Die Entwickelung der wissenschaftlichen Theologie in den letzten fünfzig Jahren: Rede beim Antritt des Rektorats der Universität Bonn am 18. Oktober 1912 [Reprint 2020 ed.] 9783111486901, 9783111120317


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Die Entwickelung der wissenschaftlichen Theologie in den letzten fünfzig Jahren: Rede beim Antritt des Rektorats der Universität Bonn am 18. Oktober 1912 [Reprint 2020 ed.]
 9783111486901, 9783111120317

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DIE ENTWICKELUNG DER WISSENSCHAFTLICHEN THEOLOGIE IN DEN L E T Z T E N FÜNFZIG J A H R E N

REDE BEIM ANTRITT DES REKTORATS DER UNIVERSITÄT BONN AM 18. OKTOBER 1912 VON*

KARL SELL

BONN 1912 A. M A R C U S UND E. W E B E R S

VERLAG

zenden Bahnen vollzieht sich der Fortschritt der Wissenschaften. Was helle Köpfe Jahrhunderte zuvor intuitiv erkannt haben, wird erst durch die gemeinsame Arbeit vieler Mitforschenden zur sicheren Erkenntnis, um schliesslich der communis opinio als etwas Selbstverständliches zu gelten. An diesen Satz, der sich vielleicht am einleuchtendsten an der Geschichte der mathematischen Naturwissenschaften erhärten liesse, knüpfe ich an, wenn ich die dem neuen Rektor obliegende Antrittsvorlesung halte über die E n t w i c k e l u n g d e r w i s s e n s c h a f t l i c h e n T h e o l o g i e in d e n letzten fünfzig Jahren. Die Berechtigung, mich gerade hierüber auszusprechen, kann ich daraus herleiten, dass mir an dieser Universität neben dem Lehrauftrag für allgemeine Kirchengeschichte auch der für theologische Enzyklopädie erteilt ist. Das verpflichtet mich zur ständigen Beachtung nicht nur des Zusammenhanges aller theologischen Disziplinen untereinander, sondern ebenso auch des Zusammenhanges der theologischen Fächer mit dem Geiste

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sämtlicher anderer Wissenschaften, der Kulturwie der Naturwissenschaften. Die Theologie hat ebenso wie ihre beiden Schwesterfakultäten, die juristische und die medizinische Fakultät, neben einer rein wissenschaftlichen eine rein praktische Seite. Es ist der eigentliche Reformator der Theologie, im heutigen Sinne des Wortes, S c h l e i e r m a c h e r , der gerade vor 100 Jahren das Programm für die beiden Zweige der theologischen Universitätsbildung aufgestellt h a t W i e die Rechtswissenschaft mittels der logischen, psychologischen und historischen Erforschung des gesamten Rechtslebens der Anwendung dieses Rechts und seiner Fortbildung zu dienen hat, wie die Medizin die Ergebnisse exakter Naturforschung anwendet zur praktischen Erhaltung und Steigerung menschlichen und tierischen Lebens, so hat auch die Universitätstheologie ihre wissenschaftliche Arbeit zu vollziehen im Dienste der Erhaltung und Fortbildung unserer gemeinsamen christlichen Religion und deren historischer Verkörperung in bestimmten kirchlichen Konfessionsgemeinschaften zum Besten unseres ganzen Volkes und zur geistigen Wohlfahrt der Menschheit. Es versteht sich dabei von selbst, dass, wie die Jurisprudenz und Medizin, auch diese letztere theologische Praxis ihre eigene Wissenschaft haben wird. Als Aufgabe der wissenschaftlichen Theologie im engeren Sinne des Wortes konnte S c h l e i e r i) Studiums

Schleiermacher, i8u.

Kurze

Darstellung

des

theologischen



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m a c h e r auf seinem religionsgeschichtlichen Standpunkt nicht angeben, so wie es R a f f a e l in seiner Beischrift zum Deckenbild der Theologie in der Stanza della segnatura tut: divinarum rerum notitia: die Erkenntnis der göttlichen Dinge so wie sie an sich sind, auch nicht wie die R e f o r m a t o r e n des 16. Jahrhunderts: das Wissen von der in der Bibel bezeugten göttlichen Offenbarung, sondern nur das volle Verständnis der christlichen Religion, des Christentums in allen seinen Gestalten zu dem praktischen Zweck seiner stets neu zu begründenden, neu zu reinigenden Ausübung in der ihm zugetanen Gemeinde. S c h l e i e r m a c h e r, der einen so massgebenden Anteil an der Organisation der Berliner Universität genommen, hat mit der ihm eigenen Klarheit als die Trägerin aller rein wissenschaftlichen Universitätsdisziplinen die philosophische Fakultät in ihren verschiedenen Zweigen: Philosophie, Philogie, Geschichts- und Sozialwissenschaft, Mathematik und Naturwissenschaft hingestellt und die drei anderen positiven Fakultäten angewiesen, alles, was sie als Wissenschaft leisten, restlos nach den Prinzipien und Methoden anzugreifen, die in der philosophischen Fakultät gelten, also dass die Ergebnisse dieser Arbeit unmittelbare Aufnahme in den dort zu errichtenden Erkenntnisbau finden können. Demnach würde die Aufgabe der wissenschaftlichen Theologie nichts sein können als die Ergründung der christlichen Religion in ihrem Zusammenhang mit dem gesamten Geistesleben der



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Menschheit. Daneben läge dem praktischen Zweig der Theologie ob, jene Bewertung des Christentums zu vertreten, die es befähigt, die gemeinsame geoffenbarte Religion eines bestimmten Kirchenund Konfessionskreises zu sein. Streng genommen gehören nach Schleiermachers Auffassung, wenn man sie konsequent durchführt, auch die Disziplinen der sogenannten systematischen Theologie, die es mit dem Wahrheitsbeweis der christlichen Religion zu tun haben, in diesen Rahmen hinein. Ich werde demgemäss, so wenig ich die grossen Verdienste der systematischen Theologen in den letzten fünfzig Jahren verkenne um das Durchdenken aller Erkenntnisprobleme der christlichen Religion, ihre Facharbeit nur so weit zu berücksichtigen haben, als sie das tiefere psychologischhistorische Verständnis des Christentums betrifft. Die Gesamtleistung der wissenschaftlichen Theologie der letzten fünfzig Jahre scheint mir nun darin zu bestehen, dass sie sich, trotz vielfältigen Widerspruchs, immer konsequenter ausgewachsen hat zu der psychologisch-historischen Wissenschaft von der christlichen Religion als einer geschichtlich gegebenen Grösse des menschlichen Geisteslebens in der Gesamtheit ihrer kultischen, sozialen und politischen Gestaltungen, ihrer sittlichen, intellektuellen und künstlerischen Leistungen, ihrer umfassenden Kulturwirkungen im Leben unseres Geschlechts. Die Anfänge dieser Entwicklung sind natürlich älter als fünfzig und als hundert Jahre. Sie reichen zurück bis in die Anfänge des Zeitalters der Auf-

klärung, ja bis ans Ende des 16. Jahrhunderts, da man zuerst begann, die Religion als eine Seite des menschlichen Seelenlebens zu betrachten, ganz abgesehen von der Frage, was den religiösen Seelenzuständen an objektiver, göttlicher Verursachung zugrunde liegen möge. Es ist dann S c h l e i e r m a c h e r gewesen, der in seiner Programmschrift von 1799, den„Reden über die Religion für die psychologisch-historische Würdigung der Religion, als einer eigenen Provinz im menschlichen Geistesleben neben dem diskursiven Denken, der Sittlichkeit und dem Kunststreben, eintrat. Damit hat er der von ihm aufs tiefste beeinflussten Romantik erst den Sinn erschlossen für alle volkstümlichen Formen des religiösen Lebens, was so weitverbreitete Folgen für das gesamte kirchliche Leben Europas im 19. Jahrhundert haben sollte. Man könnte das erste Drittel des neunzehnten Jahrhunderts, die Blütezeit des philosophischen Idealismus und der historischen Romantik in ganz Europa, die Inkubationszeit dieses fruchtbaren Gedankens nennen. Dann aber ist der tiefere und allgemeinere Grund auch für die letzte uns hier beschäftigende Wandelung in der Theologie zu finden in jenem gewaltigen geistigen Umschwung, der die ganze europäisch-atlantische Menschheit im letzten halben Jahrhundert von jenen Bahnen des Idealismus und der Romantik hinweg im politischen, nationalen, sozialen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Leben zu neuen Aufgaben gerufen hat. Es ist die Summe der in diesem Umschwung wirksamer Faktoren, die auch der theologischen wissen-

schaftlichen Arbeit einen geradezu internationalen und interkonfessionellen Charakter aufgeprägt und sie mit einer Fülle von Problemstellungen bereichert hat, die vor hundert Jahren niemand denken konnte. Und ebenso sind die Schranken der wissenschaftlichen Disziplinen dergestalt gefallen, dass die Arbeit der Theologie nun die Frucht ist des Zusammenwirkens von Philologen, Philosophen, Historikern aller christlichen Länder und Kirchen mit den Theologen. Die Methode aber, nach der diese Arbeit geleistet wird, kann keine andere sein als die für das Verständnis alles menschlichen Geisteslebens insgemein gilt, nämlich philologische Kritik, psychologische Erklärung, historische Kombination, das alles entsprechend dem Gegenstande der Theologie, der christlichen Religion, die zwar als eine Seite des menschlichen Geisteslebens der Gesetzmässigkeit alles äusseren und inneren Geschehens unterliegt, aber ihrer Natur nach auch ein individuelles intuitives Erfassen verlangt, das der exakten kausalen Erklärung bestimmte Grenzen zieht. Damit aber hängt wieder zusammen, dass der Grad der Gewissheit der Erkenntnisse sich auch bei der wissenschaftlichen Theologie ganz im Rahmen dessen zu halten hat, was historisch-psyschologisch ermittelt werden kann, im Unterschied von der relativ sichereren logischen, mathematischen und experimentellen Beweismethode andrer Wissenschaften. Als reife Frucht dieser kombinierten Arbeitsleistung erscheint dann manchmal auch in der Theologie ein Werk künstlerischer Darstellung wichtiger Zeiträume oder Epochen des Christentums, wie es

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beispielsweise, um hier nur Fach-Theologen zu nennen, E. R e n a n s O r i g i n e s d u c h r i s t i a n i s m e und jetzt A . H a u c k s , Kirchengeschichte D e u t s c h l a n d s und des A b b é D u c h e s n e , H i s t o i r e a n c i e n n e d e l ' é g l i s e , sind. Griffe ich über die Fachtheologen hinaus, so wären in erster Linie die Darsteller der deutschen Geschichte im Zeitalter der Reformation und der Gegenreformation in unsrer eignen Mitte zu nennen! Die Gesamtentwicklung, von der ich spreche, liesse sich in kurzen Worten so umschreiben — wenn man ausschliesslich den Blick richtet auf die Quellen und auf die T r ä g e r der Ideen und Institute des Christentums und wTenn wir Bibelwissenschaft, Kirchengeschichte, Religionswissenschaft unterscheiden : Die Bibelwissenschaft, die stets einen Hauptteil der theologischen Wissenschaft gebildet hat, ist mehr und mehr dazu gelangt, in dem heiligen Buch der Christenheit, das in den ersten Jahrhunderten der Kirche nach verschiedenen voneinander abweichenden Versuchen seine endgültige Gestalt empfing, zu sehen : statt eines direkt von Gott inspirierten Urkundenbuchs über die göttliche W'eltschöpfung, Weltregierung und Welterlösung das Quellen- und Urkundenbuch der israelitisch-jüdischen Religionsentwicklung bis zu deren Gipfelung im Christentum des ersten Jahrhunderts nach Christi Geburt. Diese Religionsent Wickelung ist aber eingebettet in die national-politische Entwickelung des israelitisch-jüdischen V o l k e s und in das A u f w a c h s e n



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der neuen christliehen Religionsgemeinde, die, erst jüdisch, dann jüdisch-hellenistisch zusammengesetzt, sich als die Rechtsnachfolgerin in den Privilegien des altisraelitischen Gottesvolkes weiss und daraus den Beruf zur Weltmission schöpft. Die weitere Entwic.kelung dieser Religion vollzieht sich im Rahmen der Kirchengeschichte. Deren Inhalt stellt sich dem historisch geschulten Auge dar nicht als die wesentlich von supranaturalen Mächten geleitete halb menschlich, halb übernatürlich zustande gekommene Ausbreitung des Reiches Gottes auf Erden, so wie der Kirchenvater Augustinus es anschaute, sondern vielmehr als das menschlich durchaus begreifliche, an allem menschlich Grossen und Kleinen teilnehmende Aufwachsen des neuen internationalen Christenvolkes. In seinen ersten Anfängen ist es eine noch völlig undogmatische hierarchiefreie Bruderfamilie, die dann zur organisierten, in allen Einzelgemeinden identischen Kirche und endlich zur weltumspannenden Macht einer neuen monotheistischen Kultur und Zivilisation wird, die nicht bloss Sitte, Recht, Staat und Gesellschaft, sondern auch die gesamte intellektuelle, künstlerische und wirtschaftliche Betätigung der ihr dienenden Nationen beherrscht, ihre Politik in Krieg und Frieden leitet! Bis derselbe Gang der Geschichte nach der grossen Konfessionstrennung die Kirchentümer auf dem Wege einer Art von Rückbildung wieder zum schrittweisen Verzicht auf weltliche Herrschaftsstellung zwingt, so dass sie sich verwandeln in korporative Verbände für eine allein



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auf geistige Gewalt sich beschränkende Völkererziehung zu höherem gottgeweihtem Menschentum! Denn schliesslich ist doch der Kampf um die Geltung oder die Entbehrlichkeit der religiössittlichen Wertbegriffe, die das Christentum zwar nicht allein geschaffen, aber zur höchsten Konsequenz entwickelt hat, die unsere moderne Welt am tiefsten bewegende geistige Frage. Damit aber hängt die dritte Erkenntnis zusammen, die sich allmählich zu gestalten beginnt, von der Eigenart des Christentums als Weltreligion neben den anderen mit dem gleichen Anspruch aufgetretenen und noch heute unerschütterten ja teilweise im Vordringen begriffenen Weltreligionen, dem vielgestaltigen Buddhismus und dem Islam. Der Anspruch des Christentums in Gestalt seiner verschiedenen Kirchen und Gemeinschaften, nicht eine Religion unter vielen, sondern d i e Religion über allen anderen zu sein, muss sich auch wissenschaftlich begründen lassen, und diese Begründung muss in einer Zeit, da auch ausserchristliche Gelehrte an unserer wissenschaftlichen Erkenntnismethode teilnehmen, sich auf historische Vollständigkeit und logische Allgemeingültigkeit des Beweisverfahrens stützen. Aus diesem wissenschaftlichen Gesamtprogramm heben sich als die zentralen Probleme, deren Lösung in immer neuen Anläufen unternommen wird, heraus: die Fragen nach der Entstehung des Christentums aus dem Schosse des Judentums als einer universalen Religion, die Wandelung dieser Religion zur Kirche, die Wandelung de*-

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im heidnischen Staate vogelfreien Kirche zur römisch-griechischen Reichskirche, die Ausgestaltung der römischen Kirche zur geistlichen Universalmonarchie des Abendlandes, die Zerlegung der abendländischen Chi'istenheit in getrennte Konfessionen und in ein konfessionelles Staatensystem. Endlich die völlig neue Stellung, in der sich Christentum und Kirche finden in der modernen Staats- und Völker- und Geisteswelt, die sich auf den gleichfalls als christlich angesprochenen Grundsätzen der Religionsfreiheit, der Selbständigkeit der Einzelseele auch gegenüber Gott und der Neutralität alles weltlichen Lebens gegenüber dem kirchlichen aufbauen will. Wie hat sich die Arbeit an diesen Problemen in den letzten fünfzig Jahren entwickelt? Sie hat ihren sichtbaren Anfang genommen von der sogenannten zweiten Leben-Jesubewegung, nicht bloss in der protestantischen, sondern auch in der katholisch-theologischen Welt, und von der alle bibelfesten Nationen beschäftigenden Pentateuchkritik, ;der literarischen Quellenscheidung in den fünf Büchern Mose. 1863 erschien im katholischen Frankreich E r n s t R e n a n s L e b e n J e s u , 1864 im protest antischen D e u t s c h l a n d D a v i d F r i e d r i c h S t r a u s s z w e i t e s L e b e n j e s u f ü r das d e u t s c h e Volk, 1862 im anglikanischen England des Bischofs im Kapland C o l e n s o B u c h ü b e r d e n P e n t a t e u c h , 1863 H e i n r i c h H o l t z m a n n s U n t e r s u c h u n g e n ü b e r die s y n o p t i s c h e n , die drei ersten E v a n g e l i e n , 1864 K a r l W e i z s ä c k e r s Untersu-

chungen über die e vungelische Geschidite. Wie Sie sehen, internationale, interkonfessionelle Gelehrtenarbeit! Gemeinsam ist allen diesen Werken, dass sie nichts fundamental neues enthalten, sondern die Summe ziehen aus fünfzigjähriger Vorarbeit. Und diese wieder hat ihre Wurzel in der grossen Doppelleistung des deutschen Geistes seit Anfang des Jahrhunderts, nämlich der die Welt aus der Idee aufbauenden klassischen Philosophie und der zur sicheren philologischen Methode und zum umfassenden Verständnis des Völkerlebens entwickelten historischen Schule von N i e b u h r und S a v i g n y bis zu J a k o b G r i m m und L e o p o l d R a n k e . Damit war ja tatsächlich eine völlig neue Ansicht von der gesamten Geistes- und Weltentwickelung auf den Plan getreten und der Theologe, der alle diese Anregungen seiner Wissenschaft zuführte, war Strauss älterer Lehrer, der 1860 gestorbene Meister der sog. Tübinger Schule, F e r d i n a n d C h r i s t i a n B a u r . Er ist durch die Strenge und Allseitigkeit seiner Forschung der Begründer der historischen Methode in der Betrachtung des Christentums. B a u r s Schule bot dem kirchlichen Vorurteil die Stirn, als habe beim Zustandekommen der Überlieferung über die christliche Urgeschichte, wie sie sich innerhalb und ausserhalb unseres Neuen Testaments nur bruchstückweise erhalten findet, eine andere Weise des Geschehens obgewaltet wie in allen übrigen Gebieten menschlicher Religionsentwickelung — ganz unbeschadet des auch von B a u r anerkannten höheren Wertes der christ-



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liehen Religion. So wandte er auch auf ihre Quellen genau dieselbe Methode der Kritik an wie auf jedes andere philologische Objekt. Den Hintergrund seiner Geschichtsanschaunng aber bildete der philosophische Glaube Hegels, dass die gesamte Geschichte eine Selbstentwickelung des göttlichen Geistes sei, die Religion aber ein erstes symbolisches Innewei'den desselben. Danach wies er ihr im Geistesleben den zweithöchsten R a n g an, der Philosophie den höchsten. Damit w a r die Geschichte des Christentums ein Bestandteil der Menschheitsgeschichte im allgemeinen geworden auch in dem Sinne, dass es in ihr nicht mit anderen Dingen zugeht wie in der ganzen menschlichen Geschichte. Damit w a r sie aber auch der ausschliesslichen Behandlung durch Fachtheologen entnommen: sie wird das gemeinsame Arbeitsfeld von Orientalisten, Philologen, Historikern, Theologen aller Konfessionen! Zweimal w a r bereits jene Ansicht über die Religionsentwicklung des jüdischen Volkes, die g e g e n w ä r t i g als die einstweilen zutreffendste gilt, ausgesprochen worden 1 ). Erst das W e r k von C o l e n s o , das die anglikanische Wissenschaft zur allmählicken Befreundung mit den Ei-gebnissen der Quellenscheidung in dem vornehmsten Teil des Alten Testamentes z w a n g , gab, wie der grüsste alttestamentliche Theologe in Holland, A b r a h a m K u e n e n , es aussprach, das Signal für den Durchbruch der Ansicht, die den Namen R e u s s - G r a f W e l I h a u s e n trägt und die W e l l h a u s e n literai)

1 8 1 7 von d e W e t t e .

1 8 3 ; von

Vatke.



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risch am glänzendsten vertrat. Sie nimmt an, dass die mosaische Gesetzgebung nicht der Anfang, sondern der Schlusspunkt der Religionsentwicklung im Alten Testament ist, dass erst die grossen Propheten Israels den mosaischen streng nationalen Gottesglauben zur Höhe eines sittlichen, geistigen und universalen Monotheismus erhoben haben. Dieser wurde in der späteren priesterlichen Gesetzgebung kultisch, juristisch, rituell diszipliniert und damit der Grund gelegt zu dem Judentum, dem Religionsvolk des in Jerusalem im Tempel sesshaften Weltgottes, der seinem Volke die einstige Weltherrschaft garantiert. Erst durch diese neue Geschichtsansicht wurde die Einbeziehung der israelitischen Geschichte in die Gesamtgeschichte des alten Orients wahrhaft fruchtbar. Was heute infolge aufsehenerregender Berliner Vorträge in den Gesichtskreis aller Gebildeten getreten ist, die Abhängigkeit der biblischen Urgeschichte von den einigermassen sicher entzifferten altbabylonischen Götter- und Gottmenschsagen, die Auffindung von Parallelen zur Legislative wie zur Epik und Lyrik des Alten Testaments in babylonischen Texten — das geht zurück auf die zuerst vor sechzig Jahren in Mesopotamien einsetzende Ausgrabungsarbeit, die uns nicht nur eine hohe semitische Kultur, sondern eine noch ältere, ihr vorausgehende erschloss, die um Jahrtausende der angenommenen Zeit der israelitischen Patriarchen vorausgeht. Damit ist die Meinung unseres Herder, dass wir in der Bibel „die älteste Urkunde des Menschengeschlechts" besässen, hinfällig geworden. Israel und seine



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Religion gehören zu den jüngsten Gliedern der altorientalischen Völker weit. Aber grade an der Art und Weise, wie der Geist des israelitischen Prophetentums die uns jetzt vorliegenden älteren polytheistischen Mythen umgebildet hat zum Gefäss seiner Gotteserkenntnis, ermessen wir den Rang dieser einzigen monotheistischen semitischen Religion. Die nationale Hülle aber, in der jene Gotteserkenntnis verkapselt war, sollte nicht gesprengt werden durch eine Entwicklung von innen heraus, sondern durch das erste Weltreich im vollen Sinn des Wortes, das Alexanders von Makedonien, das Abend- und Morgenland umfasste. Es wird abgelöst vom römischen Reich. Und nun wirbt das von dem grossen Kosmopoliten Alexander begünstigte Judentum, das mit dem philosophischen Geist der Antike sich befreundet hat, um die Seele der griechisch-römischen Bildungswelt. Es wird zur erfolgreichen Missionsreligion. Da tritt Jesus von Nazareth auf, als der, der gesandt war, um die tiefsten Gedanken der Religion seines Volkes in durchgängig verklärter vergeistigter Gestalt zum Prinzip eines neuen Gottesverhältnisses zu erheben, das im Munde der von ihm ausgehenden Apostel die mit rein geistigen Mitteln zur Eroberung der Welt ausziehende Religion geworden ist. Die auf allen Punkten vorbereitende Rolle, die das aus den Makkabäerkämpfen hervorgegangene Judentum für das werdende Christentum hat, ist erst in den letzten Dezennien in ihrer vollen Bedeutung erkannt worden, womit der Originalität der Schöpfung Jesu kein Eintrag geschieht.

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Vor fünfzig"Jahren setzte mit H o l t z m a n n s und W e i z s ä c k e r s Werken die ergiebigste Forschung nach den Quellen für das Leben Jesu ein, d. h. nach der Urgestalt und der Reihenfolge der Evangelienschriftstellerei. Holtzmann verteidigte die noch von Baurs Schule bestrittene, heute ziemlich allgemein geltende Annahme, dass wir die älteste noch erreichbare schriftliche Quelle für die Worte und Taten Jesu im Evangelium nach Markus besitzen. Damit begann die fruchtbare kritische Arbeit am urchristlichen Gemeindeschriftum, die zu der jetzt in ihrem ersten Teile beinahe unbestrittenen Ansicht geführt hat von einer doppelten UrÜberlieferung: die eine im Markusbericht, die andere in einer von den beiden andern Evangelien neben Markus benutzten, also in zwiefacher Gestalt erkenntlichen Spruchquelle, während das Evangelium nach Johannes das Werk eines anderen Geistes ist und einer späteren Entwicklungsstufe des Urchristentums angehört. Wenn ich hier auch nicht mit dem kürzesten Wort von dem Ertrag der seit fünfzig Jahren mit nie dagewesener Energie betriebenen Forschung über den Urheber unserer Religion berichte, so geschieht es nicht, weil ich die Anwendung der strengsten kritischen Methode auch auf seine Geschichte unter Ausschluss des dogmatischen Wunderbegriffs beanstandete, sondern weil von allgemein zugestandenen sogenannten „Ergebnissen" betreffs des Aufbaues einer wirklichen Lebensgeschichte Jesu nicht die Rede sein kann. Das schliesst ja nach allgemein anerkannten Regeln



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der Historik nicht im geringsten die vielmehr von allen namhaften Historikern zugestandene Tatsache aus, dass hinter dem Glauben der urchristlichen Gemeinde an ihren Herrn eine ganz unerfindbare Originalgestalt von einziger religiöser und sittlicher Hoheit steht. Auch das durch Wolken der Überlieferung gebrochene Sonnenlicht zeugt von der Sonne selbst. Je weiter die Analyse der Quellen fortschreitet, um so mehr bestätigt sie die Richtigkeit der Tübinger Methode, die damit begann, die gesamte urchristliche Überlieferung nicht unterm Gesichtspunkt der Urkundlichkeit über die Person Jesu, sondern der Urkundlichkeit für die älteste christliche Gemeinde zu betrachten. E s ist der Gemeindeglaube, die Gemeindesitte und der Gemeindeenthusiasmus, die das Denkmal der überwältigenden Persönlichkeit des Meisters geschaffen haben. Was wir nach strengstem historischen Urteil in der urchristlichen Überlieferung besitzen, ist ein Glaubensbild, an dem neben der wirklichen Erinnerung auch die Begeisterung der Gemeinde einer neuen Religion gewirkt hat. In voller Deutlichkeit steht diese Religion, auch darin hat B a u r recht gesehen, vor uns in den einzigen mitSicherheit als nicht anonym zu bezeichnenden Literaturdenkmälern des neuen Testaments, den Briefen des Christusapostels Paulus. Er ist gewiss nicht der Erfinder des Evangeliums, der Heilsbotschaft von dem erschienenen Christus. Aber er hat ihm die siegreiche Gestalt gegeben von der Rettung, die Juden und Heiden gleichermassen dargeboten wird in dem Israel verheissenen, in Jesus ge-



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kommenen, nach seinem Tode lebendig erschienenen Christus, die Botschaft also von dem neuen Gottes volk, das mit dem wiederkommenden Christus die erneute, von Sünden befreite Welt beherrschen wird. Das Bild aber, das Baur von den in der ältesten Christenheit einander bekämpfenden Tendenzen gezeichnet hatte, musste völlig" ersetzt werden! Baurs hervorragendster theologischer Schüler A l b r e c h t R i t s c h l fand den Punkt, von wo aus das geschehen konnte, in der zweiten Bearbeitung seines Werkes über die „ E n t s t e h u n g d e r altk a t h o l i s c h e n K i r c h e " 1857. Indem er die einzelnen Aufstellungen Baurs, aber mit dessen eigenen methodischen Waffen bekämpfte, hat er eben diese zur allgemeinen Anerkennung gebracht. Neben die Feinsichtigkeit B a u r s für alle dogmatischen Schattierungen im ältesten Christentum trat in R i t s e h l die religiöse Feinhörigkeit, und so datiert von ihm die Revision aller Einzelheiten der Baurschen Kritik. Man näherte sich dem eigentlichen Problem der neuen Religion. Diese Religion konnte nur Erfolg haben, wenn sie allen den tiefen Gemüts- und Geistesbedürfnissen der Welt des römischen Kaiserreiches im zweiten Jahrhundert gerecht zu werden vermochte, da eine schönheitstrunkene dekadente Überkultur, asketische Kulturmüdigkeit, eine kosmopolitische mystisch-individualistische Philosophie miteinander rangen und dazu ein Chaos orientalischer, jüdischer und antiker Heilsarmeen, die uns erst die neueste Religionsgeschichte hat verstehen gelehrt.



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Nicht einer in moralischen Tod und stumpfsinnigen Götzendienst versunkenen Heidenwelt, sondern der einem jenseitigen Heil entgegentrachtenden, durch einen aufgeklärten Despotismus zum religiösen Austausch geradezu gezwungenen Weltreichsmenschheit brachte das Christentum das Wort der Erlösung von Leid, Sünde und Tod. R i t s e h l ist nach S c h l e i e r m a c h e r der erste historisch-kritische Theolog gewesen, dem es gelang, neue Begeisterung für das protestantische Kirchentum zu entzünden, wie er es sich dachte. Seine eigentliche Lebensarbeit liegt also im Gebiete der praktischen Theologie, der Theologie der religiösen und kirchlichen Bewertung der auf wissenschaftlichem Wege gewonnenen Einsichten. So wurde er zum methodischen Reformator der Dogmengeschichte im Sinne eines Avesentlich undogmatischen religiösen Protestantismus. Er wurde es durch eine praktische Religionstheorie, die über B a u r und H e g e l auf S c h l e i e r m a c h e r und K a n t zurückgriff: auf S c h l e i e r m a c h e r s Gedanken von der Selbständigkeit der Religion neben dem intellektuellen Leben, auf K a n t s Gedanken von dem wesentlich moralischen Gehalt der christlichen Gottesoffenbarung. Die völlige Verschiedenheit von Religion einerseits, Metaphysik und Weltanschauung andererseits wurde nun mit einer Energie verkündigt, die auch im anglikanischen England, im katholischen Frankreich unter Theologen und Philosophen Schule machte. Sie entsprach dem Bedürfnisse der Zeit, in der der naturwissenschaftliche Darwinismus sich



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seinen W e g bis tief hinein in alles historische Denken bahnte. War die Entwickelungslehre längst heimisch in den idealistischen Systemen der deutschen klassischen Philosophie, hatte Kant längst der empirischen Wissenschaft die einzige Aufgabe der kausalen Erklärung gesetzt — so schien nun im „Kampf ums Dasein" die rätsellösende Weltformel gefunden zu sein. A l s eine Art von seelischer Selbsterhaltung im Kampf mit der Not des Lebens erschien auch R i t s e h l die Religion nach ihrer psychologischen Seite. Und den Erweis des Unterschieds der Religion als eines primären Erlebnisses von allen Dogmen, die das Werk theologischer Wissenschaft und kirchlicher Politik sind, erbrachte nun A d o l f H a r n a c k s Dogmengeschichte 1 ). Hier wurde zum erstenmal wenigstens eine Reihe der Komponenten des so weit verzweigten kirchlichem Geisteslebens so zu sagen in deutlichem Präparat aufgezeigt unter dem Motto aus Goethe von dem Unterschied der christlichen Religion als eines mächtigen Wesens für sich von aller Philosophie. Mit richtigem Blick hatte R i t s e h l zur Erforschung des Christentums eingesetzt bei der frühkatholischen Kirche, der Kirche überhaupt, der kultischen, sozialen, rechtlichen Organisation, die als solche allein das Evangelium der Welt zu erhalten vermochte. Jetzt richtet sich, und das ist H a r n a c k s zweites Verdienst, eine konzentrische organisierte Gelehrtenarbeit aller Länder auf die i) Lehrbuch der Dogmengescliichte 1885.



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Aufhellung und die Bereicherung des Quellengebiets der alten Kirchengeschichte. Die Einsicht wächst in den Unterschied des noch vorkirchlichen, noch hierarchiefreien Gemeindechristentums und seiner nicht mehr rätselhaften enthusiastischen Erscheinungen von dem festgefügten bischöflichen Kirchentum der Märtyrerzeit. Aus dem Trümmerfeld liturgischer, rechtlicher Überlieferungen, aus Ruinenhaufen und Katakomben, aus Scherben und Papyrusfetzen steigt auf das Bild der wirklichen alten Kirche als der transzendentalen Rettungsanstalt dieser Welt in das Jenseits. Die Mächte, die der Kirche den Sieg verschafft, der göttliche Kultus, das göttliche Recht, die gottverdienende Askese, das göttliche Dogma und die organisierte soziale Hilfsbereitschaft werden immer deutlicher erkannt. Aber was diesen inneren Mächten den Angriffspunkt bot, um die heidnische Antike in eine christliche Antike zu verwandeln, war allein das römische Reich. Das Kaisertum von Konstantin bis Theodosius ist es gewesen, das die Bischofskirche zur Priesterin der Reichsreligion erhob und so dem Christentum den Welteinfluss sicherte. Die Kirchengeschichte wirdzur abendländischen Weltgeschichte im Mittelalter. Die für den Einzelnen kaum mehr übersehbare gelehrte Arbeit zur Aufhellung des mittelalterlichen Christentums, die unlöslich verbunden ist mit der Völker-, Staaten-, Rechts-, Verfassungsund Wirtschaftsgeschichte — ganz zu geschweigen aller Richtungen des Geisteslebens, ist geleistet



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von Gelehrten aller Nationen, aller Konfessionen nach einer Methode. Zu dem wichtigsten darin gehört das Heraustreten der Heiligen des Mittelalters aus dem Heiligenschein der Legende in das Licht historischer Grösse und der Beginn einer wirklichen Ordensgeschichte, die Entdeckung eines germanischen vorkanonistischen Kirchenrechts, die Ergründung des Wesens von Scholastik und Mystik in ihrem Zusammenhang mit der Philosophie auch des Islam, die Aufhellung der konziliaren Reformbewegung des 15. Jahrhunderts und die allseitige Erforschung der sogenannten Renaissancezeit. An den Problemen, die die grosse Kirchenund Konfessionstrennung des 16. Jahrhunderts dem wissenschaftlichen Verständnisse des Christentums stellt, hat dieses die Probe zu bestehen, ob sie es vermag, ohne Verschleierung der welttiefen Gegensätze, die sich nun auftun, dem Gegner in seinen innersten edlen Motiven gerecht zu werden. Wenn die Auffassung der allgemeinen politischen und Kulturbedeutung von Reformation und Gegenreformation trotz zahlloser Korrekturen im einzelnen noch unter dem Einfluss des Gesamtwerkes von L. R a n k e vor siebzig und mehr Jahren steht, so ist eine neue Bewertung der Reformation als Entwickelungsstufe des Christentums eröffnet von R i t s c h i . Er zeigt ihren Grund in der neuen Gestalt evangelischer Frömmigkeit, die in Luther erscheint, und eröffnete damit die Einsicht in die tatsächliche Duplizität der ganzen modernen Geistesentwickelung, die früher wesentlich von der



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Reformation abgeleitet wurde. In dem neuen Geistesleben seit dem 16. Jahrhundert läuft neben der Linie, die vom Christentum ausgeht und die religiöse Innerlichkeit über alles stellt, und die auch am überlieferten Kirchentum Kritik übt, eine andere von der Renaissance herrührende Linie, die von der Antike ausgeht, und zur vollen Emanzipation von Staat, Gesellschaft, Wissenschaft und Kunst von der überlieferten Autorität der Kirche führt, vielfach auch von Kirche und Religion überhaupt. Mit dieser weltlichen Kritik macht die Reformation mehrfach gemeinsame Sache aber aus anderen Motiven. Das hatte s i c h B a u r noch verschleiert. Der Rückgang auf die rein religiösen Wurzeln der Reformation führte dann zur schärferen Unterscheidung der einander bekämpfenden Einzelzweige der Reformation, der Konfessionen, die sich schliesslich in verschiedenen nationalen Staaten politisch verkörperten und endlich geradezu in drei voneinander abweichende Kulturen ausliefen: eine katholische, eine lutherische, eine kalvinische Kultur. Die mit der vierten Säkularfeier von Luthers Geburt einsetzende freundliche und feindliche Literatur hat vornehmlich auf protestantischer Seite neben kritischen Ausgaben der Werke der grossen Reformatoren eine Reihe wissenschaftlicher Untersuchungen zur vielseitigen Erforschung aller Details der Reformation hervorgerufen, auf katholischer Seite hat die Öffnung des vatikanischen Archivs zur freien Benutzung durch Gelehrte aller Länder den Stoff zum Verständnisse der welterregenden

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konfessionellen Kämpfe zweier Jahrhunderte und damit des Problems des Protestantismus gehäuft. Es lautet, in Frageform gekleidet: Geht, wie es im Katholizismus geschieht, das Christentum wesentlich auf in der Gestalt der organisierten Kirche, was sich in den lutherischen und reformierten Konfessionsstaaten wiederholt—oder ist die Kirche selber ihrer Idee nach nur eine allein für Gottes Auge erkenntliche Geistervereinigung, der Ort aller Glaubensenergien, aber nicht ihre alleinige Auswirkung — so dass die kultisch-rechtlichen Gestaltungen dieses Glaubens nur sekundäre Bedeutung haben? Die erste vollkommene Würdigung des Kirchenbegrififes bei Luther in diesem Sinne durch den Juristen R u d o l p h S o h m hat zur Zerlegung des protestantischen Kirchenrechts in seine religiös-ethischen und seine juristisch-politischen Funktionen geführt, und dann hat die Entdeckung des stark asketisch-enthusiastischen Einschlags der Gesamtreformation im Täuferwesen das Auge geschärft für die in ihrem Prinzip liegende Veränderlichkeit und Beweglichkeit aller ihrer juristischen, sozialen und politischen Formen. Schon die Rankesche Auffassung war der Kulturbedeutung des Neukatholizismus gerecht geworden, der von der Mitte des 16. Jahrhunderts an in strenger Zusammenfassung aller seiner hierarchischen, asketischen und Geisteskräfte zu frischem Leben gelangte. Mit dem Wegfall des Kontroversstandpunktes in der Behandlung der verschiedenen Formen des Christentums ist diese machtvolle Leistung jetzt



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in ihrer teilweisen Überlegenheit auf künstlerischem und wissenschaftlichem Gebiet, ihrer völligen Überlegenheit auf caritativem Gebiet anerkannt! Die lebendige Geschichte selbst hat dem Christentum, seitdem im Gefolge der Französischen Revolution die Verweltlichung aller früher von der Kirche beherrschten Staats-, Gesellschaftsund Erziehungsfunktionen begonnen hat, ein letztes grosses Problem gestellt, das auch die Wissenschaft zu lösen hat: Mit welchem Recht wird sich das Christentum als vornehmste Macht der Menschenerziehung behaupten können, angesichts der sogenannten modernen Kultur und Weltanschauung? Sie stellt ja Staat und Wissenschaft, Gesellschaft und Kunst, ja alleLebensäusserungen des Menschengeistes nicht mehr auf Autorität, sondern auf ihr eigenes freies Wesen — wo ist da noch Platz für christliche Beeinflussung derselben? Die Antwort liegt in der Aufstellung einer weiteren Entwickelungsstufe des Christentums, des Neuprotestantismus, durch einen der jüngeren von Ritsehl ausgegangenen Theologen: E r n s t T r o e l t s c h . Der Neuprotestantismus würde die Form des Christentums sein, die prinzipiell alle jene Folgeerscheinungen von Reformation und Renaissance anerkennt, die man als die „modernen Ideen" bezeichnet, weil in ihnen nichts dem innersten Wesen des Christentums Fremdes oder Feindliches liegt. Denn dieses Christentum ist in seinem Kern eben nur religiös-sittliche Geistesmacht, religiös begründeter ethischer und sozialer humaner Idealismus, der sich auf dem Boden auch des freiesten Weltlebens

segensvoll behaupten kann. Damit aber wäre gegeben, dass auch alles, was in das Gebiet exakt wissenschaftlicher Forschung und rein philosophischen Denkens gehört, vor allem alle sogenannten „Weltanschauungsfragen" aus dem Bereich des christlich-religiösen Denkens ausscheiden, das sich mit S c h l e i e r m a c h e r zu beschränken hätte auf die Entfaltung des religiösen Erlebnisses der Gottesgewissheit. Damit ist die wissenschaftliche Frage nach dem „Wesen des Christentums", nach dem, was in allen Christentümern d a s C h r i s t e n t u m ist, gestellt. Man kann sie so verstehen: Liegt allen Formen dessen, was sich in der Welt „Christentum" nennt, ein Thema zugrunde, ein bestimmter Ideenkomplex, dessen oft ins scheinbar Heterogene gesteigerte Variationen doch alle diese Formen sind ? — Das ist die wissenschaftliche Frage nach der Definition des Christentums! Oder: Ist das Christentum seinem eigentlichen Wesen nach beschlossen in einer einzigen seelischen Originalgestalt, die man nur zu erkennen braucht, um alle seine Entwickelungen beurteilen zu können? Das ist die praktische Frage nach dem religiösen Gebrauchswert des Christentums! Das grosse Aufsehen, das A d o l f H a r n a c k s 1900 in Berlin gesprochene Vorlesungen über das „Wesen des Christentums" erregten, beruhte wohl darauf, dass hier beide Fragen zugleich beantwortet wurden und als das „Wesen des Christentums" das im Sinne des deutschen humanen Idealismus aufgefasste „Evangelium" erschien,



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verkörpert in dem Jesus der drei ersten Evangelien. Die dunkeln Massen der Kirchengeschichte so zum Transparent durch die dahinter aufleuchtende Heilandsgestalt geworden, das wirkte überwältigend ! Meines Erachtens ist aber die rein wissenschaftliche Frage nach dem Wesen des Christentums streng zu trennen von der religiös-praktischen Frage nach seinem göttlichen Wahrheitsund Wirklichkeitswert. Das Urteil über die christliche Religion neben anderen Religionen kann nur gefällt werden unter Heranziehung der jüngsten unter den historischen Wissenschaften der philosophischen Fakultät, der allgemeinen Religionswissenschaft. Sie ist recht eigentlich die Schöpfung des letzten Menschenalters. Ist sie auch noch weit entfernt von dem Ziel, das einer ihrer methodischen Begründer, Herm a n n U s e n e r , ihr steckte, einer „Formenlehre der religiösen Vorstellungen", so kann sie doch insbesondere für die Urkunden unserer eigenen Religion uns das allein zuverlässige und zulässige Vergleichungsmaterial liefern. Und sie allein kann uns lehren — Avas für uns das wichtigste ist — was in den zahllosen Bildungen und Missbildungen des Christentums Form der allgemein menschlichen religiösen Funktion ist, und was das unvergleichbar Individuelle und Originelle in ihm. Dann möchte sich vielleicht herausstellen, dass das spezifische geschichtliche Geheimnis des Christentums dieses ist: hinter den Zentralideen



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des apostolischen Evangeliums, die in irgendeiner Form die ganze Christenheit durchgehen, dem Ein-Gott-Glauben als Mein-Gott-Glauben verbunden mit dem Erlösungsgedanken, der unbegrenzten Nächstenliebe, derReichsgotteshoff'nung, der Kirche als dem neuen Gottesvolk, steht das Bild einer so nur einmal erschienenen Persönlichkeit, tief wurzelnd im Heimatboden israelitisch-jüdischer Gottesgewissheit, aber entfaltet zu ganz individueller Menschlichkeit und dazu ein Heilandsherz in der Brust des entschlossensten religiös-sittlichen Weltumgestaltungspropheten! Und dem wäre hinzuzufügen, was aus der jüngsten Philosophie des Christentums vom sozialen Standpunkt a u s d u r c h E r n s t T r o e l t s c h folgt: Auch wenn man die nur relative Zulänglichkeit aller christlich sozialen Methoden zur ethischen Bewältigung wirtschaftlicher Probleme seit den Tagen der ältesten Gemeinde eingesehen hat, insbesondere auch gegenüber der gigantischen Gestalt des heutigen weltumspannenden Kapitalismus und Sozialismus, so müssen dennoch im Christentum, wenn man es in seinem innersten Wesen erfasst, die religiös-ethischen Kräfte gesucht werden, mittels deren die Menschheit allein sich in ihrer gottgewollten Würde behaupten kann. Man kann ein Religionsforscher sein ohne irgend einer bestimmten Religion anzugehören. Man ist aber meines Erachtens kein christlicher Theolog, wenn man nicht von dem überragenden i)

Ernst

Troeltsch,

K i r c h e n und G r u p p e n

1912.

Die

Soziallehren

der

christlichen

Werte der eigenen Religion überzeugt ist. Aber diesen Wertbeweis zu führen, genauer, den göttlichen Wirklichkeitsbeweis dieser Religion zu führen, ist Sache der praktischen Theologie. Dem wissenschaftlichen Theologen muss es genügen, im Kreise seiner Kollegen von der Kulturwissenschaft, von den menschlichen Werten zu reden, die diese Religion hervorgebracht hat. Es ist Sache der Wissenschaft, Menschliches menschlich zu erklären und zu verstehen. Göttliches anzuerkennen ist Sache des Glaubens.

A. Marcus und E. Weber's Verlag in Bonn

Der Weltheiland Einejenaer Rosenvorlesung mit Anmerkungen von

Hans Lietzmann 59 Seiten.

1909.

Preis: Mark

1.—

Inhalt: V e r g i l s vierte Ekloge. D a s goldene Zeitalter in der römischen L y r i k . Horaz und Sertorius. Das Säkulum. Alexander der Grosse als Weltkönig. Die Diadochen und die Sotervorstellung, ihr Gottkönigtum. Cäsar und A u g u s t u s als Weltheiland. V e r g i l und Horaz über die augusteische Zeit. A u g u s t u s und die Heilandsidee. Die spätere Kaiserzeit. Die orientalische Wurzel der römischen Heilandsidee: Babylonisches und Ä g y p t i s c h e s Gottkönigtum. Ä g y p tische messianisehe Weissagungen. Die Messiasidee in Altisrael und im jüdischen Volke. D a s Urchristentum. Der Chiliasmus. Der Heilandsbegriff des Paulus. „ W a s der Verfasser bietet, ist so umsichtig gesammelt, so vorsichtig a b g e w o g e n und formuliert, dass wir uns allezeit fern von gewagten Spekulationen auf sicherem historischen B o d e n halten. . . . Ich schliesse mit dem W u n s c h e , dass doch immer, auch wenn man w i e hier gelegentlich widersprechen muss, in unseren theologischen A r b e i t e n so w e n i g Phrase und so viel sachlicher Inhalt stehen m ö g e , w i e auf den 59 Seiten der kleinen L i e t z m a n n s c h e n S c h r i f t . " P r o f . J o r d a n - E r l a n g e n im „ T h e o l o g i a c h e n Literaturblatt 1909 N r . 3 9 . ' ; „ D a s T h e m a ist ebensosehr allgemeiner T e i l n a h m e sicher, als mir seine D u r c h f ü h r u n g mustergültig zu sein scheint." Prof. W . B a u e r - M a r b u r g in der „ T h e o l . Literaturzeitung 1 9 1 0 N r . 7 . "

A. Marcus und E, Weber's Verlag in Bonn

Jüdisches und Heidnisches im christlichen Kult Eine Vorlesung von

Prof. L i c . D r . Gerhard 36 S.

Ein

sehr

interessanter

überzeugender W e i s e Beziehung

des

Loeschcke

P r e i s 80 P f .

Vortrag.

In

klarer,

eingehender

und

sucht der V e r f a s s e r zunächst die grundlegende

christlichen

Kults

zum jüdischen

darzulegen,

dann

aber auch zu zeigen, dass auch heidnische Elemente auf b e r e i c h e r n d e Ausstattung

von Einfluss g e w e s e n

sind . . . .

D e r Vortrag,

der zu-

gleich in den Fussnoten reiche literarische N a c h w e i s e und mancherlei sachlichförderliches bietet, sei allen empfohlen, die sich für den G e g e n stand interessieren. J.W. Rothstein

in der B e r l . p h i l o l . W o c h e n s c h r .

Diese Antrittsvorlesung bringt auf engstem R ä u m e eine erstaunliche F ü l l e von Material

L . s Urteil

ist überall sorgfältig er-

w o g e n und wird in den A n m e r k u n g e n näher begründet, und dass er lieber

zu w e n i g

als

zu v i e l

behauptet,

darf ihm grade auf diesem

verführerischen Gebiet als besonderes L o b

gelten.

D a s kleine H e f t

ist eine Musterleistung r e l i g i o n s g e s c h i c h t l i c h e r B e h a n d l u n g der K i r c h e n geschichte. H. L i e t z m a n n Wir

können

in der T h e o l .

das Schriftchen als ein Muster

Literaturztg. religionsgeschicht-

licher A r b e i t s w e i s e nur dringend empfehlen.

Christi. Freiheit.

21. Marcus unt> (SvlBekr'ö $evi«Q in 23onn

2SeitU

in Unter SRitoirfutig ucm Siliert Cei^ntanu fyerauggegeBen bon Otto (Siemen Qrrfter uttb Reiter SSonb qjreiS in Seinen geBunben je 5.— ®ie 3lu§ia6e ift auf 4 93änbe au je 5 SKor! Berechnet; bon ben Betben nodj ju erioartenben tuirb 93anb III Dftern 1913, Sanb IV SBeifjnadjten 1913 erfdjetnen. SDiefe neue 2lu£gaße mil ben jungen unb alten ©tubenten, ben SCfjeologen, ©ermanifien unb g>iftorifem bie iuicbtigften ©Ruften 2utt)er§ tn einer ben »uiffenfdjaftlidien&nforbetungen ent= fpredjenben SEeytform in bie £>anb geben. ÜMefen ßroeef fßnncn bie 33raunfd)»t>eig=S3erliner SluSgaBe „für bag cCnifilctje §au$" unb bie bon Signier Beforgte „für ba§ beutfdje SBolf" mit tf;ren mobernifierten beutfdjen unb überfefcten laleinifcfjen Stedten natur= gemäß nid)t erfülen, bie (Srlanger unb bie Bigfjer einzig rotffenfdjafti Ittfi Braud)Bare SDBcimarer SluggaBe firtb aber für bie meiften uti= erfdjlüingtid). Unfere SiuggaBe Bietet bie beutfdien £eyte nacfj ben Original brucien. Sie germaniftifdie SRebtfion unb SBefeitigung ber ®er[et)en ber alten ®ruier f)at ^3rof. 21. Seife manu Befovgt. ®ic alte Qnterpunftion ift nur bn geäitbert loorben, tuo fie geeignet mar, ein SÖibberftänbnig ju crjeißen. Über ale itnberungen gi6t ber fritifcfje Apparat SRedicnfdjaft. ^n ben lateinifdien SCeyten ift burd) mafoboQe ©iobernifienmg ber Qnterpunftion ba§ SßerftänbniS er= tcidjtert tuorben. Über weiterhin ßrgegnenbe Sdjmierigfeiten tjelfen bie Slnmcrfungen Btniueg. ®ie (Einleitungen ju ben einzelnen ©djriften finb möflidjft fürs geljattcn. Sie geben SSeranlaffung unb ¿eit ber SlBfaffung unb beS $)rucfeg ber Sdjriften an, jetgen unter £>inroeig auf Beachtenswerte moberne Siteratur @efid)tgpunfte an, unter beneu fie ju lefen finb, greifen a6er ber Seftiire in feUXiner SBeife bor unb ü6erlaffcn beutatcn t Sefer' bie SBilbung beS Urteils. 3 ' Bequemen Siuffiibung bon 3< inb bie Seiten ber Sßeimarer unb (Srlanger (1. unb 2.) SluggaBe am 9?atibe angegeBeti.