »Algunas hipótesis sobre la relación entre intelectuales y partidos políticos en Chile« in María Susana ARROSA SOARES (Koord.), Os intelectuais nos procesos políticos da America Latina, Universidad Federal do Rio Grande do Sul, Brasilien, 1985, S. 13. 5 Idem, S. 15

42 | Rogelio Hernández Rodríguez umsetzen sollen. Der einzige Nachteil ist, dass die Intellektuellen niemandem Rechenschaft ablegen müssen, während die »Untergebenen« Parteien gründen, miteinander in Wettstreit treten, um die Wählerschaft kämpfen und bei den Wahlen den Preis für ihr Tun bezahlen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass es ständig zu Verstimmungen mit den Politikern und den Inhabern der Macht kommt. Jesús Reyes Heroles, ein herausragender mexikanischer Politiker, der sich sowohl durch seine politischen Fähigkeiten hervortat wie durch sein Geschick, die ideologische Richtung seiner Partei zu erneuern, und grundlegende historische Werke verfasste, bemerkte bei seiner Aufnahme in die Mexikanische Akademie der Geschichte, dass der Intellektuelle in den Augen des Politikers »die Neigung besitzt, sich zum gestrengen Richter aufzuschwingen, manchmal ohne jegliche Probe eigenen Könnens, manchmal, um sich für die Frustrationen bei seiner sonstigen Tätigkeit zu entschädigen.«6 Nach Ansicht von Reyes Heroles entflieht der Intellektuelle der »rauhen Wirklichkeit, die in seine Gedankenspiele einbricht« und zieht sich zurück auf einen »Olymp ohne Risiko«, um seine Macht ohne Gefahr und ohne Verantwortung »jenseits seines Tintenfasses« auszuüben. So streng urteilte nicht nur Reyes Heroles, sein Urteil war vielmehr Ausdruck des Unbehagens, das die Kritiken der Intellektuellen bei der politischen Elite verursachten (und sicher weiterhin verursachen). Eine Anfang der 1980er Jahre, also fast zwanzig Jahre nach dem Vortrag von Reyes Heroles entstandene Untersuchung zeigte folgendes: Wenngleich die mexikanischen Politiker die Meinung mancher Intellektueller schätzten, waren es nur die Meinungen jener, die irgendein politisches Amt ausgeübt, folglich Entscheidungen getroffen und deren Folgen getragen hatten, die Einfluss ausübten. Die Intellektuellen dagegen hielten nur jene Kollegen für einflussreich, die keinerlei politische Posten bekleidet hatten.7 Was in den Augen der einen Achtung verdiente, war für die anderen Beweis einer nicht hinzunehmenden »Beschmutzung«. Überflüssig zu sagen, dass eine Verständigung unmöglich war und es stattdessen zu einem typischen Dialog zwischen zwei Gehörlosen kam, bei dem der Intellektuelle nur »von Amts wegen« kritisierte und der Politiker ihn schlicht ignorierte. Dieser Mangel an Verständigung ist jedoch nur die eine Seite; auch mit der Gesellschaft, für deren Anführer sich die Intellektuellen halten (dies stimmt bezeichnenderweise mit der marxistischen Auffassung von der »revolutionären Vorhut« überein), kommt es zu keiner Verständigung, denn die Gesellschaft muss ihnen nicht nur zuhören, sondern sie als Vermittler ihrer Probleme und als ihre Fürsprecher anerkennen, wenn es darum geht, Lösungsvorschläge zu unterbreiten. Streng 6 REYES HEROLES, Jesús: Valor del intelectual político, Vortrag anlässlich der Aufnahme in die Mexikanische Akademie der Geschichte (AMH), 7. August 1968, Veröffentlichung der AMH. Nicht zu vergessen ist, dass dieser Vortrag, in dem der Autor ein so heikles Thema wie den Begriff der Intellektuellen, die Macht und die Politik behandelt, inmitten der Studentenunruhen gehalten wurde, die drei Monate später tragisch enden und die nationale Erinnerung zutiefst prägen sollten. 7 CAMP, Roderic Ai: Los intelectuales y el Estado en el México del siglo XX, FCE, Mexiko, 1988, S. 71.

Die Intellektuellen und der Übergang zur Demokratie | 43 genommen muss die Gesellschaft, die zu dieser Art der Interessenvertretung normalerweise selbst nicht in der Lage ist, sie als ihre natürlichen Anführer akzeptieren. Sie sind nun einmal, wie Müller8 betont, unbestreitbar eine Elite, demokratisch und vornehm, aber doch eine Elite, die wenig weiß von den üblichen Problemen der Gesellschaft. Daher wird dem Intellektuellen nicht immer die Anerkennung zuteil, die er verdient zu haben glaubt; dies wiederum führt zu seiner Isolierung. Das Publikum der Intellektuellen bilden letztlich die Angehörigen der Mittelklasse, zumal sie die einzigen sind, die ihre Werke zu würdigen wissen, Teile davon erwerben, ihre Botschaften lesen oder hören und im Allgemeinen ihre Unzufriedenheit mit der Politik teilen. Wegen dieses Mangels an Anerkennung erschaffen die Intellektuellen sich diese mythische Republik des Geistes (den »Olymp ohne Risiko« bei Reyes Heroles), wo nur ihresgleichen leben, ihresgleichen auf Grund ihres Wissens, ihrer Ziele und ihrer sozialen Distanz, eine Republik als geschlossene Gesellschaft, versorgt von sich selbst, aber fern der Realität. Alles in allem sind ihre Mitglieder nicht bereit, auf ihre heldenhaft übernommene Verantwortung zu verzichten, und da ihr Publikum, die Mittelklasse, sichtbar und aktiv ist, beanspruchen sie weiterhin ihre Rolle als Fürsprecher vor den Mächtigen. Daher unterhalten die Intellektuellen eine enge Beziehung zu den Politikern, die sie zwar kritisieren, ohne die sie jedoch weder ihre Aufgabe erfüllen noch gesellschaftliche Anerkennung erlangen können. Sie kämpfen somit einerseits gegen Isolierung und Unverständnis und andererseits um ihre Anerkennung, was dazu führt, dass sie der Macht näherstehen, als sie selber gerne zugeben würden. Diese Ambivalenz hat für sie einen hohen Preis. Obwohl sie keine politische Verantwortung übernehmen möchten, bringt sie ihre Nähe zur Macht früher oder später dazu, Entscheidungen zu treffen und sich der Kritik zu stellen, nicht nur der Kritik der Politiker, sondern auch der Kritik aus ihren eigenen Kreisen, und, was noch schlimmer ist, sie verlieren ihre Funktion als gesellschaftliche Leitfiguren, die in der Lage sind, sowohl Kritik zu üben wie auch Menschen zu führen. In anderen Fällen wurden sie durch ihre falsche Selbsteinschätzung »bestraft«. Aus ihrem »rationalen und alleinigen« Wissen erwuchs allmählich marxistische Intoleranz; man war nicht auf Verständigung aus, sondern versuchte, Druck auszuüben. Dies verhinderte paradoxerweise den Fortschritt des Wissens, weil man unbedingt an eine Idee glauben wollte, die, so sehr sie auch von der Wirklichkeit in Frage gestellt wurde, nicht aufgegeben werden durfte. Die Intellektuellen waren sich ihres Dilemmas zwischen Denken (das sich immer in Kritik äußerte) und Handeln stets bewusst, und als sie beschlossen, Verantwortung – nicht nur ihrem Tintenfass gegenüber – zu tragen, überschritten sie die Grenzen ihrer Daseinsberechtigung. Wie noch zu zeigen sein wird, spielten die Intellektuellen sowohl in Lateinamerika wie auch in Osteuropa eine wichtige und in vielen Fällen entscheidende Rolle bei politischen Veränderungen und der Machtübernahme neuer Regime. Viele wurden plötzlich zu Staatsbediensteten, wozu 8 MÜLLER, Jan-Werner: »German Intellectuals and Democracy: The End of an Era?«, Partisan Review, Fall 2001.

44 | Rogelio Hernández Rodríguez man außer verwaltungstechnischen Fähigkeiten beträchtliche politische Begabung brauchte; das Ergebnis gereichte der Gesellschaft nicht immer zum Nutzen. Die bürokratische Routine, die Umsetzung ihrer Ideen, die ständige Diskussion darüber sowie ihre Verwirklichung, alles, was letztlich politische Betätigung ausmacht, brachte viele von ihnen dazu, die Regierung zu verlassen und wieder zu ihrem Kritikeramt zurückzukehren, sei es in der Presse oder bei diversen nicht-staatlichen Organisationen, deren Ziel es jedoch ist, auf die Politik Einfluss zu nehmen.9 Die Erfahrung scheint also zu bestätigen, dass das Dilemma nicht zu lösen ist. Lateinamerika und Europa bieten dafür wertvolle Beispiele.

Kritiker und engagierte Persönlichkeiten in Lateinamerika Seit den 1960er Jahren ist Lateinamerika eine Art »Labor«, in dem man bestens verschiedene politische und ideologische Positionen studieren kann, welche die Intellektuellen in kritischen Situationen zu entwickeln fähig sind. Das Interessanteste dabei ist, dass die Ansichten der Intellektuellen in dieser Weltregion kaum mit denen der Intellektuellen in Osteuropa übereinstimmten, denn sie erlebten das verheißene Paradies aus der Nähe, welches jene glaubten, schaffen zu müssen. Sie vertraten dabei so viele verschiedene Meinungen, wie es Typen von Intellektuellen gab. Um dies zu verstehen, empfiehlt es sich, zwischen Sozialwissenschaftlern und Literaten zu unterscheiden, den vielleicht beiden wichtigsten Gruppen von Intellektuellen in Lateinamerika.

Von der Akademie zum Engagement Anders als die schöpferischen Intellektuellen, die sozusagen aus dem Nichts heraus, mehr auf Grund der Phantasie und des persönlichen Talents als auf Grund ihrer Bildung, in der Lage sind, Werke zu schaffen, welche die Kultur der Menschheit bereichern, sind die Sozialwissenschaftler untrennbar dem gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Leben und somit den alltäglichen Problemen der Menschen verhaftet. Während die schöpferischen Intellektuellen fernab vom gesellschaftlichen Geschehen leben und sogar ihren Unterhalt aus ihren eigenen Werken beziehen können, arbeiten die Sozialwissenschaftler, so sehr ihr Schaffen persönlich und beruflich befriedigend sein mag, zumeist an Universitäten – mit den üblichen vertraglichen Verpflichtungen – und beziehen ein Gehalt. All das bedeutet, dass die Sozialwissenschaftler die Wirklichkeit als integrierenden Bestandteil ihres Berufes erfahren. Die Grenzen zwischen Politik und Beruf oder zwischen Politik und Akademie sind also sehr unscharf und historisch durchlässig geworden, ohne dass dies zu neuen Fragestellungen führen würde. Seit den 1960er Jahren fand ein ständiger Aus9 KÖRÖSÉNYI, András: »Intellectuals and Democracy in Eastern Europe«, Political Quarterly, Nr. 4, Oktober 1994, S. 419.

Die Intellektuellen und der Übergang zur Demokratie | 45 tausch statt; er war aber in Wirklichkeit nichts Neues, denn bereits seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts versuchten die Intellektuellen in ganz Lateinamerika, in der Politik mitzureden, geleitet von der Vorstellung, wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zu erreichen. Wenn sie sich in jenen Jahren der Aufgabe widmeten, nationale Identitäten zu schaffen, so haben sie sich seit Anfang des 20. Jahrhunderts im Grunde zum Ziel gesetzt, die Politiker für die Förderung des Fortschritts zu gewinnen und dann, ausgehend von unterschiedlichen Kriterien, an dessen Verwirklichung mitzuarbeiten.10 Der entscheidende Einschnitt geschah in den 1960er Jahren, als mehrere Faktoren zusammentrafen, die eine Beteiligung am politischen Geschehen förderten, sie ideologisch verbrämten, was sehr heikel war, und ihre Funktionen missbrauchten. Damals waren fast alle Sozialwissenschaftler, wie Guillermo O’Donnell richtig feststellte, Soziologen; vom Ende der 1960er Jahre an und in der Folgezeit kam es zu einer stärkeren Professionalisierung, das heißt, sie hatten eine abgeschlossene Universitätsausbildung sowie einen Abschluss auf einem Spezialgebiet. Seine Generation, so O’Donnell, war die erste Generation von professionellen Sozialwissenschaftlern mit Universitätsabschluss, aber mit eindeutig soziologischer, seltener mit politologischer Ausrichtung.11 Es gab Gründe genug dafür. Erstens war die Soziologie die älteste und theoretisch sowie methodologisch am meisten entwickelte Disziplin, außerdem waren die von ihm so genannten »Founding Fathers« alle berühmte und einflussreiche Soziologen, wie Gino Germani, Florestán Fernández, José Medina Echavarría und Pablo González Casanova. Gesellschaft und Politik sollten von da an integrierende Bestandteile der Sozialwissenschaften sowie des Lebens der lateinamerikanischen Akademiker sein. Der zweite wichtige Grund war historischer Natur; es trafen mehrere Faktoren aufeinander, die zusammen eine explosive Wirkung hatten. Das Hauptanliegen, das Streben nach Fortschritt, bewegte nicht nur die Akademiker, sondern auch die Regierungen der einzelnen Länder und selbst die Regierung der Vereinigten Staaten, so dass deren Institutionen sowie internationale Organisationen direkte Hilfe leisteten. Während die Politik der Regierungen auf Kritik stieß, wurde die Diskussion unter den Sozialwissenschaftlern immer weniger unter akademischen und immer mehr unter ideologischen und politischen Gesichtspunkten geführt. Dies liegt eindeutig in der Selbstdefinition des Intellektuellen begründet und in der Verantwortung, die er mit seinen – von Flisfisch bereits erläuterten – Funktionen übernommen hat. Zum einen verfügt der Intellektuelle über das Wissen, zum anderen ist er verpflichtet, den Politikern und der Gesellschaft die Wahrheit nicht nur zu erklären, sondern sie ihnen aufzuzwingen. Wenn das Bemühen um Fortschritt vorrangig war, so musste man zwischen erklärenden Modellen auswählen, die unweigerlich bestimmte Techniken und Vorgehensweisen mit sich brachten aber auch ideologische Entscheidungen nötig mach10 URICOECHEA, Fernando: Intelectuales y desarrollo en América Latina, Centro Editor América Latina, Buenos Aires, 1969, passim. 11 O’DONNELL, Guillermo: »Latin America«, Political Science and Politics, Washington, Dezember 2001.

46 | Rogelio Hernández Rodríguez ten. Aus der Verteidigung der eigenen politischen Neigungen wurde unmerklich Intoleranz. Für einige gibt es nur ein Wissen, und dieses eine Wissen erlangt man nur auf einem einzigen Wege, über eine »Theorie«, die im Grunde eine Doktrin war. Das rationale Wissen erreichte man ihrer Überzeugung nach nur über den Marxismus,12 und wer sich nicht daran hielt, betrieb keine Wissenschaft und trug nicht zur Lösung der wirklichen Probleme bei. Somit wurde die durch das Eingreifen der Regierungen und ihre Entwicklungsprogramme entfachte Diskussion zu einer heftigen ideologischen Debatte unter den Sozialwissenschaftlern, über die es zu einer tiefen Spaltung kommen sollte. Vielleicht wären diese Diskussionen nie von den Universitätshörsälen und wissenschaftlichen Kongressen an die Öffentlichkeit gelangt, wenn sich in jenen Jahren die Ideen nicht der Wirklichkeit bemächtigt hätten. Die 1960er und 70er Jahre waren durch die Zuspitzung des Kalten Krieges beherrscht von den schlimmsten wirtschaftlichen und politischen Konflikten. Es waren die Jahre des größten moralischen wie politischen Triumphes der Kubanischen Revolution, die nicht nur den Kampf zwischen Sozialismus und Kapitalismus verkörperte, sondern als »lateinamerikanische Version« des Sozialismus angesehen wurde, der bis dahin nur Osteuropa vorbehalten schien. Es waren aber auch die Jahre der massivsten Intervention der Vereinigten Staaten auf dem Kontinent, sowohl mit Wirtschafts- und Sozialprogrammen, wie der Allianz für den Fortschritt, als auch mit politischen Institutionen und Organisationen sowie dem Polizeiapparat, denn eine Wiederholung des kubanischen Beispiels sollte verhindert werden. Diese Situation stärkte die Guerrilla und hatte immer neue Militärputsche zur Folge; es waren die Jahre einer völlig straflosen Unterdrückung im Namen der freien Welt und der Demokratie. Wenn die theoretischen Diskussionen zwangsläufig ideologische Definitionen mit sich brachten, so führten diese und die lateinamerikanische Realität zu kämpferischem politischem Engagement. Wenn man mit dem Eintreten für Entwicklung und mit verschiedenen Interpretationen schon Stellung bezog gegenüber der einzigen und unteilbaren »Wahrheit«, so führten Repression und Unterdrückung von jeglicher noch so minimalen Äußerung von Realismus zu politischem Handeln, zu Engagement, natürlich von seiten der Linken, und zum Kampf gegen die Diktaturen und den Imperialismus. Damals festigte sich mehr als je zuvor die Verantwortung der Intellektuellen als politisch aktiv Engagierte. Es gab keine Möglichkeit, auf anderem Wege Verantwortung zu übernehmen, am wenigsten durch Denken und eigene Reflexion. Die Folgen für die intellektuellen Kreise waren verheerend. Von streng intellektuellem Standpunkt aus war der Schaden ideologisch begründet. Schon vor der Zeit der Unterdrückung und der von den Diktaturen erzwungenen Emigration fühlten sich viele Sozialwissenschaftler in ihren Ländern von jenen Kollegen ins Abseits gedrängt, die sich dem Marxismus zugewandt hatten und so intolerant waren, dass sie keine abweichenden Meinungen und noch viel weniger abweichende Interpretationen und Vorschläge zuließen. Die Sozialwissenschaftler, die sich vom Marxismus losgesagt hatten, die an liberales und demokratisches Denken glaubten, fanden keine Arbeitsmöglichkeiten. Viele mussten ihre Länder verlas12 URICOECHEA, F.: op. cit., S. 80-81, und FLISFISCH, A.: op. cit., S. 14.

Die Intellektuellen und der Übergang zur Demokratie | 47 sen, nicht so sehr wegen der herrschenden Militärregime, sondern um eine andere, offenere und pluralistischere Umgebung für ihre Studien zu suchen, die sie, zum Unglück für die marxistische Ideologie, in der westlichen Welt, in den dem Sozialismus gegenüber feindlich eingestellten Ländern des Kapitalismus antrafen. Wie O’Donnell darlegt, fanden viele Sozialwissenschaftler, vor allem jene der ersten Generation von professionell Ausgebildeten, dank der Einwanderung Kontakt zu intellektuellen Vordenkern wie Philippe Schmitter, Alfred Stepan, Juan Linz, Giovanni Sartori, Alain Touraine etc., die unabhängig von ihren politischen Neigungen ein freies, verschiedenen Techniken, Methoden und Theorien offenstehendes Denken entwickelten, die nicht vorgaben, im Besitz der einzigen Wahrheit zu sein, sondern objektive Erklärungen suchten.13 Somit konnten sich die nicht-marxistischen Sozialwissenschaftler neuartigen Themen zuwenden, die sehr wohl der gesellschaftlichen und politischen Realität Lateinamerikas entstammten, aber nichts mit dem marxistischen Schablonendenken des Sozialismus vom bourgeoisen Staat, dem Imperialismus und der Arbeitervorhut zu tun hatten. Wenngleich es Einflüsse von links gab, konnten diese weder die schöpferischen Diskussionen noch den Fortschritt des soziopolitischen Denkens verhindern. Themen wie Abhängigkeit, lateinamerikanische Unternehmerschaft, staatliche Intervention in der Marktwirtschaft, Populismus als historisches Phänomen, Autoritarismus und, später, der Übergang zur Demokratie, soziale Bewegungen und sogar Wählerwünsche und Wählerverhalten, konnten sich schließlich durchsetzen und Licht auf die lateinamerikanische Wirklichkeit werfen. Anders als die Autoren dieser Studien verfiel der akademische Marxismus in Lateinamerika in pure Lobhudelei oder in schlimmste Ideologisierung, was in jedem Falle Kreativität und Fortschritt in diesen Disziplinen verhinderte. Es genügt ein Blick auf die Werke vieler Sozialwissenschaftler der Linken während der 1960er und der 1970er Jahre, um auf die Hauptanliegen ihrer Doktrin (Anhäufung von Besitz, Entwicklungsetappen laut Engels, das Lumpenproletariat, das industrielle Reserveheer etc.) zu stoßen, nicht aber die der sozialwissenschaftlichen Forschung. Wie O’Donnell treffend feststellt, war es in den Augen der Linken gar nicht nötig, die Besonderheiten der autoritären Systeme zu erforschen; für sie war es ausreichend, diese Systeme als für den Imperialismus typische Diktaturen einzustufen. Erzählerische Darstellung und Adjektive ersetzten nicht nur eine fehlende Hypothese, sondern auch begriffliche Erklärungen und natürlich empirische Techniken, wie sie alle dem Kapitalismus zu eigen sind.14 Die Dürftigkeit der marxistischen Studien lässt sich leicht belegen, vor allem anhand der Zeugnisse mancher Zeitgenossen. José Joaquín Brunner, an dessen politischem Engagement, zumindest während der 1970er Jahre, niemand zweifeln kann, erklärte 1984, die intellektuelle chilenische Linke habe sich während der Regierung Allende mehr um den Marxismus als um die nationalen Probleme gekümmert, die schließlich zum Sturz der »Unidad Popular«, zu Militärdiktatur und Repression führen sollten. Wirtschaft, Landwirt13 O’DONNELL, G., op. cit. 14 Idem, und ZAPATA, Francisco: »¿Ideólogos, sociólogos, políticos? Acerca del análisis sociológico de los procesos sociales y políticos en América Latina«, Foro Internacional, Nr.141, Juli-September 1995.

48 | Rogelio Hernández Rodríguez schaft, Staatseigentum, gesellschaftliche Modernisierung etc. waren laut Brunner nichts weiter als zweitrangige Themen, die rein rhetorisch behandelt wurden. »Die Probleme, die sie [die linksgerichteten Sozialwissenschaftler] dagegen wirklich beschäftigten, waren beispielsweise, in welchem Stadium sich die chilenische Revolution im Vergleich zu den Entwicklungen der sowjetischen Revolution zwischen 1905 und 1917 befand.«15 Ein Beweis außerordentlichen intellektuellen Kalküls und politischer Klugheit, ganz zu schweigen von den Verbindlichkeiten gegenüber der Regierung, die, wie man annehmen darf, ihren sozialistischen Traum verwirklichte oder zu verwirklichen suchte. Die Linke verstand nicht nur die Realität nicht, sie verstand es auch nicht, ihr eigenes politisches Interesse zu verteidigen. Das Zusammenleben zwischen beiden Gruppen von Sozialwissenschaftlern war schwierig und konfliktreich. Es gibt genügend Beweise dafür, aber es existieren zumindest zwei Veröffentlichungen, die auch den größten Skeptiker überzeugen. Im Jahr 1971 und nochmals 1973 organisierte das Institut für Sozialforschungen der Staatlichen Autonomen Universität von Mexiko (UNAM) zwei internationale Seminare zu Themen, die sich mit den gesellschaftlichen Klassen in Lateinamerika beschäftigten. Am ersten Seminar nahmen als Redner Florestán Fernández, Nicos Poulantzas und Alain Touraine teil, als Kommentatoren Fernando Henrique Cardoso, Manuel Castells, Jorge Graciarena, Jorge Martínez Ríos, José Calixto Rangel Contla, Rodolfo Stavenhagen, Edelberto Torres Rivas, Francisco Weffort und Gino Germani. Auf dem zweiten Seminar sprachen Cardoso, Aníbal Quijano und Torres Rivas; als Kommentatoren fungierten Roger Bartra, Agustín Cueva, Enrique Contreras, Víctor Manuel Durand, Enzo Faletto, Orlando Fals Borda, Octavio Ianni, Julio Labastida, José Luis Reyna, Manuel Villa, Sergio Bagú, Francois Bourricaud und Ernest Mandel. Auf den Seminaren waren also viele der herausragendsten Soziologen und Politologen Lateinamerikas sowie prominente Persönlichkeiten aus Europa vertreten, die dem Marxismus mehr oder weniger nahe standen. Nichtsdestoweniger zeigt eine genaue Lektüre bei einigen der Teilnehmer (vor allem bei Fernando Henrique Cardoso) beträchtliche Bemühungen, wenn auch nicht neue, so doch damals zumindest nicht ganz übliche Themen zur Debatte zu stellen, die von jener intoleranten Linken jedoch abgelehnt und verdammt wurden. In den Texten kommen die Spannungen, die bei den Seminaren herrschten, deutlich zum Ausdruck; sollte es dennoch Zweifel geben, so genügt es, die Einführung in das zweite der Bücher zu lesen, um sich von dem allgemeinen Klima der »Gewalt in den Diskussionen«16 zu überzeugen, selbst wenn es auch vernünftige Beiträge gab. Mit dieser Art von Unfähigkeit und intellektuellem Hochmut gruben sich die Sozialwissenschaftler ihr eigenes Grab. Ihr Ziel, ihr auf der marxistischen Doktrin begründeter Traum, war ihr Totengräber. Sie machten den Sozialismus zum Inhalt ihres intellektuelle Lebens und paradoxerweise zur Ursache ihres Scheiterns. Die Sozialwissenschaftler der Linken besaßen – in Abwandlung von Lenins Worten – mehr Leidenschaft als Verstand. Wie Müller von den Intellektuellen der ehemaligen Bun15 ARROSA SOARES, M.S.: op. cit., S. 62. 16 Las clases sociales en América Latina, Siglo XXI, Mexiko, 1971, und Clases sociales y crisis política en América Latina, Siglo XXI, Mexiko, 1973.

Die Intellektuellen und der Übergang zur Demokratie | 49 desrepublik sagt, die eher bereit waren, die vermeintliche Unterdrückung ihrer französischen Kollegen unter der Regierung De Gaulle zu kritisieren, als die Deutschen im Osten, die unter dem Stalinismus17 lebten, zu verteidigen, so konnten die marxistischen Sozialwissenschaftler Lateinamerikas nicht verstehen, dass ihr Sozialismus – den sie in einem verzweifelten Versuch, seine imaginäre Reinheit zu bewahren, auch noch realen Sozialismus getauft hatten – die gleichen oder noch schlimmere Grausamkeiten beging als die Militärdiktaturen, von denen sie selbst verfolgt wurden. Nie konnten sie verstehen, dass ihr Kampf gegen die Diktaturen Lateinamerikas streng genommen der Kampf gegen die kommunistischen Regime war, die den Gesellschaften in Osteuropa und selbst in der Sowjetunion aufgezwungen worden waren. Dies zu akzeptieren wäre das Eingeständnis gewesen, dass ihr Traum gescheitert und die so viel geschmähte liberale Demokratie die einzig mögliche Lösung war. Die größte Tragödie dieser linken Intellektuellen war, dass sie außerhalb der Realität lebten, die sie verstehen und erklären wollten, und sie sich somit auch außerhalb der Geschichte bewegten. Aus Überzeugung verfolgten sie die Vorstellung von der Verbesserung der sozialen und persönlichen Verhältnisse, was in der Wirklichkeit Grausamkeiten und Gewalt zur Folge hatte. Ihre besten Vorsätze (welche es auch gewesen sein mögen) waren nicht dazu beschaffen, nach dem Fall der Diktaturen und autoritären Regime in Lateinamerika aufrecht erhalten zu werden. Denn dazu gehörte auch die Aufrechterhaltung der sozialistischen Systeme, welche sie mit Zähnen und Klauen verteidigten und deren Bürger sie mehr als einmal für Beispiele des »neuen Menschen« erklärt hatten. Ihr Beitrag zu den politischen Veränderungen ist daher nicht intellektuell, sondern tragisch. Aufgrund ihres entschieden militanten Engagements wandten sich viele Sozialwissenschaftler von der intellektuellen Arbeit ab, um die Diktaturen zu bekämpfen. Wie viele andere Bürger wurden sie Opfer der Unterdrückung und erscheinen heute auf den Listen der »Verschwundenen«. Ihr Beitrag war, tragischerweise, ihr eigenes Leben. Aber auf rein intellektuellem Gebiet ging der Wandel unbemerkt an ihnen vorüber. Sie hatten weder Ideen noch ausreichende Argumente, um den politischen Umschwung zu bewerkstelligen und eine neue Demokratie zu entwerfen. Abgesehen von einigen wenigen Sozialwissenschaftlern, die auch während ihrer »linken« Epoche flexibel genug waren, ihre Grenzen einerseits und die Möglichkeiten der freiheitlichen Demokratie andererseits zu akzeptieren, erlebte die Mehrheit der Marxisten mit dem Niedergang der Diktaturen auch ihren persönlichen Zusammenbruch.18 Jene, die damals abseits gestanden hatten, waren es, die nun neue Themen und Techniken vorschlugen, die einst verteufelt worden waren. Ohne notwendigerweise politisch tätig zu werden (obwohl es zweifellos auch dafür eindrucksvolle Beispiele gibt, wie Fernando Henrique Cardoso)

17 MÜLLER, J.W., op. cit.. 18 Tragische Fälle waren die Argentiniens und Chiles, wo die politischen Aktivitäten und Positionen der Sozialwissenschaftler während und nach den Zeiten der Militärdiktatur noch heute heftige Debatten entfachen. Siehe dazu die Arbeiten von Alfredo Jocelyn-Holt und Hugo Quiroga in dieser Zusammenstellung.

50 | Rogelio Hernández Rodríguez waren sie es, die zum Wandel beitragen konnten, dank ihrer besonderen Fähigkeit: zu denken und zu kritisieren.

In Frage gestellte Kreativität Die literarisch tätigen Intellektuellen konnten sich den politischen Herausforderungen ihrer Zeit und ihrer Länder nicht entziehen, aber es gelang ihnen wenigstens, ohne größere persönliche und vor allem literarische Schäden davonzukommen. Ihre Tätigkeit an sich bewahrt sie, wie zu Beginn dargelegt, vor den Wechselfällen des Alltags, wie sie die Sozialwissenschaftler peinigen, denn für die Literaten gibt es im Allgemeinen keinen Zweifel daran, dass ihre schöpferische Arbeit weniger eine gesellschaftliche als eine persönliche Angelegenheit, ein Beitrag zu der Kultur der Menschheit ist. Im Unterschied zu den Sozialwissenschaftlern, die, ob sie es wollen oder nicht, spezielle Situationen erklären, die das Leben aller betreffen, fragen sich die schöpferisch Tätigen im Grunde nicht, ob ihre Arbeit irgendein Problem erklärt, geschweige denn löst, so schwerwiegend es in dieser oder jener Region auch sein mag. Natürlich halten sie sich nicht immer fern der Realität, in kritischen Situationen haben sie sich auch offen an politischen Aktionen beteiligt: um ein historisches Beispiel zu nennen, während der deutschen Besetzung Frankreichs, als sich namhafte Schriftsteller (Sartre, Camus, Malraux) gezwungen sahen, ihre Heimat und ihre Ideen selbst unter Lebensgefahr zu verteidigen. Auch in Lateinamerika war das politische Auftreten der Literaten von den historischen Umständen erzwungen, aber auch von dem Druck, den die Sozialwissenschaftler und die Linke insgesamt ausübten, die gerade das in Frage stellten, was in den Augen der Literaten nicht in Frage gestellt werden konnte: der wahre Wert ihrer Werke unter gesellschaftlichem, aber vor allem politischem Gesichtspunkt. Wie für ihre Kollegen, war auch für sie der Fall Kuba eine entscheidende Erfahrung, denn jenseits ihrer politischen Forderungen stellte der Fall Kuba die kulturellen Werte und ihre angebliche Kraft zur Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse zur Diskussion. Freilich war Kuba nicht der alleinige Grund für die Katastrophe. Der Sozialismus sowjetischer und chinesischer Prägung trug mit der Vorstellung eines Parallelismus zwischen einer »neuen Gesellschaft« und einer »neuen Kultur« zur Schaffung eines ebenfalls »neuen Menschen« entscheidend zu dieser Absurdität bei. Alles in allem war diese Idee ein so schlagender Beweis gerade für die verheerende Unkultur (der »sozialistische Realismus« und die »Kulturrevolution« hatten nicht nur Werke zerstört und den Kulturaustausch unterbunden, sondern auch verboten, neue Werke zu schaffen, was eine Ausgrenzung der Intellektuellen zur Folge hatte), dass die schöpferisch Tätigen gewarnt waren. Kuba schien daher eine eindeutige Alternative sowohl angesichts dieser Exzesse wie auch für die Region selbst und blieb trotz aller Missstände (die immer dem Mangel an Erfahrung und äußeren Zwängen zugeschrieben werden konnten) ein hoffnungsvolles Beispiel bis zum Fall Padilla im Jahr 1971, als es zu einer tiefen Spaltung unter den Literaten selbst kam. Abgesehen von ideologischen Positionen, die jeder Literat vertreten mochte, war es obligatorisch, bei politischen Debatten aufzutreten, und zwar auf Grund einer

Die Intellektuellen und der Übergang zur Demokratie | 51 Forderung, die aus der Distanz betrachtet absurd erscheint, damals aber unverzichtbar war: die Forderung nach Engagement gegenüber der Realität. Unter den vielen Äußerungen war vielleicht diejenige Jean Paul Sartres die einflussreichste, sowohl dank seiner Stellung unter den Intellektuellen auf der ganzen Welt, wie auch wegen der Einfachheit seiner Ausführungen. In einem weit verbreiteten Werk (von dem schon 1950 eine spanische Übersetzung existierte) vertrat Sartre die Ansicht, dass ein intellektuelles Werk, vor allem ein literarisches, nur dann Sinn hatte und erst dann wirklich existierte, wenn der Leser es las oder das Publikum es sah.19 Mit anderen Worten, die reine Schöpfung, die trotz der Verständnislosigkeit oder sogar Ablehnung des Publikums vor allem für den Autor dennoch befriedigen konnte, war inakzeptabel. Man schrieb für einen Adressaten, für ein bestimmtes Publikum und natürlich mit einem besonderen Anliegen. Diese Einstellung führte wiederum zu Intoleranz. Aus rein schöpferischem Vergnügen zu schreiben galt als Individualismus, natürlich einer bourgeoisen Haltung, also wurden bestimmte Inhalte festgelegt, mit denen die Literatur pflichtgemäß ein Publikum erreichen und schließlich irgendeinen Nutzen bringen konnte. Wenn sich der Intellektuelle nicht aktiv an der Gestaltung der Realität beteiligte (was von der Linken mehr oder weniger akzeptiert wurde), musste er sich in seinem Werk wenigstens mit der »Realität« der Völker Lateinamerikas auseinandersetzen, ihre Lebensbedingungen schildern und, selbstverständlich, deren Veränderung sowie die Befreiung der Länder propagieren. Von da war es nur noch ein Schritt zum »sozialistischen Realismus«, ein Schritt, der während der 1960er und 1970er Jahre oft vollzogen wurde, bis eine reine »Pamphlet-Literatur« entstand. Die Diskussion wäre begrenzt geblieben und hätte zu keinerlei Konflikten geführt, wäre es nicht zu einem entscheidenden Phänomen gekommen, das den Erzählern jener Zeit zu einflussreichen Positionen innerhalb Lateinamerikas und sogar in Europa verhalf. Die 1960er und 70er Jahre brachten nicht nur den Ausbruch gesellschaftlicher und politischer Probleme, sondern auch einen kulturellen Wandel, vor allem in der Erzählkunst Lateinamerikas, der zweifellos die Literatur insgesamt revolutionierte. Zuvor waren die Werke dieser Erzähler kaum in ihren eigenen Ländern bekannt, sie waren nicht nur auf dem alten Kontinent, sondern selbst im übrigen Lateinamerika nur wenig verbreitet. Aber um 1960 begannen Schriftsteller überall, Werke zu veröffentlichen, welche die bis dahin auf dem Kontinent übliche Erzählkunst vollständig erneuerten. Die Themen, insbesondere aber die Erzähltechnik, waren andersartig und brachen mit allen Mustern, die als typisch für diese Länder galten. Junge, bis dahin unbekannte Autoren veröffentlichten wertvolle Werke, ohne dabei in den von der Linken geforderten Utilitarismus zu verfallen; sie führten eine Realität vor Augen, die bis dahin aus der Perspektive des Nationalismus, der Eingeborenenkultur und der Rückständigkeit betrachtet worden war. Es war eine Literatur, die vor allem dem persönlichen Interesse eines jeden Autors entsprang (und, wie sich später zeigen sollte, dem Interesse ihrer Generation insgesamt) sowie mit Themen und Techniken experimentierte, die in der lateinamerikanischen Literatur nicht

19 SARTRE, Jean Paul: Que es la literatura?, Losada, Buenos Aires, 1950.

52 | Rogelio Hernández Rodríguez üblich waren. Es war, wie Donoso sagte, eine Literatur »vorrangig intellektueller Prägung und Zielsetzung«, es waren Romane für eine Elite.20 In den Anfangszeiten waren die Autoren weit davon entfernt, sich die Frage zu stellen, für wen man schreibt, von der die Linke so besessen war und die entscheidend für die Annahme oder Ablehnung der Werke wurde. Bei dieser Generation, die sich für die erzählende Literatur als solche interessierte, fand diese Frage kein Interesse. Der Erfolg dieser Autoren, die Bedeutung, die sie in Lateinamerika, in einigen Fällen sogar international, erlangten, machte deutlich, dass in Lateinamerika eine neue literarische Generation geboren worden war. Die Reaktionen darauf waren heftig, sowohl von seiten der Erzähler selbst wie von der akademischen Linken. Die Erzähler sprachen von dieser neuen Literatur verächtlich als von einem »Boom« – ein schöneres Wort für einen zufälligen, plötzlichen Ausbruch, ohne Vergangenheit und Zukunft und selbstverständlich ohne Inhalt. Der Begriff, mit dem man noch heute die Gesamtheit dieser Werke bezeichnet, sollte verächtlich klingen, ihre Qualität in Zweifel ziehen und ihren unerwarteten Erfolg lediglich der Werbung zuschreiben sowie dem Einsatz eines spanischen Verlages, der diese Literatur mit Preisen bedachte und für ihre Verbreitung sorgte. Auf jeden Fall aber machten diese Werke die Autoren zu einflussreichen Persönlichkeiten, die, sei es zum Guten oder zum Bösen, Diskussionen auslösten, ein Publikum um sich versammelten und von verschiedensten Personen angehört wurden. Ihre Position wurde trotz allem ausgenutzt, um politische Unterstützung zu erlangen, und deshalb forderte man von ihnen, auf diesem Gebiet Stellung zu beziehen. Die ideologischen Auseinandersetzungen jener Zeit sowie die Existenz Kubas schufen die Voraussetzungen dafür, dass die Forderung Sartres dieser neuen Generation aufgezwungen wurde. Überall kam Kritik am Elitismus ihrer Werke auf, man warf den Autoren vor, ihre Themen bewegten sich fern der täglichen Probleme der Länder und trügen nicht, wie von der Linken gefordert, zur Bewusstseinsbildung bei, sondern zur »Entfremdung« der Leser. Außerdem kritisierte man, dass alle großen Schriftsteller der Zeit ihre Herkunftsländer verlassen hätten und in den Großstädten Europas lebten. Nach dem Urteil dieser intoleranten Kritik schufen sie nicht nur eine dem Volk unverständliche Literatur, sondern sie taten dies, weil sie in privilegierten Verhältnissen lebten, die sie bewusst gewählt hatten, um die Verhältnisse in ihren Ländern ignorieren zu können. Die Auswanderung in jenen Jahren hatte nicht immer mit politischen Problemen zu tun, sondern oft genug auch mit den kulturellen Beschränkungen in den Ländern Lateinamerikas. Es gab wirtschaftliche Motive, aber wie José Donoso feststellte, war auch die kulturelle Einengung in den jeweiligen Ländern von Bedeutung, 20 DONOSO, José: Historia personal del Boom, Alfaguara, Santiago de Chile, 1998 (die Originalausgabe erschien 1972), S. 91. Der Boom war damals wie heute umstritten. Zwei gegensätzliche Positionen, die aber im Allgemeinen die gängigsten Interpretationen wiederspiegeln, finden sich bei RAMA, Angel: »El ›boom‹ en perspectiva«, in: Angel RAMA (Hrsg.) Más allá del boom. Literatura y mercado, Marcha editores, Mexiko, 1981, und RODRIGUEZ MNOEGAL, Emir: »La nueva novela de Latinoamérica«, in Aurora M. OCAMPO (Hrsg.), La crítica de la novela iberoamericana contemporánea, UNAM, Mexiko, 1973.

Die Intellektuellen und der Übergang zur Demokratie | 53 wenn offener Erfahrungsaustausch ebenso verhindert wurde wie die Einfuhr neu erschienener Werke und die Veröffentlichung der eigenen.21 Schließlich waren Auslandsreisen der Autoren und der Kontakt mit der Außenwelt unerlässlich als Impuls für die literarische Schöpfung und zur Überwindung lokaler Begrenzungen. Wer wirklich schöpferisch arbeitete und die Richtung der Ereignisse bestimmte, waren, wie auch bei den Sozialwissenschaftlern, jene Intellektuellen, die sich von ihrer Umgebung distanzierten. Es war nicht einfach, dies alles zu verstehen. Während der 1970er Jahre, als die neue lateinamerikanische Erzählkunst eine außerordentliche Verbreitung genoss und die Ideologisierung sich verstärkte, erschienen immer mehr Texte, die den »Mangel an (intellektuellem) Engagement« sowie die Distanz zu den Aufgaben der Revolution kritisierten.22 Grausame Ironie des Schicksals – oft waren es ausgerechnet kubanische Schriftsteller aus der »Casa de las Américas«, die diese Art Kritik übten und verbreiteten, während die »Casa de las Américas« Vorträge und Kongresse veranstaltete, die Veröffentlichung von Büchern und Broschüren förderte, welche sowohl die kulturelle Öffnung der kubanischen Revolution propagierten wie die Kritik an der »nicht-engagierten« Literatur. Mehr noch, die »Casa de las Américas« verlieh Preise, mit denen sie regelmäßig Vertreter der »genehmigten« Erzählkunst auszeichnete; darunter waren, bis zum Fall Padilla, einige Werke der neuen Generation sowie »realistische« Werke. Die Schriftsteller zögerten nicht, sich dem Sozialismus anzunähern, wenngleich sie ihre schöpferische Freiheit energisch verteidigten und eine Trennung zwischen ideologischen Präferenzen und intellektueller Arbeit vorschlugen. Ideologische Präferenzen konnten sie möglicherweise dazu bringen, spezifische politische Modelle zu unterstützen, die intellektuelle Arbeit dagegen würde es ihnen erlauben, zu ihrer eigenen Befriedigung zu schreiben, über Themen und mit den Mitteln ihrer Wahl. Ein Text muss in diesem Zusammenhang unbedingt erwähnt werden. Im Jahr 1969 erschienen in der in Montevideo herausgegebenen Zeitschrift Marcha zwei Essays des Schriftstellers Oscar Collazos, die danach in ein in Mexiko veröffentlichtes Buch aufgenommen wurden. Sie enthielten eine scharfe Kritik an Julio Cortázar und Mario Vargas Llosa, zwei der bedeutendsten Erzähler jener schöpferischen Generation. Obwohl Collazos versuchte, sich in seiner Kritik auf Technik und Themen der beiden Autoren – und somit aller übrigen Schriftsteller – zu beschränken, verurteilte er sie schließlich als elitär und nicht-engagiert und warf ihnen insbesondere vor, nicht an den Ereignissen in Kuba teilzuhaben. Vor allem zwei Dinge irritierten Collazos; sie betrafen das Interesse von Vargas Llosa an der sowjetischen Invasion in der Tschechoslowakei und dem Fall Padilla sowie seine Aussagen dazu. Der peruanische Schriftsteller, der beide Ereignisse offen kritisiert hatte, war für Collazos ein Beispiel des Hochmutes, da er es wagte, »Castro 21 DONOSO, J.: op. cit., S. 27-29 und 108. 22 Einige Arbeiten sind: Roberto FERNANDEZ RETAMAR und andere, El intelectual y la política, Siglo XXI, Mexiko, 1969, und: verschiedene Autoren: Literatura y arte nuevo en Cuba, Estela, Barcelona, 1971. Außerdem natürlich die von der »Casa de las Américas« herausgegebene Zeitschrift.

54 | Rogelio Hernández Rodríguez (und der Sowjetunion) – von einer reaktionären Tribüne aus – wegen der Besetzung der Tschechoslowakei Lehren über Vernunft und internationale Politik«23 zu erteilen. Zum anderen war es eine Äußerung von Vargas Llosa, die Collazos, und somit der gesamten Linken, skandalös erschien, weil Vargas Llosa darauf beharrte, dass die Literatur als kulturelle Ausdrucksform subversiv sei, sowohl im Kapitalismus wie im Sozialismus. Darauf wusste Collazos nur zu antworten, dass »man in einer Revolution Schriftsteller, aber auch Revolutionär ist, […] in einer Revolution ist man Intellektueller und notwendigerweise […] Politiker.«24 Für die doktrinäre Linke hatte eine künstlerische Schöpfung an sich keinen Wert, Wert besaßen nur politische Haltungen und Aktionen. Collazos erhielt von den kritisierten Autoren Antwort; beide verteidigten die Notwendigkeit, das Werk von politischen Neigungen zu trennen, sie erinnerten den Kolumbianer daran, dass Kultur nur mit schöpferischer Freiheit gestärkt werden kann. Bemerkenswert ist, dass Collazos Kritik in Havanna datiert ist, während die Antworten von Cortázar und Vargas Llosa in Paris und London unterzeichnet sind – aus der zum Denken nötigen Distanz. Die Diskussion flaute jedoch nicht ab, vor allem deshalb nicht, weil nahezu alle Schriftsteller die kubanische Revolution und ihre Ideale bedingungslos verherrlichten. Sie setzten sich nicht nur ideologisch, sondern auch praktisch dafür ein. Donoso zum Beispiel verweist darauf, dass Carlos Fuentes, der sich später zum Vertreter der Demokratie erklären sollte, 1962 behauptete, nach seiner Überzeugung dürfe man »öffentlich von nichts anderem mehr reden als von Politik, niemals von Literatur, (denn) in Lateinamerika waren sie untrennbar miteinander verbunden, und Lateinamerika konnte zur Zeit nur nach Kuba blicken.«25 Damit nicht genug, Donoso erinnert ferner daran, dass in demselben Jahr ein Intellektuellen-Kongress in der chilenischen Stadt Concepción stattfand, wo Fuentes und Neruda es unternahmen, die Diskussionen auf militante Art und Weise zu politisieren. Sie taten dies so vehement, dass sie den damals schon für die kubanische Regierung tätigen Alejo Carpentier davon überzeugen konnten, auf seinen – vorsichtig formulierten – Vortrag über die »Magischen Elemente der Literatur der Karibik« zu verzichten und stattdessen eine Rede zur Unterstützung Kubas und Castros zu improvisieren. Diese fiel, wie Donoso schreibt, erbärmlich aus. Fuentes und Neruda waren nicht die einzigen, die an Kuba und den Sozialismus glaubten und dafür eintraten; im Grunde taten es alle. Bruch und Konfrontation lagen, ebenso wie im Fall der Sozialwissenschaftler, im Sozialismus und der kubanischen Revolution selbst begründet, die im Fall Padilla die gleiche Intoleranz und Verachtung der Kultur an den Tag legten wie der sowjetische Sozialismus. Am 5. April 1971 veröffentlichten 61 Intellektuelle (nicht alles Lateinamerikaner und unter ihnen bezeichnenderweise auch Sartre) einen Protestbrief angesichts des erniedrigenden »Bekenntnisses« des Dichters Padilla, der als Dissident auf Kuba in Haft saß. Die Antwort lieferte Castro selbst, der die Unterzeichner »intellektuelle Ka23 Literatura en la revolución y revolución en la literatura, Siglo XXI, Mexiko, 1971, S. 88. 24 Idem, S. 37 und 85. 25 DONOSO, J.: idem, S. 60.

Die Intellektuellen und der Übergang zur Demokratie | 55 naillen aus Europa« nannte. Das Eingreifen des »máximo líder« genügte, und aus den ohnehin schon häufigen Kritiken wurde offene Verfolgung der Autoren, vor allem von Vargas Llosa, dem einzigen Schriftsteller dieser Generation, der gewagt hatte, zu unterschreiben.26 Von da an wurde die Kritik zur Zensur gegen die Werke und Autoren, die nicht mit dem Sozialismus sympathisierten. Aber seltsamerweise berief sich die Linke in ihrer Zensur nicht auf die Werke selbst, solange der Inhalt – abseits der ideologischen Konfrontation – der experimentellen Erzählkunst und nicht dem »sozialen Realismus« verpflichtet war, sondern auf die öffentlichen Positionen der Autoren. Die Linke beging einen weiteren schweren Fehler, indem sie sich der anfänglichen Kritik anschloss, die in der neuen Erzähler-Generation ein zufälliges Phänomen, ein Ergebnis der Propaganda sah, das nun vom Imperialismus gefördert wurde. Bei ihnen herrschte nicht der Wille zur literarischen Erneuerung, sondern Opportunismus; sie waren sich weder darin einig, dass Kultur dem Wandel dienen sollte, noch verfolgten sie dieselben gesellschaftlichen Ziele. Héctor Schmucler beispielsweise, Schriftsteller, Sozialwissenschaftler und ehemals Herausgeber einer wichtigen Zeitschrift, »Los Libros« (Die Bücher), die sich vor allem mit Literatur beschäftigte, bemühte sich in einem Brief an den spanischen Schriftsteller Juan Goytisolo, deutlich zu machen, dass es in Lateinamerika eine andere Literatur gab, eine Literatur auf der Suche nach einer neuen Kultur, basierend auf den Erfahrungen in Kuba; die Werke des »Booms« seien an dieser Kultur aber in keiner Weise beteiligt. Um dies zu erklären, sagte Schmucler, die Werke Vargas Llosas und Cortázars hätten nichts gemeinsam, lediglich einseitige Werbung habe sie zusammengebracht. In seiner Hilflosigkeit behauptete er, Cortázar habe mehr Geistesverwandtschaft mit Borges als mit dem Peruaner Vargas Llosa, dem Kritiker Castros.27 All dies nur, um seine Kritik aufrechtzuerhalten. Wie es ihre Gewohnheit war, spielte sich die Linke als moderne Inquisition auf und legte ihre Liste wichtiger autorisierter Schriftsteller an, je nach deren »korrekter« Einstellung und ohne Rücksicht auf ihre literarischen Qualitäten, die Suche nach neuen Techniken, ihre Ähnlichkeiten oder Unterschiede. Somit gab es keinen Sympathisanten der Linken, keinen Revolutionär und keinen Weltverbesserer, der die Werke von Neruda, Nicolás Guillén und Benedetti, Celaya oder Cardenal, und vielleicht »Hundert Jahre Einsamkeit« von García Márquez oder das »Album für Manuel« von Cortázar nicht gelesen hätte, keinen, der »Gespräch in der Kathedrale« von Vargas Llosa, »Drei traurige Tiger« von Cabrera Infante, »Rayuela« von Cortázar, »Paradiso« von Lezama Lima, »Das kurze Leben« von Onetti, »Die verlorenen Spuren« von Car26 In Wirklichkeit teilten viele andere herausragende Schriftsteller die Kritik an Castro, unterzeichneten den Brief aber nicht, um nicht beschuldigt zu werden, Angriffe gegen die Revolution zu unterstützen. Von da an wandten sich einige Schriftsteller dieser Generation von Kuba ab; obwohl sie die gleichen Ansichten vertraten wie Vargas Llosa, wurde nur dieser wegen seiner Unterschrift unter den Protestbrief angegriffen. 27 Los Libros, Buenos Aires, Nr. 20, Juni 1971 In derselben Nummer erscheinen der Protestbrief der Intellektuellen im Fall Padilla und die wütende Antwort von Haydée Santamaría, der Direktorin der »Casa de las Américas«, an Vargas Llosa.

56 | Rogelio Hernández Rodríguez pentier nicht kannte oder rundweg verurteilte. Autoren wie Mujica Láinez, Borges, Mallea oder Marechal wurden als Aristokraten, Konservative und Reaktionäre selbstverständlich von der Liste der genehmigten Literaten gestrichen. Die Intoleranz führte zu Ignoranz. Politik und ideologische Präferenzen traten an die Stelle von Schöpfung und Kultur. So wie es nur eine Theorie und eine mögliche Erklärung der Welt gab, gab es auch nur eine realistische Literatur, die den Massen nützlich war, die die Welt, in der die ausgebeuteten Völker lebten, beschrieb und darzustellen in der Lage war. Wenn es keinen Vargas Llosa, keinen Sábato gab, so gab es noch weniger einen Lawrence, Faulkner, Dos Passos, Styron etc. Es gab nur Leere oder einen geschlossenen Kreis, der sich aus sich selbst nährte und diese Autoren unweigerlich außerhalb der Realität und der Geschichte stellte.28 An die »engagierte« Literatur erinnert sich heute niemand mehr, und, was noch schlimmer ist, sie brachte keinerlei Nutzen für den Prozess der politischen Veränderungen in Lateinamerika. In einigen Fällen – keinem geringeren als dem Fall Kubas beispielsweise – hat die graue und grausame Wirklichkeit außerdem gezeigt, dass die wirklich wertvolle Literatur nicht bei den vom Regime genehmigten Autoren zu suchen ist, sondern – abgesehen von den anerkannten Persönlichkeiten wie Carpentier und Lezama Lima – bei Autoren wie Cabrera Infante, die verfolgt und des Landes verwiesen wurden. Die erzählerischen Werke jener Jahre haben den Roman dieser Weltregion für immer revolutioniert und den Weg gebahnt, damit andere Autoren diesen Wandel vertiefen konnten. Glücklicherweise trugen sie nicht zu einem politischen Wandel bei, aber sehr wohl waren sie, wie jedes wirklich schöpferische Werk, eine Bereicherung der lateinamerikanischen Kultur und der Kultur der ganzen Welt.

28 Diese Leere war grausam, und nicht wenige versuchten, sie mit zwanghaften Interpretationen zu füllen. Bryce ECHENIQUE erzählt, als er nach acht Jahren Aufenthalt im Ausland nach Lima zurückkehrte, habe er festgestellt, dass sein Buch »Eine Welt für Julius« als Beispiel eines engagierten kritischen Werkes aufgenommen worden war – kritisch gegenüber der Entwicklung, die Juan Velasco Alvarado zum peruanischen Präsidenten machen sollte, und engagiert gegenüber einer antioligarchischen und nationalistischen Politik –, weil er in diesem Werk angeblich »die peruanische Oberschicht« kritisierte. Tatsächlich erzählt er in dem Buch das Familien- und Gesellschaftsleben der peruanischen Elite aus der Sicht eines Kindes, in dem leicht der Autor selbst zu erkennen ist. Bryce Echenique konnte seine Verwunderung nicht verbergen und betont, dass er den Roman »ohne die geringste politische Absicht« geschrieben habe, lediglich »mit dem Vergnügen, das sein Entstehen mir bereitete.« Permiso para vivir (antimemorias), Cal y Arena, Mexiko, 1994, S. 56-61. Die Linke brachte es oft fertig, die Wirklichkeit ihren Ideen anzupassen.

Die Intellektuellen und der Übergang zur Demokratie | 57 Osteuropa: Kritik, Opposition und politische Verantwortung In den sozialistischen Ländern sah die Welt vollkommen anders aus. Während der Sozialismus in Lateinamerika eine Alternative zum Kapitalismus und vor allem zu den Militärdiktaturen darstellte, war der von den Lateinamerikanern so bewunderte Sozialismus in Osteuropa ein System der Unterdrückung, in dem individuelle Äußerungen ausgeschaltet und politische Beteiligung unmöglich waren. Streng genommen gab es keine Opposition, ganz einfach weil der geringste Versuch, sie zu äußern, erbarmungslos unterdrückt wurde. Für Ungarn, Russen, Polen, Tschechen etc. war das politische Leben ebenso schwierig wie für die Lateinamerikaner oder noch schwerer. Bemerkenswert ist, dass sich Protestäußerungen auf der einen wie auf der anderen Seite manchmal gegen das gleiche Ziel richteten, allerdings mit verschiedenen Mitteln. Im Osten Deutschlands und in einigen anderen Ländern des Sowjetblocks galten die in Lateinamerika so beliebten und weit verbreiteten Songs von Dylan, Donovan und Baez gegen den Imperialismus als Ausdruck des Protestes gegen den sozialistischen Totalitarismus.29 Wie Vargas Llosa sagte, konnte Literatur in dem einen wie im anderen Regime gleichermaßen subversiv sein, und sie war es auch, muss man hinzufügen, da beide Staatsformen ihre Gesellschaften »erstickten.« Dies ist zwar nicht die beste Gelegenheit, Vergleiche anzustellen, aber während die Diktaturen in Lateinamerika nicht nur Unterdrückung bedeuteten und deshalb einige von ihnen eine gewisse Unterstützung erhielten (Chile ist das beste Beispiel), verstanden es die sozialistischen Regime ganz offensichtlich nicht, wirtschaftliche Stabilität mit gesellschaftlicher Freiheit zu verbinden. Schlimm, wirklich tragisch war, dass der Sozialismus (der Osteuropa zudem nach dem Zweiten Weltkrieg von der Sowjetunion aufgezwungen worden war) sich zum Totalitarismus wandelte, vergleichbar den Diktaturen Lateinamerikas. Deshalb war es nicht zufällig, dass Ende der 1980er Jahre nicht nur in Lateinamerika, sondern auch in Osteuropa der Prozess der Demokratisierung begann, da mit dem Fall der Berliner Mauer schließlich auch die Ideologisierung zusammengebrochen war. Der Totalitarismus war eine Realität, er kontrollierte alles, jegliche kulturelle oder geistige Äußerung, die wirklich schöpferisch gewesen wäre. Die Literatur und die Literaten wurden ebenso überwacht, kontrolliert und vom Regime und seinen Führern zensiert wie die Gesellschaftswissenschaften und die Akademie. In einigen Fällen, wie im präsowjetischen Russland, war die Literatur dennoch außerordentlich fruchtbar, nicht jedoch während der sozialistischen Herrschaft. Natürlich gab es zu verschiedenen Zeitpunkten Anzeichen von Opposition, aber die sowjetische Zentrale machte es sich zur Aufgabe, sie zu unterdrücken, so dass es keine Möglichkeit zu neuen Protesten gab. Ungarn 1953 und die Tschechoslowakei 1968 waren eindeutige Beispiele dafür, dass sich die sozialistische Welt gegenüber der kapitalistischen Bedrohung, aber auch trotz der Unzufriedenheit ihrer eigenen Gesellschaften behaupten würde, denen sie den Sozialismus, natürlich zu deren Vorteil, übergestülpt hatte. 29 RAMET, Sabrina P.: Social Currents in Eastern Europe, Duke University Press, USA, 1991, S.40.

58 | Rogelio Hernández Rodríguez Die Opposition verstummte trotzdem nicht. Nach dem Prager Frühling wandelte sie sich zum Dissidententum innerhalb des Sozialismus, angeführt vor allem von Intellektuellen, die eine schrittweise Öffnung des Regimes erreichen wollten.30 In gewisser Hinsicht war es nur natürlich, dass die Intellektuellen die Kritikerrolle übernahmen, da der politische Wettstreit der Parteien, der die Kontrolle und doktrinäre Einheitlichkeit hätte unterminieren können, im Sozialismus nie erlaubt war. So wurden die Oppositionellen zu Dissidenten auf der Suche nach einem besseren Sozialismus, und dies war Folge der Unmöglichkeit, mit dem Regime ins Gespräch zu kommen. Sie akzeptierten den Sozialismus in seinem Wesen und seinen ethischen Prinzipien, aber sie wollten Kontrollen ausschalten, um diese Prinzipien verwirklichen zu können. In allen Ländern des Sowjetblocks meldeten sich – zahlreich oder weniger zahlreich – kritische Persönlichkeiten zu Wort, die mehr oder weniger toleriert wurden: Solschenizyn und Sacharow in der Sowjetunion, Rudolf Bahro und Robert Havemann in der ehemaligen DDR, Leszek Kolakowski, Jacek Kuron und Adam Michnik in Polen, György Bence und Janos Kis in Ungarn, Jan Patocka und Vaclav Havel in der Tschechoslowakei.31 Das traditionelle Fehlen von Parteien, die unheilvolle Präsenz der kommunistischen Parteien der jeweiligen Länder, die Regierung und öffentliches Leben kontrollierten, und die unnachgiebige Unterdrückung der Gewerkschaften führten zur offenen Ablehnung der Parteien als natürliche politische Vertreter und zur Suche nach anderen Organisationsformen, um die Proteste zu kanalisieren. Je nach Land und Schärfe der Kontrolle entstanden allmählich akademische Institutionen (die Schule des Marxistischen Humanismus in Budapest, beispielsweise), oder bürgerliche Einrichtungen, die Diskussionen und weniger bedeutende Veröffentlichungen unterstützten und eine nicht so sehr politische als viel mehr ethische und humanistische Kritik am Sozialismus übten. Die Reaktion auf eine Überbewertung dieser zivilen Institutionen und Volksbewegungen als Ursache des Wandels und darüber hinaus als Alternative zu den modernen Parteien und der modernen Politik waren grundlegende Differenzen in jedem der sozialistischen Länder, wobei die Protagonistenrolle der Intellektuellen festgelegt wurde. Sie waren zwar überall präsent, jedoch gelang es ihnen nicht immer, die Organisationen zu beherrschen, und selbst wo ihnen dies gelang, vermochten sie nicht, sich an der Macht zu behaupten. Polen, Ungarn und die Tschechoslowakei zeigen drei unterschiedliche Lösungswege und verschiedene Grade intellektueller Präsenz. In Polen waren die Intellektuellen von Anfang an am Prozess des Wandels beteiligt, dieser wurde aber angeführt von unterschiedlichen Gruppierungen, wie den Gewerkschaften mit festgefügten hierarchischen Strukturen. In den 1970er Jahren kam es zu mehreren Arbeiterdemonstrationen und 1976 schließlich zu Streiks, die von der Regierung gewaltsam unterdrückt wurden. Als Folge konstituierte sich das 30 BERNHARD, Michael: »Civil Society and Democratic Transition in East Central Europe«, Political Science Quarterly, Nr. 2, 1993, S. 312. 31 Idem, S. 312-313, und FINDLAY, Edward F.: »Classical Ethics and Postmodern Critique: Political Philosophy in Vaclav Havel and Jan Potocka«, The Review of Politics, Nr. 3, Sommer 1999.

Die Intellektuellen und der Übergang zur Demokratie | 59 »Komitee zur Verteidigung der Arbeiter«, das die Kritik an der Regierung anführte und die Bildung verschiedenartiger anderer Vereinigungen förderte, in denen vorrangig die Interessen der Arbeiter vertreten wurden.32 Zu jener Zeit nahmen die Intellektuellen aktiv am politischen Geschehen teil, aber der soziale Ursprung der Proteste und ihre Bedeutung innerhalb der Organisationen wurden bald wichtiger als der Einfluss der Intellektuellen. Gegen Ende der 1970er Jahre hatten sich diese Organisationen derart verbreitet, dass das Regime sich 1980 gezwungen sah, die Gewerkschaft »Solidarität« gesetzlich anzuerkennen. »Solidarnos´c´«, gestärkt nicht so sehr durch das juristische Verfahren zur Anerkennung wie durch die Tatsache, diese erzwungen zu haben, entwickelte ein Aktionsprogramm zur Ablösung des Sozialismus.33 Wie die Untersuchungen dieser Ereignisse gezeigt haben, handelte »Solidarnos´c´« nicht spontan und nicht nur als Antwort auf die damaligen Umstände, sondern ganz im Gegenteil, die Organisation hatte ein umfangreiches Aktionsprogramm entworfen, das sie systematisch umsetzte. Ein entscheidender Faktor (und im Falle der Intellektuellen aufschlussreich hinsichtlich ihrer Unterordnung während dieses Prozesses des Wandels) war, dass »Solidarnos´c´« die Kultur, die Erziehung, das Informationswesen etc. kontrollieren wollte, obwohl in Wirklichkeit die Regierung alle Aktivitäten überwachte. Ihre Strategie war, zuerst die Inhalte zu bestimmen und später ihre Kontrolle zu übernehmen. Im Dezember 1981, als die Regierung die Gewerkschaft noch zu unterdrücken versuchte und ihre Anführer festnahm, hatte sich die Opposition gegen die Regierung schon beträchtlich ausgeweitet. »Solidarnos´c´« hatte großen Einfluss in der Gesellschaft, besaß aber auch eine fast militärische Struktur, die im Verborgenen wirkte, und genügend Waffen, um zur Bedrohung für die Regierung zu werden. Kurz danach, im Juli 1982 schlug »Solidarnos´c´« die »selbstverwaltete Republik« als Alternative zum Sozialismus vor.34 Die zahlreichen Streiks, Demonstrationen und der soziale Druck führten schließlich, wie bekannt ist, zum Sturz des Regimes. Der Fall Polens zeigt manche Besonderheiten. Vor allem war der Prozess des Wandels nicht nur äußerlich und vorübergehend, sondern er hatte tiefgreifende gesellschaftliche und politische Ursachen (wie natürlich in allen Ländern des Ostblocks), seine Anführer verfügten über eine starke Organisation, die ein Programm und eine Strategie entwarf, mit denen bewusst die Abschaffung des sozialistischen Systems erreicht werden sollte. Die Aktivitäten dieser Organisationen und vor allem der Gewerkschaft »Solidarnos´c´« waren so überzeugend, dass ihre Erfolge und Errungenschaften zu entscheidenden Faktoren auch in den Nachbarländern wurden, da sie eines der stärksten Regime des Blocks schwächten und die Bildung von autonomen Organismen auch in diesen Ländern förderten. Eine weitere Besonderheit war, dass es Unterorganisationen mit stark klassenkämpferischer Ausrichtung (in diesem Falle Arbeiterorganisationen) waren, die für Disziplin sorgten und Struktu32 BERNHARD, M.: op. cit., S. 314-315. 33 RAMET, S.P.: op. cit., S. 65. 34 RAMET, idem, S. 66-70. Für detailliertere Ausführungen siehe Michael Bernhard, The Origins of Democratization in Poland: Workers, Intellectual, and Oppositional Politics, 1976-1980, Columbia University Press, New York, 1993.

60 | Rogelio Hernández Rodríguez ren sowie Hierarchien lieferten, mit deren Hilfe der Wandel unternommen werden konnte. Der Einfluss dieser klassenkämpferischen Organisationen hat den Wechsel zur Demokratie überlebt und war so bestimmend, dass schließlich politische Parteien entstanden und keine Bürgerbewegungen oder gesellschaftliche Gruppierungen. Die Intellektuellen beteiligten sich am politischen Geschehen, ohne jedoch die Führungsrolle zu übernehmen, und so waren Arbeiterführer die ersten Regierenden nach dem Sturz des Regimes. Die Intellektuellen begnügten sich mit dem Amt des Kritikers gegenüber dem Regime und behielten es auch nach dem Übergang zur Demokratie, spielten aber keine entscheidende Rolle während dieses Prozesses oder beim Aufbau der neuen Institutionen. Beweis dafür ist, dass die Vorschläge von »Solidarnos´c´« stark vom sozialen Denken der katholischen Kirche beeinflusst waren. Wie später in der Tschechoslowakei unter Havel, so lehnte »Solidarnos´c´« in Polen den westlichen Pluralismus ebenso ab wie den Kommunismus, da beide, jeweils auf ihre Weise, das Individuum ausschalteten. Stattdessen propagierte »Solidarnos´c´« den »Solidarismus«, eine Art »Kommunitarismus«, der ein Gleichgewicht schaffen sollte zwischen Individualität und sozialem Engagement.35 Das konnte natürlich keine wirklich institutionelle Alternative sein, und daher musste man Partei-Ideen akzeptieren, die dem Wandel schließlich politischen Inhalt verleihen sollten. In Ungarn und der Tschechoslowakei erging es den Intellektuellen besser. In Ungarn war der Hauptanreiz für ihre Teilnahme am politischen Geschehen die einzigartige Toleranz der sozialistischen Regierung seit Anfang der 1980er Jahre. Nach Meinung einiger Analysten war das Regime so tolerant, dass die Grenzen zwischen Offizialismus und oppositionellem Aktivismus verschwammen. Die Regierung erlaubte in jenen Jahren das Entstehen von Organisationen, die Rückkehr von Emigranten, die Veröffentlichung von Broschüren, Büchern und Manifesten und forderte Intellektuelle sogar dazu auf, Vorträge zu halten.36 Diese Toleranz, ja der Anreiz von offizieller Seite schufen einzigartige Bedingungen für die frühzeitige Teilnahme der Intellektuellen am Prozess des Wandels. Eine der ersten Organisationen war die »Schule von Budapest«, gebildet aus Philosophen und Soziologen, unter Leitung des früheren Premierministers Andras Hagedis, der Änderungen am Marxismus befürwortete; der Höhepunkt dieser Entwicklung war jedoch um 1981 erreicht, als eine Vielzahl unterschiedlicher Organisationen von Intellektuellen, Jugendlichen und Umweltschützern entstanden, die sich allmählich politischen Fragen zuwandten. Der »Kreis Blaue Donau« zum Beispiel, der in jenem Jahr aus Protest gegen den Bau eines Wasserkraftwerkes sowie gegen Atomwaffen gegründet wurde, sollte internationale Anerkennung finden und schließlich sogar den Friedensnobelpreis erhalten. Die größten Erfolge konnte diese Bewegung zwischen 1985 und 1987 mit der Gründung von zwei Organismen, der »Liga Junger Demokraten« und der wichtigsten und entscheidendsten, dem »Demokratischen Forum Ungarns«, verzeichnen. Dieses bestand zunächst aus Schriftstellern, Schauspielern, Musikern, Sozialwissenschaftlern und sogar Funktionären der Kommunistischen Partei. Sie propagierten 35 RAMET, S.P.: idem, S. 76-77. 36 Idem, S. 113.

Die Intellektuellen und der Übergang zur Demokratie | 61 die völlige Ablösung der Regierung, eine parlamentarische Demokratie mit einer neuen Verfassung und politischen Parteien. Ihre Führungsrolle wurde schließlich so unantastbar, dass es das »Forum« war, das 1989 mit der kommunistischen Partei über freie Wahlen im folgenden Jahr verhandelte und praktisch das neue institutionelle Gefüge entwarf. Grund für diese hervorgehobene Position war, dass es dem Forum gelungen war, die Mehrheit der Organismen zusammenzuführen, die in den voraufgegangenen Jahren allerorts entstanden waren, und die sich trotz unterschiedlicher Ziele alle in Budapest konzentrierten. Das hauptsächlich von Intellektuellen gebildete und geleitete Forum wurde somit zum Vorkämpfer des Wandels.37 Der Fall Ungarns zeigt ebenfalls einige besondere Merkmale. Obgleich sich auch in Ungarn die Proteste in einem langen Prozess formierten, waren diese, anders als in Polen, nicht klassenkämpferischer Natur, sondern bürgerlich; sie wurden von Intellektuellen geleitet, die so den Wandel mitbestimmten. Eine weitere Besonderheit war die außerordentliche Toleranz des kommunistischen Regimes Ungarns, das die Opposition nicht nur ermunterte, sondern sie dank eines starken reformistisch gesinnten Flügels der Kommunistischen Partei, der Kontakte mit dem »Demokratischen Forum« unterhielt, in gewissem Maß sogar förderte. Die polnische Regierung dagegen hatte die Opposition unterdrückt und in die Schranken zu weisen versucht. Beiden Ländern gemeinsam ist die organisatorische Tradition (ein wichtiger Faktor, der in der Tschechoslowakei nicht gegeben war), die nicht nur zur Entstehung von demokratischen Institutionen, sondern auch zur Bildung von funktionierenden politischen Parteien führen sollte. Diese lösten zusammen mit den überall entstandenen bürgerlichen Organisationen schließlich die Intellektuellen in ihrer herausragenden Position ab. Einerseits konnte die Führerschaft des »Forums« die Gründung von Organismen, die während der gesamten 1980er Jahre explosionsartig aufkeimten und jegliche Art sozialer und gesellschaftlicher Ziele verfolgten, nicht aufhalten: um 1991 gab es 24.051 verschiedene Gruppierungen.38 Andererseits war das Parteiendenken von Anfang an sehr verbreitet. Zwischen 1986 und 1989 wurde die Führungsrolle des »Forums« von mehreren Parteien und nicht nur von Organisationen in Frage gestellt; aufschlussreich ist dabei, dass einige von ihnen neu waren, andere aber bereits eine lange Tradition hatten, bevor das sozialistische Regime sie ausschaltete, wie die Sozialdemokratische Partei und die Partei der Klein-Eigentümer.39 Ergebnis dieser unaufhaltsamen Bildung von Organisationen und Parteien war paradoxerweise die Verdrängung der Intellektuellen von der Macht nach den ersten Jahren des demokratischen Wandels. 37 Idem, S. 114-120; BERNHARD, M.: »Civil Society …«, op. cit., S. 318-321, und COX, Terry und VASS, Lazlo: »Government Interest Group Relations in Hungarian Politics since 1989«, Europe-Asia Studies, Nr. 6, September 2000. 38 T. COX und L. VASS, op. cit. Dieselben Autoren weisen darauf hin, dass dank der von dem Regime in Gang gesetzten wirtschaftlichen Öffnung Organisationen kleiner Produzenten entstanden, auf die sich die Regierung stützte, um ihre Maßnahmen anzuwenden. Im Jahr 1982 gab es 6.570 davon, 1989 waren es bereits 8.396. 39 BERNHARD, M.: »Civil Society …«, idem, S. 320.

62 | Rogelio Hernández Rodríguez Mitte der 1990er Jahre hatten die Intellektuellen in ihrer Mehrheit die Regierung verlassen und kehrten wieder an ihre angestammten Arbeitsplätze, vor allem zu ihrer wichtigsten Funktion, der des Kritikers, zurück.40 Damit hatten sie es so eilig, dass man ihr ehrliches Engagement für die Demokratie anzweifelte. Die Rückkehr war nicht so sehr eine Ablehnung der Demokratie als vielmehr typisch für jeden Intellektuellen, der seine Ideen und Vorstellungen mit der Realität konfrontiert sieht. Die ungarische Erfahrung zeigt, dass das Dilemma der Intellektuellen zwischen Kritik und öffentlicher Aktivität schwerwiegende Konsequenzen für ihr Ansehen und ihre Stellung in der Gesellschaft mit sich bringt. Wie man bei den demokratischen Übergangsprozessen erkennen kann, hatten die Intellektuellen jeweils in Konfliktsituationen eine herausragende Stellung inne, nicht jedoch zu Zeiten der Stabilität. Vor allem in Osteuropa, wo die staatliche Kontrolle so übermächtig war, dass sie jegliche Organisationsform verhinderte, drangen die Intellektuellen bis ins Zentrum des Geschehens vor, machten Vorschläge für die Institutionen der neuen Regierung und entwickelten eigene Strategien. Die große Herausforderung kam in dem Moment, als sie versuchten, sie in die Tat umzusetzen. Genau genommen machte der Pluralismus der privilegierten Rolle, die sie bis dahin genossen hatten, in vieler Hinsicht ein Ende, wie in einer scharfsinnigen ungarischen Studie41 dargelegt wird. Zunächst verschwand die Führungsfunktion, die sie nicht nur als Kritker, die fortschrittliche Ideen präsentierten, sondern auch als Vertreter der Nation gegenüber der Macht innehatten; sie verschwand mit dem Zusammenbruch des Regimes, welches das Ziel ihrer Kritik gewesen war, denn waren sie früher die einzigen Vertreter einer Alternative, so waren sie jetzt nur eine Gruppe unter vielen, die der Pluralismus schuf, mit gleichen Eigenschaften und gleichen Vorteilen. Das vielleicht schlimmste Problem für sie bestand darin, dass sie nun keine Dissidenten mehr waren; das Dissidententum hatte sie zwar nicht vor physischen Gefahren geschützt, aber sie bewegten sich am Rande der Risiken, welche die Konfrontation mit der Realität für sie bedeutete. In dem Maße, in dem die Intellektuellen, vor allem in Ungarn und der Tschechoslowakei, die ersten Politiker, Präsidenten oder Premierminister stellten, bemerkten sie, dass das einzige, was sie bis damals zusammengehalten hatte, ein gemeinsamer Feind war; sobald dieser fehlte, kam es zu ideologischen und politischen Spaltungen über die Maßnahmen, die zu ergreifen waren. Sie bemerkten darüber hinaus, dass ein öffentliches Amt, wie die Berufspolitiker richtig sagen, die Verantwortung für die Folgen des Handelns in sich birgt. Ihr Scheitern in den Regierungen und ihr Versagen bei den Wahlen trugen mit zu ihrer Enttäuschung bei und zur Rückkehr in ihre Kritikerämter, jetzt für die Presse und auf akademischen Posten, aber wiederum mit dem Anspruch, gesellschaftliche Vor40 COX, T. und Vass, L.: idem; SZELENYI, Szonja, und andere: »Interests and Symbols in Post-communist Political Culture: The Case of Hungary«, American Political Science Review, Band 61, Juni 1996; und SELENY, Anna: »Old Political Rationalities and New Democracies. Compromise and Confrontation in Hungary and Poland«, World Politics, Nr. 4, Juli 1999. 41 KÖRÖSENYI, A.: »Intellectuals …«, op. cit., S. 416-419.

Die Intellektuellen und der Übergang zur Demokratie | 63 reiter zu sein. Im Grunde, so Körösényi, kam es zu einer »Neuauflage« des klassischen Dilemmas der Intellektuellen: die Mächtigen setzten deren Ideen – immer wenn sie, gestützt auf ihr Wissen, im Namen der Gesellschaft sprachen – nicht bedingungslos in die Praxis um, ohne sie auf ihre Brauchbarkeit zu prüfen. Das heißt, selbst wenn die Intellektuellen eine wirklich herausragende und entscheidende Rolle beim politischen Wandel spielten, gelang es ihnen nicht, das ethische und politische Dilemma zu lösen, das praktizierte Nonkonformität mit sich brachte. Die Tschechische Republik, zuvor Teil der Tschechoslowakei, ist ein beachtenswertes Beispiel des politischen Erfolges der Intellektuellen; kein Geringerer als Vaclav Havel, ihr wohl berühmtester Vertreter, war immerhin 1989 bis 2003 Staatspräsident. Die Gründe dafür sind jedoch im politischen Gefüge Tschechiens zu suchen, das, ebenso wie in Ungarn, ihre Teilnahme an der Politik begünstigte. Im Unterschied zu Ungarn konnten sie sich aber auf Grund der strukturellen Schwäche der Parteien und des Parlaments konsolidieren. Der Wandel in der Tschechoslowakei wird als die »samtene Revolution« bezeichnet, da er sich ohne größere Schwierigkeiten, ohne Krise und vor allem völlig ohne Gewalt vollzog, im Unterschied zu anderen Ländern wie Polen und vor allem Rumänien. Bemerkenswert daran ist aber, dass der »samtene« Charakter der Revolution Folge des beinahe natürlichen und im Regime selbst begründeten Zusammenbruchs desselben war und nicht Ergebnis der Aktionen einer organisierten und effizienten Opposition; und noch viel weniger war er Folge der direkten Beteiligung der Intellektuellen. Im Grunde verdankten die Intellektuellen ihren Aufstieg eher dem Fehlen von Alternativen als einem wohlüberlegten Plan, den Wandel herbeizuführen und selbst in die Hand zu nehmen. Die Opposition in der Tschechoslowakei war auffallend schwach; dies erklärt sich bis zu gewissem Grade aus der gewaltsamen Unterdrückung durch die Sowjetunion im Jahr 1968. Seit den 1970er Jahren und praktisch bis zur Auflösung des Regimes beschränkte sie sich auf zwei Organisationen: die Bewegung »Charta 77« und das kurz darauf entstandene »Komitee zur Verteidigung der zu Unrecht Verfolgten.«42 Die »Charta 77« entstand 1976 in erster Linie mit dem Ziel, eine Musikgruppe zu verteidigen, die vom Regime als subversiv betrachtet wurde. Zur »Charta 77« gehörten Intellektuelle (die berühmtesten unter ihnen waren Jan Patocka und Havel), die 1977 ein Manifest veröffentlichten, in dem sie sich einzig und allein für die Menschenrechte und die bürgerlichen Rechte einsetzten und von der tschechischen Regierung die Einhaltung der Konvention von Helsinki forderten. »Charta 77« war eine Bewegung, die nie geschlossen auftrat, da ihre Mitglieder – und dies ist wichtig, zu betonen – es nie wollten, aber auch, weil sie sofort von dem Regime verfolgt wurden. Sie besaß weder Statuten, Normen, Mitgliederlisten noch eine anerkannte Führung, was sie zur leichten Beute für die Regierung werden ließ. Aber immerhin begünstigten »Charta 77« und ihre Folgeerscheinungen die Entstehung des »Komitees zur Verteidigung der zu Unrecht Verfolgten«, das gegründet worden war, um die im Gefängnis sitzenden Anführer zu verteidigen. Dabei beriefen sich die Mitglieder auf das Prinzip der Menschenrechte, ohne politische Kritik am Regime zu üben oder gar seinen Sturz zu fordern. 42 BERNHARD, M.: idem, S. 323; RAMET, S.P.: idem, S. 102.

64 | Rogelio Hernández Rodríguez Zur »Charta 77« gehörten Schriftsteller, Akademiker, Journalisten, Parteimitglieder, Studenten, Angestellte etc. mit einem weiten Spektrum politischer und ideologischer Vorstellungen; es gab unter ihnen orthodoxe wie reformwillige Kommunisten, Liberale, Geistliche sowie Jugendliche ohne jegliche Ideologie, die der sogenannten »Randkultur« nahestanden. Sie verbreiteten den Protest und organisierten kulturelle Veranstaltungen (Konzerte, Theateraufführungen, Kunstausstellungen), in denen sie die Intoleranz der Regierung anprangerten.43 Obwohl es auch andere Organisationen gab, war keine einflussreich genug, um den politischen Wechsel zu bewerkstelligen. Auf Grund der Zersplitterung und Vielfalt der Gruppen sowie durch die Unterdrückung von »Charta 77« war der Prozess des Wandels relativ stark kontrolliert. Im Grunde sollte der Zerfall des Sozialismus im Lande erst beginnen, als Gorbatschow von der Sowjetunion aus sowie die fortschreitenden politischen Veränderungen in Polen, Ungarn und der früheren DDR Druck auf die tschechische Regierung ausübten. Es war genau zum Zeitpunkt des von Gorbatschow öffentlich erzwungenen Rücktritts von Gustav Huzak als Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, als die Protestaktionen von selbst losbrachen, ohne Organisation und ohne konkrete Anliegen.44 Mit der Unterdrückung dieser Proteste schlug die Geburtsstunde der beiden Organisationen, die den Wechsel herbeiführen sollten, des »Demokratischen Forums« (ein Name, der nicht zufällig an die ungarische Organisation erinnerte), das ehemalige Mitglieder der »Charta 77« in sich vereinte, und der Gruppierung »Publikum gegen Gewalt«. Diese beiden waren es, die im November 1989 Premierminister Marian Calfa davon überzeugten, Vaclav Havel als Präsidenten und Alexander Dubcek als Parlamentschef für eine Übergangsregierung zu benennen, die demokratische Wahlen vorbereiten sollte. Die Intellektuellen, angeführt von Havel, kamen an die Macht, aber im Unterschied zu ihren Kollegen in Ungarn waren sie am Sturz des Sozialismus nicht maßgeblich beteiligt. Aus der Distanz betrachtet schuf der Zusammenbruch des Regimes, der zum Großteil in ihm selbst begründet war, ein Machtvakuum, das Havel und seine Mitstreiter ausfüllten. Der Beitrag der Intellektuellen war rein ideologisch, nie programmatischer oder organisatorischer Natur. So wie andere führende Persönlichkeiten in den übrigen ehemals sozialistischen Ländern schlug Havel eine Art Neubelebung der Gesellschaft vor (selbstverständlich einer bürgerlich genannten Gesellschaft), die sich als Alternative zum Sozialismus und selbst zur repräsentativen liberalen westlichen Demokratie verstand. Der große Unterschied lag jedoch darin, ^

43 RAMET, S.P.: idem, S. 104-105. 44 Idem, S. 106-111. Bernhard bemerkt beispielsweise, dass entgegen der Meinung vieler die Erinnerung an den Prager Frühling bei den Protestbewegungen nicht bestimmend war. Die »samtene Revolution« begann im Grunde mit der Mobilisierung von seiten Jugendlicher zur Erinnerung an einen Studenten, der während der deutschen Besetzung von den Nazis ermordet worden war. Diese Protestveranstaltungen wurden vom sozialistischen Regime unterdrückt. Der Machtmissbrauch löste eine Reihe von Demonstrationen aus, die schließlich zu der Bildung einer Übergangsregierung führten, an der 1989 Vaclav Havel beteiligt war. Idem, S. 324.

Die Intellektuellen und der Übergang zur Demokratie | 65 dass Havel versuchte, ein besser ausgearbeitetes Programm anzubieten, das, wie er und seine Anhänger glaubten, reale Chancen haben würde, erfolgreich verwirklicht zu werden. Havel wollte die Politik »entpolitisieren«, das heißt, den sogenannten politischen Realismus vor allem innerhalb der Parteien abschaffen, da die politischen Institutionen im Allgemeinen Korruption und Bürokratie bedeuten und zur Annulierung des Individuums führen. Das Ende dieser »Entpersönlichung« war für die Gesellschaften, die jahrelang vom sowjetischen Totalitarismus unterjocht worden waren, der attraktivste Teil der »Entpolitisierung«.45 Das Denken Havels war derart radikal, dass er die kapitalistische Demokratie dem Sozialismus gleichsetzte, da beide Modelle, wie er versicherte, die Möglichkeiten der modernen Technologie in extremem Maße nutzten und in den Automatismus führten. Die Alternative dazu war für ihn Politik als moralische Tugend, eine Art utopischer Gemeinschaft, in der die Individuen sich ohne feste Normen organisierten, um Bürokratismus zu verhindern. Die Regierung sollte in Händen von Persönlichkeiten liegen, die die Gesellschaft überzeugten und von dieser Gesellschaft vorgeschlagen würden. Auf Parteien sollte verzichtet werden, um politische oder ideologische Verbindlichkeiten zu vermeiden und keinerlei Abhängigkeiten zwischen Organisationen aufkommen zu lassen. Die parlamentarische Demokratie sollte nur vorübergehend bestehen, bis sie irgendwann einer partizipativen Gemeinschaft Platz machen würde. Es ist leicht verständlich, dass diese Utopie für die Intellektuellen so attraktiv war: Sie stimmte vollkommen mit ihrer Selbsteinschätzung als weise Individuen überein, deren Wissen sich keinen Parteiinteressen unterwerfen konnte und die in der Lage waren, die Massen zu überzeugen, da sie genau diese Fähigkeiten und keine Programme besaßen. Mit anderen Worten, Havel war nur der Gesellschaft gegenüber verantwortlich, nicht gegenüber Parteien oder politischen Institutionen. Die Idealvorstellung der Intellektuellen war also Wirklichkeit, der Olymp zur Republik geworden. Dieser Traum erfüllte sich allerdings nicht, und, was noch schlimmer ist, seine Verwirklichung wurde von der Macht der Ereignisse verhindert, als die VorläuferBewegung, das »Demokratische Forum«, sich wegen interner Streitigkeiten auflöste, was zur Bildung von drei Parteien führte. Dennoch gelang es Havel, auf Grund der Schwäche und der Zersplitterung der Parteien und dank der Existenz grundlegender politischer Institutionen, vor allem des Parlaments, politisch zu überleben. Diese Unzulänglichkeiten innerhalb der Parteien sind natürlich Folge der fehlenden organisatorischen Tradition der tschechischen Gesellschaft sowie der nicht zu unterschätzenden Präsenz der Kommunistischen Partei, die das Parteienwesen zur Schande erklärte. Eine wichtige Rolle spielten aber auch die Ideen der Intellektuellen, die abgesehen von ihrem ethischen Verständnis vom Individuum unvereinbar sind mit der modernen Politik und der modernen Demokratie, die beide – per defini45 HANLEY, Sean: »The New Right in the New Europe? Unravelling the Ideology of ›Czech Thatcherism‹«, Journal of Political Ideologies, Nr. 2, Juni 1999; TUCKER, Aviezer, und andere: »From Republican Virtue to Technology of Political Power: Three Episodes of Czech Nonpolitical Politics«, Political Science Quarterly, Nr. 3, Herbst 2000; KÖRÖSENYI, A.: idem, S. 421-424, und FINDLAY, E.F., idem.

66 | Rogelio Hernández Rodríguez tionem – auf der Grundlage von Institutionen und Parteien organisiert sind. Ihre Ideen stimmen aber wunderbar mit dem Ideal überein, das die Intellektuellen von sich selbst und ihrem heroischen Auftrag entworfen haben. Angesichts des Misskredits, in den Politik und Politiker geraten waren, der unendlichen gesellschaftlichen und menschlichen Schmach, die der Sozialismus auf sich geladen hatte, und des Machtvakuums, das sich jeweils bei den Wandlungsprozessen auftat, fanden die Intellektuellen ein Terrain vor, das bestens bereitet war, ihre Ideen aufzunehmen und sie an die Spitze des Staates treten zu lassen. Das einzige Problem ist, dass sie nun der Kritik, die sie sonst üben, selbst ausgesetzt sind, und außerdem Rechenschaft ablegen müssen. Das heißt, sie sind gezwungen, ihren Thron als Elite, fernab der Nichtigkeiten der Welt, zu verlassen.

Eine Schlussfolgerung? Die größte Schwierigkeit bei allen Studien zur »sozialen Funktion« des Intellektuellen war möglicherweise das Fehlen konkreter Situationen, in denen sich diese deutlich gezeigt hätte. Ihre Funktion blieb daher verankert in der Kritik, der Darlegung von Ideen, Zielen und Projekten zur Verbesserung der gegenwärtigen Verhältnisse. Erst wenn der Intellektuelle sich gezwungen sieht, seine Ideen anzuwenden, sei es, weil es keine Politiker gibt oder weil sie sich einem ethischen Gebot verpflichtet fühlen, verliert diese Funktion ihre Unschuld und verwandelt sich vor allem in soziale Verantwortung. In Lateinamerika wurde daraus ein oft blindes Engagement für eine Doktrin, die man vielleicht irgendwann einmal für eine Theorie gehalten hatte. Dieses militante Engagement lieferte jedoch weder neue Ideen noch Erklärungen und noch viel weniger kulturelle Schöpfungen. Es produzierte Intoleranz und Zensur, verhinderte Diskussionen und, was am schlimmsten war, es war selbst machtlos angesichts der Inkonsistenz und des fulminanten Scheiterns seines Ideals. Die Enttäuschung vieler ist verständlich, die ihr Leben als Garantie für die Ideen hingegeben hatten, da die Ideen gescheitert waren; sie hatten nicht zur Ausschaltung der autoritären Regime beigetragen, und somit würdigte man ihre Leistung nun in keiner Weise. Aber auch in den anderen Ländern erging es den Intellektuellen nicht besser. In Osteuropa hatten sie zwar am Wandel mitgewirkt, diskutierten Ideen und machten eigene Vorschläge, gründeten Organisationen und drängten auf die Abschaffung der Unterdrückungsregime. Aber nachdem einmal ihr Ziel erreicht war, standen sie vor der Herausforderung, ihre Ideen in die Praxis umzusetzen. Der Erfolg war für viele begleitet von Scheitern und Enttäuschung, da sie nun das größte Risiko ihres Handelns auf sich nehmen mussten, die Verantwortung für ihre Wirklichkeit gewordenen Ideen, die Verantwortung für ihr öffentliches Auftreten und die gesellschaftlichen Folgen; all dies brachte sie auf den Boden der politischen Tatsachen, so wie sie die Politiker und der »gemeine Mann« erleben. Mit anderen Worten, der Intellektuelle musste von seinem Olymp herabsteigen und erkennen, dass die Realität nicht immer so ist, wie er sie sich aus der Distanz vorstellt und dass sich die Probleme noch viel weniger mit seinen wohldurchdachten Vorstellungen beheben lassen, so-

Die Intellektuellen und der Übergang zur Demokratie | 67 viel Reflexion auch dahinter stehen mag. Ein Dilemma, das, wenn es auch nicht ganz zu lösen ist, zu Zeiten von Stabilität und Wachstum gemildert werden kann, wenn die Grenzen zwischen dem Wünschenswerten und dem Möglichen klar sind – ein nobles Thema für den Intellektuellen.

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Die Subjektivität der guatemaltekischen Intellektuellen | 69

Die unglückselige Subjektivität der guatemaltekischen Intellektuellen 1 Edmundo Urrutia

Einführung: Die Jahre der Revolution (1944-1954) Während der Periode, die mit der Revolution vom Oktober 1944 ihr Ende fand, waren es die Intellektuellen, die Freiberufler, die Lehrer und Studenten an den Universitäten, die jene Politik in Gang setzten und weiter betrieben, welche zum Sturz einer der langlebigsten und repressivsten Diktaturen Guatemalas führte, der Diktatur unter General Jorge Ubico (1932-1944). Unter diesen Umständen kam es zu einem allgemeinen Aufbruch, der mit großen friedlichen Demonstrationen begann und später in eine bürgerliche und militärische Bewegung mündete. »Die politische Führung dieser Bewegung lag bei Freiberuflern und hispanisierten Intellektuellen der städtischen Mittelklasse, den ladinos. Diese Sektoren, die während der Jahre der Diktatur entstanden waren, hatten die Möglichkeit, dem neuen antifaschistischen und demokratischen Gedankengut Ausdruck zu verleihen, das dem internationalen Kontext entstammte. In anderen lateinamerikanischen Ländern kam es zu ähnlichen Entwicklungen.«2 Von 1944 an ergaben sich Gelegenheiten zur Teilnahme am öffentlichen Leben inmitten einer Atmosphäre weitgehender bürgerlicher und politischer Freiheiten. Die Studentenführer, Professoren und Lehrer übernahmen Regierungsämter und Posten im politischen Leben des Landes. Einige von ihnen verließen die Politik und kehrten wieder an die Universitäten zurück, andere blieben; von Bedeutung ist jedoch, dass zu jener Zeit allmählich eine neue politische Klasse entstand, zu der viele junge Intellektuelle gehörten, die kurz nach dem Triumph der Revolution neue politische Parteien gründeten oder diesen beitraten. Manuel Galich, Schriftsteller und Dramaturg, war einer der wichtigsten Anführer der ›Frente Popular Libertador‹ (Volksbefreiungsfront), der Partei der jungen Akademiker. In der Partei ›Renovación Nacional‹ (Nationale Erneuerung) waren vor allem Lehrer vertreten, und in der Partido Acción Revolucionaria (PAR, Partei der Revolutionären Aktion) fanden sich junge Studenten und Universitätsangehörige zusammen, die den radikalsten Flügel innerhalb des revolutionären Prozesses bildeten (unter ihnen Francisco Charnaud MacDonald und José Manuel Fortuny), aus dem später die Gründer und Anführer der kommunistischen Partei hervorgehen sollten. Die neue politische Klasse entstand aus Lehrern und jungen Freiberuflern, was sich an dem jugendlichen Alter der Mitglie1 Dieser Text beruht auf Gesprächen der Nichte des Autors mit vier herausragenden guatemaltekischen Intellektuellen, Arturo Taracena, Edgar Ruano, Carlos Figueroa und Sergio Tischler, denen hiermit für ihren Einsatz und ihre Mitarbeit gedankt sei. Sie tragen jedoch keine Verantwortung für eventuell im Text enthaltene Irrtümer. 2 Informe de la Comisión para el Esclarecimiento Histórico, UNOPS, Guatemala, 1999, S. 99.

70 | Edmundo Urrutia der des ersten Kongresses der Republik in dieser Zeit ablesen lässt; hier tat sich der Schriftsteller Mario Monteforte Toledo besonders hervor. Das Durchschnittsalter betrug 30 Jahre, es waren also die Intellektuellen mit Masterabschluss und anderen Universitätstiteln, die als Präsident, als Minister und hohe Staatsbeamte regieren sollten. Die Bewegung vom Oktober 1944 umfasste die verschiedensten Klassen, wurde aber von der Mittelklasse angeführt. Als gesellschaftliche Schicht waren es vorrangig die Intellektuellen, die an der Ausarbeitung einer neuen politischen Vision Guatemalas beteiligt waren, das heißt, das Gedankengut der Revolution wurde von den Intellektuellen der Linken entwickelt. Diese Schicht sollte auch eine entscheidende Rolle während der Revolution spielen, unter anderem, weil die Intellektuellen der »Kanal« waren, über den Guatemala mit der Welt in Verbindung stand, mit den Ideen, die während und nach dem Zweiten Weltkrieg zirkulierten, wie dem Inhalt der Atlantik-Charta und den vier Freiheiten, die während jener Jahre den Diskurs der Gegner der Diktatur und des Faschismus in den Vereinigten Staaten bestimmten. Zu Beginn der Kämpfe gegen die Regierung Ubico trifft man nicht nur auf Ablehnung der Diktatur, sondern es kommt allmählich zu einer Krise, der Krise des historischen Liberalismus als verbindende Ideologie der oligarchischen Welt, d.h. als Legitimation der liberalen Ordnung des Landes, die um 1870 aufkam, zu der Zeit, als sich die Republik der Kaffeeplantagenbesitzer entwickelte. Während der vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts begann der von dem liberalen Präsidenten Justo Rufino Barrios (1882-1892) ins Leben gerufene Gründungsmythos der Modernität zu bröckeln; Barrios trat nicht mehr als ein zweiter Bismarck auf, sondern eher wie ein Diktator. Vor diesem Hintergrund entsteht eine neue Form des Liberalismus in Guatemala, nicht des klassischen Liberalismus, der sich auf das Problem des Individuums und des Privateigentums stützt, sondern eines sozialen Liberalismus, der die Ideen mit einbezieht, welche die weltweite Krise des klassischen liberalen Staates hervorgebracht hat und die in dem sogenannten New Deal Nordamerikas ihren Ausdruck fand.3 Dieser liberale Staat zeigte seine Grenzen, und eine der Antworten auf diese weltweite Krise war die Schaffung eines Sozialstaates, was Fragen anderer Art einschloss: die Anerkennung umfassender Bürgerrechte – einschließlich der sozialen Rechte; dies bedeutete die Eingliederung der Arbeiter in eine umfassendere Sozialstruktur.4 Die Aufgabe, diese Krise der guatemaltekischen Öffentlichkeit ins Bewusstsein zu rufen, kam den Intellektuellen zu, die dem Programm der Oktoberrevolution von 1944 unter dieser neuen Perspektive Inhalt verleihen sollten. Fast alle Erklärungen und Manifeste derjenigen politischen Parteien, die nach dem Sturz von Ubico gegründet wurden, behandeln sowohl die Frage der Rechte der Arbeiter als auch die Einbeziehung der Gewerkschaftsidee, die nun zum Kernpunkt nationaler Forderungen/Formulierungen wird. Diese Parteien wurden geleitet von jungen Intellektuellen, die aus den Gruppen von Lehrern, Freiberuflern und Studenten hervorgegangen waren, die an den revolutionären Ereignissen teilgenommen 3 Interview mit Sergio Tischler. 4 Ibid.

Die Subjektivität der guatemaltekischen Intellektuellen | 71 hatten. Hierin zeigte sich die wichtige Rolle eines Typus von aufgeklärten Intellektuellen, die eine neue Vision vom Land und der Zukunft der Nation entwarfen. Diese Intellektuellen entwickelten eine Vorstellung des Landes, das begann, sich als Verneinung des früheren oligarchischen, isolierten Landes zu sehen, das regiert worden war wie eine Erweiterung der Kaffeeplantage. Wer diese neue Strömung hervorragend charakterisiert, ist Juan José Arévalo, ein großer Intellektueller, der über weitreichende politische Erfahrungen verfügte, da er in Argentinien gelebt hatte. Arévalo gelang es, ein Programm mit nationalem Inhalt vorzulegen und er selbst wurde zu einem nationalen Symbol, als er mit einer überwältigenden Mehrheit zum ersten Präsidenten der Revolutionsperiode gewählt wurde.5 Innerhalb seiner Bewegung ist Arévalo die charismatische Figur und der Intellektuelle, der Ideen liefert, aber gleichzeitig sind da die Lehrer und Studenten, die unabhängig von ihrem Anführer eine für die Diktatur kritische Situation heraufbeschwören, eine Situation, die den Boden bereitete für den triumphalen Aufstieg Arévalos. Die jungen Lehrer und Studenten waren so etwas wie authentische Intellektuelle, die sich zusammentaten, um eine neue Vision des Landes zu entwerfen, die mit dem oligarchischen Geflecht der Legitimation brach. Der »Arevalismus« ist ein nationales städtisches Phänomen, das immer wieder in den Hauptstädten der Departements anzutreffen ist, das heißt, in den wichtigsten städtischen Zentren des Landes. Die »Bewegung Arévalo« ist das Symbol eines neuen Landes, denn in der Persönlichkeit ihres Anführers finden sich die Ideale der städtischen Mittelschicht und ihre Wünsche nach Modernität verkörpert, die während langer Jahre von Ein-Personen-Diktaturen unterdrückt worden waren. Arévalo führte eine Art von geistigem Sozialismus ein, eine Art Integration der Arbeiterschaft und der Lohnempfänger in eine demokratische Gesellschaft, die den Kapitalismus als solchen nicht verändert, die aber die Muster der Integration der Bevölkerung innerhalb der kapitalistischen Welt beeinflusst, d.h. eine Integration ohne jegliche Zwangsarbeit und ohne Ausbeutung der Arbeitskräfte, die über keinerlei soziale Schutzmechanismen verfügten. Einige der Grundideen der Oktoberrevolution waren bereits 1920 aufgekommen, als eine ähnliche Bewegung einen anderen Diktator stürzte, Manuel Estrada Cabrera. Jene historische Großtat – der Unionistischen Bewegung – fand jedoch keine günstigen Bedingungen, und noch zu Beginn der 1920er Jahre verschwanden die Freiräume wieder, wurden die Freiheiten wieder abgeschafft. Anfang der 1930er Jahre unter Jorge Ubico und inmitten der Wirtschaftskrise jener Jahre wurden die Freiräume endgültig außer Kraft gesetzt und die Freiheiten endgültig widerrufen.6 Während all dieser Jahre gingen viele Intellektuelle ins Exil, dies war auch der Fall von Arévalo, der nach Argentinien floh, denn das Land erstickte in der Unterdrückung, der Zensur, der Isolierung und der ständigen Gefahr. Mit der Revolution von 1944 kehrten jedoch viele Intellektuelle wieder zurück, unter ihnen Luis Cardoza y Aragón, Ernesto Capuano, Alfonso Solórzano, Clemente Marroquín und andere. Es kamen auch Intellektuelle aus anderen Ländern, vor allem spanische Republikaner wie Doktor Román Durán, Salvador Aguado Andreu, María de 5 Ibid. 6 Interview mit Edgar Ruano.

72 | Edmundo Urrutia Sellarés, Doktor Amador Pereira sowie herausragende Vertreter der Intellektuellen aus San Salvador und einige Peruaner. Diese Gruppen hatten einen entscheidenden Einfluss bei der Gründung der Philosophischen Fakultät der Universität von San Carlos sowie im gesellschaftlichen und intellektuellen Leben jener Zeit. Dieses Phänomen, das in allen Ländern auftritt, wo eine Revolution stattfindet, sollte für den revolutionären Prozess von größter Wirkung sein. »Die Rolle dieser Intellektuellen« – so sagt Carlos Figueroa –, »wird von enormer Bedeutung sein, vor allem die der salvadorianischen Intellektuellen, wie der Brüder Cuenca, der Kommunistenführerin Matilde Elena López, Pedro Geoffrey y Rivas und anderer. Mit anderen Worten, es waren intellektuelle Exilanten, die aus verschiedenen Teilen Lateinamerikas kamen und in Guatemala zusammentrafen, wo sie sich den demokratischen Spielraum zunutze machten, den die Revolution eröffnete. Dies wiederum sollte einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung des politischen Denkens in Guatemala haben. Ausländische Politiker besuchten damals Guatemala, wie beispielsweise Vicente Lombardo Toledano, ein sozialistischer Intellektueller aus Mexiko, oder der Gewerkschaftsführer Valentín Campa und Politiker aus aller Welt, die bei jeder Revolution aufzutauchen pflegen. Das Land, in dem die Revolution stattfindet, wird zu einem der Zentren der Welt, in dem sich wichtige Persönlichkeiten einfinden, die dieses Land nie mit einem Besuch beehrt hätten, hätte es dort keine Revolution gegeben.«7 Mit der Oktoberrevolution entstehen auch die Bedingungen für ein Aufleben der intellektuellen Arbeit. Voraussetzungen dafür waren: a) die Gründung der Zeitschrift »Revista Guatemala«, in der die Intellektuellen des Landes mit Intellektuellen aus aller Welt diskutieren konnten, ebenso wie über diese Zeitschrift neue Ideen, neue Autoren und neue ästhetische Strömungen ins Land kamen. Obwohl unregelmäßig, erschien die »Revista Guatemala« fast zehn Jahre lang und förderte Kunst und Denken der jungen Intellektuellen der Linken; b) die Gründung des Nationalen Instituts für Angelegenheiten der indígena, in dem Goubad Carrera und Joaquín Noval, dieser als Schüler von Richard Adams, und andere nordamerikanische Anthropologen eine hervorragende Stellung innehatten; c) die Künstlerbewegung Saker Ti und das Haus der Kultur, die dem Schriftsteller und Dichter Luis Cardoza y Aragón und der kommunistischen Partei nahe standen. Berühmte Künstler der Bewegung Saker Ti waren die Dichter Raúl Leiva und Melvin Barahona, der Erzähler José María López Valdizón, die Musikwissenschaftler Enrique Torres und Rafael Sosa sowie die Maler Arturo Martínez und Jacobo Rodríguez Padilla. Diese Maler sind in ihrer plastischen Kunst von Mérida und Cardoza y Aragón beeinflusst. Huberto Alvarado, Dichter und Gründer der kommunistischen Partei, ist die Seele dieser Gruppe.8 Diese Institutionen – die Zeitschrift, das Institut

7 Interview mit Carlos Figueroa. 8 Vor Saker Ti existierten bereits die Gruppen »Tepeus« und »Acento«, aber mit Saker Ti tritt eine künstlerische Tendenz in Erscheinung, die den sozialen Kampf mit einbezieht, da ihre Mitglieder die Kunst als Instrument des Wandels, des Mahnens und Aufrüttelns und als Inspirationsquelle für den sozialen Kampf verstanden. »Dichter, Musiker oder Maler zu

Die Subjektivität der guatemaltekischen Intellektuellen | 73 für Angelegenheiten der indígena und die Gruppe Saker Ti – sollten zur künstlerischen und politischen Entwicklung Guatemalas beitragen.9 Andere Intellektuelle traten in den diplomatischen Dienst ein wie Luis Cardoza y Aragón, Carlos Illescas und Tito Monterroso. Während der Amtszeit des zweiten Präsidenten der revolutionären Periode, Oberst Jacobo Arbenz, begann sich die neue Vorstellung vom Land allmählich heraus zu bilden und Gestalt zu gewinnen. Den am häufigsten anzutreffenden Einschätzungen zufolge radikalisierte sich der Prozess während der Regierungszeit dieses jungen Präsidenten, die internen Gegensätze und die Konflikte mit den Vereinigten Staaten verschärften sich. Es entwickelten sich neue politische Beziehungen, in denen die guatemaltekische Oligarchie nun nicht mehr die direkte Kontrolle über den Staat ausübte, sondern nur noch mächtige wirtschaftliche Interessen übrigblieben, die der Staatsmacht am nächsten standen. Diese behielten ihren Einfluss, der nun aber durch eine politische Macht, die diese Interessen durchdrang, vermittelt wurde. Dies ebnete den Weg für eine politische und wirtschaftliche Modernisierung, so dass man sagen kann, dass Guatemala endlich ins 20. Jahrhundert eintrat. Es ist die Zeit, während derer der Staat Autonomie erlangt von den unmittelbaren Interessen der Besitzer der Kaffeeplantagen, dem traditionellen Sektor, der das Land seit dem Ende des 19. Jahrhunderts beherrscht hatte. Unter der Regierung von Arbenz kam es zu dem tiefgreifendsten Versuch, den Kapitalismus durch eine Landreform zu modifizieren, aber um dies auf demokratische Weise durchsetzen zu können, war es nötig, eine Art Autonomie von den unmittelbar mit der Oligarchie verbundenen Interessen zu erreichen.10 Das Projekt der Modernisierung war ein kapitalistisches Modernisierungsprojekt mit starker demokratischer Beteiligung des Volkes. Vor diesem Hintergrund werden die Intellektuellen zu einer wichtigen Kraft, hier haben sie die Gelegenheit, das Wirklichkeit werden zu lassen, was sie sich vorgestellt und erträumt hatten, die revolutionäre Utopie ihrer Zeit und ihre Vorstellung von der Nation. Diese Leistung der Intellektuellen lässt sich nicht auf einzelne und isolierte Persönlichkeiten beschränken, man muss sie innerhalb einer Bewegung sehen, die eine größere Mitwirkung der Intellektuellen an der Macht zuließ, zweifellos wegen ihres revolutionären Charakters. Während jener Zeit genossen die Intellektuellen Autonomie, bildeten Gruppen, die innerhalb und außerhalb der Parteien großen Einfluss genossen, auch durch ihr sehr weit gespanntes Netzwerk von Beziehungen, wie das der Vertreter der Lehrer. An der Spitze dieser Gruppen standen bedeutende Intellektuelle wie der Gewerkschaftsführer, Abgeordnete und Autor verschiedener philosophischer und marxistisch-politischer Werke, Víctor Manuel Gutiérrez, und andere, die, ohne hervorragen-

sein, bedeutete während der fünfziger, sechziger und siebzieger Jahre in Lateinamerika, Opfer von Unterdrückung, Verfolgung, Mord und Exil zu sein.« 9 Interview mit Arturo Taracena. 10 Interview mit Sergio Tischler.

74 | Edmundo Urrutia de Intellektuellen zu sein, eine neue Sichtweise ihre Landes erarbeiteten, Macht hatten und ihre Ziele daher auch durchsetzen konnten.11 Die Intellektuellen mit starker Präsenz im Staatsapparat traten auch in der bürgerlichen Gesellschaft hervor, da diese gerade am Entstehen war – in der Nähe der Gewerkschaftsbewegung und der Bewegung der Landarbeiter, der Studenten und der Lehrer –, und dies war sehr wichtig, da der neue Staat ihr nicht nur Freiraum zur Entwicklung ließ, sondern sie auch förderte. Teil der politischen Strategie der Regierungen unter Arévalo und Arbenz war es, sich eine gesellschaftliche Basis zu schaffen, die es ihnen erlaubte, ihre Pläne zu verwirklichen.12 Während der zehn Jahre der Revolutionsperiode integrierte sich die Mehrheit der Intellektuellen in das Staatswesen. Einige ziehen es allerdings vor, diese Integration als »Kooptation« zu bezeichnen, womit sie den freiwilligen und bewussten Charakter des Engagements der Intellektuellen für das politische Projekt ignorieren, das während dieser Jahre Wirklichkeit zu werden begann. Was den Tatsachen am nächsten kommt, ist daher die Behauptung, es habe eine Allianz zwischen den Politikern der Revolution und den Intellektuellen zu einem Projekt von Staat und Nation gegeben, und zwar in dem Sinne, wie sich das Denken der Zeit eine moderne und demokratische Gesellschaft vorstellte.13 Die Intellektuellen waren Teil des revolutionären Staates, und unter ihnen befanden sich sogar Persönlichkeiten, die eine gespaltene Haltung gegenüber der Diktatur Ubico innehatten, wie der Schriftsteller und Nobelpreisträger Miguel Angel Asturias, der später der Gruppe von Intellektuellen angehörte, die Arévalo und Arbenz unterstützten. Asturias war Mitglied der Delegation, die kurz vor der Niederlage 1954 zusammen mit Guillermo Torriello nach Caracas reiste, um die Position Guatemalas bei der Konferenz der OAS zu verteidigen, wo die lateinamerikanischen Länder die Haltung Nordameriks zu der Situation in Guatemala und somit ihre interventionistische Politik unterstützten. Nur Mexiko und Argentinien enthielten sich damals der Stimme. Insgesamt kann man feststellen, dass die Intellektuellen zu jener Zeit eine sehr wichtige, ja eine führende Rolle spielten. Mit ihren Ideen und ihrem Handeln bestimmten sie die Revolution; man kann sogar sagen, dass es der einzige Zeitpunkt im 20. Jahrhundert war, zu dem sie als Gruppe, als soziale Schicht und als geschlossener Block in den Staat integriert waren. Die Intellektuellen waren notwendiger Bestandteil dieser Revolution, es war auch der einzige Zeitpunkt, zu dem sie in Einklang und im Dialog mit dem Staat standen. Die Revolution hatte sie legitimiert und umgekehrt. Die Idee der gemeinsamen Nation, die mit der Revolution entstanden 11 URRUTIA, Edmundo: Constitución y crisis del movimiento revolucionario guatemalteco (1949-1967), Magisterarbeit, FLACSO, México, 1986 (unveröffentlicht). 12 Wie verschiedene Historiker und politische Kommentatoren zur Lage Guatemalas schreiben, war es weniger die Agrarreform von 1952 als die Bedrohung durch eine tiefgreifende Revolution – von Seiten der Arbeiterschaft und der Landarbeiter unter kommunistischer Führung –, die die Regierung der Vereinigten Staaten dazu veranlasste, den Sturz von Jacobo Arbenz im Jahr 1954 zu betreiben. Siehe PORRAS, Gustavo: Seminario sobre la cuestión étnica, Mexiko, 1988. 13 Viele der Revolutionsführer waren gleichzeitig Politiker und Intellektuelle.

Die Subjektivität der guatemaltekischen Intellektuellen | 75 war, ging 1954 wieder verloren. Die Intellektuellen engagierten sich in den Parteien, in den Regierungen, in sozialen Bewegungen (den Gewerkschaften, Künstler- und Studentenbewegungen etc.). Sie waren im Grunde die Gruppe, die die Ideale geliefert hatte und sie wurden zum Bindeglied mit einer Welt, die Guatemala weit hinter sich gelassen hatte.

Die Jahre der Gegenrevolution (1954-1960) Mit dem Sturz von Jacobo Arbenz im Jahr 1954 und der Restauration der Oligarchie institutionalisierten sich der Antikommunismus und das konservative Denken zur »Verteidigung der Religion, der Tradition und der konservativen Werte«, ein Konservativismus, der »schließlich alles als kommunistisch bezeichnete, was seinen eigenen Vorstellungen widersprach oder entgegenlief. Dies erklärt den ausgrenzenden und sektiererischen Charakter dieser ideologischen Sichtweise, die dazu beitrug, die guatemaltekische Gesellschaft noch tiefer zu spalten.«14 Im Jahr 1954 entstand das ›Comité Nacional de Defensa Contra el Comunismo‹ (Nationales Komitee zur Verteidigung gegen den Kommunismus), dessen Ziel es war, jene Personen aufzuspüren und festzunehmen, die in Verdacht geraten waren, unter das ›Ley preventiva contra el Comunismo‹ (Gesetz zur Vorsorge gegen den Kommunismus) zu fallen, das heißt, all jene, die irgendeine Verbindung zur Regierung oder Ideologie von Arbenz gehabt hatten. Unter der neuen Regierung von Oberst Carlos Castillo Armas begann eine Periode intensiver politischer Verfolgung von ideologischen Vordenkern und Intellektuellen und von Personen im Allgemeinen, die verdächtigt wurden, linke Ideen zu vertreten.15 Die Verfassung von 1956 autorisierte die Staatsmacht dazu, jede Person, die im Verdacht stand, kommunistische Überzeugungen zu hegen, ins Gefängnis zu sperren oder des Landes zu verweisen. Auch andere Kreise der Gesellschaft wurden verfolgt, zum Beispiel all jene, die mit den Regierungen der Revolution zusammen gearbeitet oder sympathisiert hatten. Die neue Regierung konfiszierte den Besitz und fror die Bankguthaben der Parteiführer, der ehemaligen Regierungsmitglieder und der Anführer der Volksbewegung ein. Mit dem Dekret Nummer 48 wurden schließlich politische, gewerkschaftliche und kulturelle Organisationen ausgeschaltet, denen man eine Beziehung zum Kommunismus vorwarf. Die PGT (Partido Guatemalteco del Trabajo, Guatemaltekische Partei der Arbeit) wurde für illegal erklärt, viele Lehrer wurden entlassen. Bis Anfang 1955 waren 533 gewerkschaftliche Organisationen verboten worden.16 Mit der Übernahme der Macht durch Castillo Armas und der Bewegung der extremen Rechten, die ihn unterstützte, wurden die Verbindungen zwischen den Intellektuellen der Linken und dem Staat sowie der gemeinsame Dialog unterbrochen. Der Staat, der mit Castillo Armas an der Spitze die Bewegung zur »Volksbefreiung« 14 CEH, 109. 15 Ibid. 16 Ibid.

76 | Edmundo Urrutia gegründet hatte, die noch heute fortbesteht, hat nicht nur alle wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen der Regierungen der Oktoberrevolution rückgängig gemacht, sondern sich mit den Intellektuellen verfeindet, die in den Jahren 1944 bis 1954 sehr aktiv gewesen waren, vor allem mit jenen, die Arbenz am nächsten standen. Viele Schriftsteller, Künstler, Universitätsprofessoren und andere Personen entschieden sich daher für das Exil, sie gingen nach Mexiko, nach Argentinien und in die Länder Osteuropas; es kam zu einer neuen Welle der Auswanderung17 während andere als Mitglieder der Kommunistischen Partei in den Untergrund gingen oder sich in ein inneres Exil flüchteten, was bedeutet, dass sie am Rande der Gesellschaft lebten, ohne Möglichkeit, sich Gehör zu verschaffen und ohne am öffentlichen Leben teilzunehmen. »Wohin ziehen sich die Intellektuellen zurück? Einige gehen ins Exil und bleiben viele Jahre im Ausland, andere suchen Zuflucht an der Universität, wo Severo Martínez, Guzmán Böckler, García Laguardia und andere zu finden sind, die eine wichtige Opposition bilden, aber nicht notwendigerweise in der Opposition bleiben.«18 Castillo Armas dagegen hat die Fähigkeit, eine kleine Gruppe rechter Intellektueller um sich zu scharen: Jorge Skinner Klee, David Vela und Adolfo Molina Orantes, die über das Seminario de Integración Social (Seminar für Soziale Integration, eine bedeutende Institution in den Sozialwissenschaften, vor allem der Anthropologie), über das Erziehungsministerium und die Zeitungen eine wichtige Rolle spielen. Weitere Intellektuelle der Rechten waren Doktor José García Bauer (katholisch, Schriftsteller, Redner, Politiker und Ideologe der DC [Democracia Cristiana, Christdemokraten]) und Jorge Luis Arriola, Anhänger des Schriftstellers und Anthropologen Adrián Recinos. Es waren Intellektuelle, die nicht über Nacht auftauchten, sondern die im politischen Kampf zwischen den Jahren 1944 und 1954 ihren Platz in der Konter-Revolution gefunden hatten. Von 1954 an betrieb der guatemaltekische Staat eine Politik der fast völligen Ausgrenzung gegenüber der Mehrheit der Intellektuellen, während diese sich vom Staat entfernten, ihn kritisierten und gegen ihn arbeiteten. Deshalb gab es von diesen Jahren an gesellschaftliche Kreise, die der Entwicklung und der Regierungsführung in diesem Staat sehr kritisch gegenüber standen, wodurch es zu einem Prozess der Entfremdung kam. Dies ging so weit, dass es nach 1954 keine Möglichkeit mehr für die Intellektuellen gab, irgendeine Beziehung zur Macht zu pflegen, ohne dass dies einen Prestigeverlust für sie bedeutet hätte. Von da an, und insbesondere während der 1960er Jahre, wurden die Sozialwissenschaften zu einer subversiven Disziplin, da das System keine Strategie zur Kooptation der Intellektuellen besaß, die diese Wissenschaften betrieben; sie stießen vielmehr auf Ablehnung und wurden vor allem verfolgt. Wenn ein Intellektueller mit dem Staat kollaborierte, litt sein Ansehen enorm.19 17 Während des 20. Jahrhunderts gab es mehrere Exilantenwellen. 18 Interview mit Carlos Figueroa. 19 »Ich möchte Dich daran erinnern, welchen enormen Verlust an Ansehen es beispielsweise für Miguel Angel Asturias bedeutete, nachdem er den Botschafterposten in Paris angenommen hatte; zunächst gab es keine Schwierigkeiten, und ein Großteil der Linken

Die Subjektivität der guatemaltekischen Intellektuellen | 77 Für den Historiker Edgar Ruano bedeuteten die Ereignisse des Jahres 1954 und das Regime, das damals an die Macht kam, einen schweren Schlag gegen die Intellektuellen, da diese rigoroser Verfolgung ausgesetzt waren und das System der gesellschaftlichen Gruppen, die den Geisteswissenschaften, der Kunst und Literatur nahe standen, das heißt das soziale Netz, in dem die Intellektuellen lebten und arbeiteten, zerstört werden sollte. Betroffen waren alle, von den gesellschaftlichen Bewegungen und den Parteien der Linken bis hin zur Generaldirektion der Schönen Künste; verboten wurden beispielsweise die Schule für Tanz und die Zeitschrift der Lehrerschaft, sowie andere Foren und Kanäle, über die sich die Intellektuellen zu Wort gemeldet hatten. In den Jahren zwischen 1954 und 1960 bemüht man sich um Wiederaufbau und Restauration; es ist eine Zeit des Kampfes um die Wiederherstellung der zerstörten politischen Strukturen und der politischen Verhältnisse, wie sie während des Jahrzehnts der Revolution geherrscht hatten, vor allem von Seiten der politischen Bewegung, die von der (damals im Untergrund wirkenden) PGT angeführt wird, und anderen nicht anti-kommunistischen Parteien. Auch die sozialen Bewegungen beginnen sich zu erholen – insbesondere die Gewerkschaftsbewegung, aber auch die Studentenbewegung –, und es gibt Anzeichen des Wiederauflebens der Künste. Während dieser Zeit des Neuaufbaus stehen die Intellektuellen der Linken nahe (das heißt, sie wenden sich gegen die reaktionäre Regierung von Castillo Armas) und finden sich in Opposition zum Staat; die Ideologie, die sie zusammen halten kann, ist die der Linken. Zwischen 1958 und 1960 sympathisieren viele Künstler und Intellektuelle mit der PGT, und andere, die Mitglieder dieser Partei sind, beginnen, dem künstlerischen Leben von Guatemala-Stadt wieder Schwung zu verleihen. Seit 1956 waren viele von ihnen wieder nach Guatemala zurückgekehrt, aber zu einer massiven Rückkehr kam es erst nach dem Tod des Diktators Castillo Armas, der als Folge interner Kämpfe zwischen den gegensätzlichen Kräften seiner unzuverlässigen Koalition ermordet worden war. Während dieser Zeit spaltete sich eine pro-kommunistische intellektuelle Strömung von einer intellektuellen Richtung ab, in der sich ein sozialdemokratisches oder christlich-demokratisches Denken herausbildete.20 Aus dieser zuletzt genannten Gruppe gingen unter anderem Manuel Colom Argueta hervor, ein sozialdemokratischer Intellektueller, der zum nationalen Führer wurde, daneben Adolfo Mijangos López, Alberto Fuentes Mohr und Francisco Villagrán Kramer, die versuchten, einen Reformismus des Zentrums zu fördern. Dieser Wille zur Reform fand keinen Raum, sich zu entwickeln, zum einen, wegen der Starrheit des politischen Regimes, zum hatte Hoffnungen auf Julio César Méndez Montenegro gesetzt, aber diese Hoffnungen schwanden und die Situation der Menschenrechte im Land begann, sich dramatisch zu verschlechtern.« Ibid. 20 Die christlich-demokratische Bewegung entwickelte sich Anfang der 1950er Jahre ausgehend von Positionen, die der Konterrevolution nahe standen bis zu kritischen und oppositionellen Haltungen Mitte der 1960er Jahre. Danach spaltete sich die Partei in mehrere Tendenzen auf, eine davon schloss sich als Folge des Wahlbetrugs von 1974 der Guerrilla an.

78 | Edmundo Urrutia anderen aber auch wegen der Polarisierung, die sich immer mehr verschärfte, bis es in den 1970er Jahren zu einer revolutionären Situation kam. 1954 hatten die Christlichen Demokraten eine anti-kommunistische Haltung vertreten, aber im Laufe der Zeit neigten sie mehr und mehr dem Zentrum zu. Schon 1963 stand die Partei den Sozialdemokraten nahe, der URD (Unión Revolucionaria Democrática, Revolutionäre Demokratische Union), und ihre Intellektuellen befanden sich bereits in Opposition zum Staat. In den 1970er Jahren stand diese Partei schließlich unter dem Einfluss der Ideen der revolutionären Linken. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Revolution nur von der Arbeiterpartei Guatemalas getragen worden, aber es gab auch einen großen Anteil von Intellektuellen, die sich einem anderen Typus von Parteien anschlossen, den Parteien der linken Mitte.21 Trotz der für die Linken widrigen Umstände in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre wurde eine Strategie entwickelt, um die demokratischen Verhältnisse, wie sie bis 1954 geherrscht hatten, wieder herzustellen.22 Die PGT gab die Losung von der Einheit aller politischen Kräfte aus, die der »Befreiung« sowie den reaktionären Tendenzen entgegen standen und die Arbenz mit der Hilfe der Vereinigten Staaten gestürzt hatten. Damit sollte eine Aussöhnung der Bevölkerung Guatemalas ermöglicht werden. »Vor 1959«, so schreibt Figueroa, »hatte sich mit Alfredo Guerra Borges, einem weiteren der großen Intellektuellen in der historischen Führerschaft der PGT, die Perspektive der nationalen Aussöhnung abgezeichnet. Die Vertreter dieser Politik der Versöhnung sahen es als notwendig an, dass sich die demokratischen Kreise der Rechten wie der Linken einigten, um den Weg für die Restauration der Demokratie im Land frei zu machen«, wobei die extreme anti-kommunistische Rechte ausgeschlossen bleiben sollte.23 Das »Trauma von 1954« hatte jedoch eine politische Wirkung, welche die Gesellschaft und ihre Geschichte spaltete. »Alle Möglichkeiten der politischen Beteiligung waren derart radikal unterbunden worden, und die Gewaltanwendung hatte derart überhand genommen, dass diese beiden Tatsachen als Ursachen für das Aufkommen der Guerrillaaktivitäten von 1960 an betrachtet werden.«24

Die Gründung des »Seminario de Integración Social« (Seminar für soziale Integration) Die Regierung unter Oberst Carlos Castillo Armas hatte die Tätigkeit des 1945 gegründeten Instituts für indígena-Angelegenheiten zeitweise suspendiert; unter Juan de Díos Rosales wurde das Institut sofort wieder geöffnet, unter anderem mit dem Auftrag, bürgerliche Lektionen für den Gebrauch des »Komitees zur Nationalen Verteidigung gegen den Kommunismus« zu übersetzen; das Institut war auch maßgebend bei dem Antrag, einen nationalen Tag des Indios einzuführen und ein Indio21 22 23 24

Interview mit Carlos Figueroa. Siehe URRUTIA (1986). Ibid. CEH, 107.

Die Subjektivität der guatemaltekischen Intellektuellen | 79 Museum zu gründen. Die größte akademische Leistung dieser Regierung war jedoch Mitte 1955 die Gründung des Seminario de Integración Social Guatemalteca (Guatemaltekisches Seminar für Soziale Integration), dessen Aufgabe das Studium der gesellschaftlichen und kulturellen Gruppen, das heißt der indigenen Bevölkerung Guatemalas war, um sie mittels eines gesellschaftlichen Wandels in die westlich-hispanische Kultur zu integrieren. Der bedeutendste Beitrag des Seminars war die Veröffentlichung von Studien und Forschungen nordamerikanischer Anthropologen; ein großer Teil dieser Veröffentlichungen beruhte auf Arbeiten aus den 1930er, 1940er und 1950er Jahren, die sich mit der Sozialstruktur des Landes insgesamt beschäftigten. Die Mehrheit der Studien der 1950er und 1960er Jahre dagegen hatte die Erforschung einzelner Völkergemeinschaften zum Thema. Die vorherrschende theoretisch-anthropologische Tendenz war die kulturell-funktionalistische, und die Mitglieder des Seminars konzentrierten sich darauf, den Nutzen dieser Perspektive der Sozialwissenschaften und der Anthropologie auf allen Ebenen des Erziehungssystems hervor zu heben, um den Prozess der sozialen Integration zu beschleunigen. Die Wissenschaftler des Seminars verliehen der angewandten Anthropologie einen starken Impuls, da sie zur Integration der indigenen Völker in die kapitalistische Moderne weder die Landreform noch die zweisprachige Erziehung vorschlugen, sondern die Hispanisierung.25 Das Seminar für soziale Integration war in jenen Jahren Mittelpunkt für die Systematisierung wie die Organisation der Sozialwissenschaften, und die Debatten der damaligen Zeit kreisten um die Frage: Wie kann man die Integration aller Schichten der Gesellschaft Guatemalas erreichen? Man diskutierte soziale Themen, und es entwickelte sich ein nationales soziologisches und anthropologisches Denken. Daran wirkten Intellektuelle der Rechten wie der Linken mit, wie Joaquín Noval, Rafael Piedra Santa (Ökonom), Jorge Luis Arriola, Adrián Recinos und Antonio Goubad Carrera. Zu jener Zeit entstanden all die Theorien und Lösungsvorschläge zum Thema der nationalen ethnischen Frage; Jorge Luis Arriola beispielsweise sagte bereits damals in einer seiner Arbeiten, Guatemala sei ein multinationaler Staat, eine These, die schon in den Jahren der Revolution auftauchte.26 Das Seminar wurde zu einem Forum, wo man die Vorstellung von der Gesellschaft Guatemalas als einer integrierten Gesellschaft hegte. Die Frage, mit der man sich beschäftigte, war, wie man diese Integration verwirklichen könnte; man glaubte, dafür die Mitglieder dieser Gesellschaft erforschen zu müssen. Deshalb wurden mehrere Arbeiten über die indigenen Gemeinschaften und über die hispanisierten ladinos veröffentlicht.27

25 In Guatemala unterscheidet man zwei ethnische Gruppen, die Indígenas und die ladinos, die sich mit der westlichen Kultur identifizieren. »Ladinisierung« bedeutet also die »Bekehrung« der indígenas zur hispanischen, »westlichen« Kultur. 26 Der Anführer der kommunistischen Partei, Víctor Manuel Gutiérrez, folgte der Sichtweise der Sowjetunion und sprach von einem Land, das sich aus mehreren Nationalitäten zusammensetzte. 27 ADAMS, Richard: Encuesta sobre ladinos, Seminario de Integración Social (Seminar zur sozialen Integration), Guatemala, 1955.

80 | Edmundo Urrutia Die Intellektuellen der Rechten Beim Vergleich der intellektuellen Strömungen der damaligen Zeit fragt sich Figueroa: »Welche namhaften Intellektuellen standen zwischen 1954 und 1996 auf Seiten der Rechten?« Und seine Antwort lautet: Sehr wenige, denn die großen Intellektuellen des Landes waren gegen den Staat, gegen einen Staat, der sich zur Militärdiktatur gewandelt hatte. Die Intellektuellen hatten sich von dem restaurierten Staat, der die pro-oligarchische Bewegung der Befreiung ins Leben gerufen hatte, entfremdet und blieben als Oppositionelle im Untergrund, am Rande der Gesellschaft oder sie gingen ins Exil. Unter ihnen waren vor allem Dichter, Romanciers und Dramaturgen. Viele der Schriftsteller vertraten sogar eine militante Haltung gegenüber dem Staat, wie zum Beispiel Roberto Obregón und Otto René Castillo, die sich der guerrilla anschlossen und in der Gewalt der Sicherheitskräfte des Staates umkommen sollten. Auch unter der Rechten gab es Intellektuelle, aber sie hatten nicht den Rang und die Statur wie viele Intellektuelle der Linken. Der Dichter Rudy Solares Gálvez zum Beispiel war in den 1960er Jahren ein sehr bekannter Mann des Regimes, der aber weder im eigenen Land und noch viel weniger international Anerkennung fand. Außerdem seien erwähnt Argentina Díaz Lozano oder Journalisten mit schriftstellerischen Ambitionen wie Alvaro Contreras Vélez; es gab aber auch höchst respektable Politiker der Rechten wie Jorge Skinner Klee oder David Vela. Seit Amtsantritt der Regierung Arévalo bediente sich die Rechte militärischer Verschwörungen, bis Arbenz mit Unterstützung der rechten Intellektuellen gestürzt wurde, unter ihnen Guillermo Putzeys Alvarez, der Jahre später Dekan der Philosophischen Fakultät und Erziehungsminister werden sollte. Andererseits entstanden während der Revolutionsjahre neue Zeitungen wie ›Prensa Libre‹ (Freie Presse, 1952), die in den darauf folgenden Jahrzehnten eine bedeutende Rolle spielen sollte. Insgesamt war die Presse konservativ und rechtsgerichtet und stark beherrscht von Personen wie David Vela und Clemente Marroquín Rojas. Die Intellektuellen der Rechten äußerten sich damals auch über Institutionen ehemals liberaler Prägung, wie die Akademie für Geographie und Geschichte, eine sehr konservative Einrichtung, die den status quo aus der Sicht der Kaffeeanbauer verteidigte. Héctor Samayoa Chinchilla veröffentlichte einige Schriften, ebenso Salvador Aguado Andreu und Luis Luján; es waren Intellektuelle, die schrieben, aber keiner von ihnen schuf ein Werk, dessen Qualität mit den Arbeiten der Intellektuellen der Linken vergleichbar wäre.28

Der bewaffnete Kampf und die Intellektuellen: Die 1960er Jahre Mitte der 1960er Jahre hatten sich die intellektuellen, künstlerischen und politischen Bewegungen im Vergleich zu ihrer desolaten Lage unmittelbar nach 1954 wieder relativ weitgehend erholt; die Verhältnisse, wie sie während der Revolution geherrscht hatten, konnte man freilich nicht wieder herstellen, denn vor 1954 hatte der guatemaltekische Staat der Entwicklung der Künste und Wissenschaften, den Intellektuel28 Interview mit Carlos Figueroa.

Die Subjektivität der guatemaltekischen Intellektuellen | 81 len und dem Fortschritt auf dem Gebiet der Erziehung wohlwollend gegenüber gestanden; nach 1954 dagegen wurde die Erholung durch Aktivitäten der Opposition und der Kritik voran getrieben. Weder der Grad der Organisation noch die Stärke der gewerkschaftlichen Vereinigungen noch die Anzahl der Neuerscheinungen von Büchern sind vergleichbar mit der Zeit vor der Revolution, aber es findet immerhin eine Erholung statt. Vor allem jedoch ist hervorzuheben, dass die Intellektuellen auf Seiten der Opposition – mit verschiedenen politischen Vorzeichen – anzutreffen sind. Wir haben es also mit dem Phänomen eines Staates zu tun, der seine Bürger nicht integriert, der die Intellektuellen nicht für sich verpflichtet, denn dieser autoritäre Staat, der den Gesetzen des Kalten Krieges gehorcht, betrachtet die Intellektuellen mit Misstrauen, so dass diejenigen von ihnen, die im Dienste des Staates arbeiten, gezwungen sind, ein antikommunistisches Glaubensbekenntnis abzulegen und den Autoritarismus zu akzeptieren und zu verteidigen. Folglich stehen die Intellektuellen, mit einigen Ausnahmen Rechtsgerichteter, außerhalb des politischen Staatsapparates. Als innerhalb der Organisationen der Linken, der PGT, der Organisation des »13. November«29 und der Jugendorganisationen die Entscheidung getroffen wurde, als Strategie zur Übernahme der Macht im Staat in den bewaffneten Kampf einzutreten und eine demokratische und anti-imperialistische Regierung mit einem Agrarprogramm zu installieren, geschah dies in einem sehr komplexen Umfeld, wobei verschiedene Faktoren zusammenwirkten, wie zum Beispiel der große Einfluss der kubanischen Revolution und ihrer revolutionären Strategie, der Kalte Krieg und der autoritäre Charakter des politischen Regimes, das keinen Raum ließ für den freien Wettbewerb politischer Organisationen, das heißt für einen friedlichen demokratischen Wettstreit in der Diskussion der verschiedenen politischen Projekte. Diese Entscheidung trafen die Führerschaft der PGT, die Anführer der aufständischen Militärs und einer Gruppe von Gymnasiasten und Studenten. Unter ihnen befanden sich auch Intellektuelle jener Organisationen. Die Führerschaft der PGT selbst war mit der Intellektuellenbewegung von 1944 entstanden, und in ihren mittleren Rängen, die dem bewaffneten Kampf wohlwollend gesinnt waren, fanden sich ebenfalls Intellektuelle. Ein wichtiger Vertreter dieser Richtung war Ricardo Ramírez, der später Kommandant einer politisch-militärischen Organisation werden sollte und dem man die Autorenschaft des ersten Textes zuschreibt, in dem den indigenen Völkern eine entscheidende Bedeutung bei der Strategie der Revolution beigemessen wird.30 Der Anthropologe Joaquín Noval, Autor eines bekannten Buches, zählt zu derselben Strömung. 29 Diese Organisation, in der sich junge Militärs zusammenfanden, wurde am 13. November 1960 als Folge des Putschversuches von Militärs gegründet, die mit der Entwicklung des Landes unzufrieden waren. Ihr Programm war nationalistisch geprägt, und sie hatten sich den Kampf gegen die Korruption auf die Fahnen geschrieben. 30 Dieses Dokument ist bekannt als »Documento de Marzo« (»Märzdokument«) und wurde bereits 1964 veröffentlicht. Ricardo Ramírez war der tatsächliche Name von Rolando Morán, dem Gründer und Kommandanten des Ejército Guerrillero de los Pobres (EGP, Guerrilla-Heer der Armen), das er bis zu seinem Tod leitete.

82 | Edmundo Urrutia Zwischen 1960 und 1962 setzte sich im Zentralkomitee allmählich die Entscheidung durch, von dem Modell der leninistischen Revolution Abschied zu nehmen und dem Modell Che Guevaras zu folgen. Dieser Entschluss reifte nach und nach, aber in genau diese Zeit fiel eine Reihe von Ereignissen, wie die Aktivitäten vom März und April 1962, als die Hauptstadt bereits eine Vorahnung der späteren Aufstände erlebte, die von Gymnasiasten und Studenten angeführt wurden. Ein anderes Ereignis, das Druck auf die PGT hinsichtlich des bewaffneten Kampfes ausübte, war das Erscheinen von Gruppen von Überlebenden des Putschversuches vom 13. November 1960, die entschlossen waren, bewaffnete Aktionen gegen das Regime zu unterstützen.31 Was jedoch nach manchem Schwanken und nach internen Konflikten endgültig den Ausschlag zugunsten des bewaffneten Kampfes geben sollte, war der Staatsstreich von 1963, mit dem auch die letzten Möglichkeiten legaler politischer Beteiligung ausgeschaltet und reformistische Bestrebungen unmöglich gemacht wurden und der bewies, dass sich das Regime zunehmend verhärtete.32 Einige bedeutende Intellektuelle aus der Führungsschicht stellten sich mit aller Kraft dieser Tendenz entgegen, was ihnen allerdings den Ausschluss aus dem Zentralkomitee einbrachte.33 Die Diskussion innerhalb der PGT hatte unmittelbar nach der Kubanischen Revolution 1959 eingesetzt und konzentrierte sich auf die Frage, ob man den bewaffneten Kampf aufnehmen sollte oder nicht. Die historische Führerschaft der PGT begann auf ihrem dritten Kongress im Jahr 1960, sich der Idee des bewaffneten Kampfes zuzuwenden, als sie sich damit einverstanden erklärte, alle Formen des Kampfes zu akzeptieren; dieser Gedanke war auch ausschlaggebend, als sie 1962 versuchte, die erste guerrilla in der Gegend von Concuá im Norden des Landes zu bilden. Diese guerrilla in Concuá wurde von der PUR organisiert – einer Partei, die nur pro forma bestand – und der PGT. Aber zwischen 1962 und 1967 kam es zu erheblichen internen Spannungen, da sich eine kleine, aber einflussreiche Gruppe von Oppositionellen und Intellektuellen dieser Strategie nicht anschließen wollte. Die Führerschaft der PGT bestand, wie Figueroa feststellte, aus Politikern, die mit der demokratischbürgerlichen Revolution groß geworden und daran gewohnt waren, Politik zu betreiben und nichts vom Kriegshandwerk verstanden. Sie konnten folglich theoretisch vom bewaffneten Kampf überzeugt sein, aber im Grunde besaßen sie keinerlei Begabung, ihn zu führen. Ihre politische Identität war stark geprägt vom Einfluss des Denkens des sowjetischen Marxismus, der das leninistische Weltbild systematisiert hatte. »Darin besteht der Generationsunterschied zwischen der Generation der Linken von 1944 und der Generation der Linken in Guatemala zur Zeit der kubanischen 31 Einige Mitglieder des »13. November« reisten 1962 nach Kuba und kehrten mit der Überzeugung zurück, den Guerrillakrieg aufnehmen zu müssen. 32 Der Staatsstreich wurde noch beschleunigt durch die Rückkehr des früheren Präsidenten Juan José Arévalo nach Guatemala, da er an den Wahlen jenes Jahres teilnehmen wollte. 33 Unter ihnen sind besonders hervorzuheben Alfredo Guerra Borges, José Manuel Fortuny und Víctor Manuel Gutiérrez, Gründer und intellektuelle Führerpersönlichkeiten von hohem Ansehen.

Die Subjektivität der guatemaltekischen Intellektuellen | 83 Revolution; wenn ich von der Generation der Linken der kubanischen Revolution spreche, meine ich die jungen Leute von FUEGO, der ›Frente Unido del Estudiantado Guatemalteco Organizado‹ (›Einheitsfront der Vereinigten Studentenschaft Guatemalas‹), aus deren Reihen sich die guerrilla der 1960er Jahre in erster Linie rekrutieren sollte. Fast könnte man von einer Art Generationsgrenze in der Haltung gegenüber dem bewaffneten Kampf sprechen.«34 Von da an, als der bewaffnete Kampf zu einem mächtigen Faktor geworden war, der die politische Entwicklung in Guatemala mit bestimmte, als Verfolgung und der Kampf auf Leben und Tod dem Kampf um die Macht Inhalt verliehen, begann der sozialdemokratische Block der Intellektuellen, der sich in der legalen Opposition befand, zu zerfallen. Einige gingen ins Exil, andere griffen zu den Waffen und andere zogen sich ins Privatleben zurück, behielten aber stets ihre kritische Haltung gegenüber dem Staat bei. Viele derer, die ein Leben im Rahmen der Legalität weiterführten, wurden im Laufe der Jahre von der Militärdiktatur (1963-1985) ermordet.35 Während der 1970er Jahre wurde das Regime immer autoritärer und trieb die Intellektuellen in die bewaffnete Opposition. Die Intellektuellen griffen selbst zu den Waffen oder unterstützten entschieden den bewaffneten Kampf. Dies wurde zum Dogma. In den 1960er Jahren wird die Debatte über die verschiedenen Richtungen der Revolution regelmäßig und immer wieder neu geführt. Die Sprache dieser Debatte wurde immer komplizierter, und manche Arbeiten beruhten auf soliden historischphilosophischen Grundlagen. Ein Beispiel hierfür ist der in der Tschechoslowakei veröffentlichte Text von Alfredo Guerra Borges in der Zeitschrift Revista Internacional, in dem er feststellt, dass es in Guatemala keine subjektiven Voraussetzungen gab, sich in das Abenteuer des Klassenkampfes zu stürzen. Er begründet diese Meinung damit, dass das niedrige Entwicklungsniveau des Landes und vor allem seine grundlegend agrarische Struktur das Entstehen eines Selbstbewusstseins der Arbeiter und der Arbeiterorganisationen verhindert hätten. Die objektiven Umstände, das Ausmaß von Armut und Ausbeutung, waren als organisatorische und politische Grundlagen für den bewaffneten Kampf nicht hinreichend. Guerra Borges zufolge stellte Kuba eine Ausnahme dar. Es war aber unmöglich, die kubanischen Ereignisse zu wiederholen, weshalb man auch dem kubanischen Beispiel nicht automatisch folgen sollte. Die Guerrillaführer ihrerseits beschuldigten die PGT des Reformismus und Opportunismus und der Unfähigkeit, den bewaffneten Kampf zu führen, vor allem wegen ihres kleinbürgerlichen Charakters, ihrer »Anpassung« und der irrigen Hoffnung, wieder zum politischen Kampf zurückkehren zu können. Carlos Figueroa rekonstruiert die Bedingungen, unter denen diese Debatten ausgetragen wurden, und liefert Erklärungen dafür. »Eine gewisse Zeit lang«, sagt er, »diskutierte man den Unterschied zwischen Reformisten und Revolutionären auf sehr vereinfachende Art und Weise: Revolutionäre waren die Befürworter des be34 Carlos Figueroa. 35 Zwischen 1966 und 1970 herrschte eine bürgerliche, aus Wahlen hervorgegangene Regierung, aber das Militär wurde allmählich zu einer unkontrollierten und starken Macht im Staate.

84 | Edmundo Urrutia waffneten Kampfes, und Nicht-Revolutionäre waren jene, die den bewaffneten Kampf ablehnten. Diese pure Unterscheidung zwischen Befürwortern und Gegnern des bewaffneten Kampfes erfasst in keiner Weise den Kern der Frage; die PGT förderte den bewaffneten Kampf mit genau den Einschränkungen – ihre Mitglieder wollten Politik betreiben und nicht Krieg führen –, auf denen die Meinungsverschiedenheiten mit den jüngsten Mitgliedern der Fuerzas Armadas Rebeldes (FAR, Streitkräfte der Rebellen) beruhten.«36 Obwohl die FAR als eine Art bewaffneter Arm der PGT entstanden waren, hatte es schon vor Januar 1968, als es zum Bruch kam, viel Uneinigkeit hinsichtlich der Form des Kampfes gegeben: Die einen beschuldigten die anderen des Voluntarismus und Abenteuertums, und umgekehrt warf man sich Reformismus und Opportunismus vor. Die Kommunisten der PGT waren in Wirklichkeit keine Reformisten, denn sie besaßen zweifellos ein revolutionäres Programm und eine revolutionäre Ausrichtung. Feststeht dagegen, dass die PGT viele Jahre lang in ihrer Führerschaft gespalten war, da sie in ihren Reihen zwei Identitäten vereinte, die leninistische Strömung und die Anhänger Che Guevaras, das heißt, die einen vertraten die Idee des revolutionären Bruchs mittels Waffengewalt, die anderen die Idee der demokratischen Restauration, die den politischen Kampf, die Organisation und die Entwicklung eines Bewusstseins der Arbeiter ermöglichen sollte, damit man schließlich in der Lage wäre, »den Winterpalast einzunehmen« wie die Bolschewisten. Die Auseinandersetzungen fanden statt zwischen jenen, die glaubten, die Revolution sei nötig, um die Demokratie einführen zu können, und jenen, die sagten, man müsse die Demokratie einführen, damit man die Revolution verwirklichen könne. Im Grunde jedoch lag das Problem nicht in den unterschiedlichen Überzeugungen und den Diskussionen zwischen einigen Reformisten und Revolutionären, zwischen Pazifisten und jenen, die Krieg wollten; es hatte vielmehr zu tun mit einer Form des Seins, des Fühlens und des Politikverständnisses.

Die 1970er Jahre Gegen Ende der 1960er Jahre war in Guatemala die erste Etappe des bewaffneten Konflikts zu Ende, als die Guerrillakämpfer in den Bergen im Osten des Landes mit den vom Militär der Vereinigten Staaten entwickelten Methoden der Aufstandsbekämpfung unterworfen worden waren. Gleichzeitig hatte das Land aber auch einen Weg der Entwicklung eingeschlagen, indem es dem ›Mercado Común Centroamericano‹ (Gemeinsamer Markt Mittelamerikas) beigetreten war, was zu einer – wenn auch geringen – Industrialisierung und einem bescheidenen Wachstum des Dienstleistungssektors führen sollte. Dies wiederum trug zum Wachstum der Mittelschicht in der Hauptstadt und einigen städtischen Gegenden im Land bei. Auch die Einführung neuer Kulturen auf den landwirtschaftlichen Gütern an der Südküste beschleunigte den Modernisierungsprozess der präkapitalistischen Produktionsbedingungen; Lohnzahlungen wurden allgemein eingeführt, die ländliche Subsistenzwirtschaft 36 Interview mit Carlos Figueroa.

Die Subjektivität der guatemaltekischen Intellektuellen | 85 verschwand allmählich und ebenso die koloniale Abhängigkeit der Bauern. In den ländlichen Indígenas-Gegenden im Westen brachten die Einführung von Düngemitteln und die neuen Märkte viele Indígenas-Gemeinschaften mit dem kapitalistischen System und der Geldwirtschaft in Kontakt, so dass neue Beziehungen zwischen dem Land und der Stadt entstanden; im Norden setzte schließlich die Kolonisierung der letzten landwirtschaftlichen Gebiete des Landes ein. Kurz gesagt, in diesen Gegenden kam es zu einem tiefgreifenden sozialen Wandel, wodurch die in sich geschlossenen korporativistischen Gemeinschaften aufgelöst wurden, die Erik Wolf in den 1950er Jahren so hervorragend geschildert hatte und die mit den Besitzern der Kaffee-, Baumwoll- oder Zuckerplantagen in einer symbiotischen Gemeinschaft lebten.37 Wie wir noch sehen werden, war dieser Wandel eine der Voraussetzungen, die den Aufstand der Landarbeiter gegen Ende der 1970er Jahre begünstigen sollten, als die guerrilla sich in dieser Region etablierte und sich mit den unterschiedlichen Tendenzen der katholischen Kirche verbündete, die die Theologie der Befreiung predigten.38 Während der 1970er Jahre jedoch konnte die Linke als politische Strömung die Intellektuellen auf ihre Seite bringen, denn ein Intellektueller der Rechten zu sein, schien ein Widerspruch in sich.39 Es gab Intellektuelle der Rechten, aber sie traten kaum in Erscheinung, waren an der Universität von San Carlos isoliert und meldeten sich in der konservativen Presse zu Wort. Ein weiteres Forum dieser Intellektuellen war die Philosophische Fakultät der Staatlichen Universität, wo auch Guillermo Putzeys Alvarez wirkte, ein junges Mitglied des Nationalen Befreiungsheeres; andere Vertreter der Rechten gab es in der Philosophischen Abteilung unter José Mata Gavidia, in der Abteilung für Geschichte unter Jorge Luis Luján Muñoz und Daniel Contreras, und in der Abteilung für Literatur waren es Celso Cerezo Dardón und Ricardo Estrada. »Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre gruppierte sich die intellektuelle Rechte nicht nur in diesen Zirkeln, sondern auch um ein neues Zentrum, das in der Fakultät für Ingenieurswissenschaften der Universidad de San Carlos (USAC, Universität von San Carlos) entstand. Dort formierten sich Gruppen von Ingenieuren, vor allem Mathematiker, die die akademische Führungsrolle übernahmen: Suger, Montano, Morales, Mata.«40 Später, von den 1980er Jahren an, standen diese Gruppen der Universidad Marroquín sehr nahe. Diese Hochschule sollte von den 1980er Jahren an zum Zentrum des neoliberalen Denkens werden, und aus dieser Hochschule sollten die – nun sehr wohl aggressiven und angesehenen – Intellektuellen der Rechten hervorgehen, die großen Einfluss auf das politische und intellektuelle Leben hatten.41 In den 1970er Jahren war das Zentrum des Denkens die Universität von San Carlos, die immer mehr von linken Ideen beherrscht wurde. Im künstlerischen Be37 WOLF, Erik: »A comparative study of peasant communities of Java and Guatemala«, in: American Anthropologist, 1957. 38 Siehe LEBOT, Ivon: La guerra en tierras mayas, Fondo de Cultura Económica, 1996. 39 Interview mit Carlos Figueroa. 40 Interview mit Edgar Ruano. 41 Und dennoch, unter ihnen gibt es zumindest bis heute keinen Intellektuellen, der ein großes Werk hervorgebracht hätte.

86 | Edmundo Urrutia reich sympathisierten Maler wie Marco Augusto Quiroga, Elmar René Rojas und Roberto Cabrera mit der Linken. Jorge Sarmientos, die wichtigste Persönlichkeit des Musiklebens, war insgeheim Mitglied der PGT, und es gab eine Zelle der PGT im Nationalen Sinfonie-Orchester. Zusammenfassend kann man sagen, die bedeutendsten intellektuellen Beiträge stammten nicht von der Rechten, sondern von Intellektuellen, die sich im Exil befanden oder abseits des staatlichen Geschehens standen. Der bewaffnete Konflikt breitete sich aus und verhärtete sich Ende der 1970er Jahre inmitten heftiger politischer und sozialer Unruhen. Seit dem Jahr 1973 entfesselten sich die sozialen Bewegungen und entwickelten eine revolutionäre Strömung, die das gesellschaftliche Leben beherrschte. Die guerrilla-Organisationen, die Anfang der 1970er Jahre aufkamen, wieder verschwanden und neu erschienen, konnten in den westlichen Landesteilen Fuß fassen und praktizierten neue Strategien, wobei die Eingliederung der indigenen Gemeinschaften ein neues und wesentliches Element darstellte. Das Ejército Guerrillero de los Pobres (EGP, Guerrillaheer der Armen) etablierte sich in einer reinen Zone der indígenas (im Norden von Quiché und anderen Gebieten), die Organización del Pueblo en Armas (ORPA, Organisation des Bewaffneten Volkes) im Südwesten, der zur Hälfte von indígenas und zur Hälfte von Hispanos besiedelt ist, und die alten FAR im hispanischen Norden. Dieser Prozess der Neuordnung und der vielfältigen Durchdringung wurde begleitet von theoretischen Überlegungen zur sozialen und kulturellen Struktur Guatemalas und der Frage der Notwendigkeit, die indígenas in den Kampf mit einzubeziehen.

Die Frage der »indígenas« und die Intellektuellen Als die Guerrillakräfte eine Bilanz dieser Zeit zogen, erkannten sie die strategischen und taktischen Schwierigkeiten im Bereich des militärischen Handelns sowie die organisatorischen, politischen und konzeptionellen Irrtümer, die die Versuche, die Arbeitermassen auf dem Land wie in der Stadt zu organisieren, hatten scheitern lassen. Auffallend war die geringe Beteiligung von indígenas bei den aktiven Kämpfern; gefordert wurde eine genauere Analyse der Klassen des Landes und der sozialen Gegensätze. Diese Problematik stieß in den akademischen Kreisen auf unmittelbares Interesse, und einige Intellektuelle, die dem revolutionären Kampf nahe standen, versuchten, Antworten auf diese Fragen zu finden. Von diesem Zeitpunkt an kommt es zum bedeutendsten »erkenntnistheoretischen Bruch« in den sozialen Klassen Guatemalas während des 20. Jahrhunderts.42 Dieser Bruch vollzieht sich während eines Prozesses, der Ende der 1960er Jahre begonnen hatte, und die produktive Debatte endete vor dem Erdbeben von 1976 und der politischen wie sozialen Polarisierung, die das Land Ende der 1970er Jahre spaltete. Die ethnische Frage hatte jedoch eine lange Geschichte, und seit den 1940er Jahren, der Zeit der Oktober-Revolution, wurde das Problem allmählich unter modernen Gesichtspunkten behandelt. 42 SAENZ, Ricardo: Historia de la Antropología en Guatemala, Guatemala, Staatsexamensarbeit, 1999.

Die Subjektivität der guatemaltekischen Intellektuellen | 87 Wie bereits erwähnt, wurde das Staatliche Institut für Angelegenheiten der indígenas, das in seiner Anfangszeit von dem Anthropologen Antonio de Goubad Carrera geleitet wurde, im Jahr 1945 gegründet. Die Indígenasfrage, die damals in Lateinamerika sehr in Mode war, hatte in Guatemala nicht dieselbe Bedeutung wie in Mexiko und in anderen Ländern. Grund dafür war laut Guillermo Pedroni unter anderem, dass sich die junge revolutionäre Bewegung von 1944 nicht für die Bildung eines Nationalbewusstseins einsetzte. Es bestand kein Interesse des Staates an der Beratung in indigenen Angelegenheiten, und die kulturpolitisch ausgerichtete nordamerikanische Anthropologie nahm das Feld der anthropologischen Forschungen für sich allein in Anspruch.43 Das Institut für indigene Angelegenheiten förderte monographische und ethnographische Untersuchungen zu verschiedenen Aspekten der guatemaltekischen Gesellschaft. Laut Pedroni war es Goubad, der es nach Antonio Batres Jáuregui am besten verstand, zwischen Positionen des anti-kommunistischen Humanismus und dem zivilisatorischen Geist der Oligarchie während der Regierung Arévalo zu vermitteln. Und Luis Cardoza y Aragón sagt von ihm, damals sei der einzige Anthropologe des Landes ein Konservativer gewesen. Nur er und Juan de Díos Rosales hatten eine anthropologische Spezialausbildung in den Vereinigten Staaten genossen. Carlos Martínez Durán war zu jener Zeit einer der wenigen Experten, die sich offen für die Notwendigkeit eines kulturellen Nationalismus aussprachen, basierend auf der Entwicklung der historisch-anthropologischen44 Forschung und der Kritik an der Theorie von der Unterlegenheit der indígenas. Während Mexiko seine Anthropologen selbst ausbildete, waren es in Guatemala nordamerikanische Anthropologen, die zunächst mit der Planung und Ausführung der indígena-Projekte beauftragt wurden, unter ihnen Richard Adams. Die indígenaForschung wurde von der städtischen Mittelschicht unterstützt, und gleichzeitig waren die konservativen anti-kommunistischen Sektoren die ersten, die diese Projekte in Frage stellten. In der auf Hegemonie festgelegten Mentalität der Zeit herrschte noch immer die Idee vor, die Ausrottung der indígenas während der Zeit der conquista wäre die beste Garantie für nationale Prosperität gewesen. Als Teil der Strategie, das soziale Reformprogramm zu bremsen, kam es weniger als ein Jahr nach Ausbruch der Revolution zu den ersten Versuchen, die Angst der hispanisierten ladinos vor einem Aufstand der Indios zu schüren. Jorge Schlesinger hat ein Buch über das Gemetzel in Salvador im Jahr 1932 veröffentlicht, wonach der Kommunismus in den indigenen Regionen von El Salvador besser Fuß fassen konnte als in anderen Gegenden. Auch das Arbeitsgesetzbuch von 1947 rief bei aufgeklärten Konservativen Reaktionen hervor. Carlos Molina Orantes – ein hervorragender konservativer Intellektueller – stellte in seiner Rede anlässlich seiner Aufnahme in die Akademie für Geographie und Geschichte fest, dass man auf indígenas und hispanisierten ladinos nicht die gleichen Gesetze anwenden könne, da sich die indígenas noch immer in einer gegenüber den Hispanos wirtschaftlich und kulturell untergeordneten Situation befanden. Auch Erzbischof Mariano Rosell y Arellano sagte bei der Einweihung 43 Zitiert von Sáenz, in ibid. 44 GONZALEZ, Ramón: »Esas sangres no están limpias«, in: ARENAS, Clara: ¿Racismo en Guatemala? Abriendo el debate sobre un tabú, Guatemala, 1999.

88 | Edmundo Urrutia des neuen Gebäudes des indígenas-Instituts, Guatemala mache sich um die indígenas keine Sorgen, da diese zur Zeit noch im Zustand der offensichtlichen Unterwürfigkeit lebten, aber »schon seit geraumer Zeit von den Kräften des Bösen aufgehetzt würden, die den Rassenhass schüren wollen, um die Herrschaft dieser Roten zu entfesseln. Die ersten Flammen dieses schrecklichen Brandes haben bereits begonnen, die Welt zu verschlingen.«45 Bei den Intellektuellen der Linken und in der PGT zeigte man damals freilich wenig Interesse für die Frage der indígenas. Soweit bekannt, war Víctor Manuel Gutiérrez der einzige, der über das lange Zeit sogenannte »Eingeborenen-Problem« schrieb. Unter dem Einfluss der Gedanken Stalins zur Nation und den Nationalitäten äußerte Gutiérrez seine Sorge angesichts der »wirtschaftlichen Befreiung der Gruppen der Indígenas des Landes« und setzte sich ein für das Ende »der kulturellen Unterdrückung der indígenas, die, abgesehen von den wirtschaftlichen Ursachen, die das Hauptproblem sind, die Entwicklung und Förderung der ihnen eigenen Kultur verhindert hat.«46 Die Frage der Landwirtschaft war seiner Meinung nach entscheidend, die Kultur stand für ihn erst an zweiter Stelle. Lange Jahre waren die indígenas nach der kommunistischen Interpretation in erster Linie und in Hinblick auf ihre eigenen Forderungen als arme Bauern zu betrachten. Diese Interpretation wurde auch auf dem Vierten Kongress vertreten, bei dem die PGT außerdem die linguistische Vielfalt der indigenen Völker als trennendes Element anführte, das die Zersplitterung dieser »Minderheiten« erklärte. Auf diesem Kongress wurde ferner betont, dass diese Volksgruppen keine charakteristischen Merkmale besäßen, wie sie Nationalitäten auszeichnen; ebenso wurde es für nötig erklärt, den Kampf gegen die Diskriminierung und die Gleichsetzung der indígenas mit den armen Hispanos aufzunehmen. Vorgeschlagen wurde die volle Eingliederung der indígenas in den revolutionären Prozess, ausgehend von ihrer sozialen Schicht, aber mit Rücksicht darauf, wie sie ihrem sozialen Bewusstsein Ausdruck verleihen. Anfang der 1970er Jahre vertraten die FAR die Überzeugung, die armen Bauern bildeten zusammen mit den Arbeitern aus der Stadt das Bündnis, das die treibende Kraft der Revolution sei. In den Sozialwissenschaften begannen sich ab der Mitte der 1960er Jahre neue Interpretationen abzuzeichnen. In Südamerika kam die Dependenz-Theorie auf, und von da an erachtete man die historisierende Betrachtung der wirtschaftlichen und sozialen Prozesse und vor allem die Suche nach einem eigenen lateinamerikanischen Denken als unerlässlich. Die Meinung, die lateinamerikanische Realität sei einzigartig, und aus genau diesem Grund seien die aus der europäischen oder russischen Geschichte hervor gegangenen Theorien nicht schematisch auf sie anzuwenden, wurde zur allgemein anerkannten These. Die Theorien müssten vielmehr an die lateinamerikanischen Verhältnisse angepasst oder, besser noch, es müssten Konzepte und Theorien entworfen werden, die diesem einzigartigen und unvergleichlichen Charakter der lateinamerikanischen Realität Rechnung trügen. Obwohl man im Allgemeinen auf die marxistische Theorie und Methodologie nicht verzichten konnte, 45 Op. cit. Saénz. 46 BÖCKLER, Guzmán et al.: Guatemala, una interpretación histórico-social, o.J., o.O.

Die Subjektivität der guatemaltekischen Intellektuellen | 89 um die eigenen Thesen aufrecht zu halten, wurden die Forderungen doch flexibler, damit sie eher der komplexen lateinamerikanischen Realität gerecht würden. Von Anfang an riefen die Vertreter der Revolution das Volk zur Einheit auf, um die oligarchische Macht stürzen zu können. Bis zum Beginn der 1960er Jahre jedoch waren viele ihrer Ideen von dem Sicherheitsbewusstsein der Zivilisation geprägt, wie es typisch ist für die Mentalität der herrschenden Schicht. Joaquín Noval wollte die ethnographische und zivilisatorische Tradition der nordamerikanischen Anthropologie wieder aufgreifen und mit einer orthodoxen marxistischen Sichtweise kombinieren, welche der städtischen Arbeiterschicht der Hispanos die Rolle der revolutionären Vorhut zuschrieb. Danach kam es zum »erkenntnistheoretischen Bruch«, der die Diskussion belebte. Die grundlegenden Werke, um die damals die Debatten in Guatemala kreisten, waren Guatemala, una interpretación histórico-social (Guatemala, eine historisch-soziale Interpretation) von Carlos Guzmán Böckler und Jean Loup Herbert47 und La Patria del Criollo (Die Heimat des Kreolen) von Severo Martínez.48 In beiden Werken wird versucht, die Gesamtheit der Sozialstruktur Guatemalas in ihren verschiedenen Kompliziertheitsgraden zu erklären. Außerdem »nationalisierte« sich die Diskussion in dem Sinne, dass die nordamerikanischen Anthropologen das Thema Kultur von nun an nicht mehr allein beherrschten. Man kann somit behaupten, der wichtigste Beitrag der zeitgenössischen Intellektuellen zur politischen Geschichte Guatemalas konzentrierte sich auf diese Debatte, was weitreichende Folgen für die Politik wie die militärische Strategie hatte. Die Arbeiten von Guzmán Böckler und Herbert – begrenzt in ihren theoretischen Ansprüchen und ihrer intellektuellen Substanz – entsprachen dem Bedürfnis, den Kategorien europäischen Ursprungs eigenen Inhalt zu verleihen; deshalb glaubten die Autoren, der Begriff der gesellschaftlichen Klasse könne nicht ganz einfach auf Guatemala übertragen werden, da die soziale Struktur hier von ethnischen Unterschieden gekennzeichnet sei. Ohne dem marxistischen Einfluss ganz entkommen zu können, vertraten sie die These, der wichtigste soziale und daher möglicherweise auch politische Widerspruch in Guatemala sei der zwischen dem Hispano und dem Indio, und der Charakter des guatemaltekischen Staates beruhe nicht auf der Klasse, sondern der ethnischen oder kulturellen Zugehörigkeit. Der Staat Guatemala war ein Staat der ladinos, ein Staat, der Instrument des internen Kolonialismus gewesen war. Gestützt auf die Soziologie der Dependenz stellten Guzmán Böckler und Herbert die These der Hispanisierung in Frage mit dem Argument, im Land gebe es Beziehun47 MARTINEZ, Severa: La Patria del Criollo, o.J., o.O. 48 »Neben anderen Verdiensten zeigt der Autor dieser Arbeit eine große Fähigkeit, in die Psychologie und die Mentalität der kreolischen Bevölkerung einzudringen, so dass das Werk als eine hervorragende psychologische Arbeit bewertet wurde. ›La Patria del Criollo‹ ist außerdem eine Geschichte der Mentalitäten, eine Analyse der kreolischen Vorstellungswelt hinsichtlich der Gesellschaft und der Wirtschaft sowie eine Analyse, in der der Autor zu einer historisch zutreffenden Schlussfolgerung gelangt, denn die Person des guatemaltekischen indígenas war tatsächlich das Ergebnis der Historie, in diesem Fall der Kolonialgeschichte.« Interview Carlos Figueroa.

90 | Edmundo Urrutia gen eines internen und eines externen Kolonialismus, welcher die Hispanos und die Vereinigten Staaten bevorzugte und den indígenas schadete. Dieser Gedanke fand in den universitären Zirkeln großen Widerhall und wurde von der Bewegung der Mayas in den 1990er Jahren neu belebt. In der Debatte, die von diesen beiden Büchern entfacht wurde, ist die Frage der indígenas das zentrale Thema, denn in dem Werk von Martínez – geschrieben aus der Perspektive des klassischen Marxismus, wenngleich mit großer schöpferischer Intensität49 – wird der Indio als Nachfolger und Fortsetzung des Dieners aus der Kolonialzeit, also als Relikt einer feudalen Gesellschaft, betrachtet. Seine Kultur ist deshalb nicht mehr als der Ausdruck der Rückständigkeit und der Unterlegenheit, weshalb er in einem Projekt der Emanzipation keine Ansprüche zu stellen hat. Als Produkt des Dienens war diese Kultur arm und ohne Faktoren, die eine Befreiung möglicherweise hätten rechtfertigen können. Für Guzmán und Herbert ist der indio die Verkörperung der Nation, seine Kultur ist das Ergebnis des Widerstandes gegen die Zerstörung und Ergebnis der Solidarität. Für Martínez ist der ladino aus der Vermischung der verschiedenen unteren Klassen der Gesellschaft während der Kolonialzeit entstanden. Er ist für ihn Inbegriff der Möglichkeit, die Nation umzuformen, während er für Guzmán und Herbert keine eigene Identität und keine Vorstellung von der Nation besitzt, der ladino ist vielmehr selbst das Problem bei der Entwicklung eines Projektes der Transformation. Die Herausforderung für die mögliche Revolution sieht Martínez in der Integration der indígenas in den Kampf, und zwar durch ihre Proletarisierung sowie ihre eventuelle Hispanisierung. Für Guzmán und Herbert ist es Aufgabe der indígenas, den Faden ihrer Geschichte wieder aufzunehmen und eine für alle akzeptable Nation zu schaffen. Laut Martínez beruht der soziale Wandel auf wirtschaftlichen Veränderungen; seine Sichtweise ist die leninistische Definition der gesellschaftlichen Klassen, basierend auf gewissen stalinistischen Vorstellungen von der Nation und den indigenen Völkern (die schon Víctor Manuel Gutíerrez berücksichtigt hatte). Martínez liefert eine konsequente, streng historische Arbeit, während Guzmán und Herbert dem traditionellen Marxismus kritisch gegenüber stehen und die ideologischen und subjektiven Sphären der Realität für bestimmend halten, die sie in Zusammenhang sehen mit der wirtschaftlichen Basis und den Verhältnissen der imperialistischen Herrschaft. Beide Werke sorgten in den Kreisen der akademischen Linken für großes Aufsehen und sollten beträchtlichen Einfluss auf die revolutionären Organisationen haben. An den Debatten beteiligten sich Edelberto Torres-Rivas, Robert Carmack, Joaquín Noval, Julio Quan, Humberto Flores Alvarado, Carlos Figueroa und andere. Ein Forum für ihre Debatten war die damals einflussreiche Zeitschrift Revista Alero. Die Haltung von Guzmán und Herbert wurde kritisiert, weil sie die Klassenanalyse neu interpretiert und die Person des Kolonisten mit dem des ladino gleichsetzt sowie die herrschende Klasse insgesamt und die Bourgeoisie der landwirtschaftlichen Exporteure im Besonderen nicht berücksichtigt. Die Klassenstruktur wird zugunsten der Kolonialstruktur geopfert und dem Staat sein Klassencharakter genommen.50 Laut Noval 49 Torres Rivas, Edelberto, 1971. 50 Interview mit Carlos Figueroa.

Die Subjektivität der guatemaltekischen Intellektuellen | 91 hat diese Sichtweise zu noch größerer Verwirrung und ideologischer Zersplitterung unter der Mehrheit der Studenten und den ihnen nahe stehenden Gruppen oder Organisationen geführt (oder umgekehrt). Aus zeitgenössischer Perspektive sagt Carlos Figueroa in seinem Buch, Severo Martínez habe sich geirrt, wenn er behauptete, die Befreiung des guatemaltekischen indígenas, der vor allem ein Produkt der Kolonialherrschaft und folglich Ergebnis einer Geschichte der Unterdrückung war, sei eine Befreiung von dieser im kolonialen Rahmen entstandenen Kultur gewesen, was bedeutete, er musste aufhören, indio zu sein. »Ausgehend von richtigen Voraussetzungen«, so Figueroa, »ist Severo Martínez zu einer falschen Schlussfolgerung gelangt; in dieser Hinsicht entspricht die Haltung von Carlos Guzmán Böckler eher der heutigen Meinung zur ethnischen Realität des Landes, was nicht bedeutet, dass die Analyse von Guzmán Böckler viel erschöpfender oder tiefgründiger wäre als die von Martínez. Guzmán Böckler war ein angesehener Professor, der an der Universität eine bedeutende Rolle spielte und an den Debatten der Intellektuellen teilnahm, sich aber schließlich revolutionären Organisationen anschloss.«51 Die PGT nahm eine Severo vergleichbare Haltung ein, und ORPA stand Guzmán nahe. Die FAR sympathisierten zunächst mit den Ideen Böcklers, später distanzierten sich ORPA und FAR. Dieser geschichtliche Rückblick zeigt, wie die Intellektuellen aus der Perspektive ihres revolutionären Projektes und immer in Opposition zum Staat als Block weiter existierten oder sich als Block neu formierten. Sie spalteten sich schließlich in zwei Strömungen, beide mit revolutionären Überzeugungen: eine mit traditionell marxistischer Ausrichtung und ausschließlich klassenspezifischer Sicht, und eine andere Richtung, die bei der Analyse der guatemaltekischen Gesellschaft auch das ethnische Element berücksichtigte.

Die schlimmsten Jahre des Konflikts (1978-1985) Die Intellektuellen waren der Willkür des Krieges und des Konfliktes insgesamt ausgeliefert. Viele Schriftsteller, Künstler und Intellektuelle wurden in die Radikalisierung getrieben, verfolgt oder gezwungen, das Land zu verlassen. Wer auch nur den geringsten Kontakt mit der Linken gehabt hatte, war Opfer der Verfolgung, denn das Regime wollte jegliche Möglichkeit eines Triumphes oder der Unterstützung des bewaffneten Kampfes mit der Wurzel ausrotten. Seine Anhänger begannen Leute umzubringen, die in den 1960er Jahren Kontakt zur Linken gehabt hatten, selbst wenn sie seit zwanzig Jahren nichts mehr mit diesen zu tun gehabt und an keinen 51 Zum ersten bedeutsamen Bruch kam es 1983, als eine größere Gruppe von intellektuellen Guerrilleros sich von dem Ejército Guerrillero de los Pobres abspaltete mit der Begründung, es herrschten nicht die geeigneten Voraussetzungen für eine Diskussion der als Folge der Offensiven des Heeres entstandenen damaligen Situation, welche die Grenzen der militärischen Strategie aufzeigten. Sie schlugen daher das Ende des Krieges und die Einleitung einer neuen politischen Ära vor, weshalb sie die Bildung einer neuen Partei aus Sympathisanten des Kommunismus forderten.

92 | Edmundo Urrutia Aktionen der Linken mehr teilgenommen hatten. Folglich verließen die Intellektuellen das Land; es kam zu einer neuen Welle des Exils und zu einem neuen Riss im gesellschaftlichen Gefüge Guatemalas, dessen Wiederherstellung wir noch heute miterleben. Während dieses kurzen Zeitraumes, und insbesondere unmittelbar nachdem das Heer seine Fähigkeit gezeigt hatte, die Guerrillakräfte in ihr Hauptquartier im fernen Gebirge und in die Urwaldgebiete im Norden des Landes zurückzutreiben, begann ein Prozess, bei dem die Intellektuellen sich immer mehr von den politisch-militärischen Organisationen entfernten, ein Prozess, der mehrere Jahre dauerte, der aber die Intellektuellen zunehmend von der Politik entfremdete sowie die Organisationen ihrer Ideen und Überzeugungn beraubte, und dies zu einem Moment, als die Herausforderungen der neuen Zeit umso größere Anstrengungen erforderten, um der Wirklichkeit wieder Sinn zu verleihen, einen Sinn, der mit der revolutionären Praxis in Einklang stehen sollte. Vorrangig war eine – wenn nicht vollständige, so doch tiefgreifende – militärische Niederlage, was eine Neu-Definition der militärischen und politischen Strategie nötig machte. Danach wurden neue Forderungen nach einem Beginn des nationalen politischen Wandels erhoben mit der Absicht, die Übergabe der Macht an eine zivile Regierung mittels Wahlen ohne Wahlbetrug durchzusetzen, um den Niedergang des sozialistischen Modells der Sowjetunion fortzuführen, was immer die Zielvorstellung der guatemaltekischen Revolutionäre gewesen war. Zu Anfang der 1990er Jahre wurden Forderungen nach einem Friedensprozess laut, was eine enorme intellektuelle Herausforderung bedeutete.52

Die Zeit des Übergangs oder der Beginn des Demokratisierungsprozesses Mit der Regierung von Vinicio Cerezo von der Christlich-Demokratischen Partei wird ein neuer Abschnitt in der politischen Geschichte des Landes eingeleitet; der Staat beginnt nun, die Intellektuellen durch Verträge über Programme und Projekte für sich zu verpflichten. Die Schaffung des Ministeriums für Kultur und Sport war das Ergebnis dieser damals neuen praktischen Initiativen. Nach Jahrzehnten der Ausgrenzung öffnete der Staat über eine aus Wahlen hervorgegangene bürgerliche Regierung den Intellektuellen und Schriftstellern nun die Türen. Dieses Entgegenkommen hatte jedoch einen starken politischen Beigeschmack, denn da die Intellektuellen Jahrzehnte in der Opposition verbracht hatten, sahen viele diese Integration als eine »Kooptation« an, als würden die Intellektuellen vom Staat »gekauft«. Für den Staat zu arbeiten, wurde als Unterwerfung gegenüber einem System interpretiert, das noch immer von der Oligarchie und den Militärs beherrscht war, und dies inmitten eines bewaffneten Konflikts, der – wenngleich er keine Bedrohung mehr für das System darstellte – weiterhin schreckliche Auswirkungen hatte wie die systematische Verletzung der Menschenrechte. Die herrschende Meinung war, dass der neue politische Prozess und die Regierung der DC nichts anderes waren als ein Teil 52 Wie überall finden sich auch hier Ausnahmen, welche die Regel bestätigen.

Die Subjektivität der guatemaltekischen Intellektuellen | 93 der Strategie eines konterrevolutionären Staates, der nicht bereit war, seinen repressiven und autoritären Charakter aufzugeben. Rückblickend muss man anerkennen, dass sich trotz seiner konterrevolutionären Facetten – seinem Bemühen, einer von der Gewalt der Waffen in Frage gestellten wirtschaftlichen und politischen Ordnung Legitimität zu verleihen – innerhalb des Demokratisierungsprozesses Möglichkeiten zur politischen Beteiligung und Organisation auftaten, die das allmähliche Entstehen einer bürgerlichen Gesellschaft erlaubten. Außerdem schuf die Demokratisierung die Grundlagen für den Beginn des Friedensprozesses als Vorbedingung für jeden Übergang zu einer vollständigen Demokratie. Im Jahr 1991 waren die Voraussetzungen gegeben für Verhandlungen zwischen Regierung, Armee und guerrilla. Die Entfremdung der Intellektuellen vom Staat einerseits und ihr Bruch mit den politisch-militärischen Organisationen der Linken andererseits brachten sie als gesellschaftlichen Stand innerhalb des Prozesses in eine derartige Randsituation, dass sie sich weder mit dem Demokratisierungsprozess noch mit dem Friedensprozess identifizieren wollten. Die Demokratisierung wurde als ungenügend und oft als rein formal betrachtet und der Friedensprozess als Ausdruck der Resignation und des Verrats an den Idealen und den Märtyrern.53 »Die Intellektuellen insgesamt«, so Edgar Ruano, »stehen der politischen Entwicklung und der Demokratisierung des Landes gegenwärtig skeptisch gegenüber. Dies ist zum Teil auf die jüngste Geschichte des Landes zurückzuführen, während derer die Intellektuellen von der politischen Tätigkeit im Staat ausgeschlossen waren, was sie dazu zwang, zu den Waffen zu greifen, Verfolgung und Unterdrückung zu erleiden.« Hinzu kommt, dass die Linke wegen der weltweiten Krise ihrer Glaubensgenossen seit einigen Jahren in ideologischen Schwierigkeiten steckt. Und dies hat zur Folge, dass der guatemaltekische Intellektuelle, der sich mit der Linken identifiziert, im Allgemeinen noch keine klaren Ziele hat, keinen politischen Horizont sieht und dem Demokratisierungsprozess, an dem er nicht teilgenommen hat, skeptisch gegenübersteht, denn – wie wir gesehen haben – hatte er Mitte der 1980er Jahre begonnen, den bewaffneten Kampf aufzugeben. Die bewaffnete politische Linke hat ihre intellektuellen Zirkel während des Krieges verloren, weshalb diese weder an den Verhandlungen noch an der Durchsetzung der Friedensverträge beteiligt waren. Daraus erklärt sich ihre Neigung, beide Prozesse zu kritisieren und die Begrenzheit ihrer Erfolge zu betonen. Der Übergang, der Mitte der 1980er Jahre begann, und der Friedensprozess, der mit der Unterzeichnung der Friedensverträge 1996 endete, schufen ein neues Szenarium, eine neue Situation, die ein verändertes Verhältnis zwischen dem Staat und den Intellektuellen entstehen ließ. Einige Intellektuelle bestreiten die Fortschritte, andere sind bereit, einzelne Merkmale des Wandels im politischen Regime zu erkennen, aber sofort scheint in 53 Einer anderen Interpretation zufolge lag der Ursprung des Konfliktes vor allem in der politischen Ausgrenzung, wenngleich auch darauf hingewiesen wird, dass die Unmöglichkeit des Kampfes für eine Veränderung der sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen innerhalb des politischen Rahmens der Grund dafür war, dass es zum bewaffneten Konflikt kam.

94 | Edmundo Urrutia ihrer Argumentation die alte Kritik an der formalen Demokratie und dem beschränkten Charakter der politischen Beteiligung auf; ihr Hauptkritikpunkt ist jedoch das Fortbestehen der wirtschaftlich-sozialen Bedingungen, an denen sich ihrer Meinung nach nichts geändert hat und welche die Ursache des bewaffneten Konflikts waren.54 Andere sind flexibler in der Beurteilung des Prozesses und sehen tatsächlich demokratische Elemente in der neuen Situation, vor allem nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens. »Wenn ich von demokratischer Institutionalität in Guatemala spreche«, sagt Carlos Figueroa, »so meine ich damit, dass wir heute freie und relativ saubere Wahlen haben; es gibt nicht mehr so viel Betrug wie damals, als es ständig darum ging, einen hohen Befehlshaber des Heeres auf einen Regierungsposten zu platzieren. Heute gilt das Prinzip der Rotation zwischen den Parteien, es herrschen Presse- und Meinungsfreiheit. Wenn man die Zeitungen liest, bemerkt man Dinge, die in der Vergangenheit undenkbar waren. Damit will ich nicht allzu nachsichtig sein und behaupten, wir hätten eine konsolidierte Demokratie, aber es gibt tatsächlich eine ganze Reihe von Elementen der formalen Demokratie, und das ist wirklich nicht wenig. Die Tatsache, dass man einen nicht umbringt und dass ich hier reden kann nach Jahren des Exils, ist nichts Formales, es ist eine Realität, die erlaubt, dass ich hier mit Dir sprechen kann.«55 Wenn man zum Skeptizismus noch die Krise der Linken weltweit hinzunimmt, dann kann man sagen, dass die guatemaltekischen Intellektuellen als Block, als Schicht, mit ihren Ideen nichts zum Demokratisierungsprozess beigetragen haben, da sie sich nicht nur selbst ausgegrenzt haben, sondern weil sie über keine Visionen, über keine Antworten verfügen. Zudem wurden sie von den politischen Eliten der bewaffneten Linken ausgegrenzt, da diese inmitten eine Krieges, den sie wenn nicht verloren, so auch nicht gewonnen haben, weder Abweichungen noch die Forderung nach Öffnung zur Diskussion, zur Debatte, akzeptierten. Vor den 1970er und 1980er Jahren gab es keine Abweichungen, aber in den 1980er Jahren, nach den Erfolgen der Offensiven des Heeres bei der Heraufbeschwörung der revolutionären Bedrohung, musste es zu Divergenzen kommen, da notwendigerweise Forderungen nach einer Neuinterpretation der nationalen Realität und der möglichen Wege zu einem Wandel laut wurden. Und da die politische Führerschaft keine abweichenden Meinungen duldete, zwang sie die Intellektuellen dazu, sich selbst auszuschließen oder drängte sie an den Rand des politischen Geschehens. Deshalb lautete ihre Argumentation noch nach dem Friedensschluss, hier gäbe es keinen Frieden, da noch immer Armut, Ausbeutung und Ungleichheit herrschten. Die Intellektuellen haben sich den Friedensprozess nicht zu eigen gemacht, sie haben ihn nicht verinnerlicht, weshalb man behaupten kann, dass der Prozess des Wandels im Allgemeinen ein Prozess der politischen Eliten war, nichts weiter. Man muss jedoch klarstellen, dass dieser Skeptizismus nicht nur bei den Intellektuellen, sondern auch bei anderen Sektoren der Gesellschaft anzutreffen ist.56 Nicht zu verleugnen ist allerdings, dass es einzelne Intellektuelle der Linken gab, 54 Interview mit Carlos Figueroa. 55 Interview mit Edgar Ruano. 56 Interview mit Carlos Figueroa.

Die Subjektivität der guatemaltekischen Intellektuellen | 95 die bereit waren, sich in die hohen Sphären der Regierungen der vergangenen Jahre einzugliedern, das heißt, dem Präsidenten nahe zu stehen und großen Einfluss bei den Mächtigen zu haben. Dies bedeutet nach Meinung von Figueroa, dass es »Intellektuelle gibt, die früher der Linken angehörten und heute von der Rechten für ihre Zwecke, für ihre Regierungsführung, benutzt werden. Neu daran ist, dass sich so viele derer in die Verwaltung des Staates integriert haben, die früher eindeutig linke Positionen vertraten. In der Regierung von Alfonso Portillo gibt es zahlreiche ehemalige Mitglieder revolutionärer Organisationen. Dies begann bereits mit der vorangegangenen Regierung des PAN (Partido de Avanzada Nacional, Partei des Nationalen Fortschritts) und Alvaro Arzú. Was wäre die soziologische Erklärung dafür? Sie ist darin zu suchen, dass die guatemaltekischen Intellektuellen aus der Opposition hervor gegangen sind, wenn nicht aus den Reihen der Linken, denn die Rechte weist einen großen Mangel an politischen Intellektuellen auf und bedient sich heute der gesamten intellektuellen und kulturellen Erbschaft von Personen, die der Linken entstammen, um ihre eigene Politik betreiben zu können.« Diese Eingliederung der linken Intellektuellen hat jedoch zu dem tragischen Paradoxon geführt, dass Angehörige dieser Linken heute an politischen Projekten mitwirken, die in offenem Gegensatz zu den Idealen und Programmen der Organisationen stehen, für die sie sich früher eingesetzt haben. Im Allgemeinen werden diese Intellektuellen als Opportunisten angesehen, die bereit sind, sich Sektoren anzuschließen, die während des bewaffneten Konfliktes beispielsweise mit Menschenrechtsverletzungen zu tun hatten und die sich heute als politische Parteien neu konstituiert haben. Somit haben wir einerseits die Mehrheit der Intellektuellen, die sich in kritischer Opposition zum Demokratisierungs- und Friedensprozess befinden und nicht daran teilnehmen – und die mehr auf seine Mängel als seine Verdienste verweisen –, andererseits eine Minderheit von Intellektuellen, die sich in den Staatsapparat eingefügt haben, indem sie Regierungen unterstützen, die eine autoritäre Tradition haben. Ein betagter guatemaltekischer Intellektueller, der die vergangenen Jahrzehnte der Geschichte seines Landes miterlebt und mehrere Bücher über das Thema geschrieben hat, ist der Ansicht, die heutigen Intellektuellen der Linken lebten in der Diaspora, denn sie seien in verschiedenen Organisationen vertreten, die meisten von ihnen jedoch in gar keiner, sie befänden sich am Rande des politischen Geschehens und seien nicht mit dem Staat versöhnt. Die wechselvollen Beziehungen zwischen dem Staat und den Intellektuellen, zwischen den Intellektuellen und der Macht während des vergangenen halben Jahrhunderts, haben ihnen das Gewissen zerrüttet; deshalb ist ihre Subjektivität eine unglückselige.

96 | Edmundo Urrutia Literatur ADAMS, Richard: Encuesta sobre ladinos, Seminario de Integración Social (Seminar zur sozialen Integration), Guatemala, 1955. ARENAS, Clara, ¿Racismo en Guatemala? Abriendo el debate sobre un tabú, Guatemala, 1999. BÖCKLER, Guzmán et al.: Guatemala, una interpretación histórico-social, o.J., o.O. CAZALI AVILA, Augusto: El gobierno de Jacobo Arbenz Guzmán, Guatemala, USAC, 2001. Comisión para el Esclarecimiento Histórico (Kommission für Historische Aufklärung), Guatemala, Memoria del Silencio, Band I, Causas y orígenes del enfrentamiento armado, UNOPS, 1999. GONZALEZ, Ramón: »Esas sangres no están limpias«, in: ARENAS, Clara: ¿Racismo en Guatemala? Abriendo el debate sobre un tabú, Guatemala, 1999. Informe de la Comisión para el Esclarecimiento Histórico, UNOPS, Guatemala, 1999, S. 99. JONAS, Susan y David TOBIS: Guatemala: una historia inmediata, Mexiko, 1976. LEBOT, Ivon: La guerra en tierras mayas, Fondo de Cultura Económica, 1996. MARTINEZ, Severa: La Patria del Criollo, o.J., o.O. PELAEZ ALMENGOR, Oscar (Hrsg.): La Patria del Criollo, tres décadas después, Guatemala, USAC, 2000. PORRAS, Gustavo: Seminario sobre la cuestión étnica, Mexiko, 1988. SAENZ DE TEJADA, Ricardo: Historia de la Antropología en Guatemala (1960-1995), Diplomarbeit, Universidad de San Carlos, Guatemala, 1999. TISCHLER, Sergio: Guatemala 1944: Crisis y Revolución. Ocaso y quiebre de una forma estatal, Guatemala, Universidad de San Carlos, 1998. URRUTIA, Edmundo: Constitución y crisis del movimiento revolucionario guatemalteco (1949-1967), Magisterarbeit, FLACSO, México, 1986 (unveröffentlicht). VILLAGRAN KRAMER, Francisco: Biografía política de Guatemala, Guatemala, Flacso, 1994. WOLF, Erik: »A comparative study of peasant communities of Java and Guatemala«, in: American Anthropologist, 1957.

Intellektuelle und Politik in Venezuela | 97

Einige Hypothesen zur Beziehung zwischen den Intellektuellen und der Politik in Venezuela Alfredo Ramos Jiménez Die Diskussion über die Beziehungen zwischen den Intellektuellen und der Politik ist nichts Neues in unseren lateinamerikanischen Ländern. Traditionsgemäß wurde das Thema der Intellektuellen in Lateinamerika innerhalb der Studien zur Kultur behandelt. Wir wollen es hier im Zusammenhang mit einer neu strukturierten Politik betrachten, als Potential der Erneuerung bei den Bemühungen um die Demokratisierung in unseren Ländern. Auch wenn es auf den ersten Blick so wirkt, als sei das Thema obsolet geworden, so lassen die politischen Erfahrungen am Ende des Jahrhunderts die Diskussion vor dem Hintergrund einiger bedeutender Veränderungen der Politik doch wieder als aktuell erscheinen. Schon vor geraumer Zeit fragte sich Néstor García Canclini, ob die Diskussion über die Intellektuellen unter ethischen oder soziologischen Gesichtspunkten zu führen wäre, wobei er sich bewusst war, dass in den meisten Werken der vorliegenden Bibliographie das Thema eher unter ethischem Blickwinkel erörtert wurde. Und dies, weil die Autoren jener Werke »diskutieren, anstatt zu analysieren und schlagkräftige moralische Argumente anführen, statt die Veränderungen, welche die Stellung und die Funktion der Intellektuellen neu bestimmen, unter soziologischer Perspektive zu studieren.«1 Da die intellektuelle Tätigkeit in ihrer spezifischen Beziehung zur Politik heutzutage mit der Entwicklung der Kommunikationsmedien eine Neubewertung erfahren hat, ist diese Tätigkeit als bestimmendes Element bei der Schaffung von Wissen und Kenntnissen anzusehen; ihre Position im gegenwärtigen Geflecht der politischen Kräfte oder bei der Verteilung der Macht in unseren Gesellschaften ist somit in den Vordergrund gerückt. Die Zeit der Isolation und der Beschränkung der intellektuellen Arbeit auf akademische Zirkel ist vorbei, wir erleben nun gewissermaßen eine Wiedererweckung dieser geistigen Tätigkeiten innerhalb der demokratisch ausgetragenen politischen Debatte. Und, anders als in der Vergangenheit, ist die Reflexion über die Rolle des Intellektuellen in seiner Funktion als Vermittler politischen Gedankengutes in der demokratischen Gesellschaft in den Diskussionen über Gegenwart und Zukunft der lateinamerikanischen Neo-Demokratien für uns nötig und unerlässlich geworden. Wenn wir mit Jeffrey C. Goldfarb darin übereinstimmen, dass »intellektuelles Leben auf der freien und häufig kontrovers geführten Diskussion beruht und sowohl für die Kultur wie für die Demokratie nutzbringend ist«, so bedeutet dies soviel wie das Eingreifen des Wortes in das öffentliche Denken während eines Prozesses des Wandels, einem noch nie dagewesenen Entwicklungsstand der Information, wenn nicht gar der Herrschaft der Kommunikation.2 »Genau besehen«, so hat Tomás 1 CANCLINI, Néstor García: »Campo intelectual y crisis socio-económica«, in: ARROSA SOARES, Maria Susana (Hrsg.): Os intelectuais nos processos políticos da América Latina, Porto Alegre, 1985, S. 151. 2 Siehe GOLDFARB, Jeffrey C.: Los intelectuales en la sociedad democrática, Madrid,

98 | Alfredo Ramos Jiménez Maldonado beobachtet, »ist es nicht das erste Mal in diesem Jahrhundert, dass weit verbreitete Gleichgültigkeit und sogar Feindseligkeit angesichts des Themas der Intellektuellen um sich greifen.«3 Dies, so scheint es uns, hat sich innerhalb der sogenannten »Politik an der Schwelle zweier Jahrhunderte« geändert, einer Zeit, da der Intellektuelle wieder eine bedeutsame Rolle im politischen Denken übernimmt, stärker in den Medien präsent und an den jüngsten Stellungnahmen zu verschiedensten Fragen des öffentlichen Lebens beteiligt ist. Selbst wenn der Rückzug der Intellektuellen in den entpolitisierten akademischen Bereich mit der allgemeinen Erscheinung der Ent-Ideologisierung der politischen Formen zusammenzuhängen schien, sind die Ansprüche der aktuellen demokratischen Verhältnisse und die erdrückenden Forderungen einer institutionellen Erneuerung der Politik heutzutage Grundlage für eine größere Präsenz und – weshalb nicht? – eine nicht zu verleugnende Rückkehr der Intellektuellen in das politische Leben. Und selbst wenn es zutrifft, dass die Intellektuellen als politische Akteure »es mit den nahezu objektiven Restriktionen zu tun haben, die ihnen die Zeit – eine knappe und nicht zu erneuernde Ressource – auferlegt, und wenn sie sich außerdem mit den beinahe künstlichen Parametern konfrontiert sehen, die den formalen und informalen Regeln gehorchen, nach denen die politischen Zeitpläne ablaufen,4 so üben doch die demokratischen Verhältnisse Druck aus, indem sie eine größere Beteiligung der Intellektuellen an der öffentlichen Debatte fordern. Nun gut, welches waren die Bedingungen oder Gründe für diesen Rückfall in der Zeit, den die Intellektuellen heute zu überwinden versuchen? Einerseits bemerken wir eine klare Trennung zwischen der intellektuellen Tätigkeit und dem täglichen Leben, was sich in einer Theorie äußert, die keinerlei praktische Anwendungsmöglichkeiten aufweist, und was so weit geht, dass die Vertreter spezialisierten Wissens und die Experten sich zu weigern scheinen, ihre Wahrheiten mit den unwissenden Zeitgenossen zu diskutieren. Andererseits haben die Intellektuellen in unseren Ländern zuerst den völligen Zerfall des Weltbildes der lateinamerikanischen Linken erlebt und danach, in jüngster Zeit, mussten sie mit ansehen, wie die neoliberale Alternative in Misskredit geriet, genau das Modell, mit dessen Hilfe man die Sicherheiten und Gewissheiten der Vergangenheit abzuschaffen gehofft hatte. Es dürfte uns also nicht wundern, dass die Intellektuellen zu Beginn der demokratischen Zeiten angesichts einer Politik von in unseren Ländern noch nie dagewesenen Veränderungen einen – eher taktischen als strategischen – Rückzug angetreten haben. »Unter den vielen Übeln, für die man die zunehmende Herrschaft des Bildes in unserer Kultur verantwortlich macht«, so stellt Ludolfio Paramio fest, »nennen einige Autoren vor allem das Verschwinden der Intellektuellen aus dem öffentlichen Leben. Dieses Verschwinden hätte demnach zwei Folgen; einerseits, so der Autor, würden die aufgeklärten Persönlichkeiten den Sinn für soziale Verantwortung 2000, S. 53. Vergleiche auch MALDONADO, Tomás: ¿Qué es un intelectual? Aventuras y desventuras de un rol, Barcelona, 1998. 3 MALDONADO, Tomás, op. cit., S. 12. 4 SCHEDLER, Andreas/Javier SANTISO: »Democracia y tiempo. Una invitación«, in: SCHEDLER/SANTISO (Hrsg.): Tiempo y democracia, Caracas, 1999, S. 14.

Intellektuelle und Politik in Venezuela | 99 verlieren, jenes Bewusstsein, privilegiert zu sein, das eine intellektuelle und kulturelle Bildung mit sich bringt, und das Gefühl der Verpflichtung, diese Verantwortung den Interessen der Gemeinschaft zur Verfügung zu stellen. Andererseits würden die neuen ›Stars‹ am Medienhimmel allmählich die Rolle der Intellektuellen als Meinungsbildner übernehmen: die Protagonisten der telenovela, die Fernsehmoderatoren, die Größen von Rock und Rap.«5 So paradox es scheinen mag, wäre der Intellektuelle unserer Tage dann immer weniger »Ideologe« und immer mehr »Berufspolitiker«, wie es bekanntermaßen schon Max Weber vorausgesagt hat.6 Und wie Norberto Bobbio kürzlich schrieb: »Die Aufgabe des Intellektuellen ist es, Ideen ins Gespräch zu bringen, Probleme aufzudecken, Programme oder ganz einfach allgemeine Theorien auszuarbeiten; die Aufgabe des Politikers ist es, Entscheidungen zu treffen […]. Die Aufgabe des Schöpfers (oder Manipulators) von Ideen ist es, zu überzeugen oder abzuraten, anzuregen oder zu bremsen, Urteile abzugeben, Rat zu erteilen, Vorschläge zu machen, die Personen, an die man sich wendet, dazu zu bringen, sich eine eigene Meinung zu bilden.«7 Wenngleich sich die Rolle des Intellektuellen von der des Politikers unterscheidet, so trifft es nicht weniger zu, dass die Intellektuellen in den Gesellschaften der Gegenwart einen Großteil der politischen Funktionen erfüllen, die unter demokratischen Verhältnissen dem Berufspolitiker zufallen. Folglich hat der Intellektuelle auch Anteil an den politischen Entscheidungen und beschränkt sich nicht mehr wie früher auf die Rolle des Experten, da ihm die spezielle Funktion zukommt, mögliche Alternativen zu diskutieren und Lösungen für Probleme zu finden. Ebenso wie der öffentliche Angestellte in der Demokratie gewisse Kenntisse und Erfahrungen benötigt, die es ihm erlauben, zu erkennen, was der Allgemeinheit nützt und die Mittel zur Verwirklichung seiner Projekte ausfindig zu machen, so ist die Beteiligung des Intellektuellen bei der Vorbereitung von Beschlüssen sowie im Moment der Entscheidung offenkundig: »Wenn der Politiker dem Experten die Vorarbeiten für seine Entscheidungen und folglich deren technische Rechtfertigung überträgt, so ist klar, dass dem Experten größte Bedeutung zukommt. Es besteht eine zumindest teilweise Übereinstimmung zwischen dem Handeln des Politikers und dem des Experten. Letztlich wird der Experte, und sei es wider seinen Willen, manchmal zum Politiker.«8 5 PARAMIO, Ludolfio: »Los intelectuales«, in: Nexos virtual, Mexiko, Mai 2000, S. 1. 6 Véase WEBER, Max: El político y el científico, Madrid, 1970. Siehe vor allem die hervorragende Einführung von ARON, Raymond (ibid.). Eine neue Arbeit zu dieser Diskussion in: NUN, José: Democracia ¿Gobierno del pueblo o gobierno de los políticos?, Buenos Aires, 2000, S. 34-35. 7 BOBBIO, Norberto: La duda y la elección. Intelectuales y poder en la sociedad contemporánea, Barcelona, 1998, S. 73. 8 MALDONADO, Tomás, op. cit., S. 75. Als technische Intelligenzija schließen sich die Intellektuellen der »Kultur des kritischen Diskurses« an, einer Kultur, die, wie Alvin Gouldner schon vor geraumer Zeit beobachtet hat, »es verbietet, sich auf die Person, die Autorität oder den sozialen Status des Betreffenden zu stützen, um seine Behauptungen zu

100 | Alfredo Ramos Jiménez In dieser Arbeit werde ich mich also dem politischen Intellektuellen widmen, der den größten Teil seiner Aktivität auf die Vorbereitung, Ausarbeitung und Vermittlung von politischen Entscheidungen verwendet und infolgedessen eine besondere Beziehung zur Welt der Politik hat. Diese Sonderbeziehung beschränkt sich in keiner Weise auf die Arbeit des forschenden Experten, sondern schließt auch die Verfügbarkeit des Mannes der Aktion ein, sobald der Intellektuelle die Verantwortung für die politischen Folgen seiner Arbeit übernimmt. Damit stellen wir das Thema in einen viel weiteren Zusammenhang als den der üblichen eng begrenzten »wissenschaftlichen« Vorstellungen. Wir stimmen mit Goldfarb überein, der ausdrücklich feststellt: »Ein Intellektueller zu sein ist etwas mehr als Techniker, Experte oder gar Wissenschaftler, Gelehrter oder Künstler zu sein. Intellektuelle sind jene Personen, die ihre Spezialisierung, die Verfügbarkeit ihres Spezialwissens und ihre Fähigkeit, mit Symbolen umzugehen, für umfassendere gemeinschaftliche Ziele nutzen.«9 Nach diesem Verständnis »sind die Intellektuellen besondere Typen von Fremden, die ihren Fähigkeiten zur Kritik außergewöhnliche Beachtung schenken, die von den Zentren der Macht unabhängig handeln und sich an ein allgemeines Publikum wenden, indem sie in den demokratischen Gesellschaften die Sonderrolle übernehmen, die Diskussion über dringende soziale Themen auf der Grundlage von Information zu fördern.«10 Diese Definition der Rolle des Intellektuellen, übertragen auf unsere gegenwärtigen Gesellschaften und besser abgestimmt auf die sozialen Probleme, die wir gegenwärtig zu bewältigen haben, wollen wir nun genauer betrachten. Deshalb müsste rechtfertigen.« Daraus ergibt sich die Tendenz, bestimmte Gruppen zu bilden, die häufig mit den herrschenden Gruppierungen im Wettstreit stehen. Vergleiche GOULDNER, Alvin: El futuro de los intelectuales y el ascenso de la nueva clase, Madrid, 1979, S. 49. 9 GOLDFARB, Jeffrey C., op. cit., S. 46. »In unseren Gesellschaften existieren die Intellektuellen als Gesellschaftsschicht, die sich eine eigenständige Rolle zuschreibt oder diese besitzt«, so Norberto Bobbio. »Und sie existieren, zumal sie sich, wenigstens in der Mehrheit der Fälle, nicht voll und ganz mit der politischen Klasse identifizieren, nicht einmal dann, wenn sie den größten Teil ihrer Aktivitäten dem Studium und der Analyse von Problemen widmen, die eng mit der Sphäre der Politik in Verbindung stehen, obwohl es Fälle geben mag, bei denen die Identifikation zwischen Intellektuellem und Politiker in ein und derselben Person vollkommen ist.« BOBBIO, op. cit., S. 73. 10 Ibid., S. 55. Die Hervorhebung stammt vom Autor. Die Definition des Intellektuellen stellt in den verschiedenen demokratischen Kontexten unserer Tage weiterhin ein Problem dar: »L’intellectuel sera donc – wie kürzlich Pascal Ory und Jean-François Sirinelli beobachtet haben – un homme du culturel, créateur et médiateur, mis en situation d’homme du politique, producteur ou consommateur d’idéologie. Ni une simple catégorie socioprofessionnelle, ni un simple personage, irreductible. Il s’agira d’un statut, comme dans la definition sociologique, mais trascendé par une volonté individuelle, comme dans la définition éthique, et tournée vers un usage collectif.« ORY, Pascal/Jean-François SIRINELLI: Les intellectuels en France. De l’affaire Dreyfus à nos jours, Paris, 1999, S. 10. Die Hervorhebungen stammen von den Autoren. Siehe DELPORTE, Christian: Intellectuels et politique. XXe. siècle, Paris, 1995, S.117-121.

Intellektuelle und Politik in Venezuela | 101 sich die Diskussion, die wir hier anregen, zum Ziel setzen, praktische Bedeutung jenseits der üblichen »politischen Formeln« der jüngsten Vergangenheit zu erlangen.11 Der kürzlich verstorbene Pierre Bourdieu bestätigt dies, wenn er schreibt: »Der Intellektuelle ist eine zweidimensionale Persönlichkeit: er existiert und überlebt als solcher nur, wenn es einerseits eine autonome intellektuelle Welt gibt (das heißt eine Welt, unabhängig von den religiösen, politischen und wirtschaftlichen Mächten), deren eigene Gesetze er respektiert, und wenn sich andererseits die besondere Autorität, die in dieser Umgebung zugunsten der Autonomie entsteht, dem politischen Kampf widmet.«12 Bourdieu betont insbesondere die Bedeutung der Autonomie, weil er der Meinung ist, dass sie in den gegenwärtigen Gesellschaften ernsthaft bedroht ist; deshalb, so meint er, sei »eine Mobilisierung der Intellektuellen und die Gründung einer wirklichen Internationale der Intellektuellen, die sich der Verteidigung der Autonomie ihres Schaffensbereiches widmet«, von besonderer Dringlichkeit. Und dies ist wesentlich gefährlicher geworden, seit »die Intellektuellen immer vollständiger aus der öffentlichen Debatte ausgeschlossen sind, zum einen, weil sie weniger geneigt sind, daran teilzunehmen und zum anderen, weil die Möglichkeit, sich wirksam daran zu beteiligen, ihnen immer seltener geboten ist.«13 Als Vermittler von Gedanken und als politische Intellektuelle sind sie immer mehr bei politischen (Parteien-)Kämpfen und sozialen Auseinandersetzungen (den wichtigsten Äußerungen einer bürgerlichen Gesellschaft) gefragt. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer immer stärkeren Präsenz des Intellektuellen in den öffentlichen Diskussionen, die heutzutage eindeutig von den Kommunikationsmedien oder den Medien der Kulturszene beherrscht werden. Bourdieu selbst weist auf das Entstehen einer neuen Technokratie der Kommunikation hin, einer »Gruppe von Experten in der Kunst der Kommunikation, die das Monopol auf den Zugang zu den Instrumenten der Kommunikation besitzen«14 und die als die authentischen Intellektuellen der Technokratie heute auch die öffentliche Debatte allein bestimmen. Die Sichtweise Bourdieus steht zweifellos im Widerspruch zu den bereits klassisch gewordenen Vorstellungen von der Rolle des Intellektuellen als Vertreter der Reflexion und der auf qualifizierter Information basierenden Diskussion, der geruh-

11 Ich beziehe mich vor allem auf die bereits traditionelle marxistische Sichtweise in den Untersuchungen über die Intellektuellen, die sich ausgiebig der Behandlung der revolutionären Avantgarde und der entsprechenden ideologischen Arbeit widmeten. Von Marx bis Gramsci, über Lenin und Kautsky, ist der Intellektuelle vor allem der revolutionäre »Ideologe«. Wir gehen hierbei von der Voraussetzung aus, wonach der Intellektuelle nicht mit dem Ideologen gleichzusetzen ist. Für uns ist der politische Intellektuelle in der demokratischen Gesellschaft mehr als ein Ideologe, sofern es sich nicht um den Philosophen oder Wissenschaftler handelt, der versucht, seine Philosophie oder seine persönliche Wissenschaft zu verkaufen. 12 BOURDIEU, Pierre: Intelectuales, política y poder, Buenos Aires, 2000, S. 187. 13 Ibid., S. 192. 14 Ibid., S. 194.

102 | Alfredo Ramos Jiménez sam seine nüchternen Forschungen betreibt.15 Wenn wir davon ausgehen, dass »es ungeheuer schwierig geworden ist, in der Öffentlichkeit als Verkörperung von Sinn und Inhalten aufzutreten, nicht nur, weil es immer schwierig ist, ein Intellektueller zu sein, vor allem in einer Demokratie – und diese Schwierigkeiten sind in der Konfrontation mit einem Gegenspieler noch deutlicher hervorgetreten –, sondern auch, weil unser Repertoire an ererbten politischen Ideen erschreckend veraltet ist,«16 dann müssen wir die Aufgaben des Intellektuellen als politisches Engagement mit bürgerlichen Zielen (Aufbau der bürgerlichen Gesellschaft) und subversiven Absichten (gegen die Beschränkungen des gesunden Menschenverstandes oder die herkömmliche Weisheit) neu überdenken. Das Verhältnis des Intellektuellen zur Öffentlichkeit ist in der Demokratie stets wichtig und problematisch zugleich, da es immer mit dem Problem des »Defizits des Denkens« in Verbindung gebracht wird, unter dem die demokratische Kultur heutzutage leidet.

Die venezolanische Erfahrung Wenn wir berücksichtigen, dass die politische Geschichte des lateinamerikanischen Intellektuellen noch im Werden begriffen ist, dann muss hier auf die wichtigsten Merkmale des Phänomens im nationalen Zusammenhang und vor dem Hintergrund des Jahrhundertwechsels eingegangen werden. »Es ist sehr schwierig, im Moment von venezolanischen Intellektuellen und von venezolanischer Intellektualität zu reden, da uns in diesem Land manche wichtige Prinzipien abhanden gekommen sind. Wir müssten zunächst definieren, was wir unter einem Führer, was wir unter einer Regierung verstehen, und was das, was wir früher als Volk bezeichnet haben und was heute Souverän genannt wird, noch bedeutet.«17 Im Grunde erleben die Intellektuellen in Venezuela die gleichen Schwierigkeiten wie die Intellektuellen in den anderen lateinamerikanischen Ländern, die gleiche Spaltung zwischen Rechten und Linken im Bereich intellektueller Schöpfungen, wie sie sich parallel dazu auch in der Politik vollzogen hat. Somit ist die im Entstehen begriffene Sphäre des Intellektuellen gekennzeichnet durch die Spannung zwischen der traditionellen Stellung des aufgeklärten Intellektuellen, der bestrebt ist, seinen privilegierten Status zu erhalten, und einer egalitären und solidarischeren Haltung, die zu eher populistischer Demagogik neigt. Daraus erwächst die Trennungslinie zwischen einem in sich geschlossenen elitären Intellektualismus – der sich nur mit sich selbst befasst – und einem unehrlichen und inkonsequenten populistischen Intellektualismus, der auf lange Sicht die Mittelmäßigkeit der politischen Klasse fördert. 15 Siehe LIPPMANN, Walter: Public Opinion, New York, 1965 und DEWEY, John: The Public and its Problems, Chicago, 1980. Vergleiche GOLDFARB, Jeffrey C., op. cit., S. 62-63. 16 GOLDFARB, Jeffrey C., op. cit., S. 98. Die Hervorhebung stammt von uns. 17 ZAPATA, Pedro León: »Los chavistas no comunican ideas, tan sólo protestan«, in: LEON, Vicglamar Torres: »Intelectuales ¿en el paredón o en la banca?«, in: Primicia, Nr. 235, 15. Juli 2002, S. 59.

Intellektuelle und Politik in Venezuela | 103 Es handelt sich hierbei um zwei Gruppen von Intellektuellen, die sich gegenseitig ablehnen und die im Laufe des 20. Jahrhunderts das Auf und Ab autokratischer politischer Regime, die sich manchmal selbst für demokratisch erklärten, mitgemacht haben. So lässt sich das gespannte und ambivalente Verhältnis der Intellektuellen zur Demokratie erklären. Dies scheint sich im heutigen Klima der politischen Demokratisierung geändert zu haben, da man beginnt, den Intellektuellen allmählich als demokratischen Akteur in der Demokratie zu verstehen. Im Fall Venezuelas am Ende des 20. Jahrhunderts, einem sicherlich sehr speziellen Beispiel einer Autokratie, die gekennzeichnet ist von einer, wie Teodoro Petkoff sagt, »Revolution der verpassten Möglichkeiten«, ist das Verhältnis der Intellektuellen zur Politik weiterhin paradox. Der Schriftsteller Ibsen Martínez war der erste, der darauf hingewiesen hat, dass die »bolivarianische Revolution« eine »Revolution ohne Intellektuelle« war. Ausgehend von den revolutionären Erfahrungen in Kuba stellt er fest, dass es in unserem Land keine Männer des Geistes gibt, die angetrieben würden »von der Begeisterung für die Idee des Volkes und dem Bestreben nach ›EntIdeologisierung‹, die sich mit der Wiedererlangung jener Etappen der nationalen Geschichte und Kultur beschäftigen würden, die von der kulturellen Mandarin-Herrschaft des Alten Regimes übergangen worden waren, oder die die Neuerrungenschaften der Avantgarde in der Ersten Welt oder die ›pädagogischen‹ Arbeiten, welche der Kanon der Linken schon immer den Intellektuellen zugeteilt hatte, aufmerksam verfolgen würden: alles in allem, die die Aufgabe, zu entmystifizieren, ›Spiegelbild und Anführer‹ der unteren Schichten zu sein, erfüllen würden.«18 18 MARTINEZ, Ibsen: »Una revolución sin intelectuales«, in: Primicia, Nr. 191, 28. August 2001, S. 24-26. Die Literatur, die die Person von Präsident Hugo Chávez im Ausland propagiert, ist nicht zu verachten. Sie umfasst Arbeiten von sehr interessierten Journalisten, die einer leichtfertigen und opportunistischen Lobrednerei verfallen, wie GOTT, Richard: In the Shadow of the Liberator. Hugo Chávez and the Transformation of Venezuela, London, 2000, und Artikel von Autoren, die keine Hemmungen haben, die »bolivarianische Revolution« als »den vierten Weg zur Macht« in Lateinamerika zu betrachten und Chávez als den »ersten großen revolutionären Denker, den das ›Große Vaterland‹ seit den 1960er Jahren hervorgebracht hat« (DIETERICH, Heinz: La cuarta vía hacia el poder. Venezuela, Colombia, Ecuador, Hondarribia-Spanien, 2001, S. 74). Zu erwähnen wären auch die absurden Phantasien von Ignacio Ramonet, Direktor von Le Monde Diplomatique, für den Präsident Chávez als »Apostel der Anti-Mundialisierung« anzusehen ist, »soutenu par les forces de gauche et par les deshérités« (»Chávez«, in: Le Monde Diplomatique, Oktober 1999). Und nicht fehlen darf die chilenische Schriftstellerin Martha Harnecker, nicht authorisierte Übersetzerin von Louis Althusser, die es mit dem Zeitraum von mehr als einer Revolution Verspätung fertig bringt, zu behaupten: »Ich habe Allende zur Zeit der Unidad Popular in Chile interviewt. Fidel Castro wollte ich interviewen, und es ist mir nicht gelungen. Ich habe mehrere Politiker kennen gelernt, die keine Präsidenten sind und ich bin zu der eindeutigen Überzeugung gelangt, dass Chávez der menschlichste, einfachste, freundschaftlichste, nachdenklichste, sensibelste und selbstkritischste unter allen ist, die ich kennen gelernt habe. Er hat mich erstaunt. Chávez sieht die Vorgänge, und selbst wenn er allein sein sollte oder mit einer nur sehr kleinen Gruppe von Perso-

104 | Alfredo Ramos Jiménez Die wenigen Mitglieder der Führungsmannschaft der Regierungspartei (Movimiento V. República, (MVR), Bewegung V. Republik) haben sich tatsächlich nie als die Intellektuellen des »revolutionären Prozesses« verstanden und sind es auch nicht. Manuel Caballero hat dies erst kürzlich betont: »Es ist sehr gefährlich, Vergleiche mit anderen Epochen anzustellen, aber schwerlich gab es seit Beginn des 19. Jahrhunderts bis in unsere Tage, mit Ausnahme von Pérez Jiménez, eine Regierung, die in intellektueller Hinsicht so minderbemittelt gewesen wäre, wie die gegenwärtige. Viele mutige Männer befinden sich hier in Opposition zur Regierung, andere schweigen und einige wenige sind gleichgültig.«19 Die wenigen Intellektuellen, die der Regierung nahe stehen, beschränken sich offenbar zumeist darauf, die Befehle des Präsidenten-Kommandanten weiter zu leiten und zu befolgen: »Die bolivarianischen Intellektuellen« – so hat Martínez beobachtet – »haben zu Gunsten von Chávez von ihrer Rolle als öffentliche Träumer und Denker Abschied genommen.«20 Deshalb gibt es unter den denkenden Intellektuellen nur äußerst wenige Verteidiger der Revolution von Chávez. Die Tatsache, dass in Presse, Radio und Fernsehen eine überwältigende Anzahl von Schriftstellern und oppositionellen Meinungsbildnern anzutreffen ist, ist der Grund für die Anschuldigung der chavistas, es gebe in den Medien eine Verschwörung gegen die Regierung. Wie in allen lateinamerikanischen Ländern, wo populistische und neopopulistische Regime herrschen, wird die Person des Intellektuellen in den Hintergrund gedrängt von einer Reihe berufsmäßiger Meinungsträger, die sich regelmäßig in den Medien zu Wort melden, wenn nicht gar vom Staatsbeamten selbst, der ständig Erklärungen abgibt und der seine Rolle immer aus einer Verteidigungshaltung heraus übernimmt und dabei, wie er sagt, aus Pflichtgefühl dem »Gemeinwohl« gegenüber handelt. Die Veröffentlichung eines Manifestes zur Verteidigung des Regimes von Hugo nen, er weiß, wie er zu handeln hat und macht sich an die Arbeit. Er hat so etwas wie Intuition, glaube ich.« In: La Razón, Caracas, 21. Juli 2002, S. B7. Man sagt, es sei der mexikanische Schriftsteller Jorge Castañeda gewesen, der sich bei seiner ersten Reise nach Caracas als Außenminister der Regierung Vicente Fox sehr gewundert habe, dass unter seinen Gastgebern nicht ein einziger Intellektueller war, kein »Mann des Denkens«, mit dem er seine ersten Eindrücke von der Erfahrung mit Chávez, der seit 1999 an der Macht war, und dem »Chavismus« hätte austauschen können. Die intellektuelle Armseligkeit der neuen Regierung war in gewisser Weise eine Erbschaft aus der vorangegangenen Epoche, was aber nichts an der Tatsache ändert, dass man für einen Prozess tiefgreifender Veränderungen Ideen benötigte, die die von der neuen politischen Klasse ausgehenden Impulse der Erneuerung hätten kanalisieren können. Mit der Zeit sollte sich »die geringe Begeisterung der ›Revolutionäre‹ für das geschriebene Wort bestätigen.« Vergleiche RODRIGUEZ, Fernando: »Introducción«, in: PETKOFF, Teodoro: Hugo Chávez, tal cual, Madrid, 2002, S. 16. 19 CABALLERO, Manuel: »Chávez y su entorno tienen la mentalidad del gorila latinoamericano«, in: Primicia, Nr. 235, 15. Juli 2002, S. 58. Vergleiche HERNANDEZ, Tulio: »El desequilibrio«, in: El Nacional, 26. Mai 2002, S. H3. 20 MARTINEZ, Ibsen, art. cit., S. 26.

Intellektuelle und Politik in Venezuela | 105 Chávez, das von einigen »Gelehrten und Künstlern« in Regierungspositionen unterschrieben worden war, verursachte nicht nur eine in den Medien aufmerksam verfolgte Polemik (einige der Unterzeichner hatten ihre Erwähnung in dem Manifest nicht genehmigt), sondern hatte zudem den Verdienst, das Gewissen einiger derer aufzurütteln, die sich dem großspurig »revolutionärer Prozess« getauften Unternehmen21 verschrieben oder auch nichts damit zu tun hatten. Kurzum, die guten Absichten der Intellektuellen und die großen Ziele, wie sie in der neuen Verfassung von 1999 festgeschrieben sind, liegen vor uns als Beweis dafür, dass sich letztlich nichts geändert hat und alles beim Alten geblieben ist. Die Politik von Chávez und der »Chavismus« haben sich nie mit der Notwendigkeit auseinandergesetzt, ein eigenes Denken zu entwickeln, welches das Bemühen um wirkliche Veränderungen in der Gesellschaft wie der Politik zusammengefasst hätte. Als sich – seit dem dritten Regierungsjahr von Chávez – in der Gesellschaft allgemeine Enttäuschung breitmachte, wurden die Stimmen der Unzufriedenen deshalb von der traditionellen politischen Elite vereinnahmt, jener Elite, mit der der »Chavismus« versprochen hatte, Schluss zu machen. Die Möglichkeit, den politischen Intellektuellen in die Kämpfe der »künftigen Politik« Venezuelas einzubeziehen, wie sie gegenwärtig in den Strategien und Szenarien für die Zeit nach Chávez entwickelt werden, scheint somit heute weit realistischer als in der jüngsten Vergangenheit. Die Vorschläge für Abkommen und Vereinbarungen von Seiten der demokratischen Opposition, die in den Medien privilegierte Präsenz genießt, mit Blick auf die Wiedererlangung der zur Zeit offensichtlich verloren gegangenen Regierbarkeit, haben in den vergangenen Monaten an Zustimmung gewonnen. Dazu hat sicherlich das Klima der allgemeinen Frustration und Enttäuschung über unerfüllt gebliebene Versprechungen beigetragen, was bereits zu heftigen sozialen Spannungen geführt hat. Welches waren nun die bestimmenden Merkmale des Rückzugs der Intellektuellen angesichts der Politik von Chávez? Hier werde ich zwei verschiedene Aspekte herausarbeiten, die sich aus der Stellung der Intellektuellen nach den Erfahrungen mit der Regierung Chávez ergeben. Der erste bezieht sich auf das Phänomen der Ent-Ideologisierung der Politik. Der zweite, der von dem ersten nicht zu trennen ist, beschreibt eine Art institutioneller Blockade der entstehenden Demokratie, die das Aufkommen und die Entwicklung eines demokratischen Intellektuellen unmöglich oder sehr schwer macht. Wenn also der Rückzug der Intellektuellen in unserem Land in Verbindung stand mit dem Verschwinden der Ideologien und der Krise der ideologisch ausgerichteten Parteien, so hatte er aber auch zu tun mit der viel allge21 »Las instituciones culturales ante el país«, in: El Nacional, Caracas, 10. August 2001. Mit Bezug auf die Pläne von Chávez und dem regierenden »Chavismus« bemerkt Fernando Rodríguez: »Chávez ist ein ideologisches Monster. In seiner Regierung gibt es alles und auf widersprüchlichste Art und Weise: Militarismus, ideologischen Archaismus und einen Hauch linksorientierter Mythologie, aber als pure Rhetorik, als leere Hülse. Es ist ein Anachronismus, der von sozialem Feingefühl redet, während er wilden Kapitalismus praktiziert.« »Hugo Chávez es una monstruosidad ideológica«, in: El Nacional, 21. Juli 2002, S. C1.

106 | Alfredo Ramos Jiménez meineren Krise der wichtigsten Institutionen. Daher erscheint es uns wichtig, die bedeutendsten Merkmale der Beziehung zwischen den Intellektuellen und dem Staat sowie den politischen Parteien zu untersuchen. Zur Ent-Ideologisierung der Politik kommt es in dem Moment, wenn die prominenten politischen Akteure bei ihren Versuchen zur Lösung von Konflikten dem Publikum keine Prinzipien oder überzeugenden Ideen bieten können: die größten Differenzen ergeben sich aus den Interessen, nicht aus den ideologischen Konzeptionen. Mit anderen Worten, der politische Wettstreit stellt sich nicht dar als Kampf zwischen Ideen oder gegensätzlichen Projekten, sondern eher als Auseinandersetzung zwischen den widerstreitenden Interessen gegensätzlicher Gruppen, die ein weites Spektrum sozialer Sektoren umfassen. Somit sind die Diskussionen und Debatten über Ideen fehl am Platz oder greifen nicht weit genug, da bestimmte Interessen – die die Ideologien verdrängt haben – den gesamten Raum des politischen Wettstreits einnehmen und die verschiedenen politischen Optionen ins Abseits oder in die Metapolitik verweisen. Die ideologischen Erzeugnisse, die daraus gelegentlich entstehen, werden esoterisch und haben keinen Kontakt mehr zu den politischen Realitäten. Der ideologisch geprägte Intellektuelle wird folglich aus der Politik ausgeschlossen, und dies umso mehr, da er wenig Interesse zeigt, an dem Beziehungsgeflecht der politischen Kräfte mitzuwirken. Diese Haltung bricht natürlich mit einer Tradition, in der die Intellektuellen sich den Mächtigen anschlossen oder im Exil lebten. Im Hinblick auf die Diktatur unter Juan Vicente Gómez schreibt Simón A. Consalvi: »Der Anden-Caudillo handelte äußerst schlau, als er vor einer großen Gruppe bedeutender Persönlichkeiten auf die Knie fiel, darunter Gil Fortoul, Manuel Díaz Rodríguez, Laureano Vallenilla Lanz, um nur einige zu nennen. Einer seiner Berater hatte ihm nahegelegt, sich mit diesen ›Leuten‹ zu umgeben, ihnen aber nicht zu vertrauen, sondern sie nur zu benutzen, damit sie seiner Regierung Glanz verliehen.«22 Wenn man in der Geschichte der Intellektuellen Venezuelas zwei wichtige politische Subkulturen nennen kann – eine konservative und elitäre einerseits und eine andere, linksgerichtete, die Kritik übt an den Parteien und an der sich abzeichnenden Demokratie andererseits23 –, so ist von diesen in jüngster Zeit nichts mehr zu

22 CONSALVI, Simón Alberto (wörtliche Übersetzung): »Bolívar haben sie zum Stockfisch für den ›Lebertran der Marke Scott‹ gemacht« [A.d.Ü.: Anspielung auf den früher als Allheilmittel zur Kräftigung für Kinder bekannten Lebertran der Marke »Scott«, der selbst in einem Tango von Enrique Santos Discépolo erwähnt wird]. Zitat von LEON, Vicglamar Torres: »Intelectuales ¿en el paredón o en la banca?«, in: Primicia, Nr. 235, 15. Juli 2002, S. 57. In einem Abschnitt über das venezolanische Denken in seinem klassisch gewordenen Buch Comprensión de Venezuela hatte Mariano Picón SALAS geschrieben: »Unter der Herrschaft der ›Zäsaren‹ bezeichneten sich die venezolanischen Intellektuellen gerne als ›Goldschmiede‹, Sammler von Adjektiven, Optimisten und professionelle Lobredner, die am Denken ebenso arbeiteten wie die Sattler und die Schreiber von Tschingis Chan«, Caracas, 1949, S. 94. 23 Im ersten Fall denke man an Arturo Uslar Pietri, Juan Lizcano und Adriano González

Intellektuelle und Politik in Venezuela | 107 spüren. Heute dagegen finden wir zwei vorherrschende Richtungen im politisch-kulturellen Szenarium: einerseits eine pragmatische, anti-intellektualistische und anti-politische Tendenz mit agnostischen Zügen (die Kritik übt an den Politikern und den Parteien), die eine opportunistische Haltung vertritt, und eine zweite Tendenz der akademischen und avantgardistischen Linken, die sich von der »Politik, wie sie praktiziert wird«, distanziert hat und sich auf abstrakt-gedanklicher Ebene die Rettung der Politik, die sie für sich beansprucht, zum Ziel gesetzt hat. Die Distanz zwischen der intellektuellen Arbeit und den Tätigkeiten der »Berufspolitiker« ist also offenkundig. Innerhalb der Strukturen der Intellektuellen hat sich die erste Tendenz schließlich durchgesetzt. Am Ende des Jahrhunderts scheinen in Venezuela die Ablehnung und Verurteilung von 40 Jahren »korrupter Demokratie«, dem Kampfesruf der chavistas während des entscheidenen Wahlkampfes, der bereits 1998 begann, keinerlei intellektuelle Ausarbeitung oder Formulierung mehr benötigt zu haben – und zwar von dem Moment an, als der intellektuelle Diskurs der Jahre zuvor ausgeschaltet war oder endgültig auf das Feld der neuen Konfrontation des »Volkes« mit den Eliten begrenzt blieb. Auf diese Weise sollte die intellektuelle Diskussion, die ohnehin nur noch im akademischen Bereich stattfand, jegliche Möglichkeit des Einflusses auf die neue Beziehung zwischen den Kräften verlieren, die mit dem Aufkommen des »Chavismus« als tatsächliche politische Alternative entstand. Wie wir bereits in anderem Zusammenhang sagten, scheinen die Zeiten des Populismus – welches nicht die Zeiten der Demokratie sind – mit einem möglichen Protagonsimus der Intellektuellen und ihrer Beteiligung am öffentlichen Leben nicht vereinbar zu sein. Mit anderen Worten, kein populistisches oder neopopulistisches Programm der jüngeren Geschichte Lateinamerikas ist mit der Botschaft und den Symbolen, wie sie der charismatische und »nötige Führer« vertritt, in Einklang zu bringen.24 Die Zeiten des Populismus sind alles in allem Zeiten der Antipolitik, des Niedergangs der politischen Identitäten, der Ent-Ideologisierung der Politik. Und außerdem sind es Zeiten, die nicht günstig sind für die Herausbildung irgendeiner »geistigen Kraft.« Denn wenn die Demokratie sowohl eine hervorragende Kultur wie ausgezeichnete Intellektuelle wie auch gebildete und kritische Bürger braucht, so ist die Voraussetzung dafür echte Meinungsfreiheit; und wenn diese Freiheit, sich in der Öffentlichkeit zu äußern, über das Recht hinausgeht, zu sagen, was man denkt, so wird die Stellung der Intellektuellen in ihren schöpferischen Fähigkeiten und kommunikativen Möglichkeiten beschnitten: »Freiheit hat ihren Sinn, wenn die ÄuLeón als die repräsentativsten Vertreter; im zweiten Fall an die bereits Verstorbenen José Ignacio Cabrujas und Juan Nuño. 24 Man denke an die Erfahrungen mit Carlos Menem in Argentinien und Fujimori in Peru während der 1990er Jahre. Vergleiche RAMOS JIMENEZ, Alfredo: »Democratización y populismo: la hipótesis neopopulista«, in: RAMOS JIMENEZ, Alfredo: Las formas modernas de la política. Estudio sobre la democratización de América Latina, Merida, 1997, S. 89-99. Siehe auch meinen Artikel: »Los Límites del liderazgo plebiscitario. El fenómeno Chávez en perspectiva comparada«, in: RAMOS JIMENEZ, Alfredo (Hrsg.): La transición venezolana. Aproximación al fenómeno Chávez, Merida, 2002, S. 15-46.

108 | Alfredo Ramos Jiménez ßerungen der Gedanken Widerhall finden im Bereich der Ideen; das heißt, hier gibt es bei uns Beschränkungen.«25 Der Populismus und seine Tendenz, alles mit seiner Anrufung des Volkes als Quelle der nationalen Integration zu überwuchern, bedeutet in dieser Hinsicht einen klaren Rückschritt; und in dem Maße, wie mit der Personalisierung der politischen Führerschaft die Voraussetzungen für ein wirklich freies Denken in der Öffentlichkeit allmählich verschwanden, wurde die Beziehung zwischen den Intellektuellen und der Politik immer feindseliger, und dies umso mehr, da den Intellektuellen Elitismus vorgeworfen wird, während populistische Mittelmäßigkeit angefangen hat, sich breit zu machen. In ihrem Verhältnis zur politischen Macht haben die venezolanischen Intellektuellen in den vergangenen Jahren Beziehungen vor allem in zwei Richtungen entwickelt: Beziehungen zum Staat und Beziehungen zu den politischen Parteien. Wir wollen sie näher betrachten.

Beziehungen zum Staat Das gespannte Verhältnis zum bürokratischen Staatsapparat beruht auf der Professionalisierung der Arbeit der Intellektuellen, die sich gewissermaßen die Ablösung der politisch Verantwortlichen zum Ziel gesetzt haben, wenn es darum geht, Entscheidungen zu treffen. Daraus ergibt sich die eindeutige Tendenz zur Bildung eines Kreises von technokratischen Intellektuellen, die eifersüchtig auf ihre Vorrechte und ihre Autonomie bedacht sind. Der Intellektuelle präsentiert sich dann als der Experte oder Spezialist, der langfristige Arbeiten zum Zwecke einer Reform des Staates übernimmt, insbesondere aus der heute sehr verbreiteten Sicht des Neoliberalismus. Ihren Höhepunkt erlebt die Technokratie in Venezuela während der zweiten Präsidentschaftsperiode von Carlos Andrés Pérez Ende der 1980er Jahre, als die großen Parteien allmählich zerfallen und die Regierung bemüht ist, sich von der vorangegangenen Epoche abzugrenzen, die von einer Art »Duo-Pol« zweier Parteien gekennzeichnet war. Die parteienfeindliche Legitimation der Technokratie, die den Intellektuellen mit der Klage gegen die Welt der Politik – als Herrschaftsbereich »von Korruption und Egoismus« – kompromittiert, bestätigt die Rolle des Intellektuellen als »Prinzenberater«, der sich einer echten Politik des Wandels verschrieben hat, was mit der Klage gegen den »allmächtigen Staat« beginnt. Bis zu einem gewissen Grad konnte man damals die Entstehung einer Art »technokratischen Projektes« als Basis einer neuen Hegemonie beobachten.26 Erst der Sturz von Pérez, bereits in den 1990er Jahren, sollte dem Aufstieg des techokratischen Intellektuellen bei seinem Versuch, die Kontrolle des Staates zu übernehmen, 25 CONSALVI, Simón Alberto, loc. cit., S. 57. 26 Eine Diskussion über das Projekt der intellektuellen Technokratie der Zeit findet sich in meinem Artikel: »Crisis de hegemonía y proyecto tecnocrático en Venezuela«, in: RAMOS JIMENEZ, Alfredo (Hrsg.): Venezuela: un sistema político en crisis, Merida, 1987, S. 111142.

Intellektuelle und Politik in Venezuela | 109 ein Ende bereiten. Das heißt, die Konformität der Technokraten und die unkritische Haltung in ihren wichtigsten Forderungen markierten die Verschärfung der Krise in einer Zwei-Parteien-Demokratie, die ihrem Ende entgegen ging. Selbst wenn die Hoffnungen auf eine notwendige Reform des Staates von der politischen Klasse, die man mit den beiden großen Parteien identifizierte, in keiner Weise erfüllt wurden, so gewährte die von Caldera angebotene Lösung, die einer anti-politischen Strömung Ausdruck verlieh und diese kanalisierte, doch breiten Raum für die Suche nach Alternativen. Mit der Übernahme der Macht durch Chávez und den »Chavismus« überlässt der technokratische Intellektuelle die Entscheidungen allmählich einer neu entstehenden politischen Klasse, die jede eigenständige intellektuelle Arbeit, die sich nicht mit dem sogenannten »revolutionären Projekt« identifiziert, mit Misstrauen beobachtet.27 Anders ausgedrückt, mit der Mobilisierung der Volksmassen, bei der das persönliche Diktat des charismatischen Führers absoluten Vorrang hat und allein ausschlaggebend ist, verfolgt man das Ziel, eine Politik des »Neubeginns« zu propagieren, deren Anhänger sich keinerlei Kritik und keine idealistischen Anwandlungen leisten dürfen, die sich dem »Prozess des Wandels« entgegenstellen würden. Nachdem die letzten Überreste der reformistischen Politik der Jahre zuvor ausgemerzt sind, liegt heute die Priorität bei der »direkten Beteiligung des Volkes«, das schnell mit der Welt der gesellschaftlich Ausgeschlossenen und der Politik des vorangegangenen Systems identifiziert wurde.28 Seltsamerweise hat sich die chavistische Bewegung, die von Anfang an eine wirkungsvolle Unterstützung durch Intellektuelle brauchte, sehr bald von jenen Konzeptionen abgewandt, die einem freien und progressistischen Denken entsprangen, das nicht mit der Politik der Zwei-Parteien-Demokratie übereinstimmte. Außerdem hatte man den Versuch einer Debatte zum Ziel der Erneuerung sofort aus den revolutionären Plänen verbannt: Das Wort war von nun an Monopol des Anführers der Bewegung. Dies erklärt weitgehend, weshalb sich politische Akteure der alten politi27 In einem Interview sagte Eduardo Vásquez, Professor der Philosophie und Kritiker der chavistischen Entgleisungen stalinistischer Prägung kürzlich: »Es gibt eine Theorie, wonach die Revolution über den Gesetzen steht, und die hat sich im Kopf von Chávez festgesetzt. Etwas Vages, Unbestimmtes, von dem man nicht weiß, was es ist, steht über den Gesetzen. Es taucht immer irgend etwas auf, das höher und heiliger ist, als die Prinzipien der Verfassung. Für Chávez ist das Heiligste auf Erden der ›Prozess‹, von dem man nicht weiß, wohin er führen soll. […] Diese Regierung ist stalinistisch.« In: El Nacional, Caracas, 23. Juli 2002, S. C-1. 28 Die Präsidentschaftskommission zur Reform des Staates (COPRE), die während der drei vorangegangenen Regierungen weiterhin bestanden und die tatsächlich die politisch-administrative Dezentralisierung vorangetrieben hatte, überließ ihre Stellung dem »mobilisierten Volk«, das seinem »natürlichen Führer« folgt. Die von der COPRE von Anfang an geförderte staatliche Politik hatte eine nicht zu bestreitende antipopulistische demokratische Ausrichtung, die eine Verringerung und eine Reform der politischen Parteien ankündigte. Siehe COMBELLAS, Ricardo: Venezuela en la encrucijada. Retos de la era populista, Caracas, 1995. Ebenso: COPRE, Venezuela, democracia y futuro. Los partidos políticos en la década de los 90. Reflexiones para un cambio necesario, Caracas, 1991.

110 | Alfredo Ramos Jiménez schen Garde, die je nach Gelegenheit wieder eingesetzt wurden und gerne bereit waren, Führungspositionen zu übernehmen, so schnell gegenüber einem improvisierten Personal, das vor allem aus einer großen Anzahl politischer Neulinge bestand, durchsetzen konnten. Das allgemein verbreitete zwanghafte Misstrauen gegenüber jedwedem Anzeichen von »intellektuellem Elitismus« war der gleichmacherische Hintergrund, vor dem eine Vielfalt des Urteils von vornherein ausgeschaltet war. »Wir Venezolaner waren zunächst besorgt angesichts der Folgen, die dieser Prozess haben würde, nun haben wir Angst«, bemerkt Rigoberto Lanz, »denn während der dreijährigen Regierungszeit von Chávez hat keinerlei grundlegende Veränderung stattgefunden. Die halbe Tragödie des ›Chavismus‹ besteht darin, dass er den Staat nicht reformieren kann, da er ganz einfach nicht reformierbar ist. Die Umwandlung des Staates ist eine gigantische Aufgabe, die der Regierung bisher noch nicht gelungen ist. […] Die öffentliche Verwaltung ist blockiert und isoliert innerhalb eines Staates, der noch genau so beschaffen ist wie vor drei Jahren.«29 Nachdem sich Alvin W. Gouldner mit der Unterscheidung zwischen der technischen Intelligenzija und den Intellektuellen beschäftigt hat, betonte er, dass es vor allem die Intellektuellen waren, die sich einer bestimmten Form der Sprache und des Diskurses bedienten, »womit sie in erster Linie kritische, emanzipatorische, hermeneutische und deshalb häufig politische Interessen«30 verfolgen. Man kann daher sagen, dass der venezolanische Intellektuelle während der letzten Jahre des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf Grund seiner natürlichen Orientierung und seiner ständigen Suche nach kultureller Autonomie aus der neuen politischen Klasse und somit von der Leitung und Kontrolle des neuen Staates ausgeschlossen blieb. Wenn unter dem Blickwinkel der Demokratisierung des Staates die Präsenz der Intellektuellen als unverzichtbare Akteure bei der Schaffung der Demokratie nicht zu bestreiten ist, so stoßen sie doch bei der Anerkennung durch die herrschende politische Klasse auf große Schwierigkeiten. »Die kritischen Denker, unsere Intellektuellen« – so sagt Goldfarb – »sind in den Demokratien nötig, so wie Sokrates im alten Athen; aber oft ist es schwierig, sie zu akzeptieren, wie ihr Schicksal bestätigt.«31 Und in seinem klassisch gewordenen Text weist Seymour Martin Lipset auf das Problem hin, den Intellektuellen in der modernen Gesellschaft einzuordnen: »Wenn die Intellektuellen der Gesellschaft per definitionem fernstehen, so entfällt damit ganz einfach das Problem, das sonst auftacht, wenn sie andere Rollen in Organisationen übernehmen oder direkt in das Gebiet der politischen Kämpfe eindringen.«32 Die Beziehung des Intellektuellen zum demokratischen Staat wäre folglich eine konfliktreiche, eine Beziehung der Zusammenarbeit und der Ausgrenzung. Seine 29 LANZ,Rigoberto: »El Estado está igual que hace tres años«, in: Primicia, Nr. 216, 4. März 2002, S. 21. 30 Vergleiche GOULDNER, Alvin W.: El futuro de los intelectuales y el ascenso de la nueva clase, Madrid, 1980, S. 71. 31 GOLDFARB, Jeffrey C., op. cit., S. 39. 32 LIPSET, Seymour Martín: El hombre político. Las bases sociales de la política, Buenos Aires, 1987, S. 273.

Intellektuelle und Politik in Venezuela | 111 Mitarbeit ist gern gesehen, sofern sie nicht gegen die Strategien der Klasse an der Macht gerichtet ist. Wenn der Intellektuelle sich der Disziplin der politischen Macht unterwirft, verleugnet er sich als Intellektueller, hört ganz einfach auf, ein Intellektueller zu sein; wenn er dagegen Widerspruch wagt, schließt er sich letztlich selbst aus. Dies erklärt zum Teil den Exodus der Intellektuellen aus der Anhängerschaft von Chávez und ihre Distanzierung von dem populistischen Programm des neuen Regimes.

Beziehungen zu den politischen Parteien Der Konkurrenzkampf zwischen den Intellektuellen und den Berufspolitikern um die Kontrolle der Entscheidungsgewalt war ebenfalls Gegenstand mancher Konflikte. In der Praxis der Opposition ist das Eingreifen des kritischen Intellektuellen etwas Natürliches, sein Eingreifen in Regierungsaufgaben ist es jedoch nicht, vor allem dann nicht, wenn die Regierungen nicht jene Fähigkeit zur Selbstkritik besitzen, die gegebenenfalls in die politischen Entscheidungen einfließen können. Wenngleich nicht zu bestreiten ist, dass die Intellektuellen sich bei ihren Aktivitäten und ihrem Engagement für die Parteien normalerweise einen weiten Raum an Autonomie bewahren, so führen diese Beschäftigungen doch zu einer gewissen Distanzierung der Intellektuellen und einer Geringschätzung der politischen Arbeit. In Untersuchungen zur Soziologie der Parteien, von Robert Michels bis Maurice Duverger über Moisei Ostrogorski, wurde einerseits auf die Natur der Arbeit des Intellektuellen und ihre Unterschiede zur Praxis der Parteien beim Funktionieren der Demokratie verwiesen, andererseits vertraten die Autoren die Hypothese, wonach die Intellektuellen in keine der verschiedenen Stufen der Parteienstruktur passten.33 Und wie schon in vergangenen Zeiten beruht das Problem auf der zunehmenden Professionalisierung der Parteipolitik. Auf die Frage, ob die Demokratie vereinbar ist mit einer auf den Beruf reduzierten Politik, haben sich in unseren Tagen gegensätzliche Antworten gefunden. Denn, »von wenigen Ausnahmen abgesehen, ist der Berufspolitiker, der noch immer für die Politik leben und handeln und folglich die Meinungsfreiheit in die Praxis umsetzen will, dazu verdammt, eine Randexistenz zu führen.«34 In der Parteipolitik neigt die nicht-ideologische intellektuelle Tätigkeit immer mehr dazu, sich mit den Aufgaben der Führung und der Kontrolle von Aktivitäten zu vermischen; in dem Maße, in dem der Intellektuelle keine Fähigkeiten besitzt, Konsens herzustellen und keine Möglichkeit hat, Mittel zu verteilen, distanziert er sich 33 Siehe MICHELS, Robert: Los partidos políticos. Un estudio sociológico de las tendencias oligárquicas de la democracia moderna, Buenos Aires, 1979; DUVERGER, Maurice: Los partidos políticos, Mexiko, 1957; OSTROGORSKI, Moisei: La démocratie et les partis politiques, Paris, 1967. 34 D’ARCAIS, Paolo Flores: »El desencantamiento traicionado«, in: D’ARCAIS, P. Flores: Modernidad y política. Izquierda, individuo y democracia, Caracas, 1995, S. 55. Die Hervorhebung stammt vom Autor.

112 | Alfredo Ramos Jiménez selbst von der politischen Arbeit, wobei er jegliche politische Aktivität unterbewertet. Daher versucht der Intellektuelle immer, mit dem »politischen Gemeinsinn« zu brechen, der zu sehr auf kurzfristige Ergebnisse aus ist. Auf diese Weise legitimiert er nebenbei seine eigenen Ambitionen, die er als eine Art höheren Auftrag empfindet. Auch der Pragmatismus und das kurzfristige Denken in der Parteiarbeit hängen mit dem Phänomen der Ent-Ideologisierung der Politik zusammmen. So scheint die Distanzierung der Intellektuellen von den Aktivitäten der Parteien zu Krisenzeiten, wenn die Parteien ihrem endgültigen Zerfall entgegengehen, wie wir es in Venezuela während der 1990er Jahre erlebt haben, eher mit ihrer Altersgruppe zu tun zu haben als mit kulturellen Motivationen. Und als die Medien die Parteien in ihren pädagogischen Funktionen und bei der Organisation von Interessen abzulösen begannen – eine Zeit, die zusammenfällt mit dem Aufstieg des »notwendigen Führers« –, wurde das Auftreten einiger weniger Intellektueller in den Medien immer mehr mit dem allgemeinen Wunsch identifiziert, den Restbeständen der Status-Parteien ein Ende zu bereiten. Es gehörte damals für die Intellektuellen zum guten Ton, mit einzustimmen in eine vernichtende Kritik an den Heerscharen der Parteianhänger und die Grundlinien dieser Kritik zu übernehmen, wobei sie vergaßen, dass die politischen Abenteurer des Populismus sich diese Gelegenheit zunutze machen würden. Denn die Verachtung der Populisten gegenüber den Intellektuellen, die sich nicht mit ihrem »Prozess« identifizierten, ging Hand in Hand mit dem Aufstieg der entstehenden politischen Klasse, die Wissen und kulturellem Elitismus mit Misstrauen und Angst begegnete. Daraus erklären sich der Niedergang und die »Unpopularität« jeglicher Kritik an der gegenwärtigen Situation: die »echten« Intellektuellen des »Chavismus« hätten ein schweres Leben gehabt, so lange sie den Ideen des charismatischen Volksführers treu geblieben wären. Denn der Verlust der persönlichen Unabhängigkeit gegenüber der Politik des herrschenden »Chavismus« zugunsten einer gesellschaftlichen Wirkung – die nur an den Ergebnissen gemessen wird –, führte unweigerlich zu einem paradoxen Zustand: die noch nie da gewesene Möglichkeit, entscheidenden Einfluss auf das politische Leben auszuüben, setzte die bedingungslose Treue zu den Maximen des »notwendigen Führers« voraus. Der Verzicht auf das, was man als die utopische Funktion der Intellektuellen betrachtet hatte, geschah parallel zum Niedergang des kritischen Denkens. Der demokratisch gesinnte Intellektuelle weiß, dass die Logik der Partei nicht zu vereinbaren ist mit der Unabhängigkeit des Geistes. Während die Politiker bemüht sind, sich diese Unabhängigkeit über Pfründe der Macht zu erkaufen – über hohe Positionen in der Bürokratie, Prämien und Subventionen –, unterwirft sich die »Partei« der Intellektuellen nicht dem Monopol der Autorität. Daraus entsteht die Spannung, die in manchen Fällen zur Dissidenz wird. Denn der demokratische Intellektuelle ist prinzipiell ein Dissident, und wenngleich er sich bisher in Randpositionen bewegt hat, Positionen, die ihm gelegentlich eine klarsichtige Analyse unserer Realitäten erlaubt haben, ist nicht weniger offenkundig, dass seine Fähigkeiten zum Widerspruch und die theoretische Fundiertheit seines Wissens dazu geeignet sind, Strategien einer Gegenmacht zu begründen, einer Macht gegen die pseudodemokratischen Verzerrungen des Staates und der Parteien.

Intellektuelle und Politik in Venezuela | 113 Bibliographie ARROSA SOARES, Maria Susana (Hrsg.): Os intelectuais nos processos políticos da América Latina, Porto Alegre, 1985. BOBBIO, Norberto: La duda y la elección. Intelectuales y poder en la sociedad contemporánea, Barcelona, 1998.. BOURDIEU, Pierre: Intelectuales, política y poder, Buenos Aires, 2000, S. 187.. BRITO GARCIA, Luis: Conciencia de América Latina. Intelectuales, medios de comunicación y poder, Caracas, 2002. CABALLERO, Manuel: »Chávez y su entorno tienen la mentalidad del gorila latinoamericano«, in: Primicia, Nr. 235, 15. Juli 2002, S. 58 . CANCLINI, Néstor García: »Campo intelectual y crisis socio-económica«, in: ARROSA SOARES, Maria Susana (Hrsg.): Os intelectuais nos processos políticos da América Latina, Porto Alegre, 1985. COMBELLAS, Ricardo: Venezuela en la encrucijada. Retos de la era populista, Caracas, 1995.. CONSALVI, Simón Alberto: Zitat von LEON, Vicglamar Torres: »Intelectuales ¿en el paredón o en la banca?«, in: Primicia, Nr. 235, 15. Juli 2002, S. 57. COPRE: Venezuela, democracia y futuro. Los partidos políticos en la década de los 90. Reflexiones para un cambio necesario, Caracas, 1991. D’ARCAIS, P. Flores: Modernidad y política. Izquierda, individuo y democracia, Caracas, 1995.. DELPORTE, Christian: Intellectuels et politique. XXe. siècle, Paris, 1995. . DEWEY, John: The Public and its Problems, Chicago, 1980.. DIETERICH, Heinz: La cuarta vía hacia el poder. Venezuela, Colombia, Ecuador, Hondarribia-Spanien, 2001.. DUVERGER, Maurice: Los partidos políticos, Mexiko, 1957. GOLDFARB, Jeffrey C.: Los intelectuales en la sociedad democrática, Madrid, 2000 . GOTT, Richard: In the Shadow of the Liberator. Hugo Chávez and the Transformation of Venezuela, London, 2000. GOULDNER, Alvin: El futuro de los intelectuales y el ascenso de la nueva clase, Madrid, 1979. HARNECKER, Martha: »El pueblo maduró politicamente«, in: La Razón, Caracas, 21. Juli 2002, S. B7.. HERNANDEZ, Tulio: »El desequilibrio«, in: El Nacional, 26. Mai 2002, S. H3. . JOHNSON, Paul: Intelectuales, Buenos Aires, 2000. LANZ, Rigoberto: »El Estado está igual que hace tres años«, in: Primicia, Nr. 216, 4. März 2002, S. 21.. LEON, Vicglamar Torres: »Intelectuales ¿en el paredón o en la banca?«, in: Primicia, Nr. 235, 15. Juli 2002, S. 59. . LIPPMANN, Walter: Public Opinion, New York, 1965. LIPSET, Seymour Martín: El hombre político. Las bases sociales de la política, Buenos Aires, 1987. MALDONADO, Tomás: ¿Qué es un intelectual? Aventuras y desventuras de un rol, Barcelona, 1998..

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Intellektuelle und Politik in Venezuela | 115 Anhang: Sieben Exile des lateinamerikanischen Intellektuellen Die Fähigkeit, zu schreiben, ein »Ausweis«, der uns zu Fremden in unseren eigenen Ländern macht und zu Bürgern der ganzen Welt, und der zu mehr als einer Art von Distanzierung beiträgt. Alphabetisiertes Exil, das den Schriftsteller zum unsichtbaren Menschen macht in einem Lateinamerika, wo zwei von drei Personen nicht lesen. Zoll-Exil, verursacht durch die Unzahl von Grenzen, die die Verbreitung seines Werkes verhindern und den freien Austausch innerhalb der Heimat der gemeinsamen Sprache unterbinden. Exil der Selbstverachtung, das ihn dazu bringt, sich unter dem Blickwinkel der Großstädte zu betrachten und nach den Wertmaßstäben, Methoden, Vorurteilen und Interessen dieser Metropolen zu urteilen und sich selbst zu beurteilen. Kommunikations-Exil, das ihm von den Massenmedien und den kulturellen Apparaten auferlegt wird, die nicht die seinen sind, und um Zutritt zu diesen Medien zu finden, muss der Intellektuelle darauf verzichten, er selbst zu sein. Wirtschaftliches Exil in einer Umgebung, in der man kaum von geistiger Produktion leben kann und in der der Intellektuelle sich gelegentlich zur Flucht gezwungen sieht, um einem schlimmeren Schicksal als dem der Marginalisierung zu entgehen. Politisches Exil, das von einer Macht gelenkt wird, die die Intellektuellen für eine gefährliche Klasse hält und sie deshalb als solche unterdrückt. Exil vor sich selbst, wenn der Intellektuelle in der Hoffnung, die soeben genannten Exile erträglicher zu machen, seinen einzigen Besitz verkauft: das Gewissen. aus: Luis Brito García: Conciencia de América Latina. Intelectuales, medios de comunicación y poder, Caracas, Nueva Sociedad, 2002, S. 161.

Die Intellektuellen und die Politik in Kolumbien | 117

Die Intellektuellen und die Politik in Kolumbien Fernando Uricoechea Corena Der kolumbianische bzw. der lateinamerikanische Intellektuelle ist ein soziales Wesen, dessen historische Wurzeln in den sich herausbildenden bürgerlichen Gesellschaften des modernen Europa liegen. Diese Gesellschaften entwickelten ihr charakteristisches Profil mit der allmählich fortschreitenden Wandlung ihrer – auf der Grundlage der ständischen Privilegien beruhenden – patrimonialen politischen Organisation hin zu Gesellschaften mit einer politischen Organisation liberalen Zuschnitts, die sich immer mehr um die entstehende Institution des Marktes und seine Interessen zu drehen begannen. Das Verschwinden der Privilegien, die bis dahin Quelle und Grundlage für die Legitimierung der politischen Herrschaft waren, sowie die zwingende Notwendigkeit, sie nicht mehr zuzuteilen, sondern sie durch ein angeblich rationelleres Kriterium für die Rechtfertigung politischer Herrschaft zu ersetzen, führte unumgänglich und automatisch zur Problematisierung der Vorstellung von einer legitimen Herrschaft und damit zum Entstehen der Ideologie. Bis dahin hatte der Begriff »Tradition« zusammen mit der Gültigkeit heiliger Werte, beides konstituierende Prinzipien der politischen Kultur, jegliche Rechtfertigung der politischen Autorität auf rationaler Grundlage überflüssig gemacht. Aber mit dem Zerfall der patrimonialen Ordnung, dem langsamen Untergang der Tradition und dem Aufkommen von merkantilen Gesellschaften wurde eine derartige Rechtfertigung unerlässlich. So erschien erstmals die Figur des Intellektuellen auf der Bühne des gesellschaftlichen Lebens. Seine Hauptaufgaben waren die ideologische Verteidigung der neuen bürgerlichen Ordnung und die Kritik am traditionellen System, das durch jene bürgerliche Ordnung abgelöst wurde. Diese neue gesellschaftliche Kategorie erlebte nach ihrer »Verpflanzung« auf amerikanischen Boden von Anfang an tiefgreifende Wandlungen, wenn man sie unter zeitgenössischem Blickwinkel betrachtet. Wie im Falle anderer großer gesellschaftlicher Institutionen und Ordnungen der modernen europäischen Geschichte – Bürgertum, Proletariat, Markt, Bürokratie etc. – waren ihre ursprünglichen Ziele mit der Verlagerung auf den anderen Kontinent selbstverständlich beträchtlichen Veränderungen unterworfen, was zu einer Verfälschung ihres eigentlichen Zweckes führte. Der europäische Intellektuelle bildete sich als Vertreter einer neuen Ordnung heraus, welche die Gültigkeit einer ganzen Tradition in Frage stellte, und in großem Maße erwuchs er aus Opposition zu dieser Tradition. Der lateinamerikanische Intellektuelle der Kolonialzeit dagegen, ein Gelehrter, der seinen Ursprung in einer werdenden Gesellschaft hat, in der es keinerlei Tradition gibt, erfüllt eine grundlegend konservative und ordnende Funktion: er übernimmt es, in ideologischer Hinsicht die Verpflanzung der Institutionen der alten Ordnung des spanischen Imperiums auf amerikanischen Boden zu befördern. Im Unterschied zum europäischen Intellektuellen entsteht die Person seines amerikanischen Kollegen nicht an der Peripherie einer Tradition und in Opposition zu dieser, sondern, ganz im Gegenteil, in ihrem Zentrum und sozusagen eingebettet in sie. Die »Geburt« des amerikanischen Intellektuellen bedeutet in keiner Weise einen Bruch mit der Vergangenheit, sondern die institutionelle Fortsetzung und ge-

118 | Fernando Uricoechea Corena ographische Ausweitung dieser Vergangenheit. An die Stelle der ursprünglichen und wesensmäßigen Spannung zwischen dem Intellektuellen und der Macht, die für den europäischen Kontext charakteristisch ist, tritt hier echte Solidarität zwischen den beiden Seiten. Während das Erscheinen des europäischen Intellektuellen nicht zu trennen ist von der Aufklärung und der Infragestellung der aristokratischen und hierarchischen Ordnung, die Königtum und Papsttum zu eigen sind, wird der lateinamerikanische Intellektuelle zum Verteidiger der Gegenreformation und der monarchischen Autorität. Vereinfachend könnte man sagen, dass der lateinamerikanische Intellektuelle der Kolonialzeit den Antitypen zum europäischen Intellektuellen darstellt: dasselbe Konzept bezeichnet zwei gegensätzliche Realitäten. Unter einem anderen Gesichtspunkt betrachtet ist die Tragödie des lateinamerikanischen kolonialen Intellektuellen seine Unzeitgemäßheit: die Verpflanzung einer modernen Kategorie, die von vernunftbestimmtem, kritischem und liberalem Denken beeinflusst ist, in einen traditionellen Kontext von dogmatischer und hierarchischer Orientierung. Durch diese Verpflanzung in einen anderen Kontext wurden seine ursprünglichen Ziele zwangsläufig verzerrt und verfälscht.

Das Verschwinden des Gelehrten und das Entstehen der Intelligentsia Das Ende der lateinamerikanischen Kolonialgesellschaft machte den Weg frei für das Entstehen von nationalen Gesellschaften. Diese Gesellschaften bemühen sich vor allem darum, ihre koloniale Abhängigkeit zu überwinden und arbeiten gleichzeitig daran, eine kulturelle Identität sowie eine institutionelle Ordnung in Übereinstimmung mit ihren Zielen und Idealen zu schaffen. Diese nehmen parallel zu der langsamen aber beständigen Institutionalisierung einer bürgerlichen, modernen und liberalen Kultur, welche mit der Zeit eine andere, patrimoniale, traditionelle und ständische Ordnung ablöst, allmählich Gestalt an. Und diese Wandlung geht einher mit einer gleichzeitigen Veränderung im Charakter, den Aufgaben und Funktionen des neuen Intellektuellen. Ein Tatbestand kann helfen, die Art dieser Veränderungen schonungslos und knapp zu definieren und sie zu verstehen: das Verschwinden des Gelehrten und das Entstehen einer kreolischen Intelligentsia. Der Gelehrte geht aus einer in erster Linie administrativen, bürokratischen Gesellschaft hervor. Er ist eine Figur, die zu einem System gehört: der kolonialen Regierungsverwaltung. Er ist daher ein wichtiges Mitglied des »Establishments«, wie man mit einem zeitgenössischen angelsächsischen Terminus zu sagen pflegt. Außerhalb dieses besonderen Rahmens hört der Gelehrte auf, als solcher zu existieren. Man könnte also argumentieren, der Gelehrte besitzt keine eigene unabhängige Identität. Er ist im Wesentlichen ein Akteur, dessen Handeln von verschiedenen äußeren Faktoren bestimmt wird. Er ist ein Akteur im Dienste der Regierungsverwaltung. Die Intelligentsia ist ein anderes Thema. Zunächst definiert sie sich durch drei Merkmale, die sie vom Gelehrten unterscheidet. Erstens will sie soziologisch nicht in Abhängigkeit von einem administrativen, bürokratischen und noch weniger einem

Die Intellektuellen und die Politik in Kolumbien | 119 kolonialen Kontext beurteilt werden. Zweitens erwächst die Identität der Intelligentsia aus ihrer kritischen Haltung gegenüber dem Status quo, was ihrem Handeln Autonomie verleiht. Drittens wird ihre gesellschaftliche Identität mehr kollektiv als individuell definiert. Die Intelligentsia stellt natürlich keine gesellschaftliche Klasse dar, ebensowenig einen eigenen Stand oder eine Vereinigung, aber ihre Ziele sind weit mehr auf institutionelle und kulturelle Forderungen einer Gemeinschaft ausgerichtet – vor allem auf die Schaffung einer nationalen Identität und die Verwirklichung nationaler Ziele – als auf die utilitaristische und pragmatische Nutzung eines sozialen Status zum eigenen Vorteil. Im Gegensatz zum Gelehrten – und es ist kein Zufall, dass es keinen umfassenden Begriff gibt, der sie alle zu einer einheitlichen Kategorie zusammenschlösse – bemüht sich die Intelligentsia zumindest virtuell um die Bildung einer Gemeinschaft, sei es auch nur nominell, die als solche die Entwicklung der Vorstellung von einer vernunftbestimmten politischen Ordnung fördern sollte. In diesem Sinne ist die Aufgabe des Intellektuellen, des Mitglieds der Intelligentsia, im rein politischen Zusammenhang durch seine mögliche »utopische« Orientierung gekennzeichnet, im Unterschied zu der des Gelehrten, dessen Funktionen auf die Verteidigung der Tradition und des Status quo abzielen. Im Folgenden wollen wir das neue uns interessierende Stadium in der Entwicklung des Intellektuellen untersuchen: die Periode nach dem Ende der Kolonialzeit.

Nationalität und Staat Die Ideenwelt des republikanischen Intellektuellen in Lateinamerika während des 19. Jahrhunderts konzentriert sich vor allem auf zwei Begriffe: den der Nationalität und den des Staates. Beide Begriffe haben nichts mehr zu tun mit den Problemen des Gelehrten der Kolonialzeit in Bezug auf die Herausbildung einer Tradition und die Erstellung einer politisch-administrativen Ordnung. Für keinen von beiden, weder den Gelehrten der Kolonialzeit noch den Intellektuellen des frühen 19. Jahrhunderts, waren die Probleme der Ungleichheit und der Macht dringende ideologische Anliegen. Die historischen und institutionellen Besonderheiten, die das Entstehen und die weitere Entwicklung unseres Intellektuellen charakterisieren – und die, wie wir bereits gesehen haben, nicht die gleichen waren wie bei der Herausbildung des europäischen Intellektuellen –, führten zu einem speziellen Verständnis der Beziehungen zwischen Staat und Nation oder, anders ausgedrückt, zwischen Kultur und Politik. Da es in unserem geographischen Kontext keine langfristige historische Perspektive gibt, haben lateinamerikanische und im Besonderen kolumbianische Denker irrtümlich versucht, zwangsläufige Beziehungen zwischen Staat und Nation dort herzustellen, wo auf Grund des historischen Charakters dieser Beziehungen nur zufällige Verbindungen vorhanden sind. Diese Sichtweise erklärt sich sehr wahrscheinlich aus der Tatsache, dass beide – sowohl Staat wie Nation – vor dem gleichen historischen Hintergrund entstanden sind: der Erfahrung der Kolonialzeit. Unser Intellektueller, umgeben von einer mediterran geprägten Welt, konnte nichts wissen von der Vielfalt historischer Beziehungen zwischen Staat und Nation, wie sie in anderen

120 | Fernando Uricoechea Corena Ländern existieren. Denn »in den großen asiatischen Kaiserreichen, wie China eines war, bestehen der Staat und die völkische Struktur, der Kern der Nationalitäten, gleichzeitig nebeneinander und ergänzen sich solidarisch. Im Falle Europas ist der Staat das Ergebnis des Zerfalls der völkischen Ordnung und daher erst später entstanden als die Nation, was jeder Italiener oder jeder Deutsche bestätigen wird. In Lateinamerika dagegen ist es umgekehrt: Hier bildeten sich die Nationalitäten als Folge der von der Conquista und der europäischen Kolonisierung künstlich geschaffenen Staaten heraus. Die einzigen schon zuvor bestehenden wirklichen Nationalitäten in Lateinamerika waren die Eingeborenenstämme, denen es zufällig gelungen war, ihre Identität noch nach der apokalyptischen Eroberung durch die Conquistadoren zu bewahren […]. Das heißt, der Begriff unserer Nationalität wurde vom Staat geformt und kann deshalb jederzeit politisch gelenkt und beeinflusst werden. Es ist eine fremdbestimmte, von außen dekretierte Nationalität, die mehr der Politik als der Geschichte und der Tradition gehorcht. Die Kritik an unserer Nationalität muss mit der Kritik unseres Staatswesens beginnen.«1 Sowohl für den europäischen wie für den asiatischen Intellektuellen ist die nationale Frage eine kulturelle Angelegenheit. Sie stellt sich dar als Folge einer jahrhundertelangen gemeinschaftlichen Erfahrung, während die Frage nach der Nationalität für den lateinamerikanischen Intellektuellen ein »künstliches«, das heißt, ein politisches Problem ist, ein Ergebnis des Handelns von Seiten des Staates. Die Nationalität wird in gewisser Weise als »Anhängsel« des Staates betrachtet. Ohne ein langes, ausgedehntes Miteinander in ethnischer oder religiöser Gemeinschaft, einer Gemeinschaft, die sich im Laufe der Zeit als ursprüngliche Form der Soziabilität, des gesellschaftlichen Lebens, niedergeschlagen hätte, konnte die Nationalität nur als eine historisch künstliche Idee erscheinen. Aus einem anderen, ergänzenden Blickwinkel betrachtet, stellt sich die Nationalität eher als ein Element des öffentlichen Lebens dar denn als ein Bestandteil des zwischenmenschlichen, kulturellen Bereichs. Während also der chinesische Literat und der islamische oder hinduistische Künstler eine Standeskultur stilisieren und der europäische Ideologe eine Klassenkultur zu rechtfertigen versucht, formulieren unsere Intellektuellen, der kolumbianische »Doktor« und der brasilianische »Bachelor« beispielsweise, eine politisch-juristische Kultur. Wenn wir uns das soeben Gesagte vor Augen halten, kann es nicht den geringsten Zweifel geben an dem entscheidenen Beitrag, den der lateinamerikanische republikanische Intellektuelle zum Entstehungsprozess der Nationalität der jeweiligen politischen Gemeinschaften geleistet hat. Natürlich ist es überflüssig, darauf hinzuweisen, dass dies nur möglich war dank der Integration des Intellektuellen in die staatlichen Strukturen, die letztendlich verantwortlich waren für diesen Prozess. Die wichtigste Funktion dieses Intellektuellen des 19. Jahrhunderts war es, ein nationales Wertesystem festzulegen und die Vorstellung von einer Nation zu schaffen, die damals in der Praxis erst im Entstehen begriffen war. Im Unterschied zum europäischen Intellektuellen, der sich den Interessen einer gesellschaftlichen Klasse ver1 URICOECHEA, Fernando: »Estado, nación y cultura«, in: Magazin Dominical, El Espectador, Bogotá, 18. Juni 1989, S. 19.

Die Intellektuellen und die Politik in Kolumbien | 121 bunden fühlt, oder dem chinesischen Literaten und dem islamischen oder hinduistischen Künstler, die der Stilisierung einer Gesellschaft mit ständischen Prinzipien verpflichtet sind, eine Aufgabe, die für den Europäer unvorstellbar wäre, widmete sich der lateinamerikanische Intellektuelle des 19. Jahrhunderts vorrangig Projekten zur Förderung von nationalem Bewusstsein. Nation, Stand und gesellschaftliche Klasse waren folglich die zentralen Begriffe, auf die sich diese drei Typen von Denkern konzentrierten, und jeder von ihnen antwortete auf die Anforderungen oder »ideologischen« Zwänge entsprechend dem historischen Entwicklungsstand seiner jeweiligen Gesellschaft. Diese Anforderungen oder Zwänge belegen außerdem, dass der lateinamerikanische Intellektuelle des 19. Jahrhunderts nicht mehr wie sein »Vorgänger«, der Gelehrte der Kolonialzeit, die bewahrende Funktion innehatte, die Organisationsformen und den hierarchischen Geist der spanischen Gegenreformation in Amerika aufrechtzuerhalten. Seine Mission ist nun, wenn man so will, bescheidener aber auch tiefgehender: bescheidener, weil es nicht länger seine Aufgabe ist, einer herrschaftlichen Ideologie neues Leben zu verleihen und sie zu bewahren; und tiefgehender, weil es sein Bestreben ist, ein System politischer Werte zu definieren und ihre Institutionalisierung mit Blick auf die Bildung einer nationalen Gemeinschaft insgesamt zu fördern. Diese Gemeinschaft, die für den europäischen oder asiatischen Intellektuellen der Ausgangspunkt seines Denkens ist, der terminus a quo eines kulturellen Projekts mit tiefen historischen Wurzeln, bedeutet für unseren Intellektuellen das Ziel, den terminus ad quem unserer institutionellen Bestrebungen auf politischer Grundlage. Mangels einer Tradition, die einem nationalen System kultureller Werte eine natürliche und spontan gewachsene Gestalt verleihen könnte, bemühen wir die Welt der Politik als kläglichen und kümmerlichen Ersatz für diese Tradition: Politik als »Ersatz« für Geschichte … Und auf diese Weise erreicht die Politisierung unserer Kultur ungeheuere Ausmaße, die nicht nur die Bewohner jenseits des Atlantik sprachlos machen würden, sondern auch die Bürger auf der anderen Seite des Rio Grande. Jenseits unserer Landesgrenzen würde kaum jemand das kategorische Urteil eines zeitgenössischen Experten über das nationale Leben in Kolumbien widerspruchslos akzeptieren: »Jede nationale Kultur muss eine politische Kultur sein.«2 Ein derartiges Urteil ist innerhalb der kulturellen Tradition Europas oder Asiens vollkommen unverständlich, wenn nicht unannehmbar. Aber ebensowenig wie es eine notwendige Beziehung zwischen Staat und Nation gibt, existiert, wie es unsere Intellektuellen wollen, eine notwendige Beziehung zwischen Staat und Kultur. In Wirklichkeit muss eine derartige These (über den zufälligen und nicht notwendigen Charakter der Beziehungen zwischen Staat und Kultur) auf Widerstand stoßen in den Kreisen, die – getreu der patrimonialistischen, hierarchischen und autoritären iberischen Tradition, welche die Gegenreformation befördert hat –, von Natur aus überzeugt sind, dass Staat und Nation immer identisch seien. Unsere Vorstellung von einem mehr als aufgeblähten Staat ist eine kulturelle 2 BUENDIA, Hernández Gómez: »El ghetto de la inteligencia colombiana«, in: El Tiempo, Lecturas Dominicales, 29. April 1990. Hervorhebung im Original.

122 | Fernando Uricoechea Corena Hinterlassenschaft dieser bürokratisch-patrimonialen Tradition des spanischen Imperiums, die sich bis heute unbeschadet erhalten hat. Wir hatten sozusagen keine bürgerliche Revolution, und zwar nicht nur, weil es hier kein wirkliches Bürgertum gab, sondern auch, weil es hierzulande keinerlei Tradition zu bekämpfen gab, um der Modernität zum Erfolg zu verhelfen. Noch am Ende des 20. Jahrhunderts schwankten wir wie zwischen Scylla und Charybdis, zwischen einer offiziellen, staatlichen und formalen und einer klerikalen, konfessionellen, dogmatischen Kultur. In beiden Fällen handelt es sich um das »Ideal« einer bevormundeten, untergeordneten Kultur. Diese Verwandtschaft zwischen den zwei Arten von Kultur hat das Entstehen einer komplizenhaften Solidarität zwischen beiden erlaubt, die noch bis vor sehr kurzer Zeit ihren Niederschlag fand in dem Konkordat, das der katholischen Kirche Privilegien zugestand, ebenso wie in der Präambel über religiöse Zugehörigkeit in der Verfassung und in gelegentlichen alltäglichen Episoden wie dem Verbot, einen Film wie »The Last Temptation of Christ« von Martin Scorsese zu zeigen. Kultur äußert sich in diesen Fällen als eine offizielle oder konfessionelle Manifestation oder sie ist bei überzeugenden Gelegenheiten und Anlässen sowohl das eine als auch das andere. Aber niemals ist Kultur Ausdruck einer allgemeinen Seelenverfassung, einer wirklichen nationalen Tradition. Denn eine wirkliche nationale Kultur gibt es nur dort, wo es eine nationale Tradition gibt. Wir dagegen besitzen eine ausgesprochen staatliche »Tradition«: eher eine politische Geschichte als eine nationale Tradition. Wir können keine Renaissance vorweisen, keine Pascals, Bachs oder Rousseaus, wir haben dagegen unsere Bolívars, Núñez, López, Pumarejos etc. Unsere historischen Erfahrungen sind also vor allem »politischer« und weniger »nationaler« Natur. Unser Sinn für Werte und Tugenden unterliegt einzig und allein einer politischen Sichtweise. Mit anderen Worten, unsere Kultur neigt eher dazu, eine Ideologie wiederzugeben als eine Tradition. Der Begriff der Bildung, der kulturellen Erziehung des Individuums im europäischen Humanismus, der Begriff der Etikette (yen) für den konfuzianischen chinesischen Literaten, die Idee der Tugend für den römischen Edelmann der Antike sowie die Vorstellung des barakha für den islamischen Künstler und schließlich der Begriff der areté für den Krieger bei Homer: all diese Termini sind entstanden zusammen mit der Herausbildung einer gemeinsamen Tradition und auf der Grundlage des Zusammenlebens als Klasse, als Gruppe, als Vereinigung, was sich widerspigelt in einem praktischen Ideal, in Lebensregeln, in Weisheit. Dies ist meiner Meinung nach der größte Beitrag einer Nation zur Entstehung einer Kultur. Und gerade dies ist bei uns nicht der Fall: wir verfügen nicht über diese gemeinsame Erfahrung, diese Tradition, und daher ersetzen wir sie durch eine Ideologie. Jede wirkliche Tradition ist wie eine bürgerliche Religion: sie ist etwas, das uns alle miteinander verbindet. Wir hingegen ersetzen die Religion durch das Sektenwesen, den möglicherweise religiösen Geist, der diesen Begriffen innewohnt, durch das Sektierertum unserer offiziellen oder konfessionellen Wahrheiten.3 3 Mit kleinen Veränderungen entnommen aus URICOECHEA, Fernando: »Los intelectuales colombianos: pasado y presente«, in: Análisis político, Instituto de Estudios Políticos y Relaciones Internacionales, Universidad Nacional de Colombia, Bogotá, No. 11, septiembrediciembre de 1990, S. 62-63.

Die Intellektuellen und die Politik in Kolumbien | 123 Diese Unfähigkeit des kolumbianischen Intellektuellen, innerhalb einer schwachen und sich erst entwickelnden bürgerlichen Gesellschaft eine gemeinsame Identität zu finden oder zu schaffen, war zweifellos Folge der unzulänglichen Institutionalisierung der wirtschaftlichen Interessen des Bürgertums. Ursache dafür war wiederum die kaum vorhandene kapitalistische Organisation der Wirtschaft. Als Reaktion darauf suchten der politische Akteur und der Bürger von damals Zuflucht in einer kollektiven Identität, die in den religiösen Leidenschaften, einer unheilvollen Hinterlassenschaft der zuvor beschriebenen historischen Gegebenheiten, ihre mythische Begründung hatte. Mythos, Religion und Politik waren somit bis vor wenigen Jahrzehnten die für die Entstehung der kollektiven Identität des kolumbianischen Bürgers notwendigen Komponenten und Ingredienzen. Um die Mitte des 20. Jahrhunderts sollte die außergewöhnliche politische Lage das institutionelle Panorama der Nation entscheidend verändern. Die sogenannte »Violencia«, die Epoche der Gewalt, die ungefähr drei Jahrzehnte andauerte und während derer sich die feindlichen Lager der beiden großen politischen Fraktionen von damals in allen Winkeln Kolumbiens – aber vor allem auf dem Land – bis auf den Tod bekämpften, konnte erst dank des 1957 von den beiden Parteien des Establishments geschlossenen politischen Paktes überwunden werden. Dieser Pakt, der Frente Nacional (Nationale Front) genannt wurde und auf sechzehn Jahre abgeschlossen wurde, garantierte sowohl den periodischen Wechsel der beiden Parteien an der Macht als auch ihre Parität bei der Besetzung der Staatsämter. Mit der Frente Nacional wird schließlich diese für den Bürger schädliche Gleichsetzung von Politik und Mythos zerstört, wodurch eine rationalere Betrachtungsweise der Politik als Mechanismus zur Vertretung von Interessen und nicht als Ausdruck von Leidenschaften möglich wurde. Die politische Identität eines jeden Bürgers begann damals, sich von der althergebrachten Komplizenschaft zwischen Parteizugehörigkeit und religiöser Ausrichtung zu lösen und nach dem Ende der religiösen Bevormundung, die bisher über den politischen Werten geherrscht hatte, basierte sie zum ersten Mal auf rein politischen Motiven. Es wäre also nicht übertrieben, zu behaupten, dass sich mit dem politischen Experiment der Frente Nacional im öffentlichen Leben Kolumbiens sowie in den politischen Verhältnissen des Landes ein tatsächlich historisches und weltliches Verständnis vom Leben und der Politik sowie eine tatsächlich bürgerliche Vertretung durchzusetzen begannen. Die von der religiösen Herkunft oder Parteizugehörigkeit abhängigen partikularistischen Kriterien bei der Zuteilung von Ämtern zur Definition des bürgerlichen Status wurden damit endgültig wirkungslos. Mit dieser Wandlung im öffentlichen Bewusstsein – wofür die Frente Nacional ein notwendiger aber keinesfalls hinreichender Faktor war – findet notwendigerweise auch eine heilsame Reform im kulturellen und intellektuellen Leben der Nation statt sowie ein Umdenken bei dessen Interpretation und Analyse. Von diesem Zeitpunkt an kann man in Kolumbien vom Auftreten des wirklich modernen Intellektuellen sprechen, der sich unwiderruflich von seinen »mythischen« und partikularistischen Vorgängern entfernt hat.

124 | Fernando Uricoechea Corena Charaktereigenschaften des kolumbianischen Intellektuellen Die Merkmale des kolumbianischen Intellektuellen von heute sind sowohl von den Kräften der Vergangenheit bestimmt, die seine Herausbildung begleiteten, als auch von den sozialen organisatorischen und institutionellen Faktoren, welche die zeitgenössische Gesellschaft im Allgemeinen auszeichnen. Hinsichtlich der Kräfte der Vergangenheit ist zu sagen, dass diese sich keineswegs in den vorher genannten Aspekten erschöpfen wie etwa dem Einfluss der Gegenreformation, dem Fehlen einer bürgerlichen Revolution etc. Wir müssen uns nun kurz einigen dieser Kräfte zuwenden und wollen noch andere benennen, um das Profil des zeitgenössischen kolumbianischen Intellektuellen genauer zu zeichnen, bevor wir uns damit beschäftigen, welche Herausforderung für diesen Intellektuellen die Zukunft bedeutet. Im Falle Kolumbiens musste das Fehlen einer Tradition, welche die Erfahrungen und Orientierungen für das Leben einer aristokratischen Kultur in sich vereint hätte, notwendigerweise Auswirkungen auf das Verhalten der Intellektuellen des Landes haben. Einerseits verfügte der kolumbianische Intellektuelle über keine Tradition und keine Kultur, die mit seinem Verhalten in Verbindung gestanden hätten, einem Verhalten, welches für die Anfechtungen empfänglich gewesen wäre, um so die Rolle der Vernunft für sich in Anspruch zu nehmen; andererseits war seine Person, wie wir bereits gesehen haben, »von Natur aus« an die Geburt und die Organisation des Staates gebunden. Aus diesen Gründen entwickelte der kolumbianische Intellektuelle eine eher administrative und weniger politische Denkweise. Anders als der europäische Kollege stellte er nicht den Staat und die aristokratischen Grundlagen seiner Organisation in Frage, sondern vor allem die Regierungsformen. Die zentralen Fragen zu Souveränität, Repräsentation und sozialer Ungleichheit beispielsweise wurden zugunsten von hauptsächlich administrativen Aspekten wie Zentralismus und Föderalismus als politisch-administrativen Organisationsprinzipien praktisch ignoriert. Dieser geringe Einfluss der Ideologie auf den Diskurs der kolumbianischen Intelligentsia und deren hauptsächlich administrative Ausrichtung ergeben sich nicht nur aus ihrer speziellen Interaktion mit dem Staat. Sehr wahrscheinlich ist dieser Tatbestand auch auf eine andere institutionelle Besonderheit zurückzuführen, die für das politische Leben Kolumbiens sehr typisch ist: die untergeordnete und unbedeutende Rolle, welche die politische Vertretung von Privatinteressen in der Vergangenheit gespielt hat – und auch heute noch spielt. Dies ist in großem Maße Folge der mehr oligarchischen und seniorialen als demokratischen Organisation des Systems der politischen Herrschaft. Die äußerst spärliche gemeinschaftliche Vertretung von Privatinteressen in der politischen Arena hat die ideologische Funktion und somit die Aufgabe der Intellektuellen zwangsläufig wesentlich entwertet. Die »mechanische« und zersplitterte Organisation der Interessenvertretung – ihrerseits Ergebnis eines jahrhundertelangen autoritären und oligarchischen politischen Organisationsmusters sowie Folge einer nur schwach entwickelten bürgerlichen Gesellschaft – zusammen mit dem Fehlen einer eher »organisch« gewachsenen und korporativen Interessenvertretung sind grundlegend für das Verständnis des eng begrenzten ideo-

Die Intellektuellen und die Politik in Kolumbien | 125 logischen Spielraumes der Intellektuellen bei ihrem Bemühen um die Legitimierung von Interessen. All das bisher Gesagte führte dazu, dass sich das kritische Denken in Kolumbien erst spät entfalten konnte. Den Anfang dieses Prozesses könnte man zudem vor allem mit zwei wichtigen historischen Entwicklungen in Verbindung bringen: zum einen mit dem Entstehen aufgeklärter, von den Interessen des Staates relativ unabhängiger akademischer Kreise während der letzten zwei Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, begleitet von der Alternative einer universitären Tätigkeit als neuer Möglichkeit neben der üblichen freien Berufsausübung, und zum anderen mit dem beginnenden Wachstum der einfachen städtischen Bevölkerungsschichten. Es ergibt sich somit ein größerer Freiraum »für die Funktionen der Intellektuellen, ein Freiraum, der weniger direkt von der Macht abhängig ist; in diesem Rahmen entwickelte sich allmählich ein kritischer Geist, der versuchen sollte, den Bedürfnissen der unteren, vor allem städtischen Schichten Ausdruck zu verleihen […]«4 Als Ergebnis der Ausweitung der bürgerlichen Wirtschaftsstruktur kamen in dieser Zeit zu den intellektuellen Aktivitäten, die traditionell in Verbindung gebracht wurden mit »der Verwaltung, den öffentlichen Institutionen und der Politik, die Initiativen von drei ebenfalls schnell wachsenden Sektoren hinzu, denen zahlreiche Intellektuelle angehörten und die ständig Nachwuchs verlangten: die Bereiche Erziehung, Journalismus und Diplomatie.«5 Somit entwickelte unser Intellektueller, wiederum in klarem Unterschied zu seinem europäischen Kollegen, seinen in gewisser Hinsicht kritischen Geist nicht aus der Konfrontation mit der Tradition, sondern erstaunlicherweise aus der Konfrontation mit der Modernisierung, die mit dem Aufkommen der bürgerlichen Gesellschaft in Lateinamerika gegen Ende des 19. Jahrhunderts einzusetzen begann. Innerhalb dieses Kontextes der Erneuerung entsteht eine Sozialkritik, die sich vor allem mit dem Agrarproblem und der Arbeiterfrage beschäftigt. Dies trägt, durch die Integration der neuen städtischen Schichten in das System der staatlichen Institutionen und in das Leben der Republik, in gewisser Weise dazu bei, den Prozess der Herausbildung einer Nation zu befestigen. Alles in allem gehen wir nicht zu weit, wenn wir sagen, dass die politische Mobilisierung dieser Sektoren mit Blick auf ihre institutionelle Integration wiederum mehr von der Rolle des Staates als von den Intellektuellen selbst abhing. Und das ist verständlich und erklärlich angesichts einer Reihe von Tatsachen wie 1) dem Fehlen sozialistischen Denkens, seinerseits Folge des Fehlens einer feudalen und aristokratischen Vergangenheit6 und 2) der politisch bedeutungslosen Organisation der Arbeitswelt, ihrerseits Konsequenz einer kaum vorhandenen Tradition der handwerklichen und künstlerischen Berufe sowie der geringen Institutionalisierung eines kapitalistischen Produktionssektors. Das Interesse der intellektuellen Kreise in Kolumbien für die soziale Frage sollte

4 RAMA, Angel: La ciudad letrada, o.O., 1984, S. 75. 5 Op. cit., S. 73 6 Siehe HIRSCHMANN, Albert O.: A economía como ciência moral e política, Sao Paulo, 1984, S. 11-48.

126 | Fernando Uricoechea Corena jedoch nur von kurzer Dauer sein und kaum Nachwirkungen haben. Nicht nur, weil der Staat selbst sich bereits frühzeitig, während der Liberalen Republik, der »Agitation« in dieser Sache annahm, sondern auch wegen des grundsätzlich konservativen Charakters dieser Intelligentsia, die einerseits jeglichem revolutionären politischen Engagement und jeder Äußerung von Protest fernstand und die andererseits enge Bindungen mit den, im Übrigen wenigen und spärlich organisierten, klassenspezifischen politischen Vereinigungen pflegte. Auch der Übergang von einer republikanischen – herrschaftlichen, oligarchischen, caudillistischen und von kleinen Gruppen dominierten – Gesellschaft zu einer Massengesellschaft, die von großen bürokratischen Organisationen verwaltet wird und deren Entstehen fast mit dem Zeitpunkt zusammenfällt, als das politische Experiment der Frente Nacional seinen Höhepunkt erreicht, hat zu Veränderungen im Typus des Intellektuellen und seiner jeweiligen Funktionen geführt. Im Grunde könnte man sagen, dass sich die Aktivitäten der Intellektuellen in die folgenden Richtungen aufspalten sollten: einerseits eine politische und andererseits eine neue, rückständige, die wir mangels eines besseren Begriffs administrativ nennen könnten. Das Bedeutsamste bei der politischen Richtung ist der Wandel des Inhalts hinsichtlich der zentralen politischen Thematik, einer Thematik, die mit dem neuen internationalen Szenarium der Nachkriegsgesellschaft zunächst zaghaft aufkommt, die kurz danach Bedeutung gewinnt durch die Kubanische Revolution und die sich mit der Frage der Revolution beschäftigt – dem beherrschenden Thema während der 1960er und 1970er Jahre. Später, in den 1980er Jahren, sollte sie den Fragen der Demokratie, des Autoritarismus und der Frage der Menschenrechte weichen. Bei der zweiten, der administrativen Ausrichtung, die zuvor so gut wie inexistent war, liegt das Interesse nicht so sehr bei der politischen Ordnung an sich und den ihr innewohnenden Fragen – wie beispielsweise ihrer möglichen Legitimität oder Illegitimität –, sondern mehr bei der tatsächlichen Organisation und dem Funktionieren dieser Ordnung. Man ist sich sehr wohl der Schwierigkeit bewusst, mit ausschließlich politischen Kriterien eine soziale Ordnung lenken zu wollen; dies führt zu einer relativen »Entpolitisierung« und dazu, dass die Kritik vor allem von Kriterien der Vernunft beherrscht wird. Die Gesellschaft als Objekt ist nun, da sie weit komplexer ist als die Gesellschaft der Vergangenheit, weniger anfällig für globale Reformvorhaben und »utopische« Projekte. Es entstehen jetzt Projekte von eher »sozialer Strukturierung«, und die kritische Reflexion, sofern sie existiert, interessiert sich mehr für die Anliegen von Gruppen und Klassen innerhalb der Gesellschaft als für die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit. Knapp ausgedrückt bedeutet dies, die »Utopie« und die Politik überlassen das Feld dem »strukturellen Denken« und der Administration. Innerhalb dieses neuen Kontextes waren das Agrarproblem und die Arbeiterfrage etwas in den Hintergrund getreten; dagegen gewannen Themen im Zusammenhang mit institutionellen Prozessen allmählich mehr an Bedeutung als Fragen bezüglich der Interessen einzelner Sektoren, wie zum Beispiel Inflation, Arbeitslosigkeit, Auslandsschulden, öffentliche Dienstleistungen, Entwicklung von Wissenschaft und Technologie etc. In gleichem Maße wie die Sozialkritik »rationaler« wurde, änderte sich auch die Liste der Anliegen, die öffentlich zur Diskussion standen. Heute sind Themen wie beispielsweise soziale Ungerechtigkeit oder politischer Ungehorsam

Die Intellektuellen und die Politik in Kolumbien | 127 sowie das Problem der Legitimität der Herrschaft – mit Ausnahme des Themas der Partizipation, mehr aus konjunkturellen als aus strukturellen Gründen – fast endgültig von dem beherrschenden Problem der kybernetischen Gesellschaft der Gegenwart verdrängt: der Effizienz. Wo soll man den demokratischen Diskurs und die demokratische Praxis der kolumbianischen Intellektuellen innerhalb all dieser Prozesse ansiedeln? Unter drei Aspekten konnten wir bisher die – eher stillschweigende als ausdrückliche – Beziehung zwischen dem kolumbianischen Intellektuellen und der Demokratie grob skizzieren. Der erste Aspekt erlaubte es, die »auf den Staat bezogene« Orientierung des Intellektuellen von der Kolonialzeit an zu bestimmen. Als Schuldner eines Staates, der ihn jahrhundertelang protegiert hatte, stand der kolumbianische Intellektuelle bis vor kurzer Zeit im Allgemeinen jeglichem Engagement für die bürgerliche Gesellschaft, aus der er kommt, und für die Klassen, aus denen diese sich zusammensetzt, völlig ablehnend gegenüber. Im politischen Umfeld macht der Intellektuelle den Eindruck der Schwäche, so als bezöge er all seine Kraft nur aus einer geliehenen Energie: sein Status, wenn nicht gar seine Autorität, entspringen häufig seinem Ansehen, das er von Seiten des Staates genießt. Ohne die Unterstützung und den Schutz des Staates war dieser Intellektuelle ebenso schwach wie die bürgerliche Gesellschaft, der er entstammte. Es lohnt sich also, darauf hinzuweisen, dass der kolumbianische Intellektuelle während des letzten Viertels des 20. Jahrhunderts mit der Entwicklung einer wissenschaftlichen Gemeinschaft innerhalb der Nation zum ersten Mal in seiner Geschichte die Möglichkeit erhielt, sich aus der politischen Bevormundung durch den Staat zu befreien und einen institutionellen Rahmen zu finden, der es ihm erlauben sollte, seine Aufgaben und seine Identität zu verwirklichen. Und mehr noch: diese Möglichkeit zur Emanzipation hat dank eines gewissen Grades wissenschaftlicher Professionalisierung in einigen akademischen Disziplinen, vor allem in der Soziologie, den politischen Wissenschaften und der Anthropologie, während der vergangenen zwei Jahrzehnte zunehmend Form angenommen. Im zweiten Fall wird der kolumbianische Intellektuelle mit der Demokratie in Zusammenhang gesehen und seine Beteiligung an den Parteienstreitigkeiten und dem Klassenkampf untersucht. Wie wir festgestellt haben, kam diese klassenkämpferische Aufgabe erst später hinzu, und zwar mit dem Beginn der Mobilisierung der städtischen Volksschichten. Sie war außerdem von kurzer Dauer und hatte lediglich episodischen Charakter. Nur eine kleine Gruppe der Linken hat ihr politisches Interesse an der Mobilisierung der Arbeiterschaft bis in die jüngste Zeit aufrechterhalten. Im Allgemeinen pflegten die Intellektuellen dieser Gruppe bis vor kurzem eine eher elitistische als demokratische Haltung. Dennoch erlebte das eben geschilderte Panorama durch den politisch-institutionellen Wandel der letzten zehn Jahre des vergangenen Jahrhunderts relativ bedeutsame Veränderungen. Die Verfassung von 1991, welche die mehr als hundert Jahre alte Verfassung von 1886 ablöste, hat nicht nur eine rein repräsentative, sondern vielmehr eine partizipative demokratische Praxis gefördert. Diese Entwicklung fiel zeitlich zusammen mit dem Auftauchen und der Verbreitung unabhängiger politischer Bewegungen, die

128 | Fernando Uricoechea Corena dem traditionellen Zweiparteiensystem des Establishments fernstanden.7 Als Ergebnis dieses Prozesses insgesamt haben sich einige Intellektuelle immer mehr jenen neuen Gruppierungen angenähert, die von den Praktiken der Korruption und der Vetternwirtschaft, wie sie bei den traditionellen politischen Parteien üblich waren, offenbar Abstand genommen haben. Der dritte Aspekt in den Beziehungen zwischen den kolumbianischen Intellektuellen und der Demokratie betrifft die vernunftmäßigen Zwänge bei der Handhabung des Staates und der Lenkung des öffentlichen Staatswesens. Hier scheinen die Verbindungen zwischen den Aktivitäten der Intellektuellen und dem demokratischen Engagement noch weit vager zu sein, zumal die technischen Zwänge mit der Zeit die ideologischen Ziele verdrängen und das ideologische Denken sowie seine typischen Formen der Überzeugung beeinflussen. Dies alles trägt dazu bei, die symbolische Kraft der Kritik und der »Utopie« und folglich die Einflussnahme der Intellektuellen zu schwächen. Alle diese Veränderungen gingen Hand in Hand mit einem revolutionären aber in Bezug auf den politischen Raum und den Begriff der Stadt, der polis, wirkungslosen und nicht wahrnehmbaren Wandel. Dieser Wandel zwingt uns, die wirkliche Bedeutung des politischen Lebens und der Vorstellung von der Demokratie in der Welt von heute zu überdenken. Die Gültigkeit des Begriffs vom »homo politicus« beruht in Wirklichkeit auf der konkreten Voraussetzung einer Gemeinschaft von Gleichen. Es gibt jedoch gute Gründe dafür, anzunehmen, dass sich in der gegenwärtigen Gesellschaft die politische Gemeinschaft allmählich aufgesplittert hat in eine Vielzahl von relativ autonomen institutionellen Räumen oder Territorien mit jeweils eigener Dynamik und eigenen Zielen. Die polis als typischer Raum zur Ausübung individueller Freiheit wurde immer mehr von körperschaftlichen Vereinigungen ersetzt. Die Werte, die Ideale, mit einem Wort die Utopien, die man mit der polis identifiziert hatte, werden von den Interessen, von den Zielen und Programmen der geplanten Gesellschaft verdrängt. Das heißt, wir untersuchen das »öffentliche« Verhalten des zeitgenössischen Menschen unter falschen Prämissen: Prämissen, die einer bereits untergegangenen Welt entsprechen.

7 Mit der Verfassung von 1991 sollte, wie bereits gesagt wurde, das herrschende Zweiparteiensystem geschwächt werden, indem man Möglichkeiten schuf, unabhängige Gruppen in das politische Geschehen mit einzubeziehen. Während im Jahr 1990 das Zweiparteiensystem 92 Prozent des Kongresses kontrollierte, waren es 1991 nur noch 78 Porzent, 1994 waren es wiederum 82 und 1998 nur noch 75 Prozent.

Die Intellektuellen und die Politik in Kolumbien | 129 Literatur BUENDIA, Hernández Gómez: »El ghetto de la inteligencia colombiana«, in: El Tiempo, Lecturas Dominicales, 29. April 1990. HIRSCHMANN, Albert O.: A economía como ciência moral e política, Sao Paulo, 1984. RAMA, Angel: La ciudad letrada, o.O., 1984. URICOECHEA, Fernando: »Estado, nación y cultura«, in: Magazin Dominical, El Espectador, Bogotá, 18. Juni 1989, S. 19. URICOECHEA, Fernando: »Los intelectuales colombianos: pasado y presente«, in: Análisis político, Bogotá, 18. Juni 1989, S. 19

Intellektuelle und Politik in Bolivien | 131

Von der zentralen Rolle des Proletariats zur Regierbarkeit des politischen Systems. Anmerkungen zu den Intellektuellen und der Politik in Bolivien Omar Chávez Zamorano Die Beziehung zwischen den Intellektuellen und der Politik in Bolivien war die meiste Zeit des 20. Jahrhunderts bedingt durch die zentrale Rolle des Proletariats, das heißt, durch eine politische und historische Konstellation, die objektiv und unabhängig war vom »intellektuellen Geist oder intellektueller Verfügbarkeit.« Diese zentrale Rolle, mit anderen Worten, die politische Präsenz und der politische Aktivismus des Bergbauproletariats, begründete einen »Horizont der Sichtbarkeit«. Somit erhielt die strukturell rückständige Gesellschaft zum ersten Mal die Möglichkeit, sich selbst kennen zu lernen. Dieser »Horizont« gab den historischen Anstoß zur intellektuellen Schöpfung. Der Zerfall dieser Zentralität des Proletariats (in Bolivien: der Bergarbeiter) im Rahmen der neoliberalen Politik hat dieser Perspektive ein Ende gesetzt. Eine der Folgen davon ist die tiefgreifende Veränderung in der Beziehung zwischen den Intellektuellen und der Politik: Die Intellektuellen haben sich von der bürgerlichen Gesellschaft distanziert, und das horizontale Denken wurde entscheidend geschwächt. Die Regierbarkeit des politischen Systems wurde zum Bezugspunkt der intellektuellen Schöpfung sowie der Produktion sozialen Wissens, und das vertikale Wissen wurde dabei gestärkt. In dem vorliegenden Beitrag wollen wir die Beziehungen zwischen den Intellektuellen und der Politik unter diesem Blickwinkel betrachten.

Die Vorherrshaft der Waffen gegenüber den Worten In Bolivien genießt der Intellektuelle weder Popularität noch eine entsprechende gesellschaftliche Anerkennung. Kein Sektor der Gesellschaft gesteht dem Intellektuellen einen bedeutsamen Grad an Macht zu. Deshalb haben die Intellektuellen keine Möglichkeit, auf die öffentliche Meinung, die Regierenden oder die Politik Einfluss auszuüben. Aus diesem Grunde ist es ihnen auch nicht gelungen, ein solides Bewusstsein ihrer Bedeutung für die Gesellschaft und ein echtes soziales Verantwortungsgefühl dieser Gesellschaft gegenüber zu entwickeln. Dieses geringe gesellschaftliche und politische Ansehen der Intellektuellen hat den Rahmen für ihre Etablierung als soziale Schicht oder Berufsgruppe innerhalb der bolivianischen Gesellschaft definiert sowie die Grenzen für die Entwicklung der Ideen selbst festgelegt und eine ausgeprägt pragmatische Orientierung des Denkens dieser Intellektuellen bewirkt. Dies zeigt sich sehr deutlich in der Bewertung der gesellschaftlichen Disziplinen wie Recht, Soziologie und Politische Wissenschaften, die auf ihre technischen und vor allem analytischen Möglichkeiten reduziert wurden, wobei ihre erkenntnistheoretischen Inhalte beiseite gelassen wurden. Deshalb kann

132 | Omar Chávez Zamorano man behaupten, dass die Pflege dieser Disziplinen nicht zu intellektueller Produktion beigetragen hat. Historisch gesehen gibt es mehrere Faktoren, die dafür verantwortlich sind, dass die Intellektuellen noch an der Schwelle des 21. Jahrhunderts ein so geringes gesellschaftliches Ansehen genießen. Eine der sozio-kulturellen und politischen Variablen, mit denen diese so wichtige und bestimmende Tatsache zusammenhängt, ist das Vorherrschen der Waffen gegenüber dem Wort, das die dramatische politische Geschichte des Landes geprägt hat. In der politischen Geschichte Boliviens hatten der Gebrauch der Waffen und die Gewaltanwendung im 19. und 20. Jahrhundert Vorrang gegenüber dem Wort als Mittel der politischen Taktik. Der Gebrauch des Wortes in Form von Ideen, Debatten, Gesetzen und der Äußerung der öffentlichen Meinung hatte für das politische Handeln nur eine zweitrangige Bedeutung, während der Einsatz der Waffen und Gewaltanwendung die wichtigste politische Taktik des Landes waren. Unter diesen Voraussetzungen, die die politische Geschichte des Landes tiefgreifend und andauernd bestimmten, konnten sich politische Institutionen, die auf der Vorherrschaft des Wortes beruhen, wie das Parlament, die politischen Parteien und die öffentliche Meinung, nicht festigen. Die geistigen Grundlagen dieser Institutionen wie die öffentliche Diskussion und die Öffentlichkeit der politischen Angelegenheiten waren sehr schwach, weil Waffen und Gewalt sich als wichtigste von den politischen Akteuren angewandte Taktiken oder Mittel durchgesetzt hatten. In diesem Kontext konnten sich die Militärs als Institution etablieren, und die militärischen Führer wurden zur am besten verwurzelten Gruppe der Gesellschaft; sie waren es, die am meisten Einfluss über die Gesellschaft besaßen. So bildete sich ein System von Beziehungen zwischen Bürgern und Militär heraus, das geprägt war von der politischen Vorherrschaft der Militärs über die bügerliche Gesellschaft, ein System, das zunächst Gültigkeit hatte in der Zeit von 1825 bis 1880 und dann von 1964 bis 1982. In diesem historischen Rahmen, der den Wert der Ideen und die Bedeutung der Intellektuellen drastisch beschnitten hatte, brauchte man, um an die Macht zu kommen und »im Leben zu triumphieren«, nicht allzu viel formelle Erziehung und nicht einmal Fertigkeiten im Umgang mit Ideen. Unter diesem Gesichtspunkt war Bolivien ein Szenarium ohne soziale Anreize für die Pflege von Ideen und das Gedeihen des Intellektualismus. Eine andere Variable, die mit der mangelnden Popularität der Intellektuellen in Verbindung steht, ist der fast kämpferische Anti-Intellektualismus der bolivianischen Gesellschaft, sowohl ihrer Eliten wie ihrer volkstümlichen Schichten. Dieser Anti-Intellektualismus äußert sich in der Missachtung des Intellektes und der Geringschätzung derer, die darauf ausgerichtet sind, »für die Ideen zu leben« und einer dagegen relativ positiven Bewertung der Intellektuellen oder der Haltung derer, die bestrebt sind, »von den Ideen zu leben« oder die Probleme auf praktische Weise zu lösen.1 1 Zu dieser Interpretation des Anti-Intellektualismus siehe die hervorragende Arbeit von HOFSTADTER, Richard: Anti-intelecualismo en la vida norteamericana, Madrid, 1969, vor allem Kapitel II.

Intellektuelle und Politik in Bolivien | 133 Die bolivianische Gesellschaft honoriert die Arbeit derer nicht, die sich kritischem Denken, schöpferischer Tätigkeit, der Betrachtung und Spekulation widmen; sie schätzt diejenigen nicht, die »für die Ideen leben.« Die Lebensform, die intellektuelle Tätigkeit beinhaltet und sich in der fast religiösen Hingabe an die Ideen zeigt, wird nicht als eine für die Gesellschaft wichtige Aktivität angesehen oder geachtet. Wenn man in Bolivien irgendeinen Respekt für Personen aufbringt, die sich Ideen widmen, dann für jene, die praktische Probleme zu lösen verstehen, für geistige Arbeiter oder jene, die von den Ideen leben und beruflicher Routine nachgehen. Einer der am meisten geschätzten Routineberufe ist der des Rechtsanwaltes, einem der besten Verkäufer von geistigen Fähigkeiten, einer vom Volk wegen seiner Fähigkeit, Streitigkeiten beizulegen, bewunderten Person, deren intellektuelle Ambitionen nicht über den Umgang mit Gesetzbüchern und juristische Verfahren hinausreichen. Die Rückständigkeit und die beträchtlichen materiellen Beschränkungen des Landes scheinen die Bolivianer dazu zu prädestinieren, eine vorrangig pragmatische (anti-intellektuelle) Beziehung zu den Ideen und den wissenschaftlichen Disziplinen zu unterhalten. Diese Tendenz hat sich mit dem Zusammenbruch der zentralen Ideologien, die Jean-François Lyotard die großen Erzählungen nennt, und mit dem Eindringen der Kommunikationsmedien und ihren Informationen in den öffentlichen Raum noch zusätzlich verstärkt. Dieser Anti-Intellektualismus hat sich selbst in den akademischen Zentren breitgemacht. Einer der Beweise für die Präsenz dieser anti-intellektuellen Haltung in den Kreisen, die für die Verbreitung der Ideen zuständig sind, ist das Fehlen von Bemühungen oder Forschungsprogrammen, die über das Niveau der rein pragmatischen Kenntnis dieser Disziplinen hinausgingen. Philosophie und Erkenntnistheorie werden innerhalb der Politischen Wissenschaften und der Soziologie nicht behandelt, vom Rechtswesen ganz zu schweigen.2 Diese pragmatische Ausrichtung trägt mit zu der Rückständigkeit der gesellschaftswissenschaftlichen Studien in Bolivien bei und hemmt von vornherein jegliche kreativen und kritischen Anstrengungen. In diesem für die Entwicklung von Ideen und der sozialen Anerkennung der Intellektuellen wenig geeigneten Atmosphäre entstand in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Form der Beziehung zwischen den Intellektuellen und der Politik, die wir als revolutionäres Modell bezeichnen wollen. Dieses Modell beruhte auf einer engen Verbindung zwischen Ideen und politischer Aktion, zwischen einem Teil der

2 Das Fehlen von Überlegungen, die über die rein pragmatische Kenntnis der Disziplinen hinausgehen, wird vor allem im Rechtswesen sehr deutlich. In Ländern mit ähnlichen materiellen Beschränkungen wie Bolivien, so beispielsweise im Falle Perus, ist der Horizont in der Disziplin des Rechtswesens wesentlich weiter gesteckt. In Bolivien dagegen sind keine Voraussetzungen gegeben, Bereiche zu erforschen, die außerhalb der Gesetzbücher und des rechtlichen Vorgehens liegen. Diese erkenntnistheoretische Rückständigkeit im bolivianischen Rechtswesen ist die Folge des Anti-Intellektualismus, der in der Gesellschaft herrscht. Siehe hierzu ZAMORANO, Omar Chávez: »El conocimiento pragmático del Derecho«, in: La Gaceta Jurídica, La Razón (La Paz), Juli 2002.

134 | Omar Chávez Zamorano Intellektuellen des Landes und der Politik. Es war dies vielleicht die einzige dauerhafte Beziehung zwischen Intellektuellen und Politik, die sich in Bolivien entwickelt hat.

»Ohne revolutionäre Theorie gibt es keine revolutionäre Praxis« Das revolutionäre Modell der Beziehungen zwischen den Intellektuellen und der Politik war seit den 1940er Jahren gültig, als in Bolivien politische Parteien der Linken entstanden, organisiert von Intellektuellen, die sich mit den verschiedenen Strömungen des Marxismus und des Trotzkismus sowie des sowjetischen Marxismus identifizierten. Diese Organisationen entstanden aus ideologischen Abspaltungen. Bis damals, das heißt, über hundert Jahre unserer Geschichte lang, hatten die Ideen nur eine schwache Präsenz und geringen Einfluss in der Politik des Landes. Während der ersten sechs Jahrzehnte der Existenz des bolivianischen Staates setzte sich der Gebrauch der Waffen gegenüber dem Gebrauch des Wortes durch, ebenso die Vorherrschaft der Militärs gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft und die militärische Organisation gegenüber dem Parlament und der gerade entstehenden öffentlichen Meinung. In dieser ersten Etappe der bolivianischen Nation zwischen 1825 und 1880 galt die Politik als eine »unbewusste« Tätigkeit, »denn sie ist eine blinde, praktische Kunst ohne Doktrin, Ausdruck einer skrupellosen und individualistischen Tollkühnheit der Macht. Sie besitzt weder verstandesmäßigen noch sozialen Inhalt.«3 Im Jahr 1880 schließt sich der Zyklus der politischen Vorherrschaft der Militärs über die bürgerliche Gesellschaft. Dies ermöglichte einen gewissen Einfluss der Ideen (und der »Männer der Ideen«) auf die Politik. Das Parlament und die parlamentarischen Debatten gewannen an Bedeutung. Das Entstehen von Parteien und einem rudimentären Parteiensystem auf der Grundlage programmatischer Elemente sind empirische Beweise für den Wert, den die Ideen im Bereich der Politik erlangt hatten. Der wichtigste Beweis für den Einfluss der Ideen in der Politik war die dauerhafte Gültigkeit des konstitutionellen Systems (der Worte in Form von Gesetzen) über ein halbes Jahrhundert hinweg. Die Bedeutung der Ideen in der Politik wurde jedoch gestärkt mit der Einbeziehung des sozialistischen Gedankengutes durch die entstehenden Bürgerbewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Verbindung zwischen diesen Bewegungen und den sozialistischen Ideen wird ab den 1920er und 1930er Jahren deutlich, als Mittelstand und populäre Schichten mit der Schaffung von »Kulturzentren« kulturelle Aktivitäten ins Leben riefen, »deren Ziel es war, modernes Gedankengut und neu ins Land gekommene Ideen vor allem im politischen Bereich bekannt zu machen.«4 In diesem Rahmen wurden Ideen des sozialistischen Marxismus und des Anarchismus unter den Arbeitern und Handwerkern verbreitet. Diese Arbeit übernah3 ANAYA, Mario Rolón: Política y partidos políticos en Bolivia, La Paz, 1966, S. 125. 4 LORINI, Irma: El movimiento socialista »embrionario« en Bolivia 1920-1939, La Paz, 1994, S. 96.

Intellektuelle und Politik in Bolivien | 135 men intellektuelle Kreise, die sich in Organisationen wie dem Arbeiter-Kulturzentrum »Despertar« (Erwachen), der anarchistischen Gruppe »Redención« (Erlösung) und den Gruppen »La Antorcha« (Die Fackel), »Sembrando Ideas« (Ideen säen), »Brazo y Cerebro« (Arm und Gehirn)« zusammengetan hatten.5 Innerhalb dieses Prozesses der Verbindung zwischen Ideen und politischer Aktion der volkstümlichen Schichten entsteht eine Arbeiterpresse unter den Namen »Bandera Roja« (Rote Fahne), »La Opinión Obrera« (Arbeitermeinung), »El Ideal Obrero« (Das ArbeiterIdeal), »Aurora Social« (Soziale Morgenröte), »Tierra y Libertad« (Land und Freiheit), etc. Und es bilden sich Studien- und Diskussionszirkel, in denen Werke sozialistischen und anarchistischen Gedankengutes behandelt werden. Somit steht die politische Aktion in engem Kontakt mit den Ideen. Die Akteure der politischen Aktivität bedienen sich der Ideen, Pamphlete und Bücher, um die Bedeutung des politischen Kampfes zu illustrieren. Das Dogma des Leninismus beginnt sich herauszubilden: »Ohne revolutionäre Theorie gibt es keine revolutionäre Praxis.«6 Die Entwicklung dieser engen Verbindung zwischen Ideen und Politik förderte das Aufkommen von revolutionären Parteien während der 1940er Jahre. Es entstanden die Partido Obrero Revolucionario (Revolutionäre Arbeiterpartei) und die Partido de la Izquierda Revolucionaria (Partei der Revolutionären Linken). Diese Organisationen bildeten sich in erster Linie um einen Kern von Intellektuellen, und ihre wichtigsten Tätigkeiten waren die Produktion von Ideen und Visionen, die Verbreitung von ideologischen Prinzipien und Vorschlägen sowie deren Diskussion. Es waren Organisationen, die von Intellektuellen gegründet und angeführt wurden, die ihre politische Identität aus der ideologischen Aktivität bezogen. Dieses Verhältnis zwischen Ideen und Politik wurde gestärkt durch das Entstehen von nationalistischen Parteien wie dem Movimiento Nacionalista Revolucionario (Revolutionären Nationalistischen Bewegung), die von anerkannten Intellektuellen wie Carlos Montenegro, dem Autor von Nacionalismo y Coloniaje, Walter Guevara Arce und Augusto Céspedes (Verfasser eines interessanten revisionistischen Werkes über die nationale Geschichte aus nationalistischer Sicht) gegründet wurden. Ebenso wie die Parteien der marxistischen Linken entstanden nationalistische Parteien aus der äußerst engen Beziehung zwischen Ideen und Politik und aus der Verschmelzung der Produktion von Ideen und der Parteienführung. In einigen Fällen waren die Anführer der Parteien identisch mit deren Theoretikern.7 5 Siehe LORINI, op. cit. 6 Die Vorstellung, dass politisches Handeln ohne die Entwicklung von Ideen nicht möglich sei, war unter den politischen Bewegungen der Linken sehr stark verwurzelt. Guillermo Lora, Theoretiker und Anführer des bolivianischen Trotzkismus, hat sein gesamtes Werk in 60 Bänden von jeweils 800 Seiten veröffentlicht; darin eifert er Lenin nach und legt Zeugnis ab vom Wert, den er den Ideen im politischen Handeln beimisst. 7 Es ist interessant, festzustellen, dass einer der Gründe, der zur ständigen Konfrontation zwischen den Parteien der marxistischen Linken und den nationalistischen Parteien führte, das Aufeinanderstoßen von strategischen Visionen über Bolivien war. Diese Debatten sind enthalten in Büchern, Broschüren, Pamphleten und Zeitungsartikeln, die heute Bestandteil des kulturellen Erbes Boliviens sind.

136 | Omar Chávez Zamorano Die soeben geschilderte enge Verbindung zwischen Ideen und politischer Aktion trug zwar zum Entstehen einer für die Neubewertung der Ideen und der Intellektuellen günstigen Atmosphäre bei, sie bewirkte aber auch die Unterordnung der intellektuellen Aktivität unter das politische Handeln. Die intellektuelle Entwicklung und das soziale Denken jener Epoche der bolivianischen Geschichte sind entscheidend von den Erfordernissen der Politik beeinflusst. Ein großer Teil der Intellektuellen jener Zeit waren Männer der Ideen, die bei ihren intellektuellen Aktivitäten keine Autonomie genossen. Ihre Arbeit war angepasst an die Bedürfnisse der oppositionellen Sektoren der Gesellschaft, vor allem des Bergbauproletariats, jener Klasse, welche die politische Geschichte Boliviens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts tief geprägt hat. In diesem Sinne ist die intellektuelle Arbeit eine fremdbestimmte Tätigkeit: die Intellektuellen formulieren und entwickeln die Fragen und Hypothesen, welche aus den sozialen Bewegungen hervorgehen. Die intellektuell Tätigen suchen die Fragen im Impuls der Geschichte der sozialen Bewegung. »Hier ist der Impuls der Geschichte stärker als die reine Kontemplation. Die Faszination, die vom Schauspiel des realen Lebens der Menschen ausgeht, ist die Grundlage für die Existenz der Intellektuellen […] Die Hypothesen erwachsen aus der gesellschaftlichen Praxis, und durch die gesellschaftliche Praxis wird die entsprechende theoretische Ausarbeitung bestätigt werden müssen.«8 René Zavaleta Mercado hat erst das Bewusstsein für diese Unterordnung der Intellektuellen im Zusammenhang mit den sozialen Bewegungen geweckt. Es ist eine erkenntnistheoretische Unterordnung, denn durch sie werden nicht nur die Möglichkeiten intellektueller Schöpfung definiert, sondern auch die Grundlagen dafür geschaffen, die Gesellschaft zu kennen und Sozialwissenschaften zu betreiben. Aus dieser Interpretation von Zavaleta lässt sich die These ableiten, dass in Gesellschaften, wie z.B. der bolivianischen, die durch eine strukturell-wirtschaftliche Rückständigkeit gekennzeichnet sind, diese erkenntnistheoretische Unterordnung nicht zu verhindern ist. Wir wollen diese These weiterentwickeln, mit der nicht nur die wichtigsten Merkmale des revolutionären Modells der Beziehungen zwischen Intellektuellen und Politik beschrieben, sondern auch das gegenwärtige Panorama der Intellektuellen und der Politik sowie der Ideen in Bolivien erklärt werden können.

8 MERCADO, René Zavaleta: »Problemas de la cultura, la clase obrera y los intelectuales«, in: Escritos sociológicos y políticos, Cochabamba, 1986, S. 113. Dieser Text wurde auch veröffentlicht in: Verschiedene Autoren: Cultura y creación intelectual en América Latina, México 1984.

Intellektuelle und Politik in Bolivien | 137 Die erkenntnistheoretische Unterordnung der Intellektuellen Nach René Zavaleta Mercado gibt es zwei Typen von Intellektuellen, »die Intellektuellen der Ordnung und die Intellektuellen der Verneinung der Ordnung. Die ersten, unabhängig von ihrem geistigen Niveau als Intellektuelle, sind keine wahren Intellektuellen, denn ihre Rolle besteht darin, über Dinge auf eine Art und Weise zu diskutieren, wie normale Bürger nicht diskutieren würden.«9 Diese Neigung, Dinge zu diskutieren, die Zavaleta als das Hauptmerkmal des Intellektuellen bezeichnet, ist die typische Haltung dessen, der »für die Ideen lebt« oder sich diesen mit fast religiöser Hingabe widmet. Nach diesem Verständnis muss der Intellektuelle ein kritisches Individuum par excellence sein. Der Intellektuelle dagegen, der »von den Ideen lebt« oder seine geistigen Fähigkeiten verkauft wie jemand, der berufliche Routine als Rechtsanwalt, öffentlicher Angestellter oder Berater etc. entwickelt hat, kann nicht kritisch sein, da er einem anderen dient. Es ist nicht seine Aufgabe, die Welt zu diskutieren, sondern ihr zu dienen. Dieser Intellektuelle ist »ein gemieteter geistiger Fachmann, der seinen Verstand dazu einsetzt, gewisse außerhalb seiner Person liegenden Ziele zu erreichen.« Er ist ein normaler Mensch, der »an der Verschleierung der Dinge, nicht an ihrer Aufklärung« arbeitet. Dinge zu diskutieren ist Zavaleta Mercado zufolge also eine Fähigkeit, die nur jene besitzen, die die Strukturen der bestehenden Ordnung hinterfragen, und zwar gestützt auf die Zweifel jener klassenkämpferisch und klassenspalterisch gesonnenen Personen. Unter dieser speziellen Perspektive ist die kritische Haltung bestimmt von Faktoren, die außerhalb des Individuums selbst liegen. In Bolivien wurde die Infragestellung der Ordnungsstrukturen in Gang gesetzt von Personen, die zu einer klassenkämpferischen Schicht par excellence gehörten, den Minenarbeitern. Die Geschichte Boliviens seit den 1940er Jahren war tatsächlich die Geschichte des ständigen Zweikampfes zwischen den Bergarbeitern und dem Militär. Die Opposition der bolivianischen Bergleute gegenüber dem Staat war entschieden und dauerhaft. Sie entwickelten die Fähigkeit, den Staat lahm zu legen, seine Organisation zu unterlaufen und seine Initiativen zu vereiteln, sie verfochten einen Radikalismus wie kein anderer Berufssektor. So »verursachten sie eine Brutalisierung des Staates und waren mit daran schuld, dass die Zivilbevölkerung wie die Militärs keine moralische Stütze mehr hatten.«10 Zavaleta stellte eine enge Verbindung her zwischen dem intellektuellen Schaffen und den Aktionen dieses klassenkämpferischen Individuums, Aktivitäten, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Männer der Ideen in Bolivien lange Zeit faszinierten. Zavaleta, der sich vom revolutionären Nationalismus schließlich dem Marxismus zuwandte, verband dieses intellektuelle Schaffen mit dem »Horizont der Sichtbarkeit«, den dieser klassenkämpferische Sektor in einer Gesellschaft geöffnet 9 Ebda. 10 Zu dieser Rolle der bolivianischen Bergarbeiter im 20. Jahrhundert siehe: ZAVALETA, René Mercado: »Forma clase y forma multitud en el proletariado minero de Bolivia«, in: ZAVALATA, René Mercado (Hrsg.): Bolivia, hoy, Mexiko, 1983. Siehe auch: DUNKERLEY, James: Rebelión en las venas, La Paz, 1988.

138 | Omar Chávez Zamorano hatte, die keine andere Methode der Erkenntnis besaß als die politische Krise. Deshalb, so Zavaleta, sind die Fähigkeit, Dinge zu diskutieren, intellektuell tätig zu werden und Gesellschaftswissenschaften zu betreiben, von den Aktionen der gesellschaftlichen Person des Minenarbeiters abhängig. Wir wollen nun die Beziehung zwischen der Produktion gesellschaftlichen Wissens und den Aktionen dieses gesellschaftlichen Individuums näher betrachten, eine Beziehung, die einen der Grundgedanken der These umreißt, die von der erkenntnistheoretischen Unterwerfung der Intellektuellen gegenüber den sozialen Bewegungen ausgeht. Nach Meinung von René Zavaleta sind die Gesellschaften erst dann zu erkennen und wahrzunehmen, wenn sie total geworden sind, das heißt, mit dem Kapitalismus. »Die Gesellschaft«, so Zavaleta, »kann man erst dann wirklich kennenlernen, wenn sie allumfassend, total geworden ist, das heißt, wenn alles in Abhängigkeit von den anderen geschieht, wenn letztlich jeder für jeden produziert und keiner für sich selbst.« Die Totalisierung der Gesellschaft ist die Voraussetzung dafür, dass sie als System wahrgenommen werden kann. Dies wird erst möglich mit dem Entstehen des Kapitalismus, denn die Totalisierung der gesellschaftlichen Beziehungen vollzieht sich zum ersten Mal, als der Kapitalismus aufkommt, eine historische Größe, die ein soziales Gebilde in Abhängigkeit vom Wert definiert.11 Diese Entwicklung steht in Zusammenhang mit dem Gebrauchswert. Die Gesellschaft ist erst in dem Moment total geworden – man kann sogar sagen, dass sie sich erst dann als Gesellschaft konstituiert –, wenn der Wert als »gesellschaftliche Synthese« angesehen wird (Habermas), als »Bindeglied der gesamten Gesellschaft.« Es handelt sich um eine vom Kapitalismus betriebene Totalisierung der Gesellschaft. »Die Totalisierung, und das muss gesagt werden, ist etwas, das es noch nie zuvor gegeben hat.«12 Folgt man diesen Überlegungen, so kann man feststellen, dass der Kapitalismus eine Gesellschaftsform ist, in der sich die sozialen Beziehungen generalisiert haben. Dieses Merkmal ist einzigartig. Marx schrieb, dass »die alten gesellschaftlichen Produktionsformen unendlich viel einfacher und durchsichtiger waren als die der bürgerlichen Organisationen«; sie beruhten »entweder auf der Unreife des Individuums, das sich noch nicht von der Nabelschnur der natürlichen Bande seiner Art mit anderen Menschen gelöst hatte, oder auf direkten Beziehungen von Herrschaft und Sklaventum.«13 Im Kapitalismus haben die gesellschaftlichen Beziehungen einen hohen Entwicklungsstand erreicht. Die Gesellschaft hat sich formiert, sie bietet einen »Horizont der Sichtbarkeit« und kann erstmals als solche erkannt werden. Die Voraussetzungen für die Entstehung der Sozialwissenschaften sind gegeben. Dieser »Horizont der Sichtbarkeit« kann nur vom Proletariat genutzt werden. 11 Siehe hierzu: ZAMORANO, Omar Chávez: »Problemas del conocimiento de una sociedad abigarrada«, in: Temas sociales. Revista de la carrera de sociología, Nr. 12 und 13, La Paz, 1988. 12 MERCADO, René Zavaleta: Lo nacional y popular en Bolivia, Mexiko, 1986. 13 Zitiert in ZAMORANO, Omar Chávez: Problemas del conocimiento de una formación social abigarrada, op. cit., S. 283.

Intellektuelle und Politik in Bolivien | 139 Georg Lukács sagt in seinem Werk »Geschichte und Klassenbewusstsein« dazu, dass »der Gesichtspunkt der Totalität als Subjekt in der modernen Gesellschaft nur von den Klassen repräsentiert wird«, vom Proletariat, »denn für das Proletariat ist es lebensnotwendig, ist es eine Frage von Leben oder Tod, über die Klassensituation absolute Klarheit zu besitzen; denn gerade für die Aktionen des Proletariats ist diese Kenntnis eine unerlässliche Voraussetzung; und genau aus diesem Grunde sind mit dem historischen Materialismus die Doktrin von den Bedingungen für die Befreiung des Proletariats und die Doktrin von der Realität des Gesamtprozesses der sozialen Entwicklung entstanden.« Die Kenntnis der gesellschaftlichen Gesamtheit und ihrer Entwicklung kann nur vom Proletariat aus geschehen, der »ersten universellen Klasse der Geschichte.« Wenn die Totalisierung der Gesellschaft durch den Kapitalismus nun die Voraussetzungen für die Entstehung sozialen Wissens schafft, was geschieht dann, wenn ein gesellschaftliches Gebilde keine internen Bindeglieder besitzt und nicht totalisiert ist, das heißt, wenn es sich im Rückstand gegenüber dem Kapitalismus befindet wie im Falle Boliviens? Diese Arten von Strukturen, die Zavaleta »buntscheckige«, gemischte soziale Gebilde genannt hat, besitzen ihre eigenen Merkmale. Zunächst ist die wirtschaftliche Grundlage nicht einheitlich oder totalisiert. Der Kapitalismus hat sich in den einzelnen Sektoren unterschiedlich durchgesetzt, er hat sie weder totalisiert noch vereinheitlicht. Dem Kapitalismus ist es nicht gelungen, seine historische Zeit einzuführen; nichtkapitalistische Strukturen (indigene Gemeinschaften, andine Landwirtschaftsformen usw.) bestehen weiter als eine »BasisSparsamkeit«, die sich nach ihrer eigenen historischen Zeit richten und die Ausbreitung des Kapitalismus oder der erweiterten Reproduktion behindern. Zweitens bewegt sich die Gesellschaft nach dem Gesetz der Zufälligkeit. Damit wollen wir sagen, dass sich die Gesellschaft nach der politischen oder staatlichen Zeit entwickelt, das heißt unregelmäßig, denn die Regelmäßigkeit der Basis ist nur schwach ausgeprägt. Die Gesellschaft findet ihre Einheit oder ihre Verschmelzung in der staatlichen Zeit, in der Politik, in der Krise. Dieses vom Kapitalismus nicht totalisierte oder vereinheitlichte Gebilde entbehrt deshalb nicht eines »Horizontes der Sichtbarkeit«. Dieser Horizont ist vorhanden auf Grund der politischen Krise, »dem schicksalhaften Verschmelzen der Gesellschaft.« Zavaleta schreibt, »ebenso wie sich die Individuen im Hinblick auf den Zielpunkt ihres Lebens – den natürlichen Tod – verhalten, einer so einschneidenden und unausweichlichen Tatsache, der gegenüber sie nur das sein können, was sie wirklich sind, so verhalten sich die Gesellschaften in Anbetracht ihres Zusammenbruchs als das, was sie tatsächlich sind.« Das bedeutet, die Krise bewirkt das, was die Gesellschaft von ihrer Basis aus nicht erreicht hat, zu totalisieren. Die Krise »ist also ein Moment, zu dem die Gesellschaft voll in Erscheinung tritt.« Die politische Krise öffnet einen »Horizont der Sichtbarkeit« angesichts eines »buntscheckigen« gesellschaftlichen Gebildes. Dieser Horizont kann nur von dem politisch am weitesten fortgeschrittenen Sektor der Gesellschaft wahrgenommen werden, dem Bergarbeiter-Proletariat, der klassenkämpferisch und hinsichtlich der Klassentrennung am unversöhnlichsten auftretenden Schicht der politischen Geschichte Boliviens. Deshalb, so schrieb Zavaleta, ist

140 | Omar Chávez Zamorano es »in diesem Zusammenhang völlig klar, dass der wichtigste soziologische Beitrag der bolivianischen Arbeiterbewegung das Studium der allgemeinen nationalen Krise ist, und zwar als Methode zur Kenntnis eines bunt-gemischten wirtschaftlich-sozialen Gebildes.« Es besteht kein Zweifel daran, dass diese Ideen zum sozialen Wissen innerhalb des Rahmens der Philosophie der Sozialwissenschaften eine einzigartige Interpretation darstellen. Bei dem bescheidenen Reflexionsniveau, das in Bolivien herrscht, sind dies vielleicht die einzigen Ideen, die zu den Voraussetzungen des gesellschaftlichen Wissens überhaupt vorgebracht wurden. Nach den im Werk von René Zavaleta14 dargelegten Ideen sind intellektuelle Schöpfung und Kritik nur möglich, wenn sie mit der Infragestellung der strukturellen Ordnung durch das Bergbauproletariat zusammentreffen. Und die Kenntnis oder die Entstehung von Sozialwissenschaft ist nur möglich unter Nutzung des »Horizontes der Sichtbarkeit«, den die politische Krise geöffnet hat und dessen wichtigster Faktor das klassenkämpferische Individuum ist. Diese von René Zavaleta Mercado entwickelten Ideen stimmen weitgehend überein mit den Merkmalen des revolutionären Modells der Beziehungen zwischen den Intellektuellen und der Politik, wie sie seit den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts in Bolivien gültig waren, als das Bergbauproletariat auf der politischen Bühne des Landes erschien, die Nationale Revolution von 1952 möglich machte und zum Angelpunkt für die klassenkämpferischen Tendenzen der bürgerlichen Gesellschaft dem autoritären Staat gegenüber wurde. Das revolutionäre Modell, das auf der erkenntnistheoretischen Unterordnung des intellektuellen Schaffens, der Kritik und der Produktion von Wissen gegenüber den Aktionen des Bergbauproletariats beruhte, spiegelt im großen und ganzen die Art der Beziehungen zwischen Intellektuellen und der Politik wider, wie sie damals beschaffen waren. Ihre wichtigsten Kennzeichen sind: a) Die enge Beziehung zwischen Ideen und Politik Die Produktion von Ideen wird angeregt und bestimmt von den politischen Aktionen und Prozessen, die in der Gesellschaft stattfinden: Das Handeln der Politiker wie des Bergarbeiterproletariats und der Militärs bestimmen die Interessen und Themen, die auf dem Gebiet der Ideen entwickelt werden.15 Es besteht ein enges Verhältnis zwischen Ideen und Politik: Die Ideen oder die Interpretation der Welt unterliegen der Praxis des Wandels der revolutionären politischen Individuen. 14 Zweifellos waren es die Ideen von René Zavaleta Mercado, die am meisten debattiert und analysiert wurden. Sein Werk war Grundlage verschiedener Forschungsarbeiten und wissenschaftlicher Betrachtungen. Eine der wichtigsten Studien aus dem Erbe Zavaletas ist die Doktorarbeit von TAPIA, Luis, die als Buch veröffentlicht wurde mit dem Titel: La producción del conocimiento local. Historia y política en la obra de René Zavaleta Mercado, La Paz, 2002. 15 Dies trifft natürlich nicht einzig und allein auf Bolivien zu. Die intellektuelle Produktion der 1950er, 1960er und 1970er Jahre in Lateinamerika war von dieser Orientierung geprägt. Die Dependenztheorien, die Debatten über den Staat und die gesellschaftlichen Bewegungen und die politischen Parteien sind einige Beispiele dafür.

Intellektuelle und Politik in Bolivien | 141 Anders als es in Bolivien im 19. Jahrhundert der Fall war, haben die Ideen in der Politik eine neuralgische Position. Die volkstümlichen Bewegungen verweigern sich dem Staat und bekämpfen ihn im Rahmen der großen Theorien des marxistischen Sozialismus, der Polarität von Ausgebeuteten und Ausbeutern, Unterdrückten und Unterdrückern, der Herrschaft der Völker oder des Imperialismus. Die konservativen Kräfte ihrerseits ebenso wie die Militärs bekämpfen dagegen die volkstümlichen Bewegungen, indem sie ihre Ideen und ihre Hinwendung zum Marxismus diskreditieren. Auf diese Weise ergibt sich eine virtuelle Einheit von Theorie (Ideen) und politischer Praxis, deren zentraler Vertreter das Bergarbeiterproletariat ist.16 Diese zentrale Rolle der Ideen in der politischen Aktivität wird auch in der Parteienzugehörigkeit offensichtlich. Diese war während der Militärregierungen und der autoritären Regime auf Untergrundaktionen beschränkt. Die einzigen Aktivitäten, die unter den Bedingungen des Untergrunds möglich waren, waren Verschwörung und Studium. Somit waren die Parteien im Grunde Organisationen, die sich aus Dutzenden kleiner Studiengruppen zusammensetzten, in denen man ausgiebig die Klassiker des Marxismus las. Innerhalb des revolutionären Modells war die Verbindung zwischen Ideen und Politik sehr eng und fest: Politik ist ohne Ideen nicht denkbar. Ausdruck dieser engen Verbindung ist das Bestreben, dass die revolutionäre politische Aktion geleitet wird von der wissenschaftlichen Interpretation der Wirklichkeit, welche der Marxismus liefert. b) Das »organische« Wesen der Intellektuellen In diesem Modell ist die Vorstellung vom bilderstürmerischen, isolierten und sich selbst verantwortlichen Intellektuellen nicht präsent oder sie wird mit den Begriffen reaktionär oder bourgeois gebrandmarkt. Die enge Beziehung zwischen den Ideen und der Politik macht die Verbindung zwischen intellektueller Aktivität und Politik fast unvermeidlich. Deshalb hat der Intellektuelle ohne politische oder parteiliche Identifizierung keine gesellschaftliche Bedeutung. Die Intellektuellen dagegen, die sich für den populären Kern der Konfrontation engagieren, jener Konfrontationen, die zu Spannungen in der Gesellschaft führen, genießen hohes soziales Ansehen, das es ihnen erlaubt, Einfluss in einigen Sektoren der Macht wie den Gewerkschaften, den Studenten und Teilen der Militärs auszuüben.17 16 Ein Beleg für die Bedeutung der Ideen in den politischen Auseinandersetzungen ist die Praxis der Gegenüberstellung politischer Thesen auf den Arbeiterkongressen. Hervorragendes Beispiel dafür aus dem Bereich der Gewerkschaften ist die Federación Sindical de Trabajadores Mineros de Bolivia (Gewerkschaftliche Vereinigung der Bergarbeiter Boliviens), deren Geschichte man als Geschichte der politischen Thesen interpretieren könnte, die in ihren Reihen vertreten und debattiert wurden. Unter den politischen Parteien ist die Bewegung der Revolutionären Linken zu erwähnen, deren politische Entwicklung in den Jahren von 1971 bis 1985 ebenfalls gekennzeichnet ist von der Konfrontation der Ideen. 17 Bezüglich des Einflusses der Intellektuellen auf militärische Kreise wurde darauf ver-

142 | Omar Chávez Zamorano Die Mechanismen, die diesen Einfluss der Intellektuellen befördern, sind die Lehrstühle an den Universitäten, Veröffentlichungen, politische Manifeste, ein Ministeramt oder das politische Engagement. Gesellschaftlich sind sie ein wichtiger Bestandteil im sozialen Geflecht und werden als die »Augen der Gesellschaft« wahrgenommen. c) Das große Prestige der Intellektuellen in den Parteien oder die Verschmelzung der Rolle des Intellektuellen mit der Parteiführung Die Beziehungen zwischen Intellektuellen und politischen Parteien im revolutionären Modell waren bestimmt von dem bereits beschriebenen engen Verhältnis zwischen Ideen und Politik. Diese enge Verbindung führte dazu, dass die politischen Parteien zum Instrument für die Formulierung übergreifender Themen wurden wie dem Aufbau der Nation, der Nationalen Befreiung, des Sozialismus, der Proletarischen Revolution etc. und dass sie sich zusammensetzten aus stark ideologisierten oder doktrinären Anhängern und Mitgliedern. Unter diesen Bedingungen verschmelzen die Rolle der Intellektuellen und die Rolle der Parteiführung. Eine der Voraussetzungen zur Erlangung eines Amtes in der Parteiführung ist die intellektuelle Fähigkeit oder das Hervorbringen von Ideen und programmatischen Vorschlägen. d) Die nicht-demokratischen Visionen der Intellektuellen Innerhalb des revolutionären Modells der Beziehungen zwischen Intellektuellen und Politik verfolgten die »Männer der Ideen« nicht-demokratische Visionen von der Politik. Der beherrschende Gedanke, der in den von ihnen produzierten Ideen ihren Ausdruck fand, beruht auf der Vorstellung vom politischen Feind oder der Polarität Freund-Feind. Diese Vorstellung geht von der Politik als einem Kampfplatz zweier verfeindeter Kräfte aus; das Ende des Kampfes ist die Auslöschung und Vernichtung einer der Kräfte durch die andere. Die Intellektuellen folgen den entstehenden perversen Tendenzen, die zu Spannungen in den Beziehungen zwischen den oppositionellen Bewegungen und dem autoritären Staat führen. In ihren Vorschlägen ist deshalb die Vision von der »kriegsfreundlichen Politik« stark vertreten. Die Intellektuellen unterstützten die kriegerischen Tendenzen der Politik statt sich auf deren Überzeugskraft zu berufen. Demokratische Sinngehalte und Werte wie Pluralismus und Toleranz wurden von ihnen weder entwickelt noch befördert. Die einzigen demokratischen Ideen, die sie aufgriffen, waren jene, wonach die Demokratie als Form zur »Selbstbestimmung der Masse« verstanden wurde, das heißt, als Form der Selbstherrschaft. Das revolutionäre Modell hatte Einfluss auf das höhere Erziehungswesen und die Aufnahme von Denkströmungen im Land, die in den Zentren kultureller Produktion weltweit entwickelt worden waren. Wir wollen einige Beispiele betrachten. wiesen, dass die Ideen des nationalistisch gesinnten Intellektuellen Sergio Almaraz im Denken der Präsidenten Alfredo Ovando Candia und Juan José Torres, die eine anti-imperialistische Politik verfolgten, ihren Widerhall fanden.

Intellektuelle und Politik in Bolivien | 143 1. Die absolute Vorherrschaft des methodologischen Kollektivismus in den gesellschaftlichen Studien. Die Studien, die während der Zeit des revolutionären Modells entstanden, zeigen die bolivianische Gesellschaft als ein Szenarium, das von mikroskopischen sozialen Wesen und Gruppen wie den Bergarbeitern, den Bauern, der Bourgeoisie, dem Imperialismus, den Militärs und dem Staat bevölkert, beziehungsweise beherrscht wird, die das gesamte gesellschaftliche, wirtschaftliche, politische und kulturelle Panorama abdecken. Die theoretischen Konzeptionen und die methodologischen Strategien, die sich auf die mikroskopische Dimension und die Aktivitäten der Individuen konzentrieren, fehlen oder werden in ihrer kognitiven Bedeutung unterbewertet. 2. Die Kraft der Idee, dass die Sozialwissenschaften wie die Soziologie, die Politischen Wissenschaften, Jura und die Wirtschaftswissenschaften sowie andere Disziplinen dazu dienen sollen, den revolutionären Weg der unteren Klassen zu beleuchten. Der Lehrstuhl an der Universität wird zum politischen Podium für Propaganda, und das Studium dieser Fächer verwandelt sich in politische Betätigung. Die Universitäten werden zu Szenarien des politischen Aktivismus und zur Geburtsstätte politischer Parteien. Die Gültigkeit des revolutionären Modells der Beziehungen zwischen Intellektuellen und Politik schuf Voraussetzungen, die für die intellektuelle Entwicklung ungünstig waren, weil dieses Modell den Marxismus zum einzigen Interpretationsansatz für gesellschaftliche und politische Tatbestände erklärte, womit die analytischen Möglichkeiten anderer Disziplinen wie der Soziologie und der funktionalistischen Politikwissenschaften ausgeschaltet wurden. Das revolutionäre Modell eröffnete jedoch auch günstige Möglichkeiten für die revolutionäre intellektuelle Produktion, weil es zu einer engen Beziehung zwischen Ideen und Politik führte und den »Männern der Ideen« Gelegenheiten bot, Einfluss in der Politik auszuüben; es verhalf den Intellektuellen zudem zu sozialer Anerkennung, wie sie sie nie zuvor genossen hatten. Unter ähnlichen Bedingungen haben die Intellektuellen in anderen lateinamerikanischen Ländern ein hohes Niveau in der Entwicklung der Ideen erreicht. In Bolivien war dies nicht der Fall. Die überlieferte intellektuelle Produktion beschränkt sich tatsächlich vor allem auf Werke von nationalistischen Denkern und Intellektuellen am Übergang zum Marxismus. Hervorzuheben sind die Werke von Sergio Almaraz, der eine politische Vision über die natürlichen Ressourcen des Landes wie Zinn und Öl, die imperialistische Präsenz im Land und das Verhalten der herrschenden Klassen entwickelte; diese analytische Linie wurde von Marcelo Quiroga Santa Cruz weiterverfolgt. Das wichtigste Werk stammt von René Zavaleta Mercado, der Arbeiten über die Entwicklung des Nationalbewusstseins vorlegte, brillante Studien über das Bergbauproletariat und theoretische Reflexionen über den Staat und die Abhängigkeit sowie die Beziehungen zwischen den gesellschaftlichen Bedingungen und der Produktion von Wissen. Die revolutionären Intellektuellen haben keine beachtenswerten Werke hervorgebracht. Ihre Arbeit beschränkte sich auf die Produktion von parteipolitischen Dokumenten von geringem analytischem Anspruch und ohne große Bedeutung. Ein

144 | Omar Chávez Zamorano Großteil dieser Arbeit fand vor allem im Rahmen der heute bereits vergessenen Konfrontation zwischen Stalinismus und Trotzkismus statt. Wenn wir auf die Idee Zavaletas vom »Horizont der Sichtbarkeit« zurückgreifen, der durch die Aktionen des bolivianischen Bergarbeiterproletariats eröffnet wurde, müssen wir feststellen, dass dieser Horizont von den progressiven bolivianischen Intellektuellen nur wenig genutzt wurde. Sie erwiesen sich als »cicateros cognoscitivos« (»Knauserer der Erkenntnisfähigkeit«) und Gefangene einer »parsimonia cognoscitiva« (»Sparsamkeit der Erkenntnisfähigkeit«). Das Bergarbeiterproletariat hatte erstmals Voraussetzungen für die Selbsterkenntnis der bolivianischen Gesellschaft geschaffen, aber die Intellektuellen legten eine erschreckende Unfähigkeit an den Tag, diese Gegebenheiten zu nutzen. Wie Zavaleta selbst schrieb, produzierten diese Intellektuellen nur »traurige Ideen«, sie folgten dem Bovarismus oder brachten nichts anderes zustande als einen »plumpen Abklatsch europäischer Modelle für amerikanische Notwendigkeiten« der konservativen Intellektuellen. Es besteht kein Zweifel daran, dass wir es mit einem offensichtlichen Unvermögen der revolutionären Intellektuellen zu tun haben, die nicht in der Lage waren, den Anti-Intellektualismus zu überwinden, der die Möglichkeiten zur Produktion von Ideen in Bolivien behindert. Streng genommen handelt es sich um die Unfähigkeit der gesellschaftlichen Mittelschicht, die sich in ihrer Ablehnung intellektueller Schöpfung und intellektueller Originalität unversöhnlich zeigt. Die bolivianischen Intellektuellen, die vornehmlich aus der Mittelschicht stammen, haben gezeigt, dass sie zutiefst unkritische Personen sind, die keinerlei Problembewusstsein der Realität gegenüber besitzen.18 Obwohl sie sich einer revolutionären Perspektive verschrieben hatten, waren sie nicht fähig, kritisch und kreativ zu wirken. Sie waren lediglich in der Lage, die Dogmen des Marxismus und des Leninismus in ihren elementarsten Stufen zu reproduzieren.19 Das revolutionäre Modell der Beziehungen zwischen Intellektuellen und Politik, das schon vor der Nationalen Revolution von 1952 gültig war, zerfiel in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts, als in Bolivien neoliberale Politiken 18 H.C.F. Mansilla hat die Aufmerksamkeit auf diese unkritische und naive Haltung der bolivianischen Intellektuellen gelenkt. Schon in den 1970er Jahren, als die Mehrheit der Intellektuellen sich aktiv dem Marxismus zugewandt hatte, stellte Mansilla den Optimismus dieser Bewegung in Frage, die »weder den prosaischen Charakter ihrer Anhänger besaß noch von den Schwierigkeiten des unerforschlichen Zufalls betroffen war.« Mansilla äußerte diese Zweifel bereits 15 Jahre vor dem Zusammenbruch des Sozialismus auf Grund der unerforschlichen Zufälligkeiten der Geschichte. Siehe hierzu: MANSILLA, H.C.F.: La limitación del conocimiento científico, La Paz, 1974. 19 Die Annäherung an das marxistische Denken in Bolivien war nicht sehr tiefschürfend wie die Theorie der Entfremdung und die Auffassung des Menschen bei Marx. Die Beiträge von Lukács, Herbert, Marcuse, Jürgen Habermas, Ernst Bloch usw. wurden von den Aktivisten der Linken nicht wahrgenommen oder waren ihnen ganz einfach unbekannt. Obwohl sie in den 1980er Jahren, als die revolutionären Intellektuellen bereits an Bedeutung verloren, in akademischen Kreisen Verbreitung fanden, wurden sie in ihren analytischen Möglichkeiten nicht genutzt.

Intellektuelle und Politik in Bolivien | 145 eingeführt wurden und die Zweifel an den Strukturen der herrschenden Ordnung an Intensität verloren.

Die neuen Beziehungen zwischen den Intellektuellen und der Politik Im Jahr 1985 begann ein Prozess, der die Beziehungen zwischen den Intellektuellen und der unter dem revolutionären Modell gültigen Politik tiefgehend veränderte. Diese Entwicklung setzte ein mit dem Verlust der zentralen Bedeutung der Bergarbeiter und der Entproletarisierung der bolivianischen Gesellschaft, beides Folgen der Anwendung der neoliberalen Politik und der Krise in der Zinnwirtschaft, die verursacht worden war durch den plötzlichen Verfall des Zinnpreises auf dem Weltmarkt. Die politisch zentrale Bedeutung der bolivianischen Bergarbeiter hatte ihren Höhepunkt erreicht, und dies bedeutete das Ende aller Legenden, die sich um ihre Person als Vertreter des Klassenkampfes gerankt hatten.20 Der Bergbau verfiel, und die Städte der Minenarbeiter entvölkerten sich. Die ehemaligen Bergarbeiter fügten sich in andere gesellschaftliche Kategorien ein, wie die der Straßenhändler und Koka-Bauern. Die Arbeitergewerkschaften waren geschwächt und besaßen nicht mehr den politischen Einfluss, den sie während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehabt hatten. Die bürgerliche Gesellschaft hatte nicht mehr die Kraft, Initiativen des Staates zu verhindern und seine Ordnung zu stören. Diese Umstände trugen sowohl zur Festigung der Parteien-Demokratie bei wie zur Stabilisierung der auf der Grundlage der politischen Repräsentation basierenden Politik, die sich auf diese Organisationen stützte. Die politischen Parteien übernahmen allmählich die Vermittlerfunktion, die die Arbeitergewerkschaften innegehabt hatten. Die staatliche Politik wandte sich ab von der Kriegslogik und verfolgte eine Strategie, die auf Überzeugung und Verhandlung beruhte. Unter diesen veränderten Umständen verloren die revolutionären Intellektuellen an Prestige und Einfluss, da das Hinterfragen der gesellschaftlichen Strukturen und der »Horizont der Sichtbarkeit«, den die Bergarbeiter eröffnet hatten, sich erschöpft beziehungsweise keine Bedeutung mehr hatte. Die Auflösung der Bergarbeiterschaft als kämpferische soziale Klasse mit ihrer ausgeprägten Fähigkeit, sich dem Staat entgegen zu stellen, führte bei den revolutionären Intellektuellen zu einem Zustand der Verblüffung, da sie auf einmal spürten, dass die »unerforschliche Zufälligkeit der Geschichte« ihre tiefsten und liebsten Gewissheiten radikal in Frage stellte. In diese Zeit fiel der Tod von zwei großen progressiven Intellektuellen: Marcelo Quiroga Santa Cruz war 1980 von den Militärs ermordet worden, die auf eine vorsichtige demokratische Öffnung mit einem Staats20 Der Minenarbeiter als gesellschaftliche Figur verlor nicht nur wegen äußerer und objektiver Umstände, wie der Krise des Zinn, an Bedeutung, sondern auch wegen subjektiver Faktoren: die Minenarbeiter sahen sich nicht mehr in ihrer traditionellen Rolle, das heißt als Mittelpunkt der Gesellschaft, sie verloren die Furchtlosigkeit, die sie dem Staat gegenüber immer besessen hatten.

146 | Omar Chávez Zamorano streich reagiert hatten, und Ende 1984 starb René Zavaleta Mercado. Der Tod dieser beiden Männer hinterließ eine tiefe Lücke unter den fortschritlichen Intellektuellen. Einige Intellektuelle zogen sich aus dem öffentlichen Leben zurück und widmeten sich privaten Tätigkeiten, andere standen weiterhin politischen Organisationen der Linken nahe, waren aber isoliert von den entscheidenden politischen Ereignissen des Landes. Ein wichtiger Teil der Intellektuellen, die während des Exils in den 1970er Jahren an ausländischen Universitäten studiert hatten, passte sich den neuen Gegebenheiten an, indem sie sich gänzlich von ihren früheren Wertvorstellungen und politischen Überzeugungen abwandten. Diese Intellektuellen sprachen nun weder von Revolution, von Imperialismus oder Proletariat noch von der kapitalistischen Ausbeutung usw. Jene, die einst genaue Kenner von »Das Kapital« und Spezialisten für die Analyse der imperialistischen Weltwirtschaft oder Ideologen und Theoretiker der Kommunistischen Partei und anderer Linksparteien gewesen waren, begannen nun, eine bis dahin unbekannte Terminologie zu verwenden mit Begriffen wie: repräsentative Demokratie, politisches System, Wahlsystem, demokratische Institutionalität, politische Kultur usw. Sie wurden zu politischen Analysten, schafften den Sprung von der Parteipresse und der Redaktion politischer Pamphlete zu den Massenmedien, wurden Berater und Assistenten bei Wahlkampagnen und Nutznießer der internationalen Zusammenarbeit bei der Förderung von gesellschaftswissenschaftlichen Studien. Diese Intellektuellen verloren das Interesse, in Gewerkschaften oder der Studentenbewegung an den Universitäten bekannt zu werden; sie waren vielmehr darum bemüht, sich in den Parteien des Systems und den oberen Gesellschaftsschichten hervorzutun und schlossen sich zu kleinen korporativen Gruppen zusammen. Diese Intellektuellen, die zunächst die geltende Ordnung in Frage gestellt hatten und schließlich zu deren Dienern wurden, banalisierten damit sowohl ihre eigene Geschichte wie auch die der Parteien der Linken, die zu Parteien der herrschenden Ordnung konvertierten. Sie liefen von der Seite der Revolutionäre auf die Seite der geltenden Ordnung über, ohne über ihre Vergangenheit Rechenschaft abzulegen und ohne ihre Haltung der Gesellschaft gegenüber zu erklären. Mit der gleichen Leichtigkeit, mit der sie sich der marxistischen Hoffnung hingegeben hatten, glaubten sie nun an die Versprechungen der Demokratie. Mit einem Federstrich löschten sie ihre eigene Vergangenheit aus, womit sie eine tiefgehende Verantwortungslosigkeit vor sich selbst wie auch vor der Gemeinschaft bewiesen. In diesem Szenarium allgemeiner Ablehnung der Diktatur und der persönlichen Äußerungen dieser Feindschaft, wie sie sich nach 1982 zeigten, als die Militärs in ihre Kasernen zurückkehrten und Zivilisten die Macht übernahmen, verzichteten diese Intellektuellen implizit auf eine kohärente Erklärung der vom Autoritarismus gekennzeichneten Geschichte des Landes und machten sich die banalen Vorstellungen zu eigen, die das Gros der Bevölkerung von dieser Geschichte hatte. Seltsamerweise begnügten sich die Intellektuellen damit, die Rolle des erlösten Opfers mit jenen gesellschaftlichen Sektoren zu teilen, die unter der Diktatur gelitten hatten. Sie bemühten sich gewissenhaft, die seelenlosen Unterdrücker und Übeltäter moralisch zu verurteilen, lieferten aber keine rationale Reflexion oder theoretische Erklärung für diese Vergangenheit; sie reduzierten die Geschichte auf eine Abfolge

Intellektuelle und Politik in Bolivien | 147 von Handlungen einzelner perverser Individuen. Mit dieser rein verurteilenden Betrachtung der Vergangenheit unterschlugen sie wichtige Tatsachen, wie zum Beispiel die Verantwortung der politischen und gesellschaftlichen Elite für das Aufkommen von Diktaturen; sie verzichteten auf eine Analyse der sozio-politischen und kulturellideologischen Gründe für diese Diktaturen. Diese Absage an eine kritische Reflexion über die Geschichte kam von jenen Intellektuellen der Linken, die einst verkündet hatten, die Garantie für den Erfolg ihrer politischen Strategien liege in der historischen Analyse. Diese Haltung zeigte, dass die Intellektuellen eine abrupte Wendung vom Radikalismus der Linken hin zu demokratischen Positionen vollzogen hatten. Wie H.C.F. Mansilla schreibt, »wurden herausragende Intellektuelle paradoxerweise ohne jegliche Schwierigkeiten von neoliberalen kapitalistischen Regierungen in Staatsämter berufen.«21 Diese Intellektuellen, die vor Jahren ihr Unvermögen gezeigt hatten, den »Horizont der Sichtbarkeit« zu nutzen, den die politisch zentrale Schicht der Bergarbeiter geöffnet hatte, bewiesen nun ihre Unfähigkeit, sich mit einer kritischen Reflexion über die Geschichte der Nation und ihrer eigenen Vergangenheit in einem demokratischen System zu etablieren. Diese kritische Reflexion hätte es ihnen erlaubt, vor dem nationalen Hintergrund ein tatsächliches, nicht manipuliertes historisches Bewusstsein zu schaffen. So aber entstand die Demokratie ohne eine nationale Debatte über die Strukturen und Prozesse, welche die autoritären Regime hervorgebracht hatten. Die Diktatur ist in der Erinnerung der Gesellschaft lediglich als die Vorstellung von einer zufälligen Episode verwurzelt, die ausgelöst wurde von einer Handvoll Militärs und die sich abseits der geschichtlichen Kontinuität abspielte. Die Gesellschaft hat dieses Bild aufrecht erhalten, das sie während der schrecklichen Tage der Diktatur entworfen hatte und das sich mit den späteren Anklagen gegen die von den Diktatoren und ihren gedungenen Mördern begangenen Grausamkeiten und Verbrechen noch verfestigte. Manche Kreise der Gesellschaft zogen diese kriminalisierende Sichtweise der Geschichte einer rationalen Betrachtung vor, die ihre Verantwortung an den Tag gebracht hätte. Die Intellektuellen schlossen sich dieser Haltung an. Zwei Tatsachen können diesen Verzicht der Intellektuellen auf eine kritische Aufarbeitung der Vergangenheit erklären: Erstens hatten die Intellektuellen ihre Vorstellungen und Visionen über das Land begraben. Die Einführung und die Entwicklung des repräsentativen demokratischen Systems in Bolivien bedeutete eine tiefgreifende Infragestellung der Intellektuellen, die es nicht verstanden hatten, diesen politischen Wandel im Land vorherzusehen. Zweitens waren die Intellektuellen nicht in der Lage, die Verantwortung jener gesellschaftlichen und politischen Sektoren zu übernehmen, denen sie nun dienen wollten. Das Bemühen, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen, bewirkte, dass

21 MANSILLA, H.C.F.: Intelectuales y política en América Latina; Essay, das in diesem Buch enthalten ist.

148 | Omar Chávez Zamorano die Intellektuellen Schweigen wahrten und die Frage nach der gesellschaftlichen und politischen Verantwortung für das Entstehen der Diktaturen im Land nicht stellten.22 So löschten die Intellektuellen ihre eigene Geschichte aus und schrieben damit das Fortbestehen zahlreicher Zweifel über die Geschichte ihres Landes in der Wahrnehmung der Bolivianer fest. Aus dieser Metamorphose der Intellektuellen, die zunächst die Ordnung in Frage gestellt hatten und ihr nun dienen wollten, entwickelte sich auch ein neues Verhältnis zwischen Intellektuellen und Politik. Dieses Verhältnis konzentrierte sich auf die Frage der Regierbarkeit einerseits und auf das Entstehen von neuen Bewegungen, welche die neoliberale Politik in Frage stellten, andererseits. Im Zusammenhang mit diesen beiden objektiven Faktoren sind zwei Tatsachen festzuhalten: a)

das Engagement der Intellektuellen gegenüber dem Staat und ihre Distanz zu den Kräften der bürgerlichen Gesellschaft. Dies zeigt im Grunde die Stellung der Intellektuellen, die sich mit den volkstümlichen Bewegungen identifizierten und für die alte Linke kämpften. b) das Aufkommen neuer Beziehungen zwischen den revolutionären Intellektuellen und den sich neu formierenden bürgerlichen Bewegungen, vor allem den Bewegungen der indígenas und der Kokabauern. Dies spiegelt in erster Linie die Stellung der neuen Kreise von Intellektuellen wider, die während der Zeit der neoliberalen Politik entstanden sind. Diese Tatsachen weisen auch auf eine neue Beziehung zwischen den Intellektuellen und der Politik hin.

Die Regierbarkeit, der neue Bezugspunkt der Intellektuellen In Bolivien wird Regierbarkeit vorrangig als eine Summe von Bedingungen verstanden, die eine effiziente Regierungsarbeit ermöglichen sowie die Einhaltung der Regeln der institutionellen Demokratie durch die Gesellschaft. In diesem Sinne wurde die Politik neu bewertet, und der Staat wurde zu einem Instrument, welches diese Politik entwirft und verwirklicht. Die Frage der Regierbarkeit hat ein Betätigungsfeld für die Intellektuellen eröffnet und wurde zum Bezugspunkt für ihr Handeln. Mit der Regierbarkeit werden die Beziehungen zwischen den Ideen und der Poli22 H.C.F. Mansilla hat die Aufmerksamkeit auf einen Punkt gerichtet, den die Intellektuellen in ihren Reden mit Verachtung strafen: das ehrliche Eingeständnis des Strebens nach dem Genuss, den die Machtausübung bietet. Es besteht kein Zweifel daran, dass dieses psychisch-gefühlsmäßige Bedürfnis den plötzlichen Wandel in der Meinung vieler Intellektueller über die herrschenden Klassen, die Vereinigten Staaten, den Kapitalismus usw. erklären kann. Gegenüber diesem Aspekt des Strebens nach Genuss haben die bolivianischen Sozialwissenschaften völlige Gleichgültigkeit an den Tag gelegt. Auf der Grundlage dieses Aspektes wollen wir unsere Forschungen weiterführen: Die Korruption und die gefühlsmäßigen Bedürfnisse der bolivianischen Politiker.

Intellektuelle und Politik in Bolivien | 149 tik, den Intellektuellen und der Politik, den Intellektuellen und den Parteien neu definiert. Neu definiert werden auch die Aufnahme von Ideen und die Art und Weise ihrer Weiterentwicklung. Einige dieser neuen Beziehungen wollen wir näher untersuchen. Seit 1985 bestehen enge Beziehungen zwischen Intellektuellen und der Politik in Bolivien, wobei die Politik als öffentliche Politik betrachtet wird, das heißt, als Aktivität des Staates. Anders als in der Vergangenheit vollzieht sich nun eine allmähliche Annäherung zwischen den Intellektuellen und den Aktivitäten des Staates. Die Ideen, die Meinungen und die geistigen Fertigkeiten der Intellektuellen werden in die Formulierung und die Ausführung der Politik des Staates mit einbezogen. Diese Einbeziehung der Intellektuellen wird beispielsweise deutlich bei der Verwirklichung der »Volksbeteiligung« und der Stärkung der Gemeindeverwaltungen, einer der wichtigsten Regierungsmaßnahmen im Rahmen der Dezentralisierung der Verwaltung in Bolivien. Die Intellektuellen waren an der Konzeption dieser Politik sowie an ihrer Einführung beteiligt. Eine andere Form der Beteiligung der Intellektuellen an der Politik des Staates sind die Nationalen Dialoge, wobei Forderungen der Bevölkerung vom Staat entgegengenommen werden, mit dem Ziel, die Auslandsschulden Boliviens abzubauen. Die Intellektuellen organisierten diese Treffen zwischen Vertretern der Bürgerschaft und des Staates im Auftrag der Regierung, die ihnen hohe Honorare zahlte. An der Ausarbeitung der Sozialpolitik im Bereich Gesundheit und bei den Programmen zu Reformen des Erziehungswesens durch die Regierungen, die sich seit 1985 an der Macht ablösten, waren auf Seiten des Staates ebenfalls wichtige Intellektuelle beteiligt, ebenso wie bei institutionellen Reformen und Reformen des Verfassungswesens, die in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre in Angriff genommen wurden. Die Intellektuellen, vor allem Vertreter der Sozialwissenschaften, stellten Probleme und Mängel in den demokratischen Institutionen fest und boten eine Reihe von Lösungsvorschlägen, darunter einige Änderungen wie beispielsweise die Schaffung von Wahlorganismen, die von politischen Parteien unabhängig waren, die Wahl von Vertretern für Bezirke mit nur einem Kandidaten, die Anerkennung der Vertreter der indigenen Gemeinschaften, die Neuregulierung der lokalen und städtischen Verwaltung etc. Dies sind einige der politisch-institutionellen Neuerungen, zu denen die Intellektuellen, die sich dem Paradigma der Regierbarkeit des politischen Systems verschrieben hatten, entscheidend beigetragen haben. Einige dieser Intellektuellen, deren Ausführungen in dem allgemeinen Szenarium der Debatten über die institutionellen Reformen besondere Beachtung fanden, taten sich innerhalb der politischen Klasse hervor und bildeten daraufhin den ersten Nationalen Wahlgerichtshof, ein von dem Einfluss der politischen Parteien unabhängiges Organ, das folglich in der Lage war, saubere Wahlen zu garantieren. Andere herausragende Intellektuelle übernahmen Ministerämter, Aufgaben in der Gemeindeverwaltung oder gingen in den diplomatischen Dienst. Man kann nicht bestreiten, dass die Identifikation der Intellektuellen mit ihrem Bezugspunkt, der Regierbarkeit des politischen Systems, zu einer Neubewertung der geistigen Arbeit innerhalb der Tätigkeit des Staates beigetragen hat. Dennoch befin-

150 | Omar Chávez Zamorano den sich die Intellektuellen, die sich für die Frage der Regierbarkeit entschieden haben, in einer Situation der Abhängigkeit von jenen Politikern, die die Regierung bilden, und den politischen Kräften mit parlamentarischer Vertretung. Man könnte sagen, dass diese Intellektuellen noch immer keine solide Anerkennung von Seiten der Politiker genießen, das heißt, sie konnten nicht glaubhaft machen, dass die Ideen ein unerlässliches Element des politischen Handelns sind. Dies zeigt sich in den Beziehungen zwischen den Intellektuellen und den politischen Parteien, einem Bereich, in dem die Intellektuellen die Position verloren haben, die sie innehatten, als sie sich mit der zentralen Rolle des Bergarbeiterproletariats identifizierten. Das Verschwinden dieses Bezugspunktes und der Wegfall der kommunistischen Alternativen hat zu einer Abwertung der Ideen in den Parteien und innerhalb der Gesellschaft geführt. Die Parteien sind zu Wahlmaschinen geworden und ihre Anführer zu Experten für Intrigen und politische Verhandlungskünste.23 In dieser Lage ist die Rolle des Intellektuellen in der Partei unbedeutend, er ist eine Randfigur oder er existiert ganz einfach nicht. Keine Partei achtet die Person des Theoretikers oder des Intellektuellen noch wie in der Vergangenheit. Die Parteien sind zu Räumen geworden, in denen es keine Ideen gibt und folglich auch keine diskutiert werden. Die Zirkel von Sympathisanten, die Grundsatzwerke studieren, existieren nicht mehr. Die Mehrheit der Parteiführer verfügt nur über ein äußerst bescheidenes intellektuelles Niveau, und die Mitglieder der Parteien werden je nach dem Angebot von öffentlichen Ämtern berufen.24 Die Parteien werden infolgedessen nicht mehr von subjektiven Ideen zusammengehalten und bestehen auch nicht mehr aus überzeugten Anhängern einer Idee.25 Angesichts dieser Situation, die die Parteien kennzeichnet, ist die Figur des In23 Anders als in der Vergangenheit präsentieren die Parteien ihre politischen Führer nicht mehr als Theoretiker oder Ideologen, sondern als schlaue und »strategisch« geschulte Persönlichkeiten. Hierzu seien zwei Beispiele erwähnt: der »Fuchs« Carlos Sánchez Berzaín von der Revolutionären Nationalistischen Bewegung und der »Stratege« Oscar Eid Franco von der Bewegung der Revolutionären Linken. 24 Folgende Anekdote mag das Niveau der Ideen und der Intellektuellen in den Parteien verdeutlichen: Eine Gruppe von Studenten, die der Revolutionären Nationalistischen Bewegung angehörten, waren während des gesamten Wahlkampfes als »Rosa Panter« in den Farben der Partei gekleidet, um »zur Ausarbeitung des Programms beizutragen.« 25 Der Einfluss der Parteien auf die Politik des Staates ist in Bolivien sehr gering und wenig bedeutend, das heißt, die Politik kann nicht auf die programmatischen Linien der politischen Parteien zurückgeführt werden. Wer bei dieser Art der Politikgestaltung wirklich Einfluss hat, sind die »Politiker der politischen Lager«, also Intellektuelle ohne parteipolitische Laufbahn, die vom Präsidenten kooptiert werden. So gesehen wirken die Parteien nicht als ideologische Quelle für die Regierungsführung oder die Parteienpolitik. Deshalb gibt es innerhalb der Parteien auch keine politischen Ideen und Programme oder Debatten und strategische Betrachtungen über das Land. Diesem Thema widmen wir uns in der Untersuchung mit dem Titel: La ocupación del Estado por los partidos políticos (Die Vereinnahmung des Staates durch die politischen Parteien).

Intellektuelle und Politik in Bolivien | 151 tellektuellen nutzlos geworden und wird nur kurzfristig zu Rate gezogen, im konkreten Moment der Ausarbeitung des Regierungsprogramms, der formellen Voraussetzung zur Teilnahme an Wahlen. Diese Berufung des Intellektuellen von Seiten der Parteien zur Formulierung des Programms ist in vielen Fällen nichts anderes als die Berufung eines geistigen Arbeiters, der seine Fähigkeiten vermietet oder verkauft. Mit anderen Worten, jene, die die Programme erarbeiten, sind weder Akademiker noch identifizieren sie sich mit einer Partei.26 All dies zeigt die nur momentane Achtung der Ideen (und der Intellektuellen) von Seiten der politischen Parteien und bestimmt die Beziehungen zwischen den Intellektuellen und den Parteien. Es ist offensichtlich, dass die Identifikation der Intellektuellen mit dem Paradigma der Regierbarkeit des politischen Systems ihre Bedeutung innerhalb der politischen Parteien geschmälert hat; dagegen hat sie zu einer Differenzierung ihrer Funktionen beigetragen. Wie wir in den vorangegangenen Punkten dieser Arbeit geschildert haben, hat die Identifizierung der Intellektuellen mit dem Thema der zentralen Rolle des Proletariats tatsächlich zur Verschmelzung der Rollen bei der Produktion von Ideen und der Parteiführung (oder zur Verwirrung) beigetragen: die Intellektuellen wollten befehlen und die Rolle des schöpferischen Intellektuellen spielen, sie wollten Männer der Aktion und der Kontemplation gleichzeitig sein. Sie waren sich sicher, dass sie dazu »berufen waren, die Gesellschaft oder die politischen Parteien zu führen«, wie Torcuato S. Di Tella sagte.27 Diese Haltung ist unter den Intellektuellen der Gegenwart nur noch schwach vorhanden. Heute widmen sie sich den Ideen und beschäftigen sich damit, ihre geistigen Fähigkeiten zu verkaufen und zu vermieten an jeden, der sie haben möchte. Dies hat dazu geführt, dass die Intellektuellen einen Berufsstand bilden, der sich mehr oder weniger von den anderen Berufsgruppen der Gesellschaft unterscheidet. Die Intellektuellen, die sich mit dem Paradigma der Regierbarkeit identifizieren, scheinen jedoch nicht zu merken, welche Rolle ihnen in der Gesellschaft wirklich zukommt. Wir wollen einige Beispiele dafür nennen. a) Der unbefristete Streik der Intellektuellen Nachdem die Intellektuellen einige wichtige Beiträge zu den institutionellen Reformen des politischen Systems geleistet hatten, sind jene, die sich mit der Frage der Regierbarkeit identifiziert hatten, offenbar in einen unbefristeten Streik getreten. Dieser Streik der von dem Thema Regierbarkeit faszinierten Intellektuellen zeigt sich erstens in dem Mangel an theoretischen Vorschlägen für die Entwicklung der verarmten repräsentativen Demokratie, »verarmt« durch die Enttäuschung der Bürger angesichts der Politik und ihrer wichtigsten Institutionen wie dem Parlament, 26 Diese Tatsache hat zur Herausbildung von Intellektuellen geführt, die sich auf die Beratung bei der Erarbeitung von Parteiprogrammen und Wahlkampagnen spezialisiert haben. Daher können sie heute das Programm der einen Partei und morgen das einer anderen formulieren. 27 Siehe hierzu seine interessante Arbeit: DI TELLA, Torcuato S.: »La acción de los intelectuales«, in: DI TELLA, Torcuato S.: Clases sociales y estructuras políticas, Buenos Aires, 1974.

152 | Omar Chávez Zamorano der Judikative und den politischen Parteien und zweitens in dem Fehlen strategischer Vorstellungen von ihrem Land und dem Mangel an langfristigen Visionen für die Rolle Boliviens in der Welt. In dieser Atmosphäre der Verarmung an Ideen präsentieren die Regierenden weder Zukunftsvisionen noch können sie irgendwelche Hoffnungen wecken. Das politische Leben scheint sich mit den Tatsachen der Gegenwart zu begnügen.28 Dieses Fehlen von Ideen und Visionen ist das klarste Anzeichen für den unbefristeten Streik der Intellektuellen. Als gesellschaftliche Schicht funktionieren die Intellektuellen schlecht oder gar nicht; ihre gesellschaftliche Klasse ist das am schlechtesten geschmierte Räderwerk innerhalb der gesellschaftlichen Maschinerie. b) Das Fehlen eines gesellschaftlichen Verantwortungsbewusstseins Die Intellektuellen haben bewiesen, dass sie sich über ihre Rolle innerhalb der Gesellschaft nicht im Klaren sind. Deshalb machen sie die Schicht der politisch Herrschenden für das Fehlen von Ideen verantwortlich und fordern von ihnen Zukunftsvisionen sowie die Darstellung der großen nationalen Probleme. In einer Situation des unbefristeten Streiks der Intellektuellen, in der das Gros der politischen Führung wenig Interesse für die Ideen zeigt, ist diese Forderung naiv. Dass die Intellektuellen von den Politikern Ideen erwarten, ist ein Akt tiefer Verantwortungslosigkeit gegenüber der Gesellschaft. c) Das Ende des Diskurses der Intellektuellen Während der Periode, die mit dem Jahr 1985 begann, als die neoliberale Politik und die institutionellen Reformen in der Politik eingeführt wurden, traten die Intellektuellen, die sich mit dem Modell der Regierbarkeit identifiziert hatten, mit dem Diskurs über die Qualitäten und die Vorteile der repräsentativen Demokratie und der Modernität an die Öffentlichkeit. Nach 15 Jahren hatte sich dieser Gedanke erschöpft: Die Intellektuellen sind nicht mehr fähig, neue Sinngehalte zu formulieren, ihre Gedanken zur Demokratie sind Gemeinplätze geworden, und ihre Äußerungen über die Modernität wiederholen nur das bereits Bekannte, das schon tausend und einmal gesagt wurde: Die Intellektuellen denken nicht in der Zeit, in der wir leben. d) Der Anti-Intellektualismus der Intellektuellen Während der 1990er Jahre haben sich die Informationen über Anzeigen und Fälle von Korruption im Bewusstsein der Leser und des Publikums der Kommunikationsmedien festgesetzt. Fasziniert von den Dimensionen der Skandale, die sich auf der Grundlage von öffentlichen Unregelmäßigkeiten und skrupellosem Verhalten 28 Dieses Gefühl beherrschte die nationalen Wahlen von 2002, als keiner der Kandidaten dem Land eine Vision anbot und alle nur Vorschläge von geringer Perspektive unterbreiteten. Dieser Mangel an strategischen Visionen für die Zukunft des Landes zeigte sich sehr deutlich sogar an den neoliberalen Alternativen, die auf Grund der allgemeinen Ablehnung der traditionellen Parteien aus den Wahlen gestärkt hervorgingen. Nachdem die traditionellen Parteien erst einmal im Parlament waren, leisteten sie kaum irgendwelche konstruktiven Beiträge.

Intellektuelle und Politik in Bolivien | 153 der Politiker konstruieren lassen, heizten die Medien das Missfallen der Bevölkerung an den Politikern noch weiter an. Anstatt zur Untersuchung der gesellschaftlichen Ursachen der Bestechung beizutragen und Lösungen zu suchen, beschränkten sich die Intellektuellen darauf, dieses Missbehagen in Zeitungskolumnen und Fernsehstudios noch weiter zu vertiefen. Im Einklang mit dem Anti-Intellektualismus der Gesellschaft trugen sie so zu einer »ethisch-kulturellen Spaltung, einer Feindschaft zwischen Bevölkerung und Politikern« bei, die das auf Parteien und demokratischer Vertretung gegründete politische System bedroht. Als sich das Paradigma der Regierbarkeit und der neoliberalen Wirtschaftspolitik erschöpft hatte, ein Prozess, der in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre einsetzte, wurden im kulturellen Bereich Modernität und Neoliberalismus in einzelnen Aspekten allmählich in Frage gestellt.29 Auch die Möglichkeiten einer postmodernistischen Sichtweise begannen sich abzuzeichnen. Die Intellektuellen, die sich mit dem Thema der Regierbarkeit identifiziert hatten, beteiligten sich nicht an dieser Debatte. Damit zeigten sie ihre fast völlige Gleichgültigkeit gegenüber der Diskussion über die Grenzen der Modernität und ihre negativen Seiten sowie das postmodernistische Denken. So war nicht nur ihre mangelnde Fähigkeit zu Kritik und Diskussion bewiesen, sondern auch die geringe Reichweite der theoretischen Visionen der Intellektuellen, was strenggenommen reinster Anti-Intellektualismus ist. Diese Indizien für das mangelnde soziale Verantwortungsbewusstsein der Intellektuellen offenbaren ihrerseits eine paradoxe Situation: gegenwärtig stehen die Intellektuellen der Staatsmacht näher, wenn sie auch weiter entfernt sind von den politischen Parteien und der Gesellschaft, sie scheinen aber nicht darauf vorbereitet zu sein, den Regierenden die Grundlagen für ihre Träume zu liefern. Im Jahr 2000 wurden das Paradigma der Regierbarkeit des politischen Systems und die Gesamtheit der neoliberalen Politik durch das Aufkommen radikalisierter gesellschaftlicher Bewegungen ernsthaft in Frage gestellt. Dieses In-Frage-Stellen wurde von den Intellektuellen »der Ordnung« als Forderung nach der gesellschaftlichen Einbeziehung der indigenen Völker und der unteren sozialen Schichten interpretiert. Eine Gruppe von Intellektuellen, die mit dem Höhepunkt der neoliberalen Politik auf den Plan getreten war, sah darin die ersten Anzeichen für einen künftigen »Krieg des ethnischen Nationalismus«.

29 Die entschiedensten Zweifel an der Modernität wurden in Bolivien von H.C.F. Mansilla schon in den 1970er und 1980er Jahren vorgebracht, als die bolivianischen Intellektuellen zunächst von der marxistischen Gedankenwelt, dann vom demokratischen und neoliberalen Denken und später von der Modernität fasziniert waren. Die damaligen Arbeiten von Mansilla gewannen in den 1990er Jahren beträchtliche Aktualität, da sie zu den wichtigsten Bezugspunkten zur Beurteilung der positiven und negativen Aspekte der Modernität wurden. Diese Texte sind enthalten in: MANSILLA, H.C.F.: Los tortuosos caminos de la modernidad. América Latina entre la tradición y el postmodernismo, La Paz, 1992.

154 | Omar Chávez Zamorano Die ethische Orientierungslosigkeit der neuen Intellektuellen Der Platz, den die Intellektuellen der alten Linken frei gemacht haben, wurde von einer neuen Generation von Intellektuellen eingenommen. Diese Intellektuellen haben sich mit dem Höhepunkt des neoliberalen Denkens politisiert, als das Bolivien der »proletarischen Zentralität« dahinsiechte und einige Linke die Texte Lenins und Trotzkis mit der Zeit in ihren Schubladen verschwinden ließen. Obwohl sie das einfache Volk verherrlichen und die »kolonialen Strukturen« kritisieren, sind sie von französischen Geistesgrößen »erleuchtet«: von Bourdieu, Foucault, Deleuze, Clastres und Bataille; und ihr Denken bewegt sich in Kategorien, die der traditionellen Kultur der Linken fernliegen, wie zum Beispiel Macht, Sagbarkeit, Hermeneutik, Seinsanalyse, Habitus, usw. Sie präsentieren sich als die Vertreter eines neuen politischen Sinngehaltes. Im April und September 2000 entstanden in Bolivien Bewegungen der Indios und der städtischen Unterschichten, die die Einführung der neoliberalen Politik und der Parteienherrschaft in Frage stellten und soziale Unruhen hervorriefen, die in der Forderung nach einer Verfassunggebenden Versammlung gipfelten. Das Entstehen dieser Bewegungen gehörte zu den wichtigsten Ereignissen auf Seiten der Opposition während der neoliberalen Epoche. Vor dem Hintergrund dieser Bewegungen kündigten die neuen Intellektuellen das Aufkommen eines »neuen Geistes der Dissidenz und des bürgerlichen Ungehorsams« an: die »politisch-wirtschaftliche Selbstverwaltung und die Idee der Gemeinschaft«. Dieses neue Verständnis gründet auf der »Aufwertung der Sitten und Gebräuche« der indigenen Gemeinschaften. Im Unterschied zu der alten Linken, welche die Formen sozialer, wirtschaftlicher und politischer Organisation auf der Basis des marxistisch-leninistischen Modells propagierte, stellen sich die neuen Intellektuellen diese Formen als »Wiederherstellung der ursprünglichen Gemeinschaftsstrukturen auf höherem Niveau« vor. Es geht nicht mehr darum, die Zukunft zu denken, sondern darum, die Tradition wieder zu beleben. Der Horizont, den die neuen Intellektuellen aufgezeigt haben, ist jedoch weder neu noch originell. Es ist eine harmlose Reform, ähnlich dem Prozess der Volksbeteiligung, der 1994 von der Regierung Gonzalo Sánchez de Losada eingeleitet wurde. Diese Reform bewirkt, dass die indigenen Gemeinschaften zu Laboratorien für »partizipative städtische Demokratie von indianischer Prägung« werden, womit die »alten ursprünglichen Strukturen der Gemeinschaft« wieder hergestellt werden. Die Rehabilitierung der Sitten und Gebräuche der indigenen Gemeinschaften ist ein Teil der Politik des Staates und sogar auch Teil der Gedankenwelt der Experten der Weltbank, die den Wert dieser Traditionen für die Dezentralisierung und Verbesserung der Politik erkannt haben und schätzen. Selbst Fukuyama hat ihren Wert neu entdeckt und die Bedeutung des »sozialen Kapitals« für das Gedeihen der Nationen hervorgehoben. Die neuen Intellektuellen haben dieser Neubewertung der Tradition jedoch einen anderen politischen Sinn gegeben, denn sie interpretieren sie aus ihrem Blickwinkel einer Politik, die auf der »Möglichkeit der physischen Ausrottung des Feindes« beruht.

Intellektuelle und Politik in Bolivien | 155 Bei dieser Betrachtungsweise wird die Achtung der ethnisch-kulturellen Identität der indígenas, eine der Forderungen, die im Kontext der Krise des bolivianischen Neoliberalismus aufkam, durch die Verneinung und die Zerstörung des Andersseins definiert. Somit erhält die Behauptung der Identität der indígenas einen kriminellen Beigeschmack, die Wiederbelebung ihrer Sitten und Gebräuche wird zu einer Kriegshypothese, und die kulturelle Vielfalt wird ersetzt durch den Konflikt zwischen ethnischen Nationalismen. Die neuen Intellektuellen haben die kulturelle Vielfalt durch ihre Rhetorik zu einem Konfliktpotential und zur Grundlage möglicher physischer Auslöschung gemacht. In den Eingeborenen-Gemeinschaften sehen sie Kriegsmaschinen, und die Eingeborenen sind für sie feindliche Krieger. Daher ist die hauptsächliche Motivation dieser Intellektuellen nicht die Möglichkeit, das politische Leben auf der Basis der universellen Gültigkeit von Werten und der Pluralität von Argumenten zu organisieren, sondern für sie gilt es, den »Krieg der ethnischen Nationalismen« zu entfachen. Sie suchen keine Szenarien des demokratischen Dialogs, sondern Kriegsschauplätze. Die Faszination für diese Art der Betrachtung der Politik zeigt sich in ihren Texten und Erklärungen.30 Das Denken dieser neuen Intellektuellen – dessen theoretische Struktur aus Europa importiertes Gedankengut des Postmodernismus enthält – hat in den gesellschaftlichen Bewegungen, die sich gegen die neoliberale Ordnung richten, offenbar nicht Fuß fassen können. Es scheint sich auch nicht als »der neue Sinngehalt der gesellschaftlichen Opposition« zu präsentieren. Bei den Wahlen im Juni 2002 stellten die Bewegungen der Eingeborenen und der unteren Volksschichten – angespornt und zusammengeschweißt durch die gemeinsame soziale Ausgrenzung – die größte gesellschaftliche Protestaktion gegen den Neoliberalismus auf die Beine. Sie schafften es, die Zusammensetzung der politischen Vertretung auf drastische Weise zu verändern, indem sie einen hohen Prozentsatz von indígena-Führern und anderen Volksvertretern ins Parlament brachten. Diese historische Präsenz der tatsächlichen Vertretung der Mehrheit der bürgerlichen Gesellschaft im Parlament scheint jedoch nicht den »neuen Inhalt der gesellschaftlichen Dissidenz« zu verkörpern oder zu verfolgen, wie ihn die neuen Intellektuellen verkünden. Die Intellektuellen, die sich mit dem Paradigma der zentralen Rolle des Proletariats identifizierten, haben die sozialen Bewegungen ihrer Zeit beeinflusst. Den neuen Intellektuellen ist es dagegen nicht gelungen, Einfluss auf die gesellschaftlichen Bewegungen ihrer Zeit auszuüben. Dies ist ein Beleg für das Fehlen von politischen Ideen in den Reihen der bürgerlichen Gesellschaft, welches die Beziehungen zwischen Intellektuellen und Politik in Bolivien am Beginn des 21. Jahrhunderts kennzeichnet.

30 Siehe hierzu die Texte von LINERA, Alvaro García et al.: El retorno de la Bolivia plebeya, La Paz 2000; und LINERA, Alvaro García et al.: Tiempos de rebelión, La Paz, 2001.

156 | Omar Chávez Zamorano Vorläufige Schlussfolgerungen In der vorliegenden Arbeit sind wir dem Gedanken nachgegangen, dass die Beziehungen zwischen den Intellektuellen und der Politik in Bolivien auf objektiven historischen und politischen Konstellationen beruhen, unabhängig vom »Geist oder der intellektuellen Verfügbarkeit« des Einzelnen. Die Intellektuellen haben sich bei ihrer Tätigkeit mit diesen Voraussetzungen identifiziert. So gesehen könnte man sagen, jene Beziehungen haben sich im Rahmen einer Dialektik zwischen gesellschaftlicher Objektivität und der Subjektivität einer sozialen Schicht entwickelt. Die zentrale Rolle der Bergarbeiter ist der Bezugspunkt, der das enge Verhältnis zwischen Ideen und Politik, zwischen Intellektuellen und Politik und zwischen Intellektuellen und Parteien bestimmt hat. Es war eine erhellende Beziehung, da sie eine Verbindung zwischen der Theorie und der politischen Bewegung herstellte. Auf diese Weise versuchten die Intellektuellen, der kollektiven politischen Aktion eine rationalistische Ausrichtung zu geben. Dieses Bemühen ist den revolutionären Intellektuellen in vielen Ländern Lateinamerikas, die vom Marxismus-Leninismus beeinflusst wurden, gemeinsam. Im Fall Boliviens wurde der Rationalismus der Intellektuellen jedoch vom Illuminismus überlagert, den man dem Bergarbeiter-Proletariat zuschrieb, und dessen politisch zentrale Bedeutung nicht nur die intellektuelle Schöpfung prägte, sondern auch die Möglichkeit schuf, die Gesellschaft kennen zu lernen. Diese Besonderheit haben wir als erkenntnistheoretische Unterwerfung der Intellektuellen gegenüber der sozialen Bewegung bezeichnet. Der Verlust dieser zentralen Rolle bedeutete das Ende dieser engen Beziehung zwischen Ideen und Politik, zwischen Intellektuellen und Politik und zwischen Intellektuellen und Parteien. Der Austausch des Paradigmas der »proletarischen Zentralität« durch das Paradigma der Regierbarkeit hat die Beziehungen zwischen Intellektuellen und Politik verändert: Gegenwärtig besteht eine Distanz zwischen den Intellektuellen und den gesellschaftlichen Bewegungen sowie zwischen den Intellektuellen und den politischen Parteien, obwohl sich die Intellektuellen den staatlichen Instrumenten der Ausarbeitung und der Durchsetzung von Politik angenähert haben. Dieser Prozess der Trennung von der bürgerlichen Gesellschaft und den Parteien sowie der Annäherung an den Staat, den die Intellektuellen, die sich mit dem Paradigma der Regierbarkeit identifizieren, vollzogen haben, hat sie zu Arbeitskräften werden lassen, die ihre geistigen Fähigkeiten verkaufen oder vermieten. Die Intellektuellen »leben« nicht mehr »für die Ideen« wie in der Vergangenheit, heute »leben« sie »von den Ideen«. Diese Wandlung der Intellektuellen oder eines großen Teils von ihnen scheint das Ideal, Politik über gesellschaftliche Bewegungen und Parteien zu betreiben, indem man Vorschlägen und Ideen sowie Ausführungen der Intellektuellen folgt, außer Kraft gesetzt zu haben. Vielleicht war die Vorstellung, politische Arbeit auf der Grundlage von Ideen und mit der zentralen Beteiligung der Intellektuellen leisten zu können, in diesem nicht-rationalistischen und zutiefst anti-intellektuellen Land von Anfang an eine nichtige Hoffnung. Aber eine Politik ohne Ideen und ohne auch nur einen einzigen

Intellektuelle und Politik in Bolivien | 157 Menschen, der »für die Ideen lebt«, ohne einen Intellektuellen im strengen Sinne des Wortes, reduziert sich auf eine technische und bürokratisch-verwaltungsmäßige Angelegenheit. Ist dies die einzig mögliche Politik?

Literatur ANAYA, Mario Rolón: Política y partidos políticos en Bolivia, La Paz, 1966. DI TELLA, Torcuato S.: »La acción de los intelectuales«, in: DI TELLA, Torcuato S.: Clases sociales y estructuras políticas, Buenos Aires, 1974. DUNKERLEY, James: Rebelión en las venas, La Paz, 1988. HOFSTADTER, Richard: Anti-intelecualismo en la vida norteamericana, Madrid, 1969. LINERA, Alvaro García et al.: El retorno de la Bolivia plebleya, La Paz, 2000. LINERA, Alvaro García et al.: Tiempos de rebelión, La Paz, 2001. LORINI, Irma: El movimiento socialista »embrionario« en Bolivia 1920-1939, La Paz, 1994. MANSILLA, H.C.F.: Intelectuales y política en América Latina, Essay, der in dem vorliegenden Buch enthalten ist. MANSILLA, H.C.F.: La limitación del conocimiento científico, La Paz 1974. MANSILLA, H.C.F.: Los tortuosos caminos de la modernidad. América Latina entre la tradición y el postmodernismo, La Paz, 1992. MERCADO, René Zavaleta: »Problemas de la cultura, la clase obrera y los intelectuales«, in: Escritos sociológicos y políticos, Cochabamba, 1986, S. 113. MERCADO, René Zavaleta: Lo nacional y popular en Bolivia, México, 1986. TAPIA, Luis: La producción del conocimiento local. Historia y política en la obra de René Zavaleta Mercado, La Paz, 2002. ZAMORANO, Omar Chávez: »El conocimiento pragmático del Derecho«, in: La Gaceta Jurídica, La Paz, Juli 2002. ZAMORANO, Omar Chávez: »Problemas del conocimiento de una sociedad abigarrada«, in: Temas Sociales. Revista de la carrera de sociología, La Paz, Nr. 12 und 13, 1988. ZAVALETA, René: »Forma clase y forma multitud en el proletariado minero de Bolivia«, en: ZAVALETA, René (Hrsg.): Bolivia, hoy, México, 1983.

Die politischen Intellektuellen in Chile | 159

Die politischen Intellektuellen in Chile: Führung im ständigen Zwiespalt Alfredo Jocelyn-Holt Letelier

»Wer dich gesehen hat und wer dich sieht, du Schatten dessen, was du warst« Miguel Hernández In Chile sind in den Zirkeln der Macht stets Intellektuelle anzutreffen, trotz der dramatischen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen der vergangenen vier Jahrzehnte. Dies wird zumeist mit dem widersprüchlichen Wesen der Intellektuellen erklärt. Einer Theorie zufolge, welche das Verhalten der Intellektuellen zu rechtfertigen sucht, sind sie »Bekehrte«, die sich »modernisieren« und »demokratisieren«, indem sie die Machtvakuen füllen, welche durch die politischen und gesellschaftlichen »Erdrutsche« entstanden sind, die in der gegenwärtigen chilenischen Geschichte traumatische Erfahrungen hinterlassen haben. Einer anderen kritischen Sicht nach hätten wir es ganz im Gegenteil mit pragmatischen »Transformisten« zu tun, die ihre Überzeugungen von gestern verraten, um ihrem nicht zu verleugnenden Machtstreben, der einzigen Konstante ihres Wesens, in neuen Gegebenheiten Genüge zu leisten. In der vorliegenden Arbeit soll insbesondere die historische Dimension betont werden, genau gesagt, der revolutionäre Charakter der chilenischen Entwicklung, wenngleich wir auch auf die zwiespältige Beziehung zwischen den Intellektuellen und der Macht zu sprechen kommen werden. Wir sind der Meinung, dass Widersprüchlichkeit nicht nur bei den Intellektuellen zu finden ist. Auch die Entscheidung für die Revolution wäre widersprüchlich; mit einem Mal betrachteten sich alle politischen Sektoren Chiles als »revolutionär«. Damit wären die Intellektuellen – mit ihrem widersprüchlichen Charakter innerhalb eines widersprüchlichen Rahmens – zur wichtigsten politischen Stütze und zu wahren Förderern der Revolution, der Revolution an sich, geworden. Das ist eine von jeher an Erschütterungen reiche Geschichte, die man sich als eine Konstante vorstellen müsste und nicht wie den wechselvollen Werdegang eines Landes, der begleitet ist von ständigen Zusammenbrüchen und konjunkturellen Rückschlägen.

Die Kontinuität der politischen Entwicklung Chiles seit 1960 Auf diesem Kontinent besteht seit Urzeiten ein enger Zusammenhang zwischen den Intellektuellen und der Macht, wobei man die Intellektuellen als Projektion von imaginären Utopie-Gelehrten oder aufgeklärten Ideologen ansieht, oder wie auch immer man sie nennen mag. Wenn wir die Sache unter aktuellen Gesichtspunkten beurteilen wollen, müssen wir zuvor eines klarstellen: Die Rede ist hier nicht von jedweder Art von Intellektuellen, sondern nur von einer der vielen Varianten dieser Schöpfer von Ideologien und Kultur. Wir meinen vor allem Sozialwissenschaftler, insbesonde-

160 | Alfredo Jocelyn-Holt Letelier re Soziologen, Wirtschaftsfachleute, Politologen und in geringerem Maße Historiker. Diese standen nicht nur der Politik am nächsten, sondern sie sind zudem fast die einzigen Intellektuellen, die als solche von der entsprechenden Literatur wahrgenommen werden.1 Diese Einschränkung erlaubt es uns außerdem, die Aufmerksamkeit auf verschiedene Altersgruppen zu konzentrieren, die seit der Universitätsreform der 1960er und 1970er Jahre in die Öffentlichkeit drängten; sie spielten eine wichtige Rolle innerhalb der Regierungen Frei Montalva und Allende und gelten als die bedeutendsten Urheber großangelegter Projekte im Land – »globaler Planungen«,2 um mit Mario Góngora zu sprechen. Sie waren im Allgemeinen gegen die Diktatur und übernahmen schließlich eine herausragende Rolle während der vergangenen zehn Jahre. Es handelt sich also um Intellektuelle, die seinerzeit aus der »Democracia Cristiana« (Christdemokratie) und ihren verschiedenen Abspaltungen hervorgegangen waren, die die »Unidad Popular« (Volkseinheit) unterstützten, dann ihre sozialistische Einstellung überdachten und auf Grund der Erfahrungen des Exils beziehungsweise des Zusammenbruchs des »Realen Sozialismus« davon Abstand nahmen. Schließlich fanden sie zum »Konsens« mit ihren früheren Gegnern der 1960er und 1970er Jahre, wenn auch nicht mit jenen, die sich mit dem Erbe der Diktatur identifizierten. Dies alles bestätigt den Kern unserer Aussage. Wir hätten es folglich mit einer zufälligen aber dennoch kohärenten Kontinuität zu tun. Dies zwingt uns, zu erklären, in welcher Hinsicht diese Intellektuellen schon immer eine gemeinsame Haltung vertraten. Chile befindet sich tatsächlich seit den 1960er Jahren in einem Prozess des revolutionären »Übergangs«, der mit dem definitiven Ende des alten Herrschaftssystems, seiner letzten Hinterlassenschaft, beginnt, bis ihm verschiedene Faktoren den Todesstoß versetzen: die Agrarreform, das Weiterbestehen der großen landwirtschaftlichen Besitztümer, die hierarchische Ordnung der ländlichen Gesellschaft und das Gewicht, das all diese Faktoren der Rechten bei den Wahlen verleihen.3 Dieser Prozess geht einher mit der größtmöglichen Einflussnahme des Staates sowohl auf 1 Von den wenigen Untersuchungen, die sich mit dem Thema beschäftigen, seien hervorgehoben: BRUNNER, José Joaquín/Angel FLISFISCH: Los intelectuales y las instituciones de la cultura, Santiago, 1983. MOULIAN, Tomás: Democracia y socialismo en Chile, Santiago, 1983. BRUNNER, José Joaquín: El caso de la sociología en Chile: Formación de una disciplina, Santiago, 1988. BRUNNER, José Joaquín: »La intelligentsia: Escenarions institucionales y universos ideológicos«, in: Proposiciones, Nr. 18, S. 180-191, Santiago, 1990. SILVA, Patricio: »Intellectuals, Technocrats, and Social Change in Chile: Past, Present, and Future Perspectives«, in: ANGELL, Alan/Benny POLLACK (Hrsg.): The Legacy of Dictatorship: Politics, Economic and Social Change in Pinochet’s Chile, Liverpool, 1993. PURYEAR, Jeffrey M.: Thinking Politics: Intellectuals and Democracy in Chile, 1973-1988, Baltimore, 1994. 2 GONGORA, Mario: Ensayo histórico sobre la noción de Estado en Chile en los siglos XIX y XX, Santiago, 1981. 3 Die historische Argumentation für das zeitgenössische Chile, die hier verfolgt wird, ist ausführlicher dargelegt bei CORREA, Sofía et al.: Historia del Siglo XX Chileno: Balance Paradojal, Santiago, 2001.

Die politischen Intellektuellen in Chile | 161 die Produktion wie auf die Lenkung der Wirtschaft, nachdem die Kupferindustrie verstaatlicht war. Betont werden muss Folgendes: diese beiden einschneidenden Ereignisse – das Ende der Macht der Landbesitzer-Oligarchie bei den Wahlen und das Ende ihrer Macht in der Gesellschaft insgesamt sowie der Übergang des wichtigsten Produktionszweiges der einzig und allein auf diesem Produkt beruhenden Wirtschaft Chiles an den Staat – haben nicht nur die beiden Programme der 1960er und 1970er Jahre (»die Revolution in Freiheit« von Frei Montalva und den »chilenischen Weg zum Sozialismus« von Allende) miteinander in Einklang gebracht, sondern auch die Verbindung mit einer Diktatur hergestellt, die keinen Versuch unternahm, diese so genannten historischen »Errungenschaften« rückgängig zu machen. Was diesen drei Regimen ebenfalls gemeinsam ist, ist ihre konstruktivistische, planerische und ingenieurhafte Ausrichtung. Es handelt sich dabei um globale Konzepte, die sich als politische Projekte zwar gegenseitig ausschließen, sich aber auszahlen und sich die ständig wachsende dirigistische Macht des Staates zunutze machen. Es darf uns daher nicht verwundern, dass sich jedes dieser Regime als Neuanfang darstellt. Dies widerspricht nicht dem additiven Charakter des revolutionären Prozesses, bei dem jede Phase Vorteile aus der vorangegangenen zieht. Beleg dafür ist, dass nach der »Chilenisierung« des Kupfers durch Präsident Frei sein Nachfolger Allende noch einen Schritt weiter ging und die Kupferindustrie »nationalisierte«, während die Militärs nicht einmal versuchen sollten, Codelco, das staatliche Kupferunternehmen, zu privatisieren. Das heißt, das Ziel des Neuanfangs ist normalerweise zwiespältig höchstens hinsichtlich der unmittelbar vorangegangenen Phase, aber keinesfalls im Bezug auf die herrschaftliche Gesellschaft alten Stils, die erst vor kurzer Zeit ausgestorben ist; weder die Diktatur noch die Rechte werden dieses Ancien Régime »restaurieren« wollen. Die potentielle oder konkrete Gewalt ist eine weitere Gemeinsamkeit dieser drei angeblich so unterschiedlichen Regime. Das wirkliche Ausmaß und die tatsächlichen Auswirkungen dieser Gewalt waren jeweils unterschiedlich; die Diktatur war auf alle Fälle brutal. Insgesamt spricht man von einer Zunahme der Gewalt bis zum Jahr 1973. Als Beispiele werden die »Raubzüge« bei den Enteignungen und illegalen Besetzungen von landwirtschaftlichen Gütern genannt, die mit dem Entstehen des MIR (»Movimiento de Izquierda Revolucionaria«, Bewegung der Revolutionären Linken) einsetzende Terrorwelle, die ihre Fortsetzung fand mit der Ermordung von General René Schneider, dem Oberbefehlshaber des Heeres, durch paramilitärische Gruppen der extremen Rechten kurz bevor der Kongress der Wahl Allendes zustimmte, sowie die Ermordung von Pérez Zujovic, der unter Präsident Frei ein Ministeramt bekleidet hatte, durch die extreme Linke. All diese Ereignisse zusammen mit den systematischen und massiven Verletzungen der Menschenrechte – dem gewaltsamen Verschwinden von Personen, Folter, Tod, Verweigerung von Gerechtigkeit durch die Justiz, Aufhebung der bürgerlichen Freiheiten und die Nicht-Anerkennung dieser Verbrechen durch die Diktatur – führten letztlich zu der Annahme, sei sie nun richtig oder nicht, dass die Gewalt quer durch die Gesellschaft ging. Dadurch wurde verhindert, dass offensichtlich Schuldige gerichtlich zur Verantwortung gezogen wurden. Diese Erkenntnis erlaubt mir die Behauptung, dass der revolutionäre Prozess

162 | Alfredo Jocelyn-Holt Letelier nach dem Ende des »Alten Regimes« einer sozusagen »klassischen« Abfolge gehorcht, analog dem französischen Modell, in dem auf eine Etappe der Girondisten eine jakobinische Phase folgt. Darauf bricht der Terror los, und von den 1980er Jahren bis jetzt erleben wir eine Art möglicher Restauration; eine Restauration nicht im Sinne einer Rückkehr zu den Verhältnissen, wie sie vor den 1960er Jahren herrschten, sondern eine Restauration mit dem Bestreben, sich auf eine neu zu schaffende Ordnung zu verständigen, gestützt auf die gleichen Akteure, die versucht hatten, den revolutionären Prozess einseitig zu führen, aber bisher ohne Erfolg geblieben sind. Diese Interpretation steht im Gegensatz zu der häufig vertretenen These, die das Geschehen nach 1989-1990 als eine Rückkehr zur Demokratie dank einer angeblichen Niederlage Pinochets und seines Regimes darstellt.4 Angesichts der Politik der Regierungen der »Concertación« in den vergangenen zwölf Jahren ist eine derart wohlwollende Sicht nicht aufrecht zu erhalten. Weder das neoliberale Wirtschaftsmodell noch die Verfassung von 1980 sind reformiert worden. Und mehr noch, es ist nicht auszuschließen, dass diese beiden historischen Hinterlassenschaften dank der »Concertación« der linken Mitte – einer Koalition, die innerhalb einer Regierung aus Bürgerlichen und Militärs gleich stark ist wie die Rechte –, sich schließlich legitimiert und noch an Bedeutung gewonnen haben. Pinochet war bis 1998 weiterhin Oberster Befehlshaber des Heeres. Das Militär erfüllt gegenwärtig die verfassungsmäßige Rolle als »Garant« der Institutionalität; und es war die Regierung der »Concertación«, welche die Rückkehr Pinochets aus Europa forderte, um ihn in Chile vor Gericht stellen zu können, eine Forderung, die mit der vorläufigen Einstellung des Verfahrens endete. Deshalb ist das Thema der Menschenrechte immer noch aktuell. Die Hoffnungen auf Gerechtigkeit, die mit der Rückkehr zur Demokratie verbunden waren, sind nicht erfüllt worden, und die offizielle Politik der »Concertación« wird als inoffizieller Gehilfe einer versöhnlichen Politik betrachtet, die es – aus Gründen der Staatsraison – vorgezogen hat, das Thema einzufrieren, statt die Hauptverantwortlichen der Militärrepression zu verurteilen. Ich möchte diese vergangenen zwölf Jahre also lieber als eine Zeit der Restauration bezeichnen, die es erlaubt, dass einige der wichtigsten politischen Akteure, die den Sturz der Regierung Allende bewirkt haben und die während der sechzehn Jahre Diktatur ihrer Haltung treu blieben, heute noch das politische Szenarium Chiles mitbestimmen. Unter ihnen sind, wegen ihrer Allgegenwart, vor allem die politischen Intellektuellen zu nennen.

4 Siehe beispielsweise: COLLIER, Simon/William F. SATER: A History of Chile, 18081994, Cambridge, 1996 und jüngst HUNEEUS, Carlos: El régimen de Pinochet, Santiago, 2000.

Die politischen Intellektuellen in Chile | 163 Die Intellektuellen und die Rolle des Staates im chilenischen Wirtschaftsmodell Die vergangenen vierzig Jahre sind ohne ihr Wirken nicht vorstellbar. Ihnen verdanken wir die kritische Diagnose der herrschaftlichen Gesellschaft, die historische Einschätzung Chiles als wirtschaftlich stagnierendes, zutiefst rückständiges und anachronistisches Land, die ideologische Radikalisierung, den Prestigeverlust der öffentlichen Institutionen, die als oligarchische Hindernisse für strukturelle Veränderungen angesehen werden, sei es, dass man sie damals als »formal«-demokratisch, das heißt als liberal und wirkungslos betrachtete, oder ganz einfach als »politisch«, wie sie während der Diktatur verächtlich genannt wurden. Auf die politischen Intellektuellen geht ferner die populistische Versuchung zurück, den Wählermehrheiten oder einem allmächtigen Markt zu gehorchen, und zu guter Letzt der Voluntarismus der Obrigkeit, an dem sich die gegenwärtige politische Praxis Chiles orientiert. Es ist also nicht zu verwundern, dass diese drei Modelle – das christlich-demokratische, das sozialistisch-marxistische und das neoliberale – dazu auffordern, die Entwicklung in Chile voran zu treiben, das Land zu modernisieren und zu revolutionieren. Wenn wir auf Maximalforderungen verzichten und die politische Klasse sozusagen mit einer Gewaltaktion dazu verpflichten, zu einem verloren gegangenen und plötzlich wieder aufkommenden Realismus zurückzukehren, könnte man der Versuchung erliegen, die Diktatur als ein Gegengewicht zu werten, das beruhigend und ernüchternd wirkt. Dieses Argument überzeugt jedoch nicht. Die Vergangenheit wird weiterhin mit Entschiedenheit abgelehnt und die voluntaristische Einstellung ist immer noch anzutreffen. Wenn die Generation der 1960er Jahre damals allem Historischen kritisch gegenüber stand – Marshall Berman spricht mit Bezug auf die 1960er Jahre von einer faustischen Dimension, in der man zerstören musste, um etwas Neues zu schaffen5 –, so fordern heute dieselben Personen, dieses Kapitel abzuschließen, da man nicht immer wieder an den alten Wunden rühren dürfe. Damals wie heute war man allerdings am meisten um die Zukunft besorgt, wollte man sich der Geschichte der Zukunft bemächtigen.6 Die Distanz gegenüber den Parteien hat sich, ganz im Gegenteil, noch verstärkt. Diese Distanz erklärt die Haltung einer breiten Mehrheit – nicht nur der traditionellen politischen Zirkel – in den 1960er und 1970er Jahren, die weit davon entfernt sind, sich durch die Diktatur und ihre Folgen gewandelt zu haben. Das binominale Wahlsystem, das von der Verfassung von 1980 bestätigt wird, begünstigt große überparteiliche Blöcke; weder die »Concertación« noch die rechte Opposition konnten oder wollten dies bisher ändern. Auch die Einstellung gegenüber den Universitäten ist seltsamerweise ähnlich. 5 BERMAN, Marshall: All that is Solid Melts into Air: The Experience of Modernity, New York, 1982. 6 Als karikaturistische Version dieser optimistischen Betrachtung siehe: BENITÉZ, Andrés: Chile al ataque, Santiago, 1991. Kritische Überlegungen zum Thema finden sich bei SUBERCASEAUX, Bernardo: Chile, un país moderno? Santiago, 1996 und MARRAS, Sergio: Chile, ese inasible malestar, Santiago, 2001.

164 | Alfredo Jocelyn-Holt Letelier Wenn man in den 1960er und 1970er Jahren politisch in das Universitätsleben eingreifen musste, die oligarchische und rückwärts gewandte »Universität erobern« wollte und bestrebt war, eine Universität »für alle« zu schaffen, da die Universität sich nicht für die Wirklichkeit des Landes »engagierte«, so ist diese »Universität für alle«, wie José Joaquín Brunner mit persönlichem Stolz vermerkt, mittlerweile eine Realität. Das Ziel ist heute erreicht mit der Gründung von Privatuniversitäten, die auf eine steigende »Nachfrage« reagieren. Man kann sagen, dass die »Universität für alle« heute wirtschaftlich möglich geworden ist und der vom Markt gebotenen Chancengleichheit entspricht. Wie Brunner sagt, hat sich im Grunde nichts geändert: man vertritt die jeweils gültige »revolutionäre« und »demokratische« Haltung, damals wie heute. So Brunner wörtlich. Brunner ist heute an einer Privatuniversität beschäftigt, nachdem er zuvor, Anfang der 1990er Jahre, für die Bildungspolitik der »Concertación« zuständig war und in den 1960er und 1970er Jahren als Studentenführer das das Gleiche getan hatte wie damals alle Studentenführer.7 Die Haltung gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft ist eine weitere bis heute aktuell gebliebene Gemeinsamkeit der 1960er und 1970er Jahre und der Diktatur. In den 1960er und 1970er Jahren sprach man in Chile freilich nicht von einer bürgerlichen Gesellschaft. Damals war man wie besessen vom »Staat«: von den »Staatsapparaten«, dem »Verschwinden des Staates«, dem »Staat und der Revolution« etc. Die Vorstellung von der bürgerlichen Gesellschaft gewann an Bedeutung während der 1980er Jahre, als Hunderte von kritischen Sozialwissenschaftlern von der politischen Bühne und den Universitäten ausgeschlossen waren und bei nicht-regierungsabhängigen Organisationen oder unabhängigen wissenschaftlichen Institutionen arbeiteten.8 Sie veröffentlichten damals regelmäßig in Zeitschriften und waren eifrige Lieferanten für die kritische Presse, die während der letzten Jahre der Diktatur allmählich entstand. Diese alternative Welt, die sich von den politischen Parteizirkeln weitgehend unabhängig entwickelt hatte, erlebte jedoch einen schweren Rückschlag, als die »Concertación« in den Regierungspalast »La Moneda« eingezogen war. Die nicht-regierungsabhängigen Organisationen verlieren damit rapide an Bedeutung. Hunderte von Wissenschaftlern werden via Regierungsposten in ihre Ämter berufen; die Gelder internationaler Agenturen werden drastisch gekürzt, und die meisten der nicht-regierungsabhängigen Organisationen können nur als private Beraterfirmen überleben, indem sie den Kriterien des freien Marktes gehorchen und den Kampf um Unterstützung, meist bei Regierungsstellen, aufnehmen. 9 7 Vergleiche BRUNNER, José Joaquín: »Educación superior: una revolución y un mito«, in der Internet-Zeitung elmostrador.cl, 3. August 2001. 8 Siehe hierzu: BRUNNER, José Joaquín/Alicia BARRIOS: Inquisición, mercado y filantropía: Ciencias sociales y autoritarismo en Argentina, Brasil, Chile y Uruguay, Santiago, 1987. LLADSER, María Teresa: »La investigación en ciencias sociales en Chile: su desarrollo en los centros privados, 1973-1988«, in: Taller de Cooperación al Desarrollo (Hrsg.): Una puerta que se abre: Los organismos no-gubernamentales en la cooperación al desarrollo, Santiago, 1989. PURYEAR op. cit. (1994). 9 MAZA, Gonzalo de la: »Sociedad civil y democracia en Chile«, Santiago, 1999. VALLE, Alfredo del (Hrsg.): Las ONGs: un potencial de desarrollo y ciudadanía para Chile, Santiago,

Die politischen Intellektuellen in Chile | 165 Die Geschichte der freien alternativen Presse ist noch ungewöhnlicher. Ich beschränke mich darauf, festzustellen, dass es zehn Jahre nach 1989-1990 weniger fortschrittliche Medien in Chile gibt als während der Diktatur.10 Die einzige ernsthafte Konkurrenz zu El Mercurio, die Tageszeitung La Epoca, ist verschwunden. Und mehr noch, als die Regierungen der »Concertación« an die Macht kamen, stellten sie die im letzten Moment mit dem Pinochet-Regime geführten Verhandlungen nicht in Frage, bei denen versucht worden war, die beiden wichtigsten Zeitungskonzerne der Rechten mit Hilfe von Darlehen staatlicher Finanzstellen wirtschaftlich zu retten. Die Worte von Eugenio Tironi, nachdem er Pressesprecher der Regierung Aylwin geworden war, sagen gewissermaßen alles: von nun an, so Tironi, war die beste Kommunikationspolitik jene, keine zu betreiben. Tironi war einer der Intellektuellen, die sich während der 1980er Jahre am meisten bemüht hatten, die Bedeutung der bürgerlichen Gesellschaft zu betonen. So verwundert es auch nicht, dass man in den Sozialwissenschaften offiziell nicht mehr von der bürgerlichen Gesellschaft sprach, sondern lieber Begriffe gebrauchte wie staatliche Politik, Modernisierung, oder, was im heutigen »Newspeak« das Gleiche ist, Privatisierung, natürlich von Seiten des Staates. Hinter all diesen Unklarheiten, über die man schließlich einen »Konsens« erzielt hatte – ebenfalls ein Schlüsselbegriff, der sich im politischen Jargon durchgesetzt hat –, steht ein großes Fragezeichen. Eine Antwort hat man nie gefunden. Es ist offensichtlich, dass die Diktatur die Wirtschaft revolutionierte, indem sie ihr das neoliberale Modell aufzwang. Aber – was genau ist dieses Modell? Unter strikt doktrinärem Gesichtspunkt ist Neoliberalismus ein Modell zugunsten von Privatunternehmen im Gegensatz zum staatlichen Interventionismus, ein Modell, das darauf bedacht ist, dass alles von den Kräften des Marktes geregelt wird. In der Praxis sind jedoch andere Interpretationen möglich.11 In Chile jedenfalls wurde der Neolibera2000. Congreso de ONG’s: Redes y organizaciones en pleno (Picarquín, VI. Región, 26., 27. und 28. November 2000), 2 Bände, Santiago, 2001. 10 Vergleiche Human Rights Watch: The Limits of Tolerance: Freedom of Expression and the Public Debate in Chile, New York, 1998. Als Zusammenfassung in Separata der Zeitschrift Rocinante, Jahrgang II, Nr. 3, Santiago, Januar 1999. Siehe auch OTANO, Rafael/ Guillermo SUNKEL: »Libertad de Expresión en Chile: Dolores y sombras del actual periodismo chileno«, in :Rocinante, Jahrgang II, Nr. 10, Santiago, August 1999. LAGOS, Claudia/Mariela RAVANAL: »Libertad de expresión en Chile: Diez años de vergüenza«, in Rocinante, Jahrgang III, Nr. 20, Santiago, Juni 2000, S. 25-32. SUNKEL, Guillermo/Esteban GEOFFREY (2001): »Concentración económica e ideológica en los medios de comunicación: Peculiaridades del caso chileno«, in: Rocinante, Jahrgang IV, Nr. 28, Santiago, Februar 2001, S. 21-24. 11 Zu diesem Gesichtspunkt vergleiche MOULIAN, Tomás: Chile actual: Anatomía de un mito, Santiago, 1997. FAZIO, Hugo: El mapa actual de la extrema riqueza en Chile, Santiago, 1997. CLAUDE, Marcel: Una vez más la miseria: Es Chile un país sustentable? Santiago, 1997. CADEMARTORI, José: El modelo neoliberal, Santiago, 1998. MONCKEBERG, María Olivia: El saqueo de los grupos económicos al Estado chileno, Santiago, 2001. OSORIO, Victor/Iván CABEZAS: Los hijos de Pinochet, Santiago, 1995.

166 | Alfredo Jocelyn-Holt Letelier lismus im wörtlichen Sinne von oben aufgezwungen, vom mächtigsten Staat, den es in der Geschichte des Landes gegeben hat; es sei daran erinnert, dass die traditionell führende Elite verschwunden, das ausländische Kapital der großen Kupferminen verstaatlicht war, und, was wir nicht vergessen dürfen – es handelte sich um einen Polizeistaat. Was genau bedeutet es also, dass dieser Staat beschlossen hatte, sich zu »privatisieren«, um es so auszudrücken? – wenn wir außerdem bedenken, dass dieser Staat die Streitkräfte als eine körperschaftliche, produktive und unternehmerische Institution unterstützt hat.12 Aus diesem »Privatisierungsstaat« geht ferner eine neue äußerst mächtige Unternehmerschicht mit Vetorecht hervor, deren Ursprünge bis heute nicht offiziell erforscht sind. Schließlich und nicht weniger wichtig: um wieviel weniger mächtig ist dieser neue Staat, sobald man das interventionistische Modell des Sozialismus beiseite läßt? Er ist sicherlich kleiner, obwohl er immer noch 30 Prozent des Inlandsproduktes kontrolliert. Kleiner ja – einverstanden –, aber gerade deshalb vielleicht auch reicher; und auf alle Fälle effizienter. Worauf ich hinaus will: Wir dürfen uns nicht von einer simplizistischen doktrinären Denkweise täuschen lassen. Das neoliberale Modell Chiles basiert auf einem von einem starken Oligopol beherrschten Markt, so dass wir möglicherweise eher von einem Neoliberalismus unternehmerischer Ausrichtung reden können als von einem Neoliberalismus des Marktes. Einem Modell von Geschäftsführern, von Wirtschaftsingenieuren, Managern und Technokraten und nicht von unternehmerischen Individualisten im Sinne Schumpeters. Akzeptiert man diese Sichtweise, wird etwas klarer, dass sich der chilenische Staat »privatisiert« hat, wenn auch nur in gewissem Ausmaß. Ich möchte dies besonders betonen, denn wir müssen die paradoxe Situation erklären, dass einstige Sozialisten (ich verwende den Begriff »Sozialist« im weitesten Sinne als Synonym für Anhänger der Zentralgewalt des Staates) zum Konsens gefunden haben und plötzlich Neoliberale geworden sind. Wenn wir der von Tomás Moulian und anderen vertretenen These vom Verrat glauben, so ist die Sache klar, aber nur auf den ersten Blick.13 Wir hätten es dann mit einer Bekehrung durch Verwandlung zu tun, die auf verworfenen Überzeugungen beruht, auf Traumata, enttäuschter Loyalität etc. Aber wie Enzo Faletto bemerkt, scheint die These von Moulian »eine Art Kritik am Verrat der Intellektuellen zu sein, jedoch ohne Gründe dafür zu nennen, es sei denn, es sind alles geborene Verräter. Man kann behaupten, dass eine gesellschaftliche Gruppe ihre Position sehr bereitwillig ändert und zu Opportunismus neigt, aber (man) muss erklären, warum sie opportunistisch ist.«14 Ich bin 12 Über die Macht des Militärs, siehe: TAULIS, Dauno Tótoro: La cofradía blindada. Chile civil y Chile militar: Trauma y conflicto, Santiago, 1998. 13 Die These findet sich vor allem bei MOULIAN op. cit. (1997); ebenso bei JOCELYNHOLT LETELIER: El Chile Perplejo: Del avanzar sin transar al transar sin parar, Santiago, 1998. ELIZONDO, José Rodríguez: Crisis y renovación de las izquierdas: De la revolución cubana a Chiapas, pasando por el »caso chileno«, Santiago, 1995. TAULIS, Dauno Tótoro: Ser de izquierda, Santiago, 2000. 14 ZERAN, Faride: »Necesitamos una nueva ética de comportamiento«, Interview mit Enzo Faletto, in Rocinante, Jahrgang V, Nr. 41, Santiago, März 2002, S.7.

Die politischen Intellektuellen in Chile | 167 mit Faletto darin einig, dass diese Frage noch nicht beantwortet ist. Daher bin ich der Meinung, dass der Opportunismus der »Verräter« oder der »revisionistischen Bekehrten«, wenn man so will, ein Indiz stillschweigender Kontinuität und insgeheimen Einvernehmens sein mag, die nicht erläutert zu werden brauchen. Anders ausgedrückt, der angebliche »Verrat« oder die »Bekehrung« sind möglicherweise nur bedingt als solche anzusehen. Angesichts eines immer noch mächtigen und nach dirigistischen Kriterien regierten Staates, der außerdem eher nach technokratisch-unternehmerischen Gesichtspunkten geführt wird als nach strikt politischen, kann man sowohl Neoliberaler wie auch Anhänger eines allmächtigen Zentralstaates sein, und dies hat nichts Ungewöhnliches an sich. So wie seinerzeit die neoliberale Revolution vom Staat aus »bewerkstelligt« wurde, kann es auch sein, dass die Revolution weiterhin vom Staat aus »verwaltet« wird. Eine rein doktrinäre Auffassung vom Neoliberalismus durch alte Verfechter des sozialistischen Zentralstaates hätte diese nie daran gehindert, selbst auf die Gefahr hin, als Verräter zu erscheinen, dem traditionellen Weg zu folgen, der für sie angemessener und authentischer ist: der revolutionäre Weg, vorgegeben … vom Staat, selbstverständlich. Bei der Interpretation der zeitgenössischen chilenischen Geschichte, die ich hier vorlege, geht es um die Idee der Kontinuität und nicht um eine Folge von Brüchen. In der Sprache von Régis Debray reden wir von »Revolutionen innerhalb der Revolution«. Wobei diese letztere, die Revolution an sich, eindeutig und neutral ist, während die ersten als strikt doktrinäre Haltungen einzuordnen wären.

Die linken Intellektuellen und ihr Verhältnis zum Staat Wir wollen nun diese zwiespältige doktrinär-politische Entwicklung anhand typischer Fälle von Intellektuellen illustrieren, um diese eindeutig revolutionäre Kontinuität besser deutlich zu machen. Brunner, einen der wichtigsten chilenischen Soziologen, haben wir bereits erwähnt; vor dem Jahr 1973 war er Vertreter einer revolutionären sozialistischen Avantgarde; gegenwärtig verficht er einen nicht weniger revolutionären Neoliberalismus, wenngleich er es schamhaft vermeidet, diesen als Ausdruck einer rechten Avantgarde zu bezeichnen. Es genügt, ihn ganz einfach als einzige mögliche Alternative zu betrachten, die nicht nur modern ist, sondern auch die angeblich historische »Perspektive« im Blick hat.15 Es gibt jedoch einen Fall, der das Gesagte noch besser erklären mag: Eugenio Tironi, ein aus der »Democracia Cristiana« hervorgegangener Soziologe, der später im MAPU (Movimiento de Acción Popular Unitaria, Bewegung der Vereinten Volksaktion) aktiv war, und der sich ebenso wie Brunner von einem nur schwer zu bestim15 Siehe hierzu die Veröffentlichungen von BRUNNER, José Joaquín: Un espejo trizado: Ensayos sobre cultura y políticas culturales, Santiago, 1988. BRUNNER, J.J.: Bienvenidos a la modernidad, Santiago, 1998. BRUNNER, J.J.: Cartografías de la modernidad, Santiago, o.J. Eine kritische Analyse von Brunner findet sich bei VIDAL, Hernán: Tres argumentaciones postmodernistas en Chile, Santiago, 1998, S. 55-118.

168 | Alfredo Jocelyn-Holt Letelier menden Zeitpunkt an allmählich einer Haltung des Konsens »angenähert« hat, und dies als Autor, der sich immer wieder zu verschiedensten Themen geäußert hat. Tironi hatte bis in die 1980er Jahre seine streitbare Haltung als klassischer Linker beibehalten. Er war überzeugt davon, dass der Neoliberalismus, wie er in Chicago praktiziert wurde, ein »grandioser Misserfolg« war; dass der »Versuch von Militärs und Technokraten, die Politik auszuschalten und den Staat auf ein Minimum zu reduzieren, ein Angriff auf die historische Grundlage der chilenischen Gesellschaft, das Prinzip der Integration, war«, dass die Rolle des Staates in der Erziehung »nicht zu ersetzen« war, und dass in der Phase des Übergangs, der sich damals abzuzeichnen begann, »die Lösung nicht eine Einigung der rechten Mitte« wäre.16 Diese letzte Prophezeiung wurde von der Geschichte Lügen gestraft. Ferner verzeichnete man um das Jahr 1990 eine vorsichtige Wendung im Denken von Tironi. Damals berichtete er, dass er vielleicht sieben Jahre zuvor, zu einer Zeit, da er in Paris in akademische Klausur gegangen war, zu der Erkenntnis gelangt sei (was nur durch sein eigenes Zeugnis belegt ist), dass das autoritäre Pinochet-Regime »solide Wurzeln hatte«; deshalb sei es als »modernisierend« zu bewerten.17 Außerdem, so Tironi, schien ihm der Sozialismus nur noch eine »Stilrichtung«, eine Gefühlsangelegenheit zu sein. Mit seinem Verhalten vorher und nachher ist Tironi der schwierigste unter den »Bekehrten«. In den 1980er Jahren hatte er radikale Positionen vertreten und natürlich die immer noch Mächtigen scharf kritisiert: »Wie ist es möglich,« – fragte Tironi damals – »dass sie noch immer von ihren Kanzeln herab in der Presse predigen, von ihren Lehrstühlen an den Universitäten und von ihren gutbezahlten Beraterposten aus, und vorgeben, sie hätten nichts mit den Geschehnissen der Vergangenheit zu tun gehabt?«18 Er meinte damit, dass die Anhänger der Diktatur sich nicht um die dramatischen Ereignisse in der jüngsten Geschichte des Landes kümmerten. Seine Frage ist berechtigt, aber sie wurde noch viel unangenehmer, als sie Jahre danach, in den 1990er Jahren, wie ein Boomerang auf ihn selbst zurückfiel; damals war Tironi einer jener politischen Intellektuellen, die am häufigsten in der Presse und auf anderen öffentlichen Podien auftraten, als Autor, Kolumnist, Wahlanalytiker, Vorstandsmitglied der PPD (Partido por la Democracia, Partei für die Demokratie), Regierungsbeamter, Berater und Lobbyist von Firmen jeglicher Spezies (unter anderem von Mac Donald’s), als Chef der Präsidentschaftskampagne von Ricardo Lagos, Berater prominenter Politiker in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern, Direktor einer Abteilung für Kommunikation an einer Privatuniversität … Kurz gesagt, ein äußerst vielbeschäftigter Mann, der zu jedem Thema Stellung nimmt, wenngleich man ihm

16 TIRONI, Eugenio: El liberalismo real: La sociedad chilena y el régimen militar, Santiago, 1986. TIRONI, Eugenio: La torre de Babel: Ensayos de crítica y renovación política, Santiago, 1984. 17 TIRONI, Eugenio: Autoritarismo, modernización y marginalidad: El caso de Chile 19731989, Santiago, 1990. 18 TIRONI (1986) op. cit, S. 10.

Die politischen Intellektuellen in Chile | 169 zugestehen muss, daß er dies in einem kühlen, leidenschaftslosen, distanzierten Ton tut.19 Seit acht Jahren ist die Hauptbeschäftigung Tironis seine Arbeit als Mehrheitsgesellschafter bei einer der wichtigsten Firmen für Kommunikationsstrategien in Chile, eine Schlüsselposition für die Einflussnahme zwischen Privatwirtschaft und Regierungsinstitutionen. Vor kurzem beriet Tironi tatsächlich zwei marktbeherrschende Großunternehmen der Energiewirtschaft und gleichzeitig fungierte er als persönlicher Berater des entsprechenden Ministers. Das mag der Grund dafür sein, dass er sich nicht mehr als Sozialist betrachtet, obwohl er weiterhin die Regierung der »Concertación« unterstützt. Er bezeichnet sich als »liberal«, was nach den uns vorliegenden Meinungsumfragen in Chile der politischen Selbsteinschätzung der Mehrheit der Bürger entspricht. In der Kulturbeilage von El Mercurio definiert der Soziologe Tironi den »Liberalen« folgendermaßen: »Der Liberale ist immer bereit, sich von anderen Argumenten überzeugen zu lassen oder seine eigenen Vorstellungen auf Grund der Veränderungen in seiner Umgebung zu ändern. Normalerweise ändern die Menschen ihre Meinungen nicht (oder sie tun es nur im privaten Kreis), aus Loyalität gegenüber den Organisationen, denen sie angehören […] Dem Liberalen verursacht diese «Loyalität» dagegen Bauchschmerzen. Für ihn ist es wichtiger, mit sich selbst im Reinen zu sein, als sich einer Mehrheitsmeinung anzuschließen, welche es auch sein mag […]«20 Wenn dies schon halbwegs sibyllinisch ist, so macht die folgende Äußerung Tironis darüber, wieviel politische Transparenz man akzeptieren müsste, die Sache noch undurchsichtiger: »Absolute Transparenz«, so Tironi, »bedeutet das Ende jeglicher Autorität, denn hinter jeder Art von Macht wird sich immer ein Geheimnis verbergen. Es bereitet mir Angst, dass der Kult um die Transparenz zur Auflösung der Staatsmacht führen könnte […]«21 Eine seltsame Angst. Sein nicht auf Konfrontation angelegter »Liberalismus«, typisch für das auf Konsens ausgerichtete Establishment jener Jahre, geht offenbar nicht so weit wie der klassische Liberalismus, dessen charakteristisches Ziel es war, die Macht zu kontrollieren. Ganz im Gegenteil, es sieht so aus, als habe er »Angst« davor, dass man ihn aushorcht, ihn und seine »Klienten«. In seinem Falle ist dies eine verständliche Furcht. Die »Bekehrung« von Tironi und seinen Verbündeten muss man jedoch in einem weiteren historischen Zusammenhang sehen, wenn wir sie verstehen und nicht nur als überraschendes Ergebnis einer Verwandlung betrachten wollen. Tironi und Brunner gehören zu einer Gruppe von Sozialwissenschaftlern, die, wie ich schon bemerkte, nach 1973 von den Universitäten und politischen Zirkeln ausgeschlossen waren. Von da an rufen sie mit starker Unterstützung durch internationale Organisationen oder die Kirche Institute für alternative Studien ins Leben oder begründen sie

19 Vergleiche meine Auseinandersetzung mit Tironi, in der Zeitschrift Rocinante, Jahrgang III, Nr. 22, 23 und 24, Santiago, August, September und Oktober 2000. 20 TIRONI, Eugenio: »Ser liberal«, El Mercurio, Santiago, 25. April 1999, E5. 21 »La pastilla de Tironi«, Artikel in El Mercurio, Santiago, 28. August 1999, C20.

170 | Alfredo Jocelyn-Holt Letelier neu (FLACSO, CED, ILET, ICHEH, CIEPLAN, SUR22 etc.). Während der Jahre der Diktatur, als Partei-Aktivitäten verboten waren, übernahmen sie – meist ohne weiter aufzufallen – umfassende politisch-intellektuelle Aufgaben, widmen sich ernsthaften wissenschaftlichen Arbeiten und versuchen, die historische Niederlage der Unidad Popular und das Ende der chilenischen Demokratie aufzuarbeiten, sie greifen die Erfahrungen der erneuerten Linken nach dem Zusammenbruch des real-existierenden Sozialismus auf und stellen sich der Herausforderung, die das neoliberale Modell sowohl in der Theorie wie in der Praxis bedeutet. Dies ist noch nicht alles. Wir wissen, und darin folge ich Jeffrey Puryear, dass diese Studienzentren zu Versammlungs- und Diskussionsstätten wurden und zum Knotenpunkt für die Weiterleitung ausländischer Hilfsgelder an die Parteien. Schließlich wurden sie so wichtig, dass sie bei den Dissidenten die Funktionen der traditionellen Parteien überlagerten oder diese sogar verdrängten. Das bedeutet nicht, dass »die chilenischen Intellektuellen in dem Jahrzehnt nach dem Putsch zu Politikern geworden wären,« – wie dieser Autor sagt – »sondern die chilenische Politik wurde intellektuell.«23 Akzeptiert man diese unkritische Deutung der Rolle dieser privaten akademischen Zentren wie sie Puryear darstellt – was nicht verwunderlich ist, da er während jener Jahre ein hoher Angestellter der Ford Foundation war, damit beauftragt, Gelder zu beschaffen für das, was er selbst a posteriori lobt –, so »halfen« diese Intellektuellen dabei, »den erfolgreichen Übergang zur Demokratie in Chile zu bewerkstelligen.« Sie übernahmen damit eine Rolle, für die es seiner Meinung nach in keinem anderen lateinamerikanischen Land etwas Vergleichbares gab. Puryear schreibt: »Sie […] haben ihren Beitrag auf verschiedene Weise und zu verschiedenen Zeitpunkten geleistet, indem sie mäßigend auf das politische Denken der Opposition einwirkten, dazu beitrugen, die Strategie des Übergangs neu zu bedenken, die Politik zu modernisieren, die Kampagne für den Volksentscheid (von 1988) erfolgreich zu organisieren und, in einigen Fällen, politische Parteien zu lenken.«24 Nachdem diese Intellektuellen akzeptiert hatten, dass Pinochet und sein Regime über »solide Wurzeln« verfügten und sie zu der Gewißheit gelangt waren, dass sie ihn auf seinem eigenen Terrain besiegen konnten, wären folglich sie es gewesen, die die Politiker davon überzeugten, den von der Diktatur aufgezwungenen Weg des »Übergangs« zu beschreiten, das heißt, die Verfassung von 1980 und den Volksent22 FLACSO – Facultad Latinoamericana de Ciencias Sociales (Lateinamerikanische Fakultät für Sozialwissenschaften) CED – Centro de Estudios para el Desarrollo (Studienzentrum für Entwicklung) ILET – Instituto Latinoamericano de Estudios Transnacionales (Lateinamerikainstitut für Transnationale Studien) ICHEH – Instituto Chileno de Estudios Humanísticos (Chilenisches Institut für Humanistische Studien) CIEPLAN – Corporación de Investigaciones Económicas para Latinoamérica (Vereinigung für Wirtschaftsuntersuchungen zu Lateinamerika) SUR – Corporación de Estudios Sociales y Educación SUR 23 PURYEAR (1994) op. cit., S. 70. 24 PURYEAR (1994) op. cit., S. 5.

Die politischen Intellektuellen in Chile | 171 scheid anzunehmen. Zwar waren dieselben Intellektuellen an den sozialen Bewegungen und Protesten der 1980er Jahre beteiligt gewesen, sobald sie jedoch entdeckt hatten, dass die Strategie der gesellschaftlichen Mobilisierung zu Verschleiß und Misserfolgen führte und immer eindeutiger zu reinem Aufruhr zu verkommen drohte, entschieden sie sich, ihre ideologisch-oppositionelle Haltung aufzugeben und eine pragmatischere Position einzunehmen, was außerdem der veränderten Befindlichkeit des Landes entsprach. Diese Befindlichkeit hatten sie mit der Auswertung von Meinungsumfragen und dem Studium von »focus groups« empirisch erforscht, was während der Kampagne für den Volksentscheid von 1988 von großem Nutzen war. So kamen sie zu der Überzeugung, dass die Chilenen jeglicher Polarisierung abgeneigt waren, denn diesen Erhebungen zufolge waren die Befragten inmitten einer schweren Rezession vor allem um wirtschaftliche Verbesserungen besorgt. Schließlich wären es diese Polit-Intellektuellen gewesen, die die unbedingte Notwendigkeit einer strategischen Wendung erkannt hatten, das heißt, um den Wünschen des neuen Wählerpotentials gerecht zu werden, diesen Wählern heitere und hoffnungsvolle mediengerechte Bilder zu liefern und sich eines neuen Netzwerkes technokratischer Kommunikationsstrategien zu bedienen.25 Auf diese Weise definierten sie die Bedingungen und legten die Leitlinien fest, an die sich die drei Regierungen der »Concertación« bis heute gehalten haben. Es sei erwähnt, dass Tironi bei der Kampagne des »Nein« im Jahr 1988 einer der wichtigsten Medienprinzipale war. Es ist hier nicht der Ort, die These von Puryear Punkt für Punkt abzuhandeln. Im Allgemeinen ist seine Beschreibung erhellender als seine interpretatorische Schlussfolgerung. Die Aussage, dass eine versöhnliche Politik, die immer mehr auf Konsens aus ist und sich von gescheiterten Strategien der Konfrontation distanziert, ein für die Rückkehr der Demokratie günstiges Szenarium geschaffen habe, ist mehr als fraglich. Die gegenwärtige Situation unterscheidet sich beträchtlich von den Demokratievorstellungen jener Kreise, die sich einst der Diktatur widersetzt hatten. Abgesehen vom Fehlen eines totalitären Polizeiapparates ähnelt die Staatsordnung politisch, juristisch, wirtschaftlich und auch im Kommunikationswesen eher einer Projektion der Pinochet-Diktatur als einer vollkommen demokratisch-liberalen Regierungsform. Schließlich ist die Hypothese von Puryear, zusammen mit der Fülle von Material, auch auf ein anderes Szenario anwendbar. Man könnte sehr wohl behaupten, dass der beschriebene Wechsel in der Strategie die Folge erzwungener und nicht insgeheim einkalkulierter Beschränkungen ist, entsprechend den von Pinochet diktierten Bedingungen. Dies führte zu einer Einigung, an der Regierungstreue wie gemäßigte Oppositionelle gleichen Anteil hatten, denn beide Seiten waren gleichermaßen aufgeschreckt angesichts der ständigen Bedrohung durch Unruhen, wie sie in den 1980er Jahren herrschte.26 Ergo machten diese beiden verängstigten und 25 Siehe auch: CIS (CED-ILET-SUR): La campaña del No vista por sus creadores, Santiago, 1989. TIRONI, Eugenio: La invisible victoria. Campañas electorales y democracia en Chile, Santiago, 1990. 26 Hinsichtlich der kritischen Lage der 1980er Jahre siehe: CAVALLO, Ascanio, Manuel SALAZAR/Oscar SEPULVEDA: La historia oculta del régimen militar, Santiago, 1988. CONSTABLE, Pamela/Arturo VALENZUELA: A Nation of Enemies: Chile under Pino-

172 | Alfredo Jocelyn-Holt Letelier verunsicherten, wenn nicht schon gänzlich geschlagenen Fraktionen gemeinsame Sache: Sie beschlossen, vereint zu kämpfen, so dass es zu jenem Pakt kam, der den späteren noch heute unversehrt bestehenden Konsens erklären sollte. Eines der Probleme bei der Darstellung von Puryear ist, dass er sich nicht mit den der Diktatur wohlgesonnenen Kreisen beschäftigt, eine Tatsache, die das Bild vervollständigt. Auch die Rechte machte Zugeständnisse, obwohl ihre Vorteile bei dieser Übereinkunft weit offenkundiger waren. Selbstverständlich akzeptierte sie, dass jene, die bis dahin in Opposition zur Regierung gestanden hatten, unter gewissen Voraussetzungen an der Macht teilhaben durften. Wenn sie sich als vertrauenswürdig erwiesen hätten, sollten sie als Gegenpart zugelassen werden, ohne Rücksicht darauf, dass die Bedingungen der Vereinbarung weiterhin von den Militärs kontrolliert würden. Deshalb bestand man so sehr darauf, dass sich der Konsens nicht allein auf die traditionellen politischen Kräfte beschränken sollte. Und deshalb entstand auch eine tatsächlich korporative Organisation, in der neben den Intellektuellen und den Parteien auch Unternehmer, die Kirche, die großen, vorwiegend eher rechtsgerichteten Medienkonzerne und das Militär vertreten waren. All dies unter einem nicht eindeutig festgelegten und nicht institutionalisierten – und daher schwer zu definierenden – System, in welchem nach wie vor, dem ursprünglichen Konsens folgend, beide Seiten gleichberechtigt sind. Sicherlich werden es die politischen Intellektuellen sein, die diese problematische Übereinkunft weiter aufrechterhalten, darin hat Puryear recht, aber nicht nur die Intellektuellen der linken Mitte, sondern auch die der Rechten.

Die rechten Intellektuellen und ihr Verhältnis zum Staat Bisher habe ich noch nicht von den Intellektuellen der Rechten gesprochen, obwohl sie ebenso wichtig oder noch wichtiger sind als die der Linken. In diesem Falle handelt es sich um Wirtschaftsfachleute, Rechtsanwälte und den einen oder anderen Politologen, die sich ebenfalls in privaten Studienzentren zusammenfanden (zum Beispiel dem »Centro de Estudios Públicos« oder dem »Instituto Libertad, Libertad y Desarrollo«), abgesehen davon, dass sie seinerzeit in höchstem Maße die Vorteile genossen, mit denen die Diktatur ihnen für ihre Loyalität dankte. In jüngster Zeit beobachtet man an einigen Privatuniversitäten (Adolfo Ibáñez, Universidad de los Andes, »Centro de Documentación Histórica de la Universidad Finis Terrae« [Zentrum für Historische Dokumentation an der Universität Finis Terrae]) gewisse Aktivitäten mit intellektuell-politischen Zielen. Erwähnt werden muss auch die Tageszeitung El Mercurio, als einflussreichste und wichtigste Tribüne der unternehmerischen Rechten. Alles in allem beruht die Fähigkeit der Rechten, politisch und intellektuell Einfluss auszuüben, in erster Linie auf der von der Diktatur geschaffenen Institutionalität. Wenn die linke Mitte damals vor dem Hintergrund einer bürgerlichen Gesellchet, New York, 1991. POLITZER, Patricia: La ira de Pedro y los otros, Santiago, 1988. CORREA et al. (2001).

Die politischen Intellektuellen in Chile | 173 schaft im Embryonalzustand zu sprechen schien, die dann mit dem Einzug in den Moneda-Palast missachtet, wenn nicht gänzlich ausgeschaltet wurde, so spricht die Rechte dagegen schon seit geraumer Zeit vor dem Hintergrund einer politischen Ordnung, die sich mit der Verfassung von 1980 herauskristallisierte, und vom Standpunkt des wirtschaftlichen Neoliberalismus aus. Dass diese beiden Pfeiler der Rechten äußerst machtvolle intellektuelle Konstrukte sind, dürfte wohl niemand anzweifeln. Es kam zu beträchtlichen Veränderungen in der Mentalität, was so weit reichte, dass von nun an Sektoren, die der Diktatur zuvor feindlich gegenüberstanden, mit einbezogen wurden; sie gelten sogar als revolutionäre Marksteine, obwohl sie nach dem offiziellen Sprachgebrauch der Rechten als »stumme Revolutionäre« zu bezeichnen wären.27 Das heißt, dies alles geschah ohne größeren Aufruhr unter den Intellektuellen, ohne wortreiche theoretische Erörterungen, vor allem aber begründet auf pragmatisches Handeln und nicht auf rein doktrinäre Hirngespinste, und befördert von der Praxis und den Zwängen, die der Markt ausübt sowie unterstützt vom »faktischen« Handeln äußerst mächtiger neo-korporativistischer Gruppierungen (zum Beispiel der Streitkräfte, der Unternehmerschaft, der Kirche und der Massenmedien, die zum größten Teil von der unternehmerischen Rechten kontrolliert werden).28 Die Verfassung von 1980, einer dieser Marksteine, wurde weitgehend von Jaime Guzmán entworfen, zwar keinem klassischen Intellektuellen, aber einem Menschen von großen intellektuellen Ansprüchen. Thomist, Bewunderer Francos, katholischer Korporativist und wie Renato Cristi kürzlich gezeigt hat, Jurist im Stile von Carl Schmitt und dessen komplizierten politischen Theorien. Der intellektuelle Hintergrund von Guzmán ist ebenso interessant wie seine spätere Hinwendung zu etwas völlig Neuem. Vor kurzem erst sagte er, er sei frankistischer Korporativist gewesen, aber er hat sich von dieser Haltung entfernt und schließlich das liberale Denken eines Friedrich August von Hayek übernommen.29 Man kann bei Guzmán also einen auffallenden Wandel in seinen Positionen konstatieren, was beweisen würde, dass man auch in Kreisen der Rechten nicht nur auf festgefügte Meinungen trifft. Nicht sehr viel anders als es unter sozialistischen Anhängern eines starken Staates oder bei marxistischen Soziologen üblich ist, verzeichnen wir auch bei Rechten wie Guzmán Meinungsänderungen und eine Distanzierung von früheren Ansichten, wenn nicht ganz einfach »Bekehrungen«, so dass sogar wieder klassische Haltungen von vage 27 Der Begriff ist eine Anspielung auf das wichtige Essay von LAVIN, Joaquín: Chile, revolución silenciosa, Santiago, 1987, in dem er die wirtschaftlichen Errungenschaften der Militärdiktatur beschreibt und verherrlicht. 28 Der Begriff »faktisch« im Bezug auf die neo-korporativen Kräfte stammt von dem Politiker der Rechten, Andrés Allamand. Zu seiner Sicht der jüngsten politischen Entwicklung in Chile siehe seine Erinnerungen ALLAMAND, Andrés: La travesía del desierto, Santiago, 1999. 29 Vergleiche CHRISTI, Renato: El pensamiento político de Jaime Guzmán: Autoridad y libertad, Santiago, 2000. Siehe auch: TALAVERA, Arturo Fontaine: »El miedo y otros escritos. El pensamiento de Jaime Guzmán E.« in: Estudios Públicos, Nr. 42, Santiago, 1991, das eine Anthologie seiner Schriften enthält.

174 | Alfredo Jocelyn-Holt Letelier liberalem Zuschnitt zu Tage treten können. Die Verfassung von 1980 zeigt sicherlich noch einige Spuren korporativistischen Denkens (zum Beispiel die funktionalistische Vertretung von designierten Senatoren, die Klausel über »Garanten«, die den Streitkräften zugute kommt, die Zusammensetzung des Nationalen Sicherheitsrates), ansonsten ist es jedoch eine klassisch liberale Verfassung, die tief in der chilenischen Verfassungsgeschichte verwurzelt ist – und nicht mit ihr bricht –, so dass man sie durchaus als eine Reform der Verfassung von 1925 ansehen kann. Das orthodoxe neoliberale Modell dagegen hat, wie wir wissen, eindeutig akademischen Ursprung und geht auf Abkommen zwischen der Katholischen Universität von Santiago und der Universität von Chicago aus den 1950er Jahren zurück.30 Außerdem sollte das neoliberale Modell vor und nach 1973 »Bekehrte« hervorbringen, und zwar sowohl in den Reihen der Strukturalisten der CEPAL (Comisión Económica para América Latina y el Caribe, Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik), die den Wirtschaftswissenschaftlern der Mitte und den Christdemokraten nahestanden, wie auch bei Unternehmern der Rechten, die sich traditionell gerne innerhalb der Logik des Staatsinterventionismus bewegen. Was ich sagen möchte, ist, dass es durch das aufgezwungene orthodoxe neoliberale Modell auch zu einem starken »Erdbeben« in der Wirtschaftskonzeption der Rechten kam. Wenn ich sage »Erdbeben«, übertreibe ich nicht. Es gab modern gesinnte Unternehmer der Rechten, Industrielle genauer gesagt, die Frei Montalva und sogar Allende überlebt haben, aber nicht die »Schock-Politik«, die Politik des freien und aggressiven um nicht zu sagen brutalen Wettbewerbs, wie sie von den Jüngern der ›Chicagoer Schule‹ propagiert wurde. Diese »Opfer« der Diktatur auf Seiten der Rechten, wenn Sie mir den Ausdruck verzeihen, sprechen normalerweise nicht von Verrat – die Mehrheit von ihnen unterstützte Pinochet weiterhin –, aber das Wort ist nicht völlig fehl am Platz. Gleiches könnten jene sagen, die eine körperschaftliche, nationalistische oder faschistisch-populistische Linie vertraten und sich getäuscht fühlten durch die liberal-konstitutionelle Wendung der Verfassung von 1980. Betonen möchte ich, dass es auch unter den Rechten Gründe gibt für die Erkenntnis, dass die Diktatur letztlich doch etwas Anderes war als das, was man zunächst geglaubt oder für die Zukunft erwartet hatte. »Bekehrungen« und »Verrat« finden wir unter jenen, die sich anfangs der Diktatur widersetzt hatten ebenso wie unter ihren glühendsten Verfechtern. Sowohl unter den Anhängern der »Concertación« wie auf der anderen Seite gibt es Personen von äußerst wechselvollem Verhalten. Ein gutes Beispiel dafür ist Gonzalo Vial Correa: rechtskonservativer Historiker, erzkatholisch, Nationalist, Rechtsanwalt, ehemaliger Erziehungsminister unter Pinochet, ehemaliger Direktor der Wochenzeitung Qué Pasa, erbitterter Gegner der ›Unidad Popular‹, scharfer Kritiker der ›Democracia Cristiana‹ und wichtigster Kolumnist innerhalb der Mitarbeiter von La Segunda, dem abendlichen Kampfblatt, ebenfalls im Besitz des Unternehmens El Mercurio. Mit anderen Worten ein Mann mit besten Empfehlungen für die Rechte radikal-konservativster Prägung. 30 Siehe CORREA SUTIL, Sofía: »Algunos antecedentes históricos del proyecto neo-liberal en Chile (1955-1958)« in: Opciones, Nr. 6, Santiago, Mai-August 1985.

Die politischen Intellektuellen in Chile | 175 Das Curriculum von Vial Correa während der vergangenen Jahre ist auf alle Fälle bemerkenswert. Er wurde zum wichtigsten Historiker nicht nur der Pinochet-treuen Rechten, sondern auch der Anhänger der ›Concertación‹. Er beteiligte sich aktiv an der Kommission für Wahrheit und Versöhnung (bekannt als Rettig-Kommission), die von Aylwin eingesetzt worden war, um sich des Themas der Menschenrechte anzunehmen, und er spielte eine ganz herausragende Rolle, als er mit dem Geschichtskapitel des Berichts beauftragt wurde.31 Im Grunde war Vial der Unterhändler der Rechten in dieser Kommission. Vial verdanken wir die These, die in dem Bericht mit Entschiedenheit vertreten wird, der Zusammenbruch der Institutionalität sei durch einen Bruch im »Konsens« verursacht worden. Vial war letztlich der Intellektuelle, der am meisten auf dem Konzept des Konsens bestanden hatte, eine Idee, die vor allem in den der ›Concertación‹ nahestehenden Kreisen viel Beachtung gefunden hat.32 Paradoxerweise war Vial in den auf den Putsch von 1973 folgenden Monaten Mitautor ausgerechnet bei El libro blanco del cambio de gobierno en Chile (Weißbuch über den Regierungswechsel in Chile), einem möglicherweise betrügerischen, damals anonymen Pamphlet, das dazu diente, den Putsch mit einem angeblichen »Plan Zeta« zu rechtfertigen, dessen Existenz nie bewiesen wurde und der vorgeblich von extremen Anhängern der ›Unidad Popular‹ ausgedacht worden war, um einen Selbstputsch zu inszenieren und eine marxistische Diktatur einzusetzen. Es sei betont, dass dieses Machwerk, das in den ersten Monaten der Diktatur eine enorme Verbreitung fand, genau zu der Zeit als Propaganda diente, als die schlimmsten Verbrechen gegen die Menschenrechte begangen wurden. Zähneknirschend und erst 25 Jahre später hat Vial, als man ihn verklagte, lediglich eingestanden, einer der Autoren gewesen zu sein.33 Schon vorher, als diese Episode bereits ein offenes Geheimnis war, hatte man ihn aufgefordert, als Schlüsselfigur in der Rettig-Kommission mitzuarbeiten, die sich mit den Menschenrechten befasste. Es erübrigt sich, darauf hinzuweisen, daß dieser Bericht die schlimmsten Fälle von Folter außer Acht ließ, die wahrscheinlich das Wichtigste am Thema waren, und nicht, wie allgemein angenommen, die Festgenommenen und »Verschwundenen«.34 Die Autoren des Berichtes bestanden außerdem darauf, dass beide Seiten historisch gesehen schuldig waren; schwere Verantwortung wurde den 31 COMISION NACIONAL DE VERDAD Y RECONCILIACION (Nationale Kommission für Wahrheit und Versöhnung): Informe, 2 Bände, Santiago, 1991. 32 Seine wichtigsten Thesen finden sich in VIAL CORREA, Gonzalo: »Decadencia, consensos y unidad nacional en 1973« in: Dimensión Histórica de Chile, Nr. 1, Santiago, 1981 und in VIAL CORREA, Gonzalo: Historia de Chile (1891-1973), Band I, Erstes Buch, Santiago, 1981. 33 In der Zeitung La Segunda, Santiago, vom 2. Februar 1999 bekannte sich Vial als einer der Autoren. Vergleiche SOTO, Marcelo: »Vial fue forzado a reconocer que escribió el Libro Blanco«, in: La Tercera, Santiago, 7. April 2002. 34 Zu dem heiklen Thema der Folter und weshalb darauf nicht eingegangen wird, siehe: VIDAL, Hernán: Chile: Poética de la tortura política, Santiago, 2001. JOCELYN-HOLT LETELIER, Alfredo: Espejo Retrovisor. Ensayos histórico-políticos 1992-2000, Santiago, 2000, S. 163-173, 182-184, 231-242.

176 | Alfredo Jocelyn-Holt Letelier extremen Ultras zugewiesen, und man schlug ferner einen »Konsens« sowohl über die Vergangenheit wie über die Zukunft vor. Wie die Regierenden der ›Concertación‹ war auch Vial ein heftiger Befürworter der Rückkehr Pinochets. Kürzlich wurde Vial erneut eingeladen, an einem »Tisch des Dialogs« teilzunehmen, wo über noch offene Themen der Menschenrechte geredet werden sollte, diesmal mit Vertretern der Streitkräfte. Die umstrittensten und kompliziertesten Aspekte sollten bei den Gesprächen wiederum ausgeklammert werden, ein Ansinnen, das selbst in Regierungskreisen als gescheitert angesehen wird.35 Ich erwähne den Fall Vial Correa, um zu zeigen, dass es auch innerhalb der Rechten Vergleichbares zu Tironi, Brunner und Kollegen gibt. Erbitterte Haltungen mit nur einem Minimum an Logik (und das, obwohl Vial ständig seine moralische Einstellung betont) sind innerhalb der rechten Pinochet-treuen Opposition ebenso anzutreffen wie unter den Regierenden der ›Concertación‹. Widersprüchliche und wechselvolle Lebensläufe sind nicht das Monopol der einen oder anderen Seite. Ganz im Gegenteil, die überraschende Unterstützung Vials durch die ›Concertación‹ bestätigt, dass wir es mit einem Verhandlungspakt zu tun haben, der sich seit seinen Anfängen und nicht erst seit dem Volksentscheid von 1988 ständig erneuert hat. Dass es sich um einen berühmten und kampferprobten Intellektuellen handelt, zeigt, wie ich darzulegen versucht habe, in welch zwiespältiger Rolle sich die politischen Intellektuellen ständig befinden. Ein Zwiespalt, der bis heute sowohl bei den Rechten wie den Vertretern der linken Mitte anzutreffen ist.

Das aktuelle Dilemma der chilenischen Intellektuellen Die Behauptung, dass es hier einen Pakt gebe, ohne auch nur – ich gestehe es – klären zu können, ob er tatsächlich oder nur insgeheim besteht, bringt die Diskussion auf eine historisch konkretere Ebene als die herkömmlichen Thesen, wonach diese Intellektuellen geborene »Bekehrte« oder »Verräter« sind. Tatsächlich scheinen die Erklärungen, bei denen die politische Flexibilität betont wird – wobei unloyales oder wankelmütiges Verhalten davon ausgenommen wird – das Grundlegende nicht zu beachten, nämlich den allgemeinen Rahmen, in dem es zu diesen Widersprüchen kommt. Wenn man die Intellektuellen als chamäleon-gleich oder als Verräter charakterisiert, trägt man zu den allgemein anerkannten Analysen, die ihnen Julien Benda, Karl Mannheim und andere gewidmet haben, nicht viel Neues bei.36 Erklärungen wären 35 Zu den Ergebnissen dieses Antrags siehe den Artikel »El texto completo del acuerdo«, in: La Tercera, Santiago, 14. Juni 2000, S. 6. 36 BENDA, Julien: La trahison des clercs, 1928. MANNHEIM, Karl: Ideology and Utopia: An Introduction to the Sociology of Knowledge, London, 1936. BURNHAM, James: The Machiavellians: Defenders of Freedom, New York, 1943. ARON, Raymond: El opio de los intelectuales, Buenos Aires, 1979. Zur jüngeren Vergangenheit und einer ähnlichen Interpretation siehe: JUDT, Tony: Past Imperfect. French Intellectuals, 1944-1956, Berkeley, 1992. CASTAÑEDA, Jorge G.: La utopía desarmada: Intrigas, dilemas y promesa de la

Die politischen Intellektuellen in Chile | 177 also anderswo zu suchen, obwohl dieser Aspekt weiterhin von zentraler Bedeutung ist und eine Betrachtung unter neuen Gesichtspunkten verdiente. Den »Verrat« dürfen wir allerdings nie aus den Augen verlieren, umso weniger, da in der treffendsten Definition des Begriffs »Modernität« – als Verneinung der Tradition – der Verrat als unumgängliche Alternative erscheint. Obwohl – weshalb so unumgänglich? Unvermeidlich und schicksalhaft unumgänglich ebenso wie die Macht in ihrer modernen Version? Heißt das, die Macht beschränken zu wollen ist ein prä-moderner Wunsch im Stil des Ancien Régime, wenngleich aus der Zeit der Aufklärung stammend, und dazu verdammt, dem Totalitarismus moderner Prägung, der ihn auf lange Sicht ausschalten wird, zu unterliegen? Ich behaupte also, dass in Chile der Kontext modernistischer Tendenzen, was nicht dasselbe ist wie modern, entscheidend ist. Die Widersprüchlichkeit der Intellektuellen und ihrer Rolle, wie ich sie dargelegt habe, verschärft sich natürlich leicht, wenn man sich die revolutionäre Umgebung vor Augen hält, in der sich diese Akteure bewegen, genauer gesagt, diese Intellektuellen, die besessen sind von der Gier nach Macht und ihrer Manipulation, und die sich außerdem hinter ihrer Rolle als Unantastbare verschanzen. Umso mehr, da es sich um eine Revolution wie die chilenische handelt, die sich in einem fortgeschrittenen Stadium befindet: eine Revolution, die dabei ist, eine neue Ordnung »zu restaurieren«, nachdem sie kritischere und gewalttätigere Phasen durchlaufen hat. Es ist bekannt, dass in der »Restauration« alles noch undurchsichtiger ist. Die Wörter verlieren ihren Sinn, die Überzeugungen ihre Kraft, die Angst bemächtigt sich vieler, Saturn verschlingt seine Kinder, Strohmänner sind allgegenwärtig, bisher Unbekannten gelingt der Aufstieg, keiner versteht viel von irgendetwas. Das heißt nicht notwendigerweise, dass wir uns in einer post-modernistischen, post-kommunistischen, post-antikommunistischen oder sonst einer Phase befänden, im Einklang mit derzeitigen Erscheinungen in Europa oder der Welt; folglich ist daran auch nichts Verwunderliches. Es ist nicht das Gleiche, ob man von den 1960er Jahren in den Vereinigten Staaten oder Europa enttäuscht ist oder von Chile nach Pinochet, aber immer noch mit Pinochet und seinem weiterhin gültigen Erbe. Und mehr noch, dass man versucht, einem sich schon fast vier Jahrzehnte hinziehenden revolutionären Prozess ein Ende zu setzen, obwohl dies alles in allem das beste vorstellbare Szenarium sein mag, verwirrt jedermann, sogar jene, die man für die Schlauesten, die Intelligentesten halten könnte, jene, die öffentliche Führungsrollen übernehmen können und sogar in der Lage sind, die Verantwortung für ihre eigene Geschichte zu tragen. Zu alledem kommt noch hinzu, dass man ihnen selbst die mindeste Grundlage an Autonomie entzogen hat, von wo aus sie operieren und sich an eine historisch sehr schwache bürgerliche Gesellschaft wenden konnten.37 Mit der wachsenden

izquierda en América Latina, Buenos Aires, 1994. DEBRAY, Régis: Alabados sean nuestros señores. Una educación política, Buenos Aires, 1999. GOLDFARB, Jeffrey C.: Los intelectuales en la sociedad democrática, Madrid, 2000. 37 Siehe SALAZAR V., Gabriel: Del modelo neoliberal en Chile: La difícil integración entre los pobres, los intelectuales y el poder (1989-1995), Santiago, 1995. JOCELYN-HOLT L.,

178 | Alfredo Jocelyn-Holt Letelier Macht der politischen Intellektuellen geht eine lange Entwicklung des Anti-Intellektualismus und populistischer Annäherungsversuche einher. Die politischen Intellektuellen sind außerdem fasziniert von der Aktion, nicht von der Kontemplation. Deshalb bleiben ihre rein intellektuellen Beiträge während der vergangenen vierzig Jahre so überraschend spärlich. Auffallend ist, dass es in Chile nicht ein einziges ernstzunehmendes Buch gibt, welches das Thema »Mittelklasse« aus historischer oder soziologischer Perspektive betrachtet, obwohl in diesen vier Jahrzehnten Tausende von Sozialwissenschaftlern herangereift sind, gestützt auf großzügige Hilfen, zumeist aus dem Ausland. Dies verwundert umso mehr, wenn wir uns vor Augen halten, dass diese Intellektuellen fast alle aus eben dieser Mittelschicht stammen. Die Tatsache, dass wir – wie im Falle Chiles – von einer Gesellschaft sprechen, die traumatisiert ist von der Vergangenheit, die immer wieder Zuflucht sucht in der Zukunft, die in eine Art selbstgefälligen Halbschlaf versunken ist, die sich selbst in Schutz nimmt, das heißt, die gemeinsame Sache macht mit den Dämonen ihrer eigenen Geschichte, dies alles erschwert die Sache noch zusätzlich.38 Der revolutionäre Prozess, der bisher von Intellektuellen geleitet wurde, stets mit Blick auf Standpunkte, die gefährlich unter Druck geraten waren, hat einen Großteil dessen zugrunde gerichtet, was meiner Meinung nach das Beste war, was Chile seit jeher zu bieten hatte: angesehene öffentliche Universitäten, eine langjährige parlamentarische Tradition und Misstrauen gegenüber der Allmacht staatlicher Bürokratie, eine Vielfalt gut funktionierender politischer Parteien, verdienstvolle gemäßigte und kultivierte weltliche Institutionen, alles in allem öffentliche Foren, die zum Teil einen recht hohen Grad an Freiheit genossen und von wo aus »große Projekte« entworfen und erträumt werden konnten. Diese starken Stützen fehlen nun, und die rein virtuelle Präsenz, wie sie die heutigen Medien bieten, ist nicht ausreichend. Natürlich gibt es heutzutage in Chile Intellektuelle, die sich kritisch oder revisionistisch äußern. Wir denken an Tomás Moulian und Gabriel Salazar auf Seiten der Linken, die nicht an der ›Concertación‹ beteiligt ist. Das Problematische bei diesen Intellektuellen ist jedoch, dass sie politisch nicht effizient sind, sie vertreten keine wirklichen oder organisch gewachsenen Interessengruppen, sie sind zu individualistisch und unabhängig, und das ist vielleicht ihre Haupttugend, wenn man sie unter einem skeptischeren Blickwinkel des Anti-Establishment betrachtet. Es kann sogar sein, dass sie ihre Plattformen haben, dass sie häufig bei Veranstaltungen auftreten, dass sie veröffentlichen und die Presse sich um ihre Werke bemüht, aber ihr EinA.: »Sociedad civil y organizaciones nogubernamentales en Chile: Una historia germinal«, in: Congreso de ONG’s …, op cit., 2001, I, S. 17-30. 38 Zum Thema der Erinnerung siehe: BENGOA, José: La comunidad perdida. Ensayos sobre identidad y cultura: los desafíos de la modernización en Chile, Santiago, 1996. LOVERNAN, Brian/Elizabeth LIRA: Las suaves cenizas del olvido: Vía chilena de reconciliación política 1814-1932, Santiago, 1999. LOVERNAN, Brian und Elizabeth LIRA: Las ardientes cenizas del olvido: Vía chilena de Reconciliación Política 1932-1994, Santiago, 2000. RICHARD, Nelly (Hrsg.): Política y estéticas de la memoria, Santiago, 2000. ILLANES, María Angélica: La batalla de la memoria. Ensayos históricos de nuestro siglo, Chile 1900-2000, Santiago, 2002.

Die politischen Intellektuellen in Chile | 179 fluss ist paradoxerweise geringer als in der Vergangenheit. Hierbei spielt der virtuelle Schauplatz in den Medien, die Tatsache, dass wir in einer Gesellschaft unter der »Herrschaft des Vergänglichen« leben, eine nicht geringe Rolle. Einerseits wird diesen alternativen Intellektuellen ein gewisses Maß an virtuellen Darstellungsmöglichkeiten geboten, andererseits jedoch beraubt man sie traditioneller Podien. Es gibt konkrete Fälle von alternativen Intellektuellen, die auf diese Weise gestraft und ausgegrenzt wurden.39 Von Bedeutung sind auch die Beschränkungen, die selbst in einer angeblichen Demokratie den Massenkommunikationsmitteln auferlegt werden. Erst vergangenes Jahr stellte Human Rights Watch fest, dass es innerhalb der lateinamerikanischen Länder in Chile am schlimmsten um die Meinungsfreiheit bestellt ist, schlimmer ist die Situation nur noch in Kuba.40 Schließlich hilft es auch nicht weiter, dass sich die wichtigsten Denkströmungen des 20. Jahrhunderts in Chile, von der Rechten bis zur Linken, stets gegen die aufgeklärte liberal-republikanische Tradition richteten.41 Dass außerdem fast alle ehrgeizig bestrebt waren, die Prophezeiung, die sich nun selbst erfüllt hat, Wahrheit werden zu lassen, dass es zu einer anti-oligarchischen, anti-elitären und demokratisierenden Revolution kam, stellt die Rolle der Intellektuellen in Frage. Was ist also verwunderlich daran, dass wir da sind, wo wir nun einmal sind und dass man den Intellektuellen nicht glaubt? So gesehen ist klar, dass das faustische Streben nach der Macht vor allem ein Pakt der Unterlassungen, des Vergessens ist, in dem man versucht, Spuren, die eigenen Spuren zu verwischen. Daraus erklärt sich ferner, dass es die Intellektuellen im Allgemeinen vorzogen, Berater der Mächtigen zu sein und sich selbst nur als kritisches Gewissen betrachteten. So erklären sich auch das historische Schweigen, das krankhafte Verlangen, die Vergangenheit zu vergessen, die Tatsache, dass die Historiker – wenn sie denn zu den Intellektuellen zu zählen sind –, die bis vor kurzem von den Sozialwissenschaften vereinnahmt waren, allenfalls zu Wächtern über die Grabesstille der Vergangenheit geworden sind. Und so erklärt sich schließlich das Schweigen in der Geschichtsschreibung während dieser vergangenen vierzig Jahre, das Schweigen über das historische Drama einer Revolution. Alles in allem die Weigerung, zurückzublicken und sich der Zukunft von der Vergangenheit aus zu stellen, Projekte der Vergangenheit zu überdenken, um neue Projekte – nicht im modernen, sondern im traditionellen Sinne des Wortes »Utopie« – für die Zukunft zu schmieden und zu präsentieren. All das beobachten wir sowohl bei der Rechten wie der Linken; einerseits bei einer »fahnenflüchtigen« anti-oligarchischen und weit eher konservativen als liberal-aufgeklärten Rechten, andererseits bei einer Linken, die sich selbst verleugnet, und ebenso bei der »Mitte«, die unfähig ist, ihre eigene durchschnittliche Geschichte zu preisen. Dieses große Durcheinander kenzeichnet auch unseren gegenwärtigen revolutionären Kontext. Damit erklären sich vielleicht auch so manche Überraschungen, die wir in den 39 Vergleiche PORTALES, Felipe: Chile: Una democracia tutelada, Santiago, 2000. 40 HUMAN RIGHTS WATCH: »Chile entre peor evaluados en libertad de expresión«, in: El Mercurio, 15. März 2001. 41 Vergleiche CORREA et al. (2001), op. cit., S. 367 ff.

180 | Alfredo Jocelyn-Holt Letelier vergangenen Jahren erlebt haben: zum einen, dass es die Rechte ist, die die Regeln der Restauration bestimmt, noch dazu eine militaristische Rechte (ein seltener Fall in Chile), eine populistische Rechte (noch seltener), eine plutokratische Rechte, beherrscht von primitivstem Materialismus, eine Rechte, die sich der öffentlichen Szenarien bemächtigt, die Bedingungen stellt und sich anbietet, den revolutionären Prozess zu beenden. Und zum anderen, dass wir, wenn überhaupt, eine hinfällig gewordene Linke haben, die ihre Vergangenheit, als sie soziale Forderungen erhob, vergessen hat und die ihren neuen Verbündeten von der Rechten bei dem Unternehmen der revolutionären Restauration demütig und bedingungslos zu Hilfe eilt – der chilenischen Linken hat es immer gefallen, Opfer zu bringen.42 Ich bin kein Optimist; aber die Hoffnung habe ich noch nicht verloren.

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42 Vergleiche JOCELYN-HOLT LETELIER, Alfredo: »Al rescate de un autocondenado«, in: El Mercurio, Santiago, 7. April 2002, E2.

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Intellektuelle und Politik in Argentinien | 185

Intellektuelle und Politik in Argentinien. Anmerkungen zu einer schwierigen Beziehung Hugo Quiroga In einem Land wie Argentinien, das in einer ewigen Gegenwart lebt, dessen Institutionen ihre Legitimität verloren haben, wo das Gesetz kaum respektiert wird und das Gefühl der Straflosigkeit überall verbreitet ist, in einem Land, wo man offiziellen Worten nicht glauben kann und wo die Distanz zwischen Politik und Gesellschaft immer größer wird, mag es unangemessen erscheinen, von den Intellektuellen zu reden, statt von den Institutionen. Mit dem institutionellen Zusammenbruch vom 20. Dezember 2001, dem Rücktritt von Präsident Fernando de la Rúa und mit der Abwertung im Januar 2002 traten die Autoritätskrise der Regierung, der Kollaps des Systems der politischen Repräsentation, die Aushöhlung des Gesetzes und das monetäre wie finanzielle Chaos offen zu Tage. Inmitten dieser Verhältnisse machte sich unweigerlich Gewalt breit. Es kam zu immer mehr Konflikten, die allgemeine Verwirrung wuchs, und in verschiedenen Situationen fehlte es an einer höheren Autorität, die diesen unkontrollierten Kräften hätte Einhalt gebieten können. Problematisch ist das kollektive Vorgehen ohne jegliche Regel, was zur Zersetzung der öffentlichen Ordnung führen kann. Gesetzlosigkeit ist der Begriff, mit dem Zustände beschrieben werden, in denen die Gültigkeit der Norm in Gefahr ist. Die Rettung der Zukunft Argentiniens erfordert notwendigerweise eine Neuordnung des gesamten institutionellen Gebäudes, da der Staat seine Glaubwürdigkeit verloren hat und die Bindung zwischen Volk und politischer Vertretung unterbrochen ist.1 Beim Thema der Intellektuellen verlagert sich, wie Le Goff 2 treffend bemerkt, die Aufmerksamkeit von den Institutionen zu den Personen, von den sozialen Strukturen zu den Ideen, um die Funktionen der Wissenschaft und der Kultur neu zu begründen. Wenn wir jedoch – wie Goldfarb3 und eine Reihe anderer – glauben, die Intellektuellen trügen dazu bei, dass die Gesellschaft über ihre Probleme redet, dass sie das demokratische Leben befördern, wenn sie »den nachsichtigen Konsens untergraben«, und den Bürgersinn im öffentlichen Leben kultivieren, dann kann das Unternehmen mehr als gerechtfertigt sein. Zweifellos wird die Autorität der Institutionen von der Autorität der Intellektuellen gestützt, dank der Stellung, die diese im kulturellen Leben innehaben und dank der sozialen Funktion, die sie erfüllen müssen. Damit mache ich die Intellektuellen nicht verantwortlich für den prekären institutionellen Zustand der argentinischen Gesellschaft; ich betone lediglich ihre Rolle als »verbale Baumeister« und Schöpfer von Bedeutungen und Konzepten. Bevor ich mich der Diskussion dieses Themas in Argentinien widme, möchte ich zunächst einen allgemeineren Aspekt behandeln: die Beziehung zwischen der Sphäre des Denkens und der Sphäre des Handelns oder, mit anderen Worten, das Verhältnis der Intellektuellen zur Politik. 1 Zum Thema der Gesetzlosigkeit und der institutionellen Neuordnung verweise ich auf das Werk von DAHRENDORF, Ralf: Ley y orden, Madrid, 1998. 2 LE GOFF, Jacques: Los intelectuales en la Edad Media, (Vorwort), Barcelona, 2001. 3 GOLDFARB, Jeffrey C.: Los interlectuales en la sociedad democrática, Madrid 2000.

186 | Hugo Quiroga Denken und Handeln Wenn wir das Verhältnis der Intellektuellen zur Politik untersuchen, müssen wir uns mit ihrer Beziehung zur Macht und zu den Politikern beschäftigen, das heißt mit dem Gebiet der politischen Aktion, dem öffentlichen Raum als Bereich der Partizipation der diversen Akteure. Man könnte behaupten – vor allem in unserer gegenwärtigen Situation, in der die politische Praxis so sehr in Misskredit geraten ist wie nie zuvor –, dass sich der Graben zwischen Denken und Politik vertieft hat. Deshalb die Frage: Worauf richtet sich das Denken des Intellektuellen? Auf das Handeln anderer? Vielleicht sollten wir fragen: sind Denken und Handeln zwei verschiedene Kategorien? Aus Erfahrung und auf Grund seiner Kenntnisse sagt Bobbio4 sehr weise, dass die »Politik der Kultur« und die »Politik der Politiker« voneinander Distanz halten müssen, und dass der »Mensch der Kultur«, selbst wenn er Politik betreibt, dies langfristig tut, so dass die unmittelbaren Niederlagen ihn nicht von seinem Weg abbringen können. Daher seine Überzeugung, dass die Spaltung zwischen den Intellektuellen und der Politik schwer zu überwinden ist, und dies nur in außergewöhnlichen Situationen möglich sei. Wenn wir uns den Werken von Hannah Arendt zuwenden, bemerken wir, dass ihr zufolge das politische Handeln ein spezifisch menschliches ist und dass das Interesse der deutschen Philosophin auf die Rehabilitation der Politik als pluralistischem öffentlichen und autonomen Raum des Denkens abzielt – eine Reaktion auf die Bedeutungslosigkeit, in die sie versunken ist. Bei Hannah Arendt ist jedoch Handeln ohne Diskurs nicht möglich, der Handelnde definiert sich durch das Wort. Das Handeln ist wesenhaft vom Dialog bestimmt. Handeln bedeutet nicht nur, etwas zu tun, sondern auch, etwas zu sagen, und Handeln ist gleichbedeutend mit Freiheit. Denken steht also nicht im Widerspruch zum Handeln. Nachdem Claude Lefort5 das Vorwort zu »Between Past and Future« zitiert hat, in dem Hannah Arendt ihre Überzeugung bekräftigt, dass sich das Denken aus den im Laufe des Lebens gesammelten Erfahrungen ergibt und mit diesen Erfahrungen in Verbindung bleiben muss, erklärt er kategorisch, dass kein Schriftsteller die Verknüpfung zwischen Denken und Geschehen so entschieden definiert hat wie Hannah Arendt. Es stimmt, Arendt denkt vor dem Hintergrund der Erfahrung (das Gegenteil wäre die Abstraktion), und deshalb fragt sie sich: »Was ist das Objekt unseres Denkens? Die Erfahrung. Nichts anderes. Und wenn wir die Grundlage der Erfahrung aus den Augen verlieren, dann finden wir uns inmitten einer Vielzahl von Theorien.«6 Was jedoch laut Dotti die Verbindung zwischen Denken und Handeln in der Philosophie von Arendt beleuchtet, ist die Bedeutung der Zeitlichkeit für den Bereich 4 BOBBIO, Norberto: La duda y la elección. Intelectuales y poder en la sociedad contemporánea, Buenos Aires, 1998. 5 LEFORT, Claude: »Hannah Arendt et la question du politique«, in: LEFORT, Claude: Essais sur le politique, XIXe-XXe siècles, Paris, 1986. 6 ARENDT, Hannah: »Arendt sobre Arendt. Un debate sobre su pensamiento« (Antworten auf die Fragen der Teilnehmer eines Kolloquiums im Jahr 1972), in: Hannah Arendt. De la historia a la acción, Barcelona, 1995.

Intellektuelle und Politik in Argentinien | 187 des Menschlichen. Erst wenn sich die Menschen von der unmittelbaren Praxis entfernen, können sie über das Denken zum eigentlichen Handeln gelangen. Das Handeln findet seine Erfüllung außerhalb der Zeit, im Akt des Denkens. Arendt, so fügt Dotti7 hinzu, wechselt die Perspektive und postuliert die Kontemplation als höhere Form des aktiven Lebens. In diesem Zusammenhang sind einige Bemerkungen von Arendt bei dem erwähnten Kolloquium von 1972 sehr aufschlussreich, die ich hier zitiere: »Zunächst können wir uns fragen, was das Denken für das Handeln bedeutet. Ich gestehe eines: Ich möchte vor allem verstehen. Das ist absolut sicher. Ich gestehe auch, dass es andere Leute gibt, die vor allem daran interessiert sind, etwas zu tun. Ich nicht, ich kann bestens leben, ohne etwas zu tun. Aber ich kann nicht leben, ohne wenigstens zu versuchen, zu verstehen, was geschieht.« Und an anderer Stelle betont sie: »Ich bin wirklich der Meinung, dass man nur gemeinschaftlich handeln und nur für sich selbst denken kann. Wir haben es mit zwei – sozusagen – ›existenziellen‹, völlig unterschiedlichen Haltungen zu tun. […] Denken und Handeln sind zwei verschiedene Dinge, und zwar so verschieden, dass man, wenn man denken möchte, sich von der Welt zurückziehen muss.« Wenn wir uns nun dem Denken von Merleau-Ponty annähern, sollten wir auf seine Bemerkungen zur »Politik der Philosophen« hinweisen, das heißt, »jener Politik, die keiner macht«; meiner Ansicht nach »könnte man sagen, es handelt sich um eine andere Politik«,8 die von der Politik der Politiker zu unterscheiden ist, das heißt, von jener Politik, die gemacht, aber nicht gedacht wird. Es bleibt jedoch zu klären, ob jemand, der nicht denkt, handeln kann. Wissen und Handeln sind, so Merleau-Ponty in anderem Zusammenhang,9 zwei Pole ein und desselben Wesens. Politik ist seiner Meinung nach nichts anderes als eine ständige Wechselbeziehung zwischen der Realität und den Werten, nichts anderes also als ein Austausch zwischen dem Urteil des einzelnen und gemeinschaftlichem Handeln. In Humanismo y Terror schreibt der Autor: »Der Fluch der Politik ist genau dies: sie muss die Werte in Taten umsetzen.«10 Deshalb ist dieser verlockenden Theorie zufolge die Politik nicht reine Moral, sondern erfundenes Handeln. Ich will daran glauben, dass die Politik (als schöpferisches Zentrum, das soziale Bindungen schafft, als Raum für Spannungen zwischen den Werten und den Notwendigkeiten) ein Bindeglied ist zwischen Aktion und Reflexion, besser noch, zwischen unendlichem Handeln und ständiger Reflexion. Wenn jegliches Handeln in irgendeiner Form Denken voraussetzt, ist dann eine Unterscheidung zwischen jenen, welche die Politik denken und jenen, die sie machen, heute überhaupt zulässig? Befinden wir uns tatsächlich vor einem nicht zu überwindenden Gegensatz (zwischen Intellektuellen und Politikern) oder eher vor einer Spannung innerhalb des Politikbegriffs, wonach die Politik Werte in Taten umsetzen muss? Diskutieren die Intellektuellen und die Politiker dieselben Probleme? Eines ist klar: Jenseits der Ver7

DOTTI, Jorge: »Acción humana y teoría política: la decisión«, in: CRUZ, Manuel (Hrsg.): Acción humana, Barcelona, 1997. 8 MERLEAU-PONTY, Maurice: Signos, Barcelona, 1973, S. 12. 9 MERLEAU-PONTY, Maurice: La Pléyade, o.O., 1974, S. 15. 10 MERLEAU-PONTY, Maurice: Humanismo y Terror, Buenos Aires, 1986, S. 29.

188 | Hugo Quiroga bindung zwischen Denken und Agieren hat das Handeln des Intellektuellen nichts mit dem Handeln des Politikers gemein, selbst wenn der Inhalt des Denkens wie des Handelns der gleiche ist: die Politik. Es scheint mir aber festzustehen, dass ein Handeln ohne Worte des Denkens entbehrt, stumm und mechanisch wird und kein Handeln mehr ist. Es ist keine leichte Aufgabe, den Begriff des Intellektuellen zu definieren. In erster Linie wegen der besonderen Natur des zu definierenden Objekts und zudem wegen der Vielfalt von bereits bestehenden Definitionen, die außerdem alle »Selbst-Definitionen«11 sind. Bevor ich eine weitere Definition liefere, möchte ich angesichts des zu behandelnden Themas lieber die Position der Intellektuellen in den zeitgenössischen Gesellschaften untersuchen. Ihre Stellung definiert sich durch den Gebrauch der Sprache und des Wortes, und wenn das Wort, wie Kolakowski12 schreibt, die Wirklichkeit nicht nur reproduziert, sondern sie mit erschafft, dann können wir die Intellektuellen als Schöpfer von Sinn und Inhalten betrachten. Aus dem Wort, so muss man hinzufügen, können sich nicht nur der historische Diskurs ableiten, die politische Theorie, die Soziologie usw. – innerhalb derer über das Geschehene nachgedacht wird und eigene Vorstellungen entwickelt werden –, sondern auch die Bedeutung der Dinge. Die Intellektuellen erschaffen Schemata der Verständlichkeit und liefern Bedeutungen. Und der Rahmen ihres Handelns ist der öffentliche Raum. Zweifellos ist dies der Ort, an dem die Menschen gemeinsam »Wörter« und »Handlungen« austauschen, wie es in der Isolation unmöglich geschehen könnte. Taten und Worte benötigen unweigerlich, wie Hannah Arendt betont hat, die Anwesenheit anderer. Der öffentliche Raum ist also der Ort, wo der politische und bürgerliche Dialog zwischen Personen stattfindet.

Bedeutung der Intellektuellen in der argentinischen Geschichte Vor diesem Hintergrund möchte ich nun einige bedeutende Momente in der Geschichte der argentinischen Intellektuellen und ihrer Beziehung zur Macht wie zur Politik knapp darstellen. Zunächst aber möchte ich vier Aspekte nennen, die mir für die Einordnung der Person des Intellektuellen und seiner besonderen Charakteristiken innerhalb der Entwicklung der argentinischen Gesellschaft bedeutsam erscheinen. Erstens ist zu sagen, dass es zu verschiedenen historischen Zeitpunkten verschiedene Typen von Intellektuellen sind, die die kritischen Denkweisen der »Kulturmenschen« gegenüber der Welt, in der sie leben, illustrieren. Das Auftreten dieser unterschiedlichen Intellektuellen-Typen versteht man am besten, wenn man sie im Kontext der Veränderungen ihrer jeweiligen Epoche betrachtet. Wie wir sehen werden, sollte die Harmonie im Verhältnis zwischen den Intellektuellen und der Politik je nach den historischen Umständen variieren. In manchen Perioden nähern 11 BAUMANN, Zygmunt: Legisladores e intérpretes. Sobre la modernidad, la posmodernidad y los intelectuales, Argentinien, 1997. 12 KOLAKOWSKI, Leszek: »Los intelectuales«, in: KOLAKOWSKI: La modernidad siempre a prueba, México, 1990, S. 53.

Intellektuelle und Politik in Argentinien | 189 sich die Intellektuellen der Politik an, politisieren sich, zu anderer Zeit distanzieren sie sich von ihr, verlieren an politischer Energie und nehmen ein eher akademisches Profil an. Zweitens war die Geschichte ihrer Bedeutung immer ein Auf-und-ab, sie verlief nie kontinuierlich und beständig, sondern stand der Politik einmal näher, einmal ferner. In diesem Sinne schließe ich mich der Frage an, die Silvia Sigal13 in ihrem hervorragenden Buch zu diesem Thema formuliert hat: Wo stehen die argentinischen Intellektuellen im politischen Leben? Im Grunde war die Geschichte der Intellektuellen stets bestimmt von dem Wechsel zwischen der Distanzierung von den großen Massenbewegungen und Zeiten direkter Partizipation an der Macht und der Politik. Der Anti-Intellektualismus (der oft von den Intellektuellen selbst ausging, die ihre Rolle anders verstanden) und das Misstrauen des Staates waren während langer Zeit Bestandteil dieser Entwicklung. Drittens waren die argentinischen Intellektuellen, da diese Entwicklung nicht kontinuierlich verlief, nicht so sehr »Prinzenberater« als vielmehr Schöpfer von Inhalten (vielleicht ist dies der gemeinsame Nenner) und übten in dieser Funktion ihren Einfluss aus; im Rahmen ihrer kulturellen Aktivitäten waren sie mit ihren verbalen Beiträgen und ihrem System von Symbolen an der Schaffung der Realität beteiligt. Mit dem Gebrauch des Wortes trug die argentinische Intelligenz dazu bei, wie Ricoeur formuliert, »unseren damaligen wirren, formlosen und in gewissem Maße verstummten Erfahrungen«14 Form zu verleihen. Viertens: ein bedeutender Wandel fand während der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts statt, als die Rolle des klassischen Intellektuellen (des Schöpfers von Sinn) durch die Rolle der Kommunikationsmedien, der Techniker und Experten in eine Krise geriet. Damit werden wir uns in einem anderen Abschnitt befassen. Die Zeit zwischen 1850 und 1914, als sich die Nationen und die Institutionen des Staates herausbildeten, stand laut Ezequiel Gallo15 ganz unter dem Einfluss des »liberalen klassischen« Denkens, und zwar dank hervorragender Persönlichkeiten, die das politische Geschehen übernahmen. Zu ihnen gehörten Mitre (der ebenso ein exzellenter Schriftsteller war) und Roca oder Alberdi sowie Sarmiento (der eine bedeutende Rolle in der Politik spielte). Sie alle verfügten zudem über eine brillante und gewandte Feder. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die Nationalstaaten entstanden, war eine Zeit, in der man von einer Verbindung zwischen den Intellektuellen und der Politik sprechen kann. Alberdi, Mitre und Sarmiento (Roca war eher ein praktischer Politiker) sind die typischen »Intellektuellen-Philosophen«, die auf die Gestaltung der Gesellschaft großen Einfluß ausübten, es sind die Schöpfer der argentinischen Nationalität. Diese Männer sind folglich der Beleg für die unverbrüchliche Beziehung zwischen politischem Engagement und intellektueller Tätigkeit.

13 SIGAL, Silvia: Intelectuales y poder en la Argentina. La década del sesenta, Argentinien, 2002. 14 RICOEUR, Paul: Del texto a la acción (Acerca de la interpretación), Buenos Aires, 2001, S. 20. 15 GALLO, Ezequiel : »Las ideas liberales en la Argentina«, in ITURRIETTA, Anibal (Hrsg.): El pensamiento político contemporáneo, Buenos Aires, 1994.

190 | Hugo Quiroga Dennoch, Natalio Botana16 ist der Überzeuegung, das Bild des Intellektuellen, der sich im 19. Jahrhundert mit der politischen Macht verbündete, müsse revidiert werden. Seiner Meinung nach ist Alberdi als Politiker gescheitert, und eine lange Zeit hindurch erweist er sich als ein unabhängiger Intellektueller, der sich mit der Macht entzweit hat. Botana beschreibt die Rolle des Intellektuellen in der Auseinandersetzung mit der Macht, was für mein Empfinden keine Entfremdung der »hommes des lettres« von der Politik bedeutet. Die Situation von Mitre und Sarmiento ist eine andere, das politische Engagement von beiden steht außer Zweifel; es sind zwei Persönlichkeiten, die repräsentativ sind für die Verbindung zwischen den Intellektuellen und der Macht, da beide das Präsidentenamt innehatten: Mitre zwischen 1862 und 1868 und Sarmiento von 1868 bis 1874. Die Geschichte der Intellektuellen im 20. Jahrhundert verläuft anders, mit ganz unterschiedlichen Charakteristiken, wobei man ebenfalls verschiedene Typen unter den Protagonisten feststellen kann: Liberale, Nationalisten, Revolutionäre, Sozialisten, Progressisten, Techniker. Nach Meinung von Sigal sah es so aus, als habe die den Gelehrten aufgetragene Mission bei der Konzeption der staatlichen Einrichtungen mit dem Abschluss der Entstehungsphase der Nation nun ihr Ende gefunden. Mit der Öffnung des politischen Systems von 1916 an wurde diese Intelligenz – die wichtige Staatsämter bekleidete – von der entstehenden politischen Klasse und von der Rolle der Parteien abgelöst, die diese Leistungen offenbar nicht mehr benötigten. Wenn sich die großen Parteien in der Leitung des Staates abwechseln, bricht über die Intellektuellen eine Art politisches Scherbengericht herein. Einigen Intellektuellen vom Anfang des 20. Jahrhunderts wie Joaquín V. González und Ramos Mejías gelang es, dank der Funktionen, die sie inzwischen im Staat übernommen hatten, bei diesem Übergang ihre enge Beziehung zur politischen Macht zu bewahren. Gleiches gilt für José Ingenieros, der eine wichtige Stellung innerhalb eines Systems politischer Ideen innehatte. Ein wichtiger Einschnitt in der Geschichte der Intellektuellen im 20. Jahrhundert war die von Altamirano17 sogenannte »Scheidung« der kulturellen Eliten vom Volk. Es stimmt, wie unser Autor darzustellen bemüht ist, dass die Diskussion über die Beziehungen zwischen den »Ideen-Menschen« und dem Volk letztlich ein Disput unter Intellektuellen ist. In den 1920er und 1930er Jahren – in einem anderen historischen und ideologischen Zusammenhang, während der Krise des liberalen Staates und des Aufstiegs der Massengesellschaft – wurde die anerkanntermaßen herausragende Rolle der aufgeklärten Intellektuellen in der argentinischen Geschichte von nationalistischer Seite in Frage gestellt. Nach Meinung der nationalistischen Schriftsteller (Ramón Doll, Julio und Rodolfo Irazusta und andere) hatte die Intelligenz des Landes dem Volk den Rücken gekehrt und war zum Träger des oligarchischen Geistes geworden. Die revisionistischen Strömungen, die eine anti-intellektuelle Haltung vertraten, kritisierten heftig, was sie als Verrat der Intellektuellen am Vaterland und 16 Vergleiche das Interview in dem Buch von HORA, Roy/Javier TRIMBOLLI: Pensar la Argentina, Buenos Aires, 1994, S. 118-119. 17 ALTAMIRANO, Carlos: »Intelectuales y pueblo«, in: ALTAMIRANO, Carlos (Hrsg.): La Argentina del siglo XX, Buenos Aires, 1999.

Intellektuelle und Politik in Argentinien | 191 an den Volksmassen ansahen. Während jener Jahre wurden die Grenzen gezogen, die den kulturellen Bereich in zwei gegensätzliche Lager spalten sollten: das nationalistische und das liberale. In der Diskussion zeichneten sich deutlich zwei Typen von Intellektuellen ab, welche die Geschichte Argentiniens unter gegensätzlichen ideologischen Voraussetzungen interpretierten: eine in Vertretung einer weltlichen, modernistischen und städtischen Geisteselite, die andere im Namen einer katholischen, traditionalistischen und kreolischen intellektuellen Elite. Zu dieser zählen die nationalistischen Intellektuellen Personen wie Juan Manuel de Rosas und Hipólito Yrigoyen, wobei sie sich auf dessen Zeit als Politiker vor Einführung des allgemeinen Wahlrechts im Jahr 191218 beziehen. Angriffe nationalistischer Kritiker setzten die politische Demokratie unter Druck. Die traditionalistischen Theoretiker wie Julio Irazusta dagegen hatten wirkliche politische Reformen hinsichtlich der Regierungsform (mit Blick nach innen) und des nationalen politischen Systems vor Augen (was sowohl die interne Organisation wie die Organisation nach außen betraf ).19 Aus diesem Denkmuster wird die Person des politischen caudillo geboren, der den Willen des Volkes gegenüber einer oligarchischen Minderheit verkörpert, welche das Land unter dem Schutzmantel einer liberalen kosmopolitischen Elite während langer Jahre regiert hatte. Diese These findet ihre Bestätigung im Auftreten von General Perón als neuem Volkshelden in den 1940er Jahren. In dieser Zeit lebt das antiintellektuelle Klima erneut auf, den Intellektuellen wird wieder vorgeworfen, sie würden sich von der nationalen Realität entfernen. Autoren wie Arturo Jauretche und Hernández Arregui20 sprechen den »Männern der Ideen« wegen ihrer europäisierenden Kultur die politische Legitimation ab. Die großen nationalen Volksbewegungen der 1920er und 1940er Jahre, der Radikalismus wie der Peronismus, nährten sich schließlich nicht von den Werten und Idealen einer progressistischen, laizistischen intellektuellen Elite – Beleg für die Distanz zwischen diesem Typus von Intellektuellen, der Politik und dem Staat. In diesem Zusammenhang weist Portantiero21 darauf hin, wie der Radikalismus in den 1920er Jahren den Aufstieg der sozialistischen Partei wahrnimmt, die als »ausländische Sekte« angesehen wird, eine Kritik, die sich noch verschärfen sollte, als der Kommunismus in Argentinien auftauchte. Mit dem Sturz Peróns im Jahr 1955 wird die These von der Distanz zwischen den Eliten und dem Volk noch untermauert. In den ersten Jahren nach dem Ende der Ära Perón in Argentinien kam es zu einer interessanten Debatte unter den Intellektuellen über die Bedeutung des Peronismus und die Perspektiven, die sich in der neuen Epoche auftaten, eine Debatte, die sich in den wichtigsten Zeitschriften von

18 ALTAMIRANO, Carlos: »Intelectuales y pueblo«, op. cit. 19 Siehe SEGOVIA, Juan F.: »Irazusta y los sistemas nacionales«, in: Razón Española, Nr. 31, September-Oktober 1988. 20 TERAN, Oscar: Nuestros años sesentas. La formación de la nueva izquierda intelectual argentina. 1956-1966, Buenos Aires, 1993 (Kap. VII). 21 PORTANTIERO, Juan Carlos: »La idea socialista«, in: ALTAMIRANO, Carlos (Hrsg.): La Argentina en el siglo XX, op. cit.

192 | Hugo Quiroga damals widerspiegelte (Sur, Contornos) und an der sich bedeutende Intellektuelle (Victoria Ocampo, Borges, Martínez Estrada, Sábato, Germani)22 beteiligten. Im damaligen Argentinien, als viele glaubten, das Phänomen des Justizialismus habe sich erschöpft und die Führerschaft Peróns sei in die Krise geraten, brachte die Kandidatur Arturo Frondizis bei den Präsidentschaftswahlen im Februar 1958 den progressistischen sowie den linken Intellektuellen einen herausragenden Platz im politischen Geschehen. Begeistert von einem modernen und progressistischen Machtbegriff, wonach Abhängigkeit und wirtschaftliche wie soziale Rückständigkeit durch Entwicklungsprojekte überwunden werden sollten, schlossen sich zahlreiche Universitätsangehörige und Vertreter der kulturellen Szene in einer neuen Etappe der politischen Öffnung den Intellektuellen an. Das Neue im öffentlichen Leben Argentiniens war die Beteiligung von Männern wie Osiris Troiani, Ismael Viñas, Noé Jitrik oder Ramón Alcalde23 an offiziellen Organismen während der Kampagne Frondizis; später hatten einige von ihnen Regierungsämter inne, ein Kommunist wie Real und Sozialisten wie Dardo Cúneo, Isidro Odena und Marcos Merchensky waren repräsentative Vertreter für die Wendung der Linken zum Frondizismus.24 Was auf diese kurzlebige Erfahrung folgte, war die Frustration der Intellektuellen, die sich betrogen fühlten durch die Abwendung Frondizis vom Regierungsprogramm, was sie als »Verrat« an den gemeinsam vereinbarten Forderungen interpretierten. »Die Bilanz dieses Prozesses«, so schreibt Terán,25 »war für die Linken eine doppelte Lehre: sie zeigte ihnen die Eindeutigkeit des ›Frondizi-Verrates‹ und wies ihnen die Öffnung eines neuen Raumes zur Kanalisierung der Kritik.« Nach dieser Enttäuschung fanden die progressistischen Kreise der Gesellschaft sowie die intellektuelle Linke ihren Leitstern in der kubanischen Revolution von 1959, die ihnen den Weg zu einer Alternative zum nordamerikanischen Imperialismus aufzeigen sollte. Im intellektuellen Bereich begann eine neue Epoche, in der Revolution und Sozialismus zum Tagesgespräch wurden.

Revolution und intellektuelle Dissidenz Die These von der Spaltung zwischen den Intellektuellen und dem Volk sollte, wie bereits gesagt, im Sturz des Peronismus ihre Bestätigung finden aber auch Folgen für die Deutung der Dinge haben. Die Spuren, die diese historische Diskrepanz – nach den Erklärungen von Altamirano26 – hinterlassen hatte, veranlassten die Jugendlichen, die sich mit den Erwachsenen in der Opposition zum Peronismus einig 22 Siehe NEIBURG, Federico: »Ciencias sociales y mitologías nacionales. La constitución de la sociología en la Argentina y la invención del peronismo«, in: Desarrollo Económico, Band 34, Nr. 136, Januar-März 1995. 23 SIGAL, Silvia: Intelectuales y poder en la Argentina. La década del sesenta, op. cit., S. 129. 24 ROUQUIÉ, Alain: Radicales y desarrollistas, Buenos Aires, 1975, S. 101. 25 TERAN, Oscar: Nuestros años sesenta, op. cit., S. 122. 26 Carlos Altamirano, »Intelectuales y pueblo«, op. cit., S. 321.

Intellektuelle und Politik in Argentinien | 193 gewesen waren, dazu, mit dem liberalen Progressismus ihrer Eltern zu brechen. Als sich das Thema einige Jahre später in der Kultur der Linken fest etabliert hatte, beruhte die Verständigung zwischen den Intellektuellen und dem Volk auf der Idee eines revolutionären Projekts. Somit wurde in den 1960er und 1970er Jahren der Weg frei für eine revolutionäre politische Bewegung, welche die nationale volkstümliche Tradition durch heftige Kritik am Reformismus der früheren Erfahrungen in die Radikalisierung trieb. Dieser revolutionäre Impuls spiegelte sich wider in militant-politischen Organisationen, die sich dem bewaffneten Kampf in den Städten verschrieben. Neben dieser populistischen Strömung peronistischen Ursprungs erwuchs eine andere, marxistisch-leninistische, die sich an der kubanischen Revolution inspirierte. Unter dem Signum der Revolution verbanden einige sehr junge Aktivisten, die sich unter bestimmten historischen Gegebenheiten zusammengefunden hatten und eine penetrante Rhetorik pflegten, öffentliche Aktionen mit ihren Träumen. Sie glaubten daran, mit der befreienden Gewalt die endgültige Lösung für eine gesellschaftliche Ordnung ohne Konflikte herbeiführen zu können. Neben der alles beherrschenden Idee des öffentlichen Lebens machte sich damals ein für die Zeit typischer Enthusiasmus breit, der in enger Verbindung stand mit radikalen Forderungen nach Gleichheit. Man könnte diese Jahre unter dem Blickwinkel eines größeren Zeitraums betrachten, der vergiftet war von der Gesetzlosigkeit der Institutionen, ein Zeitraum des gleichzeitigen Vorhandenseins und Fehlens von Demokratie, eine Periode der unterbrochenen, »gekappten« Geschichte und politischen Instabilität. Geprägt wurde diese Zeit von der Herrschaft der politischen Gewalt von Seiten der revolutionären Linken, des Staatsterrorismus und der paramilitärischen Organisationen. In einem erbarmungslosen Kampf stand die revolutionäre Gewalt der Gewalt des Militärstaates gegenüber, der – vor einer verstummten Gesellschaft – die Macht der Gewehre der Paramilitärs wirkungsvoll ersetzte. Die Macht des Wortes wurde von der Macht der Gewehre abgelöst. Bei einem derartigen Grad von Gesetzlosigkeit war die Erhaltung einer zivilisierten Ordnung unmöglich. Vor dem Hintergrund der politischen Gewalt jener Jahre beschränkten die Kämpfer der einen wie der anderen Seite (die Guerrilla wie die Streitkräfte) die Politik lediglich auf Krieg. Ziel dieser Praxis war schließlich die Ausschaltung und die »physische Vernichtung« des Feindes, der »unsere Existenz bedrohte«. Der Krieg, so vermerkt Carl Schmitt, ist die Voraussetzung der gegenwärtigen Politik als »reale Möglichkeit«. Politik beruht folglich auf dem Konflikt, und dieser erlaubt es, Freund und Feind zu unterscheiden und zu trennen. Bei dieser Logik verliert die Politik jeglichen Sinn und jegliche Rationalität. Deshalb sind die Menschenrechte mehr als je zuvor der letzte Bezugspunkt der Gesellschaft. Trotz der Verletzungen, die die Menschenrechte durch das Vorgehen des autoritären Staates sowie die parallelen Aktionen bewaffneter Gruppen erlitten, haben sie ihre Gültigkeit nicht verloren, zumal sie universelle Werte verkörpern, die zu moralischen Maximen geworden sind: Leben, Freiheit und Sicherheit. Ein umfassendes historisches Urteil über jene Zeit steht noch aus, bisher liegen nur fragmentarische Arbeiten über verschiedene rivalisierende Sichtweisen vor. Es existiert noch keine Betrachtung des Vorgehens der bewaffneten Organisationen unter dem Gesichtspunkt der politischen Verantwortung. Wäh-

194 | Hugo Quiroga rend der vergangenen vier oder fünf Jahre haben einige jener Aktivisten, die an den Operationen der bewaffneten Trupps beteiligt waren, allerdings eine Erklärung zu geben versucht, die in manchen Fällen Selbstkritik enthält, das heißt Kritik an den Erfahrungen und der politischen Weltsicht der Revolutionäre von damals. In einigen Arbeiten journalistischer Provenienz traten Elemente einer Vergangenheit zu Tage, die in Verbindung mit der politischen Gewalt stand, eine Vergangenheit, die noch keineswegs abgeschlossen ist und nach neuen Interpretationen verlangt. Man muss aber auch eingestehen, dass bei der Beschäftigung mit einer selbst erlebten und erst so wenige Jahre zurückliegenden Zeit gewisse Schwierigkeiten auftauchen, da den Geschichtsschreibern auf Grund der Gleichzeitigkeit der Geschehnisse die nötige subjektive Distanz fehlt. Die 1960er und 1970er Jahre symbolisieren auf tragische Weise die lange Geschichte von Konfrontation und Distanz in Argentinien während des 20. Jahrhunderts: Zivilisten versus Militärs, Peronismus und Antiperonismus, Revolution und Gegenrevolution. Die politischen Leidenschaften, die jene Jahre beherrschten und Schrecken und Verzweiflung verbreiteten, überstiegen alles vernunftmäßig Vorstellbare. Diese revolutionäre politische Bewegung, die angeführt wurde von der intellektuellen Mittelschicht, scheiterte bei ihrem Versuch, den ersehnten Anschluss an die Volksmassen, aber diesmal auf dem Weg zur Macht, wieder herzustellen. Die Intellektuellen, die diese Bewegung unterstützten, wollten sich am Entstehungsprozess einer neuen Form der Macht beteiligen, sie engagierten sich für die Angelegenheiten der Welt und schlossen sich einer politischen Strömung an, welche die etablierte Ordnung befehdete. Die politische Berufung eines kritischen und engagierten Intellektuellen zeigte sich in seiner Beteiligung am revolutionären Kampf. Am größten war die Distanzierung zwischen Intellektuellen und dem Staat während der Zeit der Militärdiktatur in den Jahren 1966 und 1976. Zu offener und direkter Ablehnung kommt es unter den autoritären Regimen, die jegliche Äußerung kritischen Geistes verurteilen und das Auftauchen von Zirkeln intellektueller Opposition verfolgen.27 In einer anderen Situation, unter der totalitären Herrschaft der Länder Osteuropas, hat Vaclav Havel, obwohl er sich nicht als »intellektuellen Dissidenten« betrachtet, in seinem gesamten Werk die Rolle der Dissidenz thematisiert, die mit seiner Vorstellung von der »Verantwortung als Schicksal« durchaus verwandt ist. Havel sagt: »Ich glaube, dass das, was unter der Sowjetherrschaft als ›Dissidenz‹ bezeichnet wurde, eine besondere Erfahrung der modernen Zeit ist, die Erfahrung, sichtbar und sehr nahe an der entmenschlichten Macht zu leben. Daher haben die ›Dissidenten‹ nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Pflicht, diese Erfahrung zu reflektieren, sie zu dokumentieren und sie denen zu vermitteln, die das Glück hatten, sie nicht erleiden zu müssen.«28 In Lateinamerika stützte sich die intellektuelle Opposition während der Diktatu27 Zu diesem Thema verweise ich auf den Text von ALTAMIRANO, Carlos: »Régimen autoritario y disidencia intelectual. La experiencia Argentina«, in: QUIROGA, Hugo/César TCACH (Hrsg.): A veinte años del golpe. Con memoria democrática, Rosario, 1996. 28 HAVEL, Václav: »La politique et la conscience«, in: HAVEL: Essais politiques, Paris, 1990, S. 245-246.

Intellektuelle und Politik in Argentinien | 195 ren auf mehrere Grundideen: das Wesen des autoritären Regimes, der Übergang zur Demokratie und die Verteidigung der Menschenrechte. Diese Themen nahmen Gestalt an in den Debatten akademischer Zentren und in Fachzeitschriften, die einen fruchtbaren Gedankenaustausch förderten29 (erwähnt seien CLACSO, CEDES, CISEA30, Crítica y Utopía, Controversia, Desarrollo Económico, Punto de vista). Die Forderung nach Einhaltung der Menschenrechte bedeutete die völlige Ablehnung des Autoritarismus: diese beiden Termini waren politisch in keiner Weise miteinander vereinbar. Der Kampf zur Verteidigung dieser Rechte rüttelte an den Grundfesten der autoritären Ordnung und erlaubte das Entstehen eines neuen Szenariums, in dem sich eine ebenfalls neue Beziehung zwischen Menschenrechten und Politik entwickelte. Die Verteidigung des Rechtes auf Leben und die Achtung der Freiheit bildeten den Rahmen, innerhalb dessen das politische Geschehen stattfand. Vertreter der Menschenrechte und Intellektuelle fanden nun in der Politik eine gemeinsame Plattform der Begegnung. Eine herausragende Persönlichkeit, die auf intellektuellem Niveau zu argumentieren verstand und sich für die Menschenrechte einsetzte, war in den 1980er Jahren Ernesto Sábato, der den Vorsitz bei der CONADEP (Comisión Nacional sobre Desaparición de Personas, Staatliche Kommission zum Problem der Verschwundenen) führte. Der Bericht dieser Kommission unter dem Titel »Nunca Más« (Nie wieder) mit einem Vorwort von Sábato wurde dem damaligen Präsidenten Raúl Alfonsín im September 1984 überreicht. Hauptanliegen der argentinischen Militärs von 1976 war die Errichtung einer neuen Ordnung. Die autoritäre Herrschaftsform der Militärs setzte ein Unterdrückungssystem in Gang, das auf Einschüchterung, Folter, Tod und Verschwinden von Personen basierte und wozu die systematische Verletzung von Menschenrechten gehörte, ein Unterdrückungssystem, wie man es nie zuvor in Argentinien gekannt hatte. Das akademische Leben und die Welt der Intellektuellen waren zerstört durch das Eingreifen der Militärs in den öffentlichen Universitäten, durch die Verfolgungen im kulturellen Bereich, die Vertreibung von Professoren (wie schon während des de facto-Regimes von 1966), die Abschaffung von Studienfächern und die Einstellung der kritischen Forschung in den Sozialwissenschaften. Nicht wenige Vertreter der Intelligenz und der Kultur kamen ins Gefängnis, wurden gefoltert, andere ermordet, während die große Mehrheit in ein inneres oder tatsächliches Exil getrieben wurde. Trotz dieser dramatischen Umstände bildeten sich, wie bereits gesagt, während der Zeit der Diktatur Freiräume für Dissidenz und Reflexion, die einen kritischen und produktiven Austausch ermöglichten, ein Phänomen, das unter dem Namen »Uni-

29 Zu diesem Aspekt siehe LESGART, Cecilia N.: »Producción intelectual de la idea de transición a la democracia«, August 2002, mimeo. 30 CLACSO – Consejo Latinoamericano de Ciencias Sociales (Lateinamerikanischer Rat der Sozialwisenschaften) CEDES – Centro de Estudios de Estado y Sociedad CISEA – Centro de Investigaciones Sociales sobre el Estado y la Administración (Sozialforschungszentrum über den Staat und die Verwaltung)

196 | Hugo Quiroga versität der Katakomben« bekannt wurde. Diese Erfahrung bereitete in großem Maße das Feld für die Erneuerung, die im Jahr 1983 einsetzte.31

Intellektuelle und Demokratie Die 1980er Jahre waren die Zeit der Entdeckung der Demokratie und des Engagements der Intellektuellen für die Stärkung demokratischer Verhältnisse.32 Die Debatten der 1960er und 1970er Jahre über die Revolution und die Dependenztheorie sowie der Typus des Intellektuellen, der für die Revolution kämpfte, gehörten der Vergangenheit an. Die Länder Lateinamerikas, die zu jener Zeit den Prozess des Übergangs einleiteten wie Argentinien, sahen sich inmitten einer Vielzahl von Unsicherheiten vor die komplexe Aufgabe gestellt, eine demokratische Ordnung mit einem System dauerhafter Garantien zu installieren. Seit Mitte der 1970er Jahre hatte das intellektuelle Schaffen allmählich ein neues kulturelles Klima entstehen lassen. Lechner nennt vier Aspekte, die zur Neubewertung der Demokratie in Lateinamerika beitrugen. Erstens die dramatischen Veränderungen des bürgerlichen Lebens durch die diversen Staatsstreiche. Die Situation der Ungewissheit führte nicht nur zum Überdenken des eigenen Lebens, sondern auch dazu, zuvor nicht beachtete Probleme wahrzunehmen und zu verstehen. Die Militärdiktaturen mit all ihren Charakteristiken (Toten und Verschwundenen, Terror, kultureller Rückständigkeit, Elend und Einschränkungen) trugen zu dieser veränderten Wahrnehmung bei. Deshalb beruhte diese Neubewertung der »formalen Demokratie« eher auf persönlichen Erfahrungen als auf einer theoretischen Reflexion. Zweitens erwähnt Lechner die internationale Mobilität der Intellektuellen auf Grund des Exils und die Entstehung von privaten nationalen Zentren, in denen sich das akademische Denken erneuert und Provinzialismus immer seltener anzutreffen ist. Drittens – die intellektuelle Öffnung, die den kulturellen Horizont erweitert und die Lektüre von vorher unbekannten Werken und Autoren ermöglicht. Viertens, die zunehmende Professionalisierung der Intellektuellen, die den Prozess der Spezialisierung beschleunigt.33 Vor dem Hintergrund dieses intellektuellen Wandlungsprozesses versuchten lateinamerikanische Autoren und Autoren aus anderen Ländern die Bedeutung der autoritären Regime zu verstehen. Sie taten dies anhand verschiedener Erklärungen und unter umfassenderen 31 Siehe den Artikel von SABATO, Hilda: »Sobrevivir en dictadura: las ciencias sociales y la ›universidad de las catacumbas‹«, in: QUIROGA, Hugo/César TCACH (Hrsg.): A veinte años del golpe. Con memoria democrática, op. cit. 32 Eine interessante Diskussion über das Thema der Identität und die Funktionen der Intellektuellen in Lateinamerika während der 1980er Jahre findet sich bei: ARROSA SOARES, Maria Susana (Hrsg.): Os intelectuais nos processos políticos da América Latina, Porto Alegre, 1985. Das Buch ist das Ergebnis eines Seminars zu demselben Thema, das im August 1984 von der Universidade Federal do Rio Grande do Sul in Porto Alegre organisiert wurde und unter der Schirmherrschaft von CLACSO und CNPq stand. 33 LECHNER, Norbert: Los patios interiores de la democracia. Subjetividad y política, Santiago, 1990, S. 23-26.

Intellektuelle und Politik in Argentinien | 197 Perspektiven, nicht mehr unter den klassischen, eng begrenzten Blickwinkeln; am politischen Horizont stand für sie die gemeinsame Schaffung der Demokratie.34 Die Schwierigkeiten beim Übergang zur Demokratie, vor allem in der Südhälfte Lateinamerikas, waren zahlreich und nicht einfach zu lösen. Zur gleichen Zeit, als die neue Demokratie um ihre politische Institutionalisierung kämpfte, musste sie sich den Erfordernissen einer veränderten Weltwirtschaft anpassen, die sich eindeutig der Liberalisierung der Märkte und einer wirtschaftlichen Öffnung zuwandte. Dieser Prozess der Demokratisierung fand statt inmitten einer Zeit von Privatisierungen, schwieriger struktureller Veränderungen, einer Reform des Staates und der Steuerkontrolle und wurde zudem erschwert durch die gewaltige Last der Auslandsschulden. Mit den von der Gesellschaft erhofften und gewünschten Änderungen nach dem Ende der Militärregime wurde unwiderruflich die Forderung laut nach einer Neubegründung der Politik, der Erneuerung der prätorianischen Kultur und des öffentlichen Lebens, der Reformierung des institutionellen Systems, der Restrukturierung der Wirtschaft und der sozialen Integration von weiten Sektoren gesellschaftlich Ausgeschlossener. Die Sorge um die Zukunft der lateinamerikanischen Gesellschaften erfüllte damals das Denken der Mehrheit der Sozialwissenschaftler. In den 1980er Jahren konzentrierten sich die Untersuchungen auf den Übergang von einer autoritären Ordnung zu einer demokratischen. Das Objekt des Wandels war das politische Regime. Hauptinteresse dieser Arbeiten war es, die Gründe, die die Veränderungen in den autoritären Regimen bewirkt hatten, zu analysieren sowie die Möglichkeiten der Dauerhaftigkeit dieser vor kurzem erst installierten demokratischen Regierungen zu erforschen. Daraus erwuchs die Theorie des Übergangs auf der Grundlage der Beobachtung der praktischen Erfahrungen, wie sie viele Länder unseres Kontinents als beherrschendes politisches Phänomen durchlebten. Die konzeptionellen Voraussetzungen dazu waren jedoch während der demokratischen Übergangsprozesse im Süden Europas (in Spanien, Portugal und Griechenland) in der Mitte der 1970er Jahre erarbeitet worden. Am Ende der 1980er Jahre, nach dem Fall der Berliner Mauer, begann mit dem Untergang des Kommunismus auch im Osten Europas eine Etappe des demokratischen Übergangs, was jener Theorie neue Perspektiven eröffnete. Die ersten Texte zum demokratischen Übergang in Lateinamerika erschienen genau zu dem Zeitpunkt, als der oben erwähnte politische Wandel stattfand. Ohne jegliche Möglichkeit zur Distanz entstanden die Texte gleichzeitig mit den Veränderungen und den sich wandelnden Verhältnissen. Eine der am meisten beachteten 34 Nur zur Illustration verweise ich auf die Zusammenstellung von COLLIER, David: El nuevo autoritarismo en América Latina, erschienen auf englisch 1979, ins Spanische übersetzt 1985 und veröffentlicht vom »Fond für Wirtschaftskultur« Darin enthalten sind Beiträge von F.H. Cardoso, J. Cotler, A.O. Hirschman, R. Kaufman, J. Kurth, G.A. O’Donnell, J. Serra. ROUQUIÉ, Alain: L’Etat militaire en Amérique Latine, Paris, 1982; CHERESKI, Isidoro/Jacques CHONCHOL (Hrsg.): Crisis y transformación de los regímenes autoritarios, Buenos Aires, 1985. Der Band enthält außerdem Texte von J.J. Brunner, G. Campero, Juan Corradi, A. Garretón, C. Hurtado Becca, A. Thompson, S. Sigal, B. Lamounier, S.C. Velasco e Cruz.

198 | Hugo Quiroga Arbeiten (die auch Studien über Südeuropa enthält) ist das von Guillermo A. O’Donnell, Philippe Schmitter und Laurence Whitehead zusammengestellte und 1986 auf englisch veröffentlichte Werk Transiciones desde un gobierno autoritario.35 In den 1990er Jahren fanden in Lateinamerika immer noch neue Themen Eingang in die theoretisch-politische Debatte, zum Beispiel das Thema der demokratischen Konsolidierung, sozusagen in einer zweiten Generation von Arbeiten zum Übergangsprozess, die sich vor allem mit den Reformen des Marktes und einer Strategie demokratischer Regierbarkeit beschäftigten. Im Moment gilt die Hauptsorge der Qualität der Demokratie und der Effizienz der öffentlichen Institutionen. Nachdem die Bedrohung durch einen Staatsstreich der Militärs verschwunden ist, richten die neuen Demokratien alle ihre Anstrengungen darauf, ihre Regierungsfähigkeit und ihre Erfolge bei der Staatsführung zu verbessern, die Schwächen ihres institutionellen Netzwerkes zu beheben, sie konzentrieren sich auf die Bekämpfung der Wirtschaftskrise sowie auf die Verbesserung der sozialen Verhältnisse, was die Intellektuellen vor neue Aufgaben stellt. In Argentinien wie auch in anderen Ländern bedeutete der Übergang eine doppelte Herausforderung. In politischer Hinsicht war es ein Kampf gegen die Reste eines zwar geschwächten aber noch vorhandenen Autoritarismus. Die Protagonisten des Übergangs übernahmen es, für mehr Loyalität gegenüber dem demokratischen System sowohl im bürgerlichen wie im militärischen Leben zu sorgen, um so das Bestehen einer neuen institutionellen Ordnung zu sichern. Dies bedeutete die Wiederbelebung der Politik des zwangsmäßigen Besitzes der Militärs und die Neuerschaffung eines freiheitlichen öffentlichen Raumes als Plattform für jene Akteure, die die Demokratie mit Leben erfüllen sollten. Im wirtschaftlichen Bereich ging es darum, ein Entwicklungsmodell zu finden, das es erlauben würde, die Krise im Rahmen der weltweit sich ändernden Bedingungen und innerhalb der durch eine beträchtliche Auslandsschuld gesteckten Grenzen erfolgreich zu überwinden. Die Meinungen der Intellektuellen und Experten trugen mit zu dieser Erfahrung des Neubeginns bei. Eine entscheidende Wendung in der Geschichte der Intellektuellen Argentiniens findet während der Regierung von Raúl Alfonsín nach der Wiederherstellung der Demokratie im Jahr 1983 statt. Das Bedeutende dieses neuen Prozesses war die Annäherung der laizistischen und progressistischen Intellektuellen an den Staat, ganz im Gegensatz zu dem enormen Misstrauen, wie es das Militärregime von 1976 gegen sie geschürt hatte. Präsident Alfonsín rief eine Gruppe von unabhängigen, der Radikalen Partei nahestehenden Intellektuellen zusammen, bei der Ausarbeitung seiner Redetexte mitzuarbeiten, welche die großen Themen der politischen Tagesordnung umreißen sollten. Mit diesem Aufruf, der keine Parteizugehörigkeit voraussetzte, änderten sich die Beziehungen zwischen den Intellektuellen und der politischen Macht. Bedeutendstes Ergebnis der Arbeit dieses Kreises von »Männern der Idee«, bekannt als »Gruppe Esmeralda«, war die Rede, die Alfonsín im Dezember 35 Unter den zahlreichen Werken über Argentinien erwähne ich stellvertretend den von NUN, José/Juan Carlos PORTANTIERO zusammengestellten Text, Ensayos sobre la transición democrática en la Argentina, o.O., 1987.

Intellektuelle und Politik in Argentinien | 199 1985 vor dem Plenum der Delegierten vor dem Nationalkommitee seiner Partei im »Parque Norte«36 hielt. Der Text war geprägt von kämpferischen Ideen und legte die Grundlinien für eine langfristige Erschaffung einer »anderen Gesellschaft« fest. Die wichtigsten vom Präsidenten angesprochenen Themen, die »partizipative Demokratie«, die »Modernisierung« und die »Ethik der Solidarität«, signalisierten einen Richtungswandel in der Regierungspolitik und waren gleichzeitig ein Appell an die Akteure des Übergangs jenseits der offiziellen Parteiinteressen. Dieser Aufruf, zwei Jahre nach Wiedereinführung der Demokratie, war von besonderer Bedeutung und löste in politischen und kulturellen Kreisen eine heftige Debatte über die darin enthaltenen Forderungen und Bedingungen aus. In einer Analyse dieser Botschaft des Präsidenten betonte Atilio Borón, dass es, abgesehen von einzelnen Diskrepanzen, in der argentinischen Politik nicht häufig vorkam, dass ein Präsident dazu aufrief, ein ehrgeiziges Programm sozialer Veränderungen zu diskutieren und in die Wege zu leiten. »Es wird also niemand leugnen können, dass diese Botschaft Alfonsíns die politische Debatte in unserem Land auf ein anderes und qualitativ höheres Niveau hob, als wir es seit langer Zeit gewohnt waren.«37 Fünf Jahre danach beschäftigten sich zwei der Teilnehmer, die an den Vorbereitungen und der Ausfertigung der Rede vom »Parque Norte« beteiligt gewesen waren – Portantiero und De Ipola, zwei unabhängige Intellektuelle – nochmals mit dieser Zusammenarbeit und erstellten eine treffende Bilanz.38 Sie gestanden ein, dass die alles verschlingende nationale Krise jenen Ausführungen jeglichen Widerhall nahm und sie zu einem Stück ferner Vergangenheit werden ließ, als eine Lösung der Probleme ausblieb. Wenn die Worte Alfonsíns jedoch noch heute irgendeine Bedeutung haben – so die beiden Autoren –, dann dank der Tatsache, dass sie die Themen der politischen Tagesordnung auf lange Sicht bestimmten. In dem Bewusstsein, sich als Intellektuelle für die Demokratie zu engagieren, sehen Portantiero und De Ipola diese Mitarbeit als Teil »eines Versuchs, der Wiederherstellung der Demokratie in Argentinien trotz aller Schwierigkeiten Sinn zu verleihen.« Sie tun dies, obwohl sich nach Meinung mancher Vertreter der kulturellen Sphäre die »Männer der Ideen« von der Macht fernhalten sollten, um die Ausübung der Kritik zu garantieren und jegliche Beeinflussung zu vermeiden. Es sei aber auch darauf hingewiesen, dass andere Intellektuelle in verschiedenen Ressorts der Regierung Alfonsín mitarbeiteten, obwohl sie zu keiner Gruppe gehörten (wie beispielsweise Juan Sourrouille im Wirtschaftministerium). Der kritische Intellektuelle verzichtet nicht auf seine Verantwortung – die Demokratie zu stärken und zu verbessern und die öffentliche Debatte voranzutreiben –, wenn er eine Funktion in bestimmten Bereichen der politischen Entscheidungszen36 Die Rede erhielt den Namen, weil sie in privatem Rahmen in den Salons des »NordParks« in Buenos Aires gelesen wurde. 37 BORON, Atilio: »Los dilemas de la modernización y los sujetos de la democracia«, in: AZNAR et. al: Alfonsín, discursos sobre el discurso, Buenos Aires, 1986, S. 51. 38 PORTANTIERO, Juan Carlos/Emilio DE IPOLA: »Luces y sombras de un discurso transcendente«, in: PORTANTIERO, Juan Carlos: El tiempo de la política, Buenos Aires, 2000.

200 | Hugo Quiroga tren übernimmt. Die Sphären des Denkens und des politischen Handelns sind zwar von einander getrennt, dennoch ist die Beziehung zwischen ihnen problematisch. Jene kritischen Intellektuellen, die in gewisser Weise am politischen Geschehen beteiligt waren, konnten den Bereich des öffentlichen Lebens stärken, ohne irgendeine Art von »Verrat« zu üben. Von ihrer »Geburt« an bis 1983 traf die argentinische Demokratie immer wieder auf erhebliche Schwierigkeiten, die der Legitimierung ihrer Institutionen im Wege standen. Deshalb war die historische Perspektive, die sich 1983 eröffnete, eine ganz außergewöhnliche. Die Gesellschaft konnte nun die Zeit, als in ihrem Land nichts vorhersehbar war, die Epoche der instabilen Demokratie, als abgeschlossen ansehen. Dazu hatten die »Männer der Kultur« vieles zu sagen. Der Typus des Intellektuellen, von dem ich spreche, begleitete den Prozess der Wiederherstellung der Demokratie ab 1983 und trug dazu bei, dass die Gesellschaft über ihre Probleme nachdachte und langfristige Ziele diskutierte. Nach der Bilanz von Portantiero und De Ipola, hatten sich die politischen und sozialen Kräfte, die die Initiative dazu hätten übernehmen können, von dem Aufruf distanziert, da sie ihn als ›stillschweigendes Manöver einer Hegemoniepolitik mit Misstrauen beobachteten‹. Alles in allem war es das Hauptverdienst der Politiker dieser neuen Epoche mit all ihren Höhen und Tiefen, dass sie einer zwischen 1930 und 1983 von sechs Staatsstreichen unterbrochenen institutionellen Entwicklung mit insgesamt 22 Jahren Militärherrschaft ein Ende setzten. Prätorianismus, geringer Wettstreit unter den Parteien und kaum Wechsel zwischen Zivilisten und Militärs an der Spitze der Macht waren die auffallendsten Merkmale des politischen Lebens während dieser langen Periode von mehr als fünfzig Jahren. Die qualitativen Änderungen, die mit dem Jahr 1983 eingetreten waren, blieben auch unter der Regierung von Carlos Menem bestehen, der die Intellektuellen zur Mitarbeit in verschiedenen Regierungsbereichen aufrief, beispielsweise im Erziehungs- und im Außenministerium. Der wichtigste Grund dieses Wandels war jedoch ein anderer; er hatte zu tun mit der Notwendigkeit spezieller Fachkenntnisse angesichts der Komplexität der Entscheidungsprozesse in den zeitgenössischen Gesellschaften. Experten, vor allem im Bereich der Wirtschaft (Domingo Cavallo, Roque Fernández), wurden in die peronistische Regierung aufgenommen und sorgten für ein mehr technokratisches Denken bei der Legitimierung der Macht. Die wachsende Bedeutung der Fachleute setzte in der argentinischen Gesellschaft die Diskussion über zwei Fragen in Gang: einerseits über das Profil der Intellektuellen (als Vertreter von Sinn versus Experte oder Techniker) und andererseits darüber, wer wirklich regiert (die Fachleute oder die Politiker).39 Fest steht, dass die 1980er Jahre einen neuen Prozess der Integration von Technikern, Experten und Intellektuellen in Regierungsfunktionen und im Bereich der Politik einleiteten.

39 Zur Beziehung zwischen Fachleuten und Politikern siehe IAZETTA, Osvaldo: Las privatizaciones en Brasil y Argentina. Una aproximación desde la técnica y la política, Rosario, 1996.

Intellektuelle und Politik in Argentinien | 201 Die Krise des klassischen Intellektuellen Der Prozess der Mediatisierung der Politik in Argentinien setzte ein mit der Wahlkampagne von 1989 (wenngleich seine Geschichte schon vorher begonnen hatte), als das Fernsehen zu einem aktiven Protagonisten der Politik wurde.40 Die Person des damaligen Präsidenten Carlos Menem repräsentierte überzeugend diese neue Form der Selbstinszenierung nach den Gesetzen des Showgeschäfts. In dieser modernen Rolle der Politik – einem Neuentwurf des Begriffs »Politik« – schien Menem ein begeisterter Vertreter ihrer Trivialisierung, obwohl sein Regierungsstil durchaus Entschlussfreude zeigte. Es ist bekannt, dass die heutige Politik von der Präsenz der Medien und von Umfragen bestimmt wird, mit bemerkenswerten Auswirkungen im herkömmlichen öffentlichen Leben, bei der Beteiligung der Bürger am öffentlichen Geschehen und im System der politischen Repräsentation. In den modernen Gesellschaften hat die Bevölkerung, wenn auch nicht ausschließlich, über die Medien Kontakt mit der Politik. Remo Bodei fasst diese Neuerung der jüngsten Vergangenheit in wenigen Worten zusammen: die Politik betritt die Wohnungen über das Fernsehen. Die klassischen Orte und Gelegenheiten gemeinschaftlichen Zusammenseins und gemeinschaftlicher Aktionen (im Wahlkampf, auf den Plätzen der Städte, bei Versammlungen) wurden allmählich vom audiovisuellen Raum ersetzt. In einer Zeit wie der heutigen ist erneut die immer wiederkehrende Meinung laut geworden, wonach das Parlament nutzlos ist, die Parteien überflüssig sind und der Ort, an dem Entscheidungen getroffen werden, in die machtvolle Sphäre der Exekutive verlagert werden sollte. Wegen des kollektiven Misstrauens gegenüber der politischen Klasse und des Prestigeverlustes des Parlaments sowie der übrigen öffentlichen Institutionen findet diese Meinung durchaus Anhänger. Der öffentliche Raum wird heute durch den Verfall der politischen Institutionen und die Krise der Politik als »Machtpolitik« neu definiert, und ist in den Kommunikationsmedien und den dazu gehörigen öffentlichen Sphären angesiedelt (was man als assoziativen öffentlichen Raum bezeichnet), in denen eine Politik anderen Formats gemacht wird. Während sich der klassische öffentliche Raum also neu definiert, erobern die Massenmedien die privilegierten Bereiche der Information und der Kommunikation. In der Gesellschaft der Kommunikationsmedien, in der wir leben, ist es schwierig, einen vernünftigen Diskurs über strategische Themen zu führen, der die Bildung der öffentlichen Meinung fördert, so dass die Probleme der Gesellschaft in der Öffentlichkeit überprüft würden und diese an den Denkprozessen teilnehmen könnte. Die Qualität der öffentlichen Diskussion wird immer schlechter. Zweifellos fügen sich die klassischen Intellektuellen schlecht in den neuen öffentlichen Raum, der nach den Prinzipien der Medien entstanden ist. Das Problem ist, wie Sarlo sagt, dass sich ein neuer Stil der intellektuellen Einflußnahme breitgemacht hat, der dem klassischen Typus des Intellektuellen zuwider läuft. Die kritischen Intellektuellen, so die

40 Siehe LANDI, Oscar: Devórame otra vez, Buenos Aires, 1992.

202 | Hugo Quiroga Autorin, »sind vollkommen eingesponnen in ein Netz, das einerseits die Techniker und andererseits die Intellektuellen der Massenmedien« umschließt.41 Obwohl der Aufstieg der mass media nicht notwendigerweise das Ende der konventionellen Tätigkeiten der Intellektuellen bedeutet, ist es doch eine Tatsache, dass die Massenmedien die öffentliche Diskussion beherrschen, dass sie die Termini und die Inhalte dieser Diskussion bestimmen. Der Markt wird infolgedessen zum Meinungsbildner, zum Promotor von »Werten« auf einem Gebiet, auf dem »die Logik der Schlussbilanz« gilt (die Anführungszeichen stammen von Goldfarb), da die Medien als Unternehmen organisiert sind, die rentabel sein müssen. Die neue Welt der »elektronischen Intellektuellen« (Ausdruck von Sarlo) wird dominiert von der Regenbogenpresse, während es an ernsthafter und verantwortungsbewusster Berichterstattung mangelt. Daher sind die politischen Programme mit wenigen Ausnahmen mehr auf ihren Unterhaltungswert, auf das rating, das schnelle Geld bedacht als darauf, der Demokratie zu dienen. Bei der Behandlung der Information während der gegenwärtigen argentinischen Krise konnten wir dies beobachten. Das Überleben der Demokratie hängt auch ab von dem Verantwortungsbewusstsein der gesellschaftlichen Kommunikatoren. Seit der Zeit Alfonsíns bis heute hat sich die Beteiligung der Intellektuellen am öffentlichen Leben tatsächlich intensiviert: als Ideologen, als Fachleute, als Prinzenberater. Die Person, die während der vergangenen Jahre am meisten an Bedeutung gewonnen hat, ist die des Experten, da seine Fachkenntnisse ihn dazu befähigen, in den verschiedenen Kompetenzbereichen des Staates bei der Lösung von Problemen mitzuwirken, wozu spezielle Kenntnisse notwendig sind. Die Verbindung von Wissen und Erfahrung verleihen ihm Anerkennung auf Grund dieser Überlegenheit. Außerdem gibt es einen eher wissenschaftlichen Typus von Intellektuellen, der in den akademischen Kreisen der 1990er Jahre immer mehr hervortritt. Es sind dies hochspezialisierte Wissenschaftler mit Postgraduellen-Studien an renommierten Universitäten des Auslands, die internationale Kontakte haben und eher dem nordamerikanischen akademischen Modell nahestehen als dem europäischen.42 Gleichzeitig zeigt sich, dass in Zeiten der Krise wie jetzt noch ein weiterer Typus von Intellektuellen nötig ist, die ihre Fähigkeit, über das öffentliche Leben nachzudenken, zum Wohl der Allgemeinheit nutzen und noch den Mut haben, Fragen zu stellen, die Mächtigen herauszufordern und Machtpositionen zu hinterfragen – Intellektuelle des öffentlichen Lebens, die Urteile fällen, in vorderster Front stehen und Dinge vorwegnehmen, die über den Sinn des demokratischen Lebens nachdenken. Das Gespräch über alltägliche Angelegenheiten findet in der öffentlichen Sphäre statt, aber diese Sphäre gehört heute, wie wir wissen, vorrangig den Medien. Mit dem Vormarsch der auf Bildern basierenden Information ist die Kultur der Buchstaben und die auf Argumenten beruhende Kommunikation in den Hintergrund getreten. Der kritische Intellektuelle bewegt sich in der Welt der Buchstaben, und was in un41 SARLO, Beatriz: Tiempo Presente. Notas sobre el cambio de una cultura, o.O., 2001, S. 201. 42 Ich verweise auf die journalistischen Anmerkungen von LIBEDINSKY, Juana: »El nuevo perfil de los intelectuales del país«, in: La Nación, 27. und 28. November 2000.

Intellektuelle und Politik in Argentinien | 203 serer Zeit an Anerkennung verloren hat, wie Gadamer 43 sagt, sind das Wort und die Sprache, eine fatale Tatsache, die die Verständigung unter den Menschen erschwert. Was an Wert verloren hat, ist letztlich die Kommunikation in ihrer reinsten Form mittels des Wortes, und was innerhalb dieses allgemeinen Rahmens am meisten an Achtung eingebüßt hat, ist das politische Wort, genau das, was das Gespräch zwischen Personen im politischen Bereich ermöglicht. Welche Rolle spielt der kritische Intellektuelle im politischen Leben des 21. Jahrhunderts? Hat er überhaupt noch etwas zu sagen? Die Person des Intellektuellen scheint in der Öffentlichkeit Argentiniens derzeit zu fehlen. Die Darstellung der Krise und ihrer Merkmale sowie die Interpretation der gegenwärtigen Probleme werden von Journalisten übernommen und nicht so sehr von Intellektuellen und noch viel weniger von den politischen Parteien. Die Aufgabe des Intellektuellen, den es derzeit nicht gibt, wäre es, der »gegenwärtigen Erfahrung der Verunsicherung, der Haltlosigkeit und des fast völligen Verstummens« Ausdruck zu verleihen. Es geht weder darum, Gestalten der Vergangenheit (les maîtres penseurs, la République des Lettres, die eigentlichen Intellektuellen, insgesamt die Rolle der Führerpersönlichkeit) wieder zu beleben, noch auf das universell Gültige zu verzichten (was nicht bedeutet, das Ganze zu bestätigen), es geht vielmehr um Personen unserer Zeit, um Intellektuelle während der Jahre der Demokratie, die den Weg zur Neuerschaffung der demokratischen Gesellschaften und die Reformen ihrer Unvollkommenheiten mit verständlichen Ideen begleiten. Kann man neue Beziehungen zwischen den »Männern der Ideen« und der Demokratie in einer globalisierten, von nicht hinzunehmenden Ungerechtigkeiten gespaltenen Welt erwarten? Dies liegt in der Verantwortung der Intellektuellen und der Politiker.

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Linksintellektuelle in Argentinien und Brasilien | 207

Linksintellektuelle, Politik und demokratische Wende in Argentinien und Brasilien 1 Stefan Hollensteiner Angesichts einer von Rhetorik und Personalismus geprägten Politik und der Organisationsschwäche von Staat und Parteien besaßen Intellektuelle in Lateinamerika einen traditionell »überproportionalen Einfluß« (Touraine 1985). Im Gegensatz zu den politischen Regimewechseln erfuhr ihr Paradigmawechsel von der Revolution zur Demokratie nur geringe Aufmerksamkeit. In Argentinien und Brasilien entstanden bis zu den 1990er Jahren unterschiedliche Szenarien. Während die Intellektuellen am Rio de la Plata Einflussverlust und Randlage beklagten, feierte man in Brasilien den Aufstieg vieler Akademiker und die Wahl des ehemaligen-Dependencia-Soziologen Fernando H. Cardoso zum Staatspräsidenten.2 Jenseits des linksorthodoxen Vorwurfs der »Metamorphose« (Petras 1991) ist zu fragen: Wie und warum veränderten Linksintellektuelle ihr Selbstverständnis? Welche Denkbilder, Organisationen und Handlungsstrategien entwickelten sie, welche kollektiven Werdegänge und Wechselverhältnisse mit der Politik entstanden? Und trifft das Bild der »fernen Nachbarn« (Lovisolo 1995), das die marginalisierten argentinischen und mächtigen brasilianischen scientific communities gegenüberstellt, auch für die Linksintellektuellen zu? Im Folgenden werden solche Gruppen aus der Generation der »kritischen Soziologie« untersucht, die in den 1970er und 80er Jahren paradigmatisch die Hinwendung zur Demokratie verkörperten. Für Argentinien geht es um den Diskussionszirkel des Club de Cultura Socialista (CCS), der 1984 aus dem Zusammenschluss von sog. gramscianos argentinos – die sich um die Zeitschriften Pasado y Presente (PyP, 1963-65 in Córdoba, 1973/74 in Buenos Aires) und Controvérsia (1979/80 im mexikanischen Exil) gesammelt hatten – und Gründern der Zeitschrift Punto de Vista (seit 1978) entstand. In Brasilien werden die Kerngruppen der Forschungsinstitute Cebrap (Centro de Análise e Planejamento, seit 1969) und Cedec (Centro de Estudos da Cultura Contemporânea, seit 1976) in São Paulo untersucht, die in dem Lektürekreis Seminário de Marx (SdM, 1958-63) gemeinsame Ursprünge besaßen und sich in den Zeitschriften Novos Estudos (NE, seit 1981) und Lua Nova (LN, seit 1984) artikulierten. In Argentinien und Brasilien errichteten die Generäle in den 1960er Jahren ›au1 Der Aufsatz fasst einige Ergebnisse meiner Inauguraldissertation »Zwischen Aufstieg und Randlage. Sozialwissenschaftliche Linksintellektuelle, demokratische Wende und Politik in Argentinien und Brasilien, 1960-95« (J.W. Goethe-Universität Frankfurt, 2001) zusammen, die in Kürze in der Reihe Ibero-Americana des Verlags Vervuert (Frankfurt a.M.) erscheinen wird. 2 Vgl. zu Argentinien u.a. »Los intelectuales argentinos y la práctica politica«, La Maga, 1.4.1992, die Clarí-Serie »El silencio de los intelectuales«, 11.+25.11.1993; Peter B. Schumanns FR-Beiträge »Im Schatten des Doktor Frosch«, 13.5.1995, »Der regierende Gigolo«, Ostern 1996. Zu Cardosos Wahl vgl. u.a. »A Maria Antônia chegou là«, Veja, 12.10.1994, »Arribaçâo elegante«, Isto é, 16.11.1994, Stephan Hollensteiner, »Der Soziologe als Präsident«, FR, 2.8.1995, Müller-Plantenberg (1995).

208 | Stefan Hollensteiner toritär-bürokratische Regime‹. Wurde in Argentinien (1966-73, 1976-83) qua Repression und Ausschaltung der Vermittlungskanäle jede politische Legitimation zerstört, bewahrten die brasilianischen Generäle (1964-1989) in Politik und Zivilgesellschaft gemäßigten Pluralismus sowie formaldemokratische Verfahren. Auch die Transitionsprozesse unterschieden sich in Dauer und Verlauf und eröffneten verschiedene opportunity structures. Die argentinische transition by collapse führte nach Zusammenbruch der Militärs – ausgelöst durch die Niederlage im Falkland/Malvinas-Krieg – in nur 15 Monaten zu demokratischen Institutionen. In Brasilien kam es zu einer von den Militärs initiierten und kontrollierten transition by imposition, in der nach einer Dekade freie Wahlen und Verfassungsgebung stattfanden. In beiden Phasen – in der von Geisel eingeleiteten distensão, die vom Nachfolger Figueiredo zur abertura vertieft wurde – kam es zu im- und expliziten Pakten zwischen Regime und Opposition, die die Dialektik von Eroberungen und Regime-Zugeständnissen zu eigenen Gunsten – zu einer transition by transaction – verändern konnte. Hatte in Argentinien die Repression die Intellektuellen lange behindert, gab ihnen der schnelle Kollaps Auftrieb; besaß in Brasilien die Opposition frühe Handlungsmöglichkeiten, musste sie die Dominanz der Generäle hinnehmen. Die Verflüssigung der Akteurskonstellationen beschränkte sich in Argentinien auf die Übergangsphase 1982/83, während sie sich in Brasilien bis zu den Wahlen zum Staatspräsidenten (1988) erstreckte.

Denkbilder – vom Marxismus zum Liberalismus Als Deutungs- und Reflexionselite nahmen die untersuchten Gruppen beider Länder seit den 1960er Jahren intensiv an der Diskussion über Politik und Gesellschaft teil. Nachdem sie aus neo-marxistischer Sicht über Entwicklung und Dependenz nachgedacht hatten, machten sie ab den 1970er Jahren die Demokratie aus mehreren Gründen zum neuen politischen Leitbild: Zum einen hatten sich linke Ideale wie Revolution oder Sozialismus (besonders im Ostblock) erschöpft, zum anderen ließ sie die Erfahrung von Repression und Folter die als ›formal‹ verurteilten liberalen Bürgerrechte schätzen. Die »demokratische Ideologie« (Flisfish 1983) wurde so Hoffnungsbanner für Reformideen, die von der liberalen Eliten- und Konkurrenzdemokratie bis zur Partizipation der Unterschichten reichten. Innerhalb der ›Wende zur Demokratie‹ können drei verschiedene Momente abstrahiert werden. In einer ersten Phase lösten sich die jungen Intellektuellen von linken Orthodoxien. In der zweiten Phase machten sie die Demokratie zum expliziten Diskursmittelpunkt und versuchten, reformmarxistisches und liberales politisches Denken zu verbinden. Politische Akteure waren nun nicht länger durch Klassenlage determiniert, Herrschaft der Arbeiterklasse bedeutete nicht automatisch Emanzipation (Chilcote 1994). Nachdem die Linke angesichts ökonomischer Ungleichheit und usurpiertem Liberalismus traditionell substantielle Demokratieaspekte betont hatte, sollten nun prozedurale Kriterien neue Legitimations- und Partizipationschancen eröffnen. Bei den Argentiniern umfasste diese Phase Controvérsia-Diskurs, PdV-Anfänge und CCS-Gründung (bis Ende 1980er Jahre); bei den Paulistas die ca. ersten fünfzehn Cebrap-Jahre und die Cedec-Anfänge (bis Mitte 1980er Jahre). Ab den spä-

Linksintellektuelle in Argentinien und Brasilien | 209 ten 1980er Jahren ging der Diskurs (dritte Phase) in die Reflexion des krisenhaften Statusquo über. Obwohl die kritische Aneignung des Marxismus Mitte der 1960er Jahre zum direkten Kontakt zwischen beiden Gruppen führte,3 gingen SdM- und PyP-Gründer bald getrennte Wege. Die jungen PyP-Gründer machten – entgegen den stalinistischen argentinischen Kommunisten – Marx und Gramsci zu Gewährsmännern eines ›national-populären‹, auf die peronistischen Massen zielenden Transformationsprojekts. Nachdem sie in der zweiten PyP-Folge ›die Gärungsfunktion‹ politischer Gewalt zum sozialistischen Wandel (Aricó 1988: 77-81) begrüßt hatten, sagten sie sich mit der Eskalation des Bürgerkriegs von politischer Gewalt los. Im Exil bekräftigten die 13 Ausgaben von Controvérsia (unter Mitwirkung der Reformperonisten) die Akzeptanz reformistischer Politikstrategien und liberaldemokratischer Grundrechte. Während der Diskutierzirkel der mesa socialista eine »sociedad igualitaria, democrática y pluralista« (Controvérsia, no. 5, 1980) beschwor, näherte die Controversia-Beilage »La democracia como problema« (no. 10/11, 1981) die Ideen von Sozialismus und Pluralismus einander an. Die jungen Paulistas, die – wie in Cardosos Studie Empresário industrial e desenvolvimento económico no Brasil (1965) – das Scheitern des Entwicklungsnationalismus geahnt und sich Marx als Modernisierungs- statt als Revolutionstheoretiker angeeignet hatten (vgl. Cardoso 1988: 31, da Silva 1998), revidierten die Orthodoxien weit früher. Den an der USP Verbliebenen ging es – wie im Sammelband »Política e revoluçao no Brasil« (1965) – darum, den akademischen Marxismus im autoritären Kontext zu festigen. Cardosos 1966/67 mit Enzo Faletto in Chile verfasstes Opus »Dependencia y desarrollo en América Latina« hob zum einen die Semi-Autonomie politischer Akteure (Klassen, Parteien etc.) hervor, zum anderen die Möglichkeit einer »abhängig-assoziierten« Entwicklung. Das in Auseinandersetzung mit den Generälen entwickelte Denken der Paulistas zielte bald auf die Frage, wie Regime-Öffnung und breite Partizipation vorangebracht werden könnten. Im Sammelband »Autoritarismo e Democratização« (1975) skizzierte Cardoso eine angesichts der Entwicklungswidersprüche zwangsläufige Öffnung, das als Paulista-Kollektivdokument lesbare Programm Democracia para mudar (DPM, Cardoso 1978) wollte Pluralismus und Wohlfahrstsstaat zur »democracia substantiva« vereinen (ebd.: 31). Auch die Aktivitäten des 1976 von den Cebrap-Dissidenten Weffort und Moises gegründeten Cedec (Chauí 1982, Weffort 1984, Moisés 1986) kreisten um die Demokratiefrage.4 Gemeinsamer Nenner beider Institute war ein »reformismo socialista«, der aufbauend auf der Abgrenzung gegen Guerrilla-Gewalt liberaldemokratische Spielregeln und zivilgesellschaftliche Änderungswege verband (Coelho 1996) – und dank ökonomischer Dynamik, Regime-Konflikten und erstarkender Opposition à la longue Freiräume sah.

3 Giannotti besuchte 1963 die PyP-Gruppe in Córdoba, wo er und Cardoso Beiträge veröffentlichten. 4 Vgl. Seminarreihe »Democracia e Socialismo« (1978) und LN-Vorläuferheft »A democracia é possivel?« (RCP, no.2, 1980).

210 | Stefan Hollensteiner »Die Demokratie ist nicht identisch mit dem liberalen Staat. Aber […] der Sozialismus kann nicht verzichten auf die kulturelle und politische Anreicherung, die sich aus verschiedenen Errungenschaften des Liberalismus ergeben« (Portantiero 1988: 104). »Die zivilen Garantien sind unverzichtbare Bedingung für die Vermeidung der Bürokratisierung und Unterdrückung in jedwedem Regime: ob sozialistisch, kapitalistisch, demokratisch oder autoritär« (Cardoso 1975: 186). Der Wandlungsprozess der Gruppen vollzog sich auf unterschiedliche Weise und zu verschiedenen Zeitpunkten. Hatten die Paulistas Demokratie ab 1973 in den Opinião-Beiträgen in Reflexion auf die distensão in den Mittelpunkt gerückt, legten die CCS-Gründer erst in Controvérsia ihr liberaldemokratisches Glaubensbekenntnis ab. Obwohl im unmittelbaren Vergleich latecomer und early birds, hatten beide Gruppen schon vor ersten politischen Öffnungszeichen liberaldemokratische Prinzipen übernommen. Entwickelten die Paulistas den Demokratiediskurs mit biographisch-theoretischer Kontinuität und großer Selbstbestätigung, erlitten die Argentinier im inneren oder äußeren Exil eine Identitätskrise. Die Einsicht, mit dem eigenen Diskurs zur Entfesselung der Gewalt beigetragen zu haben, führte bei den CCS-Gründern zu einem kollektiven Mea Culpa. Beide Gruppen rekurrierten auf Klassiker reformmarxistischen wie liberalen politischen Denkens. Als selbsternannte gramscianos argentinos (Aricó 1988) war der Diskurs vieler CCS-Gründer zeitlebens von Gramscis Denken geprägt. In Córdoba diente er zunächst dazu, sich von den Dogmen der argentinischen Kommunisten zu befreien. Nach der Radikalisierung in der zweiten PyP-Folge kam es im mexikanischen Exil zur Relativierung (Portantiero 1983). Um den Hegemoniebegriff für eine liberale Ordnung zu operationalisieren, wurde zwischen einer autoritären »organischen« und demokratischen »pluralistischen« Hegemonie unterschieden (Portantierio 1988: 101). Die Gründung des CCS als Analyse- und Diskussionszentrum knüpfte an Gramscis Ideen von politischer Bildungsarbeit an, zum 50. Todestag erschien die LCF-Beilage »Gramsci en América Latina« (LCF, no. 6). Die Paulistas gaben Gramsci erst mit Transitionsbeginn größere Bedeutung, besonders die Cedec-Gründer dachten mit ihm die Umbrüche der späten 1970er Jahre (in Garcia 1986). Spiegelte Gramscis großer Einfluss bei den CCS-Gründern den Wandel von Revolution zu Reform (Chilcote 1994: 222), lasen ihn die Paulistas mit liberal getönter Brille. Gramsci erlaubte, marxistische Glaubenssätze im Sinne zivilgesellschaftlicher Politik zu revidieren, ohne linke Überzeugungen aufzugeben – und brachte ein Bündnis von Arbeitern und Bürgern gegen den autoritären Staat in den Blick. Im mexikanischen Exil erkannten vor allem Portantiero, de Ipola und Terán, dass progressive Demokratie auf Pluralismus und liberalen Freiheitsrechten aufbauen musste – »las libertades supuestamente burguesas eran una valla que separaba la muerte de la vida« (Portantiero 1988:2, orig. 1982). Blieb liberales Gedankengut im CCS primär in der Identitätsdebatte der Linken eingebunden, diente es den Paulistas zur Kritik am autoritären Staat. Obwohl der Autoritarismus dank periodischer Wah-

Linksintellektuelle in Argentinien und Brasilien | 211 len und eingeschränktem Pluralismus Liberalismus ex positivo erkennen ließ, verurteilten die Paulistas in ihren Opinião-Beiträgen mit dem Rekurs auf liberale Klassiker anhaltende Partizipationsdefizite, ohne linker Tendenzen bezichtigt werden zu können.5 War die Forderung nach Wiederherstellung von Bürgerrechten, Gewaltenteilung und Pluralismus gemeinsamer Nenner (Coelho 1995: 89), wuchsen nach der Parteienreform die Differenzen zwischen den liberalen Cebrap-Köpfen (Cardoso 1985) und den sozialistischeren Cedec-Gründern (Chaui 1982: 86-95). Während Weffort mit Madison und Luxemburg für eine Freiheits- und Gleichheitsideale versöhnende »democracia revolucionária« plädierte (RCC, no.2, 1979), verteidigte Cardoso bürgerliche Positionen und einen ›intelligenten‹ Kapitalismus. In seinem frühen Oppositionsengagement und den ersten Senatsjahren (Cardoso 1983) hatte er, in Verbindung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik, als Vermittler zwischen Wissenschaft und Politik gewirkt. Beginnend mit der Parteinahme gegen Direktwahlen diente die Bezugnahme auf Weber zunehmend dazu, realpolitische Kompromisse wie Unterschiede von Politik und Wissenschaft zu betonen. Statt der vermeintlichen Kluft zwischen wissenschaftlich-marxistischen und tagespolitisch-liberalen Prinzipien aber prägte Cardosos Denken früh die Revision beider Orthodoxien – und die kontinuierliche Verschiebung ihrer gegenseitigen Gewichte. »Das Spannungsverhältnis zwischen chaotischer Spontanität und starrer Ordnung kann nur durch einen ›demokratischen Pakt‹ geschlossen werden […], der institutioneller Rahmen ist, innerhalb dessen der soziale Konflikt ausgetragen werden soll, ohne die Unterschiede aufzulösen« (Portantiero 1988: 82 [orig. 1984]). »Wir wollen wirkliche Demokratie. Das autoritäe Regime sucht Konsens. […] Demokratie ist die Anerkennung der Legitimität des Konfliktes […] und die Suche nach Übereinkunft, die immer vorläufig ist« (Cardoso 1978: 22). Mitte der 1980er Jahre machten die CCS-Alfonsinistas Portantiero und de Ipola den ›politischen Pakt‹ zum zentralen Denkmuster (Portantiero 1984, Portantierio/de Ipola 1984). Weil die Krise des Landes primär politischer Natur sei, sollte gegenüber der Fragmentation von Parteien und Staat ein neuer ›demokratischer Gesellschaftsvertrag‹ vereinbart werden. Als »utopia de conflictos, de tensiones y reglas para procesarlas« (Portantiero/de Ipola 1984: 15) bezog sich die Paktidee auf zunächst formalprozedurale, danach ethisch-normative Elemente. Alfonsín erhob die Paktidee zum Programm und schuf damit innerhalb des CCS Kontroversen. Während die Alfonsinistas zu einer »actitud posibilista« und »prácticas culturales centradas en el orden, la establidad y el funcionamiento de las instituciones« (de Ipola 1986, 1988) aufriefen,

5 Vgl. u.a. F.H. Cardoso, »A esfinge fantasiada«, no. 9, 1.1.73; »As concessoes temerárias«, no. 13, 29.2.73; F. Weffort, »A democracia e a ›questao social‹«, no. 90, 29.7.74; daneben Cardoso 1978, Chauí 1982, Weffort 1984, Lamouniers »Importância de certos formalismos« (1981) und Coutinhos »A democracia como valor universal« (1980).

212 | Stefan Hollensteiner sahen die PdV-Köpfe darin ein Vehikel für tiefere Transformation (Sarlo 1986). Weil der gegenüber einer ohne Pakt vollzogenen Transition »nachholende« Gesellschaftsvertrag machtpolitische Faktoren ausblendete,6 wurden die CCS-Köpfe und Alfonsín mit Militärrevolten und Gewerkschaftsblockade von der »revancha de los intereses« eingeholt. In ihrem politischen Denken stellten die Institutsgründer aus São Paulo bis in die frühen 1980er Jahre die Idee einer »Konfliktdemokratie« in den Mittelpunkt, um eigene Oppositionsarbeit wie neue Demokratie zu begründen. Gewerkschaftsgesetze, Zweiparteiensystem und Verfahrensbeschränkungen waren für sie Teil der »democracia consentida«; Konfliktdemokratie meinte dagegen eine freie Artikulation aller Kräfte mit stets neuen Kompromissen. Reformmarxistisch zielte der Begriff auf die Partizipation der Lohnabhängigen (Moisés 1980, Chauí 1982, Weffort 1984), liberal auf die Artikulation von Parteien und Interessengruppen (Cardoso 1983, 1985). Auch die Paulistas betraten damit historisches Neuland und stellten die Elitenpolitik in einem autoritär-patrimonialen Staat infrage, mit dem die traditionellen Herrschaftsgruppen trotz Demokratisierungsschübe (1930 und 1945) die weitergehende Partizipation der Unter- und Mittelschichten verhindert hatten. Die Forderung nach freien Gewerkschaften, Parteien und Wahlen (Cardoso 1978: 37-45) wurde Gradmesser der Demokratisierung, die Konfliktidee sollte den MDB für den Dialog mit der Zivilgesellschaft öffnen und zur frente de oposições machen.7 Mit der Parteienreform trennten sich die Wege. Während Cardoso bei Eintritt in den Senat eine »grande negociação nacional« zwischen Parteien, Militär und Interessengruppen vorschlug (1983: 15) und die mit Regime-Dissidenten ausgehandelte indirekte Präsidentenwahl als Reformchance sah, hielten die PT-Anhänger am klassenorientierten Konflikt fest. Für sie war die unterlegene Direktwahlbewegung der Beweis für eine status quo-orientierte Transition – und Sarneys ›pacto político e social‹ für einen verordneten Konsens.

Gruppenorganisation – zwischen Zirkel und Institution In beiden Ländern zeichneten sich die Kerngruppen durch große personelle Kontinuität aus, wiesen aber zunehmend unterschiedliche Mitgliederstrukturen auf. Der von der Gesinnung geeinte Kern des Club de Cultura Socialista (CCS) umfasste Geistes- und Sozialwissenschaftler wie akademische Autodidakten (etwa den Initiator

6 Vgl. die LCF-editoriales »Convergencia política, divergencia social«, no. 2, 1986; »Hora de responsabilidad compartida«, no.7, 1987; »Entre pactos perfectos y acuerdos posibles«, no. 8-9, 1987; »El retorno de las negociaciones«, no. 10, 1988. Im DPN nahm der »las dificultades« betitelte Teil nur drei Seiten ein, die bald explodierende Militärfrage wurde nicht erwähnt. 7 Vgl. die Opiniao-Artikel von F.H. Cardoso, »O presidente e os partidos«, 9.9.74, »A normalidade das eleições«, 29.10.76; »Elites e massas«, no. 14, 5.3.73, F. Weffort, »O impasse da oposição«, 28.3.75; »Velhos desafios ao novo MDB«, 18.4.75.

Linksintellektuelle in Argentinien und Brasilien | 213 José Aricó),8 die Paulista-Kerngruppen verengten sich früh auf promovierte Sozialwissenschaftler und etablierten leistungsorientierte Mitgliedskriterien.9 Während der intellektuellen Sozialisation wurden Politisierung und Professionalisierung zu unterschiedlichen Weichen für den frühen Lebensweg. Im Argentinien der 1960er Jahre wurden die späteren CCS-Gründer von Partei- und Studentenpolitik geprägt, die jungen Paulistas dagegen von den französichen Lehrmeistern und, im Seminário de Marx (SdM) wie im Umfeld der Escola Paulista de Sociologia, von »camaraderia e rivaldagem« (Schwarz 1994). Die Unterschiede machten sich auch im Exil bemerkbar. Während die Argemex 1976 primär vor physischer Bedrohung flüchteten, hatten viele Paulistas – wie Cardoso und Weffort, die in Chile in internationalen Forschungsinstitutionen Ansehen und Erfahrung sammelten – vor allem bessere Berufschancen gesucht. Das Exil besaß eine gemeinschaftsorientierte Schutzfunktion bei den Argemex, eine individuelle Aufstiegsfunktion bei den Paulistas. In Bedrängungsmomenten tendieren Gruppen zur Abgrenzung, bei freier Entfaltung zur Öffnung und Erweiterung. Rückten mit der Demokratisierung in beiden Ländern affektive Bande in den Hintergrund, war der Wandel verschieden. Hielten die CCS-Gründer am Zirkelmodell fest, hatten die Paulistas sich schon im Widerstand institutionalisiert. Bestanden die Gründerkerne der Argentinier trotz Abspaltungen (noch) Ende der 1990er Jahre, hatten sich die der Paulistas aufgelöst. Mit der CCS-Gründung 1984 modernisierten die Argentinier ihr Zirkelmuster – bis Anfang der 1990er Jahre wuchsen schnell Mitgliederzahl, institutionelle Bindungen wie Bildungs- und Diskussionsaktivitäten. Der CCS füllte ein historisches Vakuum und war Teil des euphorischen Wiederaufbaus der demokratischen Öffentlichkeit. Doch in den 1990er Jahren geriet der CCS auch organisatorisch in die Defensive. Die Erschließung weiterer Finanzquellen scheiterte, die politisch-kulturellen Aktivitäten ließen nach, die Jüngeren fanden zur von Älteren dominierten »feeling structure« (Sarlo) nur schwer Zugang, und der interne Richtungskonflikt zwischen Öffentlichkeits- oder Gemeinschaftsorientierung führte zum Austritt einiger PdVGründer um Batriz Sarlo. Mit der Dominanz von affektiv-biographischen Bindungen kam es zum circulus viciosos von Binnenkluft, Generations- und Organisationsstarre – und Krisenmanagement. Die Paulistas initiierten früh Institutionalisierung und Marktorientierung, bewahrten aber auch affektive Elemente aus SdM-Zeiten. Implizit durch die Generäle erzwungen, verstand sich das Cebrap als oppositionelle Neugründung der Maria An8 Der historische PdV-Kern bestand aus drei Literaturwissenschaftlern (Altamirano, Gramuglio, Sarlo), einem Psychologen (Vezzetti) und einer Historikerin (H. Sábato), bevor (nach formaler Präsenz von Aricó und Partantiero) ab no. 40 ein Urbanist (A Gorelik) hinzukam. Der CCS ist durchmischter; er besteht aus Akademikern wie Freiberuflern (Journalisten, Künstler, Verleger). 9 Das SdM bestand aus Philosophen (Giannotti, Bento Prado Jr.), Soziologen (Cardoso, Ianni, Weffort), Ökonomen (Singer), Anthropologen (Ruth L. Cardoso), Historikern (F. Novais) und Literaturkritikern (Schwarz), von denen heute noch Giannotti und R. Cardoso zum Cebrap-Kern gehören. Beim Cedec waren eine Philosophin (Chauí) und Gewerkschaftler Mitbegründer.

214 | Stefan Hollensteiner tônia extra muros. Dabei ermöglichten die die Hegemonie des USP-Marxismus wie die teilweise im Exil geschmiedeten Bande die Rekrutierung und breite Solidarität der sozialwissenschaftlichen community in São Paulo. Indem Cardoso und Giannotti bei den Verhandlungen mit den Generälen diplomatisches Geschick bewiesen, gelang es den Paulistas, mit dem Cebrap die Gruppenmodernisierung mit größerer Unabhängigkeit vom autoritären Staat zu verbinden – und mit dem Cedec ein zusätzliches Standbein zu bauen. Beide waren privatfinanzierte »Centros Académicos Independientes« (CAI), die sich nach Aktivitäten und Selbstverständnis an drei Polen orientieren: an wissenschaftlicher Produktion, Zusammenarbeit mit Politik und Bürokratie, oder an der Entwicklung und Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft. Cebrap und Cedec änderten ihre Stellung mehrmals. Dem Cebrap gelang es, nach Anschubfinanzierung der Ford-Foundation zusätzliche Finanzquellen aufzutreiben, es bewegte sich zunächst qua Forschung und Oppositionsberatung auf Politik und Entwicklungsförderung zu, bevor es sich auf Wissenschaft konzentrierte (Hirshman 1982). Das Cedec war mit emanzipatorischem Demokratieideal stark an der Zivilgesellschaft orientiert, bewegte sich zum akademischen Pol und behielt gegenüber Cebrap einen Professionalisierungsrückstand (Jelin/Graham 1992). Während die CCS-Köpfe bis heute ein das Zirkelmuster tendenziell bewahrendes Kollektiv darstellen, modernisierten die Paulistas dieses auch in jenen Bedrohungsphasen, in denen die Argentinier zum Rückzug tendierten. Nachdem diese ihre um die Revistas entstandenen Gruppen über zwei Dekaden hinweg als Schicksalsgemeinschaften definiert hatten, blieben die affektiv-biographischen Bindungen auch in der Demokratie stark und behinderten Generationswechsel und stärkere Modernisierung. Den Paulistas dagegen dienten die Kollektive auch unter dem autoritäten Regime als Aufstiegs- und Interventionsvehikel. Binnenorganisation, Wettbewerb und Verwaltung der Fördergelder machten sie zu wissenschaftlichen entrepreneurs. Der CCS veranschaulicht die Probleme einer an Ideen, Charisma und biographischen Banden orientierten Gemeinschaft; die Paulistas-Institute die von aufstiegs- und modernisierungs-orientierten Wissenschaftlerkooperativen, die Ideenund Organisationswandel aufgeschlossen waren. Zugespitzt formuliert orientierten sich die CCS-Protagonisten bei Gruppenbildung an Vergemeinschaftungskriterien, die Paulistas an denen von Vergesellschaftung.

Öffentlich-politisches Engagement – zwischen Aufstieg und Randlage In Transitionsprozessen kann sich die agenda setting-Funktion der Qualitätspresse – die in Argentinien erst nach Regime-Kollaps, in Brasilien schon vor Regimewechsel Freiräume besaß – politisch aufladen. Das argentinische Militär hatte die Massenmedien gleichgeschaltet und duldete erst nach Ermordung und Vertreibung von ca. 500 Journalisten (vor der Fussball-WM 1978) eine Halb-Öffentlichkeit. Gegenüber den regimetreuen oder neutralen Tageszeitungen (Clarin) stärkte die auch an Kiosken verkauften Zeitschrift der PdV-Gruppe die schwache Opposition. Nach Regimeende diskutierten alle Blätter den demokratischen Neuaufbau – Politik wurde zum »puro espacio público« (Landi 1994:137).

Linksintellektuelle in Argentinien und Brasilien | 215 Die CCS-Gründer ergriffen erst nach einer Übergangszeit öffentlich das Wort. Zum einen hatte das Exil einen früheren Kontakt verhindert, zum anderen standen Resozialisierung und CCS-Gründung im Vordergrund. Die meisten schrieben in Clarín, wegen historischer Bindungen und großer Auflage bevorzugter Publikationsort. Mit dem neuen sich Menschenrechtsthemen annehmenden Mitte-Links-Blatt Página/12 (ab 1987) entstanden trotz Einzelbeiträgen keine regelmäßigen Verbindungen. Trotz des auch in der Presse spürbaren desencanto nach dem Machtwechsel – der Clarín schrieb vom »Schweigen der Intellektuellen« – kam es zum langsamen Ansehensverslust Menems. Dazu trug nicht zuletzt die neue Wochenzeitung La Maga bei (Untertitel: Noticias de Cultura). Die CCS-Köpfe waren dort primär als Interviewpartner präsent, beteiligten sich aber auch in Clarín und P/12 an der publizistischen Gegenoffensive. Im Kielwasser des demokratischen Aufbruchs erlangten die CCS-Köpfe also trotz ungünstiger Ausgangslage publizistische Prominenz und waren mit Beiträgen in ihren Revistas wie der Qualitätspresse an der Entstehung der zunächst primär von den Medien getragenen Opposition zu Menem beteiligt. Als Öffentlichkeitselite trugen sie dazu bei, dass Mitte-Links-Intellektuelle wieder öffentliche Sichtbarkeit erlangten (Sigal 1996: 289), wobei es – wie mit Sarlos Beiträgen in La Nación, lange ein Tabu-Blatt für die Linken – auch zur Überwindung früherer Gräben kam. Die brasilianische Transition eröffnete Presse und Öffentlichkeit wachsende Einflusschancen (Dillon Soares 1989). Zwar bewirkten direkte und indirekte Gängelung oft »erzwungene Zustimmung« (Smith 1997), doch bot die unsystematische, lange vor dem Regimewechsel abgeschaffte Zensur Entfaltungsmöglichkeiten. Insgesamt besaß die Presse drei Phasen (Singer 1994): Während der distensâo kanalisierte sie gemäßigte Öffnungsforderungen; in der abertura war sie an der Mobilisierung beteiligt; in der Nova República beschränkte sie sich auf Kontrollfunktionen. Die Paulistas engagierten sich früh im oppositionellen Wochenblatt Opinião (1972-76), das sie zu einem einflussreichen semanário de idéias machten. Nachdem sie als Demokratiserierungsexperten bekannt geworden waren, wurden sie in der öffnungsorientierten Qualitätspresse aktiv, bei der das kritische Wochenmagazin Isto é (ab 1976) und das wachsende Gewicht der Folha de São Paulo neue Möglichkeiten verschafften. Mit den Revistas im inneren und äußeren Exil, die bei den CCS-Gründern dem Engagement in der kommerziellen Presse vorausgingen, sowie den Beiträgen in der Qualitätspresse waren die Gruppen in beiden Ländern am Aufbau von Gegenöffentlichkeit – als eine »über Einzelfragen hinausgehende Opposition zu etablierten Positionen und Öffentlichkeitsstrukturen« (Costa 1997: 62) beteiligt, wobei die Paulistas dank der Ausstrahlung der Blätter aus São Paulo einen stärkeren Einfluss erlangten. Stand bei den CCS-Köpfen die Legitimation der Demokratie im Mittelpunkt, ging es den Paulistas oft um politische Mobilisierung; machten diese die Qualitätspresse noch vor Entstehung der Institutszeitschriften zu ihrem wichtigsten Ort öffentlicher Intervention, taten die CCS-Gründer das erst nach Gründung der eigenen Revistas.

216 | Stefan Hollensteiner »Wir hätten gerne eine zivile Gesellschaft; wir brauchen diese um uns vor dem monstruösen Staat, der uns gegenüber steht, zu verteidigen. Das bedeutet, wenn sie [die zivile Gesellschaft, d.Ü.] nicht existiert, müssen wir sie begründen. Wenn sie zu klein ist, müssen wir sie vergrößern. […] So wie sie die regionalen Ungleichheiten der Entwicklung des Kapitalismus im Land ausdrückt, verkörpert die zivile Gesellschaft auch die Ungleichheiten zwischen den Klassen« (Weffort 1984: 95-97). Von den Argenmex würdigte allein Portantiero mit abgekühltem Blick Zivilgesellschaft als Vermittlungsebene zwischen Ökonomie, Gesellschaft und Politik,10 obwohl diese in den 1970er Jahren aufgrund der nicht kanalisierten Partizipationswünsche zum Schauplatz politischer Gewalt geworden war. Auch die Transitionsmerkmale trugen zur Distanz bei – zum einen war der zivilgesellschaftliche Raum zerstört worden, zum anderen kam es zum schnellen Regime-Kollaps. Mit der Gründung des CCS, der sich als Institution »civil y pública« verstand, wollten die Intellektuellen zum Aufbau einer demokratischen Öffentlichkeit beitragen. Die Vortragslisten der ersten Jahre bezeugen Kontakte mit der Zivilgesellschaft – die CCS-Köpfe aber bewahrten, hin- und hergerissen zwischen Ziel und Mittel, demokratie-theoretische Zweifel am ›Druck der Straße‹. Nach Mitarbeit der CCS-Alfonsinistas im GdE konnte auch die gemeinsame Kritik an Alfonsíns Richtungswechsel keine engeren Bande mehr herstellen. Erst unter Menem gelang es dem CCS, mit den Initiativen comisión de enlace und iniciativa socialista Brücken zur Zivilgesellschaft zu schlagen, wobei die anhaltende Stärke der peronistischen Gewerkschaften aber weitere Anknüpfungspunkte zerstörte. Die Zivilgesellschaft in Brasilien war gegenüber dem autoritären Staat zunächst schwach, bewahrte aber ihre Akteursvielfalt. In der brasilianischen Transition wurden Staat und Zivilgesellschaft gestärkt. Cardoso erkannte (als erster) die Herausforderung, qua Bündelung der zivilgesellschaftlichen Kräfte den Mythos des allmächtigen Staats und der »Unmöglichkeit politischer Partizipation« zu überwinden (»Os mitos da oposição«, Opinião, 19.2 u. 2.4.1973.) Mit der abhängig-assoziierten Entwicklung war eine semiplurale Gesellschaft entstanden, deren Partizipationsdruck die existenten Kanäle sprengen würde. Mit der Kollektivveröffentlichung ›São Paulo, o povo em movimento‹ (Singer/Brant 1980) wurden novo sindicalismo, Stadtteil- und Schwarzenbewegungen als anti-autoritäre Zivilgesellschaft gewürdigt – wohlwissend, dass diese nur im Südosten stark war. Während die Berufs- und Interessenverbände der Mittelschichten um den Rechtstaat kämpften, forderten die kirchlichen und gewerkschaftlichen Bewegungen primär materielle Partizipation. Auch die katholische Amtskirche beteiligt sich stark (Keck 1992: 47). Nach dem befreiungstheologisch orientierten niederen Klerus kritisierte die nationale Bischofskonferenz Medicis Übergriffe. São Paulos linker Erzbischof Arns hatte zudem die Comissão de Paz e Justiça 10 PONTANTIERO 1988: 82 [orig. 1984]; Vgl. die der FLACSO-Arbeit entsprungenen Aufsätze »Sociedad Civil, estado y sistema política« (México 1981) und »Sociedad Civil, partido y grupos de presión en América Latina« (Madrid 1983; später in 1988: 105-120, 137146).

Linksintellektuelle in Argentinien und Brasilien | 217 geschaffen, die vom Cebrap materiell und personell – sowie 1976 mit der weitverbreiteten regimekritischen Untersuchung São Paulo, crescimento y pobreza – unterstützt wurde. Die Cebrap- und Cedec-Köpfe trugen wesentlich zur Politisierung einiger Jahreskongresse der Wissenschaftlervereinigung Sociedade Brasileira para o Progresso da Ciência (SBPC) bei, wo sie mesas redondas organisierten und Oppositionsstrategien mäßigten. Nach dem Verbot von Opinião (1977) und Schließung des Kongresses wurde der in offenem Konflikt mit der Regierung organisierte SBPC-Kongress 1977 zum Sammelpunkt der Opposition. Zugleich konnten sich die Paulistas (auch dank der ausführlichen Presseberichte) landesweit als eine über Demokratisierung wachende Gegenelite profilieren, durch die Bündnispolitik entstand. Auch in Brasilien gab die Zivilgesellschaft mit Etablierung der Demokratie politische Ersatzfunktionen ab, erlaubte den Cedec-Köpfen aber weiter elitenkritisches Engagement. 1984 mobilisierte das von der FSP unterstützte überparteiliche Kommitée für Direktwahlen, in dessen Dienst sich die ersten Lua Nova-Hefte stellte, sechs Mio. Menschen. Die Kampgane scheiterte nicht nur, sondern schuf auch Gräben unter den Paulistas: Die diretas já-Verfechter verfolgten Wandel von unten, Cardoso dagegen institutionelle Arrangements (Alves 1994). Gegenüber zunehmenden Differenzen war die anti-Collor-Kampagne 1992 die letzte übergreifende Allianz. Zusammengefasst waren die Zivilgesellschaftsdebatten der Gruppen ein Versuch, die überkommene Mentalität vom Primat des Staats zu brechen und »Staat« und »Gesellschaft« in ein gleichgewichtigeres Verhältnis zu setzen. Blieb der Begriff bei den CCS-Köpfen unterbelichtet, trug er bei den Paulistas – an Gramsci und Montesquieu orientiert – zu Selbstverortung und emanzipatorischer Handlungsanleitung bei. Indem er zur Analyse wie Identitätssuche diente, büßte er aber an analytischer Schärfe ein. Neigten die Cedec-Köpfe zum Entwurf einer »Ersatzutopie«, sah Cardoso in abgekühlter Sicht in Parteien und Staat bald wichtigere Transformationsagenten. Diskurs und Praxis spiegelten so verschiedene Ansichten zur Demokratisierungsleistung von Zivilgesellschaft. Die Wertschätzung der Paulistas beruhte auf der Bedeutung freier Interessenartikulation, die Distanz der CCS-Köpfe auf Bevorzugung institutioneller Stabilität. »Gegenüber dem Radikalismus, der […] seine traditionelle Basis aus der Mittelschicht erweitert hat, gegenüber den politischen Initiativen des Präsidenten, von denen einige mit unseren Anliegen übereinzustimmen scheinen, was können wir anderes sagen?« (Sarlo 1986:5) Die Parteien in Lateinamerika sind traditionell von Personalismus, Organisationsund Programmschwäche geprägt. In Argentinien hatten Bewegungscharakter und Hegemoneanspruch von UCR und PJ die institutionelle Instabilität verschärft (Mac Guire 1995:202). Mit dem Wahlsieg in den demokratischen ›Gründungswahlen‹ zerstörte Alfonsín den Mythos der natürlichen Mehrheit des Peronismus und verkörperte auch für den CCS eine ethische und institutionelle Erneuerung. Doch im CCS blieb die Distanz zu Parteien und Institutionen ein von den Zirkelstrukturen

218 | Stefan Hollensteiner und Alfonsíns Wende in der Militärpolitik bekräftigter Wert. Allein zu kleineren Parteien entstanden engere Beziehungen. Mit den Wahlbündnissen Frente Grande und Frepaso schien sich für die CCS-Köpfe Mitte der 1990er Jahre der Traum einer »nueva síntesis« (Sarlo) jenseits von UCR und PJ zu erfüllen. Zwar reproduzierte der Frepaso viele Erzübel argentinischer Parteien, doch Chacho Alvarez galt als ein Prinzipientreue und Pragmatismus versöhnender Alter Ego. Auch zur Verbindung von Frepaso und teilerneuerter UCR zur Listenverbindung Alianza 1997, die für die ex-Alfonsinistas ein nachträglicher Triumph der Paktidee war, trug der CCS mit publizistisch-programmatischen Aktivitäten bei. Nach den Stimmengewinnen 1997 kamen Hoffnungen auf eine politische Wende auf, die sich 1999 (kurzfristig) erfüllten. Nachdem die Paulistas den brasilianischen Parteien lange ferngeblieben waren, näherten sie sich dem MDB bei seiner ›Gegenkandidatur‹ an. 1974 aktualisierten einige Cebrap-Köpfe auf Einladung von Parteichef Guimarães das Wahlprogramm und profilierten den MDB bei Arbeitern und Minderheiten als Opposition. Cardoso kandidierte zu den Kongresswahlen 1978, unterstützt von einem breiten zivilgesellschaftlichen Bündnis auf der MDB-sublegenda; zwischen ihm und Guimarães entstand ein bald freundschaftliches Lehrer-Schüler-Verhältnis, das ihn in die Politik einführte und seinen pragmatisch-vermittelnden Stil förderte (Hersant Leoni 1997: 135). Cardosos gescheiterter Versuch, den PMDB vom Klientelismus zu befreien, führte Mitte 1988 zur Gründung des sog. sozialdemokratischen PSDB (Coelho 1995: 106), der wegen programmatischer Flexibilität und offenen Strukturen attraktiv war. Als ›neue‹, auf Partizipation von Arbeitern und Zivilgesellschaft zielende Partei (Keck 1992: 247) zog vor allem aber der PT die Cebrap- und Cedec-Köpfe an – sie nahmen an der PT-Gründung teil und übten Berater-, Legitimations- und Vermittlertätigkeiten auf höchster Ebene aus (Weffort war 1981-86 Generalsekretär). Als Protestvehikel gegen die elitenzentrierte Transition wuchs der PT schnell, wurde mit zentrifugalen Tendenzen und Programmkontroversen aber Opfer des eigenen Erfolgs (Bueno 1995). Nach misslungenen Kandidaturen zur Constituinte zogen sich Weffort und Moisés zurück – sie waren trotz langjähriger Parteiaktivitäten Außenseiter geblieben, doch ihr Überlaufen in Cardosos Regierung zur Jahreswende 1994/95 beruhte auch auf dem Willen zur politisch-biographischen Wende. Als Quereinsteiger in MDB und PMDB oder Aufbauhelfer in PT und PSDB profitierten alle Paulistas von den schwachen Organisationsstrukturen und dem programmatisch-personellen Erneuerungsbedarf der Parteien. Während Cardoso und Cebrap-Köpfe für die Erneuerung der bürgerlichen Klasse wirkten, kämpften die PT-Aktivisten für neue Arbeiterschichten. Die Partei fungierte – ähnlich wie der MDB/PMDB für Cardoso – als Aufstiegsvehikel, missachtete aber spezifische Qualitäten der ›klassenfremden organischen Intellektuellen‹.11 Die Paulistas mussten zudem das Scheitern des 1993/94 in beiden Instituten oft geforderten Bündnisses von PT und PSDB – und 11 »Die Intellektuellen des PT hatten niemals eine wichtige Rolle als Intellektuelle innerhalb des PT […]. Ich schrieb Texte und andere lasen sie, aber die Führer lasen sie nicht. Warum ich zufällig Einfluss hatte? […] Ich war da, als die Dinge passierten; dabei konnte ich Einfluss ausüben. Das war kein Einfluss des Intellektuellen, vielmehr war das fast ein Einfluss, obwohl ich Intellektueller bin« (IV Weffort 11.1.97).

Linksintellektuelle in Argentinien und Brasilien | 219 den wiederholten Disput zwischen ihren beiden Symbolfiguren FHC und Lula – hinnehmen. In beiden Ländern unterschieden sich die Beziehungen der Gruppen zu den Parteien also in Intensität, Zeitpunkt und Dauer. Die Nähe der Paulistas zum PT und PSDB sowie die der CCS-Köpfe zu Frepaso und Alianza überwanden die (vor allem in Argentinien große) historische Distanz von Linksintellektuellen zu Parteien (Canitrot 1985). Während für die CCS-Köpfe erst nach Transitionsende eine ideologischorganisatorisch nahe Partei entstand, besaßen die Paulistas früh und zu verschiedenen Momenten eine ihren Interessen starke adäquate Partei: Zunächst vereinte der MDB als Kern der frente das oposições außerparlamentarisches mit institutionellem Handeln, dann der PT radikalere Opposition mit schnellem Aufstieg, schließlich versprach der PSDB größeres Standesbewusstsein und ideologische Modernisierung. Die Analyse zeigt, dass intellektuelle Quereinsteiger umso größere Chancen haben, je mehr sie als programmatische Vermittler oder Schrittmacher wirken und je durchlässiger die Strukturen sind. Während in Argentinien die Starre der Großparteien eine Annäherung verhinderte, waren PT und PSDB wegen Verbindungen zu Eliten und Zivilgesellschaft sowie ihres Bedeutungszuwachses attraktiv. Obwohl langfristig von Nachteil, können Funktionsdefizite von Parteien wie Heterogenität, Personalismus und Organisationsschwäche für ambitionierte Intellektuelle kurzfristig vorteilhaft sein. »In Argentinien gibt es traditionell ein gewisses Misstrauen sowohl seitens der zivilen Gesellschaft wie des Staates gegenüber der Funktion des Intellektuellen […]. Selbst in Zeiten demokratischer Regierungen war ihre aktive Partizipation eher ungewöhnlich« (Canitrot 1985: 4). »Die reinen Intellektuellen lernten zu verhandeln und Politik zu machen und dem Feind mit den zur Verfügung stehenden Waffen zu begegnen« (Giannotti 1989). In Argentinien war die Distanz zwischen Linksintellektuellen und Staat seit dem Peronismus gewachsen, in Brasilien dagegen hatten Kooptation und Elite-Verflechtungen bis zum entwicklungsnationalistischen Staat der 1950er Jahre zugenommen. Wie agierten die Gruppen? Der tiefen Kluft zwischen Intellektuellen und Staat im Postperonismus entzogen sich auch die jungen CCS-Gründer nicht, zumal der Staat ab 1966 linke Denker zyklisch von der Universität vertrieb. Mit Präsident Alfonsín kam ein Intellektuellen aufgeschlossener Präsident an die Macht, der bei der Rekrutierung aber klare Aufgabentrennungen vornahm. Zum einen wurden Soziologen und Ökonomen aus Forschunginstituten und dem UCR-Erneuerungsflügel MRC (Movimento de Renovación y Cambio), die Expertise und technokratisches Selbstverständnis verbanden, mit Aufgaben nahe des Machtzentrums betraut. Auf der anderen Seite wirkten die in ›weichen Disziplinen‹ ausgewiesenen Experten in den Bereichen Kultur oder Erziehung. Obwohl de Ipola und Portantiero qua GdE-Mitarbeit mit der in ihren Kreisen traditionellen Staatsferne brachen und FLACSO-Erfahrung mitbrachten, waren sie gegenüber denen, die früh als Alfonsíns Berater gewirkt hatten, im Nachteil. Sie waren für Alfonsín aber interessante Stichwortgeber, die auf

220 | Stefan Hollensteiner ethischer Vergangenheitsbewältigung und partizipativem Demokratieverständnis beharrten. Wegen seiner linksrevolutionären Vergangenheit wäre ein Staatssekretär Portantiero für Alfonsín kaum durchsetzbar gewesen. Schließlich ist zu bezweifeln, ob sie bereit waren, sich auf die Logik der Exekutive einzulassen – und den Autonomieverlust hinzunehmen, den frühere Weggefährten durch Gestaltungsgewinn kompensiert sahen. Obgleich in Alfonsíns Amtszeit nicht alle Gräben zwischen Linksintellektuellen und Staat überwunden wurden – und sich die Kritiker mit seiner Aufkündigung der entente cordiale zwischen Moral und Macht gleich einer self-fulfilling prophecy bestätigt sahen, normalisierte sich das Verhältnis. Intellektuelle wurden mit Autonomiereserven für einen demokratischen Staat tätig, der sie mittels seiner Förderinstrumente punktuell integrierte. Demgegenüber stellte Menems Amtszeit einen Rückschritt für die Annäherung von Staat und Intellektuellen dar. Zum einen sahen sie sich durch seinen anti-diskursiven Regierungsstil und die farandulizacón (Sarlo 1994, Feinman 1995) der Politik ausgegrenzt, zum anderen reduzierten Mittelkürzungen und Herabstufungen in den Kultur- und Wissenschaftsressorts die Spielräume. Daneben engagierten sich die CCS-Köpfe vor allem beim demokratischen Wiederaufbau der öffentlichen Universitäten. Die von Alfonsín initiierte normalización universitaria, der der Universität wieder früheren Glanz verleihen sollte, war für sie eine Herzensangelegenheit. Das galt vor allem für die 1989 geschaffene Faculdad de Ciencias Sociales, zu deren Gründungsdekan Portantiero gewählt wurde. Er sah das bis 1998 ausgübte prestigeträchtige Amt als Chance zur Modernisierung der Universitätsinstitutionen wie zur Oppositionspolitik gegen Menem an (Portantiero 1991: 8 f.) – gleich einer Kompensation für ungelebten Aufstieg in der Politik. Das argentinische Szenario veränderte sich bis Mitte 1990er Jahre also grundlegend. Linksintellektuelle und Staat legten ihren Kriegszustand bei und erkannten sich als autonome Partner an. Jenseits der CCS-Kontroverse zur Machtnähe, die von Alfonsinistas verteidigt und Sarlo als ›Erbsünde‹ verurteilt wurde (in El Porteno, 1986), besiegelte die Aufbauarbeit in staatlichen und privaten Institutionen die Normalisierung. Trotz neuer Distanz unter Menem wurde so der Rückfall in Systemkritik oder Stilisierung eigener Randlage (González 1989) vermieden. In Brasilien hatten die Paulistas – gegenüber der an den Futterkrippen des Staats orientierten Intellektuellenkultur in Rio – Angebote aus der Politik abgelehnt. Gegenüber den Generälen festigten sie die innere Opposition, verzichteten aber auf offene Kritik und suchten mit Hilfe von Ford Foundation und liberalen Regimesektoren die Zustimmung zur Cebrap-Gründung. Diese beruhte auf erfolgreichen Verhandlungen zwischen einem Oppositionsenklaven duldenden Staat und kompromissbereiten kritischen Intellektuellen. Zwar zielte der Vorwurf der impliziten Kollaboration der Cebrap-Gründer mit dem Regime (Sorj 1996) auf faktische Anpassungsmomente, ist angesichts der frühen Kritik an den Generälen, der anhaltenden Bande zu MDB und Zivilgesellschaft sowie des Bombenanschlags 1976 aber zu wiederlegen. Im Paradoxon der Koexistenz von kritischen Forschern und autoritärem Staat äußert sich eine über die liberalen Regime-Eliten vermittelte Symbiose zu gegenseitigem Vorteil: Den Paulistas erlaubte die Cebrap-Gründung die berufliche Weiterentwicklung und organisatorische Loslösung – trotz ihrer Rolle als alibi-dissenter ließen

Linksintellektuelle in Argentinien und Brasilien | 221 sie nicht nach, auf Öffnung des Regimes hinzuwirken; die Millitärs dagegen bewiesen mit der Cebrap-Duldung gegenüber dem In- und Ausland ein Mindestmaß an Pluralismus. Weil die Paulistas – inkl. die sich mäßigenden PT-Denker – die Spielregeln der »transição lenta, gradual e segura« (Figeureido) insgesamt anerkannten, waren sie trotz Kritik akzeptable Verhandlungspartner. Auch die autoritären Machthaber waren verlässlich – sie respektierten die Wahlergebnisse auch bei Oppositionsgewinnen und gaben nach 1982 kontinuierlich die Macht an die Zivilisten ab. Indem die ambitionierten Paulistas in der Transition kontinuierlich enge Beziehungen zu den politischen Eliten knüpften, öffneten sich ihnen nach den oppositionellen Wahlsiegen 1978 und 1982 viele Türen im Staatsapparat. Die in Machtfunktionen wechselnden Ceprab-Köpfe waren durch Reformismus, Parteiaktivitäten und praxisorientiertes Profil für exekutive Spitzenämter qualifiziert. Schließlich akzeptierten sie, quasi als Preis für den Aufstieg, mit der Einordnung in bürokratische Routinen und Hierarchien an öffentlichem Spielraum zu verlieren.12 Den nach 1989 in der Exekutive wirkenden PT-Intellektuellen fiel die Machtausübung schwerer als denen von PMDB oder PSDB. Während diese sich mit Bürokratie und Klientelismus arrangierten, bedauerten jene den Verlust der Reflexion. Bei PMDB/PSDBAktivisten kam es mit der »Berufung zur Politik« zu Mehrheits- oder Parteienwechsel überstehenden Elite-Verflechtungen. Die Intellektuellenriege in Cardosos Regierung schliesslich krönte, nach dem langen Wirken in Presse, Zivilgesellschaft und Parteien den kontinuierlichen Aufstieg der Paulistas. Sie stellte das Verflechtungsmuster zwischen Staat und Intellektuellen, das bis zu den 1960er Jahren eine autoritär-populistische Schräglage gehabt hatte, in einen liberaldemokratischen Rahmen, reproduzierte aber den elitären bias der Transition und befriedigte in historisch-regionaler Sicht die seit der gescheiterten ›Revolution von 1932‹ latenten Hegemonieansprüche der Eliten aus São Paulo (Barbosa Lima 1995). Engagement und Aufstieg führten bei vielen Paulistas aber zum Identitätswandel – sie trugen zur Rationalisierung der neuen Demokratie bei, streckten qua Bündnis mit den oft oligarchischen PFL-Eliten aber vor ihren Defiziten die Waffen.

Schlussbemerkungen Auch in Lateinamerika kam es in den 1990er Jahren zum Abgesang auf den Linksintellektuellen – aus sozialistischer Sicht wurden »Götterdämmerung« (Angel 1992) und die neue »Ersatzreligion Demokratie« (Rieznik 1998) beklagt, reformistische Stimmen lobten die »Entwaffnung der Utopie« (Castañeda 1994). Jenseits dieser Etiketten – deren Kern den Funktionswandel »vom Legislator zum Interpreten« 12 Zugespitzt bestätigte das der in zwei Gouverneursregierungen in São Paulo tätige exCebrap-Forscher Carlos E. Martins: »In der PMDB als Regierungspartei verhielt ich mich ausgewiesen parteilich, allerdings mit ständig weniger Lust, mich an der politischen Debatte zu beteiligen. […] Obwohl ich eine leitende Funktion innerhalb des Staatsapparates ausübte, habe ich niemals an einer politischen Besprechung teilgenommen« (IV, 4.6.1996).

222 | Stefan Hollensteiner (Baumann 1987), von verfasster Politik zu vermittelnder Öffentlichkeit beschreibt – gaben die untersuchten Intellektuellen ihr öffentliches Engagement nicht auf, lösten sich aber aus der Vereinnahmung durch orthodoxe Linke und autoritären Staat. Auch sie machten die Geschichte nicht aus freien Stücken, aber sie machten sie selbst – aus Studenten wurden gestandene Wissenschaftler und Publizisten, die ihre Gedankengebäude, Gruppenstrukturen und Handlungsmuster halb freiwillig, halb erzwungen veränderten. Gegenüber der Herausforderung, sich angesichts politischgesellschaftlicher Umbrüche zu wandeln und doch erkennbar zu bleiben, bewahrten viele CCS-Köpfe ihre Randlage, während viele Paulistas aufstiegen und ihr Linksintellektuellendasein aufgaben. Lange bevor von einer »neuen Linken in Lateinamerika« die Rede war, die fern revolutionärer Romantik auf ein neues Verhältnis zu Demokratie und Markt ziele (Maihold 1998), hatten sich die untersuchten Gruppen seit den frühen (Paulistas) oder späten (Argenmex) 1970er Jahren dorthin bewegt. Statt Sozialismus und Kapitalismus, Gleichheit und Freiheit, formale und substantielle Demokratie als Dichotomien zu sehen, versuchten sie fern der kommunistischen oder populistischen Linken, liberale Prinzipien in ein progressives Veränderungsprojekt – Cardosos »substantive«, Wefforts »revolutionäre« Demokratie oder die Paktidee der CCS-Alfonsinistas – zu integrieren. Der Wandel zu Mitte-Links und die Versuche, die Wertetrias »Demokratie, Nationalismus, soziale Gerechtigkeit« (Castañeda 1994: 157) zu aktualisieren, vollzog sich in beiden Ländern nicht ohne Erschütterungen – im CCS deutlich am Disput zwischen PdV-Köpfen und LCF-Alfonsinistas, bei den Paulistas zwischen PT und PMDB/PSDB-Anhängern – und beschleunigte den Zerfall der Gründerkerne. Insgesamt wurde der Reformbegriff als inkrementelle Veränderungsstrategie positiv umgedeutet und die Offenheit des historischen Prozesses anerkannt. Das Denken beider Gruppen führte im Sinne eines possibilisme (Santisi 1997: 64) zu am Machbaren orientierten Entwürfen, die angesichts der realen Defizite als ›schwache Utopien‹ wirkten. Als »Ideologen der Demokratie« ähnelten sie in historischer Sicht den für die Grundlegung der Republiken zentralen intelectuales-políticos des 19. Jh., deren Ideen von zivilisierter Nation und liberalem Staat als »kritische Bestandsaufnahme und utopisches Projekt« fungierten. Mit ihren Organisationsstrukturen besaßen die Gruppen für die Intervention in der Politik unterschiedliche Voraussetzungen. Nach Bourdieus Prinzip der Übertragbarkeit symbolischen Kapitals können nur die Intellektuellen mit Erfolgsaussichten Geltungsansprüche erheben, die – qua Universitätshierarchie, Forschungsleistungen oder medial-intellektueller Prominenz – eine Führungsposition im eigenen Feld besitzen (Bourdieu 1988: 141-153). Mit Zirkelstruktur, Binnenstarre und Wettbewerbsferne reproduzierte der CCS die landestypischen Institutionalisierungs- und Professionalisierungsdefizite und verlor gegenüber Beraterkreisen und redemokratisierter Universität an Terrain. Ausgehend von der sozialen Schätzung akademischer Bildung verliehen Prestige, wissenschaftliche Leistungsfähigkeit und der Institutsaufbau den Paulistas jenes symbolisch-organisatorische Kapital, das sie bei öffentlicher Intervention und politischem Aufstieg eintauschen konnten. Während das Cebrap – auch gegenüber dem ISEB (Instituto Superior de Estudo Brasileiros, 1955-64) als eine vom Staat finanzierte Ideologiefabrik – Neuland betrat und der frühe Zerfall der

Linksintellektuelle in Argentinien und Brasilien | 223 Gründerkerne die schnelle und anhaltende Erneuerung sicherte, ist der CCS mit dem Ableben der Gründer vom Zerfall bedroht. Sein Bedeutungsverlust bestätigt ex negativo, dass für anhaltenden Einfluss ein Minimum an organisatorischer Erneuerung und beruflicher Spezialisierung notwendig ist. Je autonomieorientierter das Selbstverständnis von Intellektuellen ist und ihre Organisation Zirkelmuster beibehält, desto schwerer tun sie sich mit den Regeln des politischen Spiels um Macht; je technokratischer ihr Selbstverständnis und institutionalisierter ihre Kollektive sind, desto leichter. Machte der CCS aus Alfonsíns Avancen eine gesinnungsethische, die individuellen Ambitionen belastende Grundsatzfrage, begegneten die Paulistas den Offerten eines sich öffnenden Staates mit verantwortungsethischem Machtwillen – trotz einzelner Vorbehalte (wie de Oliveiras Kritik [1985] an den intellektuellen »Zugvögeln«) weitete sich der Aufstieg Einzelner lange nicht zur Kollektivkrise aus, sondern galt als Lohn oppositioneller Realpolitik. Unterschiedlich war auch die institutionelle Erfolgsbilanz: Während die CCS-Köpfe sich oft auf informelle Einflusspositionen beschränkten und ›Juniorpartner‹ von Parteien und Eliten blieben, erlangten die Paulistas Exekutivpositionen und eigene Machtressourcen, die sie ansatzweise von der politischen Kojunktur befreiten. Allerdings zeigten die Gruppengeschichten auch, wie eine bei Transitionsbeginn gemeinsame Oppositionsfront sich fragmentierte, der »parti des intellectuels« (Pécaut 1989) der 1970er Jahre in wenig prinzipientreue Einzelkämpfer und Seilschaften zerfiel. Die auf allen Ebenen festgestellten früheren und engeren Beziehungen der Paulistas zu affinen Akteuren in Öffentlichkeit, Zivilgesellschaft, Parteien und Staat wurzelten auch in einem unterschiedlichen Interaktions- und Verflüssigungsgrad während der Transition, die (in Brasilien) früh tiefere Beziehungen förderten oder (in Argentinien) lange verhinderten. Zugleich gingen die Intellektuellen unterschiedlich mit den Waffen der Realpolitik um. Während im CCS trotz zunehmendem Pragmatismus gegenüber demokratischer Politik viele gesinnungsethische Skrupel blieben, nahmen die Paulistas ihre Aufstiegschancen mit großer realpolitischer Anpassungsfähigkeit wahr. Ohne tiefere Skrupel beim Übergang von oppositioneller zu exekutiver Politik wurden sie dank einer »fina sintonia com os detentores do poder« (Miceli 1995: 18) zu Mitgliedern einer nur teilweise teilerneuerten Machtelite. Die aus argentinischer Sicht negative Tendenz bestand also primär in der organisatorischen Entwicklung und, entsprechend dem Transitionskontext, der Austauschdichte mit der Politik. Der Preis des politischen Erfolgs der Paulistas war Aufgabe des Linksintellektuellendaseins, dessen Aufrechterhaltung die CCS-Köpfe mit anhaltender Randlage bezahlen. Aus einer Sicht, die Autonomie, Kapitalismuskritik und Spannung zur Politik als unveräußerliche linksintellektuelle Haltungen betrachtet, ließe sich die institutionell-machtpolitische Kluft zu einer positiven Differenz zugunsten der CCS-Köpfe umdeuten. Als klassischer Intellektuellenzirkel erlebte der CCS, dass Beharrung bei Demokratisierung zum Bedeutungsverlust führte, die Institute der Paulistas, dass Einflussgewinn mit Realpolitik und Identitätswandel verbunden ist. In ihrem wechselhaften Verhältnis zu politischen Akteuren erlebten die CCS-Köpfe einen Zyklus von Annäherung, Euphorie und Enttäuschung, die schon Vorläufergenerationen (wie die Contorno-Gruppe in den 1950er Jahren) erlebt hatten. Dagegen ähnelten die Paulistas den bacharéis und homens da sciencia des 19. Jh., die

224 | Stefan Hollensteiner zwischen progressivem Diskurs und konservativer politischer Praxis hin- und herpendelten – und spiegelten auch generationsintern die Spannung zwischen realistischem Cebrap und idealistischem Cedec. Bekannte Einflussfaktoren konnten so durch andere Variablen ergänzt werden: Je länger und verhandlungsintensiver der Übergang, je größer der Verflüssigungsgrad von Normen, Institutionen und Akteurskonstallionen ist, und je früher die Oppositionsgruppen an der Delegitimierung der autoritären Machthaber beteiligt sind, desto größer sind die Chancen für reformistische Mitte-Links-Intelektuelle, politischen Einfluss zu erlangen. Je kürzer und verhandlungsärmer die Transition und je schneller die Verfestigung der Kontexte stattfindet, desto größer ist die Gefahr, dass die Intellektuellen trotz Erneuerung im politischen Spiel draußen bleiben. Je kompromissorientierter und vernetzter sie sind, und je mehr gesellschaftliche Akteure programmatisch und organisatorisch zugänglich sind, desto größer sind die Aufstiegschancen in der Politik – wie die Wahrscheinlichkeit des Funktionswechsels. Die jüngsten Entwicklungen der Gruppen und des Verhältnisses zwischen Intellektuellen und Politik bestätigt die beinahe schon historisch gewordene Analyse. In Argentinien ist die große Begeisterung des CCS und der Mitte-Links-Sektoren über den Alianza-Wahlsieg Ende 1999 nach dem vorzeitigen Rücktritt von Vizepräsident Alvarez, dem Bruch der Regierungskoalition und dem Niedergang von UCR und Frepaso der bodenlosen Verzweiflung und erneuten Randlage gewichen. In Brasilien verzichtete die zweite Amtszeit von Cardosos Mitte-Rechts-Regierung auf linksintellektuelle Reformprojekte und wurde vom Desinteresse der ehemaligen Wegefährten in Cebrap und Cedec begleitet, die aber auch an der jüngsten Wahl von Lula zum Staatspräsidenten, der den ex-Cebrap-Aktivisten Serra bewang, nur in Ausnahmen beteiligt waren. Auch im Hinblick auf die jüngeren, dank der untersuchten Gruppen demokratisch sozialisierten Intellektuellen liegen so weiter Welten zwischen den »fernen Nachbarn«.

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Die lateinamerikanischen Intellektuellen | 229

Die lateinamerikanischen Intellektuellen – gestern und heute Maria Susana Arrosa Soares Als vor zwanzig Jahren in Porto Alegre das internationale Seminar zum Thema »Intellektuelle innerhalb der politischen Prozesse in Lateinamerika« stattfand, aus welchem ein Buch gleichen Titels hervorging, bestanden kaum Zweifel darüber, was ein Intellektueller sei, wer die bedeutendsten und einflussreichsten Intellektuellen der Region wären und was sie innerhalb Lateinamerikas darstellten. Zu keinem Zeitpunkt bezweifelten die Teilnehmer deren Bedeutung in den durchfochtenen Kämpfen im Laufe der Geschichte der lateinamerikanischen Gesellschaften und der Verteidigung nationaler Interessen und deren Unversehrtheit. Auch verwies man auf ihre Verpflichtung gegenüber den Idealen sozialer Gerechtigkeit und ihrem beständigen Kampf gegen Ungleichheit und Armut. Inmitten der Konjunktur der achziger Jahre waren Wahlen und der Widerstand gegen autoritäre Regierungen die vordringlichen Triebkräfte der intellektuellen Linken, welche diese zum wichtigsten Sprachrohr der Anklagen gegen die sich in der Region seit den 1960er Jahren eingerichteten Diktaturen werden ließen. »Da die Intellektuellen die einzigen im Ausland anerkannten regierungsunabhängigen Lateinamerikaner und gleichzeitig diejenigen waren, die am lautstärksten die Greueltaten der Diktaturen anprangerten, bildeten sie zusammen mit den verbannten politischen Führern die sichtbarsten und leistungstfähigsten Verteidiger der Demokratisierung. In den Vereinten Nationen und den Leitartikeln nordamerikanischer und europäischer Zeitungen, in Vorträgen und Treffen in Ländern des Kontinents wo dies noch möglich war, haben die Linksintellektuellen eine entscheidende Rolle bei der Ausübung eines wachsenden Druckes und des internationalen Zornes gegen die für die lange lateinamerikanische Nacht verantwortlichen autoritären Regime gespielt.«1 Wenn sich nun heute die Konrad-Adenauer-Stiftung diese wichtige und anregende Aufgabe stellt, eine Bilanz über das Schicksal jener Intellektuellen innerhalb dieses Zeitraums zu ziehen, dann treten zahlreiche Zweifel, Kritiken und Ungewissheiten über die Natur und die Funktion der Intellektuellen in den lateinamerikanischen Gesellschaften auf. Manche feiern die »Intellektuellendämmerung«, andere bezichtigen sie des »Verrats« an ihrer Verpfichtung gegenüber den universellen Werten von Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit. Wieder andere beklagen ihre »Umwandlung« in Bürokraten, Technokraten, Akademiker oder andere Fachleute, die eher um die Effizienz ihrer Ideen und ihren finanziellen Erfolg auf dem Markt symbolischer Werte besorgt sind als um ihre vormaligen Ideale. Ziel der vorliegenden Arbeit ist, eine Bilanz des Werdegangs jener Generation lateinamerikanischer Intellektueller vorzulegen, welche im Laufe der 1980er Jahre der kritischen oder radikalen linken Intellektualität angehörten und die seitdem einen langsamen aber konsequenten ideologischen und institutionalisierenden Wand1 CASTAÑEDA, Jorge G. Utopia desarmada: Intrigas, dilemas e promessas da esquerda latino-americana. São Paulo: Companhia das Letras, 1994.

230 | Maria Susana Arrosa Soares lungsprozess durchlaufen haben, wobei viele sich zum neoliberalen Bekenntnis bekehrt haben. Startpunkt für diese Untersuchung sind die während des 1984 an der Bundesuniversität Rio Grande do Sul veranstalteten Seminars gehaltenen Referate, als der langsame und schrittweise politische Öffnungsvorgang sowohl in Brasilien wie in anderen Ländern des Kontinents noch im Gange und die Ungewissheiten hinsichtlich der Zukunft der Demokratie zahlreich waren. Bei der Vorstellung des Buches, in dem die während jenes Treffens gehaltenen Referate und Diskussionen darüber zusammengefasst wurden, rechtfertigte man folgendermaßen die Wahl der Intellektuellen als das Thema des Treffens: »Im Anblick der wachsenden Bedeutung vieler lateinamerikanischer Intelektueller während der letzten Jahre hielt man es für vordringlich, eine Auseinandersetzung über deren theoretischen und politischen Beitrag zu den sich auf dem Kontinent abspielenden sozialen Veränderungen und insbesondere zum Aufbau der Demokratie zu veranstalten. Die Anwesenheit aller zu diesem Gespräch geladenen Sozialwissenschaftler und auch des breiten Publikums bestätigte die Bedeutung, die unsererseits der Fragestellung über die Intellektuellen in Lateinamerika beigemessen wurde.« Von Anfang an war die Anerkennung der Bedeutung der Intellektuellen beim Aufbau der Gesellschaften und der nationalen Identitäten in der Geschichte Lateinamerikas unter allen Teilnehmern einhellig. Das gleiche gilt für den Aufbau und die Umsetzung der in den 1950er und 1960er Jahren auf dem Kontinent vorherrschenden sozialen Veränderungsprojekte. Auf dem Treffen anwesende Intellektuelle aus Argentinien, Brasilien, Chile, Uruguay und Mexiko stellten jene Beiträge ihrer Geistesgenossen heraus, welche die Geschichte der jeweiligen Länder tiefgreifend geprägt haben. Der Anteil der Intelellektuellen in der Mehrzahl der lateinamerikanischen Gesellschaften war markant und entscheidend in Politik, Kultur, Erziehung und – mit dem Aufkommen und der Entwicklung der Kommunikationsmittel – in den Zeitungsredaktionen, in Hörfunk und Fernsehen. »Als Hüter des nationalen Gewissens fordern sie als Kritiker immer mehr Verantwortung, als Bollwerke der Grundsätze und der Geradheit haben während fast fünf Jahrhunderten die lateinamerikanischen Intellektuellen mit ihren Schriften, Lehren, Reden und anderen Tätigkeiten viele soziale Institutionen und Akteure ersetzt. Diese, unfähig oder unwillig ihre Verantwortungen wahrzunehmen, ließen das Feld frei für jene, die sie aus diesem oder jenem Grunde übernehmen konnten. Es bedarf keiner Erwähnung, dass es sich bei denen, die solche Aufgaben erfüllten, nicht um alle lateinamerikanischen Intellektuellen handelte, ja nicht einmal um eine bedeutende Mehrheit unter ihnen. Aber eine gute Anzahl tat es – über die Jahre gewannen sie in vielen Ländern des Kontinents einen Einfluss, den sie in der Tat in keiner anderen Gesellschaft hätten erreichen können.«2 Jedoch wurden während der 1960er und 1970er Jahre viele Intellektuelle, Journalisten, Studenten, Künstler, Geistliche und führende Kräfte im Volk durch die in verschiedenen Ländern – insbesondere im südlichen Bereich – an die Macht ge2 Op. Cit., auch zum folgenden.

Die lateinamerikanischen Intellektuellen | 231 kommenen Diktaturen zum Schweigen gebracht. Viele wurden getötet, andere gingen ins Exil, wieder andere ins »Insil« oder führten ein illegales Dasein, wieder andere griffen zur Waffe und viele überlebten im eigenen Lande unter der Zensur oder in Gefängnissen. Als die Region von den traumatischen Ereignissen der 1970er und 1980er Jahre heimgesucht wurde – Staatsstreiche der Militärs, Bürgerkriege, Revolutionen und Gegenrevolutionen, Folter und Bücherverbrennungen – leuchteten die Intellektuellen weiter als Sterne in der Öffentlichkeit. Während der langen Nacht der Militärdiktaturen und der »schmutzigen Kriege« prangerten sie Menschenrechtsverletzungen an, widerstanden der Zensur und bildeten oft unter erheblichem persönlichem Risiko den Kern des Widerstands gegen viele autoritäre Regierungen. Die Verpflichtung der Intellektuellen gegenüber der Demokratie wurde von allen Teilnehmern des Seminars herausgestellt, welche, gleich wie dies in der Gesellschaft insgesamt der Fall war, die Rückkehr zur Demokratie als wichtigstes und dringendstes Ziel vertraten. »Der heutige Intellektuelle in diesen Ländern muß zwangsläufig der Demokratie verpflichtet sein«, behaupteten Waldo Ansaldi, Fernando Calderón und Mário dos Santos, um dann hinzuzufügen, dass die Intellektuellen »die Baumeister des Einvernehmens« zu sein hätten. Maria Tereza Sadek sagte im Hinblick auf die brasilianischen Intellektuellen: »Wir erleben heute einen Zustand, in dem der Erwerb der Demokratie und des Rechtsstaates erfordert, daß sich kein Bereich der Gesellschaft der Partizipation entzieht. Von dieser Partizipation wird der Werdegang des Landes weitgehend abhängen. Bedeutende Gruppen Intellektueller haben sich aktiv an dem 82er Einsatz beteiligt und damit gezeigt, daß das akademische Leben sich nicht auf das Universitätsgelände beschränkt.« Während jener harten Jahre des Staatsautoritarismus »stellt der radikalisierte Intellektuelle dem unterdrückenden Tatbestand die Kraft seiner verselbständigenden Utopie über die Grundlage einer absoluten Überzeugungsethik gegenüber«, behauptete der Chilene José Joaquín Brunner. Er warnte jedoch, »daß der Befreiungsvorgang nicht durch taktische Überlegungen verunreinigt werden dürfe, da diese immer einen Gelegenheitscharakter haben und ihr Inhalt daher opportunistischer Art sei.« Der Intellektuelle sollte »seine eigentliche Aufgabe erfüllen, nämlich Kritik zu üben und selbst als selbständiger (und solidarischer) Teilnehmer an den komplizierten Entwicklungen auftreten« behauptete der brasilianische Intellektuelle Marco Aurélio Garcia. Wenn man sich heute die damals vorgetragenen Referate neu vergegenwärtigt, findet man darin eine große Übereinstimmung der Meinungen über den Stand und die Praxis der Intellektuellen im Allgemeinen und der lateinamerikanischen im Besonderen. Es bestand keine Uneinigkeit daüber, was ein Intellektueller sei, und über dessen wesentliche Rolle innerhalb der Gesellschaft – nämlich Kritik zu üben – und »seine unverzichtbare Verpflichtung gegenüber der Wahrheit.« Man erwartete von den persönlichen oder kollektiven Intellektuellen, wie etwa der brasilianischen Anwaltskammer, der Brasilianischen Gesellschaft zür Förderung der Wissenschaft (SBPC), dem brasilianischen Presseverein und vielen anderen politische Stellungnahmen und Aktionen zum Schutz der Menschenrechte, des Rechtsstaates, der Meinungsfreiheit, kurz, der Demokratie. Man verurteilte die Intellektuellen, welche die universellen Werte »verraten« und sich in den Dienst der diktatorischen Regimes

232 | Maria Susana Arrosa Soares gestellt hatten und die grundlegendsten menschlichen Rechte missachteten. Laut José Joaquín Brunner »stellten jene eine neue auf die autoritäre Macht gegründete und von ihr geförderte und geschützte Intelligentsia dar. Nur dieser Bereich hatte Zugang zu den öffentlichen Führungskreisen, genoß eine organische Verbindung zum Staat und verfügte außerdem völlig konkurrenzlos über die Mittel, in die Redaktion und Verbreitung von Aussagen über die Gesellschaft einzugreifen und Institutionen zu steuern, welche ihnen die Beherrschung der kulturellen Szene bar jeden Gegengewichtes gestatten.« Es bestand bei jenem Anlass völliges Einvernehmen über die Notwendigkeit, die Eingenständigkeit des intellektuellen Bereiches und der Intellektuellen selbst gegenüber dem Staat und den großen Wirtschaftsgruppen zu sichern. Man meinte darin den Status zu finden, der ihnen die notwendige Freiheit zur vollen Ausübung ihrer Aufgabe als kritische und den universellen Werten der Menschheit verpflichtete Intellektuelle gestatte – im Gegensatz zu den Privatinteressen gewisser Bereiche der Gesellschaft. In diesem Sinne behauptete Nestor Garcia Canclini: »Gegenüber dem Technokratismus, der den Sinn des Lebens auf Leistung und Rentabilität reduziert, gegenüber den neukonservativen Diktaturen, welche die Eigenständigkeit kultureller Praktiken zunichte machen um sie dem Kapitalmonopol und der übernationalen Gleichschaltung unterzuordnen, ist der Kampf um intellektuelle Eigenständigkeit eine der Voraussetzungen für das Überleben der Vielfalt an Auswahl und Sinn in der Gesellschaft. Damit die Kultur ein Ort bleibt, wo die verschiedensten symbolischen Experimente aufgrund einer freien Wechselwirkung zwischen den einzelnen Gruppen umgesetzt wird, wo die Ordnung der Kritik unterzogen wird und wir andere Daseinsformen prüfen.« Jedoch hat das Ausmaß der in den 1970er und achziger Jahren erlittenen Niederlage der sozialen Transformationsprojekte, welche in Lateinamerika neue Hoffnungen auf eine Befreiung aus Imperialismus, Kolonialismus und wirtschaftlicher Abhängigkeit weckten, die Laufbahn vieler jener Intellektuellen gekennzeichnet. Laut Aníbal Quijano war diese Niederlage die größte in fünf Jahrhunderten. »Während der letzten 500 Jahre schien im Lauf der Geschichte immer ein glänzender Horizont mit vielen Namen zu leuchten: Fortschritt, Identität, Liberalismus, Nationalismus, Sozialismus. Die Niederlagen waren in jedem Fall konjunkturell. Es waren ihrer viele, allerdings auch neben vielen Erfolgen. Der Kampf gegen das Kolonialwesen war lang und Amerika war der erste Schauplatz dieses Zusammenstoßes. Mit der letzten Niederlage wurden nicht nur die politischen Regimes, die Bewegungen, Organisationen und Thesen erledigt – erstmals versank dieser gesamte Horizont. Das erklärt die Leichtigkeit mit der ein einheitliches Denkmodell aufkam und sich ausbreitete, als sei es ein allgemein gültiges Verständnis. Für hartnäckigere oder vielleicht bewußtere Leute war dies eine Zeit schlimmer Ausgrenzung. Fast plötzlich hat sich das, was man erhoffte und für möglich hielt in vergangene Thesen einer weit entfernten Vergangenheit verwandelt.«3 3 QUIJANO, Anibal: Un nuevo imaginario anticapitalista. Entrevista. Verfügbar unter www. globalizacion.org/entrevistas/QuijanoImaginarioCapitalista.htm. Zugriff am 10. Feb. 2003.

Die lateinamerikanischen Intellektuellen | 233 Die befreiende Utopie, welche die Aktivitäten vieler antrieb, wurde von den achziger Jahren an auf eine ferne Zukunft verschoben und die Rückkehr zur Demokratie wurde für sie zum erwünschten und angestrebten Ziel. Viele lateinamerikanische Intellektuelle und insbesondere einige der Teilnehmer an der Diskussion, aus welcher das erwähnte Werk hervorging, bekleideten nun mit der Rückkehr der Demokratie wichtige Stellungen innerhalb der Regierungen, der Universitäten, in Forschungszentren und in politischen Parteien. Sie verwandelten sich in Experten. Ein großer Anteil unter ihnen schloss sich der entstehenden in den großen nordamerikanischen und europäischen Universitäten geschulten Technokratie an und verwandelte sich somit in Verwalter technokratischer Projekte, in Verteidiger des Globalismus und in Propheten des Endes der Utopien. Es geschah, was James Petras als »die Umwandlung der lateinamerikanischen Intelektuellen« bezeichnet hat: »Organische« Intellektuelle verwandelten sich in institutionalisierte Intellektuelle, was nach seiner Meinung eine kulturelle Gegenrevolution darstellt – einen großen Sprung nach hinten. Sie gaben ihren Standpunkt als Kritiker und als Verteidiger universeller Werte und als Vorreiter sämtlicher revolutionärer Bewegungen auf. Russell Jacoby wies in seiner Untersuchung der Veränderungen westlicher Intellektueller auf einen ähnlichen Vorgang hin. Für ihn »sind im Laufe des 20. Jahrhunderts die Intellektuellen in Institutionen übergesiedelt und wurden zu Spezialisten und Professoren. Gleichzeitig begannen sie, den universellen Kategorien zu mißtrauen und sie für unwissenschaftlich und unterdrückend zu halten.«4 Weiter weist er auf die gesellschaftlichen Kosten eines Verlustes des Glaubens an die Utopien mit der Übernahme anti-intellektueller Standpunkte hin: »Ohne Intellektuelle oder mit reformierten Intellektuellen kann die Utopie verschwinden. Unter Utopie verstehe ich hier nicht nur die Vision einer zukünftigen Gesellschaft, sondern ganz einfach eine Vision, eine Fähigkeit, vielleicht die Bereitschaft zur Anwendung expansiver Konzepte um die Wirklichkeit und ihre Möglichkeiten zu erkennen. Es kann nötig werden, einen gedanklichen Lüftungsschacht zu finden, um die Ausrichtungen dieser Visionen zu bewahren. In dem Maße wie die Bürokratie das intellektuelle Leben vereinnahmt, zerbrechen jene Ausrichtungen und werden zu Feldern und Abteilungen, die Visionen und Texte der Intellektuellen schrumpfen, die Gedanken und die Prosa verzerren und verdunkeln sich. Im Namen des Fortschritts ziehen sich die Intellektuellen auf schmalere Wege und kleinlichere Konzepte zurück und verachten ihr eigenes klares dem Licht und der Aufklärung verwandtes Bewußtsein.« Viele Beobachter bewerten die Professionalisierung der Intellektuellen positiv, da sie die Aufgabe früherer »utopischer«, »militanter« und »umstürzlerischer« Standpunkte mit ihren Bindungen an soziale oder revolutionäre Bewegungen bedeute. Sie sind gemäß dieser Kritiker nicht neutral sondern politisch, im Gegensatz zu den Experten oder zu den an die Bürokratie in Verwaltung und Wissenschaft gebundenen, welche sich als neutral präsentieren und deren Praxis sich nach Sachlichkeits- und Leistungsmaßstäben richtet. In ihrer Stellung als institutionalisierte Intellektuelle haben sie ihre Ideen und 4 JACOBY, Russell: O fim da utopia. Rio de Janeiro: Record, 2001; auch zum folgenden.

234 | Maria Susana Arrosa Soares ihr Verhalten den Politiken, Zielen und Normen der Institutionen, welchen sie angehörten, angepasst, seien diese nun akademischer, fachlicher, unternehmerischer, regierungsmäßiger oder politischer Art. Es ist ein Zeichen der Zeit, dass Stanley Fisch darüber frohlockt, dass »das intellektuelle Leben sich immer mehr den unternehmerischen Praktiken angleicht und Vorträge und Reisen als gängige Währung etabliert. Die Blüte des (Vortrags-)Zyklus hat neue Einnahmequellen, mehr Gelegenheiten zu Reisen im In- und Ausland […], eine immer breitere Palette der Schaufenster für die Talente und eine geometrisch wachsende Verfügbarkeit der von den Akademikern angestrebten Güter – Beachtung, Applaus, Ruhm – geschaffen.«5 Diese Umwandlung hat sich weiter entwickelt und bildet den Ursprung der sich heute im intellektuellen Lager breitmachenden Identitätskrise, die sich im Mangel an Antworten auf solche Fragen niederschlägt wie etwa: »Was ist ein Intellektueller?« »Brauchen wir Intellektuelle?« »Kommt ihre Tätigkeit der Gesellschaft zugute?« »Leisten die institutionellen Intellektuellen oder die Spezialisten nicht mehr als die Intellektuellen zur Findung und zum Vorschlag von Lösungen im nationalen und internationalen Bereich und für die sozialen, politischen, kulturellen, Umwelt-, Sicherheits- und vieler anderer Fragen?« »Welches ist die Rolle der Intellektuellen in den gegenwärtigen Zeiten der Globalisierung und der Risikogesellschaft, in der wir leben?« »Gibt es in von der Suche nach Unterhaltung und Oberflächlichkeit beherrschten Gesellschaften noch Raum für Intellektuelle, für die Auseinandersetzung mit Ideen und für ein Nachdenken?« Beatriz Sarlo verweist meisterhaft auf die Bedeutung des Beitrags der Intellektuellen zur Auseinandersetzung mit Problemen, Ungewissheiten, Risiken und Gelegenheiten der vielschichtigen Gesellschaften, in denen wir leben. Durch die Gegenüberstellung und die Erörterung verschiedener Wahrnehmungen und Darstellungen der Gesellschaften durch Intellektuelle verschiedener Weltanschauungen und Ideologien erhält der Einzelne die Unterlagen zum Verständnis der Bedeutung dessen, was sich in der ihn umgebenden Welt abspielt, sowie seiner Vergangenheit und seiner Zukunftsaussichten. »In einem solchen Umfeld sollte das Bedürfnis einer allgemeinen Auseinandersetzung über Ideen nicht als Eitelkeit Intellektueller alten Stils und auch nicht als unangemessenes Überleben unterschwelliger Hegelianer oder Marxisten gesehen werden, welche ihre symbolische Macht zum Wiederaufbau einer vorbestimmten Gesamtheit ausspielen. Die allgemeinen Ideen sollten auch nicht der einzigen sie massenhaft erzeugenden Fabrik überlassen werden – den audiovisuellen Medien, welche, begünstigt durch die Ausbreitung der großen modernen ideologischen Aufbauzentralen und unter Vorbehalt allen Verdachts auf Einseitigkeit fast allen unseren Fiktionskonsum liefern. Sie geben sich als allgemeine, offene und pluralisteische Räume aus. Das audiovisuelle Publikum nimmt sie dieserart wahr, gerade weil es weder in der Politik noch sonstwo Fähigkeiten zur Vermittlung von gleichzeitig einschließenden wie glaubwürdigen Botschaften erkennt.«6 Seit den 1980er Jahren schwindet schrittweise das für die 1960er Jahre muster5 Jacoby ibid. 6 SARLO, Beatriz: Escenas de la vida posmoderna. Intelectuales, arte y videocultura en la Argentina. Buenos Aires: Ariel, 1994.

Die lateinamerikanischen Intellektuellen | 235 hafte Bild des lateinamerikanischen Intellektuellen als kritisches Gewissen der Gesellschaft oder das für die 1970er Jahre kennzeichnende des Revolutionärs, um dem der Logik des Möglichen angepassten und pragmatischen Intellektuellen Raum zu schaffen, der vor dem Vormarsch des Neoliberalismus und dem Versagen des Sozialismus resigniert. Die durch den schrittweisen Bedeutungsverlust der universalistischen und verpflichteten Intellektuellen hinterlassene Leere kann nun durch die »Kommunikatoren des Überflüssigen« eingenommen werden, denen es mehr um Unterhaltung geht als darum, das Nachdenken, die gedankliche Auseinandersetzungen nebst Kritik und Analyse der Wirklichkeit zu fördern. Laut Carlos Nelson Coutinho hat Brasilien in den 1990er Jahren keinen einzigen großen Intellektuellen hervorgebracht: »Heute überwiegt eine den Problemen des brasilianischen Volkes abgewandte Schmuck- und Intimkultur«, die Intellektuellen pflegen eher »eine gewisse kulturelle Askese und beziehen ›neutrale‹ kulturelle und ideologische Standpunkte.«7 Intellektuelle, die in den Jahrzehnten zuvor große Bedeutung beim Entwurf von Erklärungen der brasilianischen Wirklichkeit erlangt hatten, waren entweder an der Macht oder sie hatten vor der Lage des Landes kapituliert.8 Im Jahr 1997 erwähnte Milton Santos die Kapitulation: »Die Kapitulation der Intellektuellen ist eine weltweite und bereits alte Erscheinung, die sich mit der Globalisierung verschlimmert hat. Das ergibt sich gewissermaßen mit der heutigen Marktwirtschaft. Die brasilianische Intellektualität organisiert sich in geschlossenen Gruppen, die zum Überleben eher Druck ausüben müssen als sich für Forschungen zu versammeln. Deshalb neigen sie dazu, sich dem Establishment zu nähern, was die Kraft ihres Denkens, ihrer Phantasie und ihrer Kritik mindert. Das entspricht einer Kapitulation. Es gibt zwar Ausnahmen in Brasilien, aber dieses Syndrom bedarf dringend der Heilung.« Wenige sind heute die Intellektuellen innerhalb der Tradition großer Intellektueller wie Caio Prado Jr., Antonio Cândido, Florestan Fernandes, Darcy Ribeiro und Milton Santos, Intellektuelle der Öffentlichkeit, Erzeuger eigenständiger Gedanken und Meinungsbildner, deren Beitrag sich nicht auf ihre Arbeit als Dozenten, auf Forschung und Veröffentlichung grundlegender Werke für das Verständnis der brasilianischen Wirklichkeit beschränkte. Sie hatten ebenso einen bedeutenden Anteil an der Politik inner- und außerhalb der Universitäten und haben das intellektuelle Klima des 20. Jahrhunderts in Brasilien tiefgehend geprägt. In den 1990er Jahren scheinen die brasilianischen Intellektuellen das Theoretisieren aufgegeben zu haben. Die Macht des »Einheitsdenkens«, die Disqualifizierung duch die Regierung und die geringe Mobilisierung durch die Opposition führte einen Großteil der Intellektuellen zurück in die Universität, »ohne sich den großen zeitgenössischen theoretischen Herausforderungen zu stellen.«9 In der Marktkultur, die sich ab diesem Jahrzehnt in diesem Lande eingebürgert hat, und mit der 7 COUTINHO, Carlos Nelson: »Intelectuais em extinção.« Valor Econômico, 24 a 26 de novembro de 2000. 8 SANTOS, Milton: »A violência da Informação.« Rio de Janeiro, JB, 6. April 1997; auch zum folgenden. 9 SADER, Emir: »E agora, que teoria?.« Folha de São Paulo. 15/11/2002.

236 | Maria Susana Arrosa Soares starken Entwicklung der elektronischen Medien, haben die Intellektuellen das Prestige und die Bedeutung verloren, die sie bis in die achziger Jahre genossen hatten. Selten sind die vom offenen Fernsehen – der Hauptinformationsquelle eines Großteils der brasilianischen Bevölkerung – gebotenen Gelegenheiten für Diskussionen zwischen Intellektuellen, Unternehmern, Gewerkschaftlern, Regierungsangehörigen und anderen Vertretern der Zivilgesellschaft über nationale Probleme, Projekte und Utopien. Der »elektronische Fürst«, sagt Octavio Ianni, »übt nun die ehemals ausschließlich den Intellektuellen zustehenden Funktionen aus, nämlich die des öffentlichen Meinungsbildners. Nunmehr steht es diesem nebelhaften und aktiven, anwesenden und unsichtbaren, vorherrschenden und allgegenwärtigen Wesen in lokalem, nationalem, regionalem und weltweitem Umfang zu, die Funktionen des kollektiven und organischen Intellektuellen – immer im Einklang mit den verschiedenen sich auf der Weltkarte abzeichnenden gesellschaftlich-kulturellen und wirtschaftspolitischen Zusammenhängen – wahrzunehmen.«10 »Die brasilianische Gesellschaft kennzeichnet sich durch eine chronische ideologische Anfälligkeit, welche die führenden Kräfte und auch Teile der politischen, intellektuellen, wirtschaftlichen und bürokratischen Oppositionen auf verschiedene Weisen einem ›kolonisierten Bewußtsein‹ aussetzt und dieses vertieft, so daß für ein zur Arbeit der Intellektuellen wesentliches kritisches und unabhängiges, schöpferisches und originelles Denken kein Raum bleibt. Diese Anfälligkeit steht in enger Beziehung zur wachsenden kulturellen Vorherrschaft Amerikas innerhalb der brasilianischen Gesellschaft, welche sich überwiegend in durch Fernsehen und Kino zusammen mit Presse, Schallplatte und Radio verbreiteten audiovisuellen Erzeugnissen niederschlägt.«11 Brasilien mangelt es an »einem den gestellten Herausforderungen gewachsenen theoretischen Entwurf. Die Regierung João Goulart konnte sich auf den von Celso Furtado erarbeiteten Entwicklungsplan gründen. Die Militärdiktatur nährte sich aus der Doktrin der Nationalen Sicherheit. Der Übergang zur Demokratie hatte seine Stütze in der Theorie des Autoritarismus. Indem sich Brasilien nun politisch erneuert und sich die erste post-liberale Regierung gibt, tritt ein riesenhafter Nachholbedarf an Analysen und theoretischen Ansätzen unter uns hervor.«12 Neue Zeiten und neue Regierungen stellen die Intellektuellen anderen, neuen und herausfordernden Tatbeständen gegenüber, über welche sie tiefgehende und strenge Diagnosen zu stellen haben, um den von den Regierenden zu treffenden politischen Entscheidungen Rückhalt zu vermitteln. Man erwartet von ihnen aber auch begründete und kritische Analysen über die Umstände, unter welchen sich die Beteiligung Brasiliens an den Vorgängen der finanzwirtschaftlichen, kulturellen und politischen Globalisierung und Regionalisierung – Stichworte Mercosur und Alca – zu 10 IANNI, Octavio: »O príncipe eletrônico.« Verfügbar unter www.argiropolis.com.ar/Ciencias% 20Sociales/10/Ianni.html. Zugriff am 10. Feb. 2003. 11 Guimaraes, Samuel Pinheiro: »Por uma política cultural eficaz.« Verfügbar unter www. correiocidadania.com.br. Zugriff am 10. Feb. 2003. 12 SADER op. cit.

Die lateinamerikanischen Intellektuellen | 237 vollziehen hat. Die Zukunft des Landes fordert von seinen Intellektuellen die Überwindung schmalsichtiger und an nationalistische, dependenztheoretische oder globalistische Konzepte gebundener Einstellungen, um die Aufgabe zu erfüllen, zu der allein sie fähig sind: Wege zum Aufbau der Zukunft zu weisen, ohne die Rolle eines kritischen Gewissens ihrer Gesellschaft und ihrer Zeit aufzugeben. Zum Abschluss eine Warnung Umberto Ecos über die Risiken der Nähe zur Macht für Intellektuelle: »Der Intellektuelle sollte das kritische Gewissen der Gruppe sein. Er hat die Aufgabe, lästig zu sein. In der Tat sind sie unter radikalen Umständen, etwa wenn die Gruppe mittels einer Revolution an die Macht gelangt, diejenigen, die zuerst erschossen werden oder unter die Guillotine geraten. Ich glaube nicht, daß alle Intellektuellen sich ein derartiges Ende wünschen; aber sie müssen damit rechnen, daß die Gruppe, welcher sie sich anzuschließen entschlossen haben, sie nicht besonders schätzen wird. Werden sie zu sehr geliebt oder verhätschelt, entsteht aus ihnen etwas noch Schlimmeres als organische Intellektuelle. Dann werden sie zu Regime-Intellektuellen.«13

Literatur ANGEL, Raquel:Rebeldes y domesticados. Los intelectuales frente al poder. Buenos Aires:El Cielo por Asalto, 1992. BOBBIO, Norberto: Os intelectuais e o poder: dúvidas e opções dos homens de cultura na sociedade contemporânea. São Paulo: Editora da Universidade Estadual Paulista, 1997. BOURDIEU, Pierre: Interview mit Pierre Bourdieu. Verfügbar unter http://www.icb. ufmg.br/lpf/Trigo,Entrevista-com-Pierre-Bourdieu.html Zugriff am 16. Feb. 2003 CASTAÑEDA, Jorge G.: Utopia desarmada.Intrigas, dilemas e promessas da esquerda latino-americana. São Paulo: Companhia das Letras, 1994. COUTINHO, Carlos Nelson: »Intelectuais em extinção.« Valor Econômico, 24 a 26 de novembro de 2000. ECO, Umberto: »A função dos intelectuais.« Verfügbar unter http://www.italiaoggi. com.br/not01_0303/ital_not20030206b.htm. Zugriff am15. Feb 2003. DEBRAY, Régis e ZIEGLER, Jean: Trata-se de nao entregar os pontos. São Paulo: Paz e Terra, 1995. GASPARI, Elio e outros: Cultura em trânsito. Da repressão à abertura. Rio de Janeiro: Aeroplano, 2000. GUIMARÃES, Samuel Pinheiro: »Por uma política cultural eficaz.« Verfügbar unter www.correiocidadania.com.br. Zugriff am 10. Feb. 2003. IANNI, Octavio: »O declínio do Brasil-Nação.« São Paulo: Estudos Avançados, 14 (40): 51-58, set/dez. 2000. IANNI, Octavio: »O príncipe eletrônico.« Verfügbar unter www.argiropolis.com.ar/ Ciencias%20Sociales/10/Ianni.html . Zugriff am 10. Feb. 2003. 13 ECO, Umberto: »A função dos intelectuais.« Verfügbar unter http://www.italiaoggi.com. br/not01_0303/ital_not20030206b.htm. Zugriff am 15. Feb 2003.

238 | Maria Susana Arrosa Soares JACOBY,Russell: O fim da utopia. Rio de Janeiro: Record, 2001. PETRAS, James: La metamorfosis de los intelectuales latinoamericanos. Verfügbar unter www.glocalrevista.com/petras.htm . Zugriff am 10. Feb. 2003. QUIJANO, Anibal: Un nuevo imaginario anticapitalista. Entrevista. Verfügbar unter www.globalizacion.org/entrevistas/QuijanoImaginarioCapitalista.htm . Zugriff am 10. Feb. 2003. SADER, Emir: »Os intelectuais e os nossos desafios.« Correio Braziliense, 28. Oktober 2001. SADER, Emir: »E agora, que teoria?« Folha de São Paulo. 15/11/2002. SANTOS, Milton: »A violência da Informação.« Rio de Janeiro, JB, 6. April 1997. SARLO, Beatriz: Escenas de la vida posmoderna. Intelectuales, arte y videocultura en la Argentina. Buenos Aires: Ariel, 1994. SOARES, Maria Susana Arrosa (Org.): Os intelectuais nos processos políticos da América Latina. Porto Alegre: Editora da Universidade, UFRGS, 1985.

Die Autorinnen und Autoren | 239

Autorenverzeichnis

Omar Chávez Zamorano, Soziologe, La Paz, Bolivia Rogelio Hernández Rodríguez , Soziologe, Colégio de México, México D.F. Stefan Hollensteiner, Politikwissenschaftler, Deutscher Akademischer Austauschdienst (DAAD), Rio de Janeiro, Brasilien Wilhelm Hofmeister, Politikwissenschaftler, Leiter des Studienzentrums der Konrad-Adenauer-Stiftung in Rio de Janeiro, Brasilien Alfredo Jocelyn-Holt Letelier, Historiker, Universität von Chile und Universität Diego Portales, Santiago, Chile H.C.F. Mansilla, Philosoph, Akademie der Wissenschaften, La Paz, Bolivien Hugo Quiroga, Politikwissenschaftler, Zentrum für Interdisziplinäre Studien, Nationaluniversität von Rosário, Argentinien Alfredo Ramos Jiménez, Politikwissenschaftler, Zentrum für Vergleichende Politische Studien, Universität von Los Andes, Merida, Venezuela Fernando Uricoechea Corena, Soziologe, Nationaluniversität von Kolumbien, Bogotá, Kolumbien Edmundo Urrutia, Soziologe, Universität Landívar und Asociación de Investigación y Estudios Sociales, Guatemala Maria Susana Arrosa Soares, Soziologin, Bundesuniversität von Rio Grande do Sul, Porto Alegre, Brasilien

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