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German Pages 580 Year 1997
JÖRG GUNDEL
Die Einordnung des Gemeinschaftsrechts in die französische Rechtsordnung
Schriften zum Europäischen Recht Herausgegeben von
Siegfried Magiera und Detlef Merten
Band 42
Die Einordnung des Gemeinschaftsrechts in die französische Rechtsordnung
Von Jörg GundeI
DUßcker & Humblot · Berliß
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Gundei, Jörg: Die Einordnung des Gemeinschaftsrechts in die französische Rechtsordnung / von Jörg Gundel. - Berlin : Duncker und Humblot, 1997 (Schriften zum europäischen Recht; Bd. 42) Zugl.: Erlangen, Nümberg, Univ., Diss., 1996/97 ISBN 3-428-09061-6
D 29 Alle Rechte vorbehalten
© 1997 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0937-6305 ISBN 3-428-09061-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 1996 / 1997 von der Juristischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg als Dissertation angenommen. Für die Veröffentlichung wurden Rechtsprechung und Literatur auf den Stand von April 1997 ergänzt. Zu besonderem Dank verpflichtet bin ich meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Helmut LecheIer, filr die intensive Betreuung der Arbeit. Danken möchte ich auch Herrn Prof. Dr. Winfried Veelken rür die wertvolle Zeit als Mitarbeiter an seinem Lehrstuhl und filr die Bereitschaft zur Übernahme des Zweitgutachtens; den Herren Professoren Dres. Siegfried Magiera und Detlef Merten danke ich filr die Aufnahme der Arbeit in die Schriften zum Europäischen Recht. Berlin, im Juni 1997
JörgGundel
Inhaltsverzeichnis 1. Kapitel
Der Durchsetzungsanspruch des Gemeinschaftsrechts: Vorrang und unmittelbare Anwendbarkeit
27
A. Vorrang und unmittelbare Anwendbarkeit... ............................................................. 27
I.
Vorrang vor innerstaatlichem Recht der Mitgliedstaaten .................................... 27 I. Der Grundsatz des Vorrangs........................................................................... 27 2. Vorrang auch vor nationalem Verfassungsrecht ....... .......... ......... ..... ... .... ....... 28 a) Die Rechtsprechung des EuGH .................................................................. 28 aal Grundsätzliche Unbeachtlichkeit auch nationalen Verfassungsrechts . 28 bb) Inhaltliche Übernahme der betroffenen Rechtssätze in den Bestand des Gemeinschaftsrechts: Der Weg über die allgemeinen Rechtsgrundsätze .......... ........................................... ............ ......... ... ............... 29 b) Abweichende Lösungsansätze in der Literatur ........................................... 30 aal Neuere Ansätze: Berücksichtigungjedenfalls "grundlegender" nationaler Verfassungsnormen einzelner Mitgliedstaaten? ........ ... ............ ... 31 bb) Einwände .... .... ... ....... .......... ...... .................. ............ ......... ............ ........ 31 a) Einwände gegen das Ergebnis ......................................................... 32
ß)
Einwände gegen die dogmatischen Implikationen .......................... 33
c) Möglichkeiten systemkonformer Berücksichtigung einzelstaatlichen Verfassungsrechts ...................................................................................... 35 3. Vorrang auch vor anderen völkerrechtlichen Verträgen der Mitgliedstaaten 37 11. Unmittelbare Anwendbarkeit .............................................................................. 38 B. Die Freiheit der mitgliedstaatlichen Rechtsordnung in der Herleitung des Vorrangs aus dem nationalen Verfassungsrecht.. ............................................................ 39
Inhaltsverzeichnis
8
I.
Zulässigkeit der Begründung aus der nationalen Rechtsordnung .......... .. ........... 39
II. Anforderungen an die nationale Begründung...................... ...... ............ ............. 40
2. Kapitel Die Stellung des Gemeinschaftsrechts in der französischen Rechtsordnung
43
A. Der Rang des Völkerrechts in der französischen Rechtsordnung: Überblick über den Normenbestand. ....................... ..................... ...................................................... 43
I.
Die Lage bei Abschluß der Gründungsverträge: Die 4. Republik ...................... 44 1. Die Stellung des völkerrechtlichen Vertrages in der Normenhierarchie der 4. Republik ..................................................................................................... 45 a) Innerstaatliche Anwendbarkeit ................................................................... 45 aa) Innerstaatliche Anwendbarkeit des Vertrages ...................................... 45 bb) Innerstaatliche Anwendbarkeit von Sekundärrecht.. ............................ 47 b) Der Rang des Vertrages in der innerstaalichen Rechtsordnung............ ..... 48 aa) Im Verhältnis zur Verfassung .............................................................. 49 bb) Im Verhältnis zum Gesetz ............................ ......... .. ................ .. ........... 50 2. Die prozessuale Durchsetzbarkeit des Rangs...... ............................ ................ 50 a) Im Verhältnis zwischen Vertrag und Verfassung ...................................... 50 b) Im Verhältnis zwischen Vertrag und Gesetz.......... ............ ........................ 51
H. Die 5. Republik .................................................................... .. ......... ..... .... .. .... ..... 54 1. Das materielle Recht ....................................................................................... 55 a) Das Verhältnis zwischen Vertrag und Verfassung ..................................... 55 b) Das Verhältnis zwischen Vertrag und Gesetz ............................................ 56 2. Die prozessuale Durchsetzung des Rangs ................ ....................................... 56 a) Im Verhältnis zwischen Vertrag und Verfassung ....................................... 57 aa) Die neuen Kontrollmechanismen .................................. ....................... 57
Inhaltsverzeichnis
9
a) Die präventive Kontrolle des Vertrages auf dem Weg über Art. 54 der Verfassung ................................................................................ 57
ß)
Die präventive Kontrolle auf dem Weg über das Zustimmungsgesetz gemäß Art. 61 Abs. 2 der Verfassung ...................................... 58
bb) Die Grenzen der Kontrolle ................................................................... 59 b) Im Verhältnis zwischen Vertrag und Gesetz........................ ...................... 60
B. Neue Entwicklungen: Ansätze einer verfassungsrechtlichen Sonderstellung des Gemeinschaftsrechts und Vollendung des nationalen Rechsschutzsystems .............. 62 I.
Ein gesonderter Status der europäischen Integration aufVerfassungsebene ...... 62 1. Materiellrechtliche Klärungen zur Verfassungsmäßigkeit der Integration: Art. 88-1 bis -4 n.F. der Verfassung ............................................................... 62 2. Die Verfassungsänderung zugunsten des Schengener Abkommens ............... 63
II.
Die Annäherung von materiellem Recht und prozessualen Durchsetzungsmöglichkeiten ............... .... ....... ............ ............ ......... .... ...... ...... ....... .......... .... ..... 64 1. Vervollständigung des nationalen Rechtsschutzsystems durch Einführung einer nachträglichen Verfassungskontrolle? ................................................... 64 2. Klärung der Durchsetzung des Vertrages gegenüber nachfolgenden Gesetzen .................................................................................................................. 65
III. Offene Fragen ............... .................................................. ........ ......... ..... ......... ..... 66
3. Kapitel
Die verfassungs rechtlichen Grenzen der europäischen Integration
70
A. Die materielle Rechtslage. ...... ........................ ...................... ........ ................... .......... 70 I.
Vorrang der Verfassung ...................................................................................... 70 1. Begründung des Vorrangs.............................................................................. 70 a) Die monistische Deutung der Verfassung.... .............. ........... ........ ...... ....... 71 b) Vorrang des nationalen (Verfassungs-)rechts ............................................. 72 c) Ein prozessual-materielles Mischmodell: Die Vorrang-Frage bleibt unentschieden ................................................................................................. 73
Inhaltsverzeichnis
\0
d) Ein Sonderstatus rur supranationale Gemeinschaften? - Absatz 15 der Präambel von 1946..................................................................................... 75 2. Die Reichweite des Vorrangs der Verfassung: Der "bloc de constitutionnaIite" ................................................................................................................. 76 a) Grundsätzliches und Begriffe ..................................................................... 76 b) Die Reichweite des Vorrangs der Verfassung ............................................ 79 aa) Der (gesamte) Text der Verfassung von 1958 ..................................... 79 bb) Die Geltung der anderen Bestandteile des "bloc de constitutionnalite" 79 a) Die Brücke über die Präambel der Verfassung von 1958 ............... 79
ß) Grundsätzliche Geltung als verbindliche Rechtsnormen von Ver-
fassungsrang. ................................................................................... 80
y) Reichweite des Verweises ............................................................... 83 cc) Die weiteren Normgruppen des "bloc de constitutionnalite" im Einzeinen ................................................................................................... 84 a) Die Menschenrechtserklärung von 1789 ......................................... 84
ß)
Die "principes particulierement necessaires a notre temps" ............ 85
y) Die "principes fondamentaux reconnus par les lois de la
Republique" .. ............ ................. ..... .... ......... ..... .................... ..... ..... 86 0) Weitere unbenannte Bestandteile? .................................................. 91 E) Das Verhältnis der Komponenten des "bloc de constitutionnalite" zueinander ...... .... ............ ........ ..................... ......... ............. ..... ..... .... 93
c) Normenkategorien außerhalb des "bloc de constitutionnalite" .................. 94 aa) Die Stellung des Loi organique................................ ............ ........ ........ 94 a) Begriff und Rang des Loi organique in der innerstaatlichen
Rechtsordnung................................................................................ 94
ß) Teilnahme der Loi organique am Vorrang der Verfassung gegenüber dem Gemeinschaftsrecht? ...... .......... ........................ ............... 97 bb) Der Rang des Loi referendaire: Die Volksgesetzgebung gemäß Art. 11 der Verfassung.............................................................................. 100 cc) Notstandsmaßnahmen des Präsidenten gemäß Art. 16 der Verfassung .................................................................................................... 104
Inhaltsverzeichnis
II
dd) Das Gemeinschaftsrecht selbst im "bloc de constitutionnalite"? ....... 105 a) Die Bedeutung der Frage .............................................................. 105
ß)
Die Haltung des Conseil constitutionnel.. ..................................... 106
y) Änderung durch die Geschehnisse im Rahmen der Ratifikation des Unionsvertrags? ...................................................................... 106 11. Ermittlung der verfassungsrechtlichen Schranken der Integration ................... 110
I. Die Verteidigung der nationalen Souveränität als Leitmotiv in der Rechtsprechung des Conseil constitutionnel ......................................................... 110 a) Die "ältere Linie" der Rechtsprechung: Bis zur Entscheidung über den Unionsvertrag ........................................................................................... III aa) Die "Wahrung der wesentlichen Bedingungen der Ausübung der nationalen Souveränität" als Maßstab: Die Eigenmittel-Entscheidung vom 19.6.1970 .......................................................................... III bb) Die Verfassung als "Fessel des Integrationsfortschritts" - Die Unterscheidung von erlaubter "limitation" und verbotenem "transfert de souverainete" durch die Direktwahl-Entscheidung vom 29.-30.12.1976 ................................................................................... 114 cc) Ankündigung einer Neuorientierung? Die Entscheidung zum 6. EMRK-Zusatzprotokoll (Verbot der Todesstrafe) vom 22.5.1985 .... 122 dd) Die "fehlende" Entscheidung: transfert de souverainete und Einheitliche Europäische Akte ................................................................ 126 ee) Ein letzter Aufschub: Die erste Schengen-Entscheidung des Conseil constitutionnel.................................................................................... 128 b) Die Neuorientierung der Rechtsprechung durch die erste MaastrichtEntscheidung vom 9.4.1992: Rückkehr zum Maßstab der "conditions essentielles" .............................................................................................. 130 2. Beeinträchtigung innerstaatlicher Strukturen durch die europäische Integration............................. .................................................. ....... .................. 134 a) Die verfassungsrechtliche Stellung des Parlaments ................................. 135 aa) Integrationsfestigkeit der Parlamentskompetenzen? .......................... 137 bb) Eine pragmatische Alternative zur Integrationssperre: Die innerstaatliche Kontrolle der nationalen Position im Rechtsetzungsprozeß der Gemeinschaft ......................................................................... 141 a) Verfassungsrechtliche Hürden der parlamentarischen Kontrolle .. 142
Inhaltsverzeichnis
12
ß)
Die 1. Phase des Ausgleichs: Die Einrichtung der Informationsausschüsse (delegations pour les communautes europeennes) ...... 145
y) Die 2. Phase des Ausgleichs: Der neue Art. 88-4 der Verfassung
und "die Rückkehr der Parlamentsresolutionen" .......................... 148 b) Die innerstaatliche Stellung der Regierung .............................................. 152 c) Die Unteilbarkeit der Republik: Gefährdung des unitarischen Einheitsstaates durch die europäische Integration? .................................. ............. 155 3. Grundrechtsschutz ................................. .......................... ............................. 157 a) Bedeutung des Problems .......................................................................... 157 b) Die Rechtsprechung des Conseil constitutionnel ...................... .......... ..... 160 aa) Allgemein zum Grundrechsschutz gegenüber völkerrechtlichen Verträgen........................................................................................... 160 bb) Insbesondere: Der Grundrechtsschutz gegen Sekundärrecht ............. 161 c) Fazit. ......................................................................................................... 163
4. Synthese................................... ....... .. .. ....................... ................................... 164 III. Die Überwindung erkannter verfassungsrechtlicher Hindernisse durch den verfassungsändernden Gesetzgeber und ihre Grenzen: Die Maastricht HEntscheidung des Conseil constitutionnel .. ............ .......................................... 165 1. Präzedenzfälle: Verfassungsänderungen in Frankreich ................................ 165
a) Das Verfahren der Verfassungsänderung ................................................. 165 b) Die Verfassungsänderung als Antwort aufverfassungsgerichtliche Erkenntnisse? ........ ................ ........................ ..... ................................ .......... 168 2. Verfassungsrechtliche Schranken der Verfassungsänderung? .. .......... .. ........ 172 a) Die traditionelle Lehre: Umfassende Verfligbarkeit der Verfassungsinhalte.... .................... ........... ............................ ............... ... ............ .......... 172 b) Die neuere Auffassung: Existenz eines änderungsfesten Verfassungskerns ......................................................................................................... 175 aa) Dogmatische Begründung.................................................................. 175 bb) Ein Präzedenzfall in der französischen Rechtsordnung: Das Verfassungsgesetz vom 3.6.1958 ................................................................. 176
Inhaltsverzeichnis
13
3. Die Position des Conseil constitutionnel: Die Maastricht lI-Entscheidung vom 2.9.1992 ................................................................................................ 178 a) Fehlen ungeschriebener, aber Verbindlichkeit der geschriebenen Schranken.............. ........ .... ...... ....... ...... .... .............. .... .............................. 180 b) Die Bestimmung der geschriebenen Schranken. .......... ......... ....... ..... ....... 182 4. Ausbruch aus der Gemeinschaft durch Verfassungsänderung ............... ....... 184 B. Die prozessuale Durchsetzung des Vorrangs der Verfassung.. ................ ............ .... 185
I.
Die Durchsetzung durch den Conseil constitutionnel......................... .............. 185
1. Der Grundsatz: Präventive Direkt(= Prinzipal-)kontrolle der Verträge durch den Conseil constitutionnel ................................................................ 185 a) Die unmittelbare Kontrolle auf dem Weg über Art. 54 der Verfassung ... 185 aa) Befugnis zur Anrufung des Conseil constitutionnel .......................... 186 bb) Gegenstand der Kontrolle .................................................................. 187 b) Die Kontrolle auf dem Weg über das Zustimmungsgesetz gemäß Art. 61 Absatz 2 der Verfassung.............. ...................................... ............ .......... 188 aa) Befugnis zur Anrufung des Conseil constitutionnel ...... .................... 188 bb) Gegenstand der Kontrolle .............................. .................... ................ 189 2. Die Konsequenz aus der Beschränkung auf die präventive Kontrolle: Ausschluß auch indirekt-inzidenter nachträglicher Kontrolle............................. 191 a) Unantastbarkeit des Vertrages ........................................................ .......... 192 b) Unantastbarkeit auch des Sekundärrechts ................................................ 193 aa) Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit... ............................................... 193 a) Hinsichtlich EG-Verordnungen .................................................... 194
ß) Hinsichtlich EG-Richtlinien.......................................................... 195 bb) Kontrolle der Vertragsmäßigkeit des Sekundärrechts ........................ 199 c) Unantastbarkeit von EuGH-Entscheidungen ............................................ 201 d) Grenzen der Unantastbarkeit: Der ecran transparent................ ................ 204 aa) Nationales Umsetzungsverfahren ....................................................... 204
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bb) Die Kontrolle der Ausflillung inhaltlicher Spielräume durch den nationalen Gesetzgeber ................ ............ ................ .......................... 205 e) Die Bestimmung der Grenzen - Klärung von Zweifeln um die Reichweite des "ccran communautaire" vor dem Conseil constitutionnel ........ 208 3. Erweiterung der Kontrolle durch die Rechtsprechung des Conseil constitutionnel: Die exception durch Richterrecht.... .............................. .......... ..... 212 a) Die nachträgliche Kontrolle bestehender Gesetze aus Anlaß der Prüfung von Änderungsgesetzen ................................................................... 213 aa) Die Entwicklung der Rechtsprechung........................ ............ ............ 213 bb) Die Auswirkungen der nachträglichen Überprüfung auf das bereits verkündete Gesetz.............................................................................. 218 b) Ausdehnung der nachträglichen Kontrolle auf völkerrechtliche Verträge? ........................................................................................................... 220 aa) Problemstellung ........................... .. ...... .... ......... .. ...... .. ....................... 220 bb) Die Stellungnahme des Conseil constitutionnel........ .......... ........ ....... 222 a) Die Maastricht I-Entscheidung vom 9.4.1992 .............................. 222
ß)
Die Entscheidung vom 13.8.1993: Maitrise de I'immigration ...... 224
4. Erweiterung der Kontrolle durch den verfassungsändernden Gesetzgeber: Die exception d'inconstitutionnalitc .......................... .............. .............. ....... 227 a) Der interne Kontext............................ ........................ .............................. 227 aa) Begriffe .............................................................................................. 229 bb) Die Diskussion um Notwendigkeit und Wünschbarkeit der Reform im internen Recht ............................................................................... 230 a) Die Schwächen des Status quo ...................................................... 231
ß) Gegenargumente ............................................................................
235
cc) Konturen der Reform......................................................................... 240 dd) Schicksal der Initiativen ..................................................................... 244 b) Auswirkungen auf den Status des Gemeinschaftsrechts in der französischen Rechtsordnung.. ............................................................................. 246
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aal
15
Das Problem: Die Konfrontation zwischen Verfassung und Vertrag wird aktuell........................................................................................ 246
bb) Mögliche (gemeinschaftsrechtskonforme) Lösungen ........................ 248 a) Auf prozessualer Ebene ................................................................ 248
ß)
Auf materiellrechtlicher Ebene: Das Potential des neuen Art. 88-1 der Verfassung ...................................................................... 249
5. Erweiterung der Kontrolle durch den verfassungsändernden Gesetzgeber: Einrichtung spezieller Mechanismen zur Kontrolle des Sekundärrechts durch den Conseil constitutionnel? .............................................................. 252 11. Die Durchsetzung des Vorrangs der Verfassung durch die Fachgerichte ... ...... 256 I. Ausschluß der direkten Kontrolle .................. ...... .............. ........................... 256 a) Die traditionelle Rechtsprechung..... ....... ...... ........... ............ ..... ....... .... .... 256 b) Perspektiven einer Kontrolle der formellen Verfassungsmäßigkeit des Vertragsschlusses ..................................................................................... 262 2. Auschluß auch inzidenter Kontrolle..... ....... ...... ............................ ..... ... ....... 266 a) Das Abstimmungsverhalten der französischen Vertreter im Rat .............. 266 b) Nationale Ausflihrungsverordnungen vor dem Conseil d'Etat: Der traite-ecran ........... ........... .......... ........... ..... ........ .... .......... ....... ........ .... ...... 267
aal
Beschränkung der Kontrolle durch Gemeinschaftsrecht... " ..... ... ....... 268
bb) Verbleibende Kontrollspielräume bei der indirekten Kontrolle ......... 270 cc) Nationale Grenzen der vom Gemeinschaftsrecht belassenen Spielräume ................................................................................................. 271 3. Eine offene Flanke: Abweichendes und zugleich jüngeres Verfassungsrecht .............................................................................................................. 272 4. Gemeinschaftsrechtswidriges Sekundärrecht vor den Fachgerichten ........... 273 a) Der Regelfall: Eine problemlose Zusammenarbeit mit dem EuGH ......... 273 b) Ein Ausnahmefall: Der Konflikt um die temporale Wirkung der Nichtigkeitsentscheidungen des EuGH ............................................................ 276 IH. Zusammenfassung........... ... ............. .... .... ............. ... .......... ............... ........ ........ 280
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4. Kapitel
Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber nationalen Gesetzen
282
A. Der materiellrechtliche Vorrang des Gemeinschaftsrechts ...................................... 282 I.
Begründung und Wirkung des Vorrangs .......................................................... 282 1. Begründung......... ............. ........ .... .... .... .... ................ .......... ....... ..... ........ .. .... 282 2. Wirkung ........................................................................................................ 283
11. Reichweite des Vorrangs... ..... ................... ....... ......... ................... ............... ..... 285 1. Auf nationaler Seite.. .............. ................................... ................... ................ 285 2. Auf der Seite des Gemeinschaftsrechts.. ........ ............................... .......... ...... 285 III. (Nationale) Bedingungen des Vorrangs ............................................................ 286 1. Ordnungsgemäßer Abschluß ........................................................................ 287 2. Veröffentlichung .......................................................................................... 287 3. Gegenseitigkeit der Anwendung (reciprocite dans l'application) ................. 287 a) Grundsätzliches ........................................................................................ 287 b) Anwendung des Gegenseitigkeitsvorbehalts auf das Gemeinschaftsrecht? ........................................................................................................ 290 aa) Ausschluß des Vorbehalts aufgrund der Eigenständigkeit des Gemeinschaftsrechts? ............ ............................. ........... ......................... 290 bb) Flexibler Charakter des Art. 55? ........................................................ 291 cc) Die Wahl der Rechtsprechung ........................................................... 292 a) Der Conseil constitutionnel... ........................................................ 292
ß)
Die Cour de cassation als Haupt der ordentlichen Gerichtsbarkeit ................................................................................................ 293
y) Der Conseil d'Etat als Haupt der Verwaltungsgerichtsbarkeit ...... 294
B. Die prozessuale Durchsetzung des Vorrangs.... ....... .................. ............. ..... ..... ....... 295 I.
Die möglichen Argumentationslinien ............................................................... 295 1. Die Argumente gegen die Kontrolle der Vertragskonformität durch die Fachgerichte ................. ................................................................................ 295
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a) Argumente aus der (vorkonstitutionellen) Verfassungstradition .............. 296 aa) Die separation des pouvoirs ............................................................... 297 bb) Die Souveränität des Gesetzgebers (Souverainete de la loi) .............. 299 b) Argumente aus der Systematik der Verfassung von 1958 ........................ 300 2. Argumente zugunsten einer Kontrolle durch die Fachgerichte .................... 304 a) Aus der Eigenständigkeit des Gemeinschaftsrechts? ............................... 304 b) Aus Art. 55 der Verfassung ...................................................................... 305 aa) Art. 55 der Verfassung als Kollisionsnorm zwischen Vertrag und Gesetz ................................................................................................. 305 bb) Art. 55 als implizite Ermächtigung (Habilitation implicite) der Fachgerichte zur Kontrolle der (indirekten) Verfassungsmäßigkeit? 307 3. Klärung durch den Gesetzgeber? .................................................................. 309 11.
Die Entwicklung der Rechtsprechung............ ........ ............................ ............... 310 1. Die Rechtsprechung des Conseil constitutionne1........... .............. ................. 310 a) Ausschluß des Vertrags als PrUfungsmaßstab im Rahmen der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze ..................................................... 311 aa) Die Verweigerung des Abgleichs zwischen Vertrag und Gesetz.. ..... 311 a) Die Grundsatzentscheidung vom 15.1.1975 ................................. 311
ß) Änderung der Lage durch die Verfassungsänderung im Rahmen der Ratifikation des Unionsvertrages (Art. 88-1 ff der Verfassung)? ........................................................................................... 315 bb) Verbleibende Kontrollzuständigkeiten des Conseil constitutionnel in seiner Eigenschaft als Verfassungsgericht .................... ........ ......... 317 a) Sanktionierung "unmittelbarer" Verletzungen von Art. 55 der Verfassung.................................................................................... 318
ß) Ausdehnung der Kontrolle des Conseil constitutionnel aufwei-
tere Konstellationen? ................ .................................................... 319
b) Betonung der Verbindlichkeit des Art. 55 fUr alle (anderen) Staatsorgane ...................................................................................................... 321 aa) Aufforderung zur Beachtung an Legislative und Exekutive .............. 321
2 Gundei
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bb) Aufforderung zur Durchsetzung des Vorrangs der Verträge an die Fachgerichte ....................................................................................... 324 a) Verbale Aufforderungen an die Fachgerichte ............................... 325
ß)
Das eigene Beispiel: Der Conseil constitutionnel als Fachgericht 329
c) Zusammenfassung: Das System des Conseil constitutionnel.. ................. 332 aa) Die eigene Funktion ........................................................................... 332 bb) Die Aufgabe der Fachgerichte ........................................................... 333 cc) Verbindlichkeit der Sicht des Conseil constitutionnel rur die Fachgerichte? ............................................................................................. 334 2. Die Haltung der ordentlichen Gerichte unter Führung der Cour de cassation ................................................................................................................ 337 a) Die Durchsetzung des Vorrangs ............................................................... 337 b) Die Begründung des Vorrangs aus der Sicht der Cour de cassation ........ 340 c) Die Durchsetzung des Vorrangs auch in "kritischen" (= finanzwirksamen) Fällen .............................................................................................. 344 3. Die Haltung des Conseil d'Etat.. ................................................................... 349 a) Der faktische Ausschluß des Vorrangs gegenüber nachfolgenden Gesetzen: Die "Jurisprudence des Semoules" ................................................... 351 aa) Die Entscheidung vom 1.3.1968 ........................................................ 351 bb) Erklärungsansätze .............................................................................. 354 b) Beharren auf der Unantastbarkeit der Lex posterior ................................ 360 c) Eine Pattsituation ..................................................................................... 364 aa) Grundsätzliche Lösungsversuche des Gesetzgebers ........ ............ ...... 365 bb) Teil-"Lösungen" durch gesetzliche Verlagerung der gerichtlichen Zuständigkeiten .................................................................................. 367 d) Die neue Rechtsprechung des Conseil d'Etat ........................................... 370 aa) Der Durchbruch: Die Nicolo-Entscheidung vom 20.10.1989 ............ 371 bb) Anwendung auch auf andere völkerrechtliche Verträge: Insbesondere die EMRK .................................................................................. 375
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cc) Anwendung auf das Sekundärrecht. ................................................... 378 dd) Anwendung auf alle Rechtsakte im Gesetzesrang? ............................ 381 e) Folgefragen .............................................................................................. 382 aa) Umfassende Auslegungszuständigkeit der Gerichte: Die GISTI-Entscheidung vom 29.6.1990 .................................................................. 382 bb) Kontrolldichte .................................................................................... 383 cc) Staatshaftung rur gemeinschaftsrechtswidrige Gesetzgebung ........... 386 dd) Verwerfungskompetenz der Verwaltung ........................................... 391 ee) Ergebnis zu den Folgefragen ............................................................. 392 4. Zusammenfassung............................ ......................... .............. ..................... 393
5. Kapitel
Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber nationalen Rechtsakten im Rang unter dem Gesetz (ades infrah~gislatifs)
395
A. Der materiellrechtliche Vorrang des Gemeinschaftsrechts ...................................... 395 I.
Grundsatz und Wirkung .................................................................................... 395 I. Der Vorrang im Grundsatz ............................ ...... ........ ........................ ......... 395 2. Die Wirkung des Vorrangs ........................................................................... 396
11. Reichweite ..................... ..... ........ .... ...... ................. .................. ................ ...... ... 396 B. Die prozessuale Durchsetzung des Vorrangs .......................................................... 399 I.
Durch den Conseil constitutionnel.................................................................... 399
11. Durch die Cour de cassation als Haupt der ordentlichen Gerichtsbarkeit......... 399 I. Beschränkung durch die Vorfragenkompetenz der Verwaltungsgerichtsbarkeit? .. ................... ... .......................... ................... .... ............ ......... ..... ...... 399 2. Beschränkung durch Vorabentscheidungssysteme innerhalb der ordentlichen Gerichtsbarkeit? ...................... ............. .... ................ ...... .................. .... 406 111. Durch den Conseil d'Etat als Haupt der Verwaltungsgerichtsbarkeit ............... 406 I. Beschränkungen der Kontrolle.............. ........ ................ .............. ................. 407
2"
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Inhaltsverzeichnis a) Der ecran legislatif ....... ..... ........ ........... .... ....... ................ ....... ..... .......... ... 407 aa) Der ecran opaque: Vollständige Abschirmung des Verwaltungshandelns ................................................................................................... 408 bb) Der ecran transparent: Inhaltskontrolle der Verordnung trotz gesetzlicher Zuständigkeitszuweisung ................................................... 409 cc) Das Ende des ecran legislatif.. ........................................................... 411 b) Der acte de gouvernement ........................................................................ 412 c) Innerdienstliche Maßnahmen (mesures d'ordre interieur) ......................... 415 d) Vorfragenzuständigkeit der ordentlichen Gerichte...... .... ..... ............ ... ..... 416 e) Ergebnis ................................................................................................... 418 2. Prozessuale Wege der Durchsetzung des Vorrangs vor den Verwaltungsgerichten ....................................................................................................... 418 a) Actes reglementaires ................................................................................. 419 aa) Die Prinzipalkontrolle auch nach Eintritt der Bestandskraft .............. 420 bb) Der "Einwand der Rechtswidrigkeit": Inzidentkontrolle der Rechtsgrundlage durch die exception d'illegalite ......... ......... ... ..... ....... ... ..... 423 b) Actes individuels ...................................................................................... 425 3. Effektivität des Rechtsschutzes gegen gemeinschaftsrechtswidrige Verwaltungsentscheidungen.... ................................................ .......... ................. 426 a) Intensität des Rechtsschutzes: Die Kontrolldichte .... ....... ... ....... ..... ..... .... 426 b) Effektivität der Durchsetzung .................. ...................................... ..... ..... 428 aa) Durchsetzung durch Verpflichtungsurteile ........................................ 428 bb) Vorläufiger Rechtsschutz ................................................................... 430 c) Ergebnis ................................................................................................... 431 4. Exkurs: Die Richtlinie vor dem Conseil d'Etat... .......................................... 431 a) Richtlinie vs. nationalen Rechtsakt mit Verordnungscharaker (acte administratif reglementaire) ......................... ... ............... ................. ..... ........ 433 b) Richtlinie vs. nationale Einzelfallregelung: Der Umweg tiber die exception d'iIIegalite .......................................................................................... 438
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c) Schadenersatz für die Nicht-Umsetzung .................................................. 442 d) Bleibende Lücken zwischen den Ergebnissen von Conseil d'Etat und EuGH ....................................................................................................... 443 aa) Lücken zu Lasten des Einzelnen ........................................................ 444 bb) Lücken zu Lasten der staatlichen Ordnung ........................................ 446 e) Wertender Vergleich der Konzeptionen ................................................... 446 aa) Die Konzeption des Conseil d'Etat.. ................................................... 447 bb) Einwände........................................................................................... 448
6. Kapitel Perspektiven und offene Fragen des Rangs des Gemeinschaftsrechts in der französischen Rechtsordnung
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A. Folgen einer Aufnahme des Gemeinschaftsrechts in den "bloc de constitutionnatite" .......................................................................................................................... 451
I.
In der gegenwärtigen Lage........ ............ ................................ .......... .................. 452 1. Unter traditionellen Bedingungen: Fortbestand des Ausschlusses einer Verfassungskontrolle der Gesetze durch die Fachgerichte ........................... 452 2. In Verbindung mit der Ausübung der Verfassungskontrolle der Gesetze durch die Fachgerichte .................... ........... ...................................... ............ 454
H. Nach (verfassungs-)gesetzlicher Einführung der "exception d'inconstitutionnatite" ......................................................................................................... 456 B. Offene Fragen der Rangzuweisung: Vertragskonkurrenz im internen Recht .......... 458
I.
Das Problem der Vertragskonkurrenz und generelle Lösungsansätze .............. 458
H. Insbesondere: Der Vertragskonflikt zwischen Gemeinschaftsrecht und EMRK vor dem nationalen Richter........ ............................................ ........ ...... 461 1. Möglichkeit sachlicher Divergenzen zwischen Gemeinschaftsrecht und EMRK .......................................................................................................... 462 2. Konkurrierende Anwendbarkeit vor dem nationalen Richter .......... ............. 466 III. Die bisherigen Lösungsansätze der nationalen Rechtsprechung ....................... 469 1. Der Conseil constitutionnel ................ ............................ .................. ............ 469
22
Inhaltsverzeichnis 2. Die ordentliche Gerichtsbarkeit.. .................................................................. 470 3. Der Conseil d'Etat. ........................................................................................ 474 IV. Ansätze einer gemeinschaftsrechtskonformen Lösung ..................................... 477
Zusammenfassung ...................................................................................................... 479
Entscheidungsregister ................................................................................................ 482 Literaturverzeichnis ................................................................................................... 516
Stichwortverzeichnis .................................................................................................. 574
Abkürzungsverzeichnis ABl.EG ADMA AFDI AtP AJCL AUC AJDA AJIL ALD AN Annuaire CEDH
BayVBI BB BFH BGBl. BGH Bull. Bull. EG BVerfG BVerwG CA CAA Cass. Cass. Ass. plen. Cass. ch. mixte Cass. civ. Cass. com. Cass. crim. Cass. soc. CC CDE CE CE Ass. CE Sect. CJEG CMLRev CTA
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24 D.
D. chr. D. ir. D.jp. D. sc. DAGI DCSI DDH DÖV DPS 11 II / III
D.R. Dr. fisc. Dr. soc. DV DVBI EDCE EEA EGMR EKMR ELRev EMRK EPL EuG EuGH EuGRZ EuR EuZW EVG EWS GAJA Gaz. Pa!. Gaz. Pa!. doctr. Gaz. Pa!. somm. GDCC ICLQ IPbpR
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JDI JöR n.F. JORF Journees Soc. leg. comp. JT JuS JZ LIEI LPA MuR NJW n.v. NVwZ NZA PFRLR RabelsZ
RAE RBDI RCADE RCDIP
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1. Kapitel
Der Durchsetzungsanspruch des Gemeinschaftsrechts: Vorrang und unmittelbare Anwendbarkeit A. Vorrang und unmittelbare Anwendbarkeit I. Vorrang vor innerstaatlichem Recht der Mitgliedstaaten 1. Der Grundsatz des Vorrangs
Der Vorranganspruch des Gemeinschaftsrechts gegenüber den nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gehört seit den frühen Jahren der Gemeinschaft zur ständigen Rechtsprechung des EuGH 1• Dabei liegt es wohl in der Natur der Sache, daß eine Rechtsordnung, deren territorialer Geltungsbereich sich mit dem Geltungsbereich mehrerer, wiederum untereinander abweichender (Teil-)Rechtsordnungen deckt, diesen gegenüber vorrangige Beachtung einfordern muß: Nur so kann der größere Geltungsbereich der größeren Einheit Wirklichkeit werden. Wie vor allem auch in der französischen Literatur zum Gemeinschaftsrecht hervorgehoben wird, ist der Vorrang-Anspruch als solcher auch keine Besonderheit des Gemeinschaftsrechts, sondern wird auf internationaler Ebene bereits vom allgemeinen Völkerrecht erhoben: Es entspricht der ständigen Rechtsprechung auch internationaler Gerichte, daß ein Verstoß gegen
I s. grundlegend EuGH 15.7.1964 Rs. 6/64 - Flaminio Costa gegen E.N.E.L., Sig. X (1964), 1251 und rückblickend dazu Lecourt Melanges Boulouis (1991), 349 ff. 2 s. etwa de Witte RTDE 1984, 424 (425 ft); Carreau Droit international, 4.A. 1994, S. 48 f, Rn 101 f; Dubouis RFDA 1989, 1000 (1003): "il serait erronne de croire que I'affirmation de la primaute ne soit que le fait de la jurisprudence de la CJCE et ne se con'Yoive que dans une logique de supranationalite: la primaute a de tout temps ete affirmee par toutes les juridictions internationales comme inherente a l'essence meme de toute regle internationale." ders. Melanges Boulouis (1991), 205 (212); ders. RFDA 1992, 1 (9); Rideau in: La Constitution et I'Europe (1992), 67 (83): "cette primaute decoule ... de la logique du principe du respect de la norme internationale dont l'intensite est avivee par la specificite du droit communautaire."; Jacque RCADE Vol. 1-1 (1990), S. 237 (267 t); Dutheil de La Rochere in: La Constitution et l'Europe (1992), 233 (244 t); de Berranger Constitutions nationales S. 329 ff.
28
1. Kapitel: Durchsetzungsanspruch des Gemeinschaftsrechts
internationale Verpflichtungen nicht mit dem Hinweis auf nationales Recht gerechtfertigt werden kann.
2. Vorrang auch vor nationalem Verfassungsrecht
a) Die Rechtsprechung des EuGH
aa) Grundsätzliche Unbeachtlichkeit auch nationalen Verfassungsrechts Ebenfalls schon im allgemeinen Völkerrecht vorgezeichnet war die Lösung, die der EuGH im Falle von Kollisionen zwischen Gemeinschaftsrecht und der Spitze der nationalen Normenpyramide, der innerstaatlichen Verfassung, vorgegeben hat: Wie schon der StlGH 3 und bereits zuvor die Praxis der internationalen Schiedsgerichte4 lehnt auch der EuGH die Berücksichtigung jeder, auch der höchstrangigen Vorschrift des nationalen Rechts ab, da ihr wie jeder anderen innerstaatlichen Vorschrift der Makel anhaftet, vom Mitgliedstaat als dem gleichzeitigen "Schuldner" der internationalrechtlichen Verpflichtung verantwortet zu sein. Diese Grundhaltung betrifft nicht nur den vom Standort der deutschen Rechtsordnung aus besonders intensiv beobachteten GrundrechtsbereichS, sondern auch andere Regeln von Verfassungsrang, deren "Mißachtung" durch das Gemeinschaftsrecht auch im Ergebnis leichter einleuchtet6 •
3 s. z.B. StIGH 4.2.1932 - Traitement des ressortissants polonais a Dantzig, Serie A / B Nr. 44, 24.
4 s. dazu die aufschlußreiche Gegenüberstellung der EuGH-Rechtsprechung mit Passagen älterer Schiedsgerichts-Entscheidungen bei Pellet RCADE Vol. V -2 (1994), 193 (261 ff).
5 S. zu nationalen Grundrechten EuGH 17.12.1970 Rs. 11 / 70 - Internationale Handelsgesellschaft mbH gegen Einfuhr- und Vorratsstelle flir Getreide- und Futtermittel, Sig. 1970, 1125. 6 Zu anderen Regeln von Verfassungsrang EuGH 8.2.1973 Rs. 30/72 - Kommission / Italien, Sig. 1973, 161 zum Konflikt mit Bestimmungen des italienischen HaushaltsVerfassungsrechts; EuGH 9.3.1978 Rs. 106 / 77 - Staatliche Finanzverwaltung gegen S.p.A. Simmenthal, Sig. 1978,629; EuGH 19.6.1990 Rs. C-213 / 89 - The Queen gegen Secretary of State for Transport ex parte: Factortame Ud und andere, Sig. 1990, 1-2433.
A. Vorrang und unmittelbare Anwendbarkeit
29
bb) Inhaltliche Übernahme der betroffenen Rechtssätze in den Bestand des Gemeinschaftsrechts: Der Weg über die allgemeinen Rechtsgrundsätze Doch bedeutet diese Haltung im Ergebnis nicht immer das "Ende" des betroffenen nationalen Verfassungsgrundsatzes: Die strukturelle Unfertigkeit und Offenheit der Gemeinschaftsrechtsordnung hat der EuGH dazu genutzt, sich selbst - gestützt auf das Beispiel des Art. 215 Abs. 2 EGV - die Befugnis zur Vervollständigung dieser Rechtsordnung im Wege der Bildung allgemeiner Rechtsgrundsätze aus dem gemeinsamen Fundus der Mitgliedstaaten zuzuerkennen. Lassen sich solche gemeinsamen Traditionen erkennen und stehen diese nicht in Widerspruch zu den Erfordernissen des Gemeinschaftsrechts, so bleibt die Berufung auf den nationalen Verfassungsgrundsatz zwar nach wie vor ausgeschlossen; einer Geltung derselben Regel als allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts steht jedoch nichts entgegen 7 • Mit der Rechtsordnung wechselt der betroffene Rechtssatz dann allerdings zugleich auch das zur authentischen Auslegung berufene Rechtsprechungsorgan : Gemäß Art. 164 EG V ist Auslegung und weitere Entwicklung der betroffenen Regel nunmehr Aufgabe des EuGH. Auch dieser Ansatz hat jedoch seine natürlichen Grenzen: Nicht jede Grundsatzentscheidung, die Aufnahme in die nationale Verfassung eines der Mitgliedstaaten gefunden hat, kann schon allein deswegen vom Gemeinschaftsrecht "aufgenommen" werdens. Andernfalls würde auch in diesen Fällen zwar formal
7 s. in neuerer Zeit die in der Aufregung um die enge Auslegung der Unverletzlichkeit der Wohnung allerdings kaum wahrgenommene Anerkennung des allgemeinen Eingriffs-Gesetzesvorbehalts durch EuGH 21.9.1989 verb. Rs. 46/87 u. 227/88 - Hoechst AG / Kommission, Sig. 1989, 2859; dazu aber immerhin Nicolaysen Europarecht I, S. 64 f; Stotz in: Aktuelle Entwicklungen (1992), 21 (27). g So freilich fUr die Grundrechte die Schlußanträge von Generalanwalt Warner zu EuGH 7.7.1976 Rs. 7/76 - Firma ICRA (Industria Romana Carni e Affini S.p.A.) gegen staatliche Finanzverwaltung, Sig. 1976, 1213, 1229 (\236): "... ein von der Verfassung eines Mitgliedstaates anerkanntes und geschütztes Grundrecht [muß] auch im Gemeinschaftsrecht anerkannt und geschützt werden ... "; ebenso die offizielle Darstellung der Kommission in: EG-Bulletin Beilage 5 / 1976, 5 (\ 7); Amt fUr amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (Hrsg.), Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, Europäische Dokumentation, 4. A. 1986, 42, auf die sich etwa H. P. Ipsen WRP 1988, I (7) unter Bezug auf die 3. A. beruft; Ipsens Ansatz fUhrt dann folgerichtig zu der wenig eleganten Fragestellung, ob das Gemeinschaftsrecht als "allgemeines Gesetz" im Sinne von Art. 5 Abs 2 GG gelten könne, da Art. 5 GG den gemeinschaftsweit weitestgehenden (?) Schutz der Pressefreiheit gewährleiste. Der EuGH ist diesem "maximalistischen" Ansatz jedoch auch fUr das immerhin begrenzte Feld der
30
I. Kapitel: Durchsetzungsanspruch des Gemeinschaftsrechts
weiter Gemeinschaftsrecht angewandt und der Vorranganspruch damit gewahrt, die Gemeinschaftsrechtsordnung hätte aber zugleich alle zwischen den nationalen Verfassungen bestehenden Wertungswidersprüche in sich aufgenommen und wäre damit zu konsistenten Antworten auf die betreffenden Fragen nicht mehr in der Lage 9 • Daß auch innerhalb der relativ homogenen Gemeinschaft grundsätzliche Wertungsdifferenzen auftreten können lO , haben für den Grundrechtsbereich - rur den dies angesichts der gemeinsamen Bindung der Mitgliedstaaten an die EMRK noch am wenigsten zu erwarten war - die Auseinandersetzungen um die irische Abtreibungsgesetzgebung im gemeinschaftsrechtIichen Rahmen gezeigt. In verstärktem Maße gilt dieser Befund rur Staatsorganisationsprinzipien wie etwa den Grundsatzkonflikt zwischen föderalistischen und zentralstaatIichen Strukturen 11 , der trotz gewisser Tendenzen zur Abmilderung der Kontraste auch zwischen den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft fortbesteht. b) Abweichende Lösungsansätze in der Literatur Es hat immer wieder Ansätze in der Literatur gegeben, den VorrangGrundsatz des EuGH an seiner "Spitze" umzukehren, also den konkurrierenden Durchsetzungs- und Vorrang-Anspruch zumindest eines Kerns der jeweiligen nationalen Verfassung auch gemeinschaftsrechtlich zu begründen. Vor dem Hintergrund der Tatsache, daß zahlreiche mitgliedstaatIiche Rechtsordnungen den absoluten Vorrang des Gemeinschaftsrechts nicht vorbehaltlos akzeptieren
Grundrechte soweit ersichtlich niemals gefolgt, so zuletzt Weiler / Lockhart 32 CMLRev (1995), 579 (598). 9 Weiler / Lockhart 32 CMLRev (1995), 579 (598 ff) gegen Coppel / O'Neill, 29 CMLRev (1992), 669 (685 ff) aus Anlaß von EuGH 4.10.1992 Rs. C-159 / 90 - SPUC / Grogan, Sig. 1991, 1- 4685 = EuZW 1993,35: das Gemeinschaftsrecht kann nicht zugleich das grund rechtlich begründete irische Abtreibungsverbot und auf der anderen Seite die ebenfalls grundrechtlich begründeten "liberaleren" Regelungen wie etwa die französische übernehmen (zu dieser noch unten 4. Kap. B. H. 1. a) und 4. Kap. B. II. 3. d) bb); s. zu diesem Aspekt auch Gaudemet-Tallon Anm. RTDE 1992, 167 (178) sowie Weiler in: Bernhardt / 1010wicz (1987), 113 (128 f).
10 Anders noch die optimistische Prognose von Schermers 27 CMLRev (1990), 249 (254).
11 Allgemein Magiera FS Morson (1992), 211 (227) m.zahlr. Nachw., speziell zur Problematik der mitgliedstaatlichen Binnenstruktur ebda. S. 234; zu den Problemen der französischen Rechtsordnung in diesem Bereich s.u. 3. Kap. A. 11. 2.
A. Vorrang und unmittelbare Anwendbarkeit
31
und zumindest im Grundsatz am Vorrang der nationalen Verfassung festhalten l2 , sind diese Bemühungen auch nicht unverständlich.
aa) Neuere Ansätze: Berücksichtigung jedenfalls "grundlegender" nationaler Verfassungsnormen einzelner Mitgliedstaaten? Während die ältere Literatur zur Begründung solcher Lösungen z.B. Art. 247 EWGV herangezogen hatte, der die Ratifikation des Vertrages "durch die Hohen Vertragsparteien gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften" verlangt ll , wird in neuerer Zeit ein gemeinschaftsrechtlicher Ansatzpunkt für den Vorrang des nationalen Verfassungsrechts vielfach in dem in Art. 5 EGV verankerten Grundsatz der Gemeinschaftstreue vermutet, der auch die Gemeinschaftsorgane zur Rücksichtnahme auf die verfassungsrechtlichen Vorstellungen des einzelnen Mitgliedstaates verpflichten solll4. Auch das BVerfG hat auf diese Konstruktion in seiner Maastricht-Entscheidung Bezug genommen, ohne sie sich allerdings ausdrücklich zu eigen zu machen l5 .
bb) Einwände Auch dieser Umweg, einzelnen Bestimmungen der nationalen Verfassung auf dem Umweg über das Berücksichtigungsverbot doch auf Gemeinschaftsebene Beachtung zu verschaffen, kann allerdings nicht überzeugen.
12 So das Fazit etwa von Rideau RFDC 1990, 425 ff; de Wilte Droits No 14, 1991, 87 (89 f). 13 So etwa Zu leeg JöR n.F. 20 (1971), 1 (30); heute im Ansatz wieder Schilling Staat 1994, 555 (558 f). 14 So in der deutschen Literatur wohl erstmals Delbrück Rundfunkhoheit (1986), 57 f; später etwa Ipsen GS Geck (1989), 339 (352); Epiney EuR 1994, 301 (309 ff); hinzu kommt in der neueren Literatur der Bezug auf Art. F Abs. I des Unionsvertrags, s. etwa Epiney EuR 1994, 301 (307); Hilf GS Grabitz (1995), 157 ff; besonders weitgehend Lerche FS Schippel (1996), 919 ff. 15 BVerfG 12.10.1993 - Maastricht, BVerfGE 89, 155 (201 f); wiederaufgenommen durch BVerfG 22.3.1995 - Fernsehrichtlinie, BVerfGE 92, 203 (237).
I. Kapitel: Durchsetzungsanspruch des Gemeinschaftsrechts
32
a) Einwände gegen das Ergebnis
Daß das Ergebnis solcher Operationen für das Gemeinschaftsrecht jedenfalls als bindende Vorgabe nicht akzeptabel 16 ist, zeigt das von Weiler und Lockhart l7 gebildete fiktive, aber nicht unrealistische lK Beispiel einer nationalen Verfassungsbestimmung, die - getragen von der Grundüberzeugung der Bevölkerung die Beschäftigung von Ausländern durch heimische Arbeitgeber "zum Schutz der nationalen Integrität und der Grundrechte der Bürger verbietet". Wie sie feststellen, wäre eine solche Regel durchaus nicht menschen- oder völkerrechtswidrig: Dennoch gehört der Verzicht auf sie zu den Grundsätzen der Gemeinschaft. Die Anerkennung einer solchen partiellen Umkehrung der gemeinschaftsrechtlichen Vorrang-Regel würde zudem zu einer fundamentalen Ungleichbehandlung der Mitgliedstaaten je nach deren innerstaatlichem Ausbau führen. Die Mitgliedstaaten, die ihre innerstaatliche Rechtsordnung den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts perfekt angepaßt haben l9 , wären im Nachteil gegenüber den "aggressiveren" Mitgliedstaaten, die ihre vertraglichen Verpflichtungen nur unter Vorbehalt akzeptieren 20 • Deshalb greift auch das Argument nicht, wonach der Vorrang nationalen Verfassungsrechts aus der Abhängigkeit des Gemeinschaftsrechts von den Mitgliedstaaten folge 21 : Träger der Gemein-
16 De Witte Droits No 14, 1991,87 (95): "Le respect scrupuleux de chacune de ces dispositions conduirait la Communaute a la paralysie". 17 32 CMLRev (1995), 51 (75).
18 Die berühmte Leitentscheidung zu Art. 48 Abs. 4 EWGV, EuGH 17.12.1980 Rs. 149/79 - Kommission / Belgien, Slg. 1980,3881, stand vor dem Hintergrund von Art. 6 Abs. 2 der belgischen Verfassung, der die Beschäftigung von Ausländern im gesamten öffentliche Dienst und öffentlichen Unternehmen verbot. 19 Als Beispiel werden immer wieder die Niederlande genannt, s. etwa Carreau Droit international 4. A. 1994, S. 56, Rn 124. 20 Zu leeg 1öR n.F. 20 (1971), 1 (30) hat das noch als Vorteil gesehen: eine Einschränkung des Geltungsanspruchs des Gemeinschaftsrechts würde die Anerkennung eines Vorrangs der nationalen Verfassung nur im Fall der Staaten bereiten, die diesen nationalen Vorrang in Anspruch nehmen, also (zu diesem Zeitpunkt) Deutschland und Italien. Daß dieses je nach Stärke des mitgliedstaatlichen Drucks differenzierte Nachgeben des Gemeinschaftsrechts eine diskriminierende Privilegierung gegenüber vertragstreuen Mitgliedstaaten bedeutet, ist dabei nicht berücksichtigt; diesen Aspekt der "Gleichheit vor dem Gesetz" (Vertrag) betont heute aber auch Zuleeg Anm. 1Z 1995, 673 (674) zu BVerfG 22.3.1995 - Rundfunkrichtlinie, BVerfGE 92, 203 = 1Z 1995,669. 21
So z.B. wieder Schilling Staat 1994, 555 (559).
A. Vorrang und unmittelbare Anwendbarkeit
33
schaft sind alle Mitgliedstaaten, nicht allein der Mitgliedstaat, der in einer bestimmten Frage seine Sonderbehandlung beansprucht. Auch müßte eine Anerkennung verfassungsrechtlicher Vorbehalte auf Gemeinschaftsebene danach unausweichlich Tendenzen in den Mitgliedstaaten begünstigen, z.B. im Rahmen der Entwicklung von Sekundärrecht die jeweils eigene rechtspolitische Position in der innerstaatlichen Normenhierarchie möglichst "hoch" anzusiedeln, also verfassungsrechtlich "aufzurüsten"22 und daraus folgende rechtliche Zwänge zu behaupten 23 • Solche möglicherweise nur durch die konkrete Verhandlungssituation bedingten Behauptungen können später schwerlich wieder zurückgenommen werden und erschweren damit über Gebühr die Suche nach Kompromißlösungen.
ß) Einwände gegen die dogmatischen Imp/ikationen Die Anerkennung eines Vorrangs nationalen Verfassungsrechts, und sei es auch in abgemilderter oder auf die Grundentscheidungen beschränkter Form, müßte aber auch für das nationale Verfassungsrecht der betroffenen Mitgliedstaaten und die Definitionshoheit über den Inhalt dieses Rechts Folgen haben, die von den Verfechtern solcher Lösungen vielfach nicht bedacht werden. Bisher hält sich der EuGH von einer eigenständigen Auslegung des nationalen Rechts fem 24 : In Vertragsverietzungsverfahren nach Art. 169 bzw. 170 EGV 22 So schon Meessen in: Grundrechte in der EG (1978), 35 (40); ähnlich der Vorbehalt von Cohen-Tanugi, Diskussionsbeitrag in: Passelecq u.a. RFDC 1996,675 (678): "... on ne peut pas laisser a un Etat membre la faculte d'eviter ses obligations communautaires en constitutionnalisant un certain nombre de regles de droit interne. Apres tout, une assez grande latitude est laissee aux Etats pour inscrire dans leur constitution ce qu'ils souhaitent; on ne peut donc pas laisser une breche s'ouvrir." (Hervorhebung vom Verf.) Es ist daran zu erinnern, daß z.B. das irische Abtreibungsverbot Verfassungsrang erst im Jahr 1983, also nach dem Beitritt Irlands, erhalten hatte; s. dazu von deutscher Seite Langenfeld / Zimmermann EuGRZ 1992,335 ff; dies. ZaöRV 1992,259 ff. 23 Dazu noch unten 3. Kap. B. I. 5.; deutlich wird die Suche nach verfassungsrechtlichen Argumenten in der Auseinandersetzung um den Inhalt entstehenden Sekundärrechts auf französischer Seite etwa bei Francis Hamon D. 1993 chr. 91 ff (zur Liberalisierung der Energiemärkte).
24 Richtungweisend bereits EuGH 15.7.1960 verb. Rs. 36/59,37/59,38/59 und 40/ 59 - Präsident Ruhrkohlen-Verkaufsgesellschaft u.a. / Hohe Behörde, Sig. VI (1960), 885 (920 f): "Der Gerichtshof ist jedoch ... nicht befugt, rur die Beachtung solcher innerstaatlicher Vorschriften Sorge zu tragen, mag es sich hierbei auch um Verfassungsrechtssätze handeln. Der Gerichtshof kann daher ... weder zur Auslegung noch zur Anwendung von Artikel 14 des deutschen Grundgesetzes schreiten" s. weiter die Schlußan3 Gundei
I. Kapitel: Durchsetzungsanspruch des Gemeinschaftsrechts
34
wird das nationale Recht als reine Tatsache, als potentielles mitgliedstaatliches Fehlverhalten betrachtee5; im Verfahren nach Art. 177 EGV wird ein hypothetisch-abstrakt "gedachtes" nationales Recht ebenfalls ohne Überprüfung der internrechtlichen Stichhaltigkeit der vom vorlegenden Gericht vorgegebenen Auslegung zum Anlaß, nicht aber zum Gegenstand der Vorlage 26 • Diese Zurückhaltung müßte der EuGH wohl aufgeben, sollte er - sei es auch nur im Rahmen einer Berücksichtigung der nationalen Verfassungsposition im Rahmen des Art. 5 EGV - auch nationale Wertungen berücksichtigen müssen 27 • Deren - angeblichen - Inhalt könnte er sich kaum von den nationalen Instanzen in die Feder diktieren lassen 2K : Das würde keine begrenzte Ausnahme vom Vorrang-Grundsatz mehr darstellen, sondern einem Freibrief ftlr die nationale Rechtsordnung gleichkommen, ihre mit einer unüberprüfbaren verfassungsrechtlichen Begründung versehenen jeweiligen politischen Vorstellungen gegen das Gemeinschaftsrecht durchzusetzen. Der Vorrang-Grundsatz müßte damit auf breiter Front aufgegeben werden, zumal die zur Bestimmung der nationalverfassungsrechtlichen Position zuständige nationale Instanz nur zu häufig die Regierung sein dürfte; denn ob auch - hinreichend aussagekräftige - Rechtsprechung eines nationalen Verfassungsgerichts vorliegt, bleibt schließlich weithin auch dem Zufall überlassen 29 •
träge von Generalanwalt Maurice Lagrange zu EuGH 15.7.1964 Rs. 6/64 - Flaminio Costa gegen E.N.E.L., Sig. X (1964), 1251 / 1279 (1289): "Wir haben uns selbstverständlich nicht in die Auslegung der Verfassungen der Mitgliedstaaten einzumischen." Zum Status des innerstaatlichen Rechts vor dem EuGH s. Rodriguez Iglesias Liber Amicorum Pescatore (1987), 583 (596 ff). 25 Daraus ergibt sich auch die Möglichkeit von Beweislast-Entscheidungen, wenn sich der Inhalt des nationalen Rechts nicht zweifelsfrei feststellen läßt; so etwa zu Verbindlichkeit und Rechtscharakter der deutschen normkonkretisierenden Verwaltungsrichtlinien EuGH 30.5.1991 Rs C-361 /88 - Kommission / Deutschland, Sig. 1991, I 2567, Tz. 21 = EuZW 1991, 440 = NVwZ 1991, 866 zur TA Luft; freilich hat der EuGH zuvor durchaus einen genaueren Blick auf dieses deutsche Institut geworfen, s. Tz. 20 der Entscheidung und dazu Vedder EWS 1991,293 (296). 26 s. bereits EuGH 19.3.1964 Rs. 75 / 63 - Unger gegen Bedrijfsvereniging voor Detailhandel en Ambachten, Sig. X (1964), 379 (399); zuletzt nochmals deutlich EuGH 26.9.1996 Rs. C-341 /94 - Strafverfahren gegen Andre Allain, Sig. 1996, I - 4631, Tz. 10 ff; weitere Nachw. etwa bei Grabitz ! Hilf (-Wohlfahrt) Rn 24 zu Art. 177. 27 So der Schluß von Meessen in: Grundrechte in der EG (1978), 35 (41); von französischer Seite Carreau Droit international 4. A. 1994, S. 48 f, Rn 102; zu diesem Zusammenhang auch Schermers 22 AJCL (1974),444 (448). 2K
SO zu Recht Meessen in: Grundrechte in der EG (1978), 35 (41).
Eine interessante Variante, diesem Mangel abzuhelfen, stellt die von einem französischen Parlamentarier erdachte Möglichkeit einer Gutachten-Vorlage an das nationale 29
A. Vorrang und unmittelbare Anwendbarkeit
35
Müßte der EuGH aber als notwendige Konsequenz aus der Anerkennung national-verfassungsrechtlicher Wertungen auch diesen Weg der Ermittlung und Auslegung dieser Wertungen einschlagen, so könnte den nationalen Rechtsordnungen und ihren Interpreten die Behandlung widerfahren, die ursprünglich nur der BFH 30 , jetzt möglicherweise auch das BVerfG 31 dem Gemeinschaftsrecht und dem EuGH als seinem authentischen Interpreten zugedacht haben: So wie dort eine nationale (deutsche) Lesart des EGV gegen die als nur bedingt maßgeblich erachtete Auslegung durch den EuGH gestellt wurde, könnte es dann auch eine gemeinschaftsrechtIiche Lesart der deutschen Rechtsordnung geben. So könnte der EuGH etwa zum deutschen Rundfunkverfassungsrecht - einem der bekanntesten Schauplätze der neuerlichen Infragestellung des VorrangGrundsatzes - durchaus feststellen, daß Art. 5 GG in dieser Hinsicht wenig konkrete Hinweise liefert, das ganze System des deutschen Rundfunkverfassungsrechts vielmehr reines Richterrecht, vielleicht gar unzulässige Rechtsfortbildung durch das BVerfG darstellt32 • c) Möglichkeiten systemkonformer Berücksichtigung einzelstaatlichen Verfassungsrechts Möglich und sinnvoll bleibt es natürlich, die Vermeidung von Konflikten mit Bestimmungen - auch nur einzelner - mitgliedstaatlicher Verfassungen zum
Verfassungsgericht zur Verfassungsmäßigkeit von Sekundärrechts-Entwürfen (!) dar, s. dazu noch unten 3. Kap. B. I. 5. 30 s. v.a. BFH 25.4.1985 - Gerda Kloppenburg gegen Finanzamt Leer, EuR 1985, 191 m.abl. Anm. Tomuschat S. 346 ff = BB 1985, 1317 = RIW 1985, 742, aufgehoben durch BVerfG 8.4.1987 - Kloppenburg, BVerfGE 75, 223; zu dieser Rechtsprechung des BFH s. auch noch unten 5. Kap. B. III. 4. m. Fn 171 fund 196. 31
BVerfG 12.10.1993 - Maastricht, BVerfGE 89, 155 (188).
Dazu Degenhart ZUM 1992, 449 (450), der freilich die nationale Interpretation für authentisch hält: wenn die Organe der EG mitgliedstaatliches Verfassungsrecht beachten müßten, dann in der von den zuständigen (nationalen) Verfassungsorganen geprägten Fassung. Kewenig hielt die Dogmatik des BVerfG in diesem Bereich für im Ausland nicht mehr vermittelbar, s. den Diskussionsbericht der 52. Tagung des Studienkreises für Presserecht und Pressefreiheit, AfP 1993, 463 (466). Um eine solche externe Bewertung der Schlüssigkeit nationaler Rechtspositionen zu vermeiden, schlägt Lerche FS Schippe I (1996), 919 nunmehr die Qualifikation der deutschen Rundfunkstrukturen als Teil der "nationalen Identität" im Sinne von Art. F Abs. I EUV vor: diese nationale Identität könne - anders als möglicherweise Fragen des nationalen Verfassungsrechts - nur vom betroffenen Mitgliedstaat selbst definiert werden und müsse in dieser Selbstdefinition von der Gemeinschaft hingenommen werden. 32
3"
36
1. Kapitel: Durchsetzungsanspruch des Gemeinschaftsrechts
politischen Handlungsprinzip fUr die Rechtsetzungsorgane der Gemeinschaft, insbesondere die Kommission zu machen 33 ; auch eine Anerkennung als - freilich nicht allein maßgebliches - Interpretationsprinzip fUr den EuGH mag hinnehmbar sein.
Im übrigen bleibt als Ausweg zum Schutz partikularer Vorstellungen einzelner Mitgliedstaaten allein die Ergänzung der Verträge durch Zusatzprotokolle 34 nach dem bei den Verhandlungen zum Unionsvertrag erneut wiederholten Vorbild. Auch diese Lösung hat zwar Nachteile, da sie gleichfalls zur inhaltlichen Zersplitterung des Gemeinschaftsrechts fUhren muß 31 . Immerhin aber ist eine solche "Verlustliste der Rechtseinheit"36 durch die abschließende Aufzählung - anders als im Fall einer Lösung auf der Grundlage von Art. 5 EGV gegenständlich begrenzt und zudem durch die bewußte und einstimmige Akzeptanz seitens aller Mitgliedstaaten - und nicht nur des Mitgliedstaats, der später unter Berufung auf nationales Verfassungsrecht eine Abweichung von den fUr alle Parteien gleichermaßen verbindlichen Regeln in Anspruch nehmen will legitimiert. Auch müssen die durch solche Autlistungen anerkannten Abweichungen in der innerstaatlichen Ordnung des betroffenen Mitgliedstaats nicht notwendigerweise Verfassungsrang bekleiden. Künstliche Überhöhungen des innerstaatlichen Rangs der so verteidigten nationalen Grundwerte 37 werden damit überflüssig, so daß zugleich eine damit regelmäßig verbundene Emotionalisierung der Debatte auf nationaler Ebene vermieden werden kann. Auf eine Berücksichtigung von - auch national-verfassungsrechtlich "aufgeladenen" - Sonderinteressen im Rahmen des Sekundärrechts können die Mitgliedstaaten dagegen - trotz der bekannten Stellungnahme von Generaldirektor Dewost im Maastricht-Verfahren vor dem BVerfG 3K - dagegen nicht vertrauen. 33 So dürften wohl auch die vom BVerfG mitgeteilten Ausführungen von Generaldirektor Dewost zu verstehen sein, s. dazu sogleich bei Fn 38. 34
De Witte Droits No 14, 1991, 87 (95).
Äußerst kritisch gegenüber den bekannten "special interest protocols" von Maastricht (irisches Abtreibungsverbot, dänische Ferienhäuser etc.) deshalb Curtin 30 CMLRev (1993), 17 (44ff). 35
36 In Anlehnung an die bekannte Bezeichnung der Art. 55 ff EGBGB, die ein ähnliches Dilemma zwischen Vereinheitlichungszwang und Partikularismus wiederspiegeln. 37 Die ebenfalls durch Protokoll abgesicherten Erwerbsbeschränkungen für dänische Ferienhäuser bewegen sich z.B. nur auf Gesetzes- bzw Verordnungsebene, s. Hammerl/ SippelRIW 1992,883 ffm.w.N. 3H Wiedergegeben in BVerfG 12.10.1993 - Maastricht, BVerfGE 89, 155 (202): " ... die Gemeinschaftsorgane [würden] nachdrückliche Hinweise der Mitgliedstaaten auf entgegenstehendes Verfassungsrecht stets ernstnehmen und um eine Lösung bemüht sein [... ], die das Verfassungsrecht des Mitgliedstaates achtet."
A. Vorrang und unmittelbare Anwendbarkeit
37
Selbst wenn solche Sonderregelungen im Einzelfall politisch durchgesetzt werden konnten, wird das betreffende Sekundärrecht einer Überprüfung durch den EuGH nicht standhalten39 , wenn sich für diese Differenzierung nicht auch aus der Sicht des Gemeinschaftsrechts gute Gründe finden lassen 411 • Aus der Sicht des Gemeinschaftsrechts muß es daher beim absoluten Vorranganspruch des Gemeinschaftsrechts verbleiben. Die Gemeinschaftsrechtsordnung hat keinen Anlaß, hier hinter die Positionen des allgemeinen Völkerrechts nur deshalb zurückzufallen, weil die Konflikte im Einzelfall durch die Ausstattung der Gemeinschaften mit im Konfliktfall auch den einzelstaatlichen Gerichten zugänglichen Rechtsprechungsorganen deutlicher zutage treten. Die dadurch zwischen der Rechtsordnung der Gemeinschaft und derjenigen des jeweils betroffenen Mitgliedstaats bestehende Spannung ist Folge der - eben noch nicht bundesstaatlichen - Konstruktion und muß als im gegenwärtigen Stand letztlich unauflöslich ertragen werden 41 •
3. Vorrang auch vor anderen völkerrechtlichen Verträgen der Mitgliedstaaten
Der Umkehrschluß aus Art. 234 EGV zeigt, daß das Gemeinschaftsrecht im Regelfall auch Vorrang vor abweichenden völkervertraglichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten verlangt. In der deutschen Rechtsordnung ist diese Konstellation auf nur geringe Aufmerksamkeit gestoßen, da die dem Gemeinschaftsrecht im Vergleich zu anderen völkervertraglichen Verpflichtungen eingeräumte Sonderstellung die Einräumung dieses Vorrangs aus der Sicht der deutschen Rechtsordnung problemlos erlaubt. Anders ist die Lage allerdings in Mitgliedstaaten, die das Gemeinschaftsrecht primär als völkerrechtlichen Vertrag einJedenfalls den EuGH als ohne politisches Ermessen auf das Gemeinschaftsrecht verpflichtetes Rechtsprechungsorgan der Gemeinschaft konnte Dewost mit solchen Aussagen nicht binden (und wohl auch nicht binden wollen). 39 s. nur - jeweils für Sonderregelungen zugunsten Frankreichs - EuGH 15.1.1986 Rs. 41 / 84 - Pietro Pinna gegen Caisse d'allocations familiales de la Savoie, Slg. 1986, I; EuGH 18.5.1994 Rs. C - 309 / 89- Codorniu SA / Rat, Sig. 1994, I - 1853 = EWS 1994, 360 m.Anm. Al/kemper = EuZW 1994, 360 m.Anm. Meier. 40 Nachvollziehbaren Sonderlagen steht auch der EuGH aufgeschlossen gegenUber, ohne daß diese auf die Ebene der nationalen Verfassung erhoben werden mUßten, s. etwa EuGH 10.7.1984 Rs. 72 / 83 - Campus Oil Limited und andere gegen Minister für Industrie und Energie und andere, Sig. 1984, 2727; EuGH 28.11.1989 Rs. C-379 / 87 - Anita Groener gegen Minister for Education and the City of Dublin Vocational Education Committee, Sig. 1989,3967. 41
Magiera FS Morson (1992), 211 (224 f).
38
I. Kapitel: Durchsetzungsanspruch des Gemeinschaftsrechts
ordnen und damit bereits eine herausgehobene Stellung in der nationalen Rechtsordnung verbinden, ohne aber dem Gemeinschaftsrecht eine entsprechende Sonderstellung gegenüber anderen Verträgen einzuräumen 42 •
H. Unmittelbare Anwendbarkeit Den entscheidenden Schritt über die Lösungen des allgemeinen 43 Völkerrecht hinaus geht das Gemeinschaftsrecht in seiner Interpretation durch den EuGH, indem es die Beachtung des Vorrangs nicht nur - wie nach allgemeinen Völkerrecht - zur Praxis der Gemeinschaftsorgane selbst, sondern auch zur unmittelbaren Pflicht aller Staatsorgane44 der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen - einschließlich der Gerichte 45 und Verwaltungsbehörden 46 - macht. Schließlich bleibt den innerstaatlich zur Normsetzung zuständigen nationalen Instanzen zusätzlich aufgegeben, den auch bei korrekter Anwendung der Vorrang-Regel durch die nationalen Normanwender optisch ja noch bestehenden und den Gemeinschaftsbürger verunsichernden - Konflikt zwischen nationaler Regel und Gemeinschaftsrecht durch Beseitigung bzw. Anpassung des abweichenden nationalen Rechts endgültig aufzuheben 47 • Zu diesem Sonderproblem der französischen Konstruktion s.u. 6. Kap. B. Der Streit um die Zugehörigkeit des Gemeinschaftsrechts zum Völkerrecht soll hier nicht weiterverfolgt werden. Den Vertretern der völkerrechtlichen Qualifikation sei eingeräumt, daß jedenfalls die primärrechtlichen Quellen dem Völkerrecht angehören; daraus lassen sich aber weitere Schlüsse kaum ziehen, insbesondere ist damit nicht entscheiden, daß die Regeln des allgemeinen Völkerrechts anwendbar sind: dies ist vielmehr - wie in anderen Bereichen auch - nach Zielsetzung und Natur der besonderen Einheit zu entscheiden und flir den Fall des Europarechts in zahlreichen Fragen zu verneinen, s. dazu etwa Bernhardt FS Bindschedler (1980), 229 ff (insbes. S. 233); Pellet RCADE Vol. V-2 (1994),193 (201 fi). 42 43
44 Grundlegend EuGH 5.1.1963 Rs. 26/62 - NV Algemene Transport- en Expeditie Onderneming Van Gend en Loos gegen Niederländische Finanzverwaltung, Sig. IX (1963), 5; dazu in neuerer Zeit Lecourt Melanges Boulouis (1991), 349 ff; Dubouis Melanges Boulouis (1991), 205 (212).
4S EuGH 9.3.1978 Rs. 106 I 77 - Staatliche Finanzverwaltung gegen S.p.A. Simmenthai, Sig. 1978, 629. 46 Besonders deutlich EuGH 22.6.1989 Rs. 103 / 88 - Fratelli Costanzo SpA gegen Stadt Mailand, Sig. 1989, 1839. 47 s. im Bezug auf Frankreich EuGH 1.4.1974 Rs. 167 I 73 - Kommission I Frankreich, Sig. 1974, 359 = D. 1974 jp 717 m.Anm. Pacteau sowie nochmals zu demselben Sachverhalt EuGH 7.3.1996 Rs. C-334 I 94 - Kommission / Frankreich, Sig. 1996, I - 1307 (s. dazu noch unten 4. Kap. B. 11. 3. a) bb) mit Fn 335).
B. Freiheit der Herleitung
39
Diese Pflicht zur auch optischen Anpassung der nationalen Rechtsordnung besteht unabhängig davon, ob das nationale Recht die vom Gemeinschaftsrecht freigestellte 48 Wahl zwischen bloßer Unanwendbarkeit oder Nichtigkeit der gemeinschaftsrechtswidrigen nationalen Regel im Sinne der gemeinschaftsrechtlichen Mindestverpflichtung der Unanwendbarkeit oder weitergehend im Sinne der Nichtigkeit beantwortet.
B. Die Freiheit der mitgliedstaatlichen Rechtsordnung in der Herleitung des Vorrangs aus dem nationalen Verfassungsrecht I. Zulässigkeit der Begründung aus der nationalen Rechtsordnung
Auch in der deutschen Literatur wird häufig ein grundsätzlicher Widerspruch zwischen EuGH und BVerfG behauptet, da der EuGH seine Vorstellung vom Status des Gemeinschaftsrechts im Verhältnis zu den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten aus dem Gemeinschaftsrecht selbst entwickelt, das BVerfG dagegen - wie andere nationale Verfassungsgerichte auch - dagegen vom Ausgangspunkt der nationalen Rechtsordnung aus argumentiert49 • Tatsächlich handelt es sich dabei jedoch nicht um einen logischen Widerspruch, sondern um die unausweichliche Konsequenz der auch vom EuGH betonten Tatsache, daß nach wie vor verschiedene Rechtsordnungen vorliegen, die jeweils Regeln über ihr Verhältnis zu anderen Rechtsordnungen enthalten. Die Forderung des EuGH geht nur dahin, daß die Anwendung der in den nationalen Rechtsordnungen enthaltenen Kollisionsregeln zu einem Ergebnis führt, das mit der Kollisionsregel des Gemeinschaftsrechts im Ergebnis übereinstimmt. Von den nationalen Rechtsordnungen wird also nicht verlangt, daß sie den Vorrang des Gemeinschaftsrechts aus dem Gemeinschaftsrecht selbst herleiten und damit die Begründung des EuGH übernehmen. Bezugspunkt der nationalen Gerichte - allen voran der Verfassungsgerichte - bleibt selbstverständlich im Ausgangspunkt ihr eigene nationale VerfassungsordnungSo. Die Suche nach
48
Dazu sogleich unter B.
s. in neuerer Zeit wieder v. Danwitz Verwaltungsrechtliches System (1996), 109 ff; A. Schmitt Glaeser Grundgesetz und Europarecht (1996), 162 ff. 50 Dubouis Melanges Boulouis (1991), 205 (214); s. dazu auch schon die Schlußanträge von Generalanwalt Maurice Lagrange zu EuGH 15.7.1964 Rs. 6 / 64 - Flaminio Costa gegen E.N.E.L., Sig. X (1964), 1251 / 1279 (1292): "keinen Moment denke ich daran, daß Italien, das immer an der Spitze der Förderer des Europagedankens gestanden hat, Italien, das Land der Konferenz von Messina und des Vertrages von Rom, nicht den verfassungsrechtlichen Weg finden sollte, der es der Gemeinschaft ermöglicht, in voller 49
40
1. Kapitel: Durchsetzungsanspruch des Gemeinschaftsrechts
dem richtigen national-verfassungsrechtlichen Ansatzpunkt flir die Begründung dieses Ergebnisses aus der jeweiligen nationalen Rechtsordnung kann der EuGH den daflir verantwortlichen nationalen Instanzen allerdings nicht abnehmen. Dazu müßte er wiederum das nationale Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten auslegen, was nicht seine Aufgabe ise l . Die nationale - und nach Möglichkeit ergebnisgleiche - Antwort auf den Vorranganspruch der Gemeinschaftsrechtsordnung ist also aus den Bestimmungen des nationalen (Verfassungs-) Rechts zu entwickeln; ist dies im Extremfall eines Widerspruchs zwischen Gemeinschaftsrecht einerseits und den Grundentscheidungen der nationalen Verfassungsordnung nicht möglich, so liegt auch darin kein logischer Widerspruch, sondern ein Konflikt zwischen Rechtsordnungen, den im Ernstfall - insoweit ist den Ausflihrungen der Maastricht-Entscheidung des BVerfG zuzustimmen - die nationale Rechtsordnung als die rein tatsächlich - noch - stärkere für sich entscheiden wird. Dies ist aber letztlich keine Rechtsfrage mehr - denn in ihrem jeweils geschlossenen Bezugssystem haben beide Ordnungen jeweils für sich "Recht" - , sondern eine nur noch tatsächliche Durchsetzungsfrage.
11. Anforderungen an die nationale Begründung Daraus folgt zugleich, daß der Vorranganspruch des Gemeinschaftsrechts nicht schon "aus Prinzip" Sonderregeln in der nationalen Rechtsordnung gerade für das Gemeinschaftsrecht verlangt. Die daflir häufig angeflihrte Formel vom besonderen Charakter des Gemeinschaftsrechts hat in der Rechtsprechung des EuGH vor allem die Funktion, die vom Völkerrecht abweichende, nämlich in ihrer Kombination von Vorrang und unmittelbarer Anwendbarkeit anspruchsvollere Vorrangerwartung an die nationalen Rechtsordnungen zu begründen. Wenn die nationale Rechtsordnung eines Mitgliedstaats - etwa aufgrund ihrer generellen Völkerrechtsfreundlichkeit - diese Ansprüche bereits auf der Grundlage ihrer allgemeinen Regeln zur innerstaatlichen Wirkung des Völkerrechts in vollem Umfang erflillen kann, ist dagegen von der Warte des Gemeinschaftsrechts nichts einzuwenden. Eine solche Lösung kann sogar dazu flihren, daß im Rahmen einer nationalen "Einheitslösung" das allgemeine Völkerrecht zum Übereinstimmung mit den Grundsätzen der gemeinsamen Charta zu leben." (Hervorhebung vom Verf.). 51 s. wiederum die Schlußanträge von Generalanwalt Maurice Lagrange zu EuGH 15.7.1964 Rs. 6/64 - Flaminio Costa gegen E.N.E.L., Sig. X (1964), 1251 / 1279 (1289): "Wir haben uns selbstverständlich nicht in die Auslegung der Verfassungen der Mitgliedstaaten einzumischen."
B. Freiheit der Herleitung
41
Nutznießer der Ansprüche des Gemeinschaftsrechts wird: Das ist dann der Fall, wenn die betroffene nationale Rechtsordnung bzw die zu ihrer Auslegung befugten Organe sich entschließen, in Reaktion auf diese Ansprüche eine generell "internationalistischere" Haltung einzunehmen52 • Die allein auf ein (Mindest-)Ergebnis bezogene Rechtsprechung des EuGH gestattet der nationalen Lösung auch, über die so gesetzten Ziele zugunsten des Gemeinschaftsrechts hinauszugehen: So ist es keinem Mitgliedstaat verwehrt, gemeinschaftsrechtswidrige nationale Rechtsnonnen nicht nur für unanwendbar, sondern für nichtig zu erachten und seine nationalen Gerichte (und Behörden) mit der entsprechenden Verwerfungsbefugnis zu versehen 53 • Dieser Spielraum steht freilich immer unter der einschränkenden Voraussetzung, daß die nationale Anordnung dieser weitergehenden Rechtsfolge nicht im Ergebnis die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts dadurch behindern darf, daß mit dieser weitreichenden Feststellung auch weitergehende - etwa prozessuale - Voraussetzungen verbunden würden. So bleibt es der nationalen Rechtsordnung unbenommen, gemeinschaftsrechtswidrige nationale Nonnen als - aufgrund dieses Verstoßes - zugleich auch verfassungswidrig anzusehen; dieser Weg ist allerdings in dem Augenblick nicht mehr gangbar, in dem durch diese Einordnung dem nationalen Rechtsanwender - d.h. vor allem den Fachgerichten, aber auch schon in deren Vorfeld den nationalen Behörden - die Befugnis genommen wird, den Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht selbst festzustellen, etwa weil jedenfalls hinsichtlich bestimmter nationaler Rechtsakte (im Regelfall Parla52 So die Reaktion der belgischen Rechtsordnung: die Leitentscheidung Cass. 1re ch. 21.5.1971 - Etat beige c. SA Fromagerie Franco-Suisse Le Ski, JT 1971, 460 mit den Schlußanträgen von Generalanwalt Ganshof van der Meersch u. Anm. Salm on JT 1971, 510 ff, 529 ff= CDE 1971, 561 m.Anm. Pescatore = ZaöRV 1972,529 m.Anm. Bleckmann S. 516 ff hat zwar einen Konflikt zwischen Gesetz und Gemeinschaftsrecht zum Gegenstand, bezieht sich aber in der Begründung unterschiedslos auf alle völkerrechtlichen Verträge; zur Situation in Belgien s. etwa Lenaerts 23 CMLRev (1986), 253 ff sowie zuletzt ausführlich Bribosia RBDI 1996, 33 (insbes. 56 ff); für vergleichbare Aspekte in Frankreich Daudet Melanges Boulouis (1991), 97 ff (I 06). 53 In der französischen Rechtsordnung ist diese Befugnis den Verwaltungsgerichten im Falle der prinzipalen Normenkontrolle von Verordnungen der Exekutive eingeräumt, s. im einzelnen unten 5. Kap. B. In Deutschland ist dagegen für den begrenzt vergleichbaren Fall des § 47 VwGO bisher nicht abschließend geklärt, ob das Gemeinschaftsrecht als Prüfungsmaßstab (mit der Folge der gerichtlichen Nichtigerklärung widersprechender Landesverordnungen) heranzuziehen ist, s. einerseits bejahend VGH Mannheim 14.5.1992, ESVGH 42, 283 = VBIBW 1992, 333 (Vorlagebeschluß zu EuGH 15.12.1993 Rs. C-292 / 92 - Ruth Hünermund u.a. gegen Landesapothekerkammer Baden-Württemberg, Sig. 1993, I - 6787); VGH Mannheim 18.4.1994, VBIBW 1994, 361 (abschließende Entscheidung) sowie Pache / Burmeister NVwZ 1996, 979 ff, andererseits Rinze NVwZ 1996, 458 ff.
42
1. Kapitel: Durchsetzungsanspruch des Gemeinschaftsrechts
mentsgesetze) die Verwerfungskompetenz bei einem zentralen nationalen Kontrollorgan monopolisiert ist, oder aber eine solche Kontrolle nach nationalem Recht gar nicht vorgesehen ist.
2. Kapitel
Die Stellung des Gemeinschaftsrechts in der französischen Rechtsordnung A. Der Rang des Völkerrechts in der französischen Rechtsordnung: Überblick über den Normenbestand Bereits die verfassungsrechtliche Ausgangssituation in der französischen Rechtsordnung unterscheidet sich grundlegend von den deutschen Ausgangspositionen: Schon die Verfassung der 4. Republik) räumte dem allgemeinen Völkerrecht und auch den völkerrechtlichen Verträgen in den Absätzen 14 und 15 der Präambel sowie in Art. 26 ff der Verfassung selbst einen komfortablen Platz ein; diese Ausgangsposition besteht auch in der Verfassung der 5. Republik zum einen über die fortgeltende Präambel der Verfassung der 4. Republik, vor allem aber auf der Grundlage des Art. 55 der Verfassung fort. Ob die französische Rechtsordnung sich damit fllr einen reinen Monismus - mit Primat des Völkerrechts selbst gegenüber der Verfassung - entschieden hatte, ist allerdings über lange Zeit umstritten geblieben. Eine Berücksichtigung der in der Rechtsprechung des EuGH postulierten besonderen Anforderungen des Gemeinschaftsrechts scheint danach auf den ersten Blick gar nicht nötig 2, zumal die Gemeinschaftsrechtsordnung von den nationalen Rechtsordnungen ja nicht die Übernahme seiner Begründung fllr den Vor-
) Die früheren Verfassungen regelten nur den Abschluß völkerrechtlicher Verträge, schwiegen jedoch zu ihrem Rang. Diese Situation hat die Rechtsprechung unter der 3. Republik dazu geführt, den völkerrechtlichen Verträgen den Rang der diese billigenden Gesetze einzuräumen, s. dazu etwa Lardy Force obligatoire (1966), 104 f sowie noch unten 4. Kap. B.; die unter diesen älteren Verfassungen geschlossenen "Altverträge" Frankreichs unterfallen ebenfalls der nunmehr geltenden Normenhierarchie, haben durch deren Neuordnung also eine Rangerhöhung erfahren, s. bereits Donnedieu de Vabres Jep 1948 I 733; anders nur Favoreu RFDA 1989, 993 (999); gegen ihn Flauss LPA 1992Nr.85, 15.7.1992,S. 17(20). 2 Bleckmann DÖV 1978,391 (396).
2. Kapitel: Stellung in der französischen Rechtsordnung
44
rang-Anspruch verlangt (und vernünftigerweise auch nicht verlangen kann)\ sondern die Anerkennung und den Nachvollzug seiner Ergebnisse auf der Grundlage der nationalen Verfassungsordnung erwartet.
I. Die Lage bei Abschluß der Gründungsverträge: Die 4. Republik Chronologischer Ausgangspunkt ftlr den Status des Gemeinschaftsrechts in der französischen Rechtsordnung ist damit die Verfassung der 4. Republik, unter der die Verträge ratifiziert worden sind 4 • Die mit der Verfassung der 4. Republik vorgenommene - und von der Verfassung der 5. Republik weithin übernommene - Neuordnung des Verhältnisses zwischen innerstaatlicher Rechtsordnung und völkerrechtlichem VertragS hat sich allerdings nur nach und nach gegen die im wesentlichen aus der 3. Republik überkommenen Verhaltensmuster durchsetzen können, auf die aus diesem Anlaß ebenfalls einzugehen sein wird.
3
s.O. I. Kap. B.
s. flir die EGKS: Loi No 52-387 du 10.4.1952 autorisant le President de la Republique ci ratifier le traite signe ci Paris le 18 avril 1951 et instituant une communaute europeenne du charbon et de l'acier ainsi que ses annexes, les protocoles joints et une convention relative aux dispositions transitoires, JORF 11.4.1952, S. 3795 und Decret No 52-993 du 20.8.1952 portant publication du traite instituant la communaute europeenne du charbon et de l'acier et de la convention relative aux dispositions transitoires, signes ci Paris le 18 avril 195, JORF 5.9.1952, S. 8778. Für EWGV und EAGV: Loi No 57-880 du 2.8.1957 autorisant le President de la Republique ci ratifier: I. le traite instituant une Communaute economique europeenne et ses annexes; 2. le traite instituant la Communaute europeenne de I'energie atomique; 3. la convention relative ci certaines institutions communes aux communautes europeennes, signes ci Rome le 25 mars 1957, JORF 4.8.1957, S. 7716 und Decret No 58-94 du 28.1.1958 portant publication du traite instituant la Communaute economique europeenne et du traite instituant la Communaute europeenne de l'energie atomique, signes le 25 mars 1957, JORF 2.2.1958, S. 1188. Zu den damaligen Debatten um die Ratifikation s. Cocatre-Zilgien AFDI 1957, 517 ff. S Aus der zeitgenössischen Literatur zum Status des internationalen Rechts unter der Verfassung der 4. Republik s. etwa Niboyet D. 1946 chr. 89 ff; Donnedieu de Vabres D. 1948 chr. 5 ff; Mouskhely ZaöRV 1950/51, 98 ff; Preuss 44 AJIL (1950), 641 ff = Revue internat. d'Histoire politique et constitutionnelle 1951, 199 ff. 4
A. Überblick über den Normenbestand
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1. Die Stellung des völkerrechtlichen Vertrages in der Normenhierarchie der 4. Republik
Die Verfassung der 4. Republik behandelt die zwei Fragenkreise der innerstaatlichen Durchsetzung völkerrechtlicher Verträge in zwei getrennten Bestimmungen: Während Art. 266 die Frage der innerstaatlichen Anwendbarkeit des Vertrags regelt, bestimmt Art. 28 7 seinen Rang insbesondere im Verhältnis zum nationalen Gesetz. a) Innerstaatliche Anwendbarkeit Die der Rangfrage vorgeordnete Problematik der innerstaatlichen Anwendbarkeit des Vertrages hat die französische Rechtsordnung bereits mit der Verfassung der 4. Republik in befriedigender Weise gelöst; inhaltliche Änderungen sind durch den Wechsel von der 4. zur 5. Republik nicht erfolgt.
aa) Innerstaatliche Anwendbarkeit des Vertrages Mit seiner Veröffentlichung ist der Vertrag in der nationalen Rechtsordnung unmittelbar anwendbar (force de loi), sofern die - auch aus der Rechtsprechung des EuGH bekannten - technischen Voraussetzungen wie hinreichende Bestimmtheit und Unbedingtheit erflillt sind K und die Bestimmung damit justiziabel ist.
6 Art. 26: "Les traites diplomatiques regulierement ratifies et publies ont force de loi dans le cas meme ou ils seraient contraires ci des lois fran(j:aises, sans qu'il soit besoin pour en assurer l'application d'autres dispositions legislatives que celles qui auraient ete necessaires pour assurer leur ratification." 7 Art. 28: "Les traites diplomatiques regulierement ratifies et publies ayant une autorite superieure ci ce!le des lois internes, leurs dispositions ne peuvent etre abrogees, modifiees ou suspendues qu'ci la suite d'une denonciation reguliere, notifiee par voie diplomatique."
8 Umstritten ist in der französischen Rechtsprechung und Literatur hier in neuerer Zeit die UN-Konvention über die Rechte des Kindes vom 26.1.1990: die Cour de cassation hält diese Konvention insgesamt für innerstaatlich unanwendbar, so erstmals Cass. civ. Ire 10.3.1993 - Le Jeune c. Sore!, D. 1993 jp 361 m.zust.Anm. Massip und Bespr. Rondeau-Rivier D. 1993 chr. 203 = RGDIP 1993, 1051 m.Anm. Alland = RCDIP 1993, 449 m.abI.Anm. Lagarde = JCP 1993 I 3677 m.abl. Bespr. Neirinck / Martin: " ... les dispositions de la Convention relative aux droits de l'enfant ... ne peuvent etre invoquees devant
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2. Kapitel: Stellung in der französischen Rechtsordnung
Die Frage, ob zusätzlich der Wille der Vertragspartner zu berücksichtigen ist, ob es also Vertragsbestimmungen geben kann, die die technischen Voraussetzungen der innerstaatlichen Anwendung zwar erfllllen, deren innerstaatliche Anwendbarkeit aber dennoch ausscheidet, weil sich dies aus anderen Bestimmungen des Vertrages oder aus der Funktion 9 der Bestimmung ergibt lO, ist zwar nach wie vor umstritten; für das Gemeinschaftsrecht ist sie aber ohne Bedeutung, da entsprechende Zweifelsfragen zur Bedeutung einzelner Vorschriften vom EuGH zu klären sind".
les tribunaux, cette convention, qui ne cree des obligations qu'a la charge des Etats parties, n'etant pas directement applicable en droit interne." Seitdem Cass. civ. Ire 15.7.1993 - D, JCP 1994 II 22219 m.Anm. Benhamou; Cass. civ. Ire 15.7.1993 - X c ASE du Val-de-Marne, D. 1994 jp 191 m.Anm. Massip; Cass. soc. 13.7.1994 - CPAM de Seine-et-Marne c. Ponneau, D. 1995 jp 91 m.Anm. Massip = JCP 1995 II Nr. 22363 m.Anm. Benhamou gegen die Vorinstanz CA Paris 27.11.1992 - Ponneau c. CPAM de Seine-et-Marne, Gaz. Pal. 1993, 1, 192 mit den Schlußanträgen von Generalanwalt Domingo = AJDA 1993, 667 m.Anm. rehout. Der CE dagegen stellt auf die einzelnen Bestimmungen ab, s. CE 29.7.1994 - Prefet de la Seine-Maritime c. Abdelmouna, AJDA 1994, 841 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissarin Denis-Linton = RGDIP 1995, 502 m.Anm. Alland; CE 10.3.1995 - Demirpence, D. 1995 jp 617 m.abI.Anm. Benhamou = RGDIP 1995, \013 m.Anm. Alland; CE 3.7.1996 - Paturel, RFDA 1996, \059; s. auch CE 29.1.1993 - Mme Boulliez, Rec. S. 15 = RFDA 1993, 802 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Scanvic S. 794 u.Anm. Ruzie S. 803 = AJDA 1993, 364 m.Anm. Burdeau. 9 So etwa CE Ass. 8.3.1985 - Garcia Henriquez, Rec. S. 70 = RDP 1985, 1148 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Genevois S. 1130 = Gaz. Pal. 1985, 2, somm. 336: die vertragliche Pflicht, vor der Auslieferung eines Staatsangehörigen des Vertragspartners in einen Drittstaat den Heimatstaat anzuhören, kommt dem Einzelnen nicht zugute; ihre Verletzung kann von ihm folglich nicht geltendgemacht werden. 10 In diesem Sinne die amtliche Studie des CE Droit international (\ 986), 27 f, 49 f; kritsch Lagarde Anm. RCDIP 1993,450 (452 f); Burdeau Anm. AJDA 1993,364 (367), die zu Recht darauf hinweist, daß die Frage nach der Gewährleistung subjektiver Rechte dem objektiv-rechtlich strukturierten französischen Verwaltungsprozeß grundsätzlich fremd ist; ablehnend auch die Schlußanträge von Generalanwalt Domingo zu CA Paris 27.11.1992 - Ponneau c. CPAM de Seine-et-Marne, Gaz. Pal. 1993, 1, 192 (193). 11 So bereits Questiaux in: Reuter u.a. (Hrsg.), 63 (71 f); zur zufriedenstelIenden Lösung der Probleme der innerstaatlichen Anwendbarkeit durch die französische Rechtsordnung s. bereits Pescatore RTDE 1969, 697 (7\0 ff) = ders. EuR 1970, 56 (67 ff); Lagrange RTDE 1969, 240 (247); später etwa Metraux in: Consequences institutionnelles (1991), 223 (224 f).
A. Überblick Uber den Nonnenbestand
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bb) Innerstaatliche Anwendbarkeit von Sekundärrecht Dieselben Grundsätze kommen grundsätzlich auch dem Sekundärrecht nicht nur des Gemeinschaftsrechts, sondern auch den Entscheidungs- und Normsetzungsmechanismen anderer Vertragswerke zugute, sofern diese aus der Sicht des jeweiligen Vertragssystems zur unmittelbaren Anwendung in der innerstaatlichen Rechtsordnung geeignet und bestimmt sind l2 • Sofern die innerstaatliche Anwendung dieser Rechtsakte die Rechte Einzelner beeinträchtigen kann, ist allerdings ihre Veröffentlichung im französischen Journal officiel oder aber ersatzweise in einem allgemein zugänglichen Amtsblatt der betroffenen Organisation erforderlich I3 • Auch insoweit ist die Lage unter der 5. Republik unverändert geblieben 14. Schwierigkeiten bereitet in diesem Zusammenhang nur der Status nicht rechtzeitig oder unzutreffend umgesetzter EG-Richtlinien in der französischen Rechtsordnung; die damit verbundenen Probleme gehen aber nicht auf struktu-
12 Allgemein Ruzie in: Reuter u.a. (Hrsg.), 103 ff; s. in neuerer Zeit etwa Lachaume AFDI 1991, 893 (895 t), der den Embargo-Resolutionen des UN-Sicherheitsrats auch ohne innerstaatliche Umsetzung Anwendung zukommen lassen will. 13 Art. 3 des Decret No 53-192 du 14 mars 1953 relatif cl la ratification et cl la publicati on des engagements internationaux souscrits par la France, JORF 15.3.1953, S. 2436 (insoweit nicht geändert durch das Decret No 86-707 du 11.4.1986 portant modification du decret No 53-192 du 14 mars relatifa la ratification ... , JORF 13.4.1986, S. 5427): Abs. I: "... Les conventions, accords, protocoles ou reglements, prevus aux articles precedents et de nature cl affecter, par leur application les droits ou les obligations des particuliers, doivent etre publies au Journal officiel de la Republique fran'Yaise." Abs.3: "Les dispositions du present article ne sont pas applicables aux reglements emanant d'une organisation internationale lorsque ces reglements so nt integralement pub lies dans le bulletin officiel de cette organisation, offert au public, et lorsque cette publication suffit, en vertu des dispositions expresses d'une convention engageant la France, cl rendre ces reglements opposables aux particuliers." Zu diesem - seinerzeit v.a. auf die EGKS bezogenen - Dekret etwa Chevallier RDP 1962,646 (651 ft); ders. in: Juge national (1966),17 (19 t); Burdeau AFDI 1986,837 (848 t). 14 Der 6. Erwägungsgrund von CC 9.4.1992 No 92-308 DC - Maastricht I, Rec. S. 55 verweist für das Sekundärrecht ausdrücklich auf das Dekret von 1953: " ... engagements internationaux anterieurement souscrits par la France et introduits dans son ordre juridique en vertu de I'effet conjugue des lois qui en ont autorise la ratification et de leur publication soit au Journal officiel de la Republique fran'Yaise, soU au Journal ojJiciel des Communautes europeennes, conformement Cl l'article 3 du decret no 53-192 du 14 mars 1953 modijie".
2. Kapitel: Stellung in der französischen Rechtsordnung
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relle Verwerfungen zwischen nationaler und Gemeinschaftsrechtsordnung zurück, sondern beruhen auf einer von der Rechtsprechung des EuGH abweichenden Auslegung des Primärrechts durch den Conseil d'Etat I5 •
b) Der Rang des Vertrages in der innerstaalichen Rechtsordnung Der Rang der völkerrechtlichen Verträge in der innerstaatlichen Rechtsordnung ergab sich unter der 4. Republik aus Art. 28: Danach stand der Vertrag jedenfalls über dem (einfachen) Gesetz, eine ausdrückliche Bestimmung für das Verhältnis zur Verfassung war allerdings nicht getroffen. Neben dieser Bestimmung standen allerdings Absatz 14 und Absatz 15 der Präambel l \ von denen man sich weiteren Aufschluß über dieses in Art. 28 nicht ausdrücklich erwähnte Verhältnis zwischen Vertrag und Verfassung erhoffen konnte. Absatz 15 der Präambel darf freilich nicht falsch verstanden werden: Ein Verständnis als "Integrationshebel", d.h. als nationale Kollisionsnorm zugunsten der Gemeinschaftsrechtsordnung wäre zwar möglich gewesen, wie bezeichnenderweise vor allem italienische 17 und deutsche lH Beobachter geltendgemacht haben. Angesichts des nahezu gleichlautenden Art. II der italienischen Verfassung l9 liegt dies im isolierten Vergleich dieser beiden Bestimmungen sogar nahe. Doch ist in Rechtsprechung und Literatur Frankreichs Absatz 15 der Dazu ausführlich unten 5. Kap. B. III. 4. Absatz 14: "La Republique fran"aise, fidele a ses traditions, se conforme aux regles du droit public international. ... " Absatz 15: "Sous reserve de reciprocite, la France consent aux Iimitations necessaires a l'organisation et a la defense de la paix." 15
16
17 Olmi Liber Amicorum Pescatore (1987), 499 (536) unter Verweis auf die Konstruktionsbasis der deutschen und italienischen Verfassungsdiskussion. 18 So etwa Lerche ZaöRV 1990, 598 (622 ff), der unter Kritik an der französischen h.L. ganz nach deutschem Muster "... die Einräumung eines zumindest partiellen (d.h. sich auf besonders wichtige Grundnormen möglicherweise nicht erstreckenden) Vorrangs des EG-Rechts vor der französischen Verfassung durch Abs. 15 der Verfassungspräambel von 1946 ... " konstruiert. 19 Art. 11 der Verfassung vom 27.12.1947: "L'Italia ripudia la guerra come strumento di offesa alla liberta degli altri popoli e come mezzo di risoluzione delle controversie internazionali; consente, in condizione di parita con gli altri stati, alle limitazioni di sovranita necessarie ad un ordinamento che assicuri la pace e la giustizia fra le Nazioni; promuove e favorisce le organizzazioni internazionali rivolte a tale scopo."
A. Überblick über den Normenbestand
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Präambel allein als Maßstab für die Verfassungsmäßigkeit der Integrationsverträge herangezogen worden; die Antwort auf die Frage nach den Modalitäten der Verschränkung zwischen den Rechtsordnungen, insbesondere die Lösung der RangtTage, wird dagegen noch heute nicht in der Präambel der Verfassung der 4. Republik, sondern in Art. 54 und 55 der Verfassung der 5. Republik angesiedelt (die Art. 26 und 28 der Verfassung der 4. Republik abgelöst haben), ohne daß ein Unterschied zwischen den Gemeinschaftsverträgen und anderen, dem "klassischen" Bild völkervertraglicher Verpflichtungen entsprechenden Verträgen gemacht würde 20 •
aa) Im Verhältnis zur Verfassung Das Rangverhältnis zwischen Verfassung und Vertrag ist in der Verfassung der 4. Republik nicht ausdrücklich geklärt; teils wurde aus Art. 28 der generelle Vorrang des Vertrages gegenüber der nationalen Rechtsordnung, also ein Bekenntnis zum reinen Monismus hergeleitet2 l . Die Verallgemeinerung ist verständlich, nachdem unter der 4. Republik die Verfassung gegenüber dem Gesetz in der Praxis keine herausgehobene Stellung einnimmt. Die vor allem im Rahmen der politischen Auseinandersetzungen um die Ratifikation des Vertrages zur Gründung der Europäischen Verteidigungs gemeinschaft entbrannte Kontroversen um das Rangverhältnis zwischen völkerrechtlichem Vertrag und Verfassung konnte einer gerichtlichen Klärung unter der 20 Zu dieser grundsätzlichen Orientierung der Diskussion s. jetzt de Berranger Constitutions nationales S. 247: "... la veritable difficulte reside dans le choix de la disposition constitutionnelle qui reconnait la primaute du droit communautaire ... faut-il s'appuyer SUT la disposition relative a la primaute du droit international ou sur celle autorisant les Iimitations de souverainete." De Berranger plädiert allerdings gegen die in Frankreich ganz herrschende Praxis unter Verweis auf das deutsche und italienische Beispiel für die Aktivierung von Absatz 15 der Präambel als "Integrationshebel" zugunsten des Gemeinschaftsrechts, s. etwa a.a.O. S. 215 f,247. 21 So etwa Niboyet D. 1946 chr. 89 (90): "I'art 28 ... affirme enfin '" la primaute du traite sur la loi, c'est-a-dire de I'ordre international SUT I'ordre interne." Ähnlich Scelte RDP 1952, 1012 (1019); Vedel Droit constitutionnel (1949), 526 ff. 22 Dazu etwa Scelle RDP 1952, 10 12 ff; Cocatre-Zilgien Rev. egyptienne de droit international 1954, 76 (93 ff) sowie die gemeinsame Stellungnahme von Bastid, Burdeau, Capitant, Eisenmann, Lampue und Sibert Le Monde 2.6.1954, S. 2 f einerseits (für Vorrang der Verfassung, Zustimmung zur Ratifikation des EVG-Vertrages daher nur durch verfassungsänderndes Gesetz), Philip Le Monde 9.6.1954, S. 3 und Vedel Le Monde 15.6.1954 andererseits; die Stellungnahmen sind auch wieder abgedruckt in Droits No 16 (1992), 102 ff; s. später noch Lardy Force obligatoire (1966), 156 ff.
4 GundeI
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2. Kapitel: Stellung in der französischen Rechtsordnung
4. Republik nicht zugeftlhrt werden: Das in Art. 91 ff der Verfassung vorgesehene Comite constitutionneFl, eine embryonale Vorform der Verfassungsgerichtsbarkeie\ konnte nur gemeinsam durch den Präsidenten der Republik und den Präsidenten des Conseil de la Republique (Vorgänger des Senats unter der 5. Republik) angerufen werden; der Präsident und die Regierung, die diese Anrufung zudem gegenzeichnen mußte, waren aber ftlr den Inhalt des jeweiligen Abkommens gerade verantwortlich und hatten folglich keine Veranlassung, ein solches Verfahren einzuleiten 25 .
bb) Im Verhältnis zum Gesetz Im Verhältnis zum nationalen Gesetz war der Rang des völkerrechtlichen Vertrages in der Verfassung der 4. Republik dagegen erstmals klar bestimmt: Der materielle Vorrang der Verträge vor - älteren wie jüngeren - nationalen Gesetzen ergab sich eindeutig aus Art. 28 der Verfassung.
2. Die prozessuale Durchsetzbarkeit des Rangs
a) Im Verhältnis zwischen Vertrag und Verfassung Eine realistische Möglichkeit der prozessualen Konfrontation zwischen Vertrag und Verfassung bestand unter der 4. Republik nicht; das Argument der Verfassungswidrigkeit eines Vertrages mit der dieser Argumentation vorgelagerten Prämisse des Vorrangs der Verfassung wurde allein im politischen Meinungskampf um die parlamentarische Zustimmung oder Ablehnung der Ratifikation eines Vertrages verwandt. Das Comite constitutionnel war einer Anrufung kaum zugänglich und zudem weniger als gerichtliche Entscheidungsinstanz denn als Verhandlungsplattform im Rechtsetzungsprozeß einzuordnen. Die "Fachgerichte"26 Conseil d'Etat und 23 Dazu etwa Eisenmann / Hamon in: Verfassungsgerichtsbarkeit (1962), 231 (241 f) sowie umfassend Lemasurier Contröle juridictionnel (1954), \35 ff; aus der deutschsprachigen Literatur Buerstedde JöR n.F. 7 (1958), 167 (178 ff); Ress JöR n.F. 23 (1974), 121 (157 f). 24 So etwa die zeitgenössische Wertung von Lemasurier RDP 1952, 176 (186): "embryon de Juridiction constitutionnelle". 25 So zu Recht Nguyen Quoc Dinh RGDIP 1959, 515 (543 f). 26 Der Begriff der "juridictions ordinaires", der zusammenfassend die Gerichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit (juridictions administratives) und der ordentlichen Gerichts-
A. Überblick Uber den Normenbestand
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Cour de cassation verweigerten ihrerseits die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Vertrages 27 , ohne auf die - unter dieser Prämisse rur das Ergebnis ja auch nicht interessierende - Frage nach dem materiellen Rangverhältnis zwischen Vertrag und Verfassung einzugehen. b) Im Verhältnis zwischen Vertrag und Gesetz
Das Bekenntnis der Verfassung zum Vorrang der Verträge vor dem Gesetz hatte unter der 4. Republik keine prozessualen Folgen. Weithin wurde den Fachgerichten, die diesen Vorrang im Konfliktfall hätten durchsetzen können, diese Möglichkeit als Kompetenzüberschreitung gegenüber dem Gesetzgeber abgesprochen: Ebenso wie das Gesetz als Ausdruck der Volkssouveränität von den Gerichten nicht am Maßstab der Verfassung überprüft wurde 2K , war auch eine - mit der Durchsetzung des Vorrangs verbundene - Kontrolle am Maßstab der Verträge nach der ganz überwiegenden Handhabung in der Rechtsprechung ausgeschlossen. Im Konfliktfall mußte dies dazu ruhren, daß die Gerichte zwar dem jüngeren Vertrag als "lex posterior" Geltung gegenüber dem älteren Gesetz verschafften 29 : Denn damit war keine Kontrolle des Gesetzgebers, kein Vorwurf barkeit Uuridictions judiciaires) dem Conseil constitutionnel der 5. Republik gegenüberstellt, entspricht den Fachgerichten der deutschen Terminologie; im Verhältnis zum Comite constitutionnel der 4. Republik ist der Begriff freilich insofern unpassend, als dieses kaum als gerichtliche Instanz angesehen werden konnte. 27 Zu dieser bis heute unveränderten Haltung s. m.w.N. unten 3. Kap. B. 11. I. 2K s. bereits unter der 3. Republik CE 6.11.1936 - Arrighi, Rec. S. 966 = D. 1938, 3, I mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Latourniere u. Anm. Eisenmann = Sir. 1937, 3, 33 mit den Schlußanträgen u.Anm. Mestre; später CE 22.3.1944 - Vincent, Sir. 1945, 3, 53 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Detton u.Anm. Charlier zu den "Gesetzen" der Vichy-Regierung; CE 22.2.1946 - Botton, Rec. S. 58 = Sir. 1946, 3, 56 m.Anm. P.H. zu den gesetzesvertretenden Rechtsakten des comite fran9ais de liberation nationale; unter der 4. Republik dann etwa CE 2.6.1948 - Thomas freres, Rec. S. 242 (wiederum zur Vichy-Gesetzgebung); CE Sect. 10.11.1950 - Federation nationale de l'Ec\airage et des Forces motrices, Rec. S. 548; CE 18.4.1951 - Elections de Nolay, Rec. S. 189; CE 14.11.1952 - Dlle Hursul et autres, Rec. S. 513; CE Sect. 10.11.1954 - Federation des conseils des parents d'eleves des ecoles publiques; Rec. S. 449 = D. 1955 jp 330 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Jacomet u. Anm. Virally. 29 s. etwa CE Sect. 23.12.1949 - Ste Cominfi, Rec. S. 570; CE 16.10.1953 - Huckel, Rec. S. 442; CE Ass. 16.11.1956 -Villa, Rec. S. 433 = RDP 1957, 123 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Laurent (auch in diesem Fall hat allerdings die verbindlich-restriktive Auslegung des Abkommens durch das Außenministerium einen effektiven Vorrang des Abkommens verhindert).
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2. Kapitel: Stellung in der französischen Rechtsordnung
der Mißachtung der Normenhierarchie verbunden; das jüngere Gesetz dagegen als zeitlich letzter Ausdruck des parlamentarischen Souveräns mußte sich im Falle eines echten Widerspruchs vor den Gerichten gegenüber dem Vertrag durchsetzen 3o • Tatsächliche Anwendungsfalle flir diese letzte Konsequenz lassen sich aber in der Rechtsprechung kaum ausmachen. Insbesondere hat die Cour de cassation sich - anders als einige Instanzgerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit, die unter Berufung auf Art. 28 der Verfassung bereits früh dem Vertrag den Vorrang einräumten 31 - bis in die Mitte der 70er Jahre 32 nicht entscheidungserheblich äußern müssen 33 • Mögliche Konflikte zwischen Vertrag und nachfolgendem Gesetz wurden statt dessen vielfach durch harmonisierende Auslegung der Regelungen beseitigt. Entweder wurde dem nachfolgenden Gesetz durch gerichtliche Auslegung unterstellt, daß die Erflillung der abweichenden vertraglichen Verpflichtungen nicht behindert werden sollte 34 - oder aber eine auf Anfrage durch die Gerichte vorgenommene und für diese verbindliche Auslegung des Vertrages durch das Außenministerium 35 ergab, daß die Anforderungen des Vertrages doch weniger weitgehend waren als angenommen und somit nicht in Konflikt mit dem Gesetz traten. Auch diese häufig praktizierte einschränkend-gesetzeskonforme Auslegung des an sich höherrangigen Vertrages, die zudem nicht in der Verantwortung der Gerichte lag, flihrte im Ergebnis dazu, daß der nach der materiellen Normenhierarchie höherrangige Vertrag sich gegenüber dem späteren Gesetz nicht durchsetzen konnte 36 • 30 s. dazu die Nachweise zur Rspr. unter der 4. Republik bei Mouskhely ZaöRV 1950/ 51,98 (114 ff). 31 s. die Nachweise bei Blondeau in: Reuter u.a. (Hrsg.), 43 (60); Lardy Force obligatoire (1966), 138 f; Lagrange in: Droit communautaire (1965),21 (38 f). 32 Cass. eh. mixte 24.5.1975 - Cafes Jacques Vabre, dazu ausführlich m.w.N. unten 4. Kap. B. II. 2. a). 33 So die Feststellung von Lagrange RTDE 1969, 240 (251); Blondeau in: Reuter u.a. (Hrsg.), 43 (61). 34 Zu dieser aus der 3. Republik überkommenen Lösung, der sog. Matter-Doktrin, s. noch u. 4. Kap. B. I. I. 35 Zu dieser Praxis, die schon wegen Art. 177 EWGV für die Auslegung des Gemeinschaftsrechts nie eine Rolle gespielt hat, und ihrem Ende s.u. 4. Kap. B. H. 3. e) aa).
36 So im Fall des Konflikts zwischen dem 1938 eingeführten Erfordernis einer "carte d'identite de commer9ant etranger" und zahlreichen bilateralen Abkommen aus dem 19. Jahrhundert, die den Staatsangehörigen dieser Vertragsstaaten Inländerbehandlung zugestanden und teils ausdrücklich die erlaubnisfreie Ausübung selbständiger Berufe garantierten, so etwa das französisch-spanische Niederlassungsabkommen vom 7. I.I 862: Da das Abkommen nach der seinerzeit als verbindlich angesehenen Auslegung durch das französische Außenministerium nur das Recht zur Niederlassung, nicht aber dessen
A. Überblick über den Normenbestand
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Im tatsächlichen Ergebnis wurde damit der Vertrag nicht nur in seiner innerstaatlichen Anwendbarkeit, sondern auch in seinem Rang dem Gesetz gleichgestellt, wie dies bereits auch ohne ausdrückliche Regelung unter der Verfassung der 3. Republik der Fall gewesen war: Art. 26 der Verfassung (ltLes traites ... ont force de loi lt ) gewann so die Oberhand über Art. 28 37 • Die Verfassung der 4. Republik konnte daher trotz des ungelösten Verhältnisses von Vertrag und Verfassung jedenfalls im Ergebnis materiellrechtlich einem reinen Monismus zugeordnet werden 3M ; nach den prozessualen Ergebnissen der Ausübung (!) garantiere, wurde die "carte d'identite de commenrant etranger" auch flir spanische Staatsangehörige zur Voraussetzung der Berufsausübung, s. die Parallelentscheidungen CE Ass. 18.3.1955 - Franco, Rec. 167; CE Ass. 18.3.1955 - Vilanova, Rec. S. 167 = A10A 1955, 254 mit den (gemeinsamen) Schlußanträgen von Regierungskommissar Laurent; CE Ass. 18.3.1955 - Bertrina, RCDIP 1956, 48 (2. Entscheidung) m.Anm. Simon-Depitre; schließlich auch Cass. crim. 16.10.1958 - Procureur general pres la Cour de Colmar c. Mongelluzzo, RCDIP 1961, 136 (I. Entscheidung) m.Anm. Batiffol; Cass. crim. 2.1.1959 - Procureur general pres la Cour de Douai c. Coll, RCDIP 1961, 136 (2. Entscheidung) m.Anm. Batiffol; s. dazu ausflihrlich Lardy Force obligatoire (1966), 138 ff; Bergsten Community Law (\973),86 ff; Peuchot RDP 1989, 1095 ff. Der CE, der seit der Entscheidung CE Ass. 29.6.1990 - GISTI, Rec. S. 171 (w. Nachw. s.u. 4. Kap. B. 11. 3. e) aa) die Vorlage an das Außenministerium zur Vertragsauslegung nicht mehr praktiziert, hat nunmehr die Gelegenheit genutzt, die eindeutig mißbräuchliche seinerzeitige Auslegung als unmaßgeblich zu bezeichnen und statt dessen das Abkommen korrekt (und vorrangig) anzuwenden, CE 21.12.1994 - Serra Garriga, Rec. S. 569 = RCDIP 1995,291 m. Anm. Lagarde. 37 s. etwa Questiaux in: Reuter u.a. (Hrsg.), 63 (67); Blondeau in: Reuter u.a. (Hrsg.), 43 (45 ft); Francescakis RCDIP 1969, 425 (432 f, 435); Dubouis AFDI 1971,9 (47 ft); s. auch die Formulierung in CE Sec!. 22.12.1961 - SNCF, Rec. S. 738 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Combarnous = AJDA 1962, 46 m.Anm. Galabert / Gentot S. 14 (15 ft), einer der ersten Entscheidungen des CE zum Gemeinschaftsrecht überhaupt: " ... ces conventions, regulierement ratifiees et publiees en France, ont de ce fait, tant en vertu des dispositions de I'article 26 de la Constitution du 27 octobre 1946 alors en vigueur qu'en vertu de celles de I'article 55 de la Constitution du 4 octobre 1958, acquis force de loi ... ". Aus der Rechtsprechung der ordentlichen Gerichte ebenfalls im Sinne dieser Formulierung: Cass. com. 2.2.1954 - Ste Schweppes C. Administration de l'Enregistrement, Gaz. Pa!. 1954, 1,332; Cass. civ. Ire 6.7.1954 - Procureur general de la Cour de cassation C. Ste immobiliere Dehodencq, 101 1956, 136 m.Anm. Sial/eli = RCDIP 1954, 612 mit den Schlußanträgen von Generalanwalt Rey U. Anm. Lenoan. 3M S. etwa Niboyet D. 1946 chr. 89; Delaume 101 1953, 584 (608); ToujJait Melanges Ancel (\975), 379 (388 ft); zurückblickend Carreau Droit international (4.A. 1994) S. 56 f Rn 125: "A I'epoque, ces princpes furent interpretes comme signifiant qu'un traite regulierement conclu par la France etait superieur non seulement par rapport aux lois ordinaires mais aussi a la Constitution .... Cette solution pouvait etre expliquee, au moins en partie, par la quasi-inexistence d'un contröle de constitutionnalite des lois et,
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2. Kapitel: Stellung in der französischen Rechtsordnung
Rechtsanwendung vor Gericht dagegen bestand kaum ein Unterschied zu dualistischen Systemen, die eine Wirkung des Vertrages in der innerstaatlichen Rechtsordnung nur auf dem Weg über und mit der Autorität des Zustimmungsgesetzes zulassen. 11. Die 5. Republik
Anders als in den ersten Jahren der 5. Republik vermutet worden wai1 9 und zum Teil auch noch heute apodiktisch behauptet wird40 , sind die verfassungsrechtlichen Eckdaten der internationalen und europäischen Integration Frankreichs durch die Verfassung vom 4. Oktober 1958 in materiellrechtlicher Hinsicht kaum verändert worden 41 • Zwar wird nunmehr die nationale Souveränität besonders augenflillig - insgesamt sechsfach - erwähnt, der Grundton der Verfassung der 5. Republik ist also - entsprechend den Vorstellungen ihrer Gründer - deutlich nationaler geworden. Immerhin wird aber auch der Einhaltung der völkerrechtlichen Verträge Frankreichs besondere Bedeutung zugemessen: Gemäß Art. 5 der Verfassung sichert der Präsident der Republik sie ebenso wie die nationale Unabhängigkeit42 • donc, par la possibilite pour de simples lois ordinaires de ne pas etre conformes a la Constitution de 1946; dans ces conditions, un traite international, reconnu expressement superieur aux lois internes, pourrait egalement deroger au texte constitutionnel." 39 s. etwa Lardy Force obligatoire (1966), 100, der vom Außerkrafttreten der Präambel von 1946, insbes. ihres Abs. 14 ausgeht. 40 So z.B. Luchaire RTDE 1979, 393 (415 f); Isaac in: Rep. dr. comm. Stichwort Primaute du droit communautaire Rn 37 sowie Favoreu RGDIP 1993, 39 (40 f), der die wenig integrationsfreundliche Rechtsprechung des CC in den 70er Jahren auf die Inspiration der Verfassung der 5. Republik zurückfuhrt; daran ist richtig, daß die maßgeblichen Personen (de Gaulle, Michel Debre) der europäischen Idee im Gewand des EWGV ablehnend gegenüberstanden, doch ist dies im Text der Verfassung nicht zum Ausdruck gekommen. 41 So zu Recht Vedel Pouvoirs Nr. 2, 1977,23 (24); ders. in: La Constitution et I'Europe (1992), 23 (26); de Villiers JCP 1978 I 2895; Constantinesco / Jacque in: Koenig / Rüfner (1985),175 (188). 42 Art. 5 Abs. 2 in der Fassung des verfassungsändernden Gesetzes vom 4.8.1995 (JORF 5.8.1995, S. 11744): "11 est le garant de I'independance nationale, de I'integrite du territoire et du respect des traites." Der durch die Verfassungsänderung entfallene Bezug auf die "accords de Communaute" betraf die in Art. 77 - 87 der Verfassung vorgesehene Communaute zwischen Frankreich und seinen ehemaligen Kolonien; auch diese Artikel selbst sind im Rahmen der Verfassungsänderung vom 4.8.1995 gestrichen worden.
A. Überblick über den Normenbestand
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Auf die maßgeblichen intemationalrechtlichen Bestimmungen der Verfassung hat sich diese nationalere Färbung nur am Rande ausgewirkt, was wohl auch mit der Tatsache zu erklären ist, daß diesem Teil der Verfassung bei ihrer Erarbeitung nur wenig Interesse zuteil wurde 43 ; Hinsichtlich der innerstaatlichen Anwendbarkeit der Verträge einschließlich des Sekundärrechts haben sich keinerlei Änderungen ergeben, auch der Rang der Verträge im Verhältnis zum Gesetz ist im wesentlichen bestätigt worden. Gleichzeitig ist auch - wie die Rechtsprechung des Conseil constitutionnel in den 70er Jahren herausgearbeitet44 hat - über die Vermittlung der Präambel der Verfassung von 1958 auch die Präambel der Verfassung von 1946 einschließlich ihrer intemationalrechtlichen Bestimmungen geltendes Recht geblieben; diese, insbesondere ihr 15. Absatz, bestimmten bis zur Ergänzung der Verfassung anläßlich der Ratifikation des Unionsvertrags die Diskussion um die Verfassungsmäßigkeit der europäischen Integration. 1. Das materielle Recht
a) Das Verhältnis zwischen Vertrag und Verfassung
Auch unter der 5. Republik sind aber aus Abs. 15 der Präambel keine Folgerungen rur die Struktur des Verhältnisses zwischen Gemeinschaftsrechtsordnung und nationaler Rechtsordnung gezogen worden. Die Bestimmung des Rangs sämtlicher völkerrechtlicher Verträge in der innerstaatlichen Rechtsordnung wird vielmehr den Art. 54 und 55 der Verfassung zugeordnet. Da das Zusammenspiel dieser beiden Verfassungsbestimmungen dem völkerrechtlichen Vertrag einen Rang unterhalb der Verfassung, aber oberhalb der Gesetze zuweist4S , führt dies dazu, daß das Gemeinschaftsrecht im Ganzen - das heißt unter anderem; einschließlich des Sekundärrechts - auf dieser Zwischenstufe der französischen Normenhierarchie angesiedelt und somit in die französische Rechtsordnung integriert wird.
43 So das Fazit von Favoreu in: L'ecriture de la Constitution (1992), 577; s. auch schon Rambaud RGDIP 1977,617 (618); Sabourin RMC 1976,305. Die Entstehungsgeschichte der Verfassung der 5. Republik (einschließlich ihres internationalrechtlichen Teils) ist inzwischen durch die aus Anlaß des dreißigsten Jahrestages der Verfassung erstellte dreibändige Dokumentation (Documents pour servir a I'histoire de I'elaboration de la Constitution du 4 octobre 1958 [DPS), 3 Bände 1987 - 1991) detailliert erfaßt. 44
4S
Zu dieser Rechtsprechung im einzelnen unten 3. Kap. A. I. 2. Dazu im Einzelnen unten 3. Kap. A. I. 1.
2. Kapitel: Stellung in der französischen Rechtsordnung
56
Als neue Frage hat sich mit dieser grundsätzlichen Klärung allerdings das Problem ergeben, die konkreten Anforderungen an die Verfassungsmäßigkeit eines Vertrages - und insbesondere an die europäische Integration - zu ermitteln 46 •
b) Das Verhältnis zwischen Vertrag und Gesetz Auch die Art. 27 und 28 der Verfassung der 4. Republik, die erstmals den Grundsatz des Vorrangs der Verträge gegenüber nationalen Gesetzen formuliert hatten, wurden in Art. 55 der neuen Verfassung47 zusammengeführt und inhaltlich im wesentlichen beibehalten: Neu ist auf materiellrechtlicher Seite allein der Vorbehalt der Gegenseitigkeit in der Anwendung der Verträge 4 \ der nunmehr die Gewährung des Vorrangs konditioniert.
2. Die prozessuale Durchsetzung des Rangs
Die Frage der prozessualen Durchsetzung des Rangs wird unter der 5. Republik vor allem durch die Existenz des neu eingerichteten Conseil constitutionnel 49 beherrscht, der erstmals zum einen gemäß Art. 54 der Verfassung die Verfassungsmäßigkeit der Verträge vor ihrem verbindlichen Abschluß, zum anderen gemäß Art. 61 der Verfassung die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze vor ihrer Verkündung überprüfen konnte.
46
Dazu im Einzelnen unten 3. Kap. A. 11.
47
Art. 55:
"Les traites ou aecords regulierement ratifies ou approuves ont, des leur publication, une autorite superieure a eelle des lois, sous reserve, pour chaque accord ou traite, de son application par I'autre partie." 48 49
Zu diesem im Einzelnen unten 4. Kap. A. 111. 3. Zum
ce
aus der deutschsprachigen Literatur in neuerer Zeit Savoie in: Grabitz
(1987),203 ff; Fromont in: Starck / Weber Bd. I (1986),309 ff; vergleichend zwischen Deutschland und Frankreich Koenig in: ders. / Rüfner (1985), I ff.
A. Überblick Ober den Normenbestand
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a) Im Verhältnis zwischen Vertrag und Verfassung aa) Die neuen Kontrollmechanismen Die zentrale Neuerung der Verfassung der 5. Republik im Bezug auf den Status des internationalen Rechts liegt tatsächlich nicht auf materiellrechtlichem Gebiet, sondern besteht in der erstmaligen Eröffnung der Möglichkeit, die Verfassungsmäßigkeit eines noch nicht verbindlichen Vertrages durch den neu eingerichteten Conseil constitutionnel präventiv überprüfen zu lassen 5o • Ein Streit wie die in den 50er Jahren unter der 4. Republik geführte Kontroverse um die Verfassungsmäßigkeit der EVG war damitjustiziabel geworden. Wie sich in der Folge gezeigt hat, eröffnet die Verfassung zwei parallele Wege zur präventiven Prüfung der Verfassungsmäßigkeit noch nicht verbindlich abgeschlossener völkerrechtlicher Verträge. a) Die präventive Kontrolle des Vertrages auf dem Weg über Art. 54 der Verfassung
Die Möglichkeit der Anrufung des Conseil constitutionnel auf der Grundlage von Art. 54 der Verfassung war von Anfang an in der Verfassung der 5. Republik als Mittel der Überprüfung völkerrechtlicher Verträge am Maßstab der Verfassung vorgesehen 51 • Der Zugang zu diesem Instrument war allerdings bis in das Jahr 1992 auf die vier obersten Staatsorgane - Präsident, Premierminister sowie die Präsidenten von Nationalversammlung und Senat - beschränkt. Der Mechanismus wurde dieser beschränkten Anrufungsmöglichkeiten entsprechend auch nur selten genutd 2• Die Existenz dieser - wenn auch wenig genutz-
So auch Fromont FS Börner (1992), 77 (78). Art. 54: "Si le Conseil constitutionnel, saisi par le President de la Republique, par le Premier ministre ou par le pn!sident de I'une ou de l'autre assemblee ou par soixante deputes ou soixante senateurs, a declare qu'un engagement international comporte une clause contraire a la Constitution, I'autorisation de le ratifier ou de l'approuver ne peut intervenir qu'apn::s la revision de la Constitution." Der kursiv gestellte Satzteil (ou par soixante deputes ou soixante senateurs) ist durch die Verfassungsänderung zur Ermöglichung der Ratifikation des Unionsvertrags eingefügt worden (Loi constitutionnelle No 92-554 du 25.6.1992 ajoutant a la Constitution un titre: "Des Communautes europeennes et de l'Union europeenne", JORF 26.6.1992, S. 8406). 50 51
52 s. zu den einzelnen Fällen 3. Kap. A. H. I. a) aa) / bb) / cc) sowie nochmals 3. Kap. B. I. I. a).
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2. Kapitel: Stellung in der französischen Rechtsordnung
ten - Klärungsmöglichkeit ist zugleich das zentrale Argument rur die nunmehr wohl herrschende Ansicht, nach der die Verfassung der 5. Republik die Frage nach dem Verhältnis zwischen Vertrag und Verfassung zugunsten der Verfassung entschieden hat. Ein materiellrechtlicher Maßstab rur die Anforderungen an die Verfassungsmäßigkeit des Vertrages wird von Art. 54 allerdings nicht definiert53 •
ß) Die präventive Kontrolle auf dem Weg über das Zustimmungsgesetz gemäß Art. 61 Abs. 2 der Verfassung Die Überprüfung des Vertrages durch den Conseil constitutionnel auf dem Weg über das Zustimmungsgesetz wurde dadurch ermöglicht, daß der Abschluß völkerrechtlicher Verträge in den wesentlichen Materien - darunter alle Fragen, die gemäß Art. 34 der Verfassung der Zuständigkeit des Gesetzgebers unterfielen, aber auch unabhängig davon alle Verträge hinsichtlich internationaler Organisationen - gemäß Art. 53 der Verfassung54 durch Gesetz gebilligt werden muß. Die Rechtsprechung des Conseil constitutionnel hat in Anknüpfung an diesen Mechanismus in rechtsschöpferischer Weise eine Kontrolle des durch das Gesetz gebilligten Vertrages auf dem Umweg über das Zustimmungsgesetz zugelassen 55 • Von Bedeutung ist diese damit parallel zu Art. 54 der Verfassung bestehende Prüfungsmöglichkeit vor allem deshalb, weil seit der Verfassungsänderung von 1974 die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes auf der Grundlage von Art. 61 Abs. 2 der Verfassung 56 - anders als nach Art. 54 - auch
53 So bereits Vedel Pouvoirs Nr. 2, 1977, 23 (24): " ... si ces textes evoquent une possibilite - le contlit de la Constitution et du traite - et enoncent la superiorite de la premiere sur le second, ils ne reglent pas pour autant le probleme de savoir quels traites sont inconstitutionnels. " 54 Art. S3 Abs. 1: "Les traites de paix, les traites de commerce, les traites ou accords relatifs a I'organisation internationale, ceux qui engagent les finances de l'Etat, ceux qui modifient des dispositions de nature legislative, ceux qui sont relatifs a I'etat des personnes, ceux qui comportent cession, echange ou adjonction de territoire, ne peuvent etre ratifies ou approuves qu 'en vertu d'une loi." 55 Dazu im Einzelnen unten 3. Kap. B. I. I. b). 56 Art. 61 Abs. 1: "Les lois organiques, avant leur promulgation, et les reglements des assemblees parlementaires avant leur mise en application, doivent etre soumis au Conseil constitutionnel qui se prononce sur leur conformite a la Constitution."
A. Überblick über den Normenbestand
59
von jeweils 60 Abgeordneten der Nationalversammlung oder Mitgliedern des Senats beantragt werden konnte. Auf diese Weise bestanden deutlich größere Aussichten, daß verfassungsrechtlich zweifelhafte Abkommen auch tatsächlich einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung ausgesetzt würden. bb) Die Grenzen der Kontrolle Die materiellrechtliche Unterordnung der völkerrechtlichen Verträge und damit auch des Gemeinschaftsrechts unter die Verfassung erlaubt gemeinschaftsrechtlich haltbare, d.h. im Ergebnis den Vorranganspruch des Gemeinschaftsrechts wahrende Ergebnisse nur deshalb, weil sie im Konfliktfall prozessual nicht durchgesetzt wird. Die vom Conseil constitutitionnel ausgeübte Kontrolle ist grundsätzlich!7 rein präventiver Natur; sie betrifft also nur noch nicht in Kraft gesetzte Verträge, so daß ein Konflikt der Verfassung mit dem Geltungsanspruch eines Vertrages nicht entstehen kann. Die Fachgerichte ihrerseits schließen eine Verfassungskontrolle der Verträge generell ebenso aus, wie ihnen eine Verfassungskontrolle der Gesetze verschlossen bleibt. Die Frage nach verfassungsrechtlichen Schranken der Integration kann also sinnvoll und gerichtlich durchsetzbar nur im Vorfeld des Abschlusses neuer Verträge gestellt werden. Das geltende Gemeinschaftsrecht -wiederum einschließlich des Sekundärrechts - ist einer Verfassungskontrolle damit im Grundsatz nicht mehr ausgesetzt!8.
Art. 61 Abs. 2 (in der Fassung des loi constitutionnelle No 74-904 du 29.10.1974 portant revision de l'artic1e 61 de la Constitution, JORF 30.10.1974, S. 11035): "Aux memes fins, les lois peuvent etre deferees au Conseil constitutionnel, avant leur promulgation, par le Prt!sident de la Republique, le Premier ministre, le president de l'Assemblee nationale le president du Senat ou soixante deputes ou soixante senateurs. " Art. 61 Abs. 3: "Dans les cas prevus aux deux alineas precedents, le Conseil constitutionnel doit statuer dans le delai d'un mois. Toutefois, a la demande du gouvernement, s'il y a urgence, ce delai est ramene a huit jours." Art. 61 Abs. 4: "Dans ces memes cas, la saisine du Conseil constitutionnel suspend le delai de promulgation." 57 Zu richterrechtlichen Ausdehnungen durch den CC s.u. 3. Kap. B. I. 3. a). 58 Dazu im Einzelnen unten 3. Kap. B. I. 2. rur den Conseil constitutionnel und 3. Kap. B. II. I. rur die Fachgerichte.
60
2. Kapitel: Stellung in der französischen Rechtsordnung
b) 1m Verhältnis zwischen Vertrag und Gesetz
Auch an den Defiziten der Durchsetzung des Vertrages gegenüber dem - materiellrechtlich eindeutig rangniederen - Gesetz hat die Verfassung der 5. Republik zunächst nichts geändert. Die neue Einrichtung des Conseil constitutionnel begründete sogar einen zusätzlichen Argumentationsstrang gegen die Durchsetzung dieses Vorrangs durch die Fachgerichte: Die nunmehr mögliche präventive Kontrolle des Gesetzgebers durch den Conseil constitutionnel auf dem Weg über Art. 61 der Verfassung konnte auch die Frage des gesetzlichen Verstoßes gegen völkerrechtliche Verträge (und damit mittelbar gegen die in der Verfassung vorgezeichnete Normenhierarchie) umfassen; in diesem Fall würde die als ausschließlich anzusehende Zuständigkeit des Conseil constitutionnel gemäß Art. 61 der Verfassung eine parallele Kontrolle durch die Fachgerichte ausschließen. Trotz des scheinbar eindeutigen Wortlauts von Art. 55 der Verfassung ist daher 30 Jahre lang das zentrale Durchsetzungsproblem des Gemeinschaftsrechts in der französischen Rechtsordnung nicht das Verhältnis zwischen Vertrag und Verfassung, sondern das Verhältnis des Vertrages zum nachfolgenden (einfachen !) Gesetz gewesen: Im Ergebnis stellten sich damit - wenn auch aus anderen Gründen - dieselben Probleme, die auch auf der Grundlage einer dualistischen Konzeption des Verhältnisses zwischen Vertrag und innerstaatlicher Rechtsordnung entstanden wären 59 • Die Haltung der Fachgerichte zur Vorstellung einer Kontrolle des Gesetzes blieb im Grundsatz auch unter der 5. Republik unverändert: Eine Überprüfung des Gesetzes am Maßstab der Verfassung blieb weiter ausgeschlossen 6o , wofür 59 So die konsternierte Feststellung von Colliard Melanges Waline Bd. I (1974), 187 (201 ).
60 So aus der Rechtsprechung des CE: CE Ass. 8.5.1964 - Ste La verrerie cristallerie d'Arques, G. Durand et Cie, Rec. S. 279 = JCP 1964 11 13733 (2. Entscheidung) m.Anm. Hemard; CE Sect. 15.\0.1965 - Union federale des magistrats et Reliquet, Rec. S. 515; CE Sect. 8.7.1966 - Nguyen Kim Hai", Rec. S. 457; aus neuerer Zeit etwa CE Ass 20.\0.1989 - Roujansky, LPA 1989 Nr. 137, 15.11.1989, \0 = JCP 198911 21371 (2. Entscheidung) mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Frydman (zu dieser Entscheidung noch unten 4. Kap. B. 11. 3. d) aa) sowie die im 5. Kap. B. 11. I. bei Fn 53 nachgewiesenen Entscheidungen. Für die ordentlichen Gerichte Cass. civ. Ire 1.10.1986 - Epoux Guillot, JCP 1987 11 20894 m.Anm. Agostini; Cass. crim. 7.5.1987 - Schleicher / Halfen, Bull. crim. No 186, S. 497 = Rev. sc. crim. 1987, 625 m.Anm. Koering-Joulin S. 621 (zu diesen Entscheidungen unten 4. Kap. B. II. 2. b) mit Fn 260) sowie Cass. crim. 18.11.1985 - Gibourdel, Bull. crim. No 359, S. 918; Cass. crim. 24.7.1985 - Baptiste et autre c. X, D. 1986 jp.
A. Überblick über den Normenbestand
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sich unter der 5. Republik neben den traditionellen, aber immer weniger überzeugenden Gründen nunmehr die tragfähige Begründung einer ausschließlichen Zuständigkeit des Conseil constitutionnel anfuhren ließ. Zugleich hat vor allem der Conseil d'Etat diese Argumentation und die aus ihr folgende Selbstbeschränkung auch auf das Verhältnis zwischen Vertrag und Gesetz übertragen: Danach blieb es trotz des durch Art. 55 der Verfassung erneuerten Anordnung des Vorrangs des Vertrages im Ausgangspunkt bei den schon unter der 3. Republik anerkannten Lösungen. Der jüngere Vertrag konnte sich als "lex posterior" gegenüber dem Gesetz durchsetzen, der ältere Vertrag würde dagegen vom später ergangenen Gesetz verdrängt. Die traditionelle Gleichsetzung von Vertrag und Gesetz hat sich damit vor allem in der Rechtsprechung über lange Zeit gegen die - immerhin seit 1946 geltende - Rangzuweisung behauptet. Die Selbstbeschränkung der Fachgerichte hinsichtlich der Durchsetzung der Normenhierarchie hat den Geltungsanpruch des Gemeinschaftsrechts damit über lange Zeit auf der einen Seite - im Verhältnis zwischen Vertrag und Verfassung - befördert, auf der anderen Seite - im Verhältnis zwischen Vertrag und nachfolgendem Gesetz - behindert. Rein theoretisch hätte auch der einfache Gesetzgeber auf diese Weise sogar den Geltungsanspruch der Verfassung gegenüber dem Vertrag durchsetzen können: Möglich wäre dies durch erneuten Erlaß der betroffenen Verfassungsbestimmung nunmehr im Rang eines einfachen Gesetzes; dieses stünde dann im materiellem Rang zwar unter dem Vertrag, würde diesem aber zeitlich nachfolgen und damit gegenüber dem Vertrag als "lex posterior" gelten. Heute gilt diese Gleichsetzung von Vertrag und Gesetz vor den Fachgerichten dagegen nur noch partiell, nämlich insoweit, als die Kontrolle von Vertrag wie Gesetz am Maßstab der Verfassung ausgeschlossen bleibt61 •
220 m.Anm. Marchi = Gaz. Pal. 1986, 1,47 (zu diesen Entscheidungen s. noch 3. Kap. B. I. 4. a) bb) ß) mit Fn 245 und 251). 61 Dazu unten 3. Kap. B. 11. I.
2. Kapitel: Stellung in der französischen Rechtsordnung
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B. Neue Entwicklungen: Ansätze einer verfassungsrechtlichen Sonderstellung des Gemeinschaftsrechts und Vollendung des nationalen Rechsschutzsystems I. Ein gesonderter Status der europäischen Integration auf Verfassungsebene
Nicht nationale Umwälzungen, sondern der immer anspruchsvollere Fortgang der europäischen Integration in Verbindung mit der unter der 5. Republik bestehenden Möglichkeit einer präventiven Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit neu einzugehender völkervertraglicher Verpflichtungen durch den Conseil constitutionnel hat nunmehr dazu geflihrt, daß binnen kurzer Frist gleich zweimal die Verfassung spezifisch zugunsten der europäischen Integration geändert wurde 62 ; die "Gemeinschaftsblindheit" der französischen Verfassung hat damit ein Ende gefunden, was den Status des Gemeinschaftsrechts in den meisten Bereichen insbesondere im Verhältnis zu nationalen Rechtsnormen im Rang unter der Verfassung - allerdings nach ganz überwiegender Auffassung nicht verändert hat.
1. MateriellrechtIiche Klärungen zur Verfassungsmäßigkeit
der Integration: Art. 88-1 bis -4 n.F. der Verfassung
Die erste Änderung wurde erforderlich im Rahmen der Ratifikation des Unionsvertrages, nachdem der Conseil constitutionnel - paradoxerweise in seiner ersten offen "gemeinschaftsfreundlich" inspirierten Entscheidung - der Integration zwar einen gegenüber der älteren Rechtsprechung deutlich erweiterten verfassungsrechtlichen Spielraum zugestanden, auch diesen erweiterten Spielraum aber in einzelnen Bereichen (Währungsunion, Visapolitik, Kommunalwahlrecht) als durch Maastricht überschritten angesehen hatte: Entsprechend detailbezogen fielen auch die darauf in die Verfassung eingefligten Art. 88-2 und 88-3 aus 63 ,
62
Dazu im Einzelnen unten 3. Kap. A. III.
Loi constitutionnelle No 92-554 du 25.6.1992 ajoutant a la Constitution un titre "Des Communautes europeennes et de l'Union europeenne", JORF 26.6.1992, S. 8406: Art. 88-2: "Sous reserve de reciprocite, et selon les modalites prevues par le traite sur l'Union europeenne signe le 7 fevrier 1992, la France consent aux transferts de competences necessaires a I'etablissement de I'Union Economique et Monetaire europeenne ainsi qu'a la 63
B. Neue Entwicklungen
63
Der neue Art. 88-1 6\ der bei dieser Gelegenheit als Einleitung der gemeinschaftsbezogenen Bestimmungen der Verfassung eingefügt worden war, eröffnet über die Ennöglichung der Ratifikation des Unionsvertrag hinaus jedoch weitergehende Perspektiven: Ohne daß man mit einer Minderheit in der Literatur aus dieser Bestimmung die Erhebung des Gemeinschaftsrechts in Verfassungsrang herleiten müßte, ennöglicht sie in gemeinschaftsrechtskonfonner Weise die Einruhrung auch der nachträglichen Kontrolle völkerrechtlicher Verträge am Maßstab der Verfassung - denn da mit Art. 88-1 der Verfassung jedenfalls nach einer naheliegenden Interpretation global die Verfassungsmäßigkeit des geltenden Gemeinschaftsrechts statuiert, stünde das positive Ergebnis einer solchen Kontrolle rur das Gemeinschaftsrecht - anders als möglicherweise für andere, nicht durch eine solche Sonderbestimmung in Bezug genommene völkerrechtliche Verträge - fest. Auf diese Weise würde es möglich, in gemeinschaftsrechtskonfonner Weise die Legitimationsprobleme zu beseitigen, die im Fall der Einruhrung einer nachträglichen Verfassungskontrolle der Gesetze durch den Ausschluß dieser Kontrolle der Verträge entstehen würden; andernfalls erhielten die weiter unantastbaren Verträge einen zumindest rechtfertigungsbedürftigen prozessualen Sonderstatus gegenüber der Verfassung.
2. Die Verfassungsänderung zugunsten des Schengener Abkommens
Die zweite "integrationsspezifische" Änderung der Verfassung von 1958 betraf die Teilnahme Frankreichs am Schengener System: Nachdem der Conseil constitutionnel in einer höchst kontroversen Entscheidung vom 13.8.1993 entschieden hatte, daß nur eine "hinkende", d.h. die nochmalige Überprüfung von determination des n!:gles relatives cl au franchissement des frontieres exterieures des Etats membres de la Communaute europeenne." Art. 88-3: "Sous reserve de n:ciprocite et selon les modalites prevues par le traite sur l'Union europeenne signe le 7 fevrier 1992, le droit de vote et l'eligibilite aux elections municipales peut etre accorde aux seuls citoyens de l'Union residant en France. Ces citoyens ne peuvent exercer les fonctions de maire ou d'adjoint ni participer cl la designation des electeurs senatoriaux et a l'election des senateurs. Une loi organique votee dans les memes termes par les deux assemblees determine les conditions d'application du present article." Der Text von Art. 88-4 ist wiedergegeben im 3. Kap. A. 11. 2. a) bb) y) mit Fn 356 und 358. 64 Art. 88-1 : "La Republique participe aux Communautes europeennes et cl l'Union europeenne, constituees d'Etats qui ont choisi librement, en vertu des traites qui les ont instituees, d'exercer en commun certaines de leurs competences".
64
2. Kapitel: Stellung in der französischen Rechtsordnung
bereits in anderen Mitgliedstaaten abgelehnten Asylanträgen zulassende Teilnahme mit der Asylrechtsgewährleistung der Verfassung vereinbar war, hat der verfassungsändernde Gesetzgeber diese Erkenntnis durch Einfügung einer auf das Schengener System zugeschnittene Ausnahmeregel dementiert: Auf diese Weise entstand der neue Art. 53-1 n.F der Verfassung 65 . 11. Die Annäherung von materiellem Recht und prozessualen Durchsetzungsmöglichkeiten 1. Vervollständigung des nationalen Rechtsschutzsystems durch Einführung einer nachträglichen Verfassungskontrolle?
Die in den letzten Jahren verschiedentlich unternommenen Bestrebungen, die Beschränkung der Verfassungskontrolle auf eine rein präventive Überprüfung jedenfalls im Fall nationaler Gesetze aufzubrechen und auch die Kontrolle bereits geltenden Rechts am Maßstab der Verfassung im Wege der Richtervorlage an den Conseil constitutionnel ("exception d'inconstitutionnalite") zu ermöglichen, können auch die Stellung der bereits geltenden Verträge in der nationalen Rechtsordnung beeinflussen. Würden sie in dieses System einbezogen, so wäre das bisher bestehende Gleichgewicht von materiellem Vorranganspruch der Verfassung und prozessualer Unüberprüfbarkeit des geltenden Vertragsrechts zerstört. Insofern verfolgen die spürbare Tendenz zur Vervollständigung des Rechtsstaats und die ebenfalls sichtbare stärkere Öffnung der nationalen Rechtsordnung Ziele, die miteinander in Konflikt geraten können 66 • Schon aus Anlaß der bisher erfolgten vorsichtigen richterrechtlichen Ausweitung der Kontrolle
65 So die Ergänzung durch das Loi constitutionnelle No 93-1256 du 25.11.1993 relative aux accords internationaux en matiere de droit d'asile, JORF 26.11.1993, S. 16296: Art. 53-1 Abs. I: "La Republique peut conclure avec les Etats europeens qui sont lies par des engagements identiques aux siens en matiere d'asile et de protection des droits de I'homme et des libertes fondamentales, des accords determinant leurs competences respectives pour l'examen des demandes d'asile qui leur sont presentees." Art. 53-1 Abs.2: "Toutefois, meme si la demande n'entre pas dans leur competence en vertu de ces accords, les autorites de la Republique ont toujours le droit de donner asile atout etranger persecute en raison de son action en faveur de la liberte ou qui sollicite la protection de la France pour un autre motit". 66 So zu Recht Grewe / Ruiz Fahri RUDH 1992,277 (280 Fn 27): " ... une certaine incompatibilite entre le developpement du contröle de constitutionnalite au nom de l'Etat de droit et le respect des engagements internationaux au nom d'une plus grande ouverture a l'ordre international."
B. Neue Entwicklungen
65
des Conseil constitutionnel auf bereits geltendes Gesetzesrecht aus Anlaß der Überprüfung von Gesetzesänderungen hatte sich die Frage gestellt, ob damit auch der Status geltender Verträge berührt werden könnte 67 • Anders als andere Verträge scheint das Gemeinschaftsrecht gegenüber der Eventualität einer solchen nachträglichen Kontrolle am Maßstab der Verfassung aber nun weitgehend abgesichert: Selbst wenn eine solche nachträgliche Kontrolle am Maßstab der Verfassung auch völkerrechtliche Verträge (oder die betreffenden Zustimmungsgesetze) einbeziehen sollte, scheint durch den neuen Art. 88-1 der Verfassung doch geklärt, daß Frankreichs Teilnahme an der europäischen Integration und damit auch das geltende Gemeinschaftsrecht - trotz des fortbestehenden Vorranganspruchs der Verfassung - generell verfassungskonform ist68 •
2. Klärung der Durchsetzung des Vertrages gegenüber nachfolgenden Gesetzen
Schließlich hat sich zum Ende der 80er Jahre auch die Durchsetzung des Vertrages im Verhältnis zum Gesetz in positiver Weise geklärt: Nachdem der Conseil constitutionnel bereits Mitte der 70er Jahre eine zwar vielfach kritisierte, aber seit dieser Zeit immer wieder bestätigte Rechtsprechung begründet hatte, nach der die Kontrolle der Vertragskonformität eines Gesetzes von der Überprüfung seiner Verfassungsmäßigkeit strikt zu trennen ist und damit auch nicht in den Zuständigkeitsbereich des Conseil constitutionnel im Rahmen einer Überprüfung nach Art. 61 der Verfassung flillt 69 , hatte zwar die Cour de cassation diese Rechtsprechung zum Anlaß genommen, nun ihrerseits die damit deutlich sichtbar gewordene Rechtsschutz-Lücke zu füllen, und das Gesetz am Maßstab des Vertrages zu messen. Der für die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts insbesondere in wirtschaftsverwaltungsrechtlichen Streitigkeiten ungleich wichtigere Conseil d'Etat dagegen hat an der klassischen Linie einer Verweigerung der Durchsetzung des älteren Vertrages bis zum 20.10.1989, dem Tag der berühmt gewordenen Nicolo-Entscheidung, festgehalten 70 • Erst seit dieser Entscheidung ist eine im Ergebnis einheitliche und zudem zu gemeinschaftsrechtskonformen Ergebnissen führende Rechtsprechung der drei Gerichtsbarkeiten festzustellen.
67
Dazu unten 3. Kap. B. I. 3. b).
68
Zu diesem Potential des Art. 88-1 der Verfassung s. u. 3. Kap. B. I. 4. b) bb) ß).
69
Dazu ausführlich unten 4. Kap. B. 11. I.
70
Zur Entwicklung der Rechtsprechung des CE in dieser Frage s.u. 4. Kap. B. 11. 3.
5 Gundei
2. Kapitel: Stellung in der französischen Rechtsordnung
66
III. Offene Fragen
Der Status des Gemeinschaftsrechts in der französischen Rechtsordnung hat sich damit seit dem Abschluß der Verträge noch in der 4. Republik in bemerkenswerter Weise entwickelt. War im Ausgangspunkt die Verfassungsmäßigkeit der Verträge zwar zweifelhaft, aber gerichtlich nicht in Frage zu stellen, so war gleichzeitig ihre Durchsetzung im täglichen Leben insbesondere gegenüber nachfolgendem Gesetzesrecht nicht gesichert. Heute ist die Verfassungsmäßigkeit der Verträge zwar nach wie vor prozessual nicht überprütbar, materiell aber scheint ein über Jahrzehnte hinweg fragliches - und nach der Rechtsprechung des Conseil constitutionnel in den 70er Jahren sogar ausgeschlossen scheinendes 71 - positives Ergebnis sichergestellt; gleichzeitig ist nunmehr auch die Durchsetzung gegenüber dem nachfolgenden Gesetz gesichert. Dennoch bleiben auch heute offene Fragen: Zum einen stellt sich weiter die Frage nach den verfassungsrechtlichen Schranken einer weiteren Integration 72 ; auch ist ungeklärt, ob derartige Schranken in allen Fällen durch Verfassungsänderung überwunden werden können, oder ob sich einer solchen Änderung im Extremfall ein auch für den verfassungsändernden Gesetzgeber nicht disponibler, änderungsfester Verfassungskern entgegenstellt73 • Als strukturelles Problem, das sich aus der grundsätzlichen Einordnung des Gemeinschaftsrechts als völkerrechtlicher Vertrag ohne Sonderstatus ergibt, stellt sich zudem die Frage nach dem Verhältnis des Gemeinschaftsrechts zu anderen von Frankreich abgeschlossenen und diesem möglicherweise widersprechenden völkerrechtlichen Verträgen 74 • Zum Abschluß dieses Überblicks ist anzumerken, daß die Grundstrukturen der Einordnung völkerrechtlicher Verträge in die französische Rechtsordnung in bemerkenswerter Weise den Lösungen ähneln, die - teils in den Gemeinschaftsverträgen angelegt, teils erst durch die Rechtsprechung des EuGH entwickelt für die Einordnung völkervertraglicher Verpflichtungen der Gemeinschaft in deren "Binnenrechtsraum" gelten 75 • Das gilt zum einen für die materiellrechtli-
Dazu unten 3. Dazu unten 3. 73 Dazu unten 3. 74 Dazu unten 6. 71
72
Kap. Kap. Kap. Kap.
A. 11. I. a) bb). A. 11 I. b). A. 111. B.
75 So auch die Feststellung von Pellet RCADE Vol. V-2 (1994), 193 (254) mit Blick auf die Lösungen des Gemeinschaftsrechts: "". un systeme parfaitement logique qui rappelle tres fortement les relations entre le droit franJ;ais et le droit international "."; für w. Nachw. s. Fn 81 ff.
B. Neue Entwicklungen
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chen Grundentscheidungen: Auch das Gemeinschaftsrecht optiert insoweit für einen "technischen" Monismus, der dem völkerrechtlichen Vertrag einen Stellenwert als eigene Rechtsquelle auch im innergemeinschaftlichen Rechtsraum zuerkennt. Auch fur das Gemeinschaftsrecht ist damit aber kein Vorrang gegenüber dem Primärrecht als "Verfassung" der Gemeinschaft verbunden: Parallel zur Lösung der französischen Rechtsordnung stehen die völkerrechtlichen Verträge der Gemeinschaft vielmehr nach ganz überwiegender Auffassung im Rang unter dem Primärrecht, aber über den sonstigen (autonomen) Rechtsakten des Sekundärrechts76 • Auch das Gemeinschaftsrecht in seiner Ausformung durch die Rechtsprechung des EuGH scheint hier einer Sonderbehandlung übergeordneter Integrationsgemeinschaften skeptisch gegenüberzustehen 77. Die Parallele setzt sich fort bei der Einordnung des - von den durch den jeweiligen Vertrag geschaffenen Organen gesetzten - Sekundärrechts: Es wird als Fortsetzung oder Verlängerung des zugrundeliegenden Vertrages diesem in seiner innergemeinschaftlichen Anwendbarkeit'8 und wohl auch im Rang gleichgestellt. Auch prozessual finden sich Parallelen: So ähnelt das Verfahren der präventiven Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit eines erst noch abzuschließenden Vertrages gemäß Art. 54 der Verfassung von 1958 stark dem Gutachtenverfahren gemäß Art. 228 Abs. 6 EGV. Auf der prozessualen Seite enden die Parallelen damit aber auch, insbesondere ist nach geltendem französischen Verfassungsrecht die nachträgliche Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit bereits abgeschlossener völkerrechtlicher Verträge ausgeschlossen, während nach der Rechtsprechung des EuGH die von der Gemeinschaft geschlossenen Abkommen auch nach diesem Zeitpunkt auf ihre Primärrechtskonformität überprüft 76
Dazu m.w.N. Grabitz / Hilf(-Vedder) Rn 53 zu Art. 228.
77
s. dazu Vedder GS Grabitz (1995), 795 ff.
78 s. nur EuGH 20.9.1990 Rs. C-I92 / 89 - Sevince gegen Staatssecretaris van 1ustitie, Sig. 1990, 1- 3461 (insbes. Tz. 10, 14) m.Anm. Huber NVwZ 1991, 242 ff; Gilsdorf EuZW 1991, 459 ff; EuGH 16.12.1992 Rs. C-237 / 91 - Kazim Kus gegen Landeshauptstadt Wiesbaden, Sig. 1992, I - 6781 = 1Z 1993, 836 m.Anm. Nachbaur = RIW 1993, 247 m.Anm. Rumpf sowie Anm. Huber NVwZ 1993, 246 ff; EuGH 21.1.1993 Rs. C-188 / 91 - Deutsche Shell AG gegen HZA Hamburg-Harburg, Sig. 1993, 1-363 (insbes. Tz. 17: "Wegen des unmittelbaren Zusammmenhangs, in dem sie mit dem Übereinkommen stehen, das sie durchführen, sind die Handlungen der durch ein solches internationales Übereinkommen geschaffenen und mit dessen Durchführung beauftragten Organe Teil der Gemeinschaftsrechtsordnung"); EuGH 5.10.1994 Rs. C-355 / 93 Hayriye Eroglu gegen Land Baden-Württemberg, Sig. 1994, I - 5113; s. dagegen BSozG 9.9.1986, BSozGE 60, 230 = NZA 1987, 789, das dem sekundären Assoziationsrecht mangels Umsetzung die innergemeinschaftliche Wirkung grundsätzlich abgesprochen hatte.
5'
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2. Kapitel: Stellung in der französischen Rechtsordnung
werden können und nur der verfahrensrechtliche Rahmen wechselt: Eine präventive Begutachtung gemäß Art. 228 EGV ist nach verbindlichem Abschluß des Abkommens zwar ausgeschlossen, entsprechende Anträge werden unzulässig 79 ; statt dessen ist nun aber eine Nichtigkeitsklage gemäß Art. 173 EGV gegen diesen Abschluß möglich Ko • In der französischen Literatur sind diese Parallelen KI und vor allem auch ihre Grenzen durchaus nicht unbemerkt geblieben; sie haben zu dem gegenüber der EuGH-Rechtsprechung erhobenen Vorwurf der Inkonsequenz getUhrt, nachdem dieser den von der Gemeinschaft eingegangenen vertraglichen Verpflichtungen den absoluten innergemeinschaftlichen Vorrang verweigert, den er seinerseits tUr die Gemeinschaftsrechtsordnung im Verhältnis zu den mitgliedstaatlichen Ordnungen verlangt K2 • Im Ergebnis ist dieser naheliegende Vorwurf natürlich nicht durchschlagend, eben weil der EuGH die Gemeinschaftsrechtsordnung
79 So EuGH 13.12.1995 - Gutachten 3 /94 - GATT-WTO-Rahmenabkommen über Bananen, Slg. 1995, I - 4577 mit dem Argument, daß hinreichender Rechtsschutz nach verbindlichem Abschluß des Abkommens durch das Instrument der Nichtigkeitsklage sichergestellt ist (Tz. 22); scharfe Kritik bei Everling 33 CMLRev (1996), 401 (427 f); die entsprechende Nichtigkeitsklage ist bereits erhoben, Rs. C-122 / 95 - Deutschland / Rat, ABI EG C 174/3. 80 So bereits obiter EuGH 11.11.1975 Gutachten 1 / 75 - Lokale Kosten, Sig. 1975, 1355 (1361); ausgeübt wurde eine solche Kontrolle über ein bereits abgeschlossenes Abkommen der Gemeinschaft erstmals - mit noch positivem Ergebnis - durch EuGH 27.9.1988 Rs. 165 / 87, Sig. 1988, 5545; die ersten tatsächlichen Beanstandungen erfolgten durch EuGH 9.8.1994 Rs. C-327 / 91 - Frankreich / Kommission, Sig. 1994, I 3641 und dazu Burrows 20 ELRev (1995), 210; Hummer GS Grabitz (1995), 195 ff; Kingston 44 ICLQ (1995), 659 ff sowie EuGH 7.3.1996 Rs. C-360 / 93 - Parlament / Rat, Sig. 1996, I - 1195 jeweils noch aus kompetenzrechtlichen Gründen; die daraus resultierenden internationalen Schwierigkeiten wurden im ersten Fall durch rückwirkenden erneuten Abschluß des Abkommens, im zweiten durch Aufrechterhaltung der Wirkung gern Art. 174 Abs. 2 EGV vermieden. Bisher hat der EuGH allerdings nicht den Ernstfall realisieren müssen, ein bereits in Kraft gesetztes Abkommen aus materiellrechtlichen Gründen zu beanstanden, so daß die "Reparatur" nur durch eine Änderung des Primärrechts möglich wäre. 81 So hatte insbes. die französische Literatur im Gleichklang mit den auf nationaler Ebene geltenden Lösungen für die Unüberprüfbarkeit bereits abgeschlossener Abkommen der Gemeinschaft plädiert, s. etwa Kovar RMC 1974, 345 (357 ff); Constantinesco / Simon RTDE 1975, 432 (453 f); s. auch noch Jacot-Guillarmod Droit communautaire (1979), 232 ff sowie zusammenfassend Rideau RGDIP 1990, 289 (380 ff). 82 So etwa de Berranger Constitutions nationales S. 496 ff; s. auch Rideau RGDIP 1990, 289 (380 ff); ders. in: La Constitution et l'Europe (1992), 67 (206 ff, insbes. 213); Genevois RFDA 1992,937 (943) sowie Schaeffer ADMA 1993,565 ff: "Monisme avec primaute de I'ordre juridique communautaire sur le droit international".
B. Neue Entwicklungen
69
nicht als "nonnales" internationales Recht ansiehtR3 • Bezeichnend bleibt allerdings, daß der Vergleich gerade in der französischen Literatur hergestellt wird: Er leuchtet nämlich prima facie nur unter der Prämisse der Gleichstellung des Gemeinschaftsrechts mit anderen völkerrechtlichen Verträgen ein; eben diese Gleichstellung ist nach wie vor Ausgangspunkt der französischen Rechtsordnung.
83 So auch Rideau RGDIP 1990, 289 (382): "Ce manque de coherence dans les rapports etablis entre les divers ordres juridiques en cause (ordre juridique international, ordre juridique communautaire, ordre juridique des Etats membres) ne peut etre explique que par une reference a un postulat de principe de la specificite de I'ordre juridique communautaire et a la volonte de la Cour de preserver I'autonomie de celui-ci face aux accords internationaux. Faute d'un tel postulat. on ne comprendrait pas comment la Cour pourrait affirmer la primaute du droit communautaire prima ire sur les accords tout en refusant au juge national de fair prevaloir sa constitution sur le droit communautaire." (Hervorhebung vom Verf.). s. auch noch Schaeffer ADMA 1993, 565 (587): "Ainsi, la Cour gardienne du Traite, po ur sauvegarder I'integrite de la Communaute et I'uniformite existentielle de son droit, affirme simultanement sa conception moniste du droit international et la prevalence de I'ordre communautaire sur ce lu i-ci. Ce n'est qu'une transposition au plan international du paradoxe que la Communaute vit au plan interne. Comme au plan interne la Communaute doit, pour survivre et s'affirmer, en meme temps reconnaitre et utiliser les ordres juridiques nationaux des Etats membres - mais a condition qu'ils se conforment a I'ordre juridique communautaire - la Communaute doit aussi, au plan externe, reconnaitre et utiliser I'ordre juridique international, mais a condition d'en passer les normes au crible de leur conformite a I'ordre juridique communautaire." (Hervorhebung vom Verf.). Zuletzt noch pointiert Pellet RCADE Vol. V-2 (1994), 193 (267): "A tous points de vue, le droit communautaire apparait donc comme un droit-charniere: ancre dans le droit international, ou il trouve ses fondements, il se comporte a son egard comme un droit interne, en ce sens notamment, qu'il en reconnait la superiorite mais I'organise a sa maniere; iI est, en revanche, 'ressenti' comme un droit international par les droits internes."
3. Kapitel
Die verfassungs rechtlichen Grenzen der europäischen Integration A. Die materielle Rechtslage I. Vorrang der Verfassung 1. Begründung des Vorrangs
Traditionell wird Frankreich seit der 4. Republik den Staaten mit monistischer Rechtsordnung zugeschlagen I; in des Wortes weitreichendster Bedeutung würde dies den Vorrang des internationalen Rechts vor internen Normen jeden Ranges bedeuten. Tatsächlich ist der normative Bestand der Verfassung der 5. Republik freilich komplizierter: Während Absatz 14 der fortgeltenden 2 Präambel der Verfassung der 4. Republik ganz allgemein die Bindung der Republik an die Regeln des Völkerrechts proklamiert, machen Art. 54 und 55 genauere Angaben über den Status der völkerrechtlichen Verträge: Gemäß Art. 54 können sie vor ihrem völkerrechtlich bindenden Abschluß fakultativ zur Feststellung von WidersprUchen zur Verfassung dem Conseil constitutionnel vorgelegt werden; stellt der Conseil constitutionnel solche WidersprUche fest, so muß dem Abschluß des Vertrages eine Änderung der Verfassung vorangehen. Art. 55 der Verfassung knüpft die Einräumung des Vorrangs an bestimmte Bedingungen und macht damit deutlich, daß allenfalls ein "gemäßigter" oder bedingter Monismus vorliege. I s. nur CE Droit international (1986), 24: "... un adepte exemplaire du systeme 'moniste' ... "; aufgenommen von Sauve / Pauti in: Thierry / Decaux (1990), 237; s. auch Dupuy Droit international public (1992), S. 303 Rn 417; Metraux in: Consequences institutionnelles (1991), 223 (224); Bon in: Droit constitutionnel et droits de I'homme (1987), 269 (279, 284 t); Vedel Melanges Waline Bd. 2 (\974), 777 (790 t); Ress ZaöRV 1975, 445 (452). 2 Dazu noch unten 3. Kap. A. I. 2. b) bb). 3 s. die differenzierte Darstellung bei Favoreu AFDI 1977, 95 (115 t) sowie z.B. Bon in: Droit constitutionnel et droits de I'homme (1987), 269 (295); aus der deutschsprachigen Literatur Ress ZaöRV 1975, 445 (471); Baumgartner DVBI 1977, 70 (75):
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Daneben steht Absatz 15 der Präambel von 1946, dessen Bekenntnis zur Zulässigkeit von Beschränkungen der nationalen Souveränität in der Folge allerdings über lange Zeit keine positive Funktion gefunden, sondern vor allem den Umkehrschluß inspiriert hat, wonach eine Übertragung von Souveränitätsrechten im Gegensatz zur bloßen Beschränkung unzulässig sei. a) Die monistische Deutung der Verfassung
Vor allem in den ersten Jahren der 5. Republik hat die Literatur versucht, die Entscheidung der Verfassung jedenfalls für die technischen Seiten des Monismus zu einer Grundaussage im Sinne eines umfassenden Vorrangs des Völkerrechts zu verallgemeinern 4• Für diese Auslegung sprach zum einen der fortgeltende Absatz 14 der Präambel der Verfassung von 1946. Auch konnte der in Art. 55 der Verfassung angeordnete Vorrang der Verträge gegenüber nationalen Gesetzen mit etwas Mut auch auf das nationale "Verfassungsgesetz" bezogen und dieses damit unter diese Rangregel subsumiert werdenS. Hinsichtlich des Völkergewohnheitsrechts kann sich diese Interpretation des 14. Absatzes der Präambel wohl auch auf die Rechtsprechung des Conseil constitutionnel6 stützen, obwohl die Bedeutung der dafür in Anspruch genommenen Entscheidung nach wie vor umstritten ise; auch die 1. Maastricht-Ent-
"limitierter Monismus"; zu den von Art. 55 der Verfassung aufgestellten Bedingungen s. im Einzelnen unten 4. Kap. A. III. 4 s. etwa Nguyen Quoc Dinh RGDIP 1959,515 (553 f); Rousseau Melanges Basdevant (1960),463 ff; später noch Rideau Anm. COE 1975,608 (628) zu Art. 55 der Verfassung: " ... I'expression d'une vision globale des rapports entre I'ordre juridique national et I'ordre juridique international." Gegen diese verallgemeinernde Formulierung allerdings zu Recht Favoreu AFDI 1977,95 (114). 5 So Conac / Luchaire (-Luchaire), Art. 61, S. 1111 (1117); Conac / Luchaire (Pinto), Art. 55, S. 1063 (1069). 6 CC 30.12.1975 No 75-59 OC - Comores, Rec. S. 26 = O. 1976 jp 537 m.Anm. Leo Hamon = AJDA 1976, 249 m.Anm. Linotte = 1DI 1976, 392 m.Anm. Ruzie = Gaz. Pal. 1976, 2, 480 m.Anm. Linotte zum Selbstbestimmungsrecht der Völker im Rahmen der Entkolonialisierung.
7 s. etwa Nguyen Quoc Dinh RGDIP 1976, 100 I (1110 ft); Luchaire Conseil constitutionnel S. 135,259; Fromont FS Börner (1992),77; offen Bon in: Oroit constitutionnel et droits de I'homme (1987),269 (280 f); Grewe / Ruiz Fabri RUOH 1992,277 (279 f); gegen eine derartige Interpretation der Entscheidung aber z.B. Blumann RGDIP 1978, 537 (581 ff); Favoreu AFDI 1977,95 (108 ff); zuletzt ders. Melanges Plantey (1995), 33
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scheidung des Conseil constitutionnel vom 2.9.1992 scheint der Regel "paeta sunt servanda" Verfassungsrang zuzuerkennen K• b) Vorrang des nationalen (Verfassungs-)rechts Weithin besteht aber Einigkeit, daß die Lösung jedenfalls hinsichtlich des Rangs der völkerrechtlichen Verträge nicht aus der Präambel, etwa der allgemeinen Formulierung des 14. Absatzes 9 , sondern aus Art. 54 und 55 der Verfassung herzuleiten ist lO • Auch hier werden in der Literatur aus dem Zusammenspiel von Art. 54 und 55 allerdings diametral entgegengesetzte Schlüsse gezogen: Während auf der einen Seite Art. 54 vor der Ratifikation eines verfassungswidrigen Vertrages die Hürde der Verfassungsänderung aufbaut und damit auf den Vorrang der Verfassung hindeutet, so ist diese Konsequenz doch deutlich milder als im Falle eines als verfassungswidrig erkannten Gesetzes(entwurfs). Obwohl auch im Fall des als verfassungswidrig erkannten Gesetzes - in der Tradition von Art. 93 der Verfassung der 4. Republik" - der Hinweis auf Erforderlichkeit und zugleich Möglichkeit einer Verfassungs änderung denkbar wäre - zumal diese Möglichkeit ja auch tatsächlich besteht l2 - , bestimmt Art. 62 Abs. 1 für diesen Fall mit einer kategorischen Formulierung, daß das Gesetz nicht verkündet werden kann 13. Anders als im Fall des verfassungswidrigen Gesetzes weist Art. 54 also
(35 ff); die rur den Status des Gemeinschaftsrechts nicht unmittelbar interessierende Frage kann hier nicht weiterverfolgt werden. s CC 9.4.1992 No 92-308 DC - Maastricht I, Rec. S. 55 = GDCC Nr. 45, S. 771 (I. Entscheidung); s. dazu Grewe I Ruiz Fabri RUDH 1992,277 (280) und zur indirekten Bedeutung dieser Aussage rur den verfassungsprozessualen Status des Gemeinschaftsrechts unten 3. Kap. B. I. 3. b) bb). 9 Zu Absatz 15 der Präambel s. nochmals unten d). 10 So v.a. Abraham Droit international S. 33 ff; Dubouis RFDA 1989, 1000 (1006); ders. Melanges Boulouis (1991), S. 205 (213 f); Rideau in: Droit constitutionnel et droits de I'homme (1987), 205 (233); Bon in: Droit constitutionnel et droits de I'homme (1987),269 (284 ff); s. auch Baumgartner DVBI 1977, 70 (74 f). 11 Art. 91 Abs. 3 der Verfassung der 4. Republik: "Le Comite constitutionnel examine si les lois votees par l'Assemblee nationale supposent une revision de la Constitution." 12
Zu ihrer Wahrnehmung s. u. 3. Kap. A. 111. I. b).
I) Dieser prima facie bestehende Unterschied wird alIerdings durch die Tatsache verwischt, daß der Conseil constitutionnel sowohl Ober Art. 54 als auch Ober Art. 61 in Verbindung mit dem Zustimmungsgesetz mit der Verfassungsmäßigkeit eines Vertrages
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bereits den Weg zum trotz des Verdikts der Verfassungswidrigkeit noch möglichen Abschluß des Abkommens und zeigt damit, daß das Urteil keinen abschließenden Charakter besitzen soll. Auf der anderen Seite kann diese mildere Sprache nicht darüber hinwegtäuschen, daß im Falle einer Anrufung des Conseil constitutionnel mit negativem Ergebnis eine Verfassungs änderung unumgänglich ist, soll das Abkommen dennoch ratifiziert werden; der erfolgreiche Abschluß eines solchen Verfahrens der Verfassungsänderung ist seinerseits aber alles andere als selbstverständlich. In neuerer Zeit scheinen sich in diesem Glaubenskrieg l4 um den Vorrang von Verfassung oder Vertrag nach den Maßstäben der innerstaatlichen Rechtsordnung aber wohl auch unter dem Eindruck der - wenn auch nur präventiven Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Verträge durch den Conseil constitutionnel die Vertreter des Vorrangs der Verfassung mehr und mehr durchzusetzen l5 • c) Ein prozessual-materielles Mischmodell: Die Vorrang-Frage bleibt unentschieden
Häufig findet sich aber auch eine vermittelnde Auffassung, nach der die Verfassung die Rangfrage zwischen völkerrechtlichem Vertrag und Verfassung gar nicht entschieden, sondern durch ihr System der präventiven Kontrolle die Entstehung solcher Kollisionen gerade vermieden habe: Die Vorab-Kontrolle des Vertrages am Maßstab der Verfassung bedeutet danach nicht die Beanspruchung eines Vorrangs im Verhältnis zum Vertrag, da ein aktueller Konflikt zwischen gleichermaßen geltenden Texten ja noch nicht bestehe. Zum Zeitpunkt der Kontrolle ist der Vertrag noch nicht in Kraft, er erhebt also gar keinen Geltungsanspruch, der mit dem Vorrang der Verfassung in Konflikt treten könnte. Nach Inkrafttreten des Vertrages wird dann aber - mangels tatsächlicher Möglichkeit der Konfrontation - das Fehlen von Widersprüchen unwiderleglich vermutet l6 • befaßt werden kann, s. bereits kurz o. 2. Kap. A. 11. 2. a) aa) sowie ausführlicher unten 3. Kap. B. I. I. a), b); in der Verfassung angelegt war dieser Parallelismus aber wohl nicht. 14 So Flauss LPA 1992 Nr. 83,10.7.1992,16 (18 f): une "querelle theologique". 15 So etwa die Einschätzung von Blaizot-Hazard RDP 1992, 1293 (1298 f): "doctrine dominante"; zuletzt de Berranger Constitutions nationales S. 333 ff. 16 So insbes. Favoreu Pouvoirs Nr. 13, 1980, 17 (20 f); ders. RGDIP 1993, 39 (62); (anders noch ders. AFDI 1977, 95 [102]: der Vorranganspruch des internat. Rechts werde auf diese Weise durchgesetzt); Nguyen Quoc Dinh AFDI 1975, 859 (873 f); ders. RGDIP 1976, 1001 (1004); Auby Melanges Pelloux (1980), 21 (34 f); Flauss LPA 1992
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
Dieser Auffassung ist zuzugeben, daß sie das praktische Ergebnis des französischen Systems der Verfassungskontrolle für den Regelfall l7 und de constitutione lata l8 zutreffend beschreibt. Dogmatisch überzeugt sie jedoch nicht, da ja auch die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen rein präventiv strukturiert ist und nach Inkrafttreten des Gesetzes seine Verfassungsmäßigkeit unwiderleglich vermutet wird l9 : Dennoch ist heute nicht mehr bestritten, daß die Verfassung in ihrem Geltungsanspruch über dem einfachen Gesetz steht. Dazu kommt erneut, daß im Falle eines im Wege der präventiven Kontrolle aufgedeckten Konflikts sich die Verfassung letztlich doch als "stärker" erweist: Findet sich keine Mehrheit für die Änderung der Verfassung, so kann das Abkommen nicht ratifiziert werden 20 • Angesichts der hohen Hürden für eine Ver-
Nr. 83, 10.7.1992, 16 (19); ähnlich auch Constantinesco / Jacque in: Koenig / Rüfner (1985),175 (176 f, 180); Fromont FS Mosler (1983), 221 (223 f); Grewe RFDC 1992, 413 (418 ff); Blaizot-Hazard RDP 1992, 1293 (1304 ff). 17 Zu den Unsicherheiten hinsichtlich der Entwicklung einer nachträglichen Kontrolle durch Richterrecht s.u. 3. Kap. B. I. 3. 18 Zu den Bestrebungen der Einfllhrung einer nachträglichen Kontrolle im Wege der Verfassungsänderung s.u. 3. Kap. B. I. 4.: jedenfalls in diesem Fall muß materiellrechtlich "Farbe bekannt" werden. So auch Flauss LPA 1992 Nr. 83, 10.7.1992, 16 (22): "... le contröle de constitutionnalite des lois par la voie de I'exception risquerait de sonner le glas de la presomption de compatibilite a la Constitution accordee au droit conventionnel introduit dans I'ordre juridique fran~ais." 19 Auch hier wurde vertreten, daß eine wirkliche Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze nicht existiere, da das kontrollierte Gesetz ja noch nicht in Kraft sei; so etwa Philip AJDA 1975, 15 (18); weniger kategorisch auch Eisenmann in: Contröle juridictionnel des lois (1973), 71 (84); fllr den Bereich der Verfassungskontrolle der Gesetze hat diese Auffassung jedoch nie nennenswerte Verbreitung gefunden, s. nur Genevois Jurisprudence Rn 89, S. 49. Der CC seinerseits betont, daß seine Kontrolle ein bereits beschlossenes, wenn auch noch nicht verkündetes Gesetz trifft, CC 23.8.1985 No 85-197 DC - Evolution de la Nouvelle-Caledonie, Rec. S. 70 = GDCC Nr. 40, S. 636/641 (2. Entscheidung) = D. 1986 jp 45 /47 (2. Entscheidung) m.Anm. Luchaire und dazu Favoreu / Philip GDCC S. 645 (650 f); der von Rühmann Normenqualifikation (1982), 39 geprägte und durch Schlette JöR n.F. 33 (1984), 279 (310) übernommene Begriff einer "Normenentwurfskontrolle" der Gesetze durch den CC ist daher zwar prägnant, trifft die Situation aber nur bedingt; zur Rechtsnatur der vom CC geprüften Texte s. auch noch Etien Rev. adm. 1987,450 ff, 545 ff. 20 Berlia Melanges Waline Bd. 1 (1974), 139 (142); Abraham Droit international S. 36; entgegengesetzt Trotabas Melanges Basdevant (1960), 489 (496): "... une confirrnation de la superiorite de I'engagement international auquel la constitution doit s'adapter. "Ähnlich auch Ruzie JCP 1970 I 2354 und Bey Anm. JCP 1975 11 18030, der von einer Pflicht zur Änderung der Verfassung ausgeht.
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fassungsänderung unter der Verfassung der 5. Republik21 stellt die Frage des Wegs zur Ratifikation auch nicht nur ein technisches Verfahrensproblem dar; es besteht vielmehr rein tatsächlich eine gewisse Wahrscheinlichkeit, daß mit dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit zugleich das Schicksal des in Aussicht genommenen Abkommens besiegelt ist22 • d) Ein Sonderstatus für supranationale Gemeinschaften? Absatz J5 der Präambel von J946
Die deutsche Konstruktion, den Integrationsgemeinschaften auch Vorrang vor der nationalen Verfassung einzuräumen, dabei deren integrierende Strukturen (nWesenskem n) aber vorzubehalten, hat in Frankreich bisher kaum Anhänger gefunden 23 • Dogmatisch ließe sich ein solcher Sonderstatus zwar unter Heranziehung von Absatz 15 der Präambel von 1946 durchaus begründen; in das Umfeld der präventiven Verfassungskontrolle völkerrechtlicher Verträge würde er sich jedoch nicht sinnvoll einfUgen 24 : Art. 54 der Verfassung sieht im Rahmen dieser präventiven Kontrolle des Vertrages als Maßstab die gesamte Verfassung vor. Es besteht keine Veranlassung, die im Rahmen einer solchen Prüfung bereits im Vorfeld der Ratifikation entdeckten Widersprüche zwischen Vertrag und Verfassung allein deshalb bestehen bzw. erst - durch Inkrafttreten des Abkommens ohne vorangehende Verfassungsänderung - entstehen zu lassen, weil statt des Wesenskerns nur eine "einfache" Verfassungsnorrn betroffen ist. Das deutsche Modell eines Teil-Vorrangs des Vertrages gegenüber der Verfassung entspricht vielmehr den Gegebenheiten einer nachträglichen Verfassungskontrolle, wie sie in Frankreich noch nicht existiert25 ; die Konstruktion erlaubt es,
21
Dazu im einzelnen unten 3. Kap. A. III. I. a).
22
So zu Recht Bon in: Droit constitutionnel et droits de I'homme (1987),269 (285 f).
23 So z.B. kategorisch Pretot in: La Constitution et l'Europe (1992), 33 (37): "C'est naturellement par rapport AI'ensemble des normes constituant le bloc de constitutionnaIite que le Conseil constitutionnel est appele A s'assurer de la conformite des engagements qui lui sont soumis." Ebenso Rideau in: La Constitution et l'Europe (1992), 67 (142); Fromont DÖV 1995,481 (484); s. allerdings in neuerer Zeit de Berranger Constitutions nationales S. 215 f, 247. 24
Dies übersieht Lerche ZaöRV 1990, 599 (622 ff).
Alternativ besteht die Möglichkeit, den Vertrag gegen eine solche nachträgliche Kontrolle am Maßstab der Verfassung dadurch zu schützen, daß eine spezielle Bestimmung der Verfassung pauschal die Vereinbarkeit des Vertrages mit der Verfassung deklariert, s.u. 3. Kap. B. I. 4. b) bb) ß) zu Art. 142 a a.F. GG und zur Frage, ob im Fall der Einführung der nachträglichen Verfassungkontrolle in Frankreich der neue Art. 88-1 der Verfassung eine ähnliche Funktion übernehmen könnte. 25
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
die Konsequenzen aus erst nachträglich entdeckten, aber nicht als grundsätzlich empfundenen Widersprüchen zwischen Vertrag und Verfassung zu vermeiden. Zudem reagiert diese Zuweisung eines Sonderstatus auf den allgemeinen Rang völkerrechtlicher Verträge in der deutschen Rechtsordnung, der den Vorgaben des Gemeinschaftsrechts evident nicht genügen würde, der in der französischen Rechtsordnung dagegen durch Art. 55 der Verfassung in befriedigender Weise gelöst ist; nur wenn in der französischen Verfassung eine solche Regelung fehlen würde, läge der Versuch nahe, auf dem Weg über die Präambel einen abweichenden Sonderstatus des Gemeinschaftsrechts zu begründen 26 .
2. Die Reichweite des Vorrangs der Verfassung: Der "bloc de constitutionnalite"
Nachdem damit die Verfassung grundsätzlich Vorrang gegenüber völkerrechtlichen Verträgen einschließlich des Gemeinschaftsrechts beansprucht, ist zu ermitteln, welche Bestandteile der nationalen Normenhierarchie an diesem materiellrechtlichen Vorrang teilnehmen. a) Grundsätzliches und Begriffe
Die Frage des gegenständlichen Umfangs der Verfassung wird in der französischen Literatur heute regelmäßig unter dem Stichwort des zum Allgemeingut gewordenen Begriffs des "bloc de constitutionnalite" erörtert; diese erstmals Anfang der siebziger Jahre verwandte 27 und ersichtlich in Anlehnung an den aus dem französischen Verwaltungsrecht bekannten "bloc de legalite"28 gebildete Begrifflichkeit hat sich vor allem durch die Schriften Favoreus 29 durchgesetzt. Tatsächlich erftlllt er dieselbe Funktion wie sein historisches Vorbild: So wie der bloc de legalite die Summe der Rechtssätze bezeichnet, an denen das Ver26 So Rideau RFDC 1990, 259 (292). 27 So etwa (wohl erstmals) bei Emeri / Seurin RDP 1970,637 (678); Vier RDP 1972,
165 (194); zur Entstehungsgeschichte des Begriffs auch Genevois Melanges Braibant (1996), 323 ff. 28 Der - ursprünglich unter der Bezeichnung "bloc legal" - wiederum von Maurice Hauriou geprägt wurde, vgl. Eisenmann EDCE 1957, 26; Favoreu / Renoux in: Rep. cont. adm. Stichwort "Constitutionnalite des actes administratifs" Rn 48. 29 Vor allem durch seinen Beitrag in den Melanges Eisenmann (1975), 33 (34 ff); s. auch Favoreu / Renoux in: Rep. cont. adm. Stichwort "Constitutionnalite des actes administratifs" Rn 4 7 ff.
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waltungshandeln sich messen lassen muß, und dabei Normen verschiedener Quellen erfaßeo, so umfaßt auch der bloc de constitutionnalite alle - jedenfalls historisch aus den verschiedensten Quellen und zeitlichen Schichten stammenden - Regeln, an die der jeweils rangniedere Normgeber - d.h. im RegelfaWI der einfache Gesetzgeber - gebunden ist. In der Folge hat sich jedoch gezeigt, daß in der verfassungsrechtlichen Diskussion - vielfach wohl unbewußt - verschiedene Fassungen dieses Begriffs zugrunde gelegt werden: Zum einen wird darunter die Gesamtheit der Rechtsnormen verstanden, deren Einhaltung durch den Conseil constitutionnel sichergestellt wird. Diese prozessuale Fassung des Begriffs fuhrt zu einer besonders weiten Ausdehnung des "bloc de constitutionnalite", da die vom Conseil constitutionnel zugrundegelegten Maßstabsnormen je nach Verfahrensart und Rang der zu überprüfenden Norm differieren: So werden im Verfahren nach Art. 61 Abs. 2 der Verfassung die einfachen Gesetze auch am Maßstab der (verfassungsergänzenden, aber ihrerseits der Verfassung untergeordneten) Lois organiques überprUft32 , und die obligatorische Überprüfung der Geschäftsordnungen der Kammern des Parlaments gemäß Art. 61 Abs. I der Verfassung bezieht als Maßstab sogar das einfache Gesetz ein 33 • Eine andere Variante erfaßt im "bloc de constitutionnalite" sämtliche Normkategorien, die der einfache Gesetzgeber zu beachten hae 4 : Nach dieser Einteilung gehört dann zwar nicht mehr das einfache Gesetz, wohl aber der völkerrechtliche Vertrag (Art. 55) und das Loi organique35 zum "bloc de constitutionnalite"; mit dieser Klassifizierung, die auf die Kontrolle einfacher Gesetze gemäß Art. 61 Abs. 2 der Verfassung als den Regelfall der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle abstellt und diesen verallgemeinert, wird freilich verdunkelt, daß innerhalb dieses weit verstandenen bloc eine Reihe hierarchischer Abstufungen
30 Der "bloc de It!galite" umfaßt neben Verfassung, Vertrag und Gesetz auch die von der Rechtsprechung geschaffenen "principes generaux du droit"; zu dieser Kategorie noch unten 3. Kap. A. I. 2. b) cc) y) und ö). 31
Zur Bedeutung dieser Einschränkung s. sogleich im Text bei Fn 34.
32
Zu diesen noch unten 3. Kap. A. I. 2. c) aa).
33
Dazu im Einzelnen unten 3. Kap. A. 11. 2. a).
So die Verwendung des Begriffs bei Favoreu I Philip GDCC S. 255 f; rur diese breitere Gruppe von Maßstabsnormen hat Luchaire Melanges Waline Bd. I (1974),563 (568 ft); ders. Conseil constitutionnel S. 130 den präziseren Begriff der "supra-Iegalite" vorgeschlagen, der sich aber nicht durchsetzen konnte. 34
35 s. etwa Badinfer I Genevois I Vedel RFDA 1987, 844 (851); zu Begriff und Funktion der Lois organiques s. u. 3. Kap. A. I. 2. c) aa).
3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
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existiert - so müssen Loi organique und völkerrechtlicher Vertrag wiederum nach dem eindeutigen Wortlaut der Verfassung dieser entsprechen 36 • Daneben wird eine engere Fassung des Begriffs verwandt: Nach dieser gehören zum bloc de constitutionnalite nur die Normen, die tatsächlich zur Spitze der Normenpyramide gehören und fur al1e rangniederen Normgruppen verbindlich sind 37 • Auch in diesem Fal1 behält die Bezeichnung ihren Sinn, da auch diese Spitze heterogen genug ist, nämlich aus insgesamt vier Normgruppen bestehe 8 • Der Conseil constitutionnel hat die Begriffsprägung bisher nicht übernommen 39, sondern die Weite seiner Aufgaben und Prüfungskompetenzen unabhängig davon in Anpassung an die prozessuale Situation, d.h. zum einen nach Maßgabe der jeweiligen Verfahrensart und -Funktion, aber auch seiner tatsächlichen Möglichkeiten 40 bestimmt. Soweit die Rechtsprechung die Referenznormen der Verfassung im engeren Sinne definiert, wird stattdessen der Gattungsbegriff "principes et regles de valeur constitutionnel1e"41 verwandt. Für die Zwecke dieses Abschnitts, die Feststellung der Reichweite des Vorrangs der Verfassung gegenüber dem Gemeinschaftsrecht, wird die in der Sache mit der Formulierung des Conseil constitionnel übereinstimmende jüngere und präzisere Definition des "bloc de constitutionnalite" zugrundegelegt: Der Begriff bezeichnet im Folgenden al1ein Normen von Verfassungsrang.
So zu Recht Vedel in: La Declaration (1989), 35 (49 f). So etwa Vedel in: La Declaration (1989), 35 (49 ff, insbes. 52): "bloc de constitutionnalite stricto sensu". (Hervorhebung im Original). 38 s. u.a. Rousseau Contentieux constitutionnel S. 107; Vedel RFDA 1990,698 (704); zu den einzelnen Bestandteilen s.u. cc). 36
31
39 So auch die Feststellung von Favoreu / Renoux in: Rep. cont. adm. Stichwort Constitutionnalite des actes administratifs Rn 51. 40 Dieses Argument der vor allem durch enge Entscheidungsfristen begrenzten Kognitionsmöglichkeiten des ce spielt bei der Verweigerung der Einbeziehung völkerrechtlicher Verträge in den bloc de constitutionnalite zumindest in der Literatur eine entscheidende Rolle, s.u. 4. Kap. B. II. I. a). 41 So die Analyse von Favoreu RDP 1978, 801 (840); ders. RDP 1982, 377 (401 f); s. auch Philip JöR n.F. 38 (1989), 119 (122).
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b) Die Reichweite des Vorrangs der Verfassung aa) Der (gesamte) Text der Verfassung von 1958 Selbstverständlich nimmt an diesem Vorrang der Verfassung der (gesamte) Textbestand der Verfassung von 1958 teil, soweit er nicht - wie die Bestimmungen zur Gemeinschaft zwischen Frankreich und seinen ehemaligen Kolonien 42 hinfällig geworden ist. Eine Reduktion auf einen "unverzichtbaren Kern" o.ä. findet keine Grundlage im Text. Der Hinweis auf den Text der geltenden Verfassung mag banal scheinen, ist jedoch nicht unangebracht, da diese unmittelbare Quelle gegenüber den anderen Bestandteilen des "bloc de constitutionnalite" häufig vergessen wird oder zumindest in den Hintergrund tritt43 ; zeitweilig galt dies sogar für die Rechtsprechung des Conseil constitutionnel 44 .
bb) Die Geltung der anderen Bestandteile des "bloc de constitutionnalite" a) Die Brücke über die Präambel der Verfassung von 1958
"Erschlossen" werden diese anderen Bestandteile des "bloc de constitutionnalite" über die Präambel der Verfassung von 1958, deren erster Satz die Verpflichtung des französischen Volkes auf die Menschenrechte und die Grundsätze der nationalen Souveränität verkündet, "wie sie in der durch die Präambel der Verfassung von 1946 bestätigten und ergänzten Erklärung von 1789 definiert sind"45. 42 Art. 77 - 87 der Verfassung = Titel 13: "De la Communaute"; die betreffenden Bestimmungen sind im Rahmen der Verfassungsänderung vom 4.8.1995 gestrichen worden; der Vorschlag, die damit freigewordenen Ziffern mit den neuen Europa-Artikeln (Art. 88-1 bis -4) zu "belegen", hat sich nicht durchsetzen können, s. Luchaire RDP 1995,1411 (I 437ft). 43 Auch Savoie in: Grabitz (1987), 203 (213) nennt den Verfassungstext unter den Grundrechtsquellen erst an letzter Stelle. 44 So etwa Fromont, Diskussionsbeitrag in: La Declaration (1989), 71; Nachweise zu dieser vor allem aus den 70er Jahren stammenden Rechtsprechung des Conseil constitutionnel bei Turpin Contentieux constitutionnel Rn 79, S. 135; Lebreton RDP 1983, 419 (452 t). 45 "Le peuple fran~ais proclame solennellement son attachement aux Droits de I'homme et aux principes de la souverainete nationale tels qu'i1s ont ete definis par la Declaration de 1789, confirmee et completee par le preambule de la Constitution de 1946."
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Zum Text der Verfassung treten auf diese Weise gleichrangig46 zwei weitere Normenkomplexe hinzu, die zudem weitere Rückverweise enthalten 47 : So enthält der erste Absatz der Präambel von 1946 nicht nur (erneut) eine Verpflichtung auf die Menschenrechtserklärung, sondern daneben auch auf die ominösen "principes fondamentaux reconnus par les lois de la Republique".
ß) Grundsätzliche Geltung als verbindliche Rechtsnorm von Verfassungsrang
Die Schöpfer der Verfassung von 1958 waren ausweislich der zwischenzeitlich vollständig veröffentlichten Vorarbeiten 4K davon ausgegangen, daß die von der Präambel von 1958 in Bezog genommenen Normgruppen durch diesen Verweis nicht zum justiziablen Bezugspunkt fur die in der Verfassung von 1958 vorgesehene Kontrolle der Gesetze am Maßstab der Verfassung durch den Conseil constitutionnel würden 49 ; anders als unter der Verfassung von 194650 war ein solcher Ausschluß der gerichtlichen Durchsetzung gegenüber dem Gesetzgeber aber nicht ausdrücklich festgeschrieben. Gegen die noch nicht einmal zweifelsfreien 51 Ergebnisse der subjektivhistorischen Auslegung, deren Maßgeblichkeit fur die Interpretation der in Unkenntnis dieser Vorarbeiten durch Volksentscheid angenommenen Verfassung
46
Dazu noch unten cc)
E).
Plastisch zu dieser "Verweisung im zweiten Grad" Aubert FS Schindler (1989), S. 655 (658 f); aus der deutschsprachigen Literatur s. Ress JöR n.F. 23 (1974), 121 (151 f). 48 Documents pour servir a l'histoire de l'elaboration de la Constitution du 4 octobre 1958 (DPS), 3 Bände 1987 - 1991; die bereits 1960 veröffentlichte Zusammenfassung der Vorarbeiten (Travaux preparatoires de la Constitution du 4 octobre 1958. Avis et Debats du Comite Consultatif Constitutionnel, La Documentation fran,.aise Paris 1960) bietet dagegen nur ein selektives und durch die Verkürzung auch verzerrendes Bild der Diskussionen, s. bereits den warnenden Hinweis von Waline RDP 1960, 83 f. 49 s. insbes. die Stellungnahme von Regierungskommissar Janot vor dem Comite consultatif constitutionnel, DPS 11, S. 256: "Le preambule a une valeur juridique, mais il n'a pas une valeur constitutionnelle. 11 a une certaine valeur legislative, il lie le gouvernement, il ne lie pas le parlement. " s. dazu auch Genevois in: L'ecriture de la Constitution (1992), 483 (492 ff). 47
50 Art. 92 Abs. 3 der Verfassung der 4. Republik schloß die Präambel als Referenznorm für die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit durch das Comite constitutionnel aus. 51 Vgl. die vom damaligen Regierungskommissar Janot 25 Jahre später vorgenommenen Relativierungen seiner damaligen Aussagen (oben Fn 49): Janot, Diskussionsbeitrag in: Favoreu (Hrsg.), Cours constitutionnelles (1982), 211 ff.
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von 1958 zudem schon früh grundsätzlich bestritten worden ist52 , steht also der Gegenschluß aus dem Vergleich mit der Verfassung von 194653 • Die Argumente beider Seiten sind danach nicht völlig überzeugend 54 ; doch ist die Frage durch die Rechtsprechung eindeutig zugunsten von Verbindlichkeit und Verfassungsrang der Präambel der Verfassung von 1946 beantwortet worden. Eingeleitet wurde diese Entwicklung durch die Rechtsprechung des Conseil d'Etae 5, der die Präambel schon unter der 4. Republik in wenig auffalliger Weise - als Quelle der von ihm entwickelten principes gene rau x du droit - zur Kontrolle des Verwaltungshandelns genutzt und damit implizit über ihren Rechtscharakter als Teil des bloc de legalite, jedoch nicht über ihren genauen Rang oberhalb der Verordnung56 entschieden hatte. Diese Rechtsprechung wur-
52 So L'Huillier Anm. D. 1960 jp 264 (265): der Geltungsanspruch der Verfassung von 1958 beruht auf ihrer Annahme durch Referendum; die zu diesem Zeitpunkt nicht veröffentlichten Vorarbeiten können dem Volkssouverän nicht nachträglich als Präzisierung seines Willens zugeschrieben werden. Ebenso Vedel in: La Declaration (1989), 35 (43 ff) und Janot, Diskussionsbeitrag in: Favoreu (Hrsg.), Co urs constitutionnelles (1982), 211 ff. 53 So schon früh Pelloux Melanges Basdevant (1960),389 (394); Georgel RDP 1960, 85 (92 f); nochmals nachdrücklich Vedel in: La Declaration (1989), 35 (46). 54
So auch Beardsley 20 AlCL (1972), 431 (445).
CE 7.7.1950 - Dehaene, Rec. S. 426 = GAlA Nr. 75, S. 432 = RDP 1950,691 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Gazier u.Anm. Waline = Sir. 1950, 3, 109 m.Anm. JVD = D. 1950 jp 538 m.Anm. Gervais = lCP 1950 11 5681 mit den Schlußanträgen = Dr. soc. 1950, 317 mit den Schlußanträgen - zu den in der Präambel selbst enthaltenen Grundrechten; CE 9.6.1957 - Condamine, RDP 1958, 98 m.Anm. Waline; CE Sect. 26.6.1959 - Ingenieurs-Conseils, Rec. S. 394 = GAlA Nr. 92, S. 560 = D. 1959 jp. 541 m.Anm. L 'Huillier = Sir. 1959, 202 m.Anm. Drago = RDP 1959, 1004 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Fournier zur Menschenrechtserklärung von 1789. 55
56 Für die Zwecke des CE genügte eine Bindung der Exekutive, da er die Kontrolle des Gesetzgebers nicht als seine Aufgabe ansieht, s. Genevois in: L'ecriture de la Constitut ion (1992), 483 (492 ff); Vedel in: La Declaration (1989), 35 (42); ders. Melanges Chapus (1992), 647 (665); Conac I Luchaire (-Luchaire), Präambel, S. 97; Savoie in: Grabitz (1987), 203 (219 f); Tomuschat EuGRZ 1979, 191 (195); s.u. 4. Kap. B. 11; kritisch zur damit eintretenden Verwischung der Normenhierarchie Morange RDP 1977, 761 (771 ff); in den Beratungen zur Verfassung von 1958 war die Rechtsprechung des CE teils dahin interpretiert worden, daß dieser der Präambel nur Gesetzesrang zubillige, s. Genevois aaO; auch Chapus D. 1966 ehr. 99 ff wollte die Präambel nur im Rang der principes generaux, d.h. unter oder neben dem einfachen Gesetz (s.u. bei Fn 96 ff) ansiedeln.
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de unter der 5. Republik bruch los fortgesetzt 57 ; ein Rückschritt wäre auch schwerlich zu rechtfertigen gewesen. Der Conseil constitutionnel hatte erst spät Gelegenheit, die damit begründete Linie aufzunehmen: Die erste Erwähnung der Präambel von 1958 - und damit implizit auch der Präambel von 1946 - durch den Conseil constitutionnel und damit als Maßstab der Verfassungskontrolle von Gesetzen und Verträgen erfolgte erst spät in den "visa" der Eigenmittel-Entscheidung vom 19.6.197058 , zugleich der ersten Entscheidung zum Gemeinschaftsrecht; im Text der Entscheidung kehrte diese Bezugnahme freilich noch nicht wieder. Der Durchbruch erfolgte mit der historisch gewordenen Entscheidung von 16.7.1971 59 zur Vereinigungsfreiheit, die mit einem Paukenschlag die Grundrechtsjudikatur des Conseil constitutionnel einleitete und die Justiziablität der Präambel als gegeben voraussetzte. Sie bedeutete zugleich den Ausbruch des Conseil constitutionnel aus der ihm zugedachten und bis dahin nach überwiegender Einschätzung auch treu erflillten60 Aufgabe als Wächter über das Parlament, und dies bei der ersten sich nach dem Rückzug de Gau lies von der Macht61 bietenden - wenn auch vielleicht als Demonstrationsbeispiel für die Kontrolle grundrechtsfeindlicher Gesetzgebung nicht idealen62 - Gelegenheit63 •
57 CE 12.2.1960 - Societe Eky, Rec. S. 101 = Sir. 1960, 131 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Kahn = D. 1960 jp 263 m.Anm. L 'Huillier = JCP 1960 11 11629 bis m.Anm. Vedel. 58 So der Hinweis von Luchaire Melanges Waline Bd. 2 (1974),563 (570); zu dieser Entscheidung s. noch ausführlich 3. Kap. A. 11. I. a) aal mit Fn 195. 59 CC 16.7.1971 No 71-44 DC - Liberte d'association, Rec. S. 29 = GDCC Nr. 19, S. 244 = D. 1972 jp 685 m.Anm. Rivero D. 1972 chr. 265 = AJDA 1971, 537 m.Anm. Rivero = JCP 1971 11 16832 m.Anm. X. Die vom CC beanstandete Gesetzesänderung sah vor, daß Vereinigungen, die ersichtlich gesetzwidrige Ziele verfolgten, keine Bestätigung ihrer Anmeldung durch den Präfekten erhielten und folglich die mit dieser Bestätigung verbundene Rechtsfähigkeit nicht erlangen konnten; verboten waren sie damit aber nicht. Zur Vorgeschichte s. ausführlich Roher! RDP 1971, 1171 (1172 ff); Beardsley 20 AJCL (1972),431 (432 ff); Ress JöR n.F. 23 (1974), 121 (123 ff). 60 s. Ress JöR n.F. 23 (1974), 121 (123); auch dieses Bild bedarf freilich der Nuancierung, nachdem der CC das erste Jahrzehnt seiner Tätigkeit u.a. darauf verwandt hat, die neue autonome Verordnungsgewalt der Regierung rechtlich zu bändigen, vgl. etwa Goguel RDP 1979,5 (23 f); Favoreu RDP 1989,399 (406).
61 Daß diese Rechtsprechung unter de Gaulle politisch nicht vorstellbar gewesen wäre, betont Avril RDP 1990,949 (950) unter Verweis auf die Memoiren des damaligen Präsidenten des CC, Gaston Palewski; angedeutet auch bei Chiroux Pouvoirs Nr. 13, 1980, 107 (109). Palewskis Stimme soll bei der Entscheidung den Ausschlag gegeben haben, so Werner Pouvoirs Nr. 67, 1993, 117 (125).
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Diesen Ausbruch hat der verfassungsändernde Gesetzgeber freilich schon 1974 durch die Erweiterung des Zugangs zum Conseil constitutionnel auf die Minderheit in Nationalversammlung und Senat implizit gebilligt64 • Die auch heute noch von Zeit zu Zeit aufflammende Entrüstung65 über die in der Erweiterung des PrUfungsmaßstabs liegende "Usurpation" des Conseil constitutionnel entbehrt jedenfalls seit dieser Verfassungsänderung der tatsächlichen Grundlage.
y) Reichweite des Verweises
Verschiedentlich ist die Frage aufgeworfen worden, ob die Präambel von 1958 tatsächlich als globale Einbeziehung der von ihr genannten Texte angesehen werden kann, ob durch diese Verweisung nicht vielmehr entsprechend der Fonnulierung nur solche Nonnen in die geltende Verfassung übernommen worden sind, die entweder die Menschen- und Bürgerrechte oder die nationale Souveränität zum Gegenstand haben 66 •
62 Ein Verstoß des überprüften Gesetzes gegen die vom ce als Grundrecht anerkannte Vereinigungsfreiheit lag jedenfalls nicht auf der Hand, so etwa de Lacharriere Pouvoirs Nr. 13, 1980, 141 (150): "A y regarder de pres, la liberte d'association ne subissait aucune atteinte sensible"; ebenso Philip AJDA 1975, 15 (16). Auch der Berichterstatter des ce, Fran~ois Goguel, war zur Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes gelangt, wie Avril RDP 1990,949 (950) und Werner Pouvoirs Nr. 67, 1993, 117 (125) berichten. 63 Die Eile erscheint im Rückblick verständlich, denn aus der damaligen Perspektive vor der Erweiterung des Zugangs zum ce - war nicht absehbar, ob und wann der ce erneut Gelegenheit zur Überprüfung eines grundrechtsrelevanten Gesetzes erhalten würde; s. auch Ehrmann Staat 1981,373 (380). 64 So etwa Favoreu, Diskussionsbeitrag in: La Declaration (1989), 67 f; s. auch Avril RDP 1990, 949 ff; Autexier Staat 1976, 89 (102); Oellers-Frahm FS Doehring (1989), 691 (703). 65 s. nur de Lacharriere Pouvoirs Nr. 13, 1980, 141 ff; Werner Pouvoirs Nr 67, 1993, 117 ff; Lavroff Melanges Peiser (1995), 347 ff; auf politischer Ebene wurden diese Angriffe v.a. im Zusammenhang mit der Entscheidung vom 13.8.1993 zum Asylrecht (s.u. 3. Kap. A. III. I. b) erneuert, dazu etwa Rousseau RDP 1994, 103 (104 ft). 66 So Pelloux Melanges Basdevant (1960),389 (391); Philip Melanges Pelloux (1980) 265 ff; ders. Melanges Kayser Bd. 2 (1979), 317 (320 ft); ablehnend Vedel in: La Declaration (1989), 35 (47 t); Genevois Jurisprudence Rn 330, S. 196 sowie Rn 336, S. 201; auch Philip JöR n.F. 38 (1989), 119 (124) erkennt an, daß zumindest die Rechtsprechung des ce seine Fragestellung nicht aufgegriffen hat, erhält seine Bedenken gegen ein Verständnis als globale Verweisung aber weiter aufrecht.
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Diesem Ansatz ist zwar Genauigkeit der Lektüre zuzuerkennen, doch führt er im Ergebnis wohl nicht zum Ausschluß einzelner Vorschriften: Jede der Bestimmungen sowohl der Menschenrechtserklärung als auch der Präambel von 1946 betrifft zumindest indirekt67 einen der beiden Problemkreise. Dies gilt im Bereich der Menschenrechte für die mit der Präambel von 1946 angefügten sozialen Rechte, im Bereich der nationalen Souveränität auch für die wichtigen Bestimmungen des 14. und 15. Absatzes der Präambel von 19466K : Mit der Stellung Frankreichs in der internationalen Gemeinschaft regeln diese ebenfalls die Ausübung der nationalen Souveränität und sind daher selbst bei enger Interpretation der Verweisung von dieser um faßt. Auch der Conseil constitutionnel hat bisher noch in keinem einzigen Fall eine Norm der Präambel als von der Verweisung ausgeschlossen bezeichnet69 • Die ganz überwiegende Auffassung in der Literatur geht denn heute auch ohne weitere Differenzierung von Geltung und Verfassungsrang der gesamten Präambel aus - ausgenommen allein die drei letzten Absätze, die wiederum Frankreichs Situation als Kolonialmacht betreffen und jedenfalls mit dem Ende dieser Position als gegenstandslos anzusehen sind70 •
cc) Die weiteren Normgruppen des "bloc de constitutionnalite" im Einzelnen a) Die Menschenrechtserklärung von 1789
Die Menschenrechtserklärung von 1789 ist in den "bloc de constitutionnalite" durch einen zweifachen Verweis einbezogen: Zum einen verweist die Präambel der Verfassung von 1958 unmittelbar auf sie, zum anderen gilt dasselbe für die Präambel von 1946, auf die die Präambel von 1958 ebenfalls verweist. Dennoch standen die Gewährleistungen der Menschenrechtserklärung - ebenso wie die 67 So dient das in Art. 16 der Menschenrechtserklärung proklamierte Staatsorganisationsprinzip der Gewaltentrennung zugleich dem Grundrechtsschutz. 68 Anders Pelloux Melanges Basdevant (1960), 389 (398), der jedoch die zweite Alternative der Verweisung (Souveränität) übersieht; s. auch Conac / Luchaire (-Luchaire) Präambel, S. 100 f. 69 Favoreu / Renoux in: Rep. co nt. adm. Stichwort Constitutionnalite des actes administratifs Rn 58 f.
70 Conac / Luchaire (-Luchaire) Präambel, S. 93 sieht diese Absätze schon als nicht vom Verweis der Präambel von 1958 erfaßt an, da sie keinen Bezug zur nationalen Souveränität hätten und zudem durch die - ihrerseits inzwischen als gegenstandslos beseitigten - Art. 77-87 der Verfassung von 1958 (Titre XII - Oe la Communaute) ersetzt worden seien.
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verstreut auch im Text der Verfassung von 1958 zu findenden Freiheitsgewährleistungen - in der Rechtsprechung über lange Zeit im Hintergrund der anderen Bestandteile des "b1oc de constitutionnalite", insbesondere der "principes fondamentaux reconnus par les lois de la Republique". Ein deutlicher Bezug auf die Erklärung findet sich in der Rechtsprechung des Conseil constitutionnel erstmals im Jahr 1973 71 • Im Mittelpunkt des Interesses stehen die Gewährleistungen erst seit den großen Nationalisierungsentscheidungen des Jahres 1982, die die aktuelJe Geltung des damals bereits fast 200 Jahre alten Textes und insbesondere der in ihm enthaltenen Eigentumsgewährleistung deutlich hervorgehoben haben 72 •
ß) Die ''principes particulierement necessaires Cl natre temps"
Die in der Präambel von 1946 selbst im Einzelnen aufgeführten "principes particulierement necessaires a notre temps" betreffen vor alJem benannte wirtschaftliche und soziale Rechte: Auch hier ist die Frage aufgeworfen worden, ob diese Gewährleistungen vom Verweis der Präambel von 1958 auf die Menschenrechte umfaßt sind, oder ob dieser sich nur auf die Menschenrechtserklärung von 1789 bezieht73 • Vor alJem in bezug auf die sozialen Leistungsrechte ("droits-creances") wie das Recht auf Arbeit (Absatz 5 der Präambel), soziale Sicherheit (Absatz 11) und Gesundheitsschutz (Absatz 12) ist auch geltendgemacht worden, daß sie einer unmittelbaren Geltung gar nicht zugänglich wären 74 • 71 CC 27.12.1973 No 73-51 DC - Taxation d'office, Rec. S. 25 = GDCC Nr. 21, S. 277 AJDA 1974, 246 m.Anm. Gaudemet S. 236 zum in Art. 6 Satz 2 und 13 DDH verankerten Gleichheitssatz; s. Luchaire Melanges Waline Bd. 1 (1974), 563 (572); Philip Melanges Kayser Bd. 2 (1979), 317 (325 ff); zu dieser Entscheidung s. noch unten 3. Kap. B. I. 4. a) bb) a). 72 CC 16.1.1982 No 81-132 OC - Nationalisations, Rec. S. 18 = GDCC Nr. 31, S. 444 (I. Entscheidung); CC 11.2.1982 No 81-139 DC - Nationalisations, Rec. S. 31 = GDCC Nr. 31, S. 444/451 (2. Entscheidung); s. Favoreu RDP 1982, 377 (40 I ff); dazu, insbes. zum Verhältnis der DDH zu den jüngeren Komponenten des "bloc de constitutionnalite" s. noch unten 3. Kap. A. I. 2. b) cc) E); zum Status der DDH im geltenden Verfassungsrecht s. auch die aus Anlaß des 200. Jahrestags veröffentlichten Beiträge von Jeanneau RDP 1989, 635 ff; OberdorffRDP 1989, 665 ff sowie die den vom CC herausgegebenen Tagungsband "La Declaration des droits de I'homme et du citoyen et la jurisprudence" (1989) mit Beiträgen insbes. von Vedel S. 35 ff und Chapus S. 181 ff.
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Pelloux Melanges Basdevant (1960), 389 (391); s. auch Debene AJDA 1978, 531 ff.
So etwa zur Gewährleistung der nationalen Solidarität im Katastrophenfall durch den 12. Absatz der Präambel - "La Nation proclame la solidarite et I'egalite de tous les 74
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3. Kapitel: Verfassungsrechtl iche Grenzen der Integration
Der Conseil constitutionnel hat erstmals in der auch in anderem Zusammenhang wichtigen Entscheidung vom 15.1.1975 75 zur gesetzlichen Regelung des Schwangerschaftsabbruchs auf ein "principe particulierement necessaire a notre temps", das im 11. Absatz der Präambel "gewährleistete" Recht auf Gesundheit, Bezug genommen. Auch die Vorbehalte gegen die unmittelbare Geltung dieser Gewährleistungen teilt der Conseil constitutionnel vielfach nicht: So hat die Entscheidung vom 13.8.1993 76 entgegen der Rechtsprechung des Conseil d'Etat dem im 4. Absatz der Präambel garantierten Asylrecht unmittelbare Wirkung zugesprochen 77.
y) Die "principesjondamentaux reconnus par les lois de la Republique"
Die Präambel von 1946 verweist hinsichtlich des Schutzes der Menschen- und Bürgerrechte freilich nicht nur auf die Menschenrechtserklärung von 1789, sondern daneben auch auf die "von den Gesetzen der Republik anerkannten grundlegenden Prinzipien" (principes fondamentaux reconnus par les lois de la Republique, PFRLR). Diese aus einem politischen Versteckspiel 7R bei den Beratungen zur Verfassung von 1946 hervorgegangene Kategorie und das in ihr
Fran~ais devant les charges qui resultent des calamites nationales" - CE 29.11.1968 Tallagrand, Rec. S. 607 = O. 1969 jp 386 m.Anm. Silvera; s. allgemein Ress JöR n.F. 23 (1974),121 (152). 7S CC 15.l.1975 No 74-54 OC - Interruption volontaire de grossesse (lVG), Rec. S. 19; zu dieser Entscheidung m.w.N. unten 4. Kap. B. 11. 1. a). 76 Zu dieser Entscheidung und ihren Folgen s.u. 3. Kap. A. III. I. b) sowie noch 3. Kap. B. I. 3. b) bb) ß). 77 Zur Asylrechts-Rechtsprechung von CC und CE s. noch unten 4. Kap. B. 11. I. b); s. auch zuletzt den 6. Erwägungsgrund von CC 29.12.1995 No 95-371 OC - Loi de finances rectificative pour 1995, Rec. S. 265 = JORF 3l.12.1995, S. 19108 = RFOC 1996, 130 m.Anm. Philip zum Recht auf angemessene Wohnung (" ... objectif de valeur constitutionnelle relatif a la possibilite pour toute personne de disposer d'un logement decent"). 78 Während die Abgeordneten der Linken mit dieser Klausel eine allgemeine Würdigung der Leistungen des Gesetzgebers der 3. Republik beabsichtigten, wollten die Abgeordneten des M.R.P. (Mouvement der Republicains Populaires) auf diese Weise die durch ein Gesetz von 1931 ausdrücklich als "principe fondamental" bezeichnete, aber noch höchst umstrittene Unterrichtsfreiheit (liberte d'enseignement) implizit absichern, nachdem eine ausdrückliche Aufnahme in die Präambel nach heftigen Auseinandersetzungen gescheitert war, Genevois Jurisprudence Rn 333, S. 199; Turpin Contentieux constitutionnel Rn 72, S. 124. Oie Strategie hatte Erfolg: der CC hat mit Entscheidung vom 23.11.1977 No 77-83 OC, Rec. S. 39 = RDP 1978, 866 m.Anm. Favoreu RDP 1978, 801 (830 ft) die liberte d'enseignement als PFRLR anerkannt.
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ruhende Potential waren unter der 4. Republik praktisch unbeachtet geblieben 79 • Auch ihre Einbeziehung in den "bloc de constitutionnalite" war zunächst - mangels eines ausdrücklichen Verweises in der Verfassung von 1958 - angezweifelt worden 80 • Technisch ähnelt diese Formel den "hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtenturns" in Art. 33 Abs. 5 GG und stellt Rechtsprechung und Lehre vor dieselben Identifikationsprobleme 81 : Aus welcher Epoche muß das Gesetz stammen, das den Grundsatz erstmals anerkennt? Woran erkennt man das Grundsätzliche im Gegensatz zur allein durch eine längst vergangene politische Konjunktur bestimmten Augenblicksentscheidung? Der Conseil constitutionnel hat diese Kategorie in den 70er Jahren großzügig eingesetztS2 , ohne freilich auf die von Rivero aufgeworfene Frage nach den Anerkennungskriterien einzugehen8J • Schon die in der ersten Grundrechtsentscheidung des Conseil constitutionnel anerkannte Vereinigungs freiheit war kein "benanntes" Grundrecht, sondern wurde vom Conseil constitutionnel aus dem Vereinigungsgesetz von 1901 hergeleitet und als PFRLR anerkannt. In der Folge hat der Conseil constitutionnel eine größere Zahl solcher Gewährleistungen ausgemacht; überflüssigerweise geschah das auch in Fällen, in denen parallele Ergebnisse auch aus dem geschriebenen Teil der Verfassung herzuleiten gewesen wären. Auch blieb der Einsatz der PFRLR nicht auf den Grundrechtsbereich im engeren Sinne beschränkt, sondern diente auch der verfassungsrechtlichen Verankerung grundrechtsbezogener Strukturprinzipien s4 insbesondere im Bereich des Justizwesens 8s • 79 s. freilich CE 11.7.1956 - Amicale des Annamites, Rec. S. 317 = RDP 1956, 1432 zur Vereinigungsfreiheit; diese Entscheidung ist ihrerseits seinerzeit kaum beachtet worden, so der Hinweis von Genevois Melanges Chapus (1992), 245 (256). 80 Batailler Conseil d'Etat (1966), 99 f; s. auch Georgel RDP 1960, 85 (86); Beardsley 20 AJCL (1972), 431 (449 t). 81 So die klassisch gewordene Fragestellung von Rivero D. 1972 chr. 265 (266): "quelle Republique ? quelles lois ? quels principes ?"; aus der deutschsprachigen literatur s. Ress JöR n.F. 23 (1974),121 (154 ft). 82 So etwa Philip Melanges Pelloux (1980) S. 265 (269); kritisch gegenüber diesem exzessiven Einsatz der PFRLR Favoreu RDP 1978, 801 (838 t): "des principes atout faire"; Lochak Pouvoirs Nr. 13, 1980,41 ff; später noch Werner Pouvoirs Nr. 67, 1993, 117 (126 t).
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SO u.a. Rousseau Contentieux constitutionnel S. 95.
Genevois RFDA 1987, 287 (292); nach seiner, diesen Aspekt einbeziehenden Definition ist das PFRLR "un principe essentiel, pose par le legislateur republicain, touchant a I'exercice des droits et libertes et qui a rerru application avec une constance suffisante dans la legislation anterieure a la Constitution du 27 octobre 1946." 84
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Seit Anfang der 80er Jahre läßt der Conseil constitutionnel allerdings größere Zurückhaltung bei dieser "Vervollständigung der Verfassung aus dem Nichts" walten 86 • Die Kategorie der PFRLR wird seitdem nur noch selten und nur in solchen Fällen herangezogen, in denen das Ergebnis nicht bereits aus der Verfassung selbst oder aus den von ihr in Bezug genommenen Texten begründbar ist. Erst durch eine Entscheidung aus dem Jahre 198887 wurden dann die formalen Kriterien grundsätzlich geklärt; die Klärung erfolgte entsprechend der bereits zuvor beobachteten Tendenz in sehr restriktivem Sinne: (1) Die betreffende Regel muß in formellen Gesetzestexten Niederschlag gefunden haben; die Berufung auf eine formlose "tradition republicaine" reicht nicht aus 88 •
(2) Die gesetzliche Bestätigung des Grundsatzes muß lückenlos sein; bereits eine einzige Durchbrechung durch ein republikanisches Gesetz genügt, um die Anerkennung zu vereiteln 89 • (3) Die dritte Einschränkung betrifft den Referenzzeitraum: Die betreffenden Gesetze müssen aus der Zeit vor Geltung der Verfassung von 1946 stammen 90 •
85 Zu der auf diese Weise erfolgten verfassungsrechtlichen Absicherung der Unabhängigkeit der Verwaltungsgerichte und der Existenz der Verwaltungsgerichtsbarkeit s.u. 4. Kap. B. JI. 3. a) bb). 86 Favoreu RDP 1983, 333 (359 f); ders. RDP 1987, 443 ff; ders. / Renoux in: Rep. cont. adm. Stichwort "Constitutionnalite des actes administratifs" Rn 53; Chevallier RDP 1988, 311 (344 ff); Turpin Contentieux constitutionne1 Rn 72, S. 125 f; nach allg. Ansicht ist dieser Wandel in der Rechtsprechung des CC vor allem der Tätigkeit von Georges Vedel (Mitglied des CC 1980 - 1989) zu verdanken. 87 CC 20.7.1988 No 88-244 DC - Loi d'amnistie (12. Erwägungsgrund), Rec. S. 119 = D. 1989 jp. 269 m. insoweit zust. Anm. Luchaire = AJDA 1988, 752 m.Anm. Wachsmann = Dr. soc. 1988,760 m.Anm. Pretot S. 755 = JCP 1989 II 21202 m.Anm. Paillet; s. auch Genevois AUC 1988,385 (403 ff); Favoreu RDP 1989,399 (448 f). 88 CC 20.7.1988 (vorige Fn); deshalb geht auch die Qualifikation der PFRLR als "Verfassungsgewohnheitsrecht" an der Sache vorbei, so aber Bouvier Droits Nr. 3, 1986, 87 (91), der die gesetzliche Anerkennung nur als Bestätigung der gewohnheitsrechtlichen Geltung ansieht; gegen ihn Genevois Jurisprudence Rn 334, S. 200. 89 CC 20.7.1988 (Fn 87); s. auch Vedel RFDA 1990,698 (705). 90 CC 20.7.1988 (Fn 87); ebenso der 13. Erwägungsgrund von CC 4.7.1989 No 89254 DC - Privatisations, Rec. S. 41 = D. 1990 jp 209 m.Anm. Luchaire. Der damit erfolgte Ausschluß der Gesetze der 4. Republik war zuvor durchaus umstritten: von der Präambel der Verfassung der 4. Republik konnten sie nicht gemeint sein, aber diese gilt ja heute nicht mehr aus sich heraus, sondern kraft des erneuten Geltungsbefehls von 1958, der durchaus auch die nunmehr vergangene 4. Republik einschließen könnte; s.
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Hinsichtlich der materiellen Voraussetzung, also der grundsätzlichen Bedeutung der gesetzlich anerkannten Regel, hat sich der Conseil constitutionnel dagegen eine wohl auch unvermeidliche Einschätzungsprärogative bewahrt. Sie schließt in der Praxis eine Prognose darüber aus, ob eine die formalen Voraussetzungen erfüllende Regel auch als in der Sache "grundsätzlich" anerkannt werden wird91 • Diese Entwicklung in der Rechtsprechung des Conseil constitutionnel hat auch gezeigt, daß die Kategorie der principes fondamentaux strikt von den "principes generaux du droit" zu unterscheiden ist92 : Bei letzteren handelt es sich um ungeschriebene Regeln, die die VerwaItungsgerichtsbarkeit zur Kontrolle der Rechtsetzung der Verwaltung entwickelt hat93 • In den Anfangsjahren der 5. Republik war vielfach der Verfassungsrang auch dieser principes generaux angenommen worden; diese Auffassung stand wohl vor dem Hintergrund der Annahme, daß die neue Normenkategorie der Reglements autonomes nicht unter, sondern gleichrangig neben dem Gesetz stehe94 und folglich auch nur denselben Bindungen unterliege wie der Gesetzgeber. Die Aufstufung der prindazu Philip Melanges Pelloux (1980) S. 265 (270); Favoreu RDP 1980, 1627 (1647 f), Luchaire Conseil constitutionnel S. 182; vgl. auch Rousseau Contentieux constitutionnel S. 96; ders. RDP 1993, 5 (12 f); aus der deutschsprachigen Literatur s. den Hinweis von Savoie in: Grabitz (1987),203 (212 f). 91 So z.B. Rousseau Contentieux constitutionnel S. 97; Luchaire RDP 1981, 275 (285 f); exemplarisch für die neue Zurückhaltung bei der Anerkennung von PFRLR ist der 18. Erwägungsgrund von CC 20.7.1993 No 93-321 DC - Loi reformant le Code de 1a nationalite, Rec. S. 196 = RFDC 1993, 820 m.Anm. Philippe zum Rang des ius soli, also des Erwerbs der französischen Staatsangehörigkeit durch Geburt in Frankreich: kein PFRLR, da erst (!?) seit 1889 gesetzlich anerkannt und diese Entscheidung damals durch die Erfordernisse des Wehrdienstes motiviert war. Kritisch zu letzterer Erwägung Rousseau a.a.O.; ders. RDP 1994, 103 (115 f) mit dem durchaus überzeugenden Einwand, daß wohl jede später als grundsätzlich erscheinende Regelung im Ursprung jedenfalls auch einen pragmatischen Hintergrund gehabt haben dürfte. 92 Conac I Luchaire (-Luchaire) Präambel, S. 97; Genevois in: Rep. co nt. adm. Stichwort principes generaux Rn 49 ff; Chapus DAG I Rn 95 ff, S. 71 ff. 93 Allg. zu den principes generaux Jeanneau EDCE 1981-1982, 33 ff; Le Mire Melanges Charlier (1981), 171 ff; Genevois in: Rep. co nt. adm. Stichwort principes generaux; Lachaume Droit administratif S. 78 ff; aus der deutschsprachigen Literatur Savoie in: Grabitz (1987), 203 (218 ff); Tomuschat EuGRZ 1979, 191 (194 ff); Reinhard JöR n.F. 30 (1981), 73 (119 ff); Schwarze Europäisches Verwaltungs recht Bd. 1 S. 102 ff; auch soweit die deutschsprachigen Quellen jüngeren Datums sind, geben sie allerdings großteils den Stand zu Beginn der 80er Jahre wieder und vermitteln insbesondere den Eindruck, daß manche der principes generaux auch als solche Verfassungsrang besäßen, statt mit Grundsätzen von Verfassungsrang nur inhaltlich übereinzustimmen. 94 So etwa Morange D. 1959 chr. 21 (23 ff); ders. RDP 1977, 761 (770).
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
cipes generaux zu Verfassungsrang diente damit dem Ziel, diese neue, gesetzesunabhängige Verordnungsgewalt zu bändigen95 • Daß auf diese Weise zugleich auch dem Gesetzgeber ein - zu - enges Korsett angelegt worden wäre, wurde offenbar in Kauf genommen. Nachdem zwischenzeitlich feststeht, daß auch die autonomen Verordnungen als Rechtsakte der Exekutive weiterhin im Rang unter dem Gesetz stehen, sind derartige Konstruktionen überflüssig geworden: Die principes generaux stehen nach nunmehr herrschender Auffassung in Literatur96 und Rechtsprechung97 entweder im Range des Gesetzes oder auf einer Zwischenstufe unterhalb der Gesetze, aber oberhalb der Verordnungen 98 , jedenfalls aber damit unterhalb der Verfassung; sie können folglich im Grundsatz durch den parlamentarischen Gesetzgeber überwunden werden. Das abweichende geschriebene Gesetz steht dann nach der einen Ansicht im Rang über den Principes generaux, nach der Gesetzesrang annehmenden Gegenansicht stellt es sich als lex posterior oder lex specialis dar. Inhaltlich ergeben sich allerdings tatsächlich Überschneidungen: Mancher Grundsatz, den zuerst die Verwaltungsgerichtsbarkeit "entdeckt" und gegenüber der Exekutive durchgesetzt hat, hat sich in der Folge als so gewichtig erwiesen, daß seine Anerkennung auch als "principe fondamental reconnu par les lois de la Republique", also als Grundsatz von Verfassungsrang und damit Bindungswirkung auch rur den Gesetzgeber, geboten war99 • Voraussetzung für diesen Schritt blieb allerdings, daß eine entsprechend kontinuierliche gesetzliche Anerkennung nachgewiesen werden konnte 1oo •
95 So die Zusammenfassung der früheren h.L. durch Monin D. 1990 chr. 27: "Ie contröle des decisions prises par le pouvoir executif dans le cadre de ce pouvoir rl5glementaire autonome exige notamment que les principes gem5raux passent du niveau legislatif au niveau constitutionnel ... " Zu diesem Hintergrund auch Vedel Melanges Chapus (1992), 647 (662 f); Jeanneau EDCE 1981 - 82, 33 (38 ft). 96 Mescheriakoff AJDA 1976,596 (605 ft); Auby Melanges Pelloux (1980), 21 (32 f). 97 Der CC spricht teils ausdrücklich von Gesetzesrang, so etwa der 13. Erwägungsgrund von CC 30.7.1982 No 82-143 DC - Blocage des prix et des revenus, Rec. S. 57 = GDCC Nr. 33, S. 516 ff: " ... cette regle n'a que valeur legislative ... il peut donc toujours y etre deroge par une loi."; s.auch Favoreu RDP 1983, 333 (362); Favoreu / Philip GDCC S. 520 (531); weitere Nachweise aus der Rspr. des CC bei Rouhette Melanges Raynaud (1985), 687 (709 m. Fn 118).
98 So vor allem Chapus D. 1960 chr. 119 ff; ders. D. 1966 chr. 99 ff; ders. DAG I, Rn 105 ff, S. 83 ff. 99 s. Luchaire Melanges Waline Bd. I (1974), 563 (567); Favoreu / Renoux in: Rep. cont. adm. Stichwort Constitutionnalite des actes administratifs Rn 19 ff; Delvolve RFDA 1996, 908.
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Andere principes generaux hat der Conseil constitutionnel zwar in dieser Eigenschaft anerkannt lOl , ihre Überwindung durch den parlamentarischen Gesetzgeber aber zugelassen und damit ihren Verfassungsrang implizit verneint: Der Rückgriff auf die Kategorie der principes generaux dient in diesen Fällen also nur der Kompetenzabgrenzung zwischen parlamentarischem Gesetzgeber und der autonomen Verordnungsgewalt der Regierung (pouvoir reglementaire)102.
5) Weitere unbenannte Bestandteile?
Bis heute ist umstritten, ob die Rechtsprechung des Conseil constitutionnel zur Schaffung weiterer, ungeschriebener Rechtssätze von Verfassungsrang
100 Diese Forderung nach Anerkennung durch geschriebenes Gesetzesrecht unterscheidet die PFRLR grundsätzlich von den principes gent!raux, s. nur Vedel RFDA 1990, 698 (705); ders. Melanges Chapus (1992), 647 (666); Delvolw! RFDA 1996,908. 101 Erstmals CC 26.6.1969 No 69-55 L - Protection des sites, Rec. S. 27 = GDCC Nr. 18, S. 230; seitdem st. Rspr. des CC, s. nur Favoreu RDP 1981,621 (624) m.w.N. Der CE hat diesen Übergriff auf sein Tätigkeitsfeld mit Unmut aufgenommen und dem vom CC "entdeckten" principe general (silence vaut refus) diesen Charakter abgesprochen, CE Ass. 27.2.1970 - Commune de Bozas, Rec. S. 139 = AJDA 1970,232 m.Anm. Denoix de Saint-Mare / Labetoulle S. 220 (225 f); dem CE in der Sache zustimmend Genevois Jurisprudence Rn 198, S. 117. In neuester Zeit hat der CE in einer aufsehenerregenden Entscheidung zum Gegenschlag ausgeholt und erstmals die Existenz eines bis dahin vom CC noch nicht behandelten PFRLR, nämlich des Grundsatzes der Ablehnung von politisch motivierten Ausliefungsanträgen, behauptet: CE Ass. 3.7.1996 - Moussa Kone, D. 1996 jp 509 m.Anm. lulien-Laferriere = RFDA 1996, 880 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Delarue S. 870 und Anm. Favoreu S. 882, Gai"a S. 885, Labayle S. 890 u. Delperee S. 908 = RDP 1996, 1760 m.Anm. Braud S. 1751 = JCP 199611 22720 m.Anm. Pretot = AJDA 1996, 805 m.Anm. Chauvaux / Girardot S. 722 ff; zu dieser Entscheidung s. auch noch unten 3. Kap. B. 11. I. b) bei Fn 348. 102 Im Ergebnis fUhrt diese Rechtsprechung zur Ausweitung der Zuständigkeit des Gesetzgebers gegenüber der autonomen Verordnungsgewalt der Regierung, denn die "autonome" Verordnung ist nicht in der Lage, sich über die principes generaux hinwegzusetzen, s. nur Genevois Jurisprudence Rn 170, S. 99; weiter zur unüblichen Folge, daß die Kompetenz nicht nur - wie in Art. 34 der Verfassung vorgesehen - nach dem Regelungsgegenstand, sondern auch nach dem beabsichtigten Inhalt der Regelung zu bestimmen ist. Die Lösung scheint freilich nicht unangemessen: hält der Verordnungsgeber sich inhaltlich im gewohnten und durch die principes generaux begrenzten Rahmen des Bestehenden, so bleibt er zuständig; soll dieser Rahmen überschritten werden, flillt die Zuständigkeit dem parlamentarischen Gesetzgeber zu (Anklänge an die deutsche Wesentlichkeitstheorie sind unverkennbar!).
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
gefiihrt hat. Fest steht, daß die Wendung "principe de valeur constitutionnelle" in den Entscheidungen häufig erscheint; zuweilen geschieht dies auch ohne nähere Bezugnahme auf den Text der Verfassung oder der verschiedenen Präambeln. Daraus ist vielfach geschlossen worden, daß neben den bekannten Kategorien eine weitere Rechtsquelle des Verfassungsrechts entstanden sei 103. Ein genauerer Blick auf die einschlägigen Entscheidungen zeigt jedoch, daß diese Annahme alles andere als zwingend ist: Auch in den Fällen, in denen der Conseil constitutionnel ohne nähere Präzisierung "Grundsätze von Verfassungsrang" zugrundegelegt hat, läßt sich regelmäßig eine normative Anbindung an den Text der Verfassung zumindest nachträglich - in Ergänzung der Begründung des Conseil constitutionnel - herstellen lO4 • Teilweise ist dazu allerdings der Rückgriff auf Generalklauseln wie Art. 5 der Verfassung lO5 erforderlich.
103 So etwa Rohert RDP 1990, 1255 (1261 f); Jeanneau EDCE 1981 - 82,33 (37 f); LavroffMelanges Peiser (1995),347 (357 ff); im Ergebnis offen Genevois Jurisprudence Rn 338 ff, S. 203 ff m.w.Nachw.; Costa in: CC et CE (1988), 133 ff; strikt ablehnend Vedel Journees Soc. Leg. Comp. 1984,265 (287) = ders. in: Blaurock (Hrsg.), Präjudizien, S. 75 (99): "... le Conseil constitutionnel, largement mis en garde contre le danger du "gouvernement des juges", ne s'estime pas maitre des sources du droit constitutionnel. On ne peut guere eiter de motif d'une de ses deeisions qui ne se refere pas avec precision a un texte de valeur constitutionnelle." 104 So Vedel Melanges Chapus (1992), 647 (665 ff), der die von Genevois aaO (vorige Fn) angeflihrten Belege aus der Rechtsprechung des CC als überwiegend flir die Frage unergiebig ansieht; im Ergebnis ebenso jetzt Genevois Melanges Braibant (1996), 323 (336). 105 Art. 5 Abs. I: "Le President de la Republique veille au respect de la Constitution. II assure, par son arbitrage, le fonctionnement regulier des pouvoirs pub lies ainsi que la continuite de I'Etat." Unter Rückgriff auf den letzten Halbsatz löst Vedel Melanges Chapus (1992), 647 (667) den - auch von Rohert RDP 1990, 1255 (1261) und Jeanneau EDCE 1981 - 82 33 (37 f) angeflihrten - schwierigsten "Fall" in der Rspr. des CC, nämlich die Verankerung der "continuite du service public" als verfassungsrechtlicher Schranke des Streikrechts durch CC 25.7.1979 No 79-105 DC - Droit de greve a la radio et a la television, Rec. S. 33 = GDCC Nr. 27, S. 363 = RDP 1979, 1732 m.Anm. Favoreu S. 1659 (1705 ff) = D. 1980 jp 101 m.Anm. Paillet und Hamon D. 1980 ehr. 333 sowie CC 22.7.1980 No 80117 DC - Protection et contröle des matieres nuc\eaires, Rec. S. 42 = D. 1981 jp 65 m.Anm. Franck = RDP 1980, 1685 m.Anm. Favoreu S. 1627 (162 .ff) = Dr. soc. 1980, 452 m.Anm. Turpin S. 441 (446 ff); Vedel folgend Genevois Melanges Braibant (1996), 323 (326).
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s) Das Verhältnis der Komponenten des "bloc de constitutionnalite" zueinander
In der Literatur ist rür diese Quellensituation das - aufgrund inzwischen erfolgter Verfassungsänderungen zahlenmäßig aber schon nicht mehr präzise Bild einer "Verfassung von 135 Artikeln" geprägt worden: Neben den (damals) 93 Artikeln der Verfassung von 1958 stehen 17 Artikel der Menschenrechtserklärung, 18 Absätze der Präambel von 1946 und bisher 7 vom Conseil constitutionnel anerkannte Principes fondamentaux lO6 • Zugleich räumt diese Vielzahl der normativen Grundlagen von unterschiedlicher, teils gegensätzlicher Inspiration dem Conseil constitutionnel einen weiten Spielraum bei der Abwägung im Kollisionsfall ein, zumal eine formale Rangordnung zwischen den - im Einzelfall ja auch einander widerstreitenden Grundsätzen etwa nach Alter der Quelle oder Inhalt der Gewährleistung nicht besteht lO7 : Weder gehen die chronologisch älteren Texte den jüngeren Bestandteilen des "bloc de constitutionnalite" vor, noch gilt die umgekehrte Reihenfolge. Alle Quellen sind im selben Zeitpunkt durch die Annahme der Verfassung von 1958 im Wege der Volksabstimmung in ihrer Geltung zumindest bestätigt worden lOS. Genausowenig haben die primär in der Menschenrechtserklärung verankerten Freiheitsrechte Vorrang oder Nachrang gegenüber den sozialen Gewährleistungen der Präambel von 1946 109 • Statt dessen überprüft der Conseil constitutionnel im Einzelfall des jeweils zur Überprüfung stehenden Gesetzes, ob dem Gesetzgeber eine angemessene Abwägung und Ausgleich (conciliation) widerstreitender Gewährleistungen gelungen ist. Im Rahmen dieser Abwägung kann einzel-
106 Favoreu / Renoza in: Rep. cont. adm. Stichwort Constitutionnalite des actes administratifs Rn 70; zuletzt dies. in: La Cour de cassation et la Constitution (1995), 15 (18). 107 Zu dieser viel diskutierten Frage etwa Vedel in: La Declaration (1989), 35 (52 ff) und die anschließende Diskussion S. 65 ff mit Beiträgen u.a. von Genevois, Duhamel, Favoreu, Uo Hamon, Rivero, Cherot und Fromont; s. weiter Robert RDP 1990, 1255 (1262 ft); Turpin Contentieux constitutionnel Rn 78 ff, S. 134 ff; Rousseau Contentieux constitutionnel S. 107 ff.
lOS So die Argumentation von CC 16.1.1982 No 81-132 DC - Nationalisations, Rec. S. 18 = GDCC Nr. 31, S. 444 (14. und 15. Erwägungsgrund); prägnant auch Vedel in: La Declaration (1989),35 (52); Philip JöR n.F. 38 (1989), 119 (127); Favoreu in: Rousseau/Sudre (1990), 33 (36 ft); dagegen Z.B. Luchaire RDP 1981, 275 (309 t). 109 Badinter / Genevois RUDH 1990,258 (263 t) m.w.Nachw.; fllr Vorrang der sozialen Gewährleistungen etwa Luchaire Melanges Waline Bd. 2 (1974),563 (572 t).
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
nen Nonnierungen allerdings ein geringeres Gewicht zugemessen werden, als dies für als "zentral" empfundene Gewährleistungen der Fall ist" ll . c) Normenkategorien außerhalb des "bloc de constitutionnalite"
Neben diesen Bestandteilen des "bloc de constitutionnalite" im engeren Sinne stehen weitere Nonnenkategorien, von denen teils gesichert ist, daß sie jedenfalls gegenüber dem einfachen Gesetz einen besonderen Status einnehmen (Loi organique, völkerrechtlicher Vertrag). Für andere Kategorien, insbesondere fur die Volksgesetzgebung auf der Grundlage von Art. 11 der Verfassung, ist ein solcher herausgehobener Rang zumindest diskutiert worden.
aa) Die Stellung des Loi organique a) Begriff und Rang des Loi organique in der innerstaatlichen Rechtsordnung
Auch die Nonnenkategorie der Lois organiques" l ist eine eigenständige Schöpfung der 5. Republik. Sie dient - wie die anderen augenfälligen Neuerungen der 5. Republik, die Schaffung der eigenständigen Verordnungsgewalt und die Errichtung des Conseil constitutionnel, - der stärkeren Einbindung des parlamentarischen Gesetzgebers in den von der Verfassung vorgegebenen Rahmen l12 • Am treffsichersten läßt sich diese neue Kategorie über ihre Rechtsfolgen
110 So prägnant Badinter / Genevois RUDH 1990, 258 (266 t): "Bien qu'ayant meme valeur constitutionnelle, les droits fondamentaux n'ont pas tous en pratique le meme poids specifique"; s. weiter Favoreu in: Rousseau / Sudre (1990), 33 (36 ff); zur Technik der conciliation auch Favoreu aaO S. 42 f; Drago D. 1991 ehr. 265 ff; Arnold JöR n.F. 38 (1989), 197 (209 ft). 111 Der Begriff entstammt freilich Art. 115 der Verfassung von 1848 und wurde auch in den folgenden Verfassungen verwandt, hatte dort aber rein deskriptiven Charakter: die Lois organiques früherer Verfassungen unterschieden sich weder im Verfahren noch im Rang von anderen Gesetzen, Amiel RDP 1984,405 (406 ft); eine eigene Normenkategorie hat erst die 5. Republik geschaffen, Camby RDP 1989, 140 I (1402 ft); s. auch schon Morange D. 1959 ehr. 21 (23); Rousset Sir. 1960 ehr. I ff. 112 Amiel RDP 1984, 405 (432); Sirat D. 1960 ehr. 153 (157); tatsächlich weist die Verfassung von 1958 zahlreiche Regelungsgegenstände dem Loi organique zu, die zuvor auf der Ebene der Geschäftsordnungen der Kammern des Parlaments geregelt worden waren, s. Rousset Sir. 1960 ehr. I (4).
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beschreiben 113: Das Loi organique ergeht gemäß Art. 46 der Verfassung in einem besonderen, im Vergleich mit der einfachen Gesetzgebung schwerfälligeren Verfahren und unterliegt gemäß Art. 46 Abs. 5 und Art. 61 Abs. 1 der Verfassung l 14 zwingend der Vorab-Kontrolle durch den Conseil constitutionnel auf Initiative des Premienninisters IIS. Diese Beschreibung der theoretischen Situation gibt die tatsächliche Lage allerdings nur bedingt wieder: Sämtliche in der Verfassung von 1958 vorgesehenen Lois organiques sind - mit einer einzigen Ausnahme - in der Umbruch phase zwischen 4. und 5. Republik von der Regierung gemäß Art. 92 116 der Verfassung als (Not-)verordnungen im Rang eines Loi organique (Ordonnance portant loi organique) erlassen worden 117. An ihrem Erlaß war also weder der parlamentarische Gesetzgeber beteiligt, noch hat eine Kontrolle durch den - noch nicht eingerichteten - Conseil constitutionnel stattgefunden llK • Das in der Verfassung 113 So auch Genevois Jurisprudence Rn 263, S. 153; Conac / Luchaire (-Le Mire), Art. 46, S. 899 (901); Amiel RDP 1984, 405 (409). 114 Art. 46 Abs. 5: "Les 10is organiques ne peuvent etre promu1guees qu'apres declaration par le Conseil constitutionnel de leur conformite a la Constitution." Art. 61 Abs. 1: "Les lois organiques, avant leur promulgation doivent etre soumises au Conseil constitutionnel qui se prononce sur leur conformite a la Constitution."
IIS SO die Präzisierung durch Art. 17 der Ordonnance No 58-1067 du 7.11.1958 portant loi organique sur le Conseil constitutionnel; eine parallele Anrufung durch die Parlamentarier auf der Grundlage des Art. 61 Abs. 2 ist unzulässig, so der 2. Erwägungsgrund von CC 21.2 .1992 No 92-305 DC - Statut de la magistrature, Rec. S 27 = RDP 1992, 406 m.Anm. Luchaire S. 389; dazu auch Rousseau RDP 1993, 5 (20 f, 30). 116 Art. 92 Abs. 1: "Les mesures necessaires a la mise en place des institutions et, jusqu'a cette mise en place, au fonctionnement des pouvoirs publics seront prises en Conseil des Ministres apres avis du Conseil d'Etat, par ordonnance ayant force de loi." Das betreffende Kapitel der Verfassung von 1958 (Titre XVII : Dispositions transitoires; Art. 90 - 92) ist durch die Verfassungsänderung vom 4.8.1995 ersatzlos gestrichen worden, was aber den Status der auf Grundlage des Art. 92 erlassenen Ordonnances nicht berUhrt, s. nur Mathieu / Verpeaux JCP 1996 I 3933 (Rn 4); Luchaire RDP 1995, 1411 (1439) sowie jetzt auch der 1. Erwägungsgrund von CC 8.11.1995 No 95-366 DC Reglement de l'Assemblee nationale, Rec. S. 226 = JORF 1995, 16658 = RFDC 1996, 142 m.Anm. Oliva; zweifelnd dagegen Nguyen Van Tuong JCP 1995 I 3890 (Rn 29). 117 So schon die Feststellung von Sirat D. 1960 chr. 153 (157); Conac / Luchaire (-Le Mire), Art. 46, S. 899 (909) vermutet dahinter die Absicht, allein spätere Änderungen der Lois organiques, die dann auf dem vorgesehenen parlamentarischen Wege erfolgen, der Kontrolle durch den CC auszusetzen. Kritisch auch Amiel RDP 1984, 405 (441 f). IIK Conac / Luchaire (-Paoli), Art. 90 - 92, S. 1368; Badinter / Genevois / Vedel RFDA 1987,844 (848); Favoreu RDP 1967, 5 (42 ff, 60 ff). Eine nachträgliche Kontrol-
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3. Kapitel: Verfassungsrechtl iche Grenzen der Integration
vorgesehene besonders abgesicherte Erlaßverfahren konnte also nur noch bei Änderungen dieser Ordonnances ll9 zur Anwendung kommen l2O • Vom Regelungsgegenstand her l21 handelt es sich bei den Lois organiques typischerweise um Ausführungsgesetze zur Verfassung, die Status und Funktionsweise der Institutionen genauer beschreiben: Die Lage ist insoweit vergleichbar den Fällen, für die das GG ausdrücklich die Regelung "des Näheren" durch Bundesgesetz anordnet. Dem Gesetzgeber wird damit nicht nur eine Kompetenz zugewiesen, es wird vielmehr auch deren Ausübung als für das ordnungsgemäße Funktionieren der Institutionen erforderlich vorausgesetzt 122 • Der Status der Lois organiques weist eine weitere wesentliche Besonderheit auf, die freilich in der Verfassung nirgends ausdrücklich erwähnt, sondern nur aus dem Gesamtzusammenhang erschließbar ist l23 : Sie stehen im Rang über den einfachen Gesetzen l2 \ und dieser Vorrang wird vom Conseil constitutionnel im
le dieser Ordonnances haben sowohl CC (15.1.1960 No 60-6 DC - Magistrats Musulmans, Rec. S. 15) als auch CE (CE Sect. 12.4.1960 - Ste Eky, Rec. S. 101 = Sir. 1960, 131 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Kahn = D. 1960 jp 263 m.Anm. L'Huillier = JCP 1960 11 11629 bis m.Anm. Vedel; CE Ass. 1.7.1960 - Fradin, Rec. S. 441 = D. 1960 jp 690 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Braibant und Anm. L'Huillier) abgelehnt: Der CC nimmt eine nachträgliche NormenkontrolIe grundsätzlich nicht vor (s. dazu aber unten 3. Kap. B. I. 3. a) aa); der CE überprüft die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen nicht, und hat diese Rechtsprechung auch auf die in Gesetzesrang stehenden Ordonnances ausgedehnt. 119 Die Ordonnances auf der Grundlage von Art. 92, die je nach Regelungsgegenstand den Rang eines Loi organique oder eines einfachen Gesetzes haben, sind nicht zu verwechseln mit den Ordonnances nach Art. 38 der Verfassung, auf dessen Grundlage die Regierung nach Ermächtigung durch das Parlament Regeln im Anwendungsbereich der Gesetze erlassen kann, die der späteren parlamentarischen Bestätigung bedürfen und bis zu diesem Zeitpunkt als Maßnahmen der Exekutive der KontrolIe durch den CE ausgesetzt bleiben; s. dazu noch unten 4. Kap. B. 11. I. b) mit Fn 164 ff. 120 Hinzu kommen erstmals zu erlassende Lois organiques, soweit erst durch spätere Verfassungsänderungen in weiteren Bereichen dieses Erfordernis eingeflihrt wurde, so der Hinweis von Genevais Melanges Braibant (1996), 323 (325). 121 Eine Aufzählung findet sich bei Camby RDP 1989, 1401 (1404 Fn 7); s. auch Gaase NormenkontrolIe (1973), 42 ff. 122 Zur regelmäßig bestehenden Pflicht des parlamentarischen Gesetzgebers zum (erstmaligen) Erlaß der Lois organiques Amiel RDP 1984, 405 (416 ff). Die Frage ist freilich nie praktisch geworden, da die Ordonnances ihn dieser Last enthoben haben. 123 Amiel RDP 1984,405 (447 f); Rausset Sir. 1960 chr. 1 (5 f). 124 Genevais Jurisprudence Rn 263, S. 153; nach der Rspr. des CC kann das Loi organique auch Bestimmungen enthalten, die dem Regelungsbereich der einfachen Gesetze angehören; diese Vorschriften nehmen dann aber am besonderen Rang des Loi organique
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Rahmen der Kontrolle der einfachen Gesetze gemäß Art. 61 Abs. 2 der Verfassung durchgesetzt 125 • Insoweit sind auch die Lois organiques Teil des bloc de constitutionnalite, allerdings nur im weiteren Sinne des Begriffs, da sie einerseits für den einfachen Gesetzgeber verbindlich, andererseits aber der Verfassung im engeren Sinne unterworfen sind 126 : Andernfalls wäre ihre eigene, in Art. 61 Abs. 1 der Verfassung zwingend vorgesehene Kontrolle durch den Conseil constitutionnel sinnlos.
ß) Teilnahme des Loi organique am Vorrang der Verfassung gegenüber dem Gemeinschaftsrecht?
Dieser gegenüber den einfachen Gesetzen herausgehobene Zwischenstatus des Loi organique wirft die Frage auf, in weIchem Verhältnis diese Normenkategorie zum ebenfalls im Rang zwischen Verfassung und (einfachem) Gesetz angesiedelten völkerrechtlichen Vertrag steht. Die praktische Bedeutung dieser Frage könnte vernachlässigbar erscheinen, da die Lois organiques ja wie geschildert vorzugsweise zur Regelung des Funktionierens der staatlichen Institutionen vorgesehen sind, derartige Fragen aber ihrerseits vom Gemeinschaftsrecht kaum berührt werden. Dennoch sind derartige Berührungspunkte und damit auch Konflikte vorstellbar, wie Z.B. der neue Art. 88-3 Satz 3 der Verfassung l27 zeigt, der die Umsetzung des Kommunalwahlrechts für EG-Bürger einem Loi organique überantwortet 128 • nicht teil und können auch durch einfaches Gesetz wieder geändert werden, Genevois aaO.; ders. AUC 1988, 384 (394 t); Turpin Contentieux constitutionnel Rn 100, S. 157; Badinter / Genevois RUDH 1990,258 (262); Camby RDP 1989, 1401 (1427). 125 So erstmals CC 11.8.1960 No 60-8 DC - Redevance radio-television, Rec. S. 25 = GDCC Nr. 7, S. 84; seitdem st. Rspr., s. nur Conac / Luchaire ( -Le Mire), Art. 46, S. 899 (906 t), skeptisch freilich Camby RDP 1989, 1401 (1437 ft); ein Schönheitsfehler bleibt jedoch, daß auf diese Weise die Gesetzgebung auch an den Ordonnances gemessen wird, Normen also, deren Verfassungsmäßigkeit selbst nie geprüft wurde, s. nur Rousseau Contentieux constitutionnel S. 100; der CC bemüht sich, dem durch eine verfassungskonforme Auslegung der Ordonnances Rechnung zu tragen, so Badinter / Genevois RUDH 1990, 258 (262); Genevois Melanges Braibant (1996), 323 (337) jeweils m.Nachw. aus der Rspr. des ce. 126 Ausflihrliehe Darstellung der Rechtsprechung bei Camby RDP 1989, 1401 (1433 ft); s. auch Rousseau Contentieux constitutionnel S. 101; Genevois Melanges Braibant (1996), 323 (326). 127 Zum Text bereits oben 2. Kap. B. I. I. mit Fn 63. 128 Zur Frage, ob in diesem speziellen Fall der Conseil constitutionnel die Vereinbarkeit des Loi organique mit dem Vertrag überprüfen würde, s.u. 3. Kap. A. I. 2. c) dd)
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
Die Ansichten zur Auflösung solcher Konflikte sind in der Literatur geteilt: Auf der einen Seite wird der Vorrang des Loi organique unter Berufung auf seine Zugehörigkeit zum "bloc de constitutionnalite"l29 postuliertl 30 , zumal die Überprüfung des Vertrages am Maßstab des Loi organique in demselben Verfahren nach Art. 61 Abs. 2 der Verfassung erfolgen könne, in dem der Conseil constitutionnel auch den Vorrang der Lois organiques gegenüber einfachen Gesetzen durchsetzt. Auch die ältere Rechtsprechung des Conseil constitutionnel 131 konnte dahingehend interpretiert werden, daß zumindest die Ausgangs-Ordonnances Teil der Verfassung und selbst bei einer späteren Änderung der Lois organiques zu beachten seien 132 • Auf der anderen Seite wird geltendgemacht, daß die Lois organiques eindeutig den Gesetzen im Sinne von Art. 53 ff der Verfassung zuzuordnen seien und damit im Rang gemäß Art. 55 der Verfassung unter den Verträgen stünden 133. Ergänzend wird historisch-systematisch argumentiert, daß die Entwurfsfassung des Art. 54 der Verfassung noch die Lois organiques ausdrücklich als Prüfungsmaßstab enthalten hatte, diese Bezugnahme aber im endgültigen Text sowie 4. Kap. B. 11. 1. a) aal ß); das erforderliche Loi organique ist allerdings trotz Ablauf der Umsetzungsfrist bisher nicht erlassen worden, S.U. Fn 184. 129 Wie er sich aus der Rspr. des CC zum Vorrang der Lois organiques vor einfachen Gesetzen ergibt, s.o. bei Fn 125. 130 So u.a. Luehaire RTDE 1979, 411 ff; ders. Journees Soc. Leg. comp. 1990, 11 (20); Conae ! Luehaire (-Le Mire), Art. 46, S. 899 (907 f); wohl auch Abraham Droit international S. 49 f. 131 Insbes. CC 15.1.1960 No 60-6 OC - Magistrats musulmans, Rec. S. 21. 132 So z.B. Sirat O. 1960 chr. 153 (159 f); auf deutscher Seite Buerstedde JöR n.F. 12 (1963), 145 (157); auch diese Auffassung hat sich jedoch nicht durchgesetzt, die Entscheidung wird heute allgemein als frühe Ablehnung der exception d'inconstitutionnaIite, also der nachträglich-inzidenten Kontrolle eines bereits geltenden Gesetzes, gedeutet, so Conae! Luehaire (-Le Mire), Art. 46, S. 899 (911); Favoreu! Philip GOCC S 203; Turpin Contentieux constitutionnel Rn 99, S. 156; Rousseau Contentieux constitutionnel S. 164 f; Amiel RDP 1984,405 (446 f); Favoreu Melanges Duverger (1987),79 (85 f); Vedel in: La Declaration (1989), 35 (47); der CC konnte nach dieser Auslegung der Entscheidung die bereits erlassene Ordonnance zwar nicht mehr überprüfen, wohl aber konnte der Gesetzgeber sie weiterhin in dem von Art. 46 der Verfassung vorgesehenen Verfahren ändern. Auch in dieser beschränkten Bedeutung dUrfte die Entscheidung durch die spätere Rechtsprechung (s.u. 3. Kap. B. I. 3. a) aal aber heute überholt sein; in diesem Sinne Genevois AUC 1988, 385 (391); ders. Melanges Braibant (1996), 323 (325 f); Turpin Co ntenti eu x constitutionnel Rn 99, S. 156; Berramdane ROP 1993, 719 (733 f). 133 So etwa Dubouis RFOA 1989, 1000 (1006).
A. Materielle Rechtslage
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fehlt ll4 • Die Beilirworter eines Vorrangs des Loi organique haben allerdings darauf hingewiesen, daß diese Unterlassung auch dadurch erklärt werden könne, daß ein solcher Konflikt schwerlich vorstellbar schien 13S • Ausweislich der zwischenzeitlich veröffentlichten Travaux Preparatoires ist diese Änderung aber tatsächlich erfolgt, um einen Widerspruch zu dem in Art. 55 der Verfassung vorgesehenen Vorrang der Verträge zu vermeiden 136. Zudem ist der "bloc de constitutionnalite" (in der vielfach verwandten weiten Fassung des Begriffs) eben kein einheitlicher, in jeder Situation gleichbedeutender Begriff, seine Bestimmung hängt auch von Charakter und Rang der zur Überprüfung gestellten Norm ab 137 : Daß der Conseil constitutionnel den Vorrang der Lois organiques gegenüber einfachen Gesetzen durchsetzt, sagt nichts über ihren Rang im Verhältnis zu völkerrechtlichen Verträgen aus. Auch der Conseil constitutionnel scheint sich - neben der den speziellen Fall des Art. 88-3 der Verfassung betreffenden Maastricht-II-Entscheidung vom 2.9.1992 138 - in zwei neueren Entscheidungen l39 dieser Sicht der Dinge angeschlossen zu haben: Auf die Rüge, daß Teile der durch die angegriffenen Gesetze gebilligten Abkommen nach ihrem Regelungsgegenstand innerstaatlich der Sphäre der Lois organiques zuzurechnen seien und folglich nicht durch einfaches Gesetz, sondern nur durch Loi organique gebilligt werden dürften, antwortet der Conseil constitutionnel in diesen Entscheidungen, daß Art. 53 der Verfassung zur Billigung von Verträgen allein das einfache Gesetz vorsehe, auch wenn auf diese Weise inhaltlich in Lois organiques eingegriffen würde. Diese Ausilihrungen ergeben nur dann einen Sinn, wenn das Abkommen im Rang jedenfalls nicht unter dem Loi organique steht und dadurch überhaupt erst
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So etwa Berramdane RDP 1993, 719 (760 f).
Luchaire Conseil constitutionnel S. 247 f; ihm folgend Conac / Luchaire (-Le Mire), Art. 46, S. 899 (908). 136 s. die ausfllhrliche Darstellung bei Gala Insertion S. 265 - 274; s. auch Favoreu in: L'ecriture de la Constitution (1992),577 (583 ff) sowie den kurzen Hinweis bei Flauss LPA 1992 Nr. 85,15.7.1992,17. 137 s. oben 3. Kap. A. I. 2. a) sowie Gala Insertion S. 271 f. 135
138 CC 2.9.1992 No 92-312 DC - Maastricht H, Rec. S. 76 = GDCC Nr. 45, S. 771/ 780 (2. Entscheidung), s. zu diesem Fall noch unten 3. Kap. A. I. 2. c) dd). 139 CC 30.6.1993 No 93-318 DC - Accord avec la Mongolie, Rec. S. 153 = RFDC 1993,817 m.Anm Gai'a = RDP 1993, 1499 m.Anm. Luchaire S. 1493; CC 30.6.1993 No 93-319 DC - OlT-Konvention Nr. 139, Rec. S. 155 = RFDC 1993, 818 m.Anm. Gala = RDP 1993, 1500 m.Anm. Luchaire S. 1493; da beide Entscheidungen das Gemeinschaftsrecht nicht berühren, werden sie hier nicht näher dargestellt.
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
die Macht hat, inhaltlich in das Loi organique einzugreifen 140 - denn sonst wäre ja zumindest parallel eine Änderung des Loi organique nötig, wenn dieses nicht im späteren Anwendungskonflikt das rangniedere Abkommen verdrängen soll. Maßgeblich für die Auflösung des Rangkonflikts zwischen Vertrag und Loi organique ist also nicht die Tatsache, daß die Billigung des Vertrages in der Form eines einfachen Gesetzes erfolgt, sondern der von Art. 55 der Verfassung den Verträgen zugewiesene Vorrang gegenüber allen anderen Gesetzen.
bb) Der Rang des Loi referendaire: Die Volksgesetzgebung gemäß Art. 11 der Verfassung Die unmittelbare Volksgesetzgebung durch Referendum gemäß Art. 11 der Verfassung l41 nimmt jedenfalls verfassungsprozessual eine Sonderstellung ein: Schon früh hat sich der Conseil constitutionnel geweigert, die Verfassungsmäßigkeit der Lois referendaires zu überprüfen, da diese anders als Parlamentsgesetze einen unmittelbaren Ausdruck der Volkssouveränität darstellten 142. Dadurch war zugleich der Kern der damaligen politisch-juristischen Auseinandersetzung unentschieden geblieben: Es handelte sich um die politisch wie juri-
140 So auch die Einschätzung von Gai"a RFDC 1993, 819 (820); dagegen allerdings Genevois Melanges Braibant (1996), 323 (333) und wohl auch Luchaire RDP 1993, 1493 ff, die den Entscheidungen allein die Aussage entnehmen, daß die Billigung eines Abkommens auch dann durch einfaches Gesetz erfolgt, wenn dieses Bestimmungen enthält, die innerstaatlich ein loi organique erfordern würden. 141 Art. 11 Absatz 1 a.F.: "Le President de la Republique ... peut soumettre au referendum tout projet de loi portant sur I'organisation des pouvoirs publics, comportant approbation d'un accord de Communaute ou tendant a autoriser la ratification d'un traite qui, sans etre contraire a la Constitution, aurait des incidences sur le fonctionnement des institutions. " Der kursiv gestellte Satzteil ist durch Verfassungsänderung vom 4.8.1995 (JORF 5.8.1995, S. 11744) durch die Passage "sur les reformes relatives a la politique economique ou sociale de la nation et aux services publics qui y concourent" ersetzt worden, womit der Anwendungsbereich des Referendums deutlich erweitert wurde; dazu etwa Luchaire RDP 1995, 1411 ff; Nguyen van Tuong JCP 1995 I 3890. 142 CC 6.11.1962 No 62-20 DC, Rec. S. 27 = GDCC Nr. 14, S. 180 = D. 1963 jp 348 m.Anm. Hamon: "... il resulte de I'esprit de la Constitution qui a fait du Conseil constitutionnel un organe regulateur de I'activite des pouvoirs publics que les lois que la Constitution a entendu viser dans son article 61 sont uniquement les lois votees par le Parlement et non point celles qui, adoptees par le peuple a la suite d'un referendum, constituent I'expression directe de la souverainete nationale;" (2. Erwägungsgrund). s. auch Genevois Jurisprudence Rn 45 ff, S. 29 f.
A. Materielle Rechtslage
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stisch höchst umstrittene Frage, ob im Wege der Volksabstimmung nach Art. 11 der Verfassung auch Verfassungsänderungen - hier die Einfiihrung der unmittelbaren Volkswahl des Präsidenten in Abänderung von Art. 6 der Verfassung von 1958 - herbeigefUhrt und auf diese Weise die Anforderungen des in Art. 89 der Verfassung vorgesehenen Verfahrens der Verfassungsänderung l43 umgangen werden konnten. Auch die mit diesem Problem notwendig verknüpfte Frage nach dem möglichen Rang der Volksgesetzgebung war dadurch offengeblieben. Diese Zurückhaltung gegenüber der Kontrolle des "unmittelbaren Ausdrucks der nationalen Souveränität" ließ sich in den sechziger Jahren noch mit der dem Conseil constitutionnel ursprünglich zugedachten Stellung als Wächter allein des Parlaments l44 erklären. Trotz der grundsätzlichen Veränderung dieser verfassungspolitischen Rahmenbedingungen insbesondere durch die seitdem erfolgte Entwicklung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle ist sie vom Conseil constitutionnel in der Maastricht-III-Entscheidung vom 23.9.1992 145 neuerlich bestätigt worden, mit der der Conseil constitutionnel die Kontrolle der Volksabstimmung über die Ratifikation des Unionsvertrages abgelehnt hat. In diesem Fall stand allerdings tatsächlich ein Referendum mit nur einfachgesetzlichem Rang im Raum: Die zur Ratifikation des Unionsvertrages erforderlichen Verfassungsänderungen waren zuvor im parlamentarischen Verfahren nach Art. 89 der Verfassung vorgenommen worden. In der Literatur hat die vom Conseil constitutionnel in der Grundsatzentscheidung vom 6.11.1962 verwendete Begründung, insbesondere die Betonung des unmittelbaren Ausdrucks der Volkssouveränität, zu der Frage geführt, ob der Volksgesetzgebung schon aus diesem Grund auch materiellrechtlich stets ein höherer Rang einzuräumen sei als dem "normalen" Parlamentsgesetz l46 . Durch die neuere Rechtsprechung des Conseil constitutionne1'47 ist jedoch endgültig geklärt l4 K, daß diese Lücke in der Verfassungskontrolle jedenfalls
143 Zu diesem Verfahren noch unten 3. Kap. A. III. 144 S. O. 3. Kap. A. I. 2. b) bb) ß). 145 CC 23.9.1992 No 92-313 DC - Maastricht II1, Rec. S. 94 = GDCC Nr. 45, S. 771/ 785 (3. Entscheidung) = RFDC 1992,740 m.Anm. Favoreu = AJDA 1993, 153 m.Anm. Picard = JCP 1992 II 21956 m. Anm. Nguyen van Tuong; dazu auch Luchaire RDP 1992, 1587 (1606 ff); Rousseau RDP 1993, 5 (33 ff). 146 s. etwa Favoreu Melanges Duverger (1987), 79 (85); Favoreu / Philip GDCC S. 180 (189); Stillmunkes RDP 1964, 261 (276 ff, insbes. 280); weitere Nachweise bei Genevois AUC 1990,627 (639). 147 So der 7. Erwägungsgrund von CC 9.1.1990 No 89-265 DC - Loi d'amnistie, Rec. S. 12 = RFDC 1990,323 m.Anm. Renoux:
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3. Kapitel: Verfassungs rechtliche Grenzen der Integration
nicht automatisch einen hervorgehobenen Status des Volksgesetzes in der Normenhierarchie bewirkt'49, sondern dieser Rang vom Gegenstand bzw. dem Anspruch des Gesetzes abhängt: Handelt es sich danach um Normierungen mit dem Geltungsanspruch eines einfachen Gesetzes oder eines Loi organique lSO , so hat es denselben Status wie ein im parlamentarischen Verfahren erlassenes Gesetz lSI , kann also insbesondere auch durch Parlamentsgesetz wieder geändert werden I52 • Diese grundsätzliche Gleichrangigkeit von Parlaments- und Volksgesetzgebung entspricht auch der Logik von Art. 3 153 der Verfassung von 1958,
"... le principe de la souverainete nationale ne fait nullement obstacle a ce que le legislateur ... modifie, comph:te ou abroge des dispositions legislatives anterieures; ... il importe peu, a cef egard, que les dispositions modifiees, completees ou abrogees resultent d'une loi votee par le Parlement ou d'une loi adoptee par voie de referendum". Zu dieser Entscheidung auch Genevois AUC 1990, 627 (638 f) sowie Rousseau RDP 1992, 37 (81 f), der hervorhebt, daß eine unterschiedliche Behandlung hinsichtlich der Kontrolle durch den CC durch die einschränkende Formulierung "in dieser Hinsicht" vorbehalten blieb; s. auch schon Pavia RDP 1989, 1697 (1703 f). 148 s. zuvor etwa Garrigou-Lagrange RDP 1969, 641 676 ff); Hamon / Vaudiaux RDP 1967, 290 (315 f); schon CC 14.6.1976 No 76-65 DC - Loi organique relative a l'election du President de la Republique, Rec. S. 28 hatte im Rahmen der obligatorischen Kontrolle des im parlamentarischen Verfahren ergangenen Loi organique zur Änderung einzelner Details der Präsidentschaftswahlen den parlamentarischen Weg nicht beanstandet, obwohl die geänderten Vorschriften dem Referendum vom 6.11.1962 zur Einführung der Volkswahl des Präsidenten entstammten; problematisiert wurde die Frage in dieser Entscheidung freilich nicht. 149 So freilich Auby Melanges Pelloux (1980) S. 21 (32): die behauptete hierarchische Beziehung zwischen Verfassung und Volksgesetzgebung bleibe ein rein logisches Postulat ohne Aussicht auf Beachtung und sei daher nicht anzuerkennen.
ISO Auch der Erlaß von Bestimmungen im Range des Loi organique durch Referendum wird als zulässig angesehen, obwohl auf diese Weise die gern. Art. 46 und 61 Abs. I der Verfassung obligatorische Kontrolle durch den CC ausgeschaltet wird, s. nur Amiel RDP 1984,405 (444 f); Chapus in: La Declaration (1989), 181 (189); Roussef Sir. 1960 ehr. I (5).
151 So bündig Luchaire Journees Soc. Leg comp. 1990, 11 (16): " ... la loi referendaire a valeur constitutionnelle quand elle modifie la Constitution; elle a valeur de loi organique quand elle intervient dans des matieres reservees a la loi organique, valeur de loi ordinaire dans les autres cas;"; ähnlich zuvor bereits Garrigou-Lagrange RDP 1969, 641 (682). 152 Ebenso schon der damalige Regierungskommissar Luchaire bei den Beratungen im Comite consultatif constitutionnel, DPS H, S. 322; s. weiter Prevosf RDP 1977, 5 (19 ff, 41); Favoreu Melanges Duverger (1987), 79 (85). 153 Art. 3 Absatz I: "La souverainete nationale appartient au peuple qui l'exerce par ses representants et par la voie du referendum".
A. Materielle Rechtslage
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der die Ausübung der nationalen Souveränität nebeneinander durch Volksabstimmung oder durch die gewählte Volksvertretung vorsieht, ohne ein Rangverhältnis zwischen beiden Formen auch nur anzudeuten l54 • Die Begründung der Entscheidung von 1962 verliert damit freilich an Überzeugungskraft und wird auf eine rein verfassungs prozessuale Argumentation beschränkt, die der Volksgesetzgebung keine besondere Dignität zuerkennt: Nur die eigene Rolle des Conseil constitutionnel bleibt dann durch seine - in der Maastricht-III-Entscheidung erneut bestätigte - Selbstbeschränkung im Vergleich zum Verfahren der parlamentarischen Gesetzgebung reduziertiSS . Erhebt das Volksgesetz dagegen verfassungsändernden Geltungsanspruch und erkennt man die Möglichkeit der Verfassungsänderung auf diesem Wege l56 oder realistischerweise zumindest die einzige bereits auf diesem Wege erfolgte Verfassungsänderung als jedenfalls tatsächlich wirksam an 157 - , so nimmt dieses Gesetz am Rang der Verfassung teil l58 und kann nur durch erneute Verfas-
154 Prevost RDP 1977, 5 (41); Favoreu / Philip GDCC S. 177 (182 f); anders Turpin Contentieux constitutionnel Rn 92, S. 148 f, der das Loi referendaire dennoch dem Pouvoir constituant zuordnet. 155 Kritisch insoweit Favoreu Anm. RFDC 1992,743 (746). 156 Die Zulässigkeit dieses Weges als Alternative zum Verfahren nach Art. 89 der Verfassung wird heute als Verfassungsgewohnheitsrecht der 5. Republik behauptet, s. schon früh Hamon Anm. D. 1963 jp 348; wiederaufgenommen wurde das Argument im Rahmen der 2. - gescheiterten - Volksabstimmung zur Verfassungsänderung im Jahr 1969, s. nur (ablehnend) Berlia RDP 1969,451 (454 ff); heute etwa Guenaire RDP 1986, 1065 (1074 ff); Pavia RDP 1989,1697 (1702); Favoreu / Philip GDCC S. 177 (184); aus der deutschsprachigen Literatur s. zu dieser Diskussion Hofmann JöR n.F. 36 (1987), 155 (166 ff). Die Voraussetzungen ftIr die Anerkennung von Gewohnheitsrecht liegen allerdings schwerlich vor: weder besteht eine allgemeine Überzeugung, noch angesichts von nur zwei AnwendungsfiHlen - von denen zudem einer scheiterte - eine nennenswerte Praxis, s. nur Robert D. 1984 ehr. 243 (248); Maestre RDP 1973, 1275 (1280 ff); Berlia RDP 1969, 451 (455 f); die Argumentation scheint daher eher von dem Bestreben getragen, Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Direktwahl des Präsidenten als eines der nunmehr prägenden Merkmale der 5. Republik auszuräumen (s. auch folgende Fn). 157 So etwa Prevost RDP 1977,5 (13); auch Vedelle droit par la coutume Le Monde 22-23.12.1968, S. 7 als einer der wichtigsten Vertreter der gewohnheitsrechtlichen Anerkennung leitet die erforderliche Praxis nicht aus einer weiteren Anwendung des Art. 11 her, sondern begründet sie mit der unbeanstandeten Durchftlhrung der Präsidentschaftswahlen nach dem über Art. 11 geänderten Art. 6 der Verfassung; dies rechtfertigt aber nur die Anerkennung der Änderung von 1962, nicht dagegen den Einsatz von Art. 11 rur weitere Verfassungsänderungen. 158 Prevost RDP 1977, 5 (20 f); Flauss LPA 1992 Nr. 85, 15.7.1992, 17 (18).
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
sungsänderung im Verfahren nach Art. 89 der Verfassung - oder ein weiteres Referendum mit verfassungsänderndem "Anspruch" - geändert werden i59 . Ist der Inhalt des Referendums "gemischt"160, enthält es also Vorschriften unterschiedlichen Ranganspruchs, so wird der Rang der jeweils einzelnen Bestimmungen zu ennitteln sein l61 : Erst auf dieser Grundlage kann dann das Rangverhältnis der einzelnen Nonnen zum Gemeinschaftsrecht bestimmt werden.
cc) Notstandsmaßnahmen des Präsidenten gemäß Art. 16 der Verfassung Eine weitere eigene Nonnenkategorie bilden die Notstandsmaßnahmen des Präsidenten gemäß Art. 16 der Verfassung l62 , der aIlerdings seit den 60er Jahren nicht mehr zur Anwendung gekommen ist. Der Status dieser Maßnahmen ist durch die zu dieser Zeit ergangene Rechtsprechung des Conseil d'Etae 63 geklärt: 159 Von Ferne erinnert dieser Zustand an die Lage des bayrischen Volksentscheids: auch dessen Rang hängt allein davon ab, ob das zur Abstimmung gestellte Gesetz die Verfassung ausdrücklich ändern will oder sich auf die Ebene des einfachen Gesetzes beschränkt: am Verfahren der Abstimmung, etwa den Mehrheitserfordernissen, ändert sich durch diese Entscheidung dagegen nichts (was flir eine rigide Verfassung durchaus eine Anomalie darstellt, s. dazu die Kritik bei Meder Verfassung des Freistaates Bayern Rn 9 zu Art. 74 BV). 160 So im Fall des Referendums zur Direktwahl des Präsidenten: neben verfassungsändernden Bestimmungen enthielt dieses auch Normen im Rang des Loi organique; s. bereits oben Fn 148. 161 So Flauss LP A 1992 Nr. 85, 15.7.1992, 17 (18); zum Status von Verordnungen der Exekutive (Ordonnances), die auf einer im Volksgesetz enthaltenen Ermächtigungsgrundlage beruhen, s. Prevost RDP 1977,5 (27) sowie unten 4. Kap. B. 11. 3. a) aa). 162 Art. 16 Abs. 1: IOLorsque les institutions de la Republique, I'independance de la Nation, I'integrite de son territoire ou I'execution de ses engagements internationaux sont menacees d'une maniere grave et immediate et que le fonctionnement regulier des pouvoirs publics constitutionnels est interrompu, le President de la Republique prend les mesures exigees par les circonstances, apres consultation officielle du Premier ministre, des presidents des Assemblees ainsi que du Conseil constitutionnel. 10 163 CE Ass. 2.3.1962 - Rubin de Servens, Rec. S. 143 = GAJA Nr. 96, S. 590 = D. 1962 jp 307 m.Anm. Morange D. 1962 chr. 109 = Sir. 1962 jp 147 m.Anm. Bourdoncle = JCP 196211 12613 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Henry = RDP 1962, 314 mit den Schlußanträgen S. 294 u. Anm. Berlia S. 288 = AJDA 1962, 224 m.Anm. Galabert / Gentot S. 214 ff zur Einrichung eines militärischen Sondergerichts; bestätigt durch CE 13.1l.l964 - Ministre de l'Interieur c. Sieur Livet, Rec. S. 534 = D. 1965 jp 668 m.Anm. Demichel zur Errichtung staatlicher Internierungslager (IOcentres de
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Es handelt sich grundsätzlich um - der Kontrolle durch den Conseil d'Etat unterworfene l64 - Rechtsakte der Exekutive; nur wenn es sich um Maßnahmen handelt, die nach der "normalen" Zuständigkeitsverteilung in die Kompetenz des Gesetzgebers fielen, stehen auch die vom Präsidenten getroffenen Ersatzrnaßnahmen im Rang des Gesetzes l65 • Höherer Rang kommt ihnen aber in keinem Fall zu.
dd) Das Gemeinschaftsrecht selbst im "bloc de constitutionnalite"? a) Die Bedeutung der Frage
Die Aufnahme des Gemeinschaftsrechts in den bloc de constitutionnalite (auch nur im weiteren, die Prüfungskompetenz des Conseil constitutionnel beschreibenden Sinne) hätte Konsequenzen in mehrfacher Hinsicht. Sie beträfe nicht nur die Frage der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts gegenüber abweichendem nationalen Gesetzesrecht, der bestehende Vertrag wäre darüber hinaus möglicherweise Prüfungsmaßstab bei der Überprüfung von Änderungen der Gemeinschaftsverträge. Auch die alltäglicheren Probleme der gemeinschaftsrechtsinternen Normenhierarchie würden auf die Ebene des bloc de constitutionnalite befördert: Die mögliche Gemeinschaftsrechtswidrigkeit von Sekundärrecht würde gleichfalls zur (nationalen) Verfassungsfrage l66 • Darüber hinaus würde sich vor dem Conseil constitutionnel das Problem des Verhältnisses zu anderen, möglicherweise widersprechenden völkervertraglichen Verpflichtungen Frankreichs stellen l67 •
sejour"); von Seiten der ordentlichen Gerichte ebenso Cass. crim. 10.5.1962 - Dovecar et Piegts, JCP 1962 11 12736 m.Anm. Michaud. 164 Dagegen ist die Grundentscheidung des Präsidenten, auf Art. 16 zurückzugreifen, ein gerichtlich nicht überprüfbarer "acte de gouvernement", s. CE Ass. 2.3.1962 (vorige Fn); zur prozessualen Kategorie der actes de gouvernement s. noch unten 3. Kap. B. 11. I. und 5. Kap. B. III. I. b). 165 Diese Gleichstellung hat vor allem zur Folge, daß der CE die Verfassungsmäßigkeit der Maßnahmen ebensowenig prüft wie die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen; zur Frage der Prüfung der Vertragskonformität s.u. 4. Kap. 166 In gewissem Umfang ist dies allerdings auch unabhängig von einer Aufnahme in den "bloc de constitutionnalite" unvermeidlich, s. dazu unten 3. Kap. B. 1. 2. e).
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Zur derzeitigen Rechtsprechung des CC in dieser Frage s.u. 6. Kap. B. III. I.
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
ß) Die Haltung des Conseil constitutionnel Der in Art. 55 der Verfassung ausgesprochene Vorrang der Verträge gegenüber einfachen Gesetzen und Lois organiques legt es nahe, auch die Verträge in den "bloc de constitutionnalite" zu integrieren. Die Verträge stehen aber dennoch auf keinen Fall im engeren Kreis des "bloc de constitutionnalite", da sie ihrerseits der Verfassung unterworfen bleiben. Darüber hinaus hat die ständige Rechtsprechung des Conseil constitutionnel seit der Entscheidung vom 15.1.1975 sie auch aus dem bloc im weiteren Sinne ausgeschlossen: Trotz des in Art. 55 der Verfassung angeordneten materiellen Vorrangs gehören die Verträge fUr den Conseil constitutionnel nicht zum Prüfungsmaßstab im Rahmen der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze 168 • Prozessual fUhrt diese Grundentscheidung zu dem paradox erscheinenden Ergebnis, daß der Conseil constitutionnel zwar die Vereinbarkeit der einfachen Gesetze mit den Lois organiques überprüft, nicht aber ihre Vereinbarkeit mit völkerrechtlichen Verträgen, obwohl diese wiederum materiellrechtlich einen höheren Rang bekleiden als die Lois organiques l69 • Dieses etwas unübersichtliche Bild ist aber nur logische Folge der Tatsache, daß materielle Normenhierarchie und prozessuale Zuständigkeit und Verantwortung fUr ihre Durchsetzung in Frankreich nicht systematisch koordiniert sind 170.
y) Anderung durch die Geschehnisse im Rahmen der Ratifikation des Unionsvertrags? Zum Teil wird in der Literatur allerdings in Anknüpfung an den Verlauf der Ratifikation des Unionsvertrages angenommen, daß sich diese Situation zwischenzeitlich geändert hätte.
168 CC 15.1.1975 No 74-54 DC - interruption volontaire de grossesse (lVG), Rec. S. 19 = GDCC Nr. 23, S. 299; zu dieser auch in der Folge immer wieder bestätigten Rechtsprechung und ihrer Rechtfertigung s. ausfllhrlich unten 4. Kap. B. H. I. 169 Dazu noch unten 4. Kap. B. H. 1. a) aa). 170 Aus diesem Grund ist ja auch eine prozessuale Definition des "bloc de constitutionnalite" wenig sinnvoll, s.o. 3. Kap. A. I. 2. a).
A. Materielle Rechtslage
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(1) Erster Ansatzpunkt hierfür ist die Maastricht-I-Entscheidung vom 9.4.1992 171 : Eine Passage dieser Entscheidung wird in Teilen der Literatur 172 dahin verstanden, daß der Conseil constitutionnel die durch den Unionsvertrag vorgenommenen Änderungen am Maßstab des bestehenden Vertrages überprüft hätte 173. Jedoch werden die Ausführungen des Conseil constitutionnel in der betreffenden Passage heute mehrheitlich dahin interpretiert, daß der geänderte Vertrag nicht zur Referenznorm für die Änderung wurde, sondern die Formulierung der Beschränkung der Kontrolle allein auf die eingeführten Neuerungen diente 174: Es sollte also ausgeschlossen werden, daß auf dem Umweg über die Kontrolle des Änderungsvertrages eine nachträgliche Kontrolle des bereits geltenden Vertragsrechts stattfindet. Der bestehende Vertrag wird somit "ausgeblendet"; er ist weder Maßstab der Kontrolle - dies bleibt allein die Verfassung - noch ist er dieser Kontrolle unterworfen - dies sind allein die Vertragsänderungen 175. (2) Ein weiterer Ansatz für die Aufnahme jedenfalls des Gemeinschaftsrechts in den bloc de constitutionnalite wird in den Verfassungsänderungen gesucht, die im Gefolge der Maastricht I-Entscheidung vorgenommen worden waren, um die Ratifikation des Unionsvertrages zu ermöglichen 176 • Insbesondere das im neuen Art. 88-1 der Verfassung enthaltene grundsätzliche Bekenntnis zur euro-
171 CC 9.4.1992 No 92-308 DC - Maastricht I, Rec. S. 55 = GDCC Nr. 45, S. 771 (I. Entscheidung) = JCP 1992 11 21853 m.Anm. Nguyen Van Tuong = RFDA 1992, 403 m.Anm. Genevois S. 373 = RDP 1992, 608 m.Anm. Luchaire S. 587 = RTDE 1992, 426; zu dieser Entscheidung s. noch ausführlich 3. Kap. A. 11. I. b). 172 So etwa die Interpretation von Simon Europe 5 / 1992, 1 (2); Rousseau RDP 1993, 5 (l4t). 173 Der hierfür in Bezug genommene 8. Erwägungsgrund der Entscheidung lautet: "... il appartient au Conseil constitutionnel, saisi, au titre de la procedure instituee par I'article 54 de la Constitution, d'un traite qui modifie ou complete un ou plusieurs engagements internationaux deja introduits dans I'ordre juridique interne de determiner la portee du traite soumis Cl son examen enfonction des engagements internationaux que ce traite a pour ohjet de modifier ou de compteter." 174 Für Nachweise zu dieser zwischenzeitlich ganz herrschenden Interpretation dieser Entscheidung s.u. 3. Kap. B. I. 3. b) bb) a) mit Fn 166. 175 Zur "exception d'inconstitutionnalite" und der Möglichkeit ihrer Anwendung auch auf völkerrechtliche Verträge s. ausführlich unten 3. Kap. B. I. 3. b), 4. b). 176 Zum Text bereits oben 2. Kap. B. I. I. mit Fn 63 und 64; zur Verfassungsänderung s. im Einzelnen noch unten 3. Kap. A. III.
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
päischen Integration könnte als Verweis verstanden werden, der die damit in Bezug genommene Rechtsordnung auf eine Ebene mit der Verfassung ste llt 177 • Auch diese weitgehende Interpretation scheint aber nicht haltbar: Der neue Art. 88-1 der Verfassung legitimiert die Teilnahme Frankreichs an den Gemeinschaften und verleiht dieser möglicherweise Verfassungsrang, was z.B. für einen etwaigen Austritt relevant wird 178 • Insoweit liegt tatsächlich im Grundsatz eine "Konstitutionalisierung" der Gemeinschaft l79 vor, durch die aber nicht das gesamte Gemeinschaftsrecht auf die Ebene der Verfassung erhoben wird. (3) Einen ernsthaften, allerdings nur punktuellen Ansatz für eine weitergehende "Konstitutionalisierung" des Gemeinschaftsrechts bilden die besonderen Regeln zum Kommunalwahlrecht in Art. 88-3 Satz 1 und 3 n.F. der Verfassung, die ebenfalls im Rahmen der Ratifikation des Unionsvertrages eingefügt wurden: Hier hat insbesondere eine Passage der zweiten Maastricht-Entscheidung des Conseil constitutionnel vom 2.9.1992 IKO Fragen aufgeworfen. In dieser Passage hatte der Conseil constitutionnel festgehalten, daß das durch den neu eingefUgten Art. 88-3 vorgesehene Loi organique zur Festlegung der Einzelheiten des im Unionsvertrag vorgesehenen Kommunalwahlrechts fUr Bürger anderer Mitgliedstaaten den Vorgaben des Vertrages bzw. des von ihm vorgesehenen Sekundärrechts entsprechen müsse lKI • Dieser Hinweis ist vielfach als Ankündigung des Conseil constitutionnel verstanden worden, daß er im Rahmen der obligatorischen Kontrolle des Loi organique gemäß Art. 61 Abs. 1
177 So Rousseau RDP 1993, 5 (16), der eine Parallele zur Bezugnahme der Verfassung von 1958 auf die Präambel von 1946 herstellt; s. auch nochmals dens. RDP 1993, 103 (116 ft); sowie Picard JCP 1993 13645 (Rn 2); ders. RFDA 1993,47 (52); Picard folgend Pellet RDP 1995, 361 (377 t). 178 Dazu unten 3. Kap. A. III. 4. 179 So der Ausdruck von OberdorffPouvoirs Nr. 69, 1994, 95 (97); de Berranger Constitutions nationales S. 113. 180 CC 2.9.1992 No 92-312 DC - Maastricht 11, Rec. S. 76 = GDCC Nr. 45, S. 771/ 780 (2. Entscheidung) = RFDC 1992,724 m.Anm. Gala S. 729 u. Anm. Favoreu S. 735 = JCP 1992 11 21943 m.Anm. Nguyen van Tuong = RFDA 1992, 950 m.Anm. Genevois S. 937; ausflihrlich zu dieser Entscheidung noch unten 3. Kap. A. 111.; 3. Kap. B. I. 3. 181 So der 28. Erwägungsgrund der Entscheidung: "... le renvoi, pour la determination des conditions d'application de I'article 88-3, a une loi organique postule que ce dernier texte soit lui-meme conforme aux modalites d'exercice du droit de vote et de I'eligibilite aux elections municipales des ressortissants communautaires ... , 'prevues par le traite sur l'Union europeenne'; ... ainsi, la loi organique devra respecter les prescriptions edictees a l'echelon de la Communaute europeenne pour la mise en oeuvre du droit reconnu par l'article 8 B, paragraphe I; ... "
A. Materielle Rechtslage
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der Verfassung l82 auch die Einhaltung der diesbezüglichen Anforderungen des Gemeinschaftsrechts überprüfen würde, auf die Art. 88-3 Satz 1 verweist lH3 • Doch handelt es sich hierbei nach ganz überwiegender Ansicht allenfalls lH4 um eine gegenständlich eng begrenzte Einzelfall-Lösung, die auf eine punktuelle Rezeption des Vertrags auf Verfassungsebene reagiert l85 • Auch ihre Konsequenzen insbesondere fur die Überprüfungskompetenz der Fachgerichte sind noch nicht ausgelotet l86 • 182
Dazu bereits oben 3. Kap. A. I. 2. c) aa).
183 So Z.B. Genevois RFDA 1992, 937 (949); Luchaire RDP 1992, 956 (970 f); Verdier RDP 1994, 1137 (1159 f); Boulouis CDE 1994, 505 (520); Gondouin Melanges Peiser (1995),295 (308); gegen die Anerkennung einer solchen Ausnahme aber Favoreu Anm. RFDC 1992,735 (739 f). 184 Auch hinsichtlich des Loi organique zur Umsetzung des Kommunalwahlrechts für EG-Bürger konnte noch nicht geklärt werden, ob der CC die damit möglicherweise angekündigte Kontrolle tatsächlich selbst ausüben würde: das zur Umsetzung der Richtlinie 94 / 80 / EG vom 19.12.1994 "über die Einzelheiten der Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts bei den Kommunalwahlen fIlr Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen", ABI. EG 1994 L 368 / 38, erforderliche und der obligatorischen Überprüfung durch den CC ausgesetzte Loi organique ist trotz Ablauf der Umsetzungsfrist noch nicht ergangen, s. die Antwort der Kommission auf die Anfrage der Abg. Jackson ABI. EG 1997 C 83 /63. 185 So z.B. Genevois RFDA 1993, 871 (874): " ... cas OU la Constitution precise par avance qu'une norme interne determinee devra se conformer au droit communautaire" (Hervorhebung vom Verf.); ebenso Berramdane RDP 1993, 719 (762 f); Luchaire RDP 1992, 956 (970); Favoreu Melanges Plantey (1995), 33 (34 f); de Berranger Constitutions nationales S. 288 f; ); Gondouin Melanges Peiser (1995), 295 (308); Gaia in: Droit constitutionnel national (1996), 231 (274); anders - nämlich im Sinne einer Ausdehnung auf das gesamte Gemeinschaftsrecht - aber vor allem Picard RFDA 1993, 47 (49 ff, insbes. 51 ff). 186 Denkbar ist eine konkurrierende Zuständigkeit, d.h. präventive Kontrolle durch den CC auf der Grundlage von Art. 88-3, 46 der Verfassung, nachträgliche Kontrolle durch den CE im Rahmen der Wahlprüfung auf Grundlage von Art. 55 der Verfassung; in diesem Sinne möglicherweise Grewe / Ruiz Fabri RUDH 1992,277 (281). Vor dem CE stellt sich dann aber die Frage nach der Bindungswirkung einer Entscheidung des CC, die das Loi organique unbeanstandet gelassen hat: der CC ist als nationales Gericht nicht der authentische Interpret des Gemeinschaftsrechts, selbst wenn dieses wie hier auf Verfassungsebene rezipiert wird; er kann sich also irren, zumal er das Verfahren nach 177 EGV nicht nutzen kann - dazu noch allgemein unten 3. Kap. B. I. 2. e) mit Fn 102 f und speziell fIlr den vorliegenden Fall Gai"a in: Droit constitutionnel national (1996), 231 (274). Solche Irrtümer müssen durch die Fachgerichte - ggf. in Kooperation mit dem EuGH - korrigierbar sein - die doppelte Kontrolle ist also wohl die einzig gemeinschaftsrechtskonforme Lösung, aber nicht sehr elegant, was gegen ihre allgemeine Einfllhrung spricht, s. allg. unten 6. Kap. A.
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
Diese gegenständlich eng begrenzte Lösung fuhrt aber nicht dazu, daß das gesamte Gemeinschaftsrecht nunmehr Verfassungsrang erhielte, oder auch nur (im Sinne einer Zugehörigkeit zum bloc de constitutionnalite im weiteren, prozessualen Sinne) seine Einhaltung in Zukunft vom Conseil constitutionnel zu sichern wäre. Tatsächlich hätte eine Entwicklung in diese Richtung auch Konsequenzen, die eine Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts zumindest mit erheblichen Unsicherheiten belasten dürfte l87 •
11. Ermittlung der verfassungsrechtlichen Schranken der Integration Spezifische Schranken der Integration oder verfassungsrechtliche Anforderungen an diese hat der Conseil constitutionnel erst spät entwickelt, was mit den Bedingungen seines Eingreifens zusammenhängt lK8 : Die Beschränkung auf eine präventive Überprüfung hatte zur Folge, daß eine grundsätzliche Klärung in Bezug auf die noch unter der 4. Republik geschaffenen vertraglichen Grundlagen der Integration nicht erfolgen konnte. Erst wenn neue, durch Ratifikation zu vollziehende Schritte zur europäischen Einigung zu unternehmen waren, wurde eine prozessuale Überprüfung möglich. Dies mag zugleich zum Teil erklären, wieso Rechtsakte, die in der deutschen Verfassungsdiskussion als wenig problematisch angesehen wurden, wie die Ausstattung der Gemeinschaft mit eigenen Finanzressourcen zu Beginn der 70er Jahre oder die Einfuhrung der Direktwahlen zum Europäischen Parlament, in der französischen Diskussion eine derartige Bedeutung erlangt haben: Die in diesen Fällen jeweils nötigen (und bei dieser Gelegenheit verfassungsgerichtlich überprüfbaren) Änderungen standen hier auch stellvertretend rur das gesamte Konzept der europäischen Integration, deren - eigentlich viel zentralere - Grundentscheidungen in den bereits unter der 4. Republik in Kraft getretenen Verträgen niedergelegt und einer nachträglichen Kontrolle entzogen waren.
1. Die Verteidigung der nationalen Souveränität als Leitmotiv in der Rechtsprechung des Conseil constitutionnel
Die Verteidigung der nationalen Souveränität zieht sich als "roter Faden" durch die Rechtsprechung des Conseil constitutionnel zur europäischen Integra187 Zu den verschiedenen Szenarien im Fall einer solche Entwicklung s. noch unten 6. Kap. A. 188 So auch Vedel in: La Constitution et l'Europe (1992), 23 (27).
A. Materielle Rechtslage
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tion l89 • Die Verfassung von 1958 betont die Wahrung der nationalen Souveränität in besonderer Weise; sie erscheint nicht weniger als 6 mal im "bloc de constitutionnalite": in der Präambel der Verfassung von 1958, in Art. 3 der damit in Bezug genommenen Menschenrechtserklärung von 1789, sowie im Text der Verfassung von 1958 selbst in den Artikeln 3 ("souverainete nationale"), 4 (ebenso), 5 Abs. 2 ("independance nationale") und 16 (ebensoY90. Dazu kommt die Erwähnung in Absatz 15 der Präambel von 1946, der mit der Zulassung von "limitations de souverainete" auf den ersten Blick allerdings in die entgegengesetzte Richtung weist. Der in der Literatur unternommene Versuch l91 , diese Nennungen unter dem Gesichtspunkt der inneren und äußeren Souveränität zu ordnen - mit der Folgerung, daß die danach allein der inneren Souveränität zuzuordnenden Gewährleistungen wie Art. 3 der Menschenrechtserklärung und Art. 3 der Verfassung von 1958 durch die Integration nicht berührt würden -, hat sich nicht durchsetzen können l92 • Auch die Rechtsprechung des Conseil constitutionnel verzichtet darauf, die äußere Seite der nationalen Souveränität ausschließlich bestimmten Nonnierungen zuzuordnen 19). a) Die "ältere Linie" der Rechtsprechung: Bis zur Entscheidung über den Unionsvertrag
aa) Die "Wahrung der wesentlichen Bedingungen der Ausübung der nationalen Souveränität" als Maßstab: Die Eigenmittel-Entscheidung vom 19.6.1970 Die Entscheidung des Conseil constitutionnel vom 19.6.1970 194 beschäftigt sich nicht nur erstmals mit den verfassungsrechtlichen Grenzen der Integration: 189 So Blumann Fonction legislative (1995), 16; ähnlich Rideau RFDC 1990, 259 (280); Prtitot in: La Constitution et l'Europe (1992), 33 (38). 190 s. die Übersicht bei Constantinesco / Jacque in: Koenig / Rüfner (1985), 175 (187). 191
So z.B. Luchaire RDP 1991, 1499 (1501 ff).
Ablehnend z.B. Grewe RFDC 1992, 413 (423 f); Pretot in: La Constitution et l'Europe (1992), 33 (54 ff); ähnlich auch Rideau in: La Constitution et l'Europe (1992), 67 (142 f). 192
19) Gala Insertion S. 283; Pretot in: La Constitution et l'Europe (1992),33 (56); Combacau Pouvoirs Nr. 67, 1993, 47 (53 ff); s. dazu die allerdings überzogene Kritik von Carillo de Albornoz DV 1995, 225 (239 ff).
194 CC 19.6.1970 No 70-39 DC, Rec. S. 15 = JCP 1970 II 16510 m.Anm. Ruzie JCP 1970 I 2354 = RDP 1971, 203 m.Anm. Emeri / Gautron S. 157 = RGDIP 1971, 239 m.Anm. Charles Rousseau; deutsche Übersetzung in EuR 1971, 60 m.Anm. Goose; aus
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
Es handelt sich zugleich um die erstmalige Nutzung des Verfahrens nach Art. 54 der Verfassung; zugleich zeigt die der Entscheidung vorangestellte Liste der in Bezug genommenen Vorschriften ("visa") erstmals diskret an, daß die Präambel der Verfassung von 1958 - und mit ihr notwendigerweise die Präambel der Verfassung von 1946 - aktuell geltendes Verfassungsrecht sind l95 • (l) Gegenstand der Entscheidung vom 19.6.1970 war die Ausstattung der Gemeinschaft mit eigenen Finanzressourcen und die in diesem Zusammenhang erfolgte Stärkung der Position des Parlaments im Haushaltsverfahren, die zum einen durch einen auf Art. 201 EWGV gestUtzten, nach dieser Bestimmung aber zudem ratifikationsbedUrftigen Ratsbeschluß vom 21.4.1970, zum anderen durch einen Vertrag zur Änderung der Gemeinschaftsverträge vom 22.4.1970 erfolgen sollte.
Die Verfassungsmäßigkeit beider Rechtsakte wurde auf Initiative des Premierministers vor ihrer Ratifikation im Verfahren nach Art. 54 der Verfassung Uberprüft. Diese wider Willen erfolgte Anrufung des Conseil constitutionnel war durch die Gegner einer Fortentwicklung der Integration, die als Minderheit im Parlament den Conseil constitutionnel zu diesem Zeitpunkt noch nicht anrufen konnten, geschickt erzwungen worden: lacques Foyer, zuvor lustizminister unter de Gaulle und zu diesem Zeitpunkt Vorsitzender des Gesetzgebungsausschusses (commission des lois) der Nationalversammlung, hatte geltendgemacht, daß die Ratifikation ohne vorangehende Verfassungsänderung unmöglich sei l96 , und zugleich den Entwurf eines verfassungsändemden Gesetzes zu diesem Ziel eingebracht. Die Regierung, die sich auf die mit dem Verfahren der Verfassungsänderung verbundenen Zeitverluste und politischen Risiken nicht einlassen konnte, mußte also das Verfahren gemäß Art. 54 der Verfassung nutzen, um mit Unterstützung des Conseil constitutionnel beweisen zu können, daß die BeschlUsse nicht verfassungswidrig und eine Ratifikation also auch ohne Verfassungsänderung möglich war 197 •
der deutschsprachigen Literatur zu dieser Entscheidung s. auch Fuß DVBI 1980, 98 (99 t). 195 "Vu la Constitution, et notamment son preambule et ses articles 53, 54 et 62;" s. dazu schon oben 3. Kap. A. I. 2. b) bb) ß) mit Fn 58. 196 Zu dem von ihm vor allem geltendgemachten angeblichen Verstoß gegen Art. 34 der Verfassung s.u. 3. Kap. A. II. 2. a) aa). 197 Zu diesen HintergrUnden s. etwa Emeri / Seurin RDP 1971, 157 (166 ft); Charles Rousseau Anm. RGDIP 1971, 241 (243).
A. Materielle Rechtslage
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(2) Im Ergebnis hat die Entscheidung vom 19.6.1970 beide Rechtsakte für verfassungskonform befunden; obwohl eine ausdrückliche Auseinandersetzung mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Integration nicht erfolgte und aufgrund des begrenzten Prüfungsgegenstandes auch nicht erfolgen konnte, lassen sich bereits gewisse Grundlinien erkennen: - Verfassungsprozessual wird der Ausgangspunkt geklärt, nach dem die Kontrolle des bereits geltenden Vertragsrechts auch aus Anlaß der Überprüfung von Änderungsverträgen nicht nachgeholt werden kann l98 • Auch zu den materiellrechtlichen Maßstäben der Verfassung enthält die Entscheidung erste Festlegungen: - Zum einen ist die innere Struktur der Gemeinschaft, etwa die Machtverteilung zwischen Rat und Europäischem Parlament (bzw. damals noch der Versammlung) verfassungsrechtlich nicht von Interesse, soweit nicht unmittelbar die Stellung der Mitgliedstaaten betroffen ist l99 • - Zum anderen macht die Entscheidung klar, daß die Leitlinien der Problematik sich in den fortgeltenden Bestimmungen der Präambel von 1946 befinden: Obwohl eine genauere Festlegung nicht stattfindet, wäre andernfalls zum einen die Bezugnahme auf die - selbst inhaltsleere - Präambel der Verfassung von 1958 in den "visa" der Entscheidung sinnlos; zudem hält die Entscheidung fest, daß die mit dem neuen Vertrag übernommenen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten gegenseitigen Charakter tragen 2(XI: Unausgesprochen wird damit auf den Gegenseitigkeitsvorbehalt im 15. Absatz der Präambel von 1946 Bezug genommen 20I • - Abschließend enthält die Entscheidung die Formulierung eines Maßstabs, dessen Wortlaut sich keiner Verfassungsbestimmung unmittelbar zuordnen läßt: 198 Zu diesem Aspekt der Entscheidung unten 3. Kap. B. 1. 2. a); zu den später entstandenen Unsicherheiten in dieser Frage 3. Kap. B. 1. 3. 199 " ... ce traite ne contient que des dispositions relatives au fonctionnement interne des communautes modifiant la repartition des competences entre les divers organes de cellesci et ... il n'affecte pas I'equilibre des relations entre les communautes europeennes d'une part, et les Etats membres, d'autre part;" (2. Erwägungsgrund). So auch die Interpretation der Entscheidung aus deutscher Sicht (d.h. vor dem Hintergrund der in Deutschland schon seit dem Streit um die EVG wogenden Diskussion um die "strukturelle Kongruenz" zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten) von Goose Anm. EuR 1971,62 (64); Fuß DVB11980, 98 (IOD).
200 " ... les engagements contenus dans les dispositions soumises a I'examen du Conseil constitutionnel ne prennent effet qu'apres le depot du dernier instrument de ratification ... ils ont donc le caractere d'engagements reciproques," (3. Erwägungsgrund). 201 So zu Recht Goose Anm. EuR 1971,62 (65).
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3.
Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
Es wird festgestellt, daß der Beschluß des Rats nicht die "wesentlichen Bedingungen der Ausübung der nationalen Souveranität" berühre 202 • bb) Die Verfassung als "Fessel des Integrationsfortschritts"203 Die Unterscheidung von erlaubter "limitation" und verbotenem "transfert de Souverainete" durch die Direktwahl-Entscheidung vom 29. - 30.12.1976 (1) Gegenstand und prozessualer Rahmen der zweiten Entscheidung des Conseil constitutionnel zur Frage der nationalen Souveränität sind seiner ersten Befassung weithin vergleichbar: Auch diese Entscheidung wurde auf dem Weg über Art. 54 der Verfassung herbeigeführt, der diesmal durch den Präsidenten selbst beschritten wurde; wieder war Ziel der Anrufung des Conseil constitutionnel, den Gegnern des vorgesehenen Abkommens - hier: dem Akt zur Einführung der Direktwahlen zum europäischen Parlament - die Verfassungsmäßigkeit dieses Vorhabens zu "beweisen". Auch handelte es sich wiederum - wie schon 1970 - erneut um einen vom Ministerrat beschlossenen Rechtsakt, der aber nach der ausdrücklichen Bestimmung des Art. 138 EWGV zusätzlich von den Mitgliedstaaten ratifiziert werden mußte.
(2) Auch die Entscheidung vom 29. 204 - 30.12.1976 205 hat diese Aufgabe im Ergebnis zwar erfüllt und den Weg zu einer Ratifikation ohne vorangehende Verfassungsänderung freigemacht; zugleich hat sie aber durch die bei dieser Gelegenheit entwickelte äußerst anspruchsvolle Vision der nationalen Souveränität eine weitere Entwicklung der Integration in Frage gestellt.
202 "... elle [sc: la decision du 21.4.1970] ne peut porter atteinte, ni par sa nature, ni par son importance, aux condtions essentielles de I'exercice de la souverainete nationale;" (8. Erwägungsgrund). 203 So der Titel des Beitrags von Fuß DVBI 1980, 98 ff: "Souveränitätsdenken als Fessel des Integrationfortschritts" . 204 Die Entscheidungen des CC tragen das Datum der Urteilsberatung, die sich hier über zwei Tage hinzog, s. Abraham Droit international S. 59. 205 CC 29. - 30.12.1976 No 76-71 DC - Elections a l'Assemblee europeenne, Rec. S. 15 = GDCC 6.A. Nr. 25, S. 331 (in den späteren Auflagen durch die MaastrichtEntscheidungen ersetzt) = D. 1977 jp 201 m.Anm. Hamon = RDP 1977, 173 m.Anm. Favoreu I Philip S. 129 ff= RTDE 1977,822 = CDE 1977,458 m.Anm. Boulouis = JDI 1977,66 m.Anm. Ruzie; deutsche Übersetzung in EuR 1977,51 m.Anm. Bieber S. 53; unmittelbar zu dieser Entscheidung auch Kovar I Simon RTDE 1977, 665 ff = 14 CMLRev (1977), 525 ff; Darras I Pirotte RTDE 1977,23 ff; Coussirat-Coustere AFDI 1976, 805 ff.
A. Materielle Rechtslage
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Zu den Umständen ihres Ergehens sind zahlreiche Einzelheiten bekannt geworden, die eigentlich dem Beratungsgeheimnis206 unterliegen: So weiß man, daß Berichterstatter des Verfahrens der gaullistische Professor Goguel war0 7, der auch in den Folgejahren bei jeder sich bietenden Gelegenheit seine grundsätzlichen Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der europäischen Integration geltendgemacht hat. Auch das denkbar knappe Abstimmungsergebnis von 4:5 Stimmen ist bekannt geworden; und schließlich auch, "öffentlich" gemacht durch Georges Vedel, die filr die Interpretation der Entscheidung wichtige Tatsache, daß die obsiegende Mehrheit der Richter die zur Verfassungsmäßigkeit filhrenden Begründungselemente in den Entscheidungsentwurf des Berichterstatters eingefllgt hatte, der ursprünglich darauf angelegt war, gerade das gegenteilige Ergebnis zu begründen 20s • Diese Entstehungsgeschichte erklärt den eigentümlichen Wechsel im Ton der Entscheidung zwischen der - auch sprachlich schroffen - Formulierung strikter Prämissen und der in eher zurückhaltendem Ton gefaßten weitherzigen Anwendung auf den konkreten FaIFo9 • Tatsächlich formuliert die Entscheidung einen neuen Maßstab im Spannungsfeld von nationaler Souveränität und internationaler Integration. Es wird nicht mehr die Wahrung der wesentlichen Bedingungen der Ausübung der nationalen Souveränität verlangt; die Entscheidung stellt vielmehr darauf ab, daß der 15. Absatz der Präambel zwar Beschränkungen der nationalen Hoheitsrechte zulasse, im Gegenschluß aber eine Übertragung von Hoheitsrechten an internationale Organisationen nicht eriaube 21O • Diese Gegenüberstellung von ausdrücklich erlaubter limitation de souverainete und damit zugleich implizit verbotenem transfert ist allerdings keine vollständig neue Erfindung. Sie entstammt der Hinterlassenschaft der Diskussion um die Verfassungsmäßigkeit der Europäi-
206 Art. 3 der Ordonnance No 58- 1067 du 7.11.1958 portant loi organique sur le Conseil constitutionnel. 207 Ruzie Anm. JDI 1977, 66.
208 Vedel in: La Constitution et l'Europe (1992), 23 (27 f) bezeichnet diese Tatsache als offenes Geheimnis. Als ehemaliges Mitglied des Conseil constitutionnel (1980 - 1989) legt er aber dennoch Wert auf die Feststellung, daß er an der Beratung weder selbst beteiligt noch die Umstände von einem seiner unmittelbar beteiligten Vorgänger erfahren hat. 209 So schon früher die Analyse von Vedel luridictions fran~aises (1987), 13; Boulouis Anm. CDE 1977,459 (472 f). 210 " ••. si le preambule de la Constitution de 1946, confirme par celui de la Constitution de 1958, dispose que, sous reserve de reciprocite, la France consent aux limitations de souverainete necessaires a I'organisation et de la defense de la paix, aucune disposition de nature constitutionnelle n'autorise les transferts de tout ou partie de la souverainete nationale a quelque organisation internationale que ce soit;" (2. Erwägungsgrund).
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
schen Verteidigungsgemeinschaft unter der 4. Republik, in der eine entsprechende Argumentation sich bereits angedeutet hatte211 • Zugleich stellt die Entscheidung allerdings in Anwendung dieses neuen Maßstabes fest, daß ein solcher transfert durch den überprüften Akt nicht vorgenommen wird, weil weder der Gemeinschaft im Ganzen noch dem Europäischen Parlament weitere Befugnisse eingeräumt werden 2l2 • Auch eine Änderung der Entscheidungsmechanismen innerhalb der Gemeinschaft zu Lasten des Gewichts der einzelnen Mitgliedstaaten wurde damit nunmehr als Eingriff in die nationale Souveränität empfunden und definiert. Für die interne Struktur der Gemeinschaften, insbesondere filr die dem BVerfG213 damals noch wichtige Stärkung des demokratischen Elements in der EG, hat sich der Conseil constitutionnel dagegen nicht weiter interessiert: Sie waren "innere Angelegenheit" der anderen Rechtsordnung 2l4 , solange sie nicht zu Übergriffen auf die eigene Ordnung führten. Dies zeigt freilich auch die gegensätzlichen Fliehkräfte, denen das Gemeinschaftsrecht ausgesetzt ist: Zu einer Zeit, in der das BVerfG die Stärkung der demokratischen Legitimation auf europäischer Ebene zur Bedingung der nationalen Anerkennung des Vorranganspruchs machte, wurde diese Perspektive vom Conseil constitutionnel als Bedrohung der nationalen Unabhängigkeit empfunden. (3) Die Aufnahme der Entscheidung in der Literatur war höchst uneinheitlich. Schon die terminologische Einordnung der neuen Begriffsbildung des Conseil constitutionnel hat zu erheblichen Meinungsunterschieden gefilhrt: Setzte man mit der Mehrheit der Literatur den - mit dieser Entscheidung verbotenen - "transfert de souverainete" mit der Übertragung weiterer Hoheitsrechte an die Gemeinschaft gleich, so war damit jeder weitere Ausbau der Integration von einer Verfassungsänderung abhängig. Ebenfalls vorgeschlagen wurde jedoch, zwischen "transfert de competences" und "transfert de souverainete" zu unterscheiden: Der erste Begriff würde die Übertragung einzelner Hoheitsrechte bezeichnen, die sich dann als Begrenzung
211
Zu diesen Wurzeln s. etwa de Berranger Constitutions nationales S. 257.
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Bfumann Fonction legislative (1995), 15.
212 " ... I'acte soumis a I'examen du Conseil constitutionnel ne contient aucune disposition ayant pour objet de modifier fes competences et pouvoirs limitativement attribues dans fe texte des traites aux communautes europeennes, et, en particulier, a leur assemblee par les Etats membres ou de modifier la nature de cette Assemblee qui demeure composee de representants de chacun des peuples de ces Etats;" (3. Erwägungsgrund). 213 BVerfG 29.5.1974 - Solange I, BVerfGE 37, 271 (insbes. S. 280 f).
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der grundsätzlich fortbestehenden staatlichen Souveränität auswirken und so auch mit dem Begriff der "limitation de souverainete" vereinbar wäre; der verbotene transfert bestünde danach erst in der Aufgabe (abandon) der gesamten Eigenstaatlichkeit zugunsten der größeren Einheie 15 oder zugunsten einer übergeordneten Einheit, die selbst staatlichen Charakter besitzt216 • Gegen den von dieser Auffassung gebotenen Ausweg spricht freilich der in der Entscheidung verwendete Plural, der ausdrücklich "transferts de tout DU partie de la souverainete a quelque organisation internationale que ce soit" verbietet. Eine im Sinne dieser Auffassung eng verstandene Souveränität könnte nur einmal und nicht etwa - wie in der Entscheidung des Conseil constitutionnel als möglich unterstellt und zugleich als verfassungswidrig verboten - in einzelnen Teilen oder stückweise verlorengehen 217 • Mit der Verwendung dieses Begriffs scheint der Conseil constitutionnel danach zwar das zur Erklärung der Supranationalität entwickelte Modell der (zwischen Mitgliedstaaten und supranationaler Einheit) geteilten oder teilbaren Souveränitäe 1K als denklogisch und völkerrechtlich möglich anzuerkennen - dies aber nur, um es im gleichen Atemzug als verfassungswidrig zu verwerfen - bzw. von der in Art. 54 der Verfassung vorgesehenen Verfassungsänderung abhängig zu machen. Dazwischen haben sich zahlreiche Mittelmeinungen gebildet, die als "limitation" die - rückgängig zu machende - Übertragung von Kompetenzen an eine selbst nicht souveräne Organisation ansehen, die Schwelle zum verbotenen transfert dagegen bei der - unwiderruflichen - Übertragung auf eine selbst souveräne Einheit überschritten sehen 219 • Die Schwelle für eine solche Einheit könnte durch die in dieser neuen Struktur geltenden Entscheidungsmechanismen bestimmt werden: So wäre bei Beibehaltung des Einstimmigkeitserfordernisses eine erlaubte limitation, bei der Möglichkeit der Überstimmung dagegen ein verbotener trans-
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So im Ansatz Gai'a Insertion S. 317.
216 So Conac / Luchaire (-Teitgen), Pn;:ambule - relations internationales, 104 (107 f); Boulouis Administration Nr. 149 (1990), 21 (22): "La souverainete est un attribut exclusif de l'Etat, qui disparatt en la perdant, et que seul un autre Etat peut recevoir." 217
So z.B. Rideau RFDC 1990, 259 (280).
Dazu Pescatore CDE 1970,501 (502 ff); Balekjian FS Verdross (1980), 343 (352 ff); Louis Ordre juridique Rn 5, S.15; in neuerer Zeit Obradovic LIEI I / 1993, I (6 ff); de Berranger Constitutions nationales S. 313 f. 219 So Favoreu / Philip RDP 1977, 129 (160 ff); ihnen folgend Gai'a Insertion S. 317 f; Pretot in: La Constitution et I'Europe, S. 33 (43f); wohl auch Louis Ordre juridique Rn 123, S. 176; Boulouis CDE 1977, 459 (477). 218
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3. Kapitel: Verfassungsrechtl iche Grenzen der Integration
fert anzunehmen 220 • Die "französische Seite"221 des legendären Luxemburger Kompromisses 222 wäre danach verfassungsrechtlich sogar gefordert gewesen 223 • Die Schwelle zum verbotenen transfert könnte aber auch erst bei der Bildung eines neuen europäischen Bundesstaates überschritten sein 224 • Dieselben Interpretationsschwierigkeiten haben sich bei den Ausführungen des Conseil constitutionnel zur institutionellen Struktur der Gemeinschaft eingestellt: - Eine rigide Auslegung konnte schließen, daß - anders als noch nach den Ausfilhrungen der Eigenmittel-Entscheidung von 1970 - jede weitere Verschiebung des institutionellen Gleichgewichts innerhalb der EG gleichfalls als transfert de souverainete eingeordnet werden würde, wenn sie unmittelbar oder mittelbar die Stellung des einzelnen Mitgliedstaats schwächen würde. Auch insoweit wäre dann nicht nur eine Vertrags-, sondern auch eine Verfassungsänderung erforderlich 225 : Von einer solchen Sperre wäre damit zum einen eine stärkere Beteiligung des Europäischen Parlaments am Rechtsetzungsprozeß der Gemeinschaft betroffen, die zugleich eine Schwächung des Rates und damit mittelbar auch der Mitgliedstaaten bedeuten mußte; aber auch jede Änderung des Abstimmungsmodus im Rat in Richtung auf Einfilhrung von Mehrheitsentscheidungen würde sich als weiterer transfert darstellen, da die Stellung jedes einzelnen Mitgliedstaats geschwächt würde.
220 So etwa Sasse FS Ipsen (1977), 701 (717); zur verfassungsrechtlichen Problematisierung von Mehrheitsentscheidungen s. noch unten cc) sowie 3. Kap. A. 11. 2. a) aa) im Zusammenhang von Art. 34 der Verfassung. 221 "2 .... la de1t!gation fran~aise estime que, 10rsqu'i1 s'agit d'interets tres importants, la discussion devra se poursuivre jusqu'a ce que I'on soit parvenu a un accord unanime." 222 Dazu umfassend Streinz Luxemburger Vereinbarung (1984), passim; in neuerer Zeit Vasey 25 CMLRev (1988),725 ff; Teasdale 31 JCMS (1993), 567 ff. 223 So implizit Chapus in: La Declaration (1989), 181 (186) und ausdrücklich die auf seinen Vortrag folgenden Diskussionsbeiträge von Colliard (wohl pro, S. 208), Luchaire (contra, S. 208) sowie Maurice F aure (contra, S. 210). Tatsächlich hat de Gaulle sich in diesem Zusammenhang auf die Definition der nationalen Souveränität in Art. 3 der Verfassung berufen, s. de Berranger Constitutions nationales S. 38 f; Lesguillons Traitefondation (1968), 29 f. 224 So wohl Pretot in: La Constitution et l'Europe (1992), 33 (45), der aber gleichzeitig auch die Möglichkeit eines transfert durch Übergang zur Mehrheitsabstimmung offenläßt. Tatsächlich paßt diese restriktive Folgerung nicht zum Verbot auch nur teilweiser Übertragung von Hoheitsrechten, denn mit dem Beitritt zum Bundesstaat wäre die nationale Unabhängigkeit vollständig beseitigt. 225 Fuß DVBI 1980, 98 (105); Jacque in: Droit constitutionnel et droits de I'homme (1987), 321 (328).
A. Materielle Rechtslage
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- Auf der anderen Seite konnten die AusfUhrungen auch wesentlich enger verstanden werden: als Antwort auf die in der politischen Diskussion erhobene Befiirchtung, das Europäische Parlament werde sich - gestützt auf die neue demokratische Legitimation - zur Europäischen Constituante aufschwingen und über die Köpfe der Mitgliedstaaten hinweg den europäischen Bundesstaat proklamieren 226 ; daß eine solche Usurpation vom Standpunkt der nationalen Verfassungen nicht hinnehmbar wäre, ist keine Überraschung 227 • Die Wertung der Direktwahlentscheidung in der Literatur folgte diesem zwiespältigen Auslegungsergebnis. So ist die Entscheidung ist unter mehreren Gesichtspunkten heftig kritisiert worden: Ergebnisbezogen wurde vor allem darauf hingewiesen, daß Frankreich mit einem solchen Souveränitätsverständnis praktisch integrationsunflihig würde (was fUr sich genommen natürlich kein Argument gegen die juristische Stimmigkeit der Entscheidung ist), letztlich also die Beteiligung Frankreichs an der europäischen Integration in ihrem Grundsatz mit verfassungsrechtlichen Vorbehalten versehen werde: Die Anlegung dieser Meßlatte an die GrUndungsverträge selbst hätte wohl zu ihrer Verwerfung als verfassungswidrig fUhren müssen 228 • Aber auch die innere Berechtigung dieser Begriffsbildung wurde heftig angegriffen: So wurde bemerkt, daß der Begriff des - angeblich verbotenen - transfert sich in der Verfassung nicht findet, sondern vom Conseil constitutionnel selbst (der hier freilich eine Argumentationsfigur aus dem Streit um die EVG unter der 4. Republik wiederbelebt) im Gegenschluß zur ausdrücklich erlaubten limitation gebildet wurde 229 , solche e-contrario-Schlüsse jedoch alles andere als zwingend sind 230 • Auch wurde die Sinnlosigkeit der Gegenüberstellung von Übertragung und Begrenzung von Hoheitsrechten geltendgemacht; das eine geht mit dem anderen
226 In diese Richtung bewegten sich etwa die Befilrchtungen von Debre RRJ 1977, 43 (46 f); daß derartige Bedenken nicht völlig gegenstandslos waren, zeigte der Verfassungsentwurf des Parlaments für die Europäische Union von 1984, der auf diesen Vorstellungen einer von der Souveränität der Mitgliedstaaten und der vertraglichen Basis gelösten Konstituierung beruhte, aber immerhin noch die Zustimmung der Mehrheit der Mitgliedstaaten zu diesem Schritt voraussetzte, s. kritisch dazu Louis Ordre juridique Rn 37, S. 68 f; s. auch noch Jaeque in: Souveränitätsdenken (1980),71 (84 ff). 227 So auch Darmon RTDE 1988,217 (242); Olmi RMC 1981, 178 (183). 228 So die Einschätzung von Abraham Droit international S. 60 f; s. auch noch die Nachw. bei Fn 237. 229 Boulouis Anm. CDE 1977,459 (477); Fuß DVBI1980, 98 (102 f). 230
[saae Droit communautaire S. 184.
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
regelmäßig einher 31 : Wo der Nationalstaat sich internationalen Bindungen unterwirft und auf einseitige Entscheidungen verzichtet, aber dennoch weiter Entscheidungen nötig sind, wird regelmäßig eine andere Einheit tätig werden müssen, wenn nicht regulativer Stillstand eintreten soll. Freilich gibt es auch im Gemeinschaftsrecht Gegenbeispiele einer Begrenzung der mitgliedstaatlichen Hoheitsgewalt, die mit einem Übergang der Kompetenz nicht verbunden ist: Zu denken ist an die Binnenzölle, deren Erhebung den Mitgliedstaaten verwehrt, aber auch der Gemeinschaft als größerer Einheit verschlossen ist231 • Dasselbe Beispiel zeigt aber auch schon die Grenzen solcher Konstellationen: Schon um eine klassische Zollunion - also beileibe keine spektakuläre Neuerung - zu errichten, bleibt eine gemeinsame Festlegung der Außenzölle und damit jedenfalls insoweit eine Zuständigkeitsübertragung (transfert de competence) unausweichlich 233 • Auch außerhalb des Gemeinschaftsrechts finden sich begrenzte Gegenbeispiele, in denen der Staat sich bestimmte Bindungen auferlegt, ohne daß statt seiner nun eine andere Einheit diese Entscheidungen übernehmen soll: Zu denken ist an die Menschenrechtsverträge 234 oder das humanitäre Völkerrecht, mit dem bestimmte Handlungsweisen insgesamt und ersatzlos unterbunden werden sollen. Entscheidend erscheint freilich der Hinweis, daß Absatz 15 der Präambel von 1946 bei diesem - eine Kompetenzübertragung auf überstaatliche Einheiten ausschließenden - Begriffsverständnis überflüssig und seine Existenz unerklärlich wäre 235 : Daß Frankreich völkerrechtliche Verträge traditionellen Typs abschließen und sich insoweit wirksam binden kann, war zu keinem Zeitpunkt bestritten und hätte keiner KlarsteIlung durch Absatz 15 der Präambel bedurft; außerdem ergibt sich dies bereits durch die Bezugnahme auf die Regeln des Völkerrechts im 14. Absatz der Präambel. Zudem würden völkerrechtliche Verträge traditionellen Typs - wenn sie der Rechtfertigung durch Absatz 15 der Präambel bedürften - dessen Kriterien häufig noch nicht einmal erfüllen: Durch diese Bestimmung gedeckt wären sie nur, wo sie zur Verteidigung des Friedens notwendig sind. Gerade für die Men231 Genevois 1urisprudence Rn 575, S. 368; lsaac Droit communautaire S. 184; Boulouis CDE 1977,459 (477); Ruzie 101 1977,66 (76); Luchaire RDP 1991, 1499 (1512). 231 So z.B. Jacque RCADE Vol. 1-1 (1990),237 (260) sowie Luchaire (Nachweise s. folgende Fn). 233 So Luchaire, Diskussionsbeitrag in: La Declaration (1989), 208; ders. RDP 1991, 1499 (1504): "iIIogisme eclatant". 234 Vedel 1uridictions fran .. aises (1987), 15; Fromont DÖV 1995, 481 (484). 235 So z.B. Rideau RAE 3 / 1992, 7 (11); ders. in: Masclet / Maus (1993), 67 (73); ders. in: La Constitution et l'Europe (1992),67 (144).
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schenrechtsverträge als Hauptbeispiel einer Begrenzung der staatlichen Handlungsfreiheit ohne gleichzeitige Kompetenzübertragung (also limitation ohne transfert) läßt sich dieser Zusammenhang nicht leicht begründen 236 • Auswirkungen auf den zu diesem Zeitpunkt bereits erreichten Bestand der europäischen Integration hat die Direktwahl-Entscheidung allerdings nicht gehabt, obwohl man davon ausgehen konnte, daß auch dieser gemeinschaftsrechtliche Status quo den Anforderungen des Conseil constitutionnel nicht genügte 237 : Die bereits geltenden Verträge sowie das auf sie gestützte Sekundärrecht waren einer nachträglichen Kontrolle an diesen Maßstäben entzogen. Der Conseil constitutionnel hat denn auch in der Folgezeit - aus diesen prozessualen Gründen - die Anwendung der in der Direktwahl-Entscheidung entwickelten Kriterien auf das bestehende Gemeinschaftsrecht einschließlich neuen Sekundärrechts verweigert238 • Bestand und (sekundärrechtliche) Fortentwicklung der Gemeinschaft wurden durch die Haltung des Conseil constitutionnel also nicht in Frage gestellf 39 ; allein ein weiteres Fortschreiten der Integration durch Änderung der Gründungsverträge blieb mit unabsehbaren Risiken behaftet.
236 Jacque in: Droit constitutionnel et droits de l'homme (1987), 321 (336 Fn 14); s. noch zum 6. EMRK-Zusatzprotokoll unten cc). 237 So z.B. Rideau in: Masclet / Maus (1993), 67 (73 f); Abraham Droit international S. 61; Pactet Melanges Chapus (1992), 503 (511); ebenso die in der Folge häufig zitierte Äußerung von Präsident Mitterrand in einem Fernsehinterview am 15.12.1991: "il y a deja eu des transferts de souverainete en 1957 lors de la signature du Traite de Rome, mais les constituants de 1958 ... ne s'en sont pas occupes. On vit depuis cette epoque-Ia avec des dispositions qui ne sont pas constitutionnelles." s. Le Monde 17.12.1991 (Hervorhebung vom Verf.). 238 Zu diesen Entscheidungen s.u. 3. Kap. B. I. 2. b). 239 Jacque in: Souveränitätsdenken (1980), 71 (83 f); allein diese Beschränkung rechtfertigt auch die Schlußfolgerung von Vedel in: La Constitution et I'Europe (1992), 23 (27): "le Conseil constitutionnel ... a ete la seule cour constitutionnelle qui n'ait jamais mis des batons dans les roues aux institutions communautaires, alors que d'autres cours constitutionnelles (I'allemande, l'italienne) l'ont fait." Ähnlich schon ders. luridictions franr;aises (1987), 9: "... on peut se demander si, de toutes les co urs constitutionnelles d'Europe, ce n'est pas le Conseil constitutionnel qui ale moins gene I'application du droit communautaire. "
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
cc) Ankündigung einer Neuorientierung? Die Entscheidung zum 6. EMRK-Zusatzprotokoll (Verbot der Todesstrafe) vom 22.5.1985 Neue Nahrung erhielt die Diskussion um die verfassungsrechtlichen Grenzen internationaler Bindungen Frankreichs durch eine im Jahr 1985 ergangene Entscheidung des Conseil constitutionnel, die allerdings nicht das Gemeinschaftsrecht, sondern den Beitritt Frankreichs zum 6. Zusatzprotoko!F40 zur EMRK über die Abschaffung der Todesstrafe zu beurteilen hatte. (1) Auch diese Entscheidung hatte einen höchst politischen Hintergrund: Die Ratifikation dieses Zusatzprotokolls war politisch und juristisch vor allem deshalb umstritten, weil sie als Absicherung der bereits 1981 einfachgesetzlich erfolgten Abschaffung der Todesstrafe241 gegen den bevorstehenden Mehrheitswechsel im Parlament verstanden werden konnte 242 : Das innerstaatliche Gesetz hätte eine neue bürgerliche Mehrheit ohne weiteres wieder ändern können. Die Kündigung des Zusatzprotokolls dagegen war gemäß seines Art. 6 in Verbindung mit Art. 65 der EMRK zwar möglich, in ihren Voraussetzungen aber u.a. aufgrund der in Art. 65 EMRK enthaltenen Füntjahresfrist völlig ungeklärt: Rechtlich unproblematisch möglich, aber politisch ausgeschlossen 243 war eine Kündigung der gesamten EMRK, die Frankreich schon 1974 ratifiziert hatte; ob
240 Zu diesem Protokoll Hartig EuGRZ 1983, 270 ff. Frankreich hatte das Protokoll bereits am 28. 4. 1983 gezeichnet; die Bundesrepublik hat es erst im Jahre 1988 ratifiziert, s. Gesetz vom 32.7.1988, BGBI 1988 11, 662 und dazu Calliess NJW 1989, 1019 ff; Gusy in: Grundgesetz im internationalen Wirkungszusammenhang der Verfassungen (1990),207 (214 ft). 241 Loi No 81-908 du 9.10.1981 portant abolition de la peine de mort, JORF 10.10.1981, S. 2759. 242 Dazu Favoreu AFDI 1985,868 (871).
243 So auch Favoreu AFDI 1985, 868 (872) und die Schlußanträge von Regierungskommissar Bonichot zu CE Sect. 27.2.1987 - Fidan, Rec. S. 81 = D. 1987 jp 305 (308), der aus dem nunmehr "irreversiblen" Charakter der Entscheidung gegen die Todesstrafe deren Zugehörigkeit zum französischen ordre public herleitet - mit der durch die Entscheidung bestätigten Folgerung, daß eine Auslieferung nicht mehr in Betracht kommt, wenn dem Auszuliefernden im ersuchenden Staat die Todesstrafe droht; bestätigt u.a. durch CE 14.12.1987 - Gacem, Rec. Tables S. 733 = JCP 1988 IV S. 86; CE Ass. 15.10.1993 - Mme Joy Davis-Aylor, Rec. S. 283 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Vigouroux = RFDA 1993, 1179 mit den Schlußanträgen S. 1166 = JCP 1994 11 22257 m.Anm. Espuglas = RGDIP 1994, 1009 m.Anm. Alland; CE 9.5.1994 M. Hejli, Rec. S. 226 = AJDA 1994, 751 m.Anm. Julien-Laferriere.
A. Materielle Rechtslage
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und mit welchen Fristen eine isolierte Kündigung einzelner Protokolle denkbar wäre, war und ist dagegen bis heute ungeklärt 244 • Aus dieser ungewissen Bindung zukünftiger Gesetzgeber schloß die Opposition auf eine unzulässige Beeinträchtigung der Parlamentsbefugnisse245 ; zugleich wurden aber auch eine unzulässige Schmälerung der dem Präsidenten gemäß Art. 16 der Verfassung zustehenden Notstandsrechte 246 sowie insgesamt ein nicht hinnehmbarer Eingriff in die nationale Souveränität beanstandet. Um diese verfassungsrechtlichen Zweifel der bürgerlichen Noch-Opposition 247 auszuräumen, rief Präsident Mitterrand gemäß Art. 54 der Verfassung den Conseil constitutionnel an, um die Verfassungsmäßigkeit des Protokolls überprüfen zu lassen 248 • (2) Auch in diesem Fall hat das Ergebnis der Entscheidung den Weg zur Ratifikation freigegeben: Der Conseil constitutionnel hat das Protokoll mit Entscheidung vom 22.5 .1985 249 fllr verfassungskonform erklärt. Bei der Prüfung der Souveränitätsproblematik250 nimmt die Entscheidung aber die Unterscheidung zwischen transfert und limitation de Souverainete nicht wieder auf, sondern wählt eine andere, aus der Eigenmittel-Entscheidung von 1970 bekannte Formulierung: Nach der Erwägung, daß die Verhängung der Todesstrafe im Falle von Krieg oder Kriegsgefahr möglich bleibe und eine Kündigung gemäß Art. 65 der Konvention möglich sei, folgte die Feststellung, daß die Institutionen der Republik, der Fortbestand der Nation und der Schutz der Bürgerrechte durch das Protokoll nicht geflihrdet seien 251 • Aus diesen Feststellungen
244 Zu den einzelnen Problemen s. Flauss LPA 1989 NT. 8, 9.1.1989, S. 8 ff; ders. in: Melanges Velu T. 2 (1992),1253 ff; Genevois AUC 1985,399 (431). 245 Art. 34 der Verfassung: zur innerstaatlichen Machtverschiebung zwischen Parlament und Regierung als Folge der Integration s. unten 3. Kap. A. 11. 2. a). 246 Zu Art. 16 s. bereits oben 3. Kap. A. I. 2. c) cc). 247 Tatsächlich fIlhrten die Wahlen von Anfang 1986 zum Wahlsieg des bürgerlichen Lagers und zur ersten "Cohabitation" (Regierung Chirac). 248 Auch hier wurde Art. 54 der Verfassung also wieder eingesetzt, um Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit eines Abkommens zu widerlegen. 249 CC 22.5.1985 No 85-188 DC, Rec S. 15 = AFDI 1985,869 m.Anm. Favoreu; s. auch Genevois AUC 1985, 399 (430 ft). 250
Zu den grundrechtlichen Implikationen der Entscheidung s. unten 3. Kap. A. 11. 2.
b).
m "". cet engagement international n'est pas incompatible avec le devoir pour l'Etat d'assurer le respect des institutions de la Republique, la continuite de la vie de la nation et la garantie des droits et libertes des citoyens" (2. Erwägungsgrund).
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
zog der Conseil constitutionnel schließlich die abschließende Folgerung, daß das Protokoll "nicht die wesentlichen Bedingungen der Ausübung der staatlichen Souveränität berührt und keine der Verfassung widersprechende Bestimmung enthält"m. (3) In der Literatur wurde die Wiederkehr der aus der Entscheidung von 1970 bekannten Formel sehr gegensätzlich aufgenommen: Einigkeit bestand allein darin, daß die Anwendung der (unausgesprochen) spezifisch auf die Situation der Gemeinschaft bezogenen Unterscheidung253 zwischen erlaubter Begrenzung und verbotener Übertragung von Hoheitsrechten in diesem Fall nicht weitergeführt hätte, weil eine solche Übertragung hier schon tatbestandlich eindeutig nicht vorlag254 ; in den Folgerungen unterscheiden sich dann jedoch zwei Hauptströme: - Auf der einen Seite wurde die Entscheidung als Andeutung einer Lockerung der Kriterien des Conseil constitutionnel verstanden: Möglicherweise würde die rigide Formel der Direktwahlentscheidung in Zukunft auch in Bezug auf das Gemeinschaftsrecht aufgegeben und - wie in der Eigenmittel-Entscheidung ja vorgezeichnet - durch den Maßstab der Wahrung der "conditions essentielles" ersetzt werden 255 • Diese wesentlichen Bedingungen der Ausübung der nationalen Souveränität wären im 2. Erwägungsgrund der Einscheidung zugleich erstmals - in wenn auch abstrakter Form - definiert worden 256 • - Auf der Gegenseite konnte die Bewahrung der "wesentlichen Bedingungen der Ausübung der nationalen Souveränität" als zusätzliche, zum Verbot des transfert hinzutretende Schranke verstanden werden 257 : Danach gäbe es also neben den schon grundsätzlich verbotenen transferts auch schlichte Beschränkungen der nationalen Souveränität, die - obwohl gemäß Absatz 15 der Prä252 " .•• des lors, ... le protocole no 6 ne porte pas atteinte aux conditions essentielles de I'exercice de la souverainete nationale et ... ne contient aucune cIause contraire a la Constitution." (3. Erwägungsgrund). 253 Jacque in: Droit constitutionnel et droits de I'homme (1987), 321 (328). 254 s. nur Jacque in: Droit constitutionnel et droits de I'homme (1987), 321 (336 Fn 14); Vedel Juridictions fran~aises (1987) S. 15; Rideau in: MascIet I Maus (1993), 67 (82 f); Aglae RRJ 1995, 925 (947 f); offen blieb, ob auch nur eine "limitation" vorlag, die Absatz 15 der Präambel ja auch nur zur Wahrung des Friedens etc. zuläßt; der CC ist auf dieses Argument der Opposition nicht eingegangen, s. Favoreu AFDI 1985, 868 (873). 255 So Genevois Jurisprudence Rn 575, S. 369; ders. AUC 1985,399 (432); Chapus in: La DecIaration (1989), 181 (186); offen Abraham Droit international S. 63. 256 So die Erwägung von Favoreu AFDI 1985,868 (873). 257 So insbes. Uo Hamon D. 1991 chr. 301 ff; Gai"a Insertion S. 321 f; Pretot in: La Constitution et l'Europe (1992), 33 (44).
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ambel von 1946 im Grundsatz erlaubt - unter bestimmten Bedingungen gleichfalls verfassungswidrig sein können. Die am weitesten ausgreifenden Folgerungen aus dieser Grundannahme hat Leo Hamon 258 gezogen: Nach seiner Konzeption ist schon jede Beteiligung an internationalen Gremien mit bindender Mehrheitsentscheidung eine verbotene Übertragung von Hoheitsrechten. Die im Vorfeld des transfert liegende Schranke der conditions essentielles wird schon berührt, wenn Frankreich eine rechtlich fortbestehende Entscheidungsfreiheit - also etwa ein Vetorecht im entsprechenden Entscheidungsgremium - faktisch nicht mehr wahrnehmen kann, weil es durch die Anwendung von Konsensus-Methoden oder moralischen Druck an einer wirklich freien Entscheidung gehindert wird. Eine erlaubte Begrenzung der nationalen Souveränität liegt danach nur vor, wenn die nationale Entscheidungszuständigkeit an ein Gremium übertragen wird, in dem Frankreich zwar nicht mehr allein entscheiden kann, aber zugleich rechtlich wie tatsächlich in der Lage ist, jede Entscheidung gegen seinen Willen zu verhindern. Diese extreme Konzeption hat in der Literatur freilich kaum Gefolgschaft gefunden 259 : Es ist zu offensichtlich, daß so anspruchsvolle Maßstäbe die nationale Unabhängigkeit zu einem irrealen Konstrukt machen. Von den Mitgliedern der Staatengemeinschaft hätten danach nur die fllnf ständigen Mitglieder des UNSicherheitsrats keinen - nach diesen Mäßstäben verfassungswidrigen! - transfert vorgenommen, denn alle anderen Mitglieder der UNO müssen die bindenden Mehrheitsentscheidungen des UN-Sicherheitsrats hinnehmen 260 • Aber auch diese fllnf Staaten werden Situationen nicht vermeiden können, in denen sie auch ohne rechtliche Bindung in ihren Entscheidungen tatsächlich Rücksicht auf andere Staaten nehmen müssen. Gleichzeitig hat die Entscheidung zum 6. EMRK-Zusatzprotokoll eine zusätzliche Frage aufgeworfen: Im Mittelpunkt des Rechtsstreits stand die Frage der Bindung des parlamentarischen Gesetzgebers künftiger Legislaturperioden an die zuvor geschlossenen Abkommen; das hat zu der Frage geführt, ob die Perspektive einer Rückgewinnung der nationalen Entscheidungsfreiheit, also die Möglichkeit der Kündigung als Ausdruck der fortbestehenden nationalen Souveränität im jeweiligen Abkommen vorgesehen sein muß, um den verfas-
Hamon D. 1991 ehr. 301 ff. 259 Ihm folgend soweit ersichtlich allein Mathieu / Verpeaux LPA 1992 Nr. 77, 26.6.1992, 6 (7). 260 Zum Beispiel der UNO s. schon aus Anlaß des Streits um die Verfassungsmäßigkeit des EVG-Vertrags unter der 4. Republik Vedel Le Monde 15.6.1954 = Droits No 16 (\992), 112(113). 258
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sungswidrigen transfert zu vermeiden 261 • Danach dürfte die Aufgabe der Entscheidungsfreiheit also nicht endgültig im Sinne von unwiderruflich sein. Tatsächlich hat der Conseil constitutionnel ein solches Erfordernis aber wohl in dieser Entscheidung auch nicht positiv behauptet, sondern die dementsprechende Argumentation mit der Erwägung entkräften wollen, daß schon die tatsächlichen Voraussetzungen rur diese Annahme nicht vorlägen - ohne daß damit schon eine Stellungnahme zu der Frage verbunden war, ob ein solcher endgültiger Verzicht, wenn er denn tatsächlich einmal vorliegen würde, verfassungsrechtlich zu mißbilligen wäre: Tatsächlich liegt in dieser Argumentation, sofern sie wie hier nur auf die Entscheidungsfreiheit des Gesetzgebers abstellt262 , eine Vermischung von nationaler Souveränität und Entscheidungsfreiheit des Gesetzgebers (souverainete du parlement), wie sie in der französischen Diskussion freilich häufiger anzutreffen ist2 6l •
dd) Die "fehlende" Entscheidung: transfert de souverainete und Einheitliche Europäische Akte (1) Als nächstes - allerdings gerade fehlendes - G lied der Kette ist vor allem eine verpaßte Gelegenheit zu verzeichnen. Die Ratifikation der Einheitlichen Europäischen Akte konnte als idealer Anlaß erscheinen, um die in der Entscheidung von 1976 ja nur obiter enthaltenen Untiefen auszuloten 264 : Anders als im Fall der Direktwahl-Entscheidung wurden hier tatsächlich weitere Kompetenzen übertragen, so daß sich die Frage nach der genauen Definition des verbotenen "transfert de souverainete" stellte; zugleich verschob sich das institutionelle Gleichgewicht sowohl mittelbar durch die stärkere Beteiligung des Europäischen Parlaments im Rahmen des neuen Verfahrens der Zusammenarbeit als auch unmittelbar im Rat durch den breiten Übergang zur Mehrheitsentscheidung zu Lasten des einzelnen Mitgliedstaats.
261 s. nur Pretot in: La Constitution et l'Europe (1992), 33 (49); Jacque RCADE Vol. I - 1 (1990), 237 (262). 262 Zum Ausbruch aus dem Vertrag durch den verfassungsändernden Gesetzgeber s.u. 3. Kap. A. III. 4. und B. 11. 3. 263 s. auch noch unten 3. Kap. A. 11. 2. a) aa) mit Fn 311.
264 Vedel luridictions fran~aises (1987), 15: "La vraie pierre de touche d'une evolution possible de la jurisprudence du Conseil aurait ete dans la decision que celui-ci aurait rendue s'il avait ete saisi de l'Acte unique europeen." Ähnlich Chapus in: La Declaration (1989), 181 (186); Rideau RAE 3 / 1992, 7 (12); ders. in: Masclet / Maus (1993), 67 (75 f); ders. in: La Constitution et I'Europe (1992), 67 (145 f).
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Tatsächlich stellte die Entscheidung über die Ratifikation der noch von der sozialistischen Vorgängerregierung ausgehandelten und unterzeichneten Akte die neue bürgerliche Mehrheit vor eine Zerreißprobe: Dieselbe "altgaullistische" Gruppierung um Michel Debn~ und Jacques Foyer265 , die bereits die Entscheidungen von 1970 und 1976 ausgelöst hatte, machte unter Berufung auf die Begründung der Direktwahl-Entscheidung von 1976 die Verfassungswidrigkeit der Akte geltend und argwöhnte, daß die nach der damaligen Fassung des Art. 54 der Verfassung allein zur Anrufung des Conseil constitutionnel berechtigten Organe auf diesen Schritt wegen der Offensichtlichkeit dieser Tatsache verzichteten. Auch eine Anrufung gegen das Zustimmungs gesetz auf der Grundlage von Art. 61 Abs. 2 der Verfassung konnte nicht erfolgen, da die Gruppe um Debn~ nicht die erforderliche Kopfzahl von 60 Abgeordneten erreichte 266 • (2) Die Literatur blieb hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der EEA gespalten. Mehrheitlich schien aber die Auffassung vorzuherrschen, daß der Vertrag den Maßstäben der Direktwahl-Entscheidung kaum genügte 267 : sei es, weil weitere Bereiche der Mehrheitsentscheidung im Rat unterworfen wurden, sei es, weil diese Mehrheitsentscheidungen im Zuständigkeitsbereich des nationalen Gesetzgebers gemäß Art. 34 der Verfassung stattfanden268 •
265 s. dazu die bissige Charakterisierung von Burban RMC 1977, 337 aus Anlaß des Streits um die Einfuhrung der Direktwahlen zum Europäischen Parlament: 11 ••• la bruyante minorite des 'gaullistes historiques' ... " 266 Zu den Vorgängen um die Ratifikation der EEA Dhommeaux RDP 1987, 1449 (1451); de Berranger Constitutions nationales S. 262; aus der unterbliebenen Anrufung des CC mit Vedel luridictions fran~aises (1987), 15 auf einen partei übergreifenden weiten Konsens zur europäischen Einigung zu schließen, hat sich freilich angesichts der Schärfe der späteren Maastricht-Debatte als voreilig erwiesen. 267 So etwa Chapus in: La Declaration (1989), 181 (186); ihm folgend Pretot in: La Constitution et l'Europe (1992), 33 (45 ff); im Ergebnis für Verfassungsmäßigkeit Jacque in: Droit constitutionnel et droits de I'homme (1987), 321 (328 m. Fn 16). 268 So insbes. Goguel Projet 1987, 97 ff; zum Problem der Anwendung des Art. 34 der Verfassung als Schranke der Integration s. noch unten 3. Kap. A. 11. 2. a) aa).
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
ee) Ein letzter Aufschub: Die erste Schengen-Entscheidung des Conseil constitutionnel (1) Prozessual weist die Entscheidung vom 25.7.1991 269 zur Verfassungsmäßigkeit der Schengener Konvention Besonderheiten auf: Sie ist eines der Anwendungsbeispiele fur die Befassung des Conseil constitutionnel auf dem Umweg über Artikel 61 Abs. 2 in Verbindung mit dem zur Billigung der Ratifikation ergangenen Gesetz. Tatsächlich hatte keine der nach der alten Fassung des Art. 54 zur Anrufung des Conseil constitutionnel befugten Instanzen von diesem Recht Gebrauch gemacht; auch war das Zustimmungsgesetz mit deutlicher Mehrheit beschlossen worden 270. Dennoch fand sich - anders als zuvor im Fall der EEA - eine hinreichende Zahl von Abgeordneten der Nationalversammlung, um eine Befassung des Conseil constitutionnel herbeizuflihren. (2) In der Sache mußte der Conseil constitutionnel sich mit einer Vielzahl von Rügen auseinandersetzen. Die Antragsteller warfen dem durch das angegriffene Gesetz gebilligten Abkommen vor, in mehrfacher Hinsicht das nach der Entscheidung von 1976 bestehende Verbot von "transferts de souverainete" zu verletzen: so z.B. hinsichtlich der Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen (Art. 2 Abs. 1 des Abkommens), die diese Kontrollen fremden Staatsorganen überantworteten, soweit diese die künftigen gemeinsamen Außengrenzen kontrollierten, oder hinsichtlich des anderen Staaten eingeräumten Rechts der Nacheile auf französischem Territorium (Art. 41 des Abkommens). Der Conseil constitutionnel hat in all diesen Punkten geantwortet, daß der von den Antragstellern behauptete transfert de souverainete tatsächlich nicht gegeben sei. Hierzu konnte der Conseil constitutionnel sich zum Teil auf den rein intergouvernementalen Charakter der Vereinbarung zurückziehen. Dabei vermeidet es die Entscheidung aber, sich diese Systematisierung zu eigen zu machen und auf diese Weise ihre Fortgeltung zu bestätigen: Sie wird der Prüfung gewissermaßen nur unterstelle 7l • Immerhin hat der Conseil constitutionnel aber ausdrücklich Stellung zu der durch die Entscheidung von 1985 aufgeworfenen Frage bezogen, ob die Wah-
269 CC 25.7.1991 No 91-294 DC - Accord de Schengen, Rec. S. 91 = RFDC 1991,703 m.Anm. Gai"a = RFDA 1992, 180 m.Anm. Vedel S. 173 = RTDE 1992, 187 m.Anm. Pr/ftot = RRJ 1992,45 m.Anm. Gaia S. 25; deutsche Übersetzung in EuGRZ 1993, 187; zu dieser Entscheidung s. auch Luchaire RDP 1991, 1499 ff; Rousseau RDP 1992,37 (92 ft). 270 s. dazu Grewe / Ruiz Fahri RUDH 1992,277. 271 So auch Favoreu u.a. AUC 1991,529 (558 t).
A. Materielle Rechtslage
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rung der wesentlichen Bedingungen der Ausübung der nationalen Souveränität die grundsätzliche Kündbarkeit eingegangener vertraglicher Verpflichtungen erfordert: Da auch das Schengener Abkommen keine Kündigungsklausel enthält, nahmen die Antragsteller einen Verstoß gegen die in der Entscheidung von 1985 angedeuteten Grundsätze an. Der Conseil constitutionnel hat diese Argumentation ausdrucklich verworfen und zur Begründung darauf abgestellt, daß das bestehende Abkommen nicht ohne Zustimmung Frankreichs geändert werden könne 272 • Die dauerhafte Bindung an einmal eingegangene und im übrigen verfassungsmäßige Verpflichtungen ist danach für sich genommen nicht verfassungswidrig 273 • (3) In der Literatur ist die Entscheidung überwiegend mit Blick auf die zu diesem Zeitpunkt schon absehbaren Auseinandersetzungen um den Unionsvertrag als Übergangsentscheidung eingestuft worden, die eine voreilige Festlegung vermeiden sollte 274 • Nur wenige Kommentatoren haben in dem Hinweis, daß schon tatbestandIich keine Übertragung von Hoheitsrechten vorliege, zugleich eine ausdruckliche Bestätigung der Maßgeblichkeit und Fortgeltung dieser Systembildung von verbotenem transfert und erlaubter limitation sehen wollen 275 •
272 " ••• les auteurs de la saisine font ob server que la convention ne prevoit pas de possibilite expresse de 'denonciation'; ... il en resulte selon eux un abandon de souverainete;" (56. Erwägungsgrund). " ... au regard des procedures de modification ainsi prevues, sur une base de reciprocite, dans le respect des regles du droit national relatives a I'introduction des traites dans I'ordre interne, I'absence de reference a une clause de denonciation ne saurait constituer en elle-meme un abandon de souverainete;" (58. Erwägungsgrund). s. dazu Pretot in: La Constitution et l'Europe (1992), 33 (49 f); Favoreu u.a. AUC 1991,529 (561 f). 273 s. Gai'a RRJ 1992, 25 (38); zu diesem Aspekt auch die Diskussionsbeiträge von Catala, Boulouis, Foyer und Uo Hamon in: La Constitution et l'Europe (1992), 218 ff. 274 Rousseau RDP 1992, 37 (95): "une decision de transition"; ders., Contentieux constitutionnel S. 262 ff; ebenso Vedel RFDA 1992, 173: "une decision d'attente"; Grewe! Ruiz Fabri RUDH 1992, 277 (281): "un jeu de cache-cache entre le juge et les requerants"; Oliver 43 ICLQ (1994), 1 (8 f). 275 So vor allem Gai'a Anm. RFDC 1991, 703 (705 f).
9 Gundei
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
b) Die Neuorientierung der Rechtsprechung durch die erste Maastricht-Entscheidung vom 9.4.1992: Rückkehr zum Maßstab der "conditions essentielles"
Mit der ersten Maastricht-Entscheidung des Conseil constitutionnel vom 9.4.1992 276 liegt ein paradoxes Ergebnis vor: Es handelt sich um die erste in ihrer Begründung deutlich integrations freundliche Entscheidung des Conseil constitutionnel, gleichzeitig aber um die erste Entscheidung überhaupt, die im Ergebnis die Verfassungswidrigkeit eines Abkommens feststelle"; dieses Ergebnis war freilich allgemein, auch von den Befurwortem des Unionsvertrages, erwartet worden 278 • (I) Der prozessuale Rahmen der Entscheidung ähnelt im Ausgangspunkt den früheren Präzedenzfällen: Die Befassung des Conseil constitutionnel erfolgte wiederum - wie schon bei der Direktwahl-Entscheidung von 1976 - durch den Präsidenten der Republik auf der Grundlage von Art. 54 der Verfassung. Die Fassung des Antragsschreibens279 in Verbindung mit vorangehenden Äußerungen von Präsident Mitterrand280 legte dabei die Vermutung nahe, daß bei dieser Gelegenheit auch eine Klärung der Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des bereits geltenden Gemeinschaftsrechts gewünscht wurde. Der Conseil constitutionnel stellt allerdings klar, daß fur eine solche nachträgliche Prüfung kein Raum ist: Gegenstand der Überprüfung sind allein die
276 CC 9.4.1992 No 92-308 OC - Maastricht 1, Rec. S. 55 = GOCC Nr. 45, S. 771 (1. Entscheidung) = JCP 1992 II 21853 m.Anm. Nguyen Van Tuong = RFOA 1992, 403 m.Anm. Genevois S. 373 = RDP 1992, 608 m.Anm. Luchaire S. 587 = RTOE 1992, 426; s. auch die Kommentare von Jacque RTOE 1992,250 ff; Simon Europe 5 /1992, 1 ff; Rousseau RDP 1993, 5 (14 ff). 277 Isaac Oroit communautaire general S. 183; Simon Europe 5 / 1992, 1 (3); Genevois RFOA 1992,373 (403).
278 s. nur Favoreu Le Figaro 7.4.1992 = La Constitution et l'Europe. Commentaires et documents S. 352 f. - "Les accords de Maastricht et la Constitution": "Chacun s'attend a ce que le Conseil constitutionnel, saisi par le President de la Republique le 11 mars dernier, prenne une decision rendant necessaire une revision de la Constitution sur au moins deux points: I'octroi du vote aux ressortissants communautaires pour les elections municipales et I'institution d'une monnaie commune." 279 " ... Conformement a I'article 54 de la Constitution, j'ai I'honneur de dem an der au Conseil constitutionnel si, compte tenu des engagements souscrits par la France et les modalites de leur entree en vigueur, I'autorisation de ratifier le traite doit etre precedee d'une revision de la Constitution." (JORF 14.4.1992, S. 5428). 280 s.o. Fn 237.
A. Materielle Rechtslage
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durch den Vertrag von Maastricht vorgesehenen Neuerungen, nicht aber der vorhandene Bestand des Gemeinschaftsrechts281 • (2) Die Begründung der Entscheidung enthält eine neue Definition der verfassungsrechtlichen Grenzen der Integration und stellt die Diskussion damit auf eine neue, handhabbare Grundlage: Die unfruchtbare Unterscheidung zwischen erlaubter Souveränitätsbegrenzung und verbotener Übertragung wird der Sache nach aufgegeben und durch die Frage ersetzt, ob durch die Integration "wesentliche Bedingungen der Ausübung der nationalen Souveränität" betroffen werden282 • Die schon in früheren Entscheidungen angedeutete Rückkehr zu dem bereits 1970 eingesetzten Maßstab wird damit endgültig vollzogen. Die Direktwahl-Entscheidung von 1976 wird damit aber nicht förmlich widerrufen, sondern durch ein restriktives Verständnis des Begriffs "Übertragung der Souveränität" umgangen. Der Conseil constitutionnel erklärt eine solche Übertragung nunmehr nicht etwa fur zulässig, sondern spricht allein von der zulässigen Übertragung von Zuständigkeiten: Der "transfert de souverainete" wird durch den "transfert de competence" ersetzt281 • Man kann sich also auf den Standpunkt stellen, daß das Verbot von "transferts de souverainete" als Grundaussage der Entscheidung von 1976 weiter gilt, und sich nur die konkrete Anwendung auf überstaatliche Einrichtungen geändert hat2 84 : Der "transfert de
281 Zu dieser Beschränkung des Prüfungsgegenstands schon oben 3. Kap. A. I. 2. c) dd) sowie ausflihrlich unten 3. Kap. B. I. 2. und 3. b) bb). 282 "". il resulte de ces textes de valeur constitutionnelle que le respect de la souverainete nationale ne fait pas obstacle a ce que, sur le fondement des dispositions precitees du preambule de la Constitution de 1946, la France puisse conclure, sous reserve de reciprocite, des engagements internationaux en vue de participer a la creation ou au developpement d'une organisation internationale permanente, dotee de la personnalite juridique et investie de pouvoirs de decision par I'effet de transferts de competences consentis par les Etats membres;" (13. Erwägungsgrund). "". au cas Oll des engagements internationaux souscrits acette fin contiennent une cIause contraire a la constitution ou portent atteinte aux conditions essentielles de l'exercice de la souverainete nationale, I'autorisation de les ratifier appelle une revision constitutionnelle;" (14. Erwägungsgrund). 283 Zu diesem terminologischen Wandel s. etwa Grewe / Ruiz Fabri RUDH 1992, 177 (281): "glissement terminologique et conceptuel significatif'; Rousseau RDP 1993, 5 (43); Aglae RRJ 1995, 925 (949). 284 So tatsächlich die äußerst "traditionalistische" Interpretation der Entscheidung durch Favoreu RGDIP 1993,39 (52 f).
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
competence" an eine überstaatliche Einheit wird nicht (mehr) als (weiterhin verbotener) "transfert de souverainete" eingeordnee85 • (3) Dieser neue und zugleich alte Prüfungsmaßstab wird in der Folge auf den Unionsvertrag angewandt: Hierzu stellt der Conseil constitutionnel fest, daß die Teilnahme an einer auf Dauer angelegten internationalen Organisation mit eigener Rechtspersönlichkeit und eigenen Entscheidungskompetenzen mit der Wahrung der nationalen Souveränität grundsätzlich vereinbar iseK6 • In drei Bereichen wird aber auch in Anwendung des neuen Prüfungsmaßstabs ein Konflikt mit der Verfassung festgestellt, weil tatsächlich wesentliche Beeinträchtigungen der Ausübung der nationalen Souveränität vorliegen: - Das mit der Unionsbürgerschaft verbundene Recht zur Teilnahme an den Kommmunalwahlen gemäß Art. 8 EGV in der Fassung des Unionsvertrags 287 verstößt zwar direkt gegen Art. 3 der Verfassung; auch hier steht aber im Hintergrund die nationale Souveränität: Wesentlicher Schritt der Argumentation ist die Feststellung, daß über die Mitglieder der Kommunalparlamente die Mitglieder des Senats bestimmt werden, der seinerseits an der Ausübung der nationalen Souveränität teilnimmt. Im Gegenschluß ergibt sich aus derselben Argumentation, daß das Recht zur Teilnahme an den Europawahlen vor der Verfassung Bestand hat: Hier bleibt der Conseil constitutionnel der im Jahre 1976 eingeschlagenen Linie treu, nach der das Europäische Parlament nicht Teil der institutionellen Ordnung Frankreichs ist und folglich keinen Bezug zur nationalen Souveränität hae 88 •
285 Schon zuvor hatte die Literatur sich nach dem Verhältnis beider Begriffe zueinander gefragt, s. Constantinesco / Jacque in: Koenig / Rüfner (1985), 175 (192); Jacque in: Droit constitutionnel et droits de I'homme (1987), 321 (327). 286 13. Ewägungsgrund, s. bereits oben Fn. 282. 287 21. - 27. Erwägungsgrund; dazu Peuchot RDP 1991,481 ff; Pretot in: La Constituti on et I'Europe (1992), 33 (62 f); Rideau RAE 3/1992,7 (19 ff). 288 " ... ne constitue pas une assemblee souveraine dotee d'une competence generale et qui aurait vocation a concourir a l'exercice de la souverainete nationale; ... 1e Par1ement europeen appartient a un ordre juridique propre qui, bien que se trouvant integre au systeme juridique des differents Etats membres des communautes, n'appartient pas a I'ordre institutionnel de la Republique fran~aise." (34. Erwägungsgrund). s. auch Rideau RAE 3 I 1992, 7 (22 ff); Ag/ae RRJ 1995, 925 (944).
A. Materielle Rechtslage
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- Auch die Aufgabe der nationalen Währungshoheit im Gefolge der Währungsunion erweist sich als verfassungwidrig 2K9 ; dieses Ergebnis war allerdings angesichts der grundsätzlichen Formulierungen zur Bedeutung der nationalen Währungshoheit in einer älteren, auf den IWF bezogenen Entscheidung 290 bereits erwartet worden 291 • - Auch die Einschränkung der "autonomen" nationalen Ausländerpolitik durch die Einführung der (Option einer) gemeinsamen Visapolitik gemäß Art. 100 c EGV 292 berührt die wesentlichen Bedingungen der nationalen Souveränität. Dies bedeutet aber weder, daß diese Materie als solche "integrationsfest" wäre, noch eine generelle Verwerfung des Mehrheitsvotums: Der Conseil constitutionnel hat in mehreren anderen Bereichen den Übergang zur Mehrheitsentscheidung ausdrücklich nicht beanstandet. Vielmehr führt erst die Verbindung des "sensiblen" Gegenstands mit dem Verfahren der Mehrheitsentscheidung zu einer verfassungswidrigen Berührung der wesentlichen Grundlagen der Ausübung der nationalen Souveränitäe93 •
289 43. Erwägungsgrund: " ... iI n!sulte des dispositions applicables a compter du debut de la troisieme phase de I'union economique et monetaire que la realisation d'un semblable objectif se traduira par la mise en reuvre d'une politique monetaire et d'une politique de change uniques selon des modalites teiles qu'un Etat membre se trouvera prive de competences propres dans un domaine ou sont en cause les conditions essentielles d'exercice de la souverainete nationale; ... " 290 s. den 5. Erwägungsgrund von CC 29.4.1978 No 78-93 DC - Fonds monetaire international (FMI), Rec. S. 23: "... le respect de la souverainete des Etats membres est, en effet, assure par la liberte qui est reconnue a chacun d'eux de choisir tout systeme de change qu'il entend appliquer;" Zu dieser Entscheidung s. noch unten 3. Kap. B. I. 2. b) aa) mit Fn 61 ff. 291 So etwa Pretot in: La Constitution et I'Europe (1992), 33 (48); Nguyen van Tuong ALD 1992, 89 (94); Rideau RAE 3 / 1992, 7 (25 f); s. auch bereits Constantinescol Jacque in: Koenig / Rüfner (1985), 175 (195 f). 292 49. Erwägungsgrund; " ... les engagements souscrits par les autorites de la Republique fran9aise ne sauraient affecter I'exercice par l'Etat de competences qui relevent des conditions essentielles de sa souverainete; ... ne so nt pas contraires aces exigences les dispositions de I'article 100 C qui sont relatives a la determination des pays tiers dont les ressortissants doivent etre munis d'un visa ... , des lors qu'elles concernent la periode anterieure au 1er janvier 1996; ... en revanche l'abandon de la regle de I'unanimite a compter du 1er janvier 1996, pourrait conduire ... a ce que se trouvent affectees les conditions essentielles d'exercice de la souverainete nationale;" skeptisch insoweit Simon Europe 5 / 1992, 1 (3). 293 Rideau RAE 3/1992,7 (27 f); ders. in: Masclet / Maus (1993), 67 (100 f, 104 f); Genevois RFDA 1992, 373 (399 ff); Pretot in: Rep. dr. comm. Stichwort "Constitution et Communaute" Rn 67; Gai"a in: Droit constitutionnel national (1996), 231 (270).
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
- Die übrigen Bestimmungen des Vertrages bleiben ausdrücklich - wenn auch ohne nähere Ausführungen zur Begründung294 - unbeanstandet. Das gilt z.B. für den Übergang zur Mehrheitsentscheidung in anderen Bereichen295 , aber auch für den grundsätzlichen Ausschluß der Kündigung296 ; Anders als mit der Entscheidung zum 6. EMRK-Zusatzprotokoll möglicherweise angedeutet worden war, gehört die Kündbarkeit der Verpflichtungen also doch nicht zu den "conditions essentielles" der nationalen Souveränität. Die Entscheidung führt damit ansatzweise zur Definition eines "harten Kerns"297 der nationalen Souveränität, der freilich nicht mit den deutschen Vorstellungen eines verfassungsänderungs-festen Kerns verwechselt werden darf: Die gesamte Entscheidung vom 9.4.1992 steht in der von Art. 54 der Verfassung vorgegebenen Perspektive der Frage, welche Teile der Verfassung geändert werden müssen, um die Ratifikation zu ermöglichen 29K .
(4) In der Literatur wurde die mit der Entscheidung vom 9.4.1992 erfolgte Klärung der Maßstäbe unter jedenfalls faktischer Aufgabe der Gegenüberstellung von limitation und transfert de souverainete ganz überwiegend begrüßt; daß eine Verfassungsänderung zur Ratifikation des Unionsvertrages erforderlich werden würde, war allgemein erwartet worden. Bemängelt wurde allein, daß auch die Anwendung der neuen Maßstabsformel in künftigen Fällen mit Unsicherheiten behaftet bleiben mußte 299 . 2. Beeinträchtigung innerstaatlicher Strukturen durch die europäische Integration
Die Analyse der Integrationsmechanismen allein unter dem Aspekt der nationalen Souveränität hat über längere Zeit den Blick dafür verstellt, daß auch die
294 Kritisch dazu Jacque RTDE 1992, 25 I (253). 295 s. Rideau in: Masc\et / Maus (1993), 67 (105); Luchaire RDP 1992, 589 (606). 296 Rideau RAE 3 / 1992, 7 (29 i); ders. in: Masclet / Maus (1993), 67 (103 i); Rousseau RDP 1993, 5 (45); Luchaire RDP 1992,589 (607). 297 So etwa Gai'a Anm. RFDC 1991, 703 (707); ders. in: Droit constitutionnel national (1996),231 (233); Simon Europe 5 /1992, I (3). 298 So bereits der 14. Erwägungsgrund (s.o. bei Fn. 282) sowie nochmals der die Entscheidungsgründe abschließende 52. Erwägungsgrund: "... pour les motifs ci-dessus enonces I'autorisation de ratifier en vertu d'une loi le traite sur l'Union europeenne exige une revision constitutionnelle"; s. auch Luchaire RDP 1992, 589 (605 fi). Zur Verfassungsänderung und ihren möglichen Grenzen s.u. 3. Kap. A. III. 299 So z.B. Rideau RAE 3 / 1992, 7 (17); Jacque RTDE 1992, 25 I (259, 264).
A. Materielle Rechtslage
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von der Verfassung vorgesehene innerstaatliche Funktionsverteilung durch die Kombination mit den Entscheidungsmechanismen der Gemeinschaft ins Wanken geraten kann. Erst in neuerer Zeit wird diese Entwicklung auch unter verfassungsrechtlichem bzw. -politischem Blickwinkel beobachtet.
a) Die verfassungsrechtliche Stellung des Parlaments
Zunehmende Aufmerksamkeit hat auch in der französischen Diskussion die aus der spezifischen Struktur der Integration folgende innerstaatliche Kompetenzverlagerung vom Gesetzgeber auf die Regierung gefunden, die in der deutschen Literatur vor allem unter föderalistischen Gesichtspunkten - hinsichtlich der Verlagerung von Gesetzgebungskompetenzen der Länder auf die Bundesregierung als deutsche Vertretung im Rat - diskutiert wird. Der enge Bereich, auf den Art. 34 der Verfassung von 1958 den parlamentarischen Gesetzgeber zugunsten der autonomen Regelungsgewalt der Regierung beschränkt hat, wird durch diese Verlagerung weiter reduziert3(1O, die in der Verfassung von 1958 angelegte Stärkung der Exekutive auf diese Weise potenziert30I • Der zusätzliche Kompetenzverlust des Parlaments durch die Integration wurde allerdings zunächst durch die Tatsache überdeckt, daß die meisten der anflinglich von der Rechtsetzung der Gemeinschaft erfaßten Bereiche unter der Kompetenzordnung der 5. Republik schon innerstaatlich nicht mehr zum Kompetenzbereich des Gesetzgebers gehörten, sondern der autonomen Verordnungsgewalt der Regierung unterfielen 302 • Zwischenzeitlich sind die Verluste insbesondere in dem durch Art. 34 der Verfassung dem Gesetzgeber vorbehaltenen wichtigen Kompetenztitel des Steuerrechts303 - jedoch schmerzhaft spürbar geworden.
300 Dazu bereits Teitgen in: La France et les CE (1975), 777 ff; Rainaud in: La France et les CE (1975), 837 (840 ft); Gautron Melanges Burdeau (1977), 421 (427 ft); in neuerer Zeit nochmals Guillaume RF AP 1992, 435 ff; OberdorffPouvoirs Nr. 69, 1994, 95 (100 ft); s. auch Gala Insertion S. 284 ff. 301
So u.a. OberdorffPouvoirs Nr. 69, 1994, 95 (100).
302
So das Ergebnis der detaillierten Studie von Burban CDE 1975,523 ff.
So die Feststellung von Meny in: Siedentopf I Ziller (Hrsg.), L'Europe des administrations Bd. 2 (1988), 277 (282); tatsächlich ist der CC mit den Problemen der Integration hauptsächlich aus Anlaß von steuer- und haushaltsrechtlichen Streitigkeiten befaßt worden, s. schon erstmals CC 19.6.1970 No 70-39 DC, Rec. S. 15 zur Ausstattung der Gemeinschaft mit eigenen Finanzressourcen; dazu m.w.N. bereits oben 3. Kap. A. 11. 1. a) aa); später CC 30.12.1977 No 77-89 DC - Cotisation a la production d'isoglucose, Rec. S. 44; CC 30.12.1977 No 77-90 DC - Prelevement de co-responsabilite sur le lait, 303
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
Sichtbar wird dieser Verlust auf zwei Ebenen 304 : Die Erarbeitung des Sekundärrechts auf EG-Ebene erfolgt unter Ausschluß des nationalen Parlaments, das zugleich die Gesetzesinitiative in den vom Sekundärrecht bereits erfaßten Bereichen verliertl° 5 • In der Phase der Umsetzung ist das Parlament ebenfalls beschränkt: Der Erlaß von etwa erforderlichen Duchfilhrungsregeln zu EGVerordnungen unterliegt regelmäßig der autonomen Verordnungsgewalt der Regierung 306 . Die Umsetzung von Richtlinien bleibt dagegen zwar Aufgabe des parlamentarischen Gesetzgebers, soweit inhaltlich der Kompetenzkatalog des Art. 34 der Verfassung betroffen ist (oder sich diese Kompetenz aus anderen Bestimmungen der Verfassung ergibt)307 - die bei dieser Umsetzung bestehende inhaltliche Bindung an die Vorgaben der Richtlinie wird jedoch häufig nur schwer ertragen 308 , schwerer vielleicht als eine vollständige Übertragung der betroffenen Materie auf die Exekutive, wie sie in den Anfangsjahren der Gemeinschaft tatsächlich vorgenommen worden wa~09. Rec. S. 46 (zu diesen bei den Entscheidungen m.w.N. unten 3. Kap. B. I. 2. b) aal a); CC 29.12.1978 No 78-100 DC, Rec. S. 38 zur Umsetzung der 6. Mehrwertsteuer-Richtlinie (zu dieser Entscheidung s. sogleich sowie u. 3. Kap. B. I. 2. b) aal ß); schließlich CC 30.12.1980 No 80-126 DC - Loi de finances pour 1981, Rec. S. 53 zur Anpassung der Alkohol-Besteuerung an die Anforderungen von Art. 95 EWGV (zu dieser Entscheidung unten 4. Kap. A. III.). 304 Vgl. nur Quinty / Joly RDP 1991, 393 (413 ff). 305 Diesen Aspekt betonen Quinty / Joly RDP 1991, 393 (418 f).
306 So die gutachtliche Stellungnahme des CE vom 20.5.1964, berichtet bei Prats RTDE 1968, 19 (35); s. weiter Teitgen in: La France et les CE (1975), 777 (787 ff); Gautron Melanges Burdeau (1977), 421 (430); Dubouis in: Administrations nationales (1987), 85 (95 f); zuletzt MiJtraux in: Consequences institutionnelles (1991), 223 (236 ff); Kovar Melanges Boulouis (1991),341 ff; mit dem Ausführungsgesetz zur EWG-VO über die europäische wirtschaftliche Interessengemeinschaft (Ioi No 89-377 du 13.6.1989 relative aux groupements d'interet economique et modifiant I'ordonnance No 67-821 sur les groupements d'interet economique, JORF 15.6.1989, S. 7440) ist erstmals der französische Gesetzgeber zur Durchführung einer EG-Verordnung tätig geworden, s. dazu Quinty / Joly RDP 1991,393 (423 m.Fn 106). 307 s. Teitgen in: La France et les CE (1975), 777 (80 I f). 308 Exemplarisch dafür stehen die Kontroversen um die Umsetzung der 6. Mehrwertsteuer-Richtlinie, die zu der Entscheidung CC 29.12.1978 No 78-100 DC, Rec. S. 38 geführt haben; dazu m.w.N unten 3. Kap. B. I. 2. b) aa) ß). 309 Von 1966 bis 1972 hatte das Parlament tatsächlich auf eine Beteiligung an der Richtlinienumsetzung in seinem Zuständigkeitsbereich verzichtet und stattdessen die Regierung zur Umsetzung durch Ordonnances gern. Art. 38 der Verfassung ermächtigt, s. nur Kovar / Lagarde / Talion CDE 1970, 274 (289 ff); Rideau AFDI 1972, 864 (895 ff); MiJtraux in: Consequences institutionnelles (1991), 223 (239 ff); diese verfassungsrechtlich zweifelhafte Praxis - die Ordonnances dienen der Durchführung befristeter und
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aa) Integrationsfestigkeit der Parlamentskompetenzen? Es erscheint nachvollziehbar, daß das Parlament als der "Verlierer" der Neuordnung der Rechtsetzungskompetenzen durch die Verfassung von 1958 sich gegen eine weitere Beschneidung der danach noch verbliebenen Zuständigkeiten zur Wehr setzt; in der Argumentation vermengen sich dabei allerdings häufig Bezüge auf die nationale Souveränität Frankreichs und auf die aus den Zeiten der 3. Republik überkommene Vorstellung der parlamentarischen Souveränität, also eines innerstaatlichen Allmachtanspruchs des parlamentarischen Gesetzgebers (souverainete parlementaire / souverainete de la 10i)31O, der so aber den Realitäten der 5. Republik nicht entspricht3IJ • So ist denn auch immer wieder behauptet oder zumindest als Idee in den Raum gestellt worden, daß die in Art. 34 der Verfassung genannten Kompetenzfelder entweder völlig vertragsfest oder zumindest in dem Sinne integrationsfest seien, daß Sekundärrecht in diesen Bereichen entweder ausgeschlossen bleiben müsse 312 oder aber zumindest Mehrheitsentscheidungen auf europäischer Ebene unterbleiben müßten; als weitere Variante wird vertreten, daß in diesem Bereich allein der Einsatz des Mittels der Richtlinie erlaubt sei Jl3 , das ja zumindest formal die Kompetenzen des Parlaments wahrt. - Die erste Vorstellung ist nicht ernsthaft diskutabel, da Frankreich in diesem Fall auf wesentlichen Feldern nicht nur nicht mehr integrationsfahig, sondern auch zum Abschluß ganz "traditioneller" völkerrechtlicher Verträge nicht mehr in der Lage wäre; außerdem zeigt Art. 53 der Verfassung, daß auch in innerstaatlich dem Gesetzgeber zugeordneten Bereichen Abkommen möglich sind, zuvor bestimmter Aktionsprogramme der Regierung und sollen nicht dauerhafte Grundlage einer Delegation sein - wurde in der Folge jedoch aufgegeben. 310 Deutlich etwa die Schlußanträge von Regierungskommissar Morisot zu CE Ass. 22.10.1979 - Maulaud et autres, RDP 1980,541 (547).
311 s. dazu bereits die Ansprache von Michel Debn: vor der Assemblee generale des Conseil d'Etat zur Vorstellung der Verfassung der 5. Republik am 27.8.1958, wiedergegeben in DPS III, S. 255 ff(260) = RFSP 1959,1 ff(16): "11 fallait enfin supprimer cet arbitraire parlementaire qui, sous pretexte de souverainete, non de la Nation (qui est juste), mais des Assemblees (qui est fallacieux), mettait en cause, sans limites, la valeur de la Constitution, celle de la loi, et l'autorite des gouvernements." 312
So wohl Abraham Droit international S. 53 f, 158; Petot RDP 1993,325 (375).
So insbes. Gogue/ Droit communautaire et droit fran~ais. Primaute absolue de la Constitution, Le Figaro 9.4.1990, S. 2 f; damit verbunden ist die "souveränitätswahrende" Definition der Richtlinie, die präzise Vorgaben an das nationale Parlament ausschließt. Jl3
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denn in der Zugehörigkeit zu den Materien des Art. 34 der Verfassung liegt ja der innere Grund fllr das in Art. 53 geregelte Erfordernis der gesetzlichen Zustimmung zur Ratifikation von Abkommen in diesen Bereichen. - Ernsthafter diskutiert worden ist die Frage, ob Frankreich sich in den von Art. 34 der Verfassung erfaßten Bereichen bindenden Mehrheitsentscheidungen auf Gemeinschaftsebene ausliefern dürfe 314 • Die Vorstellung, daß bestehende Gesetze als Ausdruck des Volkssouveräns ohne französische Zustimmung hinfällig - so im Fall von EG-Verordnungen - oder im Fall von Richtlinien zumindest anpassungs bedürftig werden könnten, trat hier in offenen Widerspruch zum traditionellen, aus den Zeiten der 3. Republik überkommenen französischen Souveränitätsverständnis, das nationale Souveränität und Parlaments souveränität gleichsetzt. Tatsächlich ist aber gerade hier ein Zusammenhang zwischen der parlamentarischen Zuständigkeit nach Art. 34 der Verfassung und der Wahrung der nationalen Souveränität nicht zu erkennen: Auch wenn auf europäischer Ebene weiter Einstimmigkeit erforderlich wäre, so würde über die französische Zustimmung doch nicht mehr vom Parlament, sondern von der Regierung entschieden werden 3l5 • Es ist also nicht ersichtlich, wieso Mehrheitsentscheidungen nur, aber gerade auf dem Feld des Art. 34 der Verfassung, also im Zuständigkeitsbereich des Parlaments, die nationale Souveränität verletzen sollten, obwohl das Parlament selbst unabhängig von den Mehrheitserfordernissen auf keinen Fall mehr unmittelbar an der Entscheidungsfindung beteiligt wird. Der Conseil constitutionnel wurde bereits in seiner ersten Entscheidung zum Gemeinschaftsrecht - der Eigenmittel-Entscheidung von 1970 - mit der Frage des Verhältnisses der Integration zu den innerstaatlichen Kompetenzen des Parlaments befaßt: Gemäß dem ersten Spiegelstrich von Art. 34 der Verfassung gehört die Festsetzung der Steuern und Abgaben zu den Kompetenzen des na-
314 So zur EEA Goguel Projet 1987, 97 ff; ebenso später zum Unionsvertrag Mathieul Verpeaux LPA 1992 Nr. 77, 26.6.1992, 6 (7): "11 nous semble, pour resumer, que le Conseil constitutionnel aurait pu decIarer contraire a la Constitution toute disposition transferant a un organe communautaire, statuant a la majorite, ou a un organe independant des Etats, la competence relative a une matiere enumeree a l'articIe 34 de la Constitution." 315 So zu Recht Abraham Droit international S. 158: "11 en resulte en particulier qu'un reglement communautaire peut modifier des dispositions legislatives en vigueur sans l'accord du legislateur national. Cela pose un probleme serieux, moins pour la souverainete nationale, puisque, en pratique, les reglements les plus importants sont adoptes a l'unanimite et donc avec l'accord du gouvernementfranr;ais, que parce qu'il en resulte un transfert important de la competence normative au detriment du Parlement et au profit de l'executif. " (Hervorhebung vom Verf.).
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tionalen Gesetzgebers; mit der Eröffnung des Zugangs zu eigenen Ressourcen erhielt nun auch die Gemeinschaft in diesem Bereich Befugnisse und trat so neben den nationalen Gesetzgeber. Der Conseil constitutionnel hat diese in der parlamentarischen Diskussion erhobene Rüge implizit aufgenommen und mit dem Hinweis beantwortet, daß eben wegen des Übergriffs in den Anwendungsbereich von Art. 34 der Verfassung die gesetzliche Billigung des Abkommens gemäß Art. 53 der Verfassung erforderlich sejll6. Im Umkehrschluß ist daraus zu folgern, daß mit dieser einmaligen Zustimmung die Rechte des Parlaments gewahrt sind; es ist also unter dem Gesichtspunkt von Art. 34 der Verfassung nicht zu beanstanden, daß als Folge dieses Abkommens die Gemeinschaftsorgane auf Dauer Rechte wahrnehmen, die zuvor allein dem nationalen Parlament zustanden 3l7 • Auch in der Entscheidung vom 30.12.1977 zur Abgabe flir die IsoglucoseProduktion ll8 wurde eine Verletzung des Art. 34 der Verfassung geltendgemacht: Hier beanstandeten die Parlamentarier, daß diese Abgabe im wesentlichen durch EG-Verordnung präjudiziert und dem nationalen Gesetzgeber nur noch die Modalitäten der Erhebung überlassen worden waren. Der Conseil constitutionnel konnte hier antworten, daß Art. 34 schon der Sache nach nicht (mehr) betroffen war, weil es sich bei diesen Abgaben um die (bereits gebilligte) Erhebung eigener Mittel der Gemeinschaft handelte 3l9 • Im nächsten Sachverhalt, der die Umsetzung der 6. Mehrwertsteuer-Richtlinie betraf, traf dieses Argument freilich nicht mehr zu: Hier waren auch die Grundlagen der nationalen Steuererhebung betroffen. Die von der Regierung eingebrachte Vorlage eines Umsetzungsgesetzes war denn auch in der National316 s. den 6. Erwägungsgrund von CC 19.6.1970 No 70-39 OC, Rec. S. 15: " ... l'application de ces regles exige que l'adoption des dispositions prevues par ladite decision qui, sur certains points, porte sur des matieres de nature legislative teiles qu'elles sont definies a l'article 34 de la Constitution, soit subordonnee, conformement a l'article 53, a l'intervention d'une loi; ... " 317 Gautron Melanges Burdeau (1977), 421 (429); Gai"a Insertion S. 285: "une veritable neutralisation de l'article 34 ... " 318 CC 30.12.1977 No 77-89 OC - Cotisation a 1a production d'isoglucose, Rec. S. 44; paraBel dazu, aber in dieser Hinsicht weniger deutlich CC 30.12.1977 No 77-90 OC Prelevement de co-responsabilite sur le 1ait, Rec. S. 46; zum Hauptargument bei der Entscheidungen - die Abgaben sind durch Sekundärrecht vorgesehen, das wie der Vertrag selbst einer nachträglichen Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit nicht unterliegt s. auch noch m.w.N. unten 3. Kap. B. I. 2. b) aa) a). 319 " ... la cotisation a la production d'isoglucose ... ale caractere d'une ressource propre communautaire et echappe aux regles applicables en matiere d'impositions nationales;" (2. Erwägungsgrund).
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
versammlung an dem Argument gescheitert, daß die Richtlinie zu intensive Vorgaben an das nationale Parlament enthalte und deshalb verfassungswidrig sei 320 • Nachdem der Regierung die gesetzliche Umsetzung auf einem Umweg dennoch gelungen war, wurde dagegen zwar wiederum der Conseil constitutionnel angerufen; eine Argumentation mit Art. 34 der Verfassung unterblieb aber wohl in der Erkenntnis, daß der Conseil constitutionnel einen derartigen Angriff auf die als Teil des bereits geltenden Vertrages betrachtete Richtlinie nicht akzeptieren würde 321 • Die Extremauffassung einer Vertrags festigkeit der in Art. 34 der Verfassung aufgeführten Materien hat der Conseil constitutionnel schließlich in seiner Entscheidung vom 22.5.1985 322 zum 6. EMRK-Zusatzprotokoll implizit zurückgewiesen. Auch hier hatten die Gegner einer Ratifikation geltendgemacht, daß die Festlegung der Straftatbestände und Strafen gemäß Art. 34 der Verfassung 323 dem Parlament zustehe, das durch den vertraglichen Ausschluß der Todesstrafe als möglicher Sanktion seiner Handlungsmöglichkeiten beraubt werde. Für in den Verträgen selbst enthaltene Regelungen im Anwendungsbereich des Art. 34 der Verfassung ist diese Auffassung schon wegen Art. 53 der Verfassung 324 nicht schlüssig. Diese Bestimmung setzt voraus, daß auch im Anwendungsbereich der Gesetze völkerrechtliche Verträge abgeschlossen werden können: Gerade wegen dieses Übergriffs auf die Befugnisse des Parlaments sieht Art. 53 hier das Erfordernis der gesetzlichen Zustimmung zur Ratifikation des Vertrages vor325 •
320 Dazu unten 3. Kap. B. I. 2. b) aa) ß); zur Argumentation s. bereits im unmittelbaren Vorfeld der parlamentarischen Auseinandersetzung Lalurniere L'harmonisation de la T.V.A. dans la C.E.E. et les pouvoirs du Parlement fran.;ais, Le Monde 28.11.1978, S. 23 u. 26. 321 So z.B. Lebreton RDP 1983,419 (469); zur Entscheidung CC 29.12.1978 No 78100 DC - Loi de finances rectificative pour 1978, Rec. S. 38 s. m.w.N. noch im Einzelnen unten 3. Kap. B. I. 2. b) aa) ß). 322 Zu dieser Entscheidung s. bereits oben 3. Kap. A. II. 1. a) cc) m.w.N.; speziell zum hier angesprochenen Aspekt Vedel luridictions fran.;aises (1987), 15. 323 Art. 34, 3. Spiegelstrich: (La loi fixe les regles concernant:) - la determination des crimes et delits ainsi que les peines qui leur sont applicables. 324 Zum Text der Bestimmung s.o. 2. Kap. A. II. 2. mit Fn 54. 325 s. auch - allerdings mit der Betonung auf Art. 55 der Verfassung - Abraham Droit international S. 62: "11 faut donc admettre que la competence legislative est limitee par I'existence de ces conventions internationales et qu'un tel resultat est conforme ci la Constitution: c'est en quelque sorte l'article 55 qui limite la portee de l'article 34." (Hervorhebung im Original).
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Ausdrücklich hat der Conseil constitutionnel sich zur Zulässigkeit von Rahmenverträgen mit der Möglichkeit von Sekundärrecht unter dem Gesichtspunkt von Art. 34 der Verfassung über lange Zeit nicht äußern müssen; entsprechende Angriffe gegen nationale Umsetzungsgesetze wurden mit der Begründung sachlich nicht beschieden, daß dieses System auf bereits ratifizierten Verträgen beruhe und damit einer Kontrolle entzogen sei. Auch die Befllrworter einer Begrenzung der Integration durch Art. 34 der Verfassung haben aber schließlich feststellen müssen, daß der Conseil constitutionnel in der ersten MaastrichtEntscheidung gegen den Übergang zur qualifizierten Mehrheit auch in innerstaatlich dem 34 der Verfassung unterfallenden Bereichen nichts einzuwenden hattem. Schon die älteren Entscheidungen erlaubten freilich die - im Rückblick bestätigte - Interpretation, daß Art. 34 der Verfassung allein die innerstaatliche Kompetenzverteilung zwischen Gesetzgeber und Regierung, nicht aber das Verhältnis zu internationalen Normgebern regelt 327 • Heute dürfte durch Art. 88-4 der Verfassung 32R endgültig klargestellt sein, daß die Normsetzungsmechanismen des Gemeinschaftsrechts in vollem Umfang auch im innerstaatlichen Kompetenzbereich des Parlaments anwendbar sind: Wenn die Regierung zu Sekundärrechtsvorhaben im Bereich des Art. 34 der Verfassung die Stellungnahme des Parlaments einholen muß, dann wird damit vorausgesetzt, daß derartige Vorhaben im Grundsatz verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sind.
bb) Eine pragmatische Alternative zur Integrationssperre: Die innerstaatliche Kontrolle der nationalen Position im Rechtsetzungsprozeß der Gemeinschaft Auch wenn danach der Verlagerung von innerstaatlich dem Gesetzgeber vorbehaltenen Materien auf die Gemeinschaft nach der französischen Verfassungsordnung keine spezifischen Hindernisse entgegenstehen, die europäische Integration vielmehr die die Verfassung der 5. Republik prägende Zurückdrängung des Parlaments aufnimmt und verstärkt, ist es doch nicht verwunderlich, daß das Parlament eine weitere Reduzierung seines schon schmalen Kompetenzbereichs nicht hinzunehmen bereit ist. Auch die französische Rechtsordnung hat hier schließlich das aus anderen Mitgliedstaaten bekannte Kompensationsmodell 326 Mathieu / Verpeaux LPA 1992 Nr. 77, 26.6.1992, 6 (7): "Or, dans la presente decision, le Conseil constitutionnel ne trouve rien a redire a certaines dispositions du traite qui pennettent au conseil des ministres de la Communaute de prendre des decisions a la majorite sur des questions relevant par exemple du droit du travail (donc de l'art. 34)." 327 Buffet-TchakaloffCour de Justice S. 324; Rideau RFDC 1990,259 (282). 328 s. ausflihrlieh unten 3. Kap. A. 11. 2. a) bb) y).
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
übernommen, um das durch die besonderen Bedingungen des Gemeinschaftsrechts gestörte Gleichgewicht zwischen Regierung und Parlament129 wiederherzustellen. Den Wunsch nach Institutionalisierung des Informationsflusses über Vorhaben auf EG-Ebene und auch der Einflußnahme auf die Position der eigenen Regierung auf diesem Niveau hat das französische Parlament allerdings erst sehr spät Ende der 70er Jahre unter dem Eindruck weiterer institutioneller Veränderungen, aber auch der Tagesereignisse artikuliert: Zu diesem Zeitpunkt entfiel durch die Einfllhrung der Direktwahlen zum europäischen Parlament die "natürliche" Brücke zwischen nationalen Parlamenten und - damals noch - Europäischer Versammlung, die zuvor durch die beiden Versammlungen angehörenden nationalen Parlamentarier hergestellt worden warl3O ; gleichzeitig war durch die parlamentarischen Auseinandersetzungen um die Umsetzung der 6. Mehrwertsteuer-Richtlinie das Ausmaß der gemeinschaftsrechtlichen Determinierung nationaler Umsetzungs-Gesetzgebung und gleichzeitig die damit einhergehende innerstaatliche Kompetenzverschiebung vom Parlament zur Regierung deutlich geworden 331 •
a) Verfassungsrechtliche Hürden der parlamentarischen Kontrolle
Anders als in der deutschen Rechtsordnung stieß die verfassungspolitische Forderung nach einer Kompensation des Verlusts an unmittelbarer Regelungskompetenz durch Verstärkung des Einflusses auf die Entscheidungen der nunmehr unmittelbar zuständigen Exekutive auf solide verfassungsrechtliche Hindernisse l3Z :
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So u.a. Avril / Gicquel RFDC 1992,439 (454). s. Laporte RFSP 1981, 121 (131 ff); Guena Melanges Plantey (1995), 17 (21 f).
331 Deutlich dazu wohl zuerst Foyer RMC 1979, 161 (164): "Les directives de la Communaute en matiere fiscale montrent I'influence, generalement decisive qu'a prise l'administration fran"aise des finances. Les fonctionnaires de cette administration ... ont parfaitement compris qu'il etait commode de passer par Bruxelles pour briser les volontes contraires de l'Assemblee Nationale et du Senat. Nombre de dispositions repoussees par le h~gislateur fran"ais se retrouvent, comme par miracle, dans les directives de la Communaute." 332 Dazu zusammenfassend de Berranger Constitutions nationales S. 400 ff unter dem Zwischentitel "Le specificite fran"aise ou les contraintes du parlamentarisme rationalise"; Rambaud RGDIP 1977,617 (insbes. 635 f).
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Die Schöpfer der Verfassung hatten sorgfältig darauf geachtet, daß das Parlament die durch die Verfassung von 1958 beseitigte Vormachtstellung gegenüber der Regierung nicht durch gesetzliche Regelungen oder auf dem Weg über die Geschäftsordnungen seiner Kammern würde wiederherstellen können. So ist die Zahl der ständigen Ausschüsse (commissions permanentes) der gesetzgebenden Versammlungen durch Art. 43 der Verfassung ausdrücklich auf je 6 beschränkt; die Einrichtung zusätzlicher Gremien zur Kontrolle der Regierung ist damit in bewußter Abkehr von der früheren Praxis grundsätzlich ausgeschlossen333 • Aber auch soweit keine ausdrücklichen Schranken vorgesehen sind, wird dieser "Geist der Verfassung" insoweit vom Conseil constitutionnel durch eine systematisch-teleologische Auslegung strikt verteidigt: Bereits in seinen ersten, aufsehenerregenden Entscheidungen 334 hatte er festgestellt, daß es dem Parlament wie auch seinen Ausschüssen versagt ist, der Regierung in deren eigenem Zuständigkeitsbereich Anweisungen zu erteilen; dies ergibt sich aus einem Umkehrschluß aus Art. 49 und 50 der Verfassung, die als Mittel der "Kommunikation" zwischen Regierung und Parlament die Vertrauensfrage einerseits und Mißtrauensvotum andererseits vorsehen 335 • Nach dieser - systematisch keineswegs zwingenden, aber durch die generelle Orientierung der Verfassung gestützten - Auslegung sind damit die in der 3. und 4. Republik üblichen 336 formal unverbindlichen, aber mit der unausgesprochenen Drohung des Vertrauensentzuges verbundenen Entschließungen des Parla333 Dazu allgemein Conae / Luehaire (-Hamon), Art. 43, S. 843 (846 ff); LavroffRDP 1971, 1429 (1433 ff); speziell im gemeinschaftsrechtlichen Zusammenhang Paillet RTDE 1981, 30 I (308 f); de Berranger Constitutions nationales S. 402 ff. 334 CC 17., 18. u. 24.6.1959 No 59-2 DC - Reglement de Assemblee nationale, Rec. S. 58 = GDCC Nr. 3, S. 34 = D. 1959 jp 50 I m.Anm. Hamon; CC 24.-25.6.1959 No 59-3 DC - Reglement du Senat, Rec. S. 61; s. auch Hamon D. 1959 chr. 253 ff; Ruzie RDP 1959,863 (900 ff); aus der deutschsprachigen Literatur Buerstedde JöR n.F. 12 (1963), 145 (158 ff); zusammenfassend zur damaligen Diskussion und den historischen Hintergründen Bau/ume RDP 1994, 1399 (1401 ff). 335 CC 17., 18. u. 24.6.1959 No 59-2 DC (vorige Fn): " ... dans la mesure OU de teiles propositions [sc: de resolution] tendraient a orienter ou a contröler I'action gouvernementale, leur pratique serait contraire aux dispositions de la Constitution qui, dans son article 20, en confiant au gouvernement la determination et la conduite de la politique de la Nation, ne prevoit la mise en cause de la responsabilite gouvernementale que dans les conditions et suivant les procedures fixees par ses articles 49 et 50; ... " Wörtlich ebenso CC 24.-25.6.1959 No 59-3 DC (ebenfalls vorige Fn); später bestätigt u.a. durch CC 2.6.1976 No 76-64 DC - Reglement du Senat, Rec. S. 31 = RDP 1977,487 m.Anm. Favoreu / Philip S. 447 (466 ff). 336
s. Boudet RDP 1958,271 ff; Gaillard RFDC 1993, 707 (714).
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
ments ("resolutions parlementaires") an die Adresse der Regierung 337 unter der 5. Republik nicht mehr zulässig 338 • Die Beachtung dieser Beschränkungen wird durch die obligatorische Überprüfung der Geschäftsordnungen beider Kammern durch den Conseil constitutionnel im Verfahren nach Art. 61 Abs. 1 der Verfassung339 zusätzlich prozessual abgesichert; die Geschäftsordnungen unterliegen damit derselben systematischen Verfassungskontrolle wie die Lois organiques, ohne aber deshalb denselben hervorgehobenen Status in der Normenhierarchie zu genießen: Die ständige Rechtsprechung des Conseil constitutionnel siedelt sie im Rang unter den Gesetzen an und stellt im Rahmen der ÜberprUfung auch die Beachtung des Gesetzes durch die Geschäftsordnungen siche~40. Die Folgen dieser Rechtsprechung flir den Handlungsspielraum des Parlaments sind allerdings nicht so einschneidend, wie manche frUhe Äußerungen vermuten lassen 341 : Stellungnahmen aus dem Parlament zur Politik der Regie-
337 So die Definition bei Genevois Jurisprudence Rn 217, S. 127: "La resolution est un acte unilateral d'une assemblee par laquelle celle-ci exprime son sentiment sans cependant, en droit strict, imposer sa volonte au Gouvernement." 338 Die "resolutions parlementaires" sind danach nur noch in "inneren Angelegenheiten" des Parlaments (z.B. Änderungsvorschläge zur Geschäftsordnung) sowie in den von der Verfassung ausdrücklich vorgesehenen Fällen möglich, s. die Auflistung bei Gaillard RFDC 1993, 707 (715 mit Fn. 15).
339 Die Entscheidungen 59-2 und 59-3 DC (s.o. Fn 334) sind in diesem Verfahren ergangen und haben u.a. zur Beanstandung der durch die neuen Geschäftsordnungen von Nationalversammlung und Senat wie selbstverständlich in die 5. Republik übernommenen Regelungen über die resolutions parlementaires geflihrt. 340 So erstmals der 3. Erwägungsgrund von CC 8.7.1966 No 66-28 DC - Reglement du Senat, Rec. S. 15; bestätigt u.a. durch CC No 92-314 DC, 92-315 DC (zu diesen Entscheidungen m.w.N. noch unten bei Fn 362) sowie CC 8.11.1995 No 95-366 DC Reglement de l'Assemblee nationale, Rec. S. 226 = JORF 1995, 16658 = RFDC 1996, 142 m.Anm. Oliva. Diese Einordnung in die Normenhierarchie läßt sich mit der Erwägung rechtfertigen, daß zum Erlaß eines Gesetzes immerhin regelmäßig das Zusammenwirken bei der Kammern nötig ist, während die Geschäftsordnungen von jeder Kammer in eigener Verantwortung beschlossen werden, s. Favoreu / Philip GDCC S. 38 (44 f); Vier RDP 1972, 165 (194); einschränkend Avril RDP 1984, 573 (576 f), der diese Unterordnung nur auf die Ordonnance No 58-1100 du 17.10.1958 relative au fonctionnement des assemblees parlementaires beziehen will, zu der die Entscheidungen des CC ergangen sind (diese auf der Grundlage von Art. 92 der Verfassung erlassene Ordonnance steht im Rang eines einfachen Gesetzes, nicht eines Loi organique; s. dazu noch unten Fn 343). 341 So etwa Vedel Revue de I'action populaire fran~aise, sept-oct. 1959,907:
A. Materielle Rechtslage
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rung bleiben möglich 342 ; untersagt ist nur die Abstimmung über das Verhalten der Regierung, mit der dieser demonstriert wird, daß sie flir ihre Politik möglicherweise keine Mehrheit hätte. Die aus diesem Rahmen folgenden Beschränkungen fllr eine innerstaatliche Kompensation des Kompetenzverlusts des Parlaments sind in zwei Schritten zumindest zum Teil überwunden worden: Nachdem auf einfachgesetzlicher Ebene die Infrastruktur zur Sicherung des Informationsflusses über die Normsetzung auf Gemeinschaftsebene geschaffen werden konnte, war eine - im Rahmen der Ratifikation des Unionsvertrags erfolgte - Änderung der Verfassung erforderlich, um auch eine angemessene Reaktion auf die jeweiligen Vorhaben gegenüber der Regierung zu ermöglichen.
ß) Die 1. Phase des Ausgleichs: Die Einrichtung der Informationsausschüsse (delegations pour les communautes europeennes) Die Endfassung des in unmittelbarem Anschluß an die Auseinandersetzungen um die Umsetzung der 6. Mehrwertsteuerrichtlinie ergangenen, auf eine weitergehende Initiative von Jacques Foyer zurückgehenden Gesetzes 343 vom "Pratiquement, le dialogue pacifique entre le Gouvernement et les chambres est reduit aux 'questions' que les parlementaires peuvent poser au Gouvernement. Aucune manifestation spontanee d'opinion touchant la politique gouvernementale n'est permise hormis la motion de censure. C'est un peu comme si, dans un menage, I'un des epoux, apres que son conjoint lui ait signifie sa decision, n'avait plus le choix qu'entre le silence et le divorce. A vrai dire, la Constitution n'imposait pas cette rigueur." Ähnlich auch Ruzili RDP 1959, 863 (902). 342 So die prägnante Formulierung von Jeanneau Droit constitutionnel et institutions politiques S. 262: "L'assemblee peut s'informer, elle peut aussi pari er, mais on lui interdit de voter." 343 Auch die Kompetenzgrundlage fllr eine Regelung durch Gesetz ist schwankend: nach dem Regelungsgegenstand wäre eine Regelung durch Loi organique angemessen, aber Art. 25 der Verfassung weist nur bestimmte Fragen des Parlamentsrechts dem Loi organique zu; da auch Art. 34 keine Gesetzgebungskompetenz in diesem Bereich begründet, würde die nähere Regelung des Funktionierens des Parlaments gern. Art. 37 der Verordnungsgewalt der Regierung zufallen, so tatsächlich Emeri I Seurin RDP 1970, 637 (678); da diese systematisch naheliegende Konsequenz kaum akzeptabel scheint, wird eine Regelung durch einfaches Gesetz auch ohne ausdrückliche Grundlage hingenommen, s. Desandre RDP 1984, 77 (97); Vier RDP 1972, 165 (199) rechtfertigt dies mit der Erwägung, daß das Recht der Kammern zur Regelung ihrer Binnenorganisation durch Geschäftsordnung in Art. 61 Abs. I der Verfassung anerkannt werde; dann könne es den Kammern aber nicht verwehrt werden, gemeinsam durch Gesetz zu regeln, was jede Kammer für sich durch Geschäftsordnung bestimmen könne (auch diese Konstruk10 GundeI
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
6.7.1979 344 bemühte sich, auf die verfassungsrechtlichen Hindernisse Rücksicht zu nehmen 345 • Die durch dieses Gesetz bei beiden Kammern des Parlaments eingerichteten "Delegationen fur die Europäischen Gemeinschaften" stellten zwar eine dauerhafte zusätzliche Einrichtung dar, der Begriff der "Commission" war aber vermieden worden. Nach der gesetzlichen Regelung waren sie über alle Geschehnisse auf Gemeinschaftsebene zu informieren, die der Regierung von Bedeutung erscheinen. Unabhängig von einer solchen Einschätzung waren nur solche Sekundärrechts-Vorhaben zu übermitteln, deren innerstaatliche Umsetzung ein Eingreifen des Gesetzgebers erforderlich machen würde. Auch im übrigen blieben die Delegationen für die Europäischen Gemeinschaften an die strikten Schranken gebunden, in die die Verfassung von 1958 das Parlament gewiesen hatte: Insbesondere konnten sie - abweichend vom ursprünglichen Gesetzesentwurf - auch in den Bereichen, in denen die Umsetzung dem Gesetzgeber obliegen würde, keine Anweisungen oder auch nur unverbindliche Aufforderungen an die Regierung zu deren Verhandlungsposition und Stimmverhalten im Rat formulieren 346 • Als einzige Konsequenz aus der Auswertung der zu Verfllgung gestellten Informationen waren - formal parlamentsintern bleibende und insbesondere nicht veröffentlichte 347 - Berichte an den sachlich zuständigen Ausschuß der jeweiligen Kammer, also in der Regel den Ausschuß fllr auswärtige Beziehungen, vorgesehen. Dennoch verbleibende Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Errichtung dieser dauerhaften Strukturen hat der Conseil constitutionnel - der mit dem Gesetz von 1979 nicht befaßt worden war 4H - später durch eine in anderem
tion kann nicht völlig überzeugen, denn auf diese Weise wird die obligatorische Kontrolle gern. Art. 61 Abs. I durch die fakultative Kontrolle gern. Art. 61 Abs. 2 ersetzt). 344 Loi No 79-564 modifiant l'ordonnance No 58-1100 du 17.11.1958 relative au fonctionnement des assemblees parlementaires en vue de la creation de delegations parlementaires pour les Communautes europeennes, JORF 6.7.1979, S. 1643. 345 So etwa Cottereau RDP 1982, 35 (39 ff); zur Abschwächung des ursprünglichen Gesetzesentwurfs - der z.B. ein Recht zur Stellungnahme ("avis") gegenüber der Regierung vorgesehen hatte - auch Paillet RTDE 1981, 30 I (314 ff); Bau/urne RDP 1994, 1399 (1417 ff); Guena Melanges Plantey (1995), 17 (22 f); de Berranger Constitutions nationales S. 404 ff. 346 Laporte RFSP 1981, 121 (132). 347
Darauf weist etwa de Berranger Constitutions nationales S. 408 hin.
Es handelt sich um kein Loi organique, bei dem die Überprüfung obligatorisch erfolgt wäre, sondern um ein einfaches Gesetz, s.o. Fn 343; falsch daher Drey/us-Schrnidt RFDC 1993,371 (373). 348
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Zusammenhang ergangene Entscheidung vom 27.7.1982 349 weitgehend ausgeräumt. Die Arbeitsmöglichkeiten der Delegationen wurden in der Folgezeit im Blick auf den durch die EEA ausgelösten Regelungsbedarf durch Gesetz vom 10.5.1990 350 verbessert; eine grundlegende Umgestaltung ihrer Kompetenzen war damit aber nicht verbunden 351 • Deren weiterer Ausbau scheiterte nicht nur an verfassungsrechtlichen Bedenken, sondern auch an der Befürchtung, daß die Bedeutung der bestehenden Ausschüsse, insbesondere des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten, beeinträchtigt werden könnte. Immerhin aber erhielten die Delegationen durch diese Änderung Befassungs- und Infonnationsrecht hinsichtlich aller Sekundärrechtsakte unabhängig davon, ob sie in den Bereich der Gesetzgebung fielen. Eine nochmalige Erweiterung erfolgte durch Gesetz vom 10.6.1994 352 , mit dem die Delegationen nicht nur in "Delegationen rur die Europäische Union" umbenannt wurden, sondern zugleich folgerichtig auch Infonnationsrecht und Befassungskompetenz hinsichtlich der Maßnahmen im Rahmen des 2. und 3. Pfeilers des Unionsvertrages erhielten3S3 • Die von den Delegationen ausgeübte Funktion der parlamentsinternen Aufbereitung und Verteilung von Infonnationen über Vorgänge auf Gemeinschaftsebene wurde zwar allgemein als unzureichende Reaktion auf den wachsenden Einfluß des Gemeinschaftsrechts empfunden - weitergehende Spielräume waren auf der Ebene des einfachen Gesetzes aber wohl auch nicht gegeben. 349 CC 27.7.1982 No 82-142 OC - Loi portant reforme de la planification, Rec. S. 52 = AJDA 1982, 652 zur Einrichtung der parlamentarischen "delt!gations a la planification": "... II n'est pas interdit au legislateur, dans le cadre de I'organisation du travail legislatif, de creer des organismes qui ... fourniront tant au gouvernement qu'au Parlement des informations et des suggestions, des lors qu'en aucun cas, leurs avis n'auront force obligatoire et que le gouvernement demeure libre de proceder a son gre a toutes autres consultations qu'i1 jugera utiles ... " (17. Erwägungsgrund). 350 Loi No 90-385 du \0.5.1990 modifiant I'article 6 bis de I'ordonnance No 58-1100 du 17.11.1958 relative au fonctionnement des assemblees parlementaires, JORF 11.5.1990, S. 5619. 351 Zu diesem Gesetz Groud RDP 1991, 1309 ff; Quinly! Joly RDP 1991,393 (427 ff); Roy RRJ 1991, 13 ff; später noch Bau/urne ROP 1994, 1399 (1419 ff); de Berranger Constitutions nationales S. 409 ff.
312 Loi No 94-476 du 10.6.1994 modifiant I'article 6 bis de I'ordonnance No 58-1 \00 du 17.11.1958 relative au fonctionnement des assemblees parlementaires, JORF 11.6.1994, S. 8449. 353 s. Verdier RDP 1994, 1137 (1152); RuWer RFOC 1994,553 (554); de Berranger Constitutions nationales S. 411.
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3. Kapitel: Verfassungsrechtl iche Grenzen der Integration
y) Die 2. Phase des Ausgleichs: Der neue Art. 88-4 der Verfassung und "die Rückkehr der Parlamentsresolutionen"354
Die auf der Ebene des einfachen Gesetzes unüberwindbare Beschränkung der Reaktionsmöglichkeiten des Parlaments gegenüber der Regierung in Fragen der Rechtsetzung auf Gemeinschaftsebene haben im Rahmen der Anpassung der Verfassung an die Gegebenheiten des Unionsvertrages 355 ihr Ende gefunden. Der neue, aus einem Änderungsantrag der Commission des Lois der Nationalversammlung hervorgegangene Art. 88-4 Absatz 1 der Verfassung 356 verankert nunmehr ausdrücklich die Pflicht der Regierung, Nationalversammlung und Senat über Sekundärrechtsvorhaben im Anwendungsbereich der Gesetze zu informieren. Bestehende Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit dieser bereits durch das Gesetz vom 6.7.1979 eingeführten Informationsptlicht sind damit ausgeräumt. Auch eine etwaige Reaktion der Kammern des Parlaments357 in Form von Empfehlungen oder Wünschen an die Regierung ist nunmehr durch Art. 88-4 Absatz 2 der Verfassung 358 verfassungsrechtlich abgesichert und damit von dem im übrigen fortbestehenden Verbot der "resolutions parlementaires" ausgenom-
354 So der Titel des Beitrags von Gaillard RFDC 1993, 707 ff; s. auch Bau/urne RDP 1994, 1399 (1400, 1415 ff). m Loi constitutionnelle No 92-554 du 25.6.1992 ajoutant a la Constitution un titre "Des Communautes europeennes et de l'Union europeenne", JORF 26.6.1992, S. 8406. Zum Verfahren der Verfassungsänderung s. noch ausftihrlich 3. Kap. A. 111. 356 Art. 88-4 Abs. I: "Le gouvernement soumet a I'Assemblee Nationale et au Senat, des leur transmission au Conseil des Communautes, les propositions d'actes communautaires comportant des dispositions de nature legislative." 357 Eine frühere Entwurfsfassung des späteren Art. 88-4 erwähnte ausdrücklich die Möglichkeit, das Recht zur Stellungnahme auf Delegationen zu übertragen, wodurch die damit angesprochenen Delegations pour les Communautes europeennes verfassungsrechtliche Anerkennung als faktischer 7. Ausschuß der jeweiligen Kammer erfahren hätten. Auch diese Aufwertung stieß auf den Widerstand der Parteigänger (und Mitglieder) der bestehenden Ausschüsse, s. Gaillard RFDC 1993, 707 (709 f); Guillaurne RF AP 1992,435 (439); de Berranger Constitutions nationales S. 417. 358 Art. 88-4 Abs. 2: "Pendant les sessions ou en dehors d'elles, des resolutions peuvent etre votees dans le cadre du present articIe, selon les modalites determinees par le reglement de chaque assemblee. "
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men 159 • Schon der Gebrauch dieses historisch belasteten Begriffs im Text des neuen Art. 88-4 der Verfassung hat dabei erhebliche Unruhe ausgelöse 60 • Das gegenständlich weitergehende, insbesondere auch Rechtsakte außerhalb der nationalen Kompetenz des Gesetzgebers erfassende gesetzliche Informationsrecht der Delegationen bleibt neben dieser Neuregelung auf Verfassungsebene bestehen; auf diese Weise ist gesichert, daß das Parlament auf dem Umweg über die Delegationen auch von Rechtsakten erfahrt, die die Regierung möglicherweise zu Unrecht nicht dem Bereich der Gesetzgebung zugeordnet und deshalb nicht im Verfahren nach Art. 88-4 der Verfassung unterbreitet hae 61 • Auch dieser erweiterte Rahmen parlamentarischer Beteiligung hat aber nach wie vor seine Grenzen; der Conseil constitutionnel hat die fortbestehenden verfassungsrechtlichen Schranken einer Einflußnahme des Parlaments auf die Haltung der Regierung im Rahmen der obligatorischen Überprüfung der zur Anpassung an den neuen Art. 88-4 der Verfassung erfolgten Änderungen der Geschäftsordnungen bei der Kammern deutlich herausgestelle 62 : - Ob ein geplanter Sekundärrechtsakt den Bereich der Gesetzgebung berührt und daher gemäß Art. 88-4 zur Stellungnahme mitzuteilen ist, bleibt der Beurteilung der Regierung überlassen 363 ; eine Möglichkeit gerichtlicher Klärung von Meinungsverschiedenheiten in diesem Bereich - etwa im Wege eines Organstreitverfahrens - besteht nach wie vor niche 64 •
359 Zu den technischen Details der Beschlußfassung s. Fromont in: Integration und Verfassungsrecht (1995),127 (138 ff). 360 s. nur Brehier Le Monde 9.5.1992; ders. Le Monde 18.6.1992. 361 Guillaume RF AP 1992, 435 (438). 362 CC 17.12.1992 No 92-314 DC - Reglement de l'Assemblt!e nationale, Rec. S. 126 = RDP 1993, 319; CC 12.1.1993 No 92-315 - Reglement du Senat, Rec. S. 9 = RDP 1993, 315; zu beiden Entscheidungen Luchaire RDP 1993, 301 ff; Gaillard RFDC 1993, 707 (717 ff), Rousseau RDP 1994, 103 (132 f); Turpin Contentieux constitutionnel Rn 103, S. 159 f; de Berranger Constitutions nationales S. 418 ff.
363 CC 12.l.l993 No 92-315 - Reglement du Senat, Rec. S. 9 = RDP 1993,315: " ... ces dispositions ne sauraient creer a I'egard du Gouvernement I'obligation de transmettre au Senat des propositions d'actes communautaires qu'il considererait ne pas comporter des dispositions de nature ilJgis/ative ... " (14. Erwägungsgrund). 364 s. auch Gaillard RFDC 1993, 707 (726 f); Ru/her LPA 1993 Nr. 122, 11.10.1993, 7 (8); die Regierung holt in diesem Fall die gutachterliche Stellungnahme des CE zu dieser Frage ein, der bei dieser Gelegenheit aber auch zu inhaltlichen Fragen Stellung nimmt, s. Stirn AJDA 1993,244 (245 f); ders. Rev. adm. 1994,93 ff; ders. Melanges Braibant (1996),653 (662 ff).
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
- Die nunmehr möglichen "resolutions" zu den tatsächlich vorgelegten Projekten haben rein empfehlenden Charakter; sie können die Regierung also nicht binden 365 • Der Conseil constitutionnel hat in diesem Zusammenhang klargestellt, daß die Verwendung des Begriffs der "resolution" statt des ursprünglich vorgesehenen neutralen "avis" der Stellungnahme des Parlaments keine erhöhte Verbindlichkeit verschafft: In den Augen des Conseil constitutionnel sind beide Begriffe gleichbedeutend 366 , obwohl der verfassungsändemde Gesetzgeber den Begriff der resolution bewußt gewählt hatte, um das besondere Gewicht von Stellungnahmen des gewählten Parlaments hervorzuheben 367 • - Auch darf die mit der Beteiligung des nationalen Parlaments verbundene Verzögerung nicht die Handlungsfähigkeit Frankreichs im Entscheidungsprozeß auf gemeinschaftlicher Ebene gefährden 36K • Der Conseil constitutionnel hat damit die durch den neuen Art. 88-4 der Verfassung erfolgten Veränderungen vor dem Hintergrund seiner zuvor ergangenen Rechtsprechung äußerst eng ausgelegtl69 •
36S CC 17.12.1992 No 92-314 DC - Reglement de l'Assembh!e nationale, Rec. S. 126 = RDP 1993, 319: "... le vote par chaque Assemblee d'une resolution concernant une proposition d'acte ne saurait ni porter atteinte aux prerogatives que le gouvernement tient de la Constitution ni conduire a la mise en cause de sa responsabilite, laquelle demeure regie exclusivement par les regles detinies aux articles 49 et 50 de la Constitution;" (7. Erwägungsgrund). 366 " ... dans les domaines vises par I'article 88-4, chaque Assemblee se voit conferer le droit d'etre informee du contenu des propositions d'actes communautaires et dispose de la faculte d'emettre a leur propos un avis par I'adoption d'une resolution ... ", so gleichlautend jeweils der 6. Erwägungsgrund von CC 17.12.1992 No 92-314 DC - Reglement de l'Assemblee nationale, Rec. S. 126 = RDP 1993,319 und CC 12.1.1993 No 92-315Reglement du Senat, Rec. S. 9 = RDP 1993, 315; s. dazu Luchaire RDP 1993, 30 I (304 f). 367 s. nur Avrill Gicquel RFDC 1992,439 (453); Alberton RDP 1995,921 (928); de Berranger Constitutions nationales S. 417 f. 368 Der CC hat daher eine Bestimmung in der Geschäftsordnung des Senats beanstandet, mit der dieser sich Mindestfrist von einem Monat zur Stellungnahme eingeräumt hatte: "... le Gouvernement, a qui il incombe de faire diligence, ale droit de demander qu'une Assemblee, ou un de ses organes habilites a cet effet, se prononce sur une proposition d'acte communautaire entrant dans le champ des previsions de l'article 88-4 de la Constitution, dans un delai qui, eu egard aux engagements internationaux de la France, peut etre, dans certains cas, d'une duree injlfrieure un mois; ... il suit de la que la troisieme phrase du premier alinea de I'article 73 bis, qui impose en toute hypothese et sans aucune restriction liee a I'urgence, le respect d'un delai minimum d'un mois est contraire a la Constitution" (12. Erwägungsgrund); s. auch Rullier LPA 1993 Nr. 122, 11.10.1993,7 (8 f); Luchaire RDP 1993,301 (311 f).
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Versuche, im Rahmen des Verfahrens zur Änderung von Art. 11 der Verfassung auch Art. 88-4 zu ergänzen und die vom Conseil constitutionnel aufrechterhaltenen Beschränkungen endgültig zu überwinden, hatten keinen Erfolg 370 • Insbesondere ist die Initiative gescheitert, entsprechend der Erweiterung der Informationsrechte der Delegationen auch die Möglichkeit von Stellungnahmen der Kammern auf Projekte im Rahmen des 2. und 3. Pfeilers der Union zu erstrecken. Allein auf Ebene der Geschäftsordnung der Nationalversammlung erfolgten noch einige Ergänzungen, wie etwa die Erwartung, daß die Regierung über die Berücksichtigung der im Rahmen von Art. 88-4 geäußerten Wünsche bei der Beschlußfassung auf Gemeinschaftsebene berichten werde 371 • Der Conseil constitutionnel hat diese Erweiterungen als verfassungskonform akzeptiert372 • Die Anwendung dieses neuen Mechanismus durch die Kammern des Parlaments ist bereits Gegenstand einer kaum noch übersehbaren Literatur373 • Ohne daß die Effektivität dieser neuen Kontrolle bereits abschließend beurteilt werden könnte, sind doch bereits bestimmte, von diesem Ziel abweichende Auswirkungen des neuen Systems registriert worden: Die Regierung fordert zwischenzeitlich im Rahmen der Konsultationen nach 88-4 die ausdrückliche Billigung und Unterstützung ihrer Position durch das Parlament mit dem Argument ein, daß diese "Rückendeckung" die Durchsetzung der "französischen" Position auf europäischer Ebene erleichtere 374 • Ein Verfahren, das eigentlich die parlamentarische Kontrolle der Regierung bei der Ermittlung und Formulierung dieser na-
369 So Z.B. die Wertung von Rousseau RDP 1994, 103 (132 f); heftige Kritik an dieser "verfassungskonformen Auslegung einer Verfassungsänderung" findet sich bei DreyfusSchmidt RFDC 1993,371 ff (zu diesem Zeitpunkt Vizepräsident des Senats). 370 Zu den verschiedenen Vorschlägen und ihrem Schicksal RuWer RFDC 1995, 659 (663 ff). 371 Art. 151-4 n.F. der Geschäftsordnung der Nationalversammlung; s. auch Alberton RDP 1995,921 (941); Rullier RDP 1994, 1679 (1726); ders. RFDC 1994,553 (554, 557); de Berranger Constitutions nationales S. 425. 372 CC 10.3.1994 No 94-338 DC - Resolution modifiant le reglement de l'Assembh!e nationale, Rec. S. 71 = RFDC 1995, 177 m.Anm. Pini (30. Erwägungsgrund). 373 s. etwa Alberton RDP 1995, 921 ff; Rullier RDP 1994, 1679 (1704 ff); de Berranger Constitutions nationales S. 420 ff; zudem berichtet RuWer in einer festen Rubrik der RFDC laufend über die Anwendung von Art. 88-4 der Verfassung, s. etwa RFDC 1994, 155 ff; RFDC 1994, 553 ff; RFDC 1995, 187 ff; RFDC 1995, 659 ff; RFDC 1996, 173 ff; zuletzt RFDC 1997, 131 ff. 374 Für Beispiele zu dieser Haltung s. Rullier RFDC 1995,659 (666, 669).
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
tionalen Position ermöglichen soll, gerät auf diese Weise in Gefahr, zum bloßen Akklamationsinstrument umfunktioniert zu werden 375 • b) Die innerstaatliche Stellung der Regierung Daß auch die innerstaatliche Position der Regierung durch das Gemeinschaftsrecht in verfassungsrechtlich relevanter Weise beeinträchtigt werden kann, scheint auf den ersten Blick unwahrscheinlich: Schließlich gilt die mit der Führung der auswärtigen Angelegenheiten betraute Exekutive allgemein als Gewinnerin der durch die Struktur der gemeinschaftlichen Entscheidungsfindung ausgelösten innerstaatlichen Zuständigkeitsverlagerungen 176 • Eine Episode im Rahmen der Umsetzung des Unionsvertrags hat allerdings gezeigt, daß diese Tatsache Verletzungen des verfassungsrechtlichen Status der Regierung in Einzelfällen nicht ausschließt: Art. 107 und 108 des EGV in der Fassung von Maastricht sehen die Unabhängigkeit nicht nur der neu zu schaffenden Europäischen Zentral bank, sondern auch der fortbestehenden nationalen Zentralbanken von ihren jeweiligen nationalen Regierungen vor. Der Status der Banque de France wurde nach der Verfassungsänderung 377, die Frankreich die Teilnahme an der Währungsunion erlaubte, aber noch vor Inkrafttreten des Unionsvertrags selbst in diesem Sinne angepaßt378 • Dieser Schritt erwies sich als voreilig 379 : Der betreffende Teil des Gesetzes wurde vom Conseil constitutionnel mit einer Entscheidung vom 3.8.1993 3KO als verfassungswidrig verworfen, da er die in Art. 20 und 21 der
375 Zu dieser Entwicklung vor allem Alberton RDP 1995, 921 (945 ft); s. auch Verdier RDP 1994, 1137 (1146, 1151); Gai"a in: Droit constitutionnel national (1996), 231 (269). 376 Diese Verschiebung des institutionellen Gleichgewichts auf innerstaatlicher Ebene ist in Frankreich freilich erst spät bemerkt worden, so die Feststellung von Avril / Gicquel RFDC 1992,439 (454); auf deutscher Seite wird dieser Vorgang z.B. bereits von Mosler FS Weh berg (1956),273 (274 t) klar beschrieben.
377
Art. 88-2 n.F. der Verfassung; zum Text s. bereits 2. Kap. B. I. I. mit Fn 63.
Loi No 93-980 du 4.8.1993 relative au statut de la Banque de France et a I'activite et au contröle des etablissements de credit, JORF S. 11047 (ohne die flir verfassungswidrig befundenen Vorschriften). 378
379 Die verfassungsrechtlichen Risiken waren nicht unbemerkt geblieben, jedoch hatte man angenommen, sie durch eine vorsichtige Fassung des Gesetzes berücksichtigen zu können, s. Duprat LP A 1994 Nr. 47, 20.4.1994, 4 ff. 380 CC 3.8.1993 No 93-324 DC, Rec. S. 208 = RFDC 1993, 843 m.Anm. Gai"a = JCP 1993 11 22193 m. Anm. Nguyen Van Tuong; s. auch dens. ALD 1994, 61 (64 t); zu
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Verfassung38I niedergelegten Leitungsbefugnisse der Regierung und des Premierministers verletzte. Den Hintergrund der Entscheidung bildet eine zwischenzeitlich gefestigte Rechtsprechung des Conseil constitutionnel zu dem in Frankreich relativ neuen Phänomen der "autorites administratives independantes". Es handelt sich dabei um sachlich unabhängige zentrale Sonderbehörden 382 , die in etwa den in der deutschen Diskussion bekannten "ministerialfreien Räumen" entsprechen 383 • Im Rahmen der französischen Verfassungsordnung wirft dieses Phänomen aber deutlich gravierendere Probleme auf. Vor dem Hintergrund der in Art. 20 und 21 der Verfassung verankerten Leitungsbefugnis und -verantwortung der Regierung bzw. des Premierministers hat der Conseil constitutionnel die Schaffung solcher verselbständigter Einheiten zwar zugelassen 384 , zugleich deren Entscheidungsfreiheit aber enge Grenzen gesetzt: Der Gesetzgeber darf weder auf die Wahrnehmung der ihm in Art. 34 der Verfassung zugewiesenen Kompetenzen zugunsten der Behörde verzichten, noch kann er ihr die der Regierung zugewiesene Befugnis zur Bestimmung der inhaltlichen Leitlinien bei der Ausfiihrung der Gesetze übertragen; die "AAI"385 dürften daher zu eigenständigen Entscheidungen nur in begrenzten, die politischen Grundentscheidungen nicht berührenden Ausfiihrungsfragen ermächtigt werden. In Anlehnung an die deutsche Wesentlichkeitstheorie könnte man sagen: Die "wesentlichen" Entschei-
dieser Entscheidung auch ausführlich Duprat LPA 1994 Nr. 47, 20.4.1994, 4 (6 ff); Rousseau RDP 1994, \03 (117 ff); Co lias RRJ 1994, 557 (589 ff). 381 Art. 20 Abs. I: "Le Gouvernement determine et conduit la politique de la Nation." Art. 21 Abs. I: "Le Premier Ministre dirige I'action du Governement. ... 11 assure I'execution des lois."
382 Bekannteste Beispiele sind der Conseil superieur de I'audiovisuel (CSA) als oberste Medienaufsicht und die Commission nationale de I'informatique et des libertes (CNIL) als zentrale Datenschutzbehörde; weitere Beispiele mit zahlreichen Nachweisen bei Chapus, DAG I Rn 237, S. 183 f; s. auch Pisier Pouvoirs Nr. 46, 1988,71 (75 f); Chevallier JCP 1986 I 3254. m Zur deutschen Diskussion, die freilich als abgeschlossen gelten kann, s. etwa Müller JuS 1985, 497 ff; vergleichend zum Phänomen zuletzt Langobardi RFDA 1995, 171 ff, 383 ff (zu Deutschland insbes. S. 385 f). 384 s. den Überblick über die Entwicklung der Rechtsprechung bei Genevois Jurisprudence Rn 183, S. \08; Rousseau Contentieux Constitutionnel S. 247. 385 So die inzwischen geläufige Abkürzung, s. etwa Pisier Pouvoirs Nr. 46, 1988, 71 ff; Collas RRJ 1994,557 (580 ff); Rousseau RDP 1997, 13 (52).
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
dungen sind weiter von den Instanzen zu treffen, die die Verfassung daftir vorgesehen hat lS6 • Der neue Status der Banque de France entsprach diesen Vorgaben ersichtlich nicht387 , da er auch die Bestimmung der Grundlagen der Geldpolitik in die Unabhängigkeit von der Regierung entließ und Weisungen der Regierung in diesem Bereich ausdrücklich ausschloß 3KK • Von der Verfassungsänderung war der neue Status ebenfalls nicht gedeckt, wie der Conseil constitutionnel betonte389 : Der Vertrag, zu dessen Gunsten die Verfassung nun eine Ausnahme vorsah, war noch nicht in Kraft390 •
386 Besonders prägnant der 12. Erwägungsgrund von CC 15.1.1992 No 91-304 DC, Rec S. 18 = D. 1992 jp 201 m.Anm. Charles Debbasch = RFDA 1992, 254 m.Anm. Truchet S. 251 zu den Kompetenzen des "Conseil superieur de I'audiovisuel" (CSA): "... si ces dispositions ne font pas obstacle a ce que le legislateur confie a une autorite publique autre que le Premier ministre le soin de fixer des normes permettant de mettre en oeuvre une loi, c'est a condition que cette habilitation ne concerne que des mesures de portee limitee tant par leur champ d'application que par leur contenu." Im Wortlaut fast identisch der 15. Erwägungsgrund der Entscheidung CC 17.1.1989 No 88-248 DC, Rec. S. 18 = GDCC Nr. 42, S. 703 = RFDA 1989, 228 m.Anm. Genevois S. 215, ebenfalls schon zum CSA; zuletzt bestätigt durch CC 23.7.1996 No 96-378 DC - Loi de reglementation des telecommunications, JORF 27.7.1996, S. 11400 = RFDC 1996,823 m.Anm. Tremeau: während hier die Delegation der Regelungskompetenz fIlr die technischen Fragen auf die "Auto rite de regulation des telecommunications" wegen der beschränkten Bedeutung der Aufgabe zulässig war (10. - 12. Erwägungsgrund), durfte der Gesetzgeber nicht ohne inhaltliche Rahmenvorgaben die Zuständigkeit zur Festlegung der Grundsätze zur Internet-Nutzung dem durch das geprüfte Gesetz neu geschaffenen "Conseil superieur de la telematique" übertragen (26. 27. Erwägungsgrund); zu dieser Entscheidung auch Rousseau RDP 1997, 13 (47 ff). 387 So betonen etwa Gara Anm. RFDC 1993,844 (845), Collas RRJ 1994,557 (596 ff) und Favoreu u.a. AUC 1993,421 (451 f), daß die Entscheidung die bisherige Rechtsprechung des CC zum Handlungsspielraum der AAl bruchlos fortsetzt. 388 Art. 1er: "La Banque de France definit et met en reuvre la politique monetaire dans le but d'assurer la stabilite des prix. Elle accomplit sa mission dans le cadre de la politique economique generale du Gouvernement." "Dans I'exercice de ses attributions, la Banque de France ne peut ni accepter ni solliciter d'instructions du gouvernement ou de toute personne." 389 " ••• les dispositions de 1a loi, en tant qu' elles concernent la definition de la politique monetaire et de son but et qu' e11es proscrivent toute instruction du Gouvernement, meconnaissent la competence de celui-ci pour determiner et conduire la politique de 1a Nation et celle du Premier ministre pour diriger son action, des lors qu' elles ne peuvent etre regardees comme resultant de l' application du traite vise par /' artic/e 88-2 de /a Constitution." (10. Erwägungsgrund).
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Nach Inkrafttreten des Unionsvertrags am 1.11.1993 wurden die von der Entscheidung verworfenen Passagen mit Gesetz vom 31.12.1993 391 erneut erlassen, diesmal mit der nun greifenden Legitimation durch den neuen Art. 88-2 der Verfassung 392 • Der Conseil constitutionnel wurde gegen diese Neuauflage des Gesetzes nicht mehr angerufen; neue Ergebnisse hätte ein weiteres Verfahren auch nicht erbringen können, nachdem aufgrund der Maastricht lI-Entscheidung rechtskräftig feststand, daß alle vom Unionsvertrag geforderten Maßnahmen durch die vorangehende Verfassungsänderung gedeckt waren. c) Die Unteilbarkeit der Republik: Gefährdung des unitarischen Einheitsstaats durch die europäische Integration? In der Direktwahl-Entscheidung von 1976 finden sich auch Ausführungen zum Verfassungswert der Unteilbarkeit der Republik 39J , der durch die Verträge nicht in Frage gestellt werden dürfe 394 • Aus dem Zusammenhang mit der damaligen politischen Debatte war diese Passage mehrheitlich dahin gedeutet worden, daß die nationale Durchführung der Europawahlen nicht über Wahlkreiskandidaten, sondern nur auf dem Weg über einheitliche nationale Listen erfolgen dürfte: Die Aufteilung in Wahlkreise würde dazu führen, daß diese über den jeweils gewählten Vertreter in der Versammlung unmittelbares Eigenleben auf übernationaler Ebene entfalten könnten, so daß die Einheit der Republik nach
390 Zu den von dieser Argumentation ausgehenden Perspektiven fllr den Fall der Einfllhrung einer nachträglichen Verfassungskontrolle auch der Verträge s.u. 3. Kap. B. I. 4. b) bb) ß). 391 Art. 1er des Loi No 93-1444 du 31.12.1993 portant diverses dispositions relatives cl la Banque de France, cl I'assurance au credit et aux marches financiers, JORF 5.1.1994, S. 231. 392 Dazu auch Lombard AJDA 1994,491 ff; Iacono D. 1994 ehr. 89 ff; Duprat LPA 1994 Nr. 47, 20.4.1994, 4 (7 fi). 393 Art. 2 Abs. 1 (durch die VerfassungSänderung vom 4.8.1995 nun Art. 1): "La France est une Republique indivisible, lai'que, democratique et sociale." 394 " ... I'engagement international du 20 septembre 1976 ne eontient aue une stipulation fixant, pour I'election des representants franr;ais cl l'Assemblee des Communautes europeennes, des modalites de nature cl mettre en eause l'indivisibilite de la Republique, dont le principe est reaffirme cl I'article 2 de la Constitution; .... Ies termes de "proeedure eleetorale uniforme" dont iI est fait mention cl I'article 7 de I'aete soumis au Conseil eonstitutionnel ne sauraient etre interpretes eomme permettant qu'jJ soit porte atteinte ce principe;" (5. Erwägungsgrund).
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
außen gefährdet werde J95 • So hatte etwa Sasse396 nach dem Direktwahl-Urteil des Conseil constitutionnel befurchtet, daß die Beteiligung Frankreichs an einem Europa der Regionen nunmehr verfassungsrechtIich ausgeschlossen sei. Diese weitgehenden Folgerungen aus den Formulierungen der Direktwahl-Entscheidung waren allerdings schon in der zeitgenössischen Diskussion nicht unumstritten; so hat Leo Hamon seinerzeit geltendgemacht, daß die Formulierung auch enger im Sinne des Verbots grenzübergreifender Wahlkreise interpretiert werden konnte 397 • In der Zwischenzeit hat die Vorstellung einer verfassungsrechtlichen Garantie des unitarischen Einheitsstaates zudem viel von ihrer Überzeugungskraft verloren 398 • Insbesondere hat die in den Jahren seit 1981 erfolgte und vom Conseil constitutionnel grundsätzlich gebilligte399 Dezentralisierung gezeigt, daß die Unteilbarkeit der Republik keinen zentralistisch organisierten Einheitsstaat erfordert40o • Die Verfassungskraft des Grundsatzes der Unteilbarkeit der Republik ist zwar auch nach diesen Dezentralisierungs-Entscheidungen in neuerer Zeit nochmals spektakulär bestätigt worden 40I • Erstaunlicherweise hat sich dies 395 Debre RRJ 1977,43 (45 f); Kovar / Simon RTDE 1977, 665 (677 ff); Luchaire RTDE 1979,393 (427); Jacque in: Souveränitätsdenken (1980),71 (78 ff); Pretot in: La Constitution et l'Europe (1992), 33 (57 f). 396 Sasse FS H.P. Ipsen (1977), 701 (719). 397
Hamon Anm. D. 1977 jp 202 (204); ihm weithin folgend Gai'a Insertion S. 331 f.
s. Rousseau Contentieux constitutionnel S. 206 ff unter dem Zwischentitel "L'assoup1issement du principe de l'Etat unitaire". 399 CC 25.2.1982 No 82-137 DC - Loi relative aux droits et libertes des communes, des departements et des regions, Rec. S. 38 = GDCC NT. 32, S. 484 (I. Entscheidung) = AJDA 1982,294 (I. Entscheidung) m.Anm. Boulouis S. 303 ff= JCP 198311 20099 (I. Entscheidung) m.Anm. Franck; CC 25.2.1982 No 82-138 DC - Loi portant statut particulier de la region de Corse, Rec. S. 41 = GDCC Nr. 32, S. 484 (2. Entscheidung) = AJDA 1982,294 (I. Entscheidung) m.Anm. Boulouis S. 303 ff= JCP 198311 20099 (2. Entscheidung) m.Anm. Franck. 400 s. etwa Pontier D. 1992 ehr. 239 (243 f); zur parallelen Entwicklung der Rechtsprechung des CC im Sinne einer Öffnung gegenüber der Dezentralisierung einerseits und der "Europäisierung" andererseits s. etwa Rousseau RDP 1992,37 (94 f). 401 CC 9.5.1991 No 91-290 DC - Statut de la Corse, Rec. S. 50 = GDCC Nr. 44, S. 744 = D. 1991 jp 624 m.Anm. Roland Debbasch = RFDA 1991,424 m.Anm. Genevois S. 407 = RDP 1991,969 m.Anm. Luchaire S. 943 = RFDC 1991,305 m.Anm. Favoreu = RUDH 1991, 183 m.Anm. Grewe S. 381: "... la France est, ainsi que 1e proclame l'article 2 de la Constitution de 1958, une republique indivisible, laique, democratique et sociale qui assure I'egalite devant 1a loi de tous les citoyens quelle que soit leur origine; ... des lors la mention faite par le legislateur du 'peuple corse, composante du peuple franIYais' est contraire a la Constitution, laquelle 398
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jedoch auf die Diskussion um den EUV nicht ausgewirkt402 • Der neue Ausschuß der Regionen spielte in der öffentlichen Diskussion um den Unionsvertrag keine Rolle und wurde auch vom Conseil constitutionnel nicht beanstandet: Die Unteilbarkeit der Republik wird nach diesem Stand also nicht gefahrdet, wenn sich etwa französische Vertreter im Ausschuß der Regionen gegen die Haltung der Regierung im Rat wenden 403 • In Gegenrichtung gilt, daß innerstaatliche Kompensationsmaßnahmen für die Verluste regionaler Gestaltungs- und Rechtsetzungskompetenzen durch die Integration, wie sie in der deutschen Rechtsordnung zugunsten der Bundesländer vorgenommen werden, vom französischen Verfassungsrecht nicht gefordert sind: Den französischen Gebietskörperschaften auf der "unterstaatlichen" Ebene steht zwar gemäß Art. 72 der Verfassung die Selbstverwaltung im Rahmen der Gesetze zu; ein "Hausgut" von Regelungskompetenzen ist ihnen damit aber nicht gewährleistet404 • 3. Grundrechtsschutz
a) Bedeutung des Problems Der Grundrechtsschutz gegenüber dem Gemeinschaftsrecht wie auch generell gegenüber völkerrechtlichen Verträgen hat über lange Zeit weder in der Rechtsprechung des Conseil constitutionnel405 noch der Fachgerichte406 , noch auch in
ne conna'it que le peuple frant;:ais, compose de tous les citoyens frant;:ais sans distinction d'origine, de race ou de religion; "(13. Erwägungsgrund). Zu dieser Entscheidung auch Favoreu u.a. AUC 1991,529 (539 ft); Grewe RUDH 1991, 381 ff; Pastorel RRJ 1992, 55 ff; zu den verfassungsrechtlichen Grenzen der Dezentralisierung s. zuletzt CC 9.4.1996 No 96-373 DC - Statut de la Polynesie frant;:aise, JORF 13.4.1996, S. 5695 = RDP 1996, 976 m.Anm. Luchaire S. 953 = RFDC 1996, 584 m.Anm. Tremeau / Roux / Renoux. 402 Treffsicher vorhergesehen von Favoreu u.a. AUC 1991,529 (539). 403 Vgl. Fromont in: Integration und Verfassungsrecht (1995), 127 ( 142 t); zur Besetzung der französischen Sitze im Ausschuß der Regionen s. Bassot RMC 1993, 729 (736 t); ders. BayVBI 1996, 385 (388 t). 404 s. nur Metraux in: Consequences institutionnelles (1991),223 (248 ft). 405 So die Feststellung von Gai"a Insertion S. 282; flir einen Überblick s. auch noch dens. in: Droit constitutionnel national (1996), 231 (243 ff, 254 t). 406 Spektakuläre Vorlagen französischer Gerichte an den EuGH zur Überprüfung der Gültigkeit "grundrechtsrelevanten" Sekundärrechts sind nicht bekanntgeworden; s.u. 3.Kap. B. 11 4.
158
3. Kapitel: Verfassungs rechtliche Grenzen der Integration
der Literatur eine Rolle gespielt. Für diese Tatsache lassen sich zahlreiche Erklärungen anführen: Zum einen hat sich ein emstzunehmender Grundrechtsschutz gegenüber dem nationalen Gesetzgeber erst seit Anfang der 70er Jahre entwicke1t407 und ist auch heute prozessual nur bedingt gewährleistet408 • Etwaige Defizite des Gemeinschaftsrechts im materiellen Grundrechtsstandard wie auch im prozessualen Rechtsschutz konnten sich also jedenfalls nicht in auffli1liger Weise nachteilig vom nationalen Standard abheben. Teilweise haben die grundrechtlichen Anforderungen des Gemeinschaftsrechts an den nationalen Vollzug den Standard des nationalen Rechts sogar deutlich übertroffen 409 und schließlich zur Übernahme der vom Gemeinschaftsrecht erzwungenen Verbesserungen auch in die vom Gemeinschaftsrecht nicht betroffenen Bereiche des nationalen Rechts geführt 41O • Gerade im typischen "Eingriffsbereich" des Gemeinschaftsrechts, der Freiheit von Eigentum und wirtschaftlicher Betätigung, ist der Grundrechtsschutz gegen nationale Maßnahmen entweder kaum ausgeleuchtet - so im Falle der Berufsfreiheit - oder erst in den 80er Jahren präzisiert worden - so für das Eigentum durch die Nationalisierungs-Entscheidungen von 1981 411 •
407 Zur Entwicklung der Rechtsprechung des CC s.o. 3. Kap. A. I. 2.; aus der deutschsprachigen Literatur im gemeinschaftsvergleichenden Zusammenhang Bernhardt (-Hailbronner) Bull. EG Beilage 5 / 1976, S. 19 (34 ff); s. auch die abfälligen Bemerkungen von HH Rupp in: Oie Grundrechte in der Europäischen Gemeinschaft (1978), 9 (9, 16). 408 Zur Öffnung des Zugangs zum CC flIr Vorlagen von Minderheiten in Nationalversammlung und Senat im Jahre 1974 s. unten 3. Kap. B. I. I. b); zu den weitergehenden Vorhaben der exception d'inconstitutionnalite 3. Kap. B. I. 4. a). 409 s. etwa die Pflicht zur Begründung der Ausweisung nach Art. 6 der Richtlinie 64/ 221, deren Nicht-Umsetzung Gegenstand der berühmten Cohn-Bendit-Entscheidung des CE (zu dieser noch unten 5. Kap. B. III. 4.) war; dem französischen Recht war eine allgemeine Pflicht zur Begründung belastender Verwaltungsentscheidungen zu diesem Zeitpunkt unbekannt. Zu diesem grundrechtlichen Hintergrund der Cohn-Bendit-Entscheidung s. etwa Pinto Melanges Reuter (1981), 407 ff; zum heutigen Stand des französischen Rechts s. den vergleichenden Überblick bei Schockweiler COE 1989, 3 (15 ff). 410 Zu dem zuerst durch das Gemeinschaftsrecht durchbrochenen, dann generell aufgegebenen Verbot der "injonction" (Verpflichtungsklage bzw. -Urteil gegen die Verwaltung) s.u. 5. Kap. B. III. 3. b) aa). 411 CC 16.1.1982 No 81-132 OC - Nationalisations, Rec. S. 18 = GOCC Nr. 31, S. 444 (I. Entscheidung); CC 11.2.1982 No 81-139 OC - Nationalisations, Rec. S. 31 = GOCC Nr. 31, S. 444 / 451 (2. Entscheidung); dazu u.a. Favoreu RDP 1982, 377 ff; aus der
deutschsprachigen Literatur zu den wirtschaftsrelevanten Gewährleistungen der französischen Rechtsordnung ausfllhrlich Veelken Normstrukturen (1991), 264 ff, 277 ff.
A. Materielle Rechtslage
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Auch die Herleitung der Grundrechte auf Gemeinschaftsebene nicht aus einem geschriebenen Katalog, sondern auf dem Weg über die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts unter Heranziehung von nicht als unmittelbar verbindlich, sondern nur als "Inspirationsquellen" anerkannten Texten wie der EMRK ist aus der Sicht der französischen Rechtsordnung nicht befremdlich: Angesichts der Wege zur Ermittlung der principes generaux du droit, in Maßen aber auch der "principes fondamentaux reconnus par les lois de la Republique" erscheinen diese Mechanismen vielmehr relativ vertraut4l2 • Zudem hat der Grundrechtsschutz bis jetzt - vor allem mit Hilfe der EMRK, der in der französischen Literatur deutlich stärkere Aufmerksamkeit gewidmet wird, als das in Deutschland der Fall ist - nicht gegen, sondern durch das internationale Recht stattgefunden 4l3 . Selbst der Begriff der "droits fondamentaux" als Bezeichnung für die jede staatliche Gewalt (also auch den Gesetzgeber) bindenden Grundrechte scheint über das Gemeinschaftsrecht in die französische Diskussion eingedrungen zu sein und ersetzt hier zunehmend die traditionelle Terminologie der "Libertes publiques"414.
412 Zu bei den Kategorien s. bereits oben 3. Kap. A. I. 2.; zum Einfluß der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts auf die französische Rechtsordnung s. zuletzt Ga/mot CDE 1997, 67 ff; speziell zum - der französischen Rechtsordnung bis dahin in dieser Form nicht vertrauten - Grundsatz des Vertrauensschutzes ("principe de confiance legitime") s. Puissochet Melanges Braibant (1996), 581 ff und flir einen aufsehenerregenden Anwendungsfall TA Strasbourg 8.12.1994 - Entreprise Freymuth c. Ministre de l'Environnement, AJDA 1995, 555 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Pommier. 413 Zum erheblichen Einfluß der EMRK auf das französische (öffentliche) Recht s. die regelmäßige Berichterstattung durch F/auss in der AJDA (etwa AJDA 1994, 16 ff, 511 ff; AJDA 1995, 124 ff, 719 ff; AJDA 1996, 376 ff; zuletzt AJDA 1996, 1005 ff) und durch Labay/e / Sudre in der RFDA (etwa RFDA 1995, 1172 ff) sowie die zahlreichen Beiträge in Sudre (Hrsg.), Le droit franfi:ais et la Convention europeenne des droits de I'homme 1974 - 1992 (1994), passim. 414 Diese terminologische Entwicklung ist eine natürliche Konsequenz der verfassungsgerichtlichen Kontrolle des Gesetzgebers: der Sammelbegriff der Libertes pub liques, der Grundsätze von Verfassungs- wie auch nur Gesetzesrang umschließt (s. nur Rivero Libertes publiques Bd. 1, S. 20 ff), steht damit quer zur Normenhierarchie und kann keine aussagekräftige Systematisierung fllr die Grundrechtsbindung des Gesetzgebers leisten; zum Begriff der "droits fondamentaux" in der französischen Rechtsordnung s. noch unten 3. Kap. B. I. 4. a) cc) mit Fn 257.
160
3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
b) Die Rechtsprechung des Conseil constitutionnel
aa) Allgemein zum Grundrechtsschutz gegenüber völkerrechtlichen Verträgen Der Conseil constitutionnel mußte sich erstmals in der Entscheidung vom 17.7.1980415 zur Verfassungsmäßigkeit des deutsch-französischen RechtshilfeAbkommens mit der Beanstandung eines Grundrechtsverstoßes, in diesem Fall gegen das im 4. Absatz der Präambel gewährleistete Asylrecht, auseinandersetzen. Weiterflihrende Erkenntnisse zum Verhältnis zwischen nationalem Grundrechtsschutz und internationaler Integration hat diese Entscheidung aber nicht erbracht: Der Vertrag wurde am Asylrecht nicht anders gemessen als an jeder anderen Norm von Verfassungsrang 416 ; welche Anforderungen die französische Rechtsordnung an die Grundrechtsstandards des auf ihrem Territorium wirkenden Gemeinschaftsrechts stellen würde, war nicht erkennbar und konnte anhand dieses Sachverhalts wohl auch nicht geklärt werden. Ein neuer systematischer Ansatz erscheint in der Entscheidung vom 22.5 .1985 zur Verfassungsmäßigkeit des Verbots der Todesstrafe durch das 6. Zusatzprotokoll zur EMRK: Hier findet sich erstmals die - durch den Sachverhalt kaum veranlaßte - Einbeziehung des grundrechtlichen Aspekts in die Definition der Wahrung der nationalen Souveränität; die Grundrechtsproblematik wird auf diese Weise erstmals unterschwellig mit dem Phänomen der Integration verknüpft417 • Mit diesem neuen Kriterium stand erstmals nicht mehr die Bewahrung der Souveränität allein im Zentrum der Prüfung; der Conseil constitutionnel fragte damit nunmehr auch nach der inhaltlichen Ausgestaltung der neuen Ordnung und näherte sich damit der Haltung des deutschen wie auch des italienischen Verfassungsgerichts 4l8 •
415 CC 17.7.1980 No 80-116 DC - Convention d'entraidejudiciaire, Rec. S. 36 = RDP 1980, 1683 m.Anm. Favoreu S. 1627 (1640 f1) = RGDIP 1981, 202 m.Anm. Va/lee; so auch im Rückblick Favoreu u.a. AUC 1991,529 (553); Gai'a Insertion S. 333 f. 416 " ••. aucune disposition de la Convention additionnelle n'ouvre la possibilite de porter atteinte au droit d'asile, tel qu'il est proclame par le Preambule de la Constitution du 27 octobre 1946, reaffirme par celui de la Constitution du 4 octobre 1958;" (5. Erwägungsgrund). 417 s. etwa Rideau AUC 1991, 11 (54); Gara in: Droit constitutionnel national (1996), 231 (243). 418 Genevois in: CC et CE (1988), 191 (202); de Berranger Constitutions nationales S. 295 unter dem Zwischentitel: "D'une reserve de la souverainete a une reserve des droits et Iibertes de valeur constitutionnelle."
A. Materielle Rechtslage
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Am ausfiihrlichsten hat sich mit dem Grundrechtsschutz gegen völkerrechtliche Verträge bisher die Schengen-Entscheidung vom 25.7.1991 419 befaßt: Der Conseil constitutionnel prüft hier im Detail, ob das Abkommen den verfassungsrechtlichen Gewährleistungen von Asylrecht420 und Datenschutz421 gerecht wird.
bb) Insbesondere: Der Grundrechtsschutz gegen Sekundärrecht Die Schengen-Entscheidung hat auch - allerdings in negativer Abgrenzung erste Aufschlüsse zur Frage des Grundrechtsschutzes gegenüber Sekundärrechtsakten ergeben. Betroffen war hier die Frage hinreichenden Rechtsschutzes gegenüber den Entscheidungen des im Abkommen vorgesehenen Exekutivausschusses 422 : Das Fehlen eines solchen Rechtsschutzsystems in der Schengener Konvention bleibt unbeanstandet, da nach der Auslegung des Abkommens durch den Conseil constitutionnel die Entscheidungen dieses Gremiums auch keine unmittelbare Wirkung auf dem Boden der Vertragsstaaten entfalten sollen 423 , etwaige nationale Ausfiihrungsmaßnahmen also in vollem Umfang der Kontrolle durch den nationalen Richter unterworfen wären 424 • Im Umkehrschluß ergibt sich 419 CC 25.7.1991 No 91-294 DC - Accord de Schengen, Rec. S. 91 = RFDC 1991, 703 m.Anm. Gai"a = RFDA 1992, 180 m.Anm. Vedel S. 173 = RTDE 1992, 187 m.Anm. Pretot; deutsche Übersetzung in EuGRZ 1993, 187; zu dieser Entscheidung auch Rohert RAE I / 1992,5 (10 ft); Favoreu u.a. AUC 1991,529 (551 ft). 420 30. - 32. Erwägungsgrund; dazu noch unten 3. Kap. B. I. 3. b) bb) ß). 421 47. - 51. Erwägungsgrund; der Datenschutz unterflHIt der durch Art. 66 der Verfassung geschützten liberte individuelle; kritisch zum positiven Ergebnis der Überprüfung des Abkommens insoweit Rousseau RDP 1992,37 (100 t); Grewe / Ruiz Fahri RUDH 1992, 277 (289 t); zustimmend dagegen Gai"a RRJ 1992, 25 (41 t). 422 Zu diesem Ausschuß und der Wirkungsweise seiner Beschlüsse s. auch Dörr DÖV 1993,696 ff. 423 "... si la convention n'assujettit pas le comite executif a un contröle juridictionnel, son institution comme la definition de ses attributions ne sont pas contraires a la Constitution des lors qu'aucune stipulation de la convention ne confore aux decisions de ce comite un effet direct sur les territoires des parties contractantes; ... les mesures prises par les autorites fran~aises, a la suite des decisions dudit comite, sero nt elles-memes soumises au contröle des juridictions fran ..aises, dans le cadre de leurs competences respectives;" (62. Erwägungsgrund). 424 s. Pretot in: La Constitution et l'Europe (1992),33 (50 t); Rideau AUC 1991, 11 (54 t); Zoller Droit des relations exterieures Rn 235, S. 290 f; ebenso die gutachtliche Stellungnahme des CE im Gesetzgebungsverfahren zur Billigung vom 2.5.1991, wiederII GundeI
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
daraus die verfassungsrechtliche Zu lässigkeit von Eingriffen durch unmittelbar wirkendes Sekundärrecht, sofern ein entsprechender Rechtsschutz sichergestellt ist. Die bündige Formulierung des Conseil constitutionnel hat allerdings zwei Fragen aufgeworfen. Zum einen stellt sich die Frage nach dem materiellrechtIichen Maßstab, an dem das Sekundärrecht zu messen wäre: Ist das Sekundärrecht - wie die Bestimmungen des Vertrags selbst im Rahmen ihrer präventiven Überprüfung durch den Conseil constitutionnel - an der national-verfassungsrechtlichen Gewährleistung zu messen (die der Vertrag also als Maßstab übernehmen und integrieren müßte, um seinerseits die präventive Verfassungsprüfung zu bestehen), oder genügt es, wenn der Vertrag einen Schutzstandard garantiert, der funktional, aber nicht notwendigerweise in jedem Detail der nationalen Gewährleistung entspricht? Zum anderen stellt sich auch die Frage nach der institutionellen Letztverantwortung rur diesen Rechtsschutz: Die Formulierung des Conseil constitutionnel konnte dahin verstanden werden, daß ein derartiger Rechtsschutz immer in der Verantwortung der nationalen Gerichte liegen müßte 42S • Beide Fragen wurden durch die Maastricht-I-Entscheidung des Conseil constitutionnel vom 9.4.1992 426 beantwortet: Danach entspricht der Unionsvertrag insoweit den Anforderungen der Verfassung, weil er materiell in Anlehnung an die EMRK hinreichenden Grundrechtsschutz garantiert und prozessual selbst den an diesem Maßstab ausgerichteten Rechtsschutz gegen das Handeln der Organe direkt oder indirekt - unter Einbeziehung der nationalen Gerichte - gewährleistet427 • Es erfolgt also weder eine FestIegung auf den nationalen Grund-
gegeben in RTOE 1992, 194: "Le Conseil d'Etat a estime, en outre, que toute interpretation contraire se heurterait aux exigences de Ia Constitution, dans la mesure ou serail attribue Cl un organisme collegial internationalle pouvoir d'edicter des regles de droil sans que soit simultanement institue un contr6le juridictionnel sur fes actes de cet organisme." 425 Pretot in: La Constitution et I'Europe (1992),33 (50 t); Rideau in: MascIet / Maus (1993), 67 (79, 86 t); ders. RAE 3 / 1992, 7 (14 t); de Berranger Constitutions nationales S. 172. 426 CC 9.4.1992 No 92-308 OC - Maastricht I, Rec. S. 55 = GOCC Nr. 45, S. 771 (I. Entscheidung); s. m.w.N. bereits oben 3. Kap. A. 11. I. b) bei Fn 276. 427 " ... aux termes du paragraphe 2 de I'article F du traite sur I'Union europeenne: 'L'Union respecte Ies droits fondamentaux, tels qu'i1s sont garantis par Ia Convention europeenne des droits de I'homme et des Iibertes fondamentales, signee a Rome Ie 4 novembre 1950, et tels qu'ils resultent des traditions constitutionnelles communes aux Etats membres, en tant que principes generaux du droit communautaire'; ... feur respect
A. Materielle Rechtslage
163
rechtskanon, noch wird institutionell ein Letztprüfungsrecht oder -vorbehalt zugunsten der nationalen Gerichte in Anspruch genommen 42K • Rechtfertigen läßt sich dieses Zurückweichen der Verfassung gegenüber dem Sekundärrecht durch Abs. 15 der Präambel von 1946: Bei einer präventiven Kontrolle des Vertrags selbst ist eine umfassende Detailüberprüfung des Vertrages am Maßstab der Verfassung und damit auch der grundrechtlichen Gewährleistungen vorstellbar. Den weiteren (Sekundär-)Rechtsetzungsprozeß auf Dauer auf die Details der nationalen Gewährleistung festlegen zu wollen, erscheint dagegen als unrealistisch und kann daher unter dem Gesichtspunkt von Abs. 15 auch nicht gefordert sein.
c) Fazit Die grundrechtlichen Gewährleistungen der französischen Verfassung genießen damit doppelten Schutz gegen völkervertragliche Verletzung: Der Schutz erfolgt einmal unmittelbar durch die Prüfung des Vertrages an den Grundrechten als Teil des geltenden Verfassungstextes, zum anderen durch das "triptychon"429 der durch die Entscheidung zum 6. EMRK-Zusatzprotokoll entwickelten Formel; diese unsystematisch scheinende doppelte Verankerung4lO kann freilich gerade für Integrations-Systeme sinnvoll nutzbar gemacht werden: Vertragsbestimmungen, die verfassungsrechtliche Gewährleistungen unmittelbar verletzen, sind schon wegen des Verstoßes gegen die jeweiligen Bestimmungen der Verfassung verfassungswidrig; ergibt sich ein Verstoß danach bereits aus dem Primärrecht, so bedarf es keines Rückgriffs auf die nationale Souveränität bzw. der "conditions essentielles" ihrer Ausübung.
est ass ure par la Cour de justice des communautes europeennes, notamment Cl la suite d'actions engagees aI'initiative des particuliers;" (17. Erwägungsgrund). "... les stipulations du paragraphe 2 de I'article F, conjuguees avec I'intervention des juridictions nationales statuant dans le cadre de leurs comphences respectives, sont a meme de garantir les droits et libertes des citoyens;... a cet egard I'engagement international soumis au Conseil constitutionnel ne porte pas atteinte aux rt!gles et principes de valeur constitutionnelle;" (18. Erwägungsgrund).
428 So Rideau in: Masclet / Maus (1993), 67 (87); ders. RAE 3 / 1992, 7 (18 f); Jacque RTDE 1992,251 (257). 429 So die Bezeichnung von Favoreu u.a. AUC 1991, 529 (558). 430 Kritisch zur Anbindung des Grundrechtsschutzes an die nationale Souveränität Favoreu u.a. AUC 1991,529 (558). 11*
164
3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
Verträge, die ein System installieren, in dem ein effektiver Schutz gegen Grundrechtsverstöße nicht gewährleistet ist, verstoßen nicht gegen die im Text der Verfassung bzw. ihrer Präambel benannten einzelnen Grundrechte: Welches dieser Rechte im Einzelfall später etwa durch Sekundärrecht verletzt werden würde, wäre im Zeitpunkt der präventiven Überprüfung des Vertrages ja auch gar nicht abzusehen; eine spätere Feststellung des verletzten Rechts im konkreten Konfliktfall ist dagegen derzeit aus prozessualen Gründen ausgeschlossen. In diesem Fall sind vielmehr die conditions essentielles der Ausübung der nationalen Souveränität berührt, weil der französische Staat seine Bürger keiner Rechtsordnung aussetzen darf, die selbst nur unzureichenden Schutz gegen Grundrechtsverletzungen gewährleistet.
4. Synthese
Insgesamt läßt die Rechtsprechung des Conseil constitutionnel zwischenzeitlich eine größere Offenheit gegenüber der europäischen Integration erkennen, als dies nach der Maastricht-Entscheidung für die Rechtsprechung des BVerfG behauptet werden kann 431 • Insbesondere beharrt der Conseil constitutionnel nicht auf der detaillierten Beachtung der nationalen Grundrechtsstandards durch die Organe der Gemeinschaft, sondern läßt grundsätzlich eine Ersetzung dieser Maßstäbe durch die an der EMRK orientierten Grundrechte des Gemeinschaftsrechts zu. Darüber hinaus behält der Conseil constitutionnel weder in Grundrechts- noch in kom petenzrechtlichen Fragen ein Letztprüfungsrecht zugunsten nationaler Gerichtsinstanzen vor. Zuzugeben ist allerdings, daß insofern auch die Versuchung für den Conseil constitutionnel weniger gravierend sein dürfte: Da der Conseil constitutionnel schon aufgrund seiner begrenzten Befassungskompetenzen ein solches Letztprüfungsrecht nur selten und auf Umwegen (etwa über die Überprüfung von nationalen Umsetzungsgesetzen im präventiven Verfahren nach Art. 61 der Verfassung) ausüben könnte, müßte ein solcher Vorbehalt sich vor allem zugunsten der nationalen Fachgerichte auswirken.
431
s. etwa Fromont 1Z 1995, 800 ff; ders. Melanges Peiser (1995), 229 ff.
A. Materielle Rechtslage
165
111. Die Überwindung erkannter verfassungsrechtIicher Hindernisse durch den verfassungsändernden Gesetzgeber und ihre Grenzen: Die Maastricht lI-Entscheidung des Conseil constitutionnel Der Eindruck einer größeren Offenheit gegenüber der Integration verstärkt sich noch bei der Betrachtung der Frage nach den verfassungsrechtlichen Grenzen von Verfassungsänderungen, die auf zuvor festgestellte verfassungsrechtliche Hindernisse der Integration reagieren. 1. Präzedenzfälle: Verfassungsänderungen in Frankreich
Mit der ersten Maastricht-Entscheidung des Conseil constitutionnel war geklärt, daß die Verfassungsmäßigkeit des EUV an der Frage zu messen war, ob er die "wesentlichen Bedingungen der Ausübung der nationalen Souveränität" berührte. Gleichzeitig stand fest, daß dies in drei Bereichen (Kommunalwahlrecht, Visapolitik, Währungsunion) tatsächlich der Fall war. Eine Ratifikation war also insoweit entsprechend dem Wortlaut von Art. 54 der Verfassung ohne vorangehende Verfassungsänderung ausgeschlossen. Der politisch-juristische Streit verlagerte sich in der Folge auf die Frage der grundsätzlichen Zu lässigkeit und der angemessenen Form einer solchen Verfassungsänderung.
a) Das Verfahren der Verfassungsänderung Die Verfassungen Frankreichs gehören seit 1848 dem "rigiden" Typus an 432 , der die Verfassungsänderung einem gegenüber dem normalen Gesetzgebungsverfahren abweichenden, in der Regel erschwerten 433 Verfahren unterwirft. Verfassungsänderungen waren tatsächlich bislang - nicht erst unter der 5. Republik 434 - äußerst selten gewesen, was allerdings auch mit der geringen Le-
432
s. nur Luchaire RDP 1981, 275 (279 f).
So die Verfassungen der 4. und 5. Republik; die 3. Republik dagegen sah zwar ein gegenüber der einfachen Gesetzgebung abweichendes Verfahren vor, es galt aber die einfache Mehrheit. 434 Bis zur Revision von Maastricht gab es nicht mehr als 4 Verfassungsänderungen: Direktwahl des Präsidenten (1962: Änderung von Art. 6 und 7 der Verfassung durch Referendum gern. Art. 11), Sitzungsperioden des Parlaments (1963: Änderung von Art 28 im parlamentarischen Verfahren nach Art 89), Erweiterung des Zugangs zum CC (1974: Änderung von Art. 61 im parlamentarischen Verfahren nach Art. 89), Verfahren bei Tod eines Präsidentschaftskandidaten (1976: Änderung von Art. 7 im parlamentarischen Verfahren nach Art. 89); dazu kommt eine im Jahr 1960 im Rahmen der Entkolo433
166
3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
bensdauer der einzelnen Verfassungen und dem dadurch nur selten zutage tretenden Anpassungsbedarf zu erklären sein mag435 • Das in Art. 89 der Verfassung der 5. Republik vorgesehene zweistufige Verfahren stellt tatsächlich auch besonders anspruchsvolle Anforderungen: Die Initiative erfolgt durch den Präsidenten der Republik oder aus der Mitte des Parlaments. In der ersten Phase müssen Nationalversammlung und Senat der Änderung mit jeweils einfacher Mehrheit zustimmen, der Senat kann also nicht wie im Verfahren der einfachen Gesetzgebung überstimmt werden. In der zweiten Phase ist die Änderung gemäß Art. 89 Abs. 2 einer Volksabstimmung zu unterwerfen; ging die Initiative zur Änderung vom Präsidenten aus (projet de revision im Gegensatz zur proposition de revision), so kann dieser gemäß Art. 89 Abs. 3 statt der Volksabstimmung die Bestätigung der Änderung durch die im Kongress vereinigten Kammern des Parlaments wählen, die mit einer Mehrheit von 3 / 5 entscheiden. Die Schwerfälligkeit dieses Verfahrens und das dabei dem Senat in der ersten Phase eingeräumte "Vetorecht" haben dazu gefllhrt, daß Art. 89 im ersten Jahrzehnt der 5. Republik nur fllr Verfassungsänderungen eher technischer Bedeutung eingesetzt wurde. Als zentral empfundene Fragen wurden dagegen gemäß Art. 11 der Verfassung im "unmittelbaren Dialog" zwischen Präsident de Gaulle und dem Volk entschieden. Die Verfassungsmäßigkeit dieses Weges, über Art. 11 der Verfassung auch verfassungsändernde Gesetze der Volksabstimmung zu unterbreiten und auf diese Weise an Art. 89 der Verfassung vorbei das Parlament vom Verfahren der Verfassungsänderung auszuschließen, ist immer umstritten geblieben, zum al der Conseil constitutionnel in einer seiner berühmtesten Entscheidungen eine Stellungnahme aus Zuständigkeitsgründen abgelehnt hatte 436 • Diese Situation hat sich zwischenzeitlich grundsätzlich gewandelt: In neuerer Zeit sind - beginnend mit den zur Ratifikation des Unionsvertrags erforderlichen Änderungen - nicht nur zahlreiche Verfassungsänderungen erfolgt, die von nialisierung auf der speziellen Basis des heute nicht mehr existierenden Art. 85 der Verfassung vorgenommene Änderung, s. den Überblick bei Maestre Melanges Kayser Bd. 2 (1979), 213 ff; nur die Änderungen von 1962 und 1974 waren tatsächlich von Bedeutung; aber auch die eher technischen Modifikationen haben jedesmal eine erregte Diskussion ausgelöst, dazu etwa Mengel JöR n.F. 30 (1981), 21 (22 fi). m Ardant in: La revision (1993),79 (82) zählt 19 Verfassungsänderungen in 2 Jahrhunderten, gegenüber 15 vollständig neuen Verfassungen in diesem Zeitraum: offensichtlich, so seine Schlußfolgerung, war die Lebensdauer der einzelnen Verfassungen zu gering, um Anpassungsbedarf auszulösen. 436 CC 6.11.1962 No 62-20 DC - Loi referendaire, Rec. S. 27 = GDCC Nr. 14, S. 180; s. bereits oben 3. Kap. A. I. 2. c) bb).
A. Materielle Rechtslage
167
punktuellen Ergänzungen des Verfassungstextes bis zu einer grundsätzlichen Überprüfung der Institutionen der 5. Republik reichten 437 • Diese Änderungen sind zudem allesamt in dem zuvor als in wichtigen und potentiell kontroversen Fragen kaum einsetzbar angesehenen 43K Verfahren nach Art. 89 der Verfassung erfolgt. Im Rückblick erscheint die Verfassungsänderung zur Ratifikation des Unionsvertrags in dieser Hinsicht als Dammbruch. Die Häufung der Verfassungsänderungen in neuerer Zeit mag zum Teil Folge des im Vergleich hohen Alters der Verfassung der 5. Republik und des damit deutlicher empfundenen Anpassungsbedarfs sein. Zum Teil ist sie aber auch eine logische Konsequenz der Verrechtlichung439 und der damit einhergehenden "Verhärtung" des Verfassungs lebens durch die entwickelte verfassungsgerichtliche Kontrolle440 .
437 So in chronologischer Reihenfolge: - Loi constitutionnelle No 92-554 du 25.6.1992 ajoutant a la Constitution un titre: "Des Communautes europeennes et de l'Union europeenne", JORF 26.6.1992, S. 8406; - Loi constitutionnelle No 93-952 du 27.7.1993 portant revision de la Constitution du 4 octobre 1958 et modifiant ses titres VIII, IX, X et XVI, JORF 28.7.1993, S. 10600 (zu dieser auf den "Rapport Vedel" zurückgehenden Änderung s. noch unten 3. Kap. B. I. 4. a) dd); - Loi constitutionnelle No 93-1256 du 25.11.1993 relative aux accords internationaux en matiere de droit d'asile, JORF 26.11.1993, S. 16296; - Loi constitutionnelle No 95-880 du 4.8.1995 portant extension du champ d'application du referendum, instituant une session parlementaire ordinaire unique, modifiant le regime de I'inviolabilite parlementaire et abrogeant les dispositions relatives a la Communaute et les dispositions transitoires, JORF 5.8.1995, S. 11744; zuletzt: - Loi constitutionnelle No 96-138 du 22.2.1996 instituant les lois de financement de la securite sociale, JORF 23.2.1996, S. 2911. 438 So noch im Jahr 1992 trotz der bereits im Rahmen der Ratifikation des Unionsvertrags erfolgten Änderungen die Einschätzung von Boulouis Journees Soc. leg. comp. 1992,399 (404): "On s'accorde en effet pour penser que cette procedure rend la revision pratiquement impossible, ce que confirmeraient les avortements et les echecs de 1973, 1974, 1984 et 1990 et que n'infirme pas la revision de 1992 en raison de son caractere particulier." Ebenso etwa Lascombe RRJ 1991, 653 (669 ff). 439 "Juridicisation", auch dieser - regelmäßig noch mit AnfUhrungszeichen versehene Begriff scheint durch Favoreu in die Debatte eingeführt worden zu sein, so zumindest Avril RDP 1984,573 (583) unter Verweis auf Favoreu Pouvoirs Nr. 13, 1980, 17 (23); s. auch Jeanneau RDP 1989, 635 (636) zur "juridicisation" der DDH; Chevallier RDP 1988,311 (347); Roussillon, Diskussionsbeitrag in: Conac / Maus (1990), 132. 440 So bündig Fromont FS Mosler (1983); 221 (239): "L'institution d'une justice constitutionnelle en France a eu pour effet de donner au droit constitutionnel fran~ais une precision et une rigueur qu'i\ n'avaitjamais eue."
168
3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
b) Die Verfassungsänderung als Antwort auf verfassungsger ichtliche Erkenntnisse?
Verfassungsänderungen galten allerdings - trotz der deutlichen Hinweise auf ihre Möglichkeit gerade in solchen Fällen etwa in Art. 54 der Verfassung - vielfach insbesondere dort als inopportun, wo sie der "Überstimmung" des Verfassungsgerichts dienen sollten 441 • Unumstritten war diese Auffassung aber nicht: Gerade die Beflirworter der mit der Aktivität des Conseil constitutionnel verbundenen Verrechtlichung des Verfassungs lebens verweisen - wohl auch zur Beruhigung der Kritiker dieser Entwicklung442 - immer wieder darauf, daß der Spruch der Verfassungsrichter nicht das letzte Wort sei, sondern vom Volkssouverän - in der Gestalt des verfassungsändernden Gesetzgebers - korrigiert werden könne 443 • Die Frage der inhaltlichen Verfassungsmäßigkeit von Gesetz oder Vertrag wird dabei teils - unter Berufung auf Kelsen 444 - zu einer reinen Zuständigkeits- und Verfahrensfrage herabgestuft: Für den Erlaß als verfassungswidrig erkannter Regelungen sei eben nicht der einfache, sondern der verfassungsändernde Gesetzgeber zuständig445 • Praktische Bedeutung haben diese Überlegungen freilich über lange Zeit nicht erreicht: Die "Überstimmung" des Conseil constitutionnel im Verfahren der Verfassungsänderung nach Art. 89 der Verfassung galt als praktisch ausgeschlossen, da sie die Zustimmung des Senats voraussetzt, dieser aber aufgrund seines Selbstverständnisses als Verteidiger der bürgerlichen Freiheiten einer Desavouierung des Conseil constitutionnel nicht zustimmen würde 446 • Als AI-
Favoreu Pouvoirs Nr. 67, 1993,71 (73) spricht von einer "banalisation" sowohl der verfassungsgerichtlichen Kontrolle als auch - mit dieser Justiziabilität verknüpft - von Verfassungsänderungen in Weste uropa; s. auch ders. in: Cours constitutionnelles et droits fondamentaux (1982), 25 (40) sowie nochmals ders. AUC 1994, \05 (113 f). 441 Garrigou-Lagrange RDP 1986,647 (677 - 683); s. auch noch Rousseau RDP 1994, \03 (105,128 ff); Pollmann RDP 1994,1079 (1126 ff); Duverger le Monde 3.9.1993, S.
2: "Eviter la revision atout prix". 442 So offen Vedel Pouvoirs Nr. 45, 1988, 149 (150): "un discours d'apaisement"; ähnlich ders. RFDA 1992, 173 (179 f). 443 Zuletzt Favoreu RIDC 1994,557 (578); ders. AUC 1994, 105 (114): "la legitimite dujuge constitutionnel tient a ce qu' il n' a pas le dernier mot." 444 Kelsen RDP 1928, 197 (206): "L'inconstitutionnalite materielle est en derniere analyse une inconstitutionnalite formelle".
445 So Favoreu RDP 1982, 377 (419 f); ders. RGDIP 1993, 39 (59 f); ders. RIDC 1994,557 (578 f); Vedel Pouvoirs Nr. 45, 1988, 149 (151 ff); ders. in: La Declaration (1989),35 (72); ders. RFDA 1992, 173 (179 f). 446 Garrigou-Lagrange RDP 1986,647 (679 f).
A. Materielle Rechtslage
169
temative wurde deshalb sogar ein "Unterlaufen" des Conseil constitutionnel durch den Erlaß beanstandeter Nonnen als einfache Gesetze im Wege der - vom Conseil constitutionnel nicht kontrollierten 447 - Volksgesetzgebung nach Art. 11 der Verfassung vorgeschlagen448 • Inzwischen hat sich die Lage jedoch auch insoweit tiefgreifend verändert: Die Volksvertretung in ihrer Fonnation als verfassungsändernder Gesetzgeber hat dieses letzte Wort gegenüber dem Verfassungsrichter449 im Verfahren nach Art. 89 der Verfassung seit 1992 zweimal in Anspruch genommen. Erstmals geschah dies mit der Verfassungsänderung vom 25.6.1992 45 °, die im Gefolge der 1. Maastricht-Entscheidung des Conseil constitutionnel die Ratifikation des Unionsvertrags ennöglichte; der Vorgang wiederholte sich bereits kurz darauf ein weiteres Mal mit der Verfassungsänderung vom 25.11.1993, die entgegen der Entscheidung vom 13.8.1993 eine vollwertige Teilnahme Frankreichs an den Asylrechts-Mechanismen des Schengener Systems ennöglichen sollte 451 • Der erste dieser Fälle, der die nach der Entscheidung vom 9.4.1992 zur Ratifikation des Unionsvertrags erforderlich gewordenen Verfassungsänderungen betrifft, kann allerdings nicht als echte "Überstimmung" des Verfassungsgerichts durch den verfassungsändernden Gesetzgeber eingeordnet werden: Schon
447
s.o. 3. Kap. A. I. 2. c) bb).
448 So Philip RDP 1983, 401 (417 t); ablehnend gegenüber einer solchen Umgehung Favoreu Melanges Duverger (1987), 79 (87 ff m.w.N.): "detournement de procedure"; bedingt zustimmend dagegen Garrigou-Lagrange RDP 1986,647 (684 ff, 689); unklar bleibt allerdings, warum dann nicht gleich zum auch materiellrechtlich verfassungsändernden Referendum gegriffen werden sollte. 449 Das letzte Wort des Gesetzgebers gegenüber dem Verwaltungsrichter dagegen ist eine bekannte Erscheinung: vom CE als rechtswidrig verworfene Verordnungen werden als Gesetz erneut erlassen; zu dieser Praxis der "validations h:gislatives" s. noch unten 3. Kap. B. II. 4. b) m.w.N. Seit das Gesetz selbst Gegenstand der Überprüfung durch den CC ist, muß auch in solchen Fällen ggf. zur Verfassungsänderung gegriffen werden: so etwa, wenn sich ein vom CE angewandtes "principe general du droit" auf der Ebene der Verfassung wiederfindet. Prononciert dazu Turpin Contentieux constitutionnel Rn 291, S. 472: "Par sa decision 71-44 DC [liberte d'association, s.o. 3. Kap. A. I. 2. b) bb) ß)) en effet, le CC mit fin a la manceuvre classique consistant a en appeler a une majorite politique d'une censure previsible par le CE en transformant une vile pratique administrative en disposition legislative incontestable." 450 Loi constitutionnelle No 92-554 du 25.6.1992 ajoutant a la Constitution un titre: "Des Communautes europeennes et de l'Union europeenne", JORF 26.6.1992, S. 8406; zum Text s. bereits oben 2. Kap. B. I. I. mit Fn 63 f. 451 Loi constitutionnelle No 93-1256 du 25.11.1993 relative aux accords internationaux en matiere de droit d'asile, JORF 26.11.1993, S. 16296; dazu Grewe / Weber EuGRZ 1993,496 (498 t).
170
3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
das Verfahren nach Art. 54 der Verfassung, in dem die Entscheidung erging, ist nach dem Wortlaut auf die Perspektive einer Verfassungsänderung angelegt452 , die eine Ratifikation dennoch ermöglichen soll, wenn die politischen Mehrheiten flir die erforderliche Änderung der Verfassung vorhanden sind. Auch ist daran zu erinnern, daß die Maastricht I - Entscheidung paradoxerweise die erste offen integrationsfreundlich inspirierte Entscheidung des Conseil constitutionnel war. Die Problematik der Verfassungsänderung zur Ermöglichung der Ratifikation des Unionsvertrags lag hier also nicht in einem Konflikt mit dem Conseil constitutionnel, sondern eben in der Notwendigkeit, die für die Änderung erforderlichen politischen Mehrheiten zu sichern. In diesem Zusammenhang hat die Regierung tatsächlich damit gedroht, gegen die eigene Überzeugung die Verfassungsänderung durch ein Referendum auf der Grundlage von Art. ll der Verfassung vorzunehmen 453 - allerdings nicht um eine Kontrolle durch den Conseil constitutionnel zu unterlaufen, sondern um Widerstände im Parlament zu überwinden. Die Verabschiedung der zur Ratifikation erforderlichen Verfassungsänderungen im parlamentarischen Verfahren gemäß Art. 89 der Verfassung wurde schließlich durch Hinzufügung weiterer Änderungen der Regierungsvorlage "erkauft", die ursprünglich nur die später zu Art. 88-2 und 88-3 der Verfassung gewordenen Vorschriften enthalten und so auf die konkreten Beanstandungen des Conseil constitutionnel hinsichtlich Währungsunion, Visapolitik und Kommunalwahlrecht reagiert hatte454 • Erst in den folgenden Beratungen wurde die Erweiterung von Art. 54 der Verfassung 455 , die besondere Hervorhebung des Schutzes der französischen Sprache durch Ergänzung von Art. 2 der Verfassung456 , die Beteiligung des Parlaments an der Entwicklung der französischen Position zum Sekundärrecht durch den 452 Abraham Droit international S. 37; Pollmann RDP 1994, 1079 (1128); Favoreu AUC 1994, 105 (106). 453
Avrill Gicquel RFDC 1992, 439 (440).
s. Rideau RAE 3 / 1992, 7 (33 f); zum Text der Bestimmungen s. bereits oben 2. Kap. B. I. 1. mit Fn 63. 454
455
Dazu bereits oben 2. Kap. A. 11. 2. mit Fn 51 und noch unten 3. Kap. B. l. 1. a).
Zu diesem Aspekt der Verfassungsänderung etwa Roland Debbasch RFDC 1992, 457 ff; Luchaire RDP 1992, 956 (975 f); der CC hat diese Vorschrift in der Folge nicht als Freibrief flIr gesetzliche Reglementierungen des Sprachgebrauchs verstanden, sondern eine Abwägung mit der in Art. 11 der DDH geschützten Meinungsfreiheit vorgenommen, s. CC 29.7.1994 No 94-345 DC - Loi relative a I'emploi de la langue fran"aise, Rec. S. 106 = AJDA 1994, 731 m.Anm. Wachsmann = JCP 1995 11 22359 m.Anm. Roland Debbasch; zur Hypothese eines Konflikts dieser Bestimmung mit dem Gemeinschaftsrecht s.u. 3. Kap. B. l. 4. b) bb) ß) mit Fn 294. 456
A. Materielle Rechtslage
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neuen Art. 88_4 457 und die starke Stellung des Senats bei der gesetzlichen Umsetzung des Kommunalwahlrechts für EG-Bürger45K angefügt; dazu kam die allgemeine Beschreibung der europäischen Integrationsprozesses im neuen, ebenfalls nachträglich angefugten Art. 88-1 der Verfassung459 • Gerade diese Ergänzung, der wohl auch die Funktion einer Absicherung gegen das Abgleiten in den europäischen Bundesstaat zugedacht war460 , hat allerdings ein ausgesprochen "gemeinschaftsfreundliches" Interpretationspotential461 • Der zweite Fall einer "Überstimmung" des Verfassungsgerichts durch den verfassungsändemden Gesetzgeber fand allerdings tatsächlich in der brisanten Atmosphäre eines Verfassungskonflikts zwischen Conseil constitutionnel und Regierung statt, der in dieser Schärfe seit den Nationalisierungs-Entscheidungen von 1981 nicht mehr aufgetreten war462 : Die EinfUgung von Art. 53-1 n.F. der Verfassung463 hatte ausdrücklich zum Ziel, die in der Entscheidung vom 13.8.1993 464 verfUgte Aufrechterhaltung der nationalen Asylrechtsgarantie auch unter den Bedingungen des Schengener Abkommens 465 zu korrigieren. Tatsächlich wurden die vom Conseil constitutionnel mit der Entscheidung vom 13.8. 1993 als verfassungswidrig verworfenen Gesetzesbestimmungen unter dem Schirm dieser Verfassungsänderung nochmals erlassen 466 •
457 Avril / Gicquel RFDC 1992,439 (453 ft); s. auch schon oben 3. Kap. A. II. 2. a) bb) y) mit dem Text der Bestimmung in Fn 356 u. 358. 458 s. Luchaire RDP 1992, 956 (968 ft); Avril / Gicquel RFDC 1992, 439 (449 ft).
Zum Text der Bestimmung s. bereits oben 2. Kap. B. 1. 1. mit Fn 64. 460 s. Luchaire RDP 1992, 956 (957 t); de Berranger Constitutions nationales S. 89; Rideau RAE 3 / 1992, 7 (37); Blumann RMC 1994, 393 (399); kritisch zur "banalisierenden" Beschreibung des Integrationsprozesses im neuen Art. 88-1 der Verfassung auch Genevois RFDA 1992,937 (947 t); Oliver 43 ICLQ (1994), 1 (17). 461 Dazu etwa Rideau RAE 3 / 1992, 7 (37) sowie im Einzelnen unten 3. Kap. B. 1. 4. b) bb) ß) und 6. Kap. B. IV. 462 Dazu etwa de Berranger Constitutions nationales S. 271 ff; Rousseau RDP 1994, 103 (104 ft). 463 Zum Text der Bestimmung s. bereits oben 2. Kap. B. 1. 2. mit Fn 65. 459
464 CC 13.8.1993 No 93-325 DC - Maitrise de l'immigration, Rec. S. 224 = ODCC Nr. 46, S. 817; dazu m.w.Nachw. unten 3. Kap. B. 1. 3. b) bb) ß). 465 Ein Konflikt mit diesem bereits ratifizierten Abkommen lag allerdings - anders als in der Diskussion um die Verfassungsänderung vielfach behauptet - nicht vor, s. dazu ausflihrIich unten 3. Kap. B. 1. 3. b) bb) ß). 466 Loi No 93-1417 du 30.12.1993 portant diverses dispositions relatives a la maitrise de I'immigration et modifiant le code civil, JORF 1.1.1994, S. 11; dazu etwa Fromont FS Bernhardt (1995),1177 (1189 t).
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
2. Verfassungsrechtliche Schranken der Verfassungsänderung?
a) Die traditionelle Lehre: Umfassende Verfügbarkeit der Verfassungsinhalte Während die Diskussion in der Literatur zu den verfassungsrechtlichen Schranken der Integration v.a. auf die Entwicklungen in der Rechtsprechung des Conseil constitutionnel reagieren konnte, fehlte rur das Problem der Grenzen einer Verfassungsänderung jegliches Anschauungsmaterial aus der Rechtsprechung. Angesichts der Seltenheit des Phänomens von Verfassungsänderungen überhaupt war es nach heftigem Streit im 19. Jahrhundert auch in der Literatur still um diese Problematik geworden 467 • Noch im Jahre 1990 konnten Badinter und Genevois in ihrem Landesbericht rur die achte Konferenz der europäischen Verfassungsgerichte468 daher feststellen, daß die Lehre sich über die umfassende Verfügbarkeit der Verfassungsinhalte einig sei 469 : Ungeschriebene inhaltliche Schranken der Verfassungsänderung existierten nicht, und selbst die einzige positiv gesetzte inhaltliche Schranke, die in Art. 89 Abs. 5 der Verfassung der 5. Republik470 festgeschriebene "Fonne republicaine du Gouvernement", könne in einem zweistufigen Verfahren überwunden werden. Nach einer Aufhebung des Art. 89 Abs. 5 durch eine erste Verfassungsänderung, mit der diese fonnale Schranke beseitigt würde, stünde im zweiten Schritt einer nunmehr ungebundenen inhaltlichen Verfassungsänderung etwa zur Wiedereinführung der Monarchie nichts mehr im Wege 47 \.
467 468
So das Fazit von Rigaux Limites materielles (1985),68: "desinteret marque". RUDH 1990, 258 (259).
469 Schlicht falsch daher die apodiktische (und auch unbelegte) Behauptung von Henrichs DÖV 1994, 368 (370), wonach die französische Rechtsordnung zahlreiche Grundprinzipien kenne, die auch im Wege einer Verfassungsänderung nicht preisgegeben werden könnten. 470 Art. 89 Abs. 5 der Verfassung: "La forme republicaine du gouvernement ne peut faire l'objet d'une revision." Die Bestimmung entspricht Art. 95 der Verfassung der 4. Republik und geht inhaltlich auf Art. 2 des Verfassungsgesetzes vom 14.8.1884 zurück, s. Rigaux Limites materielles (1985), 61 - 68; vergleichend zu dieser und ähnlichen "Ewigkeitsklauseln" Häberle FS Haug (1986), 81 ff. 47\ So vor allem immer wieder Vedel: Pouvoirs Nr. 67, 1993, 79 (90); ders. RFDA 1992, 173 (178 ff) sowie schon zu Art. 95 der Verfassung der 4. Republik ders. Droit constitutionnel (1949), 117; zustimmend Roy RDP 1980, 687 (691 f); Luchaire Journees Soc. Leg. comp. 1990, 11 (14 f); ders. RDP 1992, 1587 (1591): "une barriere de papier".
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Die Begründung dieser über lange Zeit fast allgemein vertretenen Auffassung erschöpfte sich allerdings in der Rezeption 472 der im 19. Jahrhundert entwickelten Positionen zur VorsteIlbarkeit von über der Verfassung stehendem Naturrecht473 • Im Hintergrund des Streits stand damals die Frage nach der Fortgeltung der Menschenrechtserklärung von 1789, auf die die Verfassungsgesetze von 1875 anders als frühere Verfassungen nicht mehr Bezug genommen hatten. Vor allem Leo Duguit und Maurice Hauriou hatten damals den Über-Verfassungsrang ("supraconstitutionnalite"474) der Menschenrechtserklärung postuliert, waren damit aber auf die ganz überwiegende Ablehnung der Literatur gestoßen. Die dabei zum Ausdruck kommenden Vorbehalte gegen die Vorstellung eines änderungsfesten Kerns der Verfassung lassen sich wohl zum Teil auch "psychologisch"-empirisch erklären: Zum einen sprach die regelmäßig geringe Lebensdauer475 französischer Verfassungen schon rein tatsächlich gegen die Vorstellung eines dauerhaften Kerns; zudem enthielten die Verfassungen sowohl der die Diskussion prägenden - 3., aber auch der 4. Republik im wesentlichen keine inhaltlichen Vorgaben, sondern vor allem eher technische Staatsorganisationsregeln 476 , die schon nach ihrem eigenen Anspruch keine dauerhafte Verbindlichkeit nahelegten.
So die Einschätzung von Favoreu Pouvoirs Nr. 67, 1993,71 (73). Dazu etwa Philip in: Droit constitutionnel et droits de I'homme (1987), 249 (255 f); Rials RDP 1984, 587 (589 ff). 474 So der allgemein verwandte Begriff; er erscheint (systemwidrig) auch in Beiträgen, die das Problem durchaus auch als Frage einer Hierarchie innerhalb der Verfassung erkennen und behandeln; s. etwa Favoreu Pouvoirs Nr. 67, 1993, 71 (74); ders. AUC 1994, 105 (117 f); eine klare terminologische Unterscheidung bei der Konzepte findet sich dagegen bei Grewe RFDC 1992,413 (422). 475 s. Rivero Pouvoirs Nr. 13, 1980, 5 (7); ders. RIDC 1977, 9 (22 f); s. dazu auch die apodiktische Einschätzung von Starck in: Starck / Weber (1986), 11 (31): "In Frankreich lösten in der Folge der politischen Ereignisse Konstitutionen und Charten einander ab, deren Vorrang in der Praxis nicht schUtzenswert erscheinen konnte ... " sowie den Beitrag von Vedel Melanges Waline Bd. 2 (1974), 777 ffunter dem an Otto Mayer erinnernden Titel: "Discontinuite du droit constitutionnel et continuite du droit administratif'. 476 Rivero aaO (vorige Fn); zur Überwindung dieses rein institutionnellen Verfassungsverständnisses im Gefolge der Grundrechtsrechtsprechung des CC s. Rousseau RDP 1990, 5 ff unter dem pathetischen, aber nicht ungerechtfertigten Titel: "Une resurrection: la notion de constitution" in bewußten Kontrast zum Titel des Beitrags von Burdeau zu den Melanges Mestre (1956), 53 ff: "Une survivance: la notion de Constitution". Favoreu Pouvoirs Nr. 13, 1980, 17 (23) weist darauf hin, daß es sich hier nur um eine Rückkehr zu den Quellen handele: angelegt ist diese Verbindung schon in Art. 16 der Menschenrechtserklärung von 1789. 472 473
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
Dogmatisch verbindet sich die Ablehnung der Vorstellung eines änderungsfesten Verfassungskerns regelmäßig mit der Gleichsetzung dieser Vorstellung mit überwiegend als undemokratisch abgelehnten naturrechtlichen Ansätzen. Regelmäßig schwingt der Verdacht mit, daß hier mit willkürlich behaupteten 477 ewigen Wahrheiten der Volkssouverän folgender Generationen gebunden werden soll: Selbst Grundrechtsgehalte sind nach dieser, ebenfalls durch die Auseinandersetzung mit der Menschenrechtserklärung von 1789 geprägten478 Argumentation wandelbar und zeitabhängig. Klassischer Ausdruck dieser GrundeinsteIlung bleibt Artikel 28 der Menschenrechtserklärung von 1793: "Ein Volk hat immer das Recht, seine Verfassung zu überprüfen, zu ändern oder zu wechseln. Keine Generation kann die Folgenden ihren Gesetzen unterwerfen"479. Positiv mündet diese Haltung in ein abweichendes Verständnis der Unterscheidung zwischen Verfassungs geber und verfassungsänderndem Gesetzgeber: Der begriffliche Unterschied zwischen "pouvoir constituant (originaire)" und "pouvoir constituant (derive)" ist zwar bekannt4Ko . Während schon die Terminologie in der deutschen Verfassungssituation aber ein hierarchisches Verhältnis zu suggerieren scheint481 , legt bereits der französische Sprachgebrauch ein anderes Verständnis nahe. Seide Gewalten sind danach jeweils unmittelbarer Ausdruck der Volkssouveränität und haben daher dieselbe Machtfl1lle 482 ; der pouvoir constituant derive gehört nicht zu den pouvoirs constitues. In ihrer extremen Ausprägung stellt diese Haltung allerdings auch die Legitimität der Kon-
477 Vedel Pouvoirs Nr. 67, 1993, 79 (80): der sich auf Naturrecht berufende Richter müsse erklären, "de quelle nuee iI a re9u la revelation des Tables de la Loi". Ähnlich Arne RDP 1993, 459 ff. 478 s. nur Vedel Pouvoirs Nr. 45, 1988, 149 (153, 155); so wurde etwa im Streit um die Verstaatlichungen zu Beginn der achtziger Jahre durchaus zu Recht gefragt, ob das Eigentumsrecht heute noch - wie in Artikel 17 der Menschenrechtserklärung formuliert als "droit inviolab1e et sacre" zu begreifen ist.
479 "Un peuple a toujours le droit de revoir, de reformer et de changer sa Constitution. Une generation ne peut assujettir a ses lois les generations futures." 480 Zu diesem Sprachgebrauch Beaud LPA 1993 Nr. 39, 31.3.1993, 14. 481 s. nur Maunz / Dürig (-Dürig) Rn 22 f zu Art. 79 GG. 482 Grewe / Ruiz Fabri Droits constitutionnels europeens Rn 49, S. 62; bes. deutlich Vedel RFDA 1992, 173 (179): "Le pouvoir constituant derive n'est pas un pouvoir d'une autre nature que le pouvoir constituant initial: la Constitution lui donne sa procedure ( ... ) elle ne borne point son etendue (car meme la prohibition concernant la forme republicaine du gouvernement portee a l'articIe 89, dernier alinea, serait tenue en echec par une revision de ce dernier alinea)."
A. Materielle Rechtslage
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trolle des einfachen Gesetzgebers am Maßstab der Verfassung in Frage: Auch dieser ist ja gleichermaßen demokratisch legitimiert4R3 • In der traditionell in Frankreich vorherrschenden Auffassung verbinden sich damit positivistische Grundhaltung und die Vorstellung einer dauernden Demokratie, in der zu jedem Zeitpunkt die (verfassungsändernde) Mehrheit die staatlichen Grundlagen vollständig neu ordnen kann 484 . b) Die neuere Auffassung: Existenz eines änderungs/esten Ver/assungskerns
aa) Dogmatische Begründung Diese neuere, ersichtlich von earl Schmitt485 begründete Auffassung begründet die Annahme eines änderungsfesten Verfassungskerns nicht mit der Existenz metajuristischer, "überverfassungsrechtlicher" Wahrheiten ("supraconstitutionnalite"), sondern aus dem Begriff der Verfassung selbst: Diese hat einen Geltungs- und Ordnungsanspruch, der sie qualitativ - und nicht nur im hierarchischen Standort - von einfachen Gesetzen unterscheidet. Die in ihr enthaltenen und sie prägenden, "ihre Identität begründenden"486 Grundentscheidungen 487 können nicht geändert - oder auch nur auf Dauer auch ohne formale Änderung tatsächlich mißachtet - werden, ohne daß dieser Geltungsanspruch selbst verletzt würde.
483 s. Favoreu AUC 1994, 105 (118): "Tout d'abord a I'argument selon lequelle pouvoir constituant est souverain, n'a-t-on pas dit la meme chose longtemps en France pour le pouvoir legislatif?" 484 So die Analyse von Grewe I Ruiz Fabri Droits constitutionnels europeens, Rn 49, S. 62; deutlich etwa bei Vedel Pouvoirs Nr. 67, 1993, 79 ff, der die Schrankenlosigkeit des verfassungsändernden Gesetzgebers erst positivistisch, dann mit dem demokratischen Argument rechtfertigt. 485 Verfassungslehre (1928), 102 ff; in der - von dem dort entwickelten Verfassungsverständnis geprägten - Diskussion um den Fortbestand der DDR-Verfassung trotz Streichung ihrer prägenden sozialistischen Inhalte hat diese Wurzel allerdings kaum Erwähnung gefunden; s. zusammenfassend H. H. Klein FS Lerche (1993), 459 ff. 486 s. dazu im Kontext von Art. 79 Abs. 3 GG: Stern Staatsrecht Bd. 1, S. 167 ff; v. Münch I Kunig (-Bryde) Rn 24 f zu Art. 79 GG; im Zusammenhang der europäischen Integration Paul Kirchhofin: HStR VII § 183, Rn 58 ff. 487 Schwer nachvollziehbar wird dies freilich für Verfassungen, die - wie die Verfassungsgesetze von 1875 - auf Grundentscheidungen gerade verzichten; s. nur - mit Bezug auf die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze - Rivero Pouvoirs Nr. 13, 1980, 5 (7).
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
Mit dieser Vorstellung wird auch nicht der unmögliche Versuch unternommen, den in der jeweiligen Verfassung enthaltenen Wertentscheidungen Verbindlichkeit auf Ewigkeit zu verleihen. Die von einer Generation geschaffene Verfassung kann dennoch von der nächsten wieder beseitigt werden, aber dieser Bruch ist dann in seiner Radikalität klar gekennzeichnet: als Revolution nämlich, die den Ausbruch aus der bestehenden Ordnung bedeutet und "reinen Tisch" fur die neue, nunmehr tatsächlich rechtlich vollständig ungebundene Constituante schafft. Diese neuere Theorie hat somit den Vorteil der Klarheit in der Analyse des tatsächlichen Geschehens: Ein grundlegender Systemwechsel kann nicht mehr als bloße - per definitionem system immanente - Verfassungsänderung dargestellt werden, sondern ist zumindest im nachhinein als Neuanfang identifizierbar48K • Die tatsächliche Möglichkeit des Systemwechsels wird damit nicht in Abrede gestellt, eine unentrinnbare Bindung der nachfolgenden Generationen nicht behauptet. Nur kann dieser Wechsel nicht durch den verfassungsändernden Gesetzgeber erfolgen, sondern geschieht auf neuer Grundlage und ohne scheinbare, durch Beachtung der Verfahrens be stimmungen der alten Verfassung optisch hergestellte Kontinuität zum "ancien regime". Diese Auffassung hat in der Diskussion um die Ratifikation des Unionsvertrags nun auch in Frankreich an Boden oder zumindest an Bekanntheit gewonnen 489 •
bb) Ein Präzedenzfall in der französischen Rechtsordnung: Das Verfassungsgesetz vom 3.6.1958 Auch die jüngere französische Verfassungsgeschichte bietet mit dem Verfassungsgesetz vom 3.6.1958 490 einen in dogmatischer Hinsicht wenig beachteten 488 s. Maunz / Dürig (-Dürig) Rn 28 zu Art. 79 GG; in neuerer Zeit deutlich H. H. Klein FS Lerche (1993), 459 ff. 489 Vgl. v.a. die Beiträge von Beaud RFDA 1993, \045 ff; ders. LPA 1993 Nr. 39, 31.3.1993, S. 14 ff; ders. LPA 1993 Nr. 40, 2.4.1993, S. 7 ff, der nicht von ungefahr immer wieder auf die parallele Diskussion in Deutschland verweist, so z.B. auf den Beitrag von Murswiek Staat 1993, 161 ff. Zur parallelen Diskussion um einen änderungsfesten Kern des Gemeinschaftsrechts im Gefolge von EuGH 14.12.1991 Gutachten 1 / 91 - EWR-Abkommen, Sig. 1991, I - 6079 (insbes Tz. 69 ff) s. Simon / Rigaux Europe 2 /1992, 1 (4); Boulouis RTDE 1992,457 (462); Dutheil de la Rochere RMC 1992, 603 (607); Cruz Vilarya / Piryarra CDE 1993,3 ff; Bieber RMC 1993,343 (348 f); Curtin 30 CMLRev (1993),17 (63 f); Heintzen EuR 1994,35 ff; Herdegen FS Ever\ing Bd. 1 (1995),447 ff. 490 Loi constitutionnelle du 3.6.1958 portant derogation transitoire aux dispositions de l'articJe 90 de 1a Constitution, JORF 4.6.1958, S. 5326:
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Präzedenzfall: In diesem Gesetz, das den Übergang von der 4. zur 5. Republik organisierte und die Ausarbeitung der neuen Verfassung außerhalb des von der Verfassung der 4. Republik vorgesehenen parlamentarischen Rahmens erlaubte, waren zugleich die inhaltlichen Grenzen gezogen, die auch der neue Verfassungsentwurf beachten müsse: Volkssouveränität, Gewaltentrennung zwischen Legislative und Exekutive, Unabhängigkeit der Justiz, Schutz der Grundrechte ein "harter Kern" der Vorstellungen von einem gerechten Staatswesen also, der Art. 79 Abs. 3 GG äußerst ähnlich sieht. Als geltende Benennung eines unantastbaren, auch vor Verfassungsänderungen geschützten Kerns ist dieses Gesetz aber heute wohl nicht mehr einsetzbar49 1, da die Verfassung von 1958 mit dem Referendum über ihre Annahme eine eigene, von den Bedingungen ihrer Entstehung in der 4. Republik unabhängige Legitimitätsgrundlage erhalten hat. Das Verfassungsgesetz vom 3.6.1958 dürfte mit der Verkündung der neuen Verfassung am 4.10.1958 seine Geltung verloren haben 492 • Als Schranke für Verfassungsänderungen unter der 5. Republik ist es damit nicht mehr unmittelbar einsetzbar. Es behält aber seine mittelbare Bedeutung als Auslegungshinweis für die Verfassung der 5. Republik, da den Schöpfern der Verfassung von 1958 nicht unterstellt werden kann, daß sie die durch das Gesetz vom 3.6.1958 beschriebenen Grenzen ihres Mandats mißachten wollten 493 • "Article Unique. Par derogation aux dispositions de son article 90, la Constitution sera revisee par le gouvernement investi le 1er juin et ce, dans les formes suivantes: Le gouvernement de la Republique etablit un projet de loi constitutionnelle mettant en reuvre les principes ci-apres: 1. Seul le suffrage universei est la source du pouvoir. C'est du suffrage universei ou des instances elues par lui que derivent le pouvoir legislatif et le pouvoir executif; 2. Le pouvoir executif et le pouvoir legislatif doivent etre effectivement separes de fat;on que le gouvernement et le parlement assument chacun pour sa part et sous sa responsabilite la plenitude de leurs attributions; 3. Le gouvernement doit etre responsable devant le Parlement; 4. L'autorite judiciaire doit demeurer independante pour etre a meme d'assurer le respect des Iibertes essentielles teiles qu'elles sont definies par le preambule de la Constitution de 1946 et par la Oeclaration des droits de I'homme a laquelle iI se refere; 5 .... [durch die Entkolonialisierung überholt] ... ". s. in neuerer Zeit dazu Zimmer ROP 1995, 383 ff (insbes 403 fi).
491 So apodiktisch Vedel Pouvoirs Nr. 67, 1993, 79 (90): die in diesem Gesetz niedergelegten Strukturprinzipien könnten unter der neuen Verfassung der 5. Republik ohne weiteres abgeschafft werden. 492 So etwa Genevois in: L'ecriture de la Constitution (1992), 483 (485 Fn 5). 49) So Genevois aaO (vorige Fn). So begründet z.B. Franck Anm. zu CC 8.7.1989 No 89-258 OC - Loi d'amnistie, JCP 1990 II 21409 den Verfassungsrang der Gewaltentrennung durch Verweis auf das Gesetz; auch der CE hat in einer Entscheidung aus den 12 Gundei
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
3. Die Position des Conseil constitutionnel: Die Maastricht lI-Entscheidung vom 2.9.1992
Rechtsprechung zu inhaltlichen oder auch nur verfahrensrechtlichen Schranken einer Verfassungsänderung lag seitens des Conseil constitutionnel bisher nicht vor: Im einzigen einschlägigen Verfahren, in dem zudem vor allem das Verfahren der Änderung - auf dem Wege der Volksabstimmung gemäß Art. 11 der Verfassung statt im zumindest halb-parlamentarischen Verfahren nach Art. 89 - streitig war49\ hatte er in der berühmten Entscheidung vom 6.11.1962 seine Zuständigkeit verneint, da die Kontrolle der unmittelbaren Volkgesetzgebung nicht zu seinen Aufgaben gehöre 495 • Auf der Linie der streng positivistischen Auffassung liegt es denn auch, die Zuständigkeit des Conseil constitutionnel zur Überprüfung verfassungsändernder Gesetze (Lois constitutionnelles) im Rahmen von Art. 61 Abs. 2 der Verfassung generell zu vemeinen 496 : In Ermangelung einer Rangordnung innerhalb der Verfassung wäre die Vorstellung einer solchen Kontrolle ja auch widersprüchlich und allenfalls hinsichtlich der Einhaltung des Verfahrens denkbar. In neuerer Zeit wird dagegen mehrheitlich die Überprütbarkeit verfassungsändernder Gesetze bejaht, soweit diese im rein parlamentarischen Verfahren (Kongress) ergehen 497 - sei es, weil diese Gesetze in Art. 61 Abs. 2 nicht
Anfangsjahren der 5. Republik ausdrücklich Bezug auf das Gesetz vom 3.7.1958 genommen, CE Ass. 2.3.1962 - Rubin de Servens, Rec. S. 143 = GAJA Nr. 96, S. 590 = D. 1962jp 307 m.Anm. Morange D. 1962 ehr. \09 (zu dieser Entscheidung s.o. 3. Kap. A. I. 2. c) ce). 494 s. schon oben 3. Kap. A. I. 2. c) bb) mit Fn 156. 495 Diese Einschränkung entsprach der ursprünglich dem CC zugedachten Aufgabe, die Beachtung der dem parlamentarischen Gesetzgeber durch die Verfassung der 5. Republik zugewiesenen beschränkten Stellung durchzusetzen; nachdem diese Beschränkung überwunden und zudem geklärt ist, daß das Loi referendaire (wenn es nicht selbst verfassungsändernden Anspruch erhebt) auf der Ebene des einfachen Parlamentsgesetzes steht und damit auch durch Parlamentsgesetz geändert werden kann, hätte man die Aufgabe dieser Selbstbeschränkung erwarten können; die in dieser Erwartung erfolgte Anrufung gegen das durch Referendum gebilligte Vertragsgesetz zum Unionsvertrag hat CC 23.9.1992 No 92-3 \3 De - Maastricht III, Rec. S. 94 (w.Nachw. s.o. 3. Kap. A. I. 2. c) bb) jedoch als unzulässig verworfen.
496 SO Z.B. Genevois RFDA 1992,937 (945): Art. 61 Abs. 2 der Verfassung meine nur einfache Gesetze (Iois ordinaires). 497 Also weder durch Referendum nach Art. 11 der Verfassung, noch durch eine "kongreßersetzende" Volksabstimmung nach der bisher allerdings nie angewandten 2. Alternative von Art. 89 der Verfassung; Verfassungsänderungen auf diesem Wege blei-
A. Materielle Rechtslage
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ausdrücklich ausgeschlossen sind 498 , oder eben, um die neuere Theorie der inhaltlichen Schranken der Verfassungsänderung auch prozessualoperationell zu machen499 • Der Conseil constitutionnepoo ist mit dieser Problematik der Möglichkeit "verfassungswidrigen Verfassungsrechts" im Rahmen der Debatte um die Ratifikation des Unionsvertrages allerdings nicht auf diesem direkten Weg einer Anrufung gegen das verfassungsändernde GesetzSOl, sondern auf höchst indirekte Weise befaßt worden. Angegriffen wurde vielmehr in erstmaliger Anwendung des durch dieselbe Verfassungsänderung neugefaßten Art. 54 der Verfassung der Unionsvertrag, dessen Ratifikation die vorangegangene Verfassungsänderung ermöglichen sollte. Die Begründung der Beschwerde verfolgte dabei beide in dieser Situation möglichen Argumentationsstränge: Zum einen wurde die unter dogmatischem Gesichtspunkt wenig interessante Frage aufgeworfen, ob der verfassungsändernde Gesetzgeber alle durch die erste Maastricht-Entscheidung festgestellten Abweichungen zwischen Vertrag und Verfassung behoben hatte, oder ob möglicherweise einzelne dieser Disparitäten übersehen oder unterschätzt worden waren 5112 • Der Conseil constitutionnel hat diese Bedenken in seiner Entscheidung vom 2.9.1992 im Einzelnen behandelt und ausgeräumt. In viel grundsätzlicherer Weise wurde zum anderen aber eben die - schon in den Beratungen zur Verfassungsänderung aufgeworfene 5OJ und nun vor dem ben als "direkter Ausdruck der nationalen Souveränität" nach allen Auffassungen unangreifbar, s.o. 3. Kap. A. I. 2. c) bb) sowie Mercuzot RDP 1995,661 (695 mit Fn 87). 498 So etwa Conac ! Luchaire (-Luchaire), Art. 61, S. 1111 (1115 t); Luchaire Journees Soc. Leg. comp. 1990, 11 (15 t); ebenso Beaud LPA 1993 Nr. 40, 2.4.1993, 7 (10); Favoreu! Gai'a RFDC 1992,389 (410 t); Favoreu Anm. RFDC 1992, 735 (738). 499 Beaud LPA 1993 Nr. 40, 2.4.1993, 7 (9 t).
500 CC 2.9.1992 No 92-312 DC - Maastricht 11, Rec. S. 76 = GDCC Nr. 45, S. 771/ 780 (2. Entscheidung) = JCP 1992 1121943 m.Anm. Nguyen van Tuong = RFDA 1992, 950 m.Anm. Genevois S. 937; s. auch Picard RFDA 1993,47 ff. 501 Überlegungen der Maastricht-Gegner in diesem Sinne sind ohne Folge geblieben, s. Avril ! Gicque/ RFDC 1992, 439 (443 t). 502 Umstritten war hier vor allem, ob die in Art. 88-3 n.F. enthaltene "Kann-Bestimmung" bzgl. des Kommunalwahlrechts für EG-Inländer mit den Vorschriften des EGV korrelierte, dessen Art. 8 B dieses Wahlrecht ja nicht als Möglichkeit, sondern als verbindliche Anordnung vorsieht; s. dazu den 25. - 29. Erwägungsgrund der Entscheidung sowie Grewe RFDC 1992,413 (429 t); Luchaire RDP 1992, 1587 (1593 ft); Favoreu AUC 1994, 105 (110). 50) s. Avril! Gicque/ RFDC 1992, 439 (445); bestritten wurde damit die Möglichkeit, die 2. Phase der Verfassungsänderung im parlamentarischen Verfahren (statt durch die
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3. Kapitel: Verfassungs rechtliche Grenzen der Integration
Conseil constitutionnel wiederholte - Frage gestellt, wie weit der verfassungsändernde Gesetzgeber überhaupt gehen konnte, d.h. eben, ob auch dem verfassungsändernden Gesetzgeber inhaltliche Schranken gesetzt sind, deren Überschreitung zur Unwirksamkeit der Änderung fuhrt - womit dem Vertrag dann die durch die Verfassungsänderung geschaffene Legitimation wieder entzogen wäre. Voraussetzung ftir die Praktikabilität dieses zweiten Argumentationsstrangs war natürlich, daß der Conseil constitutionnel eine solche nachträgliche Kontrolle s04 des bereits verkündeten verfassungsändernden Gesetzes überhaupt akzeptierte. a) Fehlen ungeschriebener, aber Verbindlichkeit der geschriebenen Schranken
Die Maastricht lI-Entscheidung des Conseil constitutionnel hat die damit aufgeworfene Frage in auf den ersten Blick widersprüchlicher Weise beantwortet: Zum einen betont sie die "Souveränität" des verfassungsändernden Gesetzgebers (der als pouvoir constituant bezeichnet wird), andererseits finden aber auch die von der Verfassung ausdrücklich gesetzten Schranken ausdrückliche AnerkennungSOS . Die apodiktischen Äußerungen des Conseil constitutionnel zur Souveränität, also völligen Freiheit des verfassungsändernden Gesetzgebers, dürfen freilich nicht isoliert als Absage an jegliche Bindung verstanden werden s06 • Sie beziehen ebenfalls mögliche Volksabstimmung) durchzuführen; rechtlich ist diese qualitative Unterscheidung der beiden Alternativen des Art. 89 der Verfassung freilich unhaltbar: auch das im Rahmen von Art. 89 entscheidende Volk ist "constituant derive". S04 Dazu unten 3. Kap. B. I. 3. a) aa) mit Fn 143 f. sos 19. Erwägungsgrund: 11 ••• sous reserve, d'une part, des limitations touchant aux periodes de au co urs desquelles une revision de la Constitution ne peut pas etre engagee ou poursuivie, qui resultent des articles 7, 16 et 89, alinea 4, du texte constitutionnel et, d'autre part, du respect des prescriptions du cinquieme alinea de l'article 89 en vertu desquelles 'la forme republicaine du Gouvernement ne peut faire l'objet d'une revision', le pouvoir constituant est souverain; ... il lui est loisible d'abroger, de modifier ou de completer des dispositions de valeur constitutionnelle dans la forme qu'il estime appropriee; ... " (s. weiter unten Fn 509). S06 SO freilich die etwas einseitige Interpretation von Vedel Pouvoirs Nr. 67, 1993, 79 (86); schwankend Rousseau RDP 1993, 5 (16 ff); anders zu Recht (und gegen seine eigene Überzeugung) die Analyse von Werner Pouvoirs Nr. 67,1993,117 (123); ebenso Favoreu I Gai"a RFDC 1992, 389 (4 \0 f); Favoreu u.a. AUC 1992, 469 (475 ff: "le rejet apparent de la supraconstitutionnalite"); Grewe I Ruiz Fabri RUDH 1992, 277 (278); Nguyen Van Tuong Anm. JCP 1992 II 21943.
A. Materielle Rechtslage
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sich wohl vor allem auf die - von den Antragstellern aufgenommene - vorangegangene Diskussion in der Tagespresse, in der durchaus maßgebliche Vertreter des Staatsrechts507 dem verfassungsändernden Gesetzgeber das Recht abgesprochen hatten, den systematischen Standort der Verfassungsänderung frei zu wählen: Nach dieser Forderung sollten die zur Ratifikation des Unionsvertrags erforderlich gewordenen Verfassungsänderungen ihren Standort nicht in einem eigenen Kapitel zur europäischen Integration finden. Vielmehr sollten die durch den Unionsvertrag nach den Feststellungen der Entscheidung vom 9.4.1992 berührten und damit einer Ratifikation ohne Verfassungsänderung entgegenstehenden Verfassungsbestimmungen wie Art. 3, 24 und 72 hinsichtlich des Kommunalwahlrechts, Art. 34 der Verfassung hinsichtlich der Parlamentskompetenzen in Währungsfragen 50H sowie Art. 3 der Menschenrechtserklärung (!) in Bezug auf die Berührung der wesentlichen Bedingungen der Ausübung der nationalen Souveränität jeweils selbst und ausdrücklich geändert werden, um die Bedeutung des Schritts hervorzuheben. Daß ein derartiges, letztlich die Möglichkeiten einer systematischen Verfassungsauslegung leugnendes "verschärftes Textprinzip" ohne ausdrückliche Grundlage in der Verfassung vom Conseil constitutionnel nicht anerkannt werden konnte 509, ist nicht verwunderlich 51O •
507 Favoreu Le Figaro 21.4.1992 = La Constitution et l'Europe. Commentaires et Documents S. 355: "Constitution ft!visee ou Constitution-bis ?" 508 Favoreu Le Figaro 11.4.1992 = La Constitution et l'Europe. Commentaires et Documents S. 353 ff: liLa boite de Pandore". 509 Der 19. Erwägungsgrund von CC 2.9.1992 (s.o. Fn 505) fiihrt fort: "... ainsi, rien ne s'oppose ace qu'il introduise dans le texte de la Constitution des dispositions nouvelles qui, dans le cas qu'elles visent, derogent a une regle ou a un principe de valeur constitutionnelle; ... cette derogation peut etre aussi bien expresse qu'implicite;" Im folgenden wenden der 30. - 43. Erwägungsgrund diese Erkenntnis auf die hinsichtlich verschiedenster Bereiche erhobene Rüge an, wonach ausdrückliche Änderungen z.B. von Art. 34 (Parlamentskompetenzen) und Art. 20 (Befugnisse der Regierung) hätten erfolgen müssen; dazu im Einzelnen etwa Rideau in: Masclet / Maus (1993), 67 (131 ff). 510 Genevois RFDA 1992, 938 (946); Boulouis CDE 1994, 505 (520); Grewe RFDC 1992, 413 (421 f); auch F avoreu versteht diese Passage als Zurückweisung seiner Einwände, erhält seine stilistischen Bedenken jedoch aufrecht, so Favoreu / Gai"a RFDC 1992, 389 (411); Favoreu RGDIP 1993, 39 (48 f); ihm folgend Rideau in: Masclet / Maus (1993),67 (120 f).
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
Auch die zweite Verfassungsänderung im Gefolge einer Entscheidung des Conseil constitutionnel, die im Anschluß an die Entscheidung vom 13.8.1993 erfolgte Einschränkung des Asylrechts, ist im übrigen in dieser Weise durch Anfügung einer Ausnahmevorschrift, also im Wege einer "revision-adjonction" erfolgt: Auch hier wurde nicht die Garantie des Asylrechts im 4. Absatz der Präambel geändert, deren Verletzung vom Conseil constitutionnel gerügt worden war; statt dessen wurde mit Art. 53-1 der Verfassung eine weitere Ausnahmevorschrift eingefügtlil • b) Die Bestimmung der geschriebenen Schranken
Für die Zukunft offen bleibt freilich der tatsächliche Gehalt der vom Conseil constitutionnel anerkannten inhaltlichen Schranke, der "repubUkanischen Form der Regierung": In ihrem ursprünglichen Wortsinn hat diese Garantie praktisch keine aktuelle Bedeutung mehr5l2 • Eine solche Beschränkung auf den ursprünglichen Wortsinn ist aber auch nicht zwingendSl3 : Die Formel könnte durchaus mit modemen Bedeutungsgehalten, wie etwa Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip als Bestandteilen eines "modemen" republikanischen Prinzips neu gefüllt werden 5l4 •
II I Zu dieser Parallele Luchaire RDP 1994, 5 (24, 26 f); Rossetto RMC 1994, 315 (322).
ll2 s. parallel dazu die deutsche Diskussion um das in seinem traditionellen Wortsinn ebenfalls funktionslos gewordene republikanische Prinzip in Art. 28 Abs. 1 GG, dazu Isensee JZ 1981, 1 ff. ll3 Für eine historisch-enge Auslegung freilich unter Verweis auf die Entstehungsgeschichte der Verfassung von 1958 Conac / Luchaire (-Gaxie), Art. 89, S. 1325 (1329): die Ersetzung von "republikanisch" durch "demokratisch" war im Comite consultatif constitutionnel vorgeschlagen worden, konnte sich aber gegen die traditionelle Formulierung nicht durchsetzen; die Diskussion ist wiedergegeben in DPS 11, S. 187. ll4 So etwa die Erwartung von Rousseau RDP 1993, 5 (19); auch Maus RFDC 1992, 412; vorsichtig auch Favoreu Anm. RFDC 1992,735 (738); allgemein zum Potential des Republikbegriffs auch Pontier D. 1992 chr. 239 (insbes. 241 ff); skeptisch allerdings Gondouin Melanges Peiser (1995), 295 (300); Fromont DÖV 1995, 481 (486): "eine sehr gewagte Konstruktion". Anders als in Deutschland hätte dies nicht nur theoretische Bedeutung, da Demokratie und Rechtsstaat in der französischen Verfassung nicht eigenständig gegen Verfassungsänderungen abgesichert sind.
A. Materielle Rechtslage
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Inwieweit solche auch durch Verfassungsänderung nicht überwindbaren Hindernisse speziell der europäischen Einigung entgegenstünden, ist dagegen völlig offen 5l5 • Der Conseil constitutionnel hat in der 2. Maastricht-Entscheidung eine Stellungnahme zu dieser Frage mit der Begründung verweigert, daß er zur Beantwortung abstrakter Fragen nicht zuständig ist, sondern nur das konkret zu untersuchende Abkommen zu beurteilen habe S16 - was impliziert, daß diese Schwelle, wenn sie denn existiert, durch den Unionsvertrag jedenfalls auch nicht von Feme berührt wurde.
515 So Boulouis CDE 1994,505 (522); Grewe RFDC 1992,413 (425 f); dagegen entnimmt Rideau in: Mascletl Maus (1993), 67 (133 f) der Maastricht-II-Entscheidung eine Aussage zugunsten einer fast grenzenlosen Handlungsfreiheit des verfassungsändernden Gesetzgebers auch hinsichtlich der europäischen Integration; Beaud RFDA 1993, 1045 (1047 ff) scheint anzunehmen, daß auch in Frankreich - wie rur die deutsche Verfassungslage behauptet - der unaufgebbare Verfassungskern dem Aufgehen in einem europäischen Bundesstaat entgegenstünde; er stützt sich rur diese Annahme aber allein auf Belege aus der deutschen Verfassungsdiskussion, die insoweit - anders als bei der theoretischen Grundlegung - aber schwerlich übertragbar ist: Ob ein unabänderlicher Verfassungskern logisch vorstellbar und z.B. gegenüber einer Änderung der Revisionsbestimmungen selbst "haltbar" ist, ist eine Frage - was er ggf. umfaßt, eine ganz andere, die regelmäßig nicht rur jede Verfassung gleich zu beantworten sein wird; so auch der Vorbehalt von Häberle FS Haug (1986), 81 (104 ff) gegen ein "uniformes" Verständnis selbst gleichlautender Ewigkeitsklauseln in den Verfassungen verschiedener Staaten. 516 " ... pour Ies auteurs de la saisine, dans la mesure Oll I'ordre juridique constitutionnel fran~ais est construit autour de I'idee centrale de souverainete nationale, la question qui se trouve po see au Conseil constitutionnel est celle de savoir jUSqU'Oll peuvent aller des revisions de la Constitution enterinant des atteintes successives aux 'conditions essentielles d'exercice de la souverainete;" (44. Erwägungsgrund). "... I'article 54 de la Constitution, dans sa redaction initiale comme dans son libelle issu de I'article 2 de la loi constitutionnelle du 25 juin 1992, donne uniquement competence au Conseil constitutionnel pour contröler si un engagement international determine soumis a son examen comporte ou non une clause contraire a la Constitution; ... la question posee par les auteurs de la saisine ne vise nullement le point de savoir si le traite sur l'Union europeenne comporte une stipulation contraire a la Constitution, ... I'argumentation en cause est par suite inoperante;" (45. Erwägungsgrund). Zustimmend Luchaire RDP 1992, 1587 (1590).
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
Die Frage, inwieweit die nationale Souveränität "verfassungsänderungsfest" ist und damit das Aufgehen in einem europäischen Bundesstaat verhindert bzw. zu einem revolutionären Akt macht, ist damit zwar deutlich gestellt511 : Beantwortet ist sie aber bis heute nicht. 4. Ausbruch aus der Gemeinschaft durch Verfassungsänderung
Diese Flexibilität der Verfassung gilt allerdings auch in Gegenrichtung: der Ausbruch aus der Gemeinschaft dürfte auf der Ebene des einfachen Gesetzgebers zwar nicht nur vertrags-, sondern wegen Verstoßes gegen Art. 88-1 der Verfassung auch verfassungswidrig sein 5lH • Ein Ausbruch auf der Ebene des verfassungsändernden Gesetzes bleibt dagegen aus der Sicht des internen Rechts möglich 5J9 • Als wirklichen Ausbruch wird man auch weitere Verfassungsänderungen allerdings nur interpretieren können, wenn dieser Wille eindeutig - z.B. durch die gleichzeitige Streichung von Art. 88-1 der Verfassung - als solcher identifiziert werden kann 520 • Andernfalls müßte eine systematische Auslegung der jeweiligen Verfassungsänderung unter Berücksichtigung von Art. 88-1 ergeben, daß ein Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht nicht beabsichtigt ist.
511 Zu dieser nach wie vor offenen Diskussion s. schon Vedel Pouvoirs Nr. 2, 1977, 23 (35 f): "Pour les uns, la souverainete nationale exprime deux donnees simultanement absolues et en principe immuables de caractere essentiel par rapport a I'homme et a la societe: la democratie et la nation. Pour les autres le caractere absolu et I'immutabilite s'attachent au seul principe democratigue et non au fait national, gui peut bien en etre le cadre privilegie, mais non le cadre exclusif." s. im Zusammenhang der MaastrichtDebatte nochmals dens. in: La Constitution et l'Europe (1992),23 (28 f). 51K SO der Schluß von Carrillo de Albornoz DV 1995,225 (229). 519 Für Beispiele gemeinschaftsrechtswidriger Verfassungsänderungsvorschläge s.u. 3. Kap. B. I. 5. 520 Zur Durchsetzung eines solchen "Ausstiegs" vor den Fachgerichten s. noch unten 3. Kap. B. 11. 3.
B. Prozessuale Durchsetzung
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B. Die prozessuale Durchsetzung des Vorrangs der Verfassung I. Die Durchsetzung durch den Conseil constitutionnel
Der materiellrechtlich umfassende Vorranganspruch der nationalen Verfassung wird jedoch durch den spezifischen Charakter I des französischen Systems der Verfassungskontrolle weitgehend neutralisiert. Diese in der Verfassung von 1958 erstmals vorgesehene Kontrolle hat rein präventiven Charakter, die nachträgliche Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von völkerrechtlichen Verträgen, aber auch von bereits verkündeten Gesetzen ist im gegenwärtigen Stand2 im Text der Verfassung 3 nicht vorgesehen 4 • 1. Der Grundsatz: Präventive Direkt(= Prinzipal-)kontrolle
der Verträge durch den Conseil constitutionnel
Für die präventive Kontrolle völkerrechtlicher Verträge stellt die Verfassung zwei Wege zur Verfiigung: Während der erste Weg der unmittelbaren Überprüfung noch nicht abgeschlossener Verträge über Art. 54 der Verfassung bereits vom Verfassungsgeber vorgesehen wurde, hat sich die zweite Möglichkeit auf dem Umweg über die Kontrolle des zum Abschluß ermächtigenden Gesetzes erst durch die Rechtsprechung des Conseil constitutionnel entwickelt. a) Die unmittelbare Kontrolle auf dem Weg über Art. 54 der Verfassung
Von Anfang an in der Verfassung der 5. Republik vorgesehen war die Kontrolle der Verträge auf der Grundlage von Art. 54 der Verfassung 5• In Ausrich-
I
2
Hervorgehoben z.B. von Badinter / Genevois / Vedel RFDA 1987, 844 (860). Zu den Überlegungen de constitutione ferenda s. unten 3. Kap. B. I. 4., 5.
Zur Erweiterung durch Richterrecht und ihren Grenzen s.u. 3. Kap. B. I. 3. Die einzige häufig angeführte Ausnahme des Verfahrens gern. Art. 37 Abs 2 der Verfassung - nachträgliche Vorlage eines Gesetzestextes, der in die Kompetenzen der Pouvoir reglementaire eingreift - ist bei näherem Hinsehen auch keine, da die Feststellung einer Kompetenzüberschreitung nicht zur Verwerfung des Gesetzes als ungültig, sondern nur zu seiner Herabstufung - "delegalisation" oder "declassement" führt, s. nur Conac / Luchaire (-Luchaire), Art. 62, S. 1121 (1123). 3
4
5 Zum Text des Art. 54 in der Ausgangsfassung von 1958 sowie nach der Ergänzung von 1992 s. bereits o. 2. Kap. A. 11. 2. a) aal a) mit Fn 51.
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
tung und Verfahren ähnelt Art. 54 dem nur ein Jahr zuvor geschaffenen Gutachtenverfahren vor dem EuGH gemäß Art. 228 EWGV 6 : In beiden Fällen ist die Überprüfung nur vor Abschluß des Vertrages möglich'. In beiden Fällen wird die Perspektive betont, unter der ein Abschluß des Vertrages auch im Falle eines negativen Ergebnisses der Überprüfung möglich scheint: Erforderlich ist hier in jedem Falle die Änderung auch der Maßstabsnormen, d.h. im Falle von Art. 54 der Verfassung eine Änderung der Verfassung, im Falle des Art. 228 EWGV eine Änderung des Primärrechts. Die Literatur hat diese neue Überprüfungsmöglichkeit von Anfang an als Versuch der Schöpfer der Verfassung der 5. Republik verstanden, die Verfassung auch prozessual gegen künftige Ansätze einer weiteren supranationalen Integration - nach dem Beispiel der unter der 4. Republik gescheiterten Europäischen Verteidigungsgemeinschaft - zu mobilisieren. Im Sinne dieser Absicht hat die Vorschrift sich allerdings als ins Leere gehende Fehlkonstruktion erwiesen.
aa) Befugnis zur Anrufung des Conseil constitutionnel Zur Anrufung des Conseil constitutionnel befugt waren nach der bis 1992 geltenden Fassung allein die obersten Staatsorgane: Präsident, Premierminister sowie die Präsidenten von Nationalversammlung und Senat, nicht aber die in diesen Positionen typischerweise nicht anzutreffenden Vertreter der Opposition8 • Entsprach aber ein Abkommen nicht den politischen Vorstellungen dieser Instanzen, so war schon sein Zustandekommen höchst unwahrscheinlich. Die tatsächliche Lage unterschied sich insofern von dem Fall des parallel strukturierten Art. 61, der der Kontrolle des Parlaments diente: Ein Gesetz konnte seine Mehrheit auch gegen die Regierung finden. Im nachhinein erscheint es also fast widersinnig, gerade und ausschließlich diesen Staatsorganen zusätzliche juristische Mittel zur Verhinderung solcher Abkommen einzuräumen. Das Verfahren des Art. 54 ist in der Folgezeit im Regelfall tatsächlich allein zu dem Zweck eingeleitet worden, den politischen Gegnern eines ge-
6 Zu dieser Parallele etwa Boulouis Anm. CDE 1977, 459 (466); Kovar / Simon RTDE 1977,665 (668); Dowrick 31 ICLQ (1982),59 (84); Constantinesco / Jacque in: Koenig / Rüfner (1985), 175 (177). , So jetzt für das Gemeinschaftsrecht erstmals ausdrücklich EuGH 13.12.1995 Gutachten 3 /94 - GATT-WTO-Rahmenabkommen über Bananen, Sig. 1995, 1-4577. 8 So im hiesigen Zusammenhang auch Fromont FS Mosler (1983),221 (225) mit dem Vorbehalt, daß immerhin der Präsident des Senats über lange Zeiträume von der Opposition gestellt wurde.
B. Prozessuale Durchsetzung
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planten Abkommens, die selbst das Verfahren nach Art. 54 nicht nutzen konnten, dessen Verfassungsmäßigkeit zu beweisen 9 • Nachdem bei der Ausweitung der Anrufungsbefugnis gegen Gesetze auf jeweils 60 Mitglieder des Senats oder Abgeordnete der Nationalversammlung im Jahre 1974 eine dementsprechende Anpassung des Art. 54 unterblieben war, wurde diese Lücke erst im Rahmen der Verfassungsänderungen zur Ermöglichung der Ratifikation des Unionsvertrags geschlossen(().
bb) Gegenstand der Kontrolle Teilweise war im Anschluß an die Entscheidungen des Conseil constitutionnel vom 19.6.1970 und 29.-30.12.1976 11 angenommen worden, daß nicht nur völkerrechtliche Verträge, sondern auch Sekundärrechtsakte jeweils eigenständige "engagements internationaux" im Sinn von Art. 54 der Verfassung darstellen und damit der Überprüfung nach dieser Bestimmung unterworfen werden könnten l2 • Nach heute aber ganz herrschender Auffassung ll gilt aber, daß "engagements internationaux" nur solche internationalen Akte sind, die von Frankreichs Zustimmung als Völkerrechtssubjekt - und nicht als Stimme im Rat - abhängen, die Frankreich also freiwillig eingeht. Eben dies war bei den "Beschlüssen" von 1970 und 1976, die Gegenstand der ersten Entscheidungen des Conseil constitutionnel auf der Grundlage von Art. 54 der Verfassung geworden waren, trotz des im EWGV vorgesehenen "gemischten" Verfahrens der Fall: Jeweils war die Ratifikation nach den einschlägigen innerstaatlichen Vorschriften schon von Art. 201 bzw. Art. 138 EWGV vorgesehen l4 ; es handelte sich also nicht um Sekundärrecht. 9 So im Fall der Eigenmittel-Entscheidung von 1970 (erster Anwendungsfall des Art. 54, s. im einzelnen oben 3. Kap. A. 11. I. a) aa); der Europawahl-Entscheidung von 1976 (im Einzelnen oben 3. Kap. A. 11. I. a) bb); der Entscheidung zum 6. EMRK-Zusatzprotokoll von 1985 (oben 3. Kap. A. 11. 1. a) cc); die erste Anrufung, die ein negatives Ergebnis bewußt in Kauf nahm, war Ausgangspunkt der Entscheidung Maastricht I (oben 3. Kap. A. 11. I. b); s. zum Ganzen Gai"a Insertion S. 102 ff, 108 ff; Abraham Droit international S. 46; Bon in: Droit constitutionnel et droits de I'homme (1987), 269 (286 f); Pol/mann RDP 1994, 1079 (1118 ff). 10 Dazu zuletzt ausfllhrlich Pol/mann RDP 1994, 1079 ff.
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Zu diesen beiden Entscheidungen bereits oben 3. Kap. A. 11. I. a) aa) und bb).
Luchaire RTDE 1979, 393 (408 ff); Nguyen Quoc Dinh RGDIP 1976, 1001 (1005); heute noch Favoreu RGDIP 1993, 39 (58 f). Il s. die Nachweise in der folgenden Fn. 14 So die Feststellung von Sasse FS Ipsen (1977),701 (715); Blumann RGDIP 1978, 537 (557 ff); Gai"a Insertion S. 78; Jacque in: Droit constitutionnel et droits de 12
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3. Kapitel: Verfassungsrechtl iche Grenzen der Integration
Das "echte" Sekundärrecht kann danach also jedenfalls nicht direkt zum Gegenstand der Verfassungskontrolle des Conseil constitutionnel werden; es ist nicht "engagement international", sondern gehört zu den bereits verbindlichen "obligations internationales"15, die einer präventiven Kontrolle schon per definitionem nicht ausgesetzt werden können l6 • b) Die Kontrolle auf dem Weg über das Zustimmungsgesetz gemäß Art. 61 Absatz 2 der Verfassung
Art. 61 Absatz 2 17 der Verfassung wiederum betrifft allein Gesetze. Auf den ersten Blick scheint dieses Verfahren daher eher geeignet, den Vorrang der Verträge gegenüber dem zu kontrollierenden einfachen Gesetz durchzusetzen, als den Vertrag am Maßstab der Verfassung zu messen. Die Rechtsprechung des Conseil constitutionnel hat diesem Verfahren jedoch eine Auffangfunktion rur solche Abkommen zugewiesen, die das Verfahren nach Art. 54 nicht durchlaufen haben.
aa) Befugnis zur Anrufung des Conseil constitutionnel Zur Anrufung des Conseil constitutionnel befugt waren ursprünglich auch hier nur die obersten Staatsorgane - Präsident der Republik, Premienninister sowie die Präsidenten von Nationalversammlung und Senat, die als Repräsentanten der politischen Mehrheit allerdings an diesem Instrument kaum Inter-
l'homme (1987), 321 (325 f); Rideau in: Oroit constitutionnel et droits de l'homme (1987), 205 (229 f); Blaizot-Hazard RDP 1992, 1293 (1303); auch Art. 8 E EGV nimmt dieses "gemischte" Verfahren auf.
15 So die umfassende Formulierung im 24. Erwägungsgrund von CC 25.-26.6.1986 No 86-207 OC - Privatisations, Rec. S. 61 = GOCC Nr. 39, S. 641 = AJDA 1986,575 m. Anm. Rivero: "... les ordonnances ne sauraient etre contraires, en meconnaissance de l'article 55 de la Constitution, aux obligations internationales de la France;" (zu dieser Entscheidung s. noch unten 4. Kap. B. 11. 1. b) aa). 16 So Blumann RGDIP 1978,537 (555 ff); Rideau RFOC 1990,259 (270 f); ders. in La Constitution et l'Europe (1992), 67 (138 f); lsaac in: Rep. dr. comm. Stichwort Primaute du droit communautaire Rn 40; Constantinesco / Jacque in: Koenig / Rüfner (1985), 175 (182); de Berranger Constitutions nationales S. 338.
17 Zum Text s. bereits 0.2. Kap. A. 11. 2. a) aa) ß) mit Fn 56; Art. 61 Absatz 1 ist nie einschlägig, weil die Zustimmung immer im Wege des einfachen Gesetzes erfolgt, auch wenn der Regelungsgegenstand innerstaatlich dem Loi organique zuzurechnen wäre, s.o. 3. Kap. A. I. 2. c) aa).
B. Prozessuale Durchsetzung
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esse zeigtenU; eine Ausnahme bildete hier zu Beginn der 70er Jahre nur der Präsident des - mehrheitlich oppositionell gestimmten - Senats, der auf diese Weise die ersten großen Grundrechtsentscheidungen des Conseil constitutionnel 19 herbeigeftihrt hat. Erst die in ihren Auswirkungen anflinglich unterschätzte Verfassungsreform von 1974 machte die präventive Kontrolle dann zu einer Waffe in der Hand der Opposition und ermöglichte dadurch zugleich den quantitativen Aufschwung und den Bedeutungszuwachs der Rechtsprechung des Conseil constitutionnel.
bb) Gegenstand der Kontrolle Auch die in Art. 54 der Verfassung verbliebene Lücke hat der Conseil constitutionnel durch eine weite Auslegung beseitigt: Schon die Direktwahl-Entscheidung vom 29.-30.12.1976 211 hatte - obiter, da die Befassung in diesem Fall auf der Grundlage von Art. 54 erfolgte - erkennen lassen, daß die Kontrolle auch auf Vorlage des Zustimmungsgesetzes gemäß Art. 61 Absatz 2 der Verfassung möglich geworden wäre und in diesem Rahmen nicht nur das selbst inhaltsleere Gesetz auf Fehler im Gesetzgebungsverfahren 21 , sondern im Durchgriff auch der durch das Gesetz gebilligte Vertrag auf seine inhaltliche Verfassungsmäßigkeit überprüft werden könne 22 • Eine Entscheidung vom 17.7.1980 zur Verfassungsmäßigkeit des DeutschFranzösischen Rechtshilfeabkommens 23 hat dann sogar eine ungeschick18
Zur Anrufungspraxis in den 60er Jahren s. etwa Favoreu / Philip GDCC S. 88 ff.
s. vor allem CC 16.7.1971 No 71-44 DC - Liberte d'association, Rec. S. 29 = GDCC Nr. 19, S. 244 = D. 1972 jp 685 m.Anm. Rivero D. 1972 ehr. 265 = AJDA 1971, 537 m.Anm. Rivero = JCP 1971 11 16832 m.Anm. X zur Vereinigungsfreiheit; CC 27.12.1973 No 73-51 DC - Taxation d'office, Rec. S. 25 = GDCC Nr. 21, S. 277 = AJDA 1974,246 m.Anm. Gaudemet S. 236 zum in Art. 6 Satz 2 und 13 DDH verankerten Gleichheitssatz. 20 So der 4. Erwägungsgrund von CC 29.-30.12.1976 No 76-71 DC, Rec. S. 15; zu dieser Entscheidung s. bereits ausführlich 3. Kap. A. 11. I. a) bb) m.w.N. 21 Zur Prüfung einer derartigen Rüge CC 17.1 .1989 No 88-247 DC - Loi autorisant la ratification de la convention internationale du travail no 159, Rec. S. 15. 22 Dazu etwa F avoreu AFDI 1977, 95 (102 ff). 19
23 CC 17.7.1980 No 80-116 DC - Convention d'entraidejudiciaire, Rec. S. 36 = RGDIP 1981,202 m.Anm. Vallee = RDP 1980, 1683 m.Anm. Favoreu S. 1627 (1640 ff).
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
terweise direkt gegen dieses Abkommen gerichtete Anrufung durch die Abgeordneten in eine Anrufung gegen das Gesetz umgedeutet und in dieser korrigierten Fassung für zulässig befunden 24 • Diese Lösung scheint aus deutschem Blickwinkel wenig spektakulä~S, da nach dem dualistischen deutschen System das Vertrags gesetz die natürliche Brücke zur Inhaltskontrolle des Vertrages darstellt; vor dem Hintergrund der monistischen Inspiration der Art. 53-55 der Verfassung von 1958 muß sie jedoch überraschen 26 und ist nur mit dem Willen zu erklären, auch die Kontrolle der Außenbeziehungen für die jeweilige Opposition - die natürlich auch eine Minderheit in der die Regierung tragenden Mehrheit sein kann 27 - zu öffnen 28 • Seit diesen Entscheidungen hatte die Regierung also nicht mehr die Wahl, ob völkerrechtliche Verträge mit der Verfassung konfrontiert wurden; einer hinreichend starken Opposition, die das Verfahren gemäß Art. 61 Abs. 2 ein24" plus de soixante deputes a l'Assemblee nationale ont, par application de I'article 61, alinea 2 de la Constitution, declare soumettre au Conseil constitutionnel, 'la Convention franco-allemande additionnelle a la Convention d'entraide judiciaire en matiere penale du 20 avril 1959', dont la ratification a ete autorisee par une loi adoptee par le Parlement le 17 juin 1980 et non encore promulguee; '" une teile demande doit s'entendre comme concernant la loi autorisant la ratification et entraine, par voie de consequence, ['examen de la Convention franco-allemande signee le 24 octobre 1974;" (I. Erwägungsgrund). 25 So etwa schon vor den betr. Entscheidungen des CC Ress ZaöRV 1975, 445 (459 m. Fn 31): eine parallele Erweiterung des Art. 54 sei unnötig, da die Kontrolle auf dem Umweg über das Zustimmungsgesetz bereits gern. Art. 61 möglich sei.
26 Kritisch etwa Boulouis Anm. CDE 1977, 459 (464 t): die gesetzliche Ermächtigung zum Vertragsabschluß habe - als Gesetz nur im formellen Sinn - mit den von Art. 61 Absatz 2 der Verfassung erfaßten Gesetzen nur den Namen gemein. Scharf ablehnend auch de Villiers Rev. adm. 1981, 143 f; Blumann RGDIP 1978, 537 (550 ft); ebenso schon früh Charles Rousseau Melanges Basdevant (1960), 463 (469), der sich allerdings gegen jegliche Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von völkerrechtlichen Verträgen ausspricht (und deshalb auch Art. 54 als System bruch ablehnt). Favoreu AFDI 1977,95 (\03) sieht dagegen keinen Anlaß für eine einschränkende Auslegung des Art. 61 der Verfassung. 27 Diese Situation lag z.B. im Falle der EEA vor, doch zählte die "Minderheit in der Mehrheit" um Michel Debre und Jacques Foyer nicht die erforderlichen 60 Köpfe, s.o. 3. Kap. A. 11. I. a) dd). 28 Von dieser Lösung nicht erfaßt wurden die hier nicht weiter interessierenden Abkommen, die einer gesetzlichen Zustimmung gern. Art. 53 nicht bedürfen: sie können weder auf dem Weg über das Zustimmungsgesetz i.V.m. Art. 61 der Verfassung, noch direkt gern Art 54 vor den Conseil constitutionnel gelangen: denn auch Art. 54 setzt voraus, daß ein Abkommen im Sinne von Art 53 vorliegt; zu dieser Lücke s. noch unten 3. Kap. B. 11. I. b) m.w.N.
B. Prozessuale Durchsetzung
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leiten würde, konnte sie allenfalls durch Anwendung des Art. 54 der Verfassung zuvorkommen 29 • Mit den Verfassungs änderungen im Rahmen der Ratifikation des Unionsvertrags wurde dann auch Art. 54 angepaßt; eine effektive Erweiterung des Zugangs zum Conseil constitutionnel ergibt sich daraus aber nur rur Verträge, deren Billigung nicht durch parlamentarisches Gesetz, sondern - wie im Fall des Unionsvertrags - auf Entscheidung des Präsidenten der Republik im Wege der Volksgesetzgebung gemäß Art. 11 der Verfassung erfolgeo. Ob diese Erweiterung des Art. 54 die Rechtsprechung des Conseil constitutionnel zur Zulässigkeit des Umwegs über Art. 61 hinfällig werden läße l , ist bisher nicht entschieden; logisch zwingend ist diese Konsequenz jedenfalls nicht.
2. Die Konsequenz aus der Beschränkung auf die präventive Kontrolle: Ausschluß auch indirekt-inzidenter nachträglicher Kontrolle
Ein Konflikt der durch den Conseil constitutionnel ausgeübten Kontrolle mit bereits geltendem Gemeinschaftsrecht scheint danach auf den ersten Blick weithin ausgeschlossen 32, weil die Kontrolle dem Grundsatz nach nur gegenüber noch nicht geltendem Recht erfolgt, also rein präventiver Natur ise 3 : So kann der Conseil constitutionnel weitere Fortschritte in der Integration zwar aufhalten, soweit sie mit Änderungen der vertraglichen Grundlagen verbunden sind; in den Bestand des Gemeinschaftsrechts kann er dagegen direkt nicht
So im Fall des 6. Zusatzprotokolls zur EMRK, s. 3. Kap. A. 11. I. a) ce). s. Pol/mann RDP 1994, \079 (I \08 ff); Luchaire RDP 1992, 1587 (1609); dazu plastisch die Entscheidungen Maastricht I, 11 und III des CC: der Vertrag konnte auf der Grundlage des geänderten Art. 54 auf Initiative der Abgeordneten überprüft werden, s. CC 2.9.1992 No 92-312 DC - Maastricht 11, Rec. S. 76 = GDCC Nr. 45, S. 771 / 780 (2. Entscheidung), die spätere Billigung seiner Ratifikation durch Volksgesetz war einer Überprüfung entzogen, s. CC 23.9.1992 No 92-313 DC - Maastricht III, Rec. S. 94 = GDCC Nr. 45, S. 771 /785 (3. Entscheidung). 31 So Pol/mann RDP 1994, 1079 (1111 ff). 29
30
32 Badinter / Genevois / Vedel RFDA 1987,844 (861); ausftihrlich auch Darmon RTDE 1988, 217 (229 ff); s. auch bereits Lagrange RTDE 1969, 240 (249): "11 semble difficile d'imaginer un systeme juridique plus satisfaisant pour assurer la primaute du droit international sur le droit interne." 33 Rühmann Normenqualifikation (1982), 39 spricht deshalb von einer bloßen "Normentwurfskontrolle" durch den CC.
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
mehr eingreifen. Der Conseil constitutionnel begreift sich daher auch nicht als Adressat des Vorlageverfahrens nach Art. 177 EGV 34 • Trotz dieses Ausgangspunkts einer rein präventiven Überprüfung können sich allerdings Gelegenheiten fur eine inzidente Überprüfung des geltenden Gemeinschaftsrechts durch den Conseil constitutionnel ergeben, wenn ihm andere, noch nicht geltende Rechtsakte auf den zulässigen Wegen zur Prüfung unterbreitet werden: Das gilt zum einen dann, wenn es sich bei den unmittelbar zur Überprüfung stehenden Gesetzen um solche handelt, die das interne Recht an die Anforderungen des Vertrages oder auch nur des Sekundärrechts anpassen 35 • Eine Gelegenheit fur die Inzidentkontrolle der geltenden Verträge ergibt sich zudem, wenn neue Verträge zur Überprüfung stehen, die die bisherigen Gemeinschaftsverträge ändern oder fortführen 36 • Der Conseil constitutionnel hat die sich damit ergebenden Möglichkeiten jedoch in konsequenter Beschränkung auf die präventive Kontrolle nicht genutzt. Von vornherein ausgeschlossen ist dagegen eine Kontrolle des Verhandlungs- und Abstimmungsverhaltens der französischen Vertreter im Rat durch den Conseil constitutionnel: Hier ist ein einschlägiger Rechtsweg nicht ersichtlich 37 • Insbesondere kennt das französische Verfassungsprozeßrecht weithin nicht den Weg des Organstreitverfahrens, in dem solche Konflikte ausgetragen werden könnten 38 • a) Unantastbarkeit des Vertrages
Bereits der ersten Entscheidung des Conseil constitutionnel zum Gemeinschaftsrecht, der Eigenmittel-Entscheidung vom 19.6.197039 , lag die Vorstellung zugrunde, daß die bereits geltenden Gemeinschaftsverträge einer verfas-
34 Badinter / Genevois / Vedel RFDA 1987, 844 (862); Rideau AUC 1991, 11 (59); dazu noch unten 3. Kap. B. 1. 2. e) mit Fn 102. 35 Zu dieser Kategorie Rideau RFDC 1990, 259 (275 t). 36 Dazu Rideau RFDC 1990, 259 (272 ft). 37
a).
Rideau RFDC 1990, 259 (270 t); zur Kontrolle durch den CE s.u. 3. Kap. B. 11. 2.
3S Daher auch der Titel der frühen Schrift von Favoreu RDP 1967,5 ff: "Le Conseil constitutionnel regulateur de I'activite normative des pouvoirs publics" (zu dieser Beschränkung insbes. dort S. 14 ft), der eine frühe Formulierung des CC präzisiert ("regulateur de I'activite des pouvoirs publics", so der 2. Erwägungsgrund von CC 6.11.1962 No 62-20 DC, Rec. S. 27 = GDCC Nr. 14, S. 180). 39
Zu dieser Entscheidung s. bereits oben 3. Kap. A. 11. I. a) aal.
B. Prozessuale Durchsetzung
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sungsrechtlichen Überprüfung entzogen waren 40 • Der zu überprüfende, gemäß Art. 201 EWGV ratifikationsbedürftige Ratsbeschluß zum Übergang auf eine Finanzierung der Gemeinschaft durch eigene Mittel war danach verfassungsrechtlicher Überprüfung nur noch insoweit zugänglich, als er eigenständige Neuerungen enthielt. Da die zentralen Fragen nach Ansicht des Conseil constitutionnel bereits im Vertrag entschieden worden waren 41 , konnte er dem Eigenmittel-Beschluß einen solchen eigenständigen wesentlichen Eingriff in die nationale Souveränität nicht mehr entnehmen 42 • Dem Ratifikationsvorbehalt in Art. 201 EWGV wurde dabei offensichtlich keine konstitutive Bedeutung zugemessen. b) Unantastbarkeit auch des Sekundärrechts
aa) Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit Im Rückblick erstaunlich ist die Selbstverständlichkeit, mit der der Conseil constitutionnel den Ausschluß der nachträglichen Kontrolle auch auf das aus den Verträgen hervorgehende Sekundärrecht erstreckt hat43 : Diese Rechtsakte waren einer präventiven Kontrolle durch die nationalen Instanzen zu keinem Zeitpunkt ausgesetzt. Soweit sie im Wege der Mehrheitsentscheidung entstehen, ist der nationale Einfluß auf die inhaltliche Ausgestaltung auch auf politischer Ebene nicht mehr gesichert44 •
40
s. insbes. Abraham Droit international S. 57 f.
iI rt!sulte des dispositions ... des traites de Rome du 25 mars 1957 ... que le developpement des communautes europeennes prevoit, notamment, pour le financement de leur budget, sous reserve du respect des procedures prevues par les stipulations des traites susmentionnes, le passage progressif d'un systeme de contribution des Etats membres a un regime de ressources propres; ... lesdits Iraites ont ete reguIierement ralijies et publies el sonl, des lors enlres dans le champ d'applicalion de I'arlic/e 55 de la Conslitution;" (5. Erwägungsgrund). 42 " ... la decision du 21 avril 1970 prend place dans un ensemble de mesures d'execution liees a I'etablissement d'une politique commune; ... elle ne saurait donc avoir par elle-meme valeur de principe; .. , dans le cas de I'espece elle ne peut porter atteinte, ni par sa nature, ni par son importance, aux conditions essentielles d'exercice de la souverainete nationale." (8. Erwägungsgrund). 43 s. nur Huglo in: La Cour de cassation et la Constitution (1995), 254 (260 f); Aulexier RIDC 1982,337 ff (insbes. 366 ff); schon früh im Sinne dieser Konsequenz aber Conslantinesco RTDE 1966, 1 (23 f). 41 " ...
44 Darauf weisen etwa Pactel Melanges Chapus (1992), 503 (511 ff) und BlaizolHazard RDP 1992, 1293 (1313 f) hin.
13 GundeI
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
Die einzige Sicherheit, die sich dem Mitgliedstaat hier "vertragsimmanent" bietet, ist das Vertrauen auf den vom Vertrag selbst gesetzten inhaltlichen Rahmen und die Funktionsflihigkeit der im Vertrag vorgesehenen Kontrollmechanismen und -organe, die die Einhaltung dieses Rahmens durchsetzen. Allein diese Aspekte sind einer präventiven Überprüfung vor Abschluß des Vertrags selbst zugänglich, die zu diesem Zeitpunkt aber stark prognostischen Charakter tragen muß.
a) Hinsichtlich EG-Verordnungen
Dennoch hat der Conseil constitutionnel - zeitlich in unmittelbarem Anschluß an seine beunruhigende Europawahl-Entscheidung - in zwei Entscheidungen vom 30.12.1977 die Unangreitbarkeit auch des Sekundärrechts behauptet und auf diese Weise die angegriffenen Gesetze einer inhaltlichen Überprüfung entzogen, soweit sie nur Vorgaben des Sekundärrechts umsetzten: Das Sekundärrecht schirmt insoweit das Gesetz gegen die Verfassungskontrolle ab. Dieses Phänomen wird in der französischen Literatur geläufig als ecran communautaire4S oder allgemeiner, da es nicht auf das Gemeinschaftsrecht beschränkt ist, als Traite-ecran bezeichnet46 • In der ersten dieser Entscheidungen·7 war formaler Gegenstand der Überprüfung ein Haushaltsanpassungsgesetz, das auch die nationalen Ausführungsbestimmungen zur Erhebung der durch EG-Verordnung eingeführten Isoglucose-Abgabe enthielt. Die beschwerdeführenden Parlamentarier rUgten, daß das Gesetz nicht auch entsprechend Art. 34 der Verfassung Höhe und Grundlage der Abgabe selbst festsetzte und hielten insgesamt - unter Bezugnahme auf die DirektwahlEntscheidung des Conseil constitutionnel - die Festsetzung dieser Abgabe
4S So der Titel des Beitrags von Kovar zu den Melanges Boulouis (1991), 341 ff: "Le droit national d'execution du droit communautaire: Essai d'une theorie de I' 'ecran communautaire'. " 46 s. nur Flauss LPA 1992 Nr. 83,10.7.1992, S. 16 (20); Abraham Droit international S. 52; zum Parallelphänomen des ecran legislatif, der vor den Fachgerichten eine Kontrolle des Verwaltungshandelns am Maßstab der Verfassung (und über lange Zeit am Maßstab auch der Verträge) ausschließt, s.u. 3. Kap. B. I. 4. a) bb) a) sowie 5. Kap B. III. I. a).
CC 30.12.1977 No 77-89 DC - Cotisation a la production d'isoglucose, Rec. S. 44 1979, 142 (I. Entscheidung) m.Anm. Isaac I Molinier = RDP 1979,507 (2 Entscheidungen) m. Bespr. Philip S. 465 (467 ff); deutsche Übersetzung in EuR 1978, 363 (2 Entscheidungen) m.Anm. Bieber; s. auch Darmon RTDE 1988,217 (230 ff). 47
= RTDE
B. Prozessuale Durchsetzung
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durch EG-Verordnung für eine Verletzung der nationalen Souveränität Frankreichs. Unausgesprochen ging es den Beschwerdeführern also darum, aus der Direktwahl-Entscheidung (negative) Folgerungen für das bestehende Gemeinschaftsrecht zu ziehen, insbesondere die Eigenmittel-Entscheidung von 1970 zu korrigieren 48 • Der Conseil constitutionnel wies diesen Versuch mit dem Argument zurück, daß die beanstandeten gesetzlichen Regeln nur Konsequenz bereits geltender und vom Conseil constitutionnel nicht mehr zu prüfender - Verträge seien 49 • Die zweite Entscheidung vom 30.12.1977 50 wiederholt diese Argumentation in bezug auf das Haushaltsgesetz für 1978, das wiederum Ausfllhrungsregeln für die Erhebung der Isoglucose-Abgabe enthielt. Auf die zusätzlich gegen dieses Gesetz erhobene Rüge, wonach dieses auch nationale Regeln zur Erhebung der zu dieser Zeit durch EG-Verordnung eingeführten Mitverantwortungsabgabe fllr die Milchproduktion enthalten müsse, antwortet der Conseil constitutionnel darüber hinausgehend, daß eine solche gesetzliche Regelung auch gar nicht mehr nötig ist: Die EG-Verordnung reicht als Grundlage dieser Abgabe aus.
ß) Hinsichtlich EG-Richtlinien Ein weiteres Mal wurden diese Argumente mit besonderer Schärfe in den politischen Auseinandersetzungen um die gesetzliche Umsetzung der 6. Mehrwertsteuerrichtlinie51 Ende der siebziger Jahre ausgetauscht. Die Regierungsvorlage des Umsetzungsgesetzes wurde in der Folge von der Nationalversammlung in einer spektakulären Abstimmung durch die - in der 5. Republik bis dahin beispiellose - Annahme einer wiederum von Jacques Foyer
48
So Philip RDP 1979,465 (472).
les rI:percussions de la repartition des competences ainsi operee entre les institutions communautaires et les autorites nationales au regard tant des conditions d'exercice de la souverainete nationale que du jeu des rI:gles de l'article 34 de la Constitution ... ne sont que la consequence d'engagements internationaux souscrits par la France qui so nt entres dans le champ de l'article 55 de la Constitution;" (5. Erwägungsgrund). 49 " ...
50 CC 30.12.1977 No 77-90 DC - Prelevement de co-responsabilite sur le lait, Rec. S. 46 = RTDE 1979, 142 (2. Entscheidung) m.Anm.lsaac / Molinier = RDP 1979,507 (2 Entscheidungen) m. Bespr. Philip S. 465 (467 ff); deutsche Übersetzung in EuR 1978, 363 (2 Entscheidungen) m.Anm. Bieber. 51 Dazu ausfllhrlich Isaac Annales Toulouse, 1980, 35 ff; Buffet-TchakaloffCour de Justice S. 341 f.
13*
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
beantragten exception d'irrecevabilite 52 als verfassungswidrig verworfen 53 , da sie der Umsetzung einer ihrerseits zu detaillierten und damit ebenso vertragswie verfassungswidrigen Richtlinie diene 54 • Die Umsetzung konnte schließlich dennoch erfolgen, weil die Regierung das als eigenständige Vorlage gescheiterte Vorhaben der parallel dazu beratenen Vorlage des 3. Haushaltsanpassungsgesetzes anfligen konnte 55 • Nachdem die auch gegen dieses Gesetz erhobene exception d'irrecevabilite in der Nationalversammlung keine Mehrheit mehr gefunden hatte und das Gesetz einschließlich der Vorschriften zur Umsetzung der Richtlinie verabschiedet worden war, riefen die Gegner der Umsetzung nunmehr gegen dieses Gesetz den Conseil constitutionnel an. Sie wiederholten hier aber nicht die inhaltlichen Rügen gegen die Richtlinie: Die Beschwerdeflihrer zogen sich vielmehr auf verfahrensrechtliche Rügen zurück und argumentierten, daß die Aufnahme der gescheiterten Gesetzesvorlage in das schließlich verabschiedete Gesetz unzulässig gewesen sei. Diese Rügen hat der Conseil constitutionnel mit Entscheidung vom 29.12.1978 56 in
52 Zu diesem Institut Avrill Gicquel Droit par1ementaire S. 145; umfassend Autin RDP 1983, 687 ff; mit der Annahme der exception d'irrecevabilite ist die weitere Beratung der Vorlage durch die betr. Kammer des Parlaments ausgeschlossen. Im Parlamentsrecht der 5. Republik ist die exception d'irrecevabilite von der "question prealable" zu unterscheiden, deren Annahme zu demselben Ergebnis fIlhrt, die aber keine verfassungsrechtlichen Zweifel, sondern die grundsätzliche (und von der Beratung weiterer Details damit unabhängige) politische Ablehnung der Vorlage zum Ausdruck bringt; an der Annahme einer solchen "question prealable" - die damals noch unterschiedlos politische wie rechtliche Einwände abdeckte - war unter der 4. Republik das Zustimmungsgesetz zum EVG-Vertrag gescheitert; zur Abgrenzung beider Institute auch Pimont RDP 1970,351 ff; Autin RDP 1983,687 (693 ff). 53 Im System der 5. Republik ist die exception d'irrecevabilite - obwohl erstmals als eigenständiges Institut ausgewiesen - insofern ein anachronistisch wirkender Fremdkörper, als sie im Falle ihrer Annahme - wie in den Zeiten vor der Existenz des CC das Parlament zum einzigen Richter über die Verfassungsmäßigkeit der betroffenen Gesetzesvorlage macht: wird die exception angenommen, so ist die Vorlage gescheitert, ohne daß der CC die Chance erhielte, seinerseits die Berechtigung der verfassungsrechtlichen Bedenken zu beurteilen, s. dazu Autin RDP 1983, 687 (724 f). 54 s. lsaac Annales Toulouse, 1980, 35 (39 ft); Dhommeaux RDP 1987, 1449 (1463 f). 55 Dazu Isaac Annales Toulouse, 1980, 35 (42 ff); Autin RDP 1983, 687 (718 f). 56 CC 29.12.1978 No 78-100 DC - Loi de finances rectificative, Rec. S. 38 = D. 1979 jp 541 m.Anm. Hamon = RDP 1979,510 m.Bespr. Philip S. 465 (479).
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der Sache geprüft und verworfen, so daß die Umsetzung schließlich rechtzeitig zum 1.1.1979 in Kraft treten konnte 57 • Gemeinschaftsrechtlich war die Prüfung insoweit nicht zu beanstanden, da die Art und Weise der nationalen Richtlinien-Umsetzung vom ecran communautaire nicht gedeckt wird58 • Obwohl der Conseil constitutionnel weder in dieser noch in späteren Entscheidungen zu der Frage einer inhaltlichen Inzident-Prüfung der Richtlinie ausdrücklich Stellung bezogen hat, dürften die materiellen Vorgaben durch den "ecran communautaire" gegen eine verfassungsrechtliche Überprüfung in gleicher Weise abgeschirmt sein, wie dies für EG-Verordnungen bereits ausdrücklich entschieden ist59 • Darauf deutet auch die Formulierung der ersten Maastricht-Entscheidung hin, die unterschiedslos das gesamte auf den Vertrag gestützte Sekundärrecht diesem in seinem Geltungsanspruch gleichstellt60 • Es hat sich jedoch schnell gezeigt, daß dieser Ausschluß der Inzidentkontrolle auch des Sekundärrechts am Maßstab der Verfassung kein Privileg allein des Gemeinschaftsrechts in der französischen Rechtsordnung ist. Er
57 Angesichts der Umsetzungsschwierigkeiten, auf die die 6. Mehrwertsteuerrichtlinie in fast allen Mitgliedstaaten stieß, hatte die 9. Mehrwertsteuerrichtlinie die ursprünglich auf den 1.1.1978 festgesetzte Umsetzungsfrist um ein Jahr verlängert. 58 Zur Möglichkeit der Rüge von nationalen Verfahrensfehlern bei der Anpassung an die Vorgaben des Gemeinschaftsrechts s.u. 3. Kap. B. I. 2. d) aa) ftlr Gesetze, 3. Kap. B. 11. 2. ftlr nationale Verordnungen. 59 Die - auf das nationale Gesetzgebungsverfahren begrenzt gebliebene - Überprüfung in der Entscheidung vom 29.12.1978 beruhte also nicht darauf, daß es sich in diesem Fall um die Umsetzung einer Richtlinie handelte, während die Entscheidungen von 1977 die Ausführung von Verordnungen betrafen; so aber wohl Rideau in: La Cour de cassation et la Constitution (1995), 227 (230); ders. in: Rep. cont. adm. Stichwort droit communautaire Rn 310; ders. AUC 1991, 11 (57); ähnlich Robert RDP 1990, 1255 (1271); wie hier dagegen Huglo in: La Cour de cassation et la Constitution (1995),255 (261); PnJtot in: La Constitution et l'Europe (1992),33 (47 f); Abraham Droit international S. 52 ff; Darmon RTDE 1988, 229 (232): " ... Le raisonnement du Conseil constitutionnel applique aux reglements devrait pouvoir concerner, mutatis mutandis, les directives et conduire a reconnaitre pareillement leur constitutionnalite par definition". 60 Zur Bedeutung dieser Entscheidung ftlr den verfassungsprozessualen Status des geltenden Gemeinschaftsrechts s. noch unten 3. Kap. B. I. 3. b) bb) a); hier betroffen ist der 6. Erwägungsgrund: " ... engagements internationaux anterieurement souscrits par la France et introduits dans son ordre juridique en vertu de I'effet conjugue des lois qui en ont autorise la ratification et de leur publication soit au Journal officiel de la Republique fran~aise, soit au Journal o.fJiciel des Communautes europeennes. conformement al'article 3 du decret no 53-192 du 14 mars 1953 modifie".
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
kommt auch anderen sekundärrechts-ähnlichen Normsetzungsmechanismen klassischer internationaler Organisationen zugute, wie die Entscheidung des Conseil constitutionnel vom 29.4.1978 61 zur 2. Änderung der Statuten des Internationalen Währungsfonds (lWF) verdeutlicht: Nach den Statuten des IWF tritt, sofern nicht bestimmte Kernfragen betroffen sind, eine Änderung der Statuten für alle Mitgliedstaaten in Kraft, wenn sie von 3 / 5 der Mitgliedstaaten (die zugleich 4 / 5 der Stimmen im IWF repäsentieren müssen) völkerrechtlich gebilligt wird. Auch die französische Regierung hatte zunächst beabsichtigt, vom Parlament die gemäß Art. 53 der Verfassung erforderliche Zustimmung zu diesem Schritt zu verlangen. Angesichts der absehbaren Ablehnung dieses Vorhabens auch durch Teile der Regierungsmehrheit in der Nationalversammlung wurde diese Plan jedoch fallengelassen. Die Regierung wartete statt dessen das Inkrafttreten der Änderung aufgrund der Zustimmung durch die anderen Mitgliedstaaten ab, und legte dem Parlament nur noch ein Gesetz vor, mit dem die finanziellen Folgeerscheinungen der Änderung (insbes. die zur Wahrung des französischen Gewichts im IWF erforderliche Erhöhung der Einlage) geregelt werden sollten62 • Die Opposition in der Nationalversammlung rief gegen dieses Gesetz den Conseil constitutionnel an und beanstandete in diesem Rahmen, daß die zugrunde liegende Änderung der Statuten der Zustimmung des Parlaments bedurft hätte. Der Conseil constitutionnel antwortete auf diese Argumentation, daß Frankreich das IWF-Statut und damit auch die in ihm vorgesehene Möglichkeit einer Änderung durch Mehrheitsentscheidung bereits mit seinem Beitritt akzeptiert hatte 63 ; eine Kontrolle dieser Mehrheitsentscheidung am Maßstab der Verfassung war damit ausgeschlossen.
61 CC 29.4.1978 No 78-93 DC - Fonds monetaire international (FMI), Rec. S. 23 = D. 1979 jp 541 (I. Entscheidung) m.Anm. Hamon = RGDIP 1979,217 m.Anm. Carreau S. 209 = 101 1978,577 Anm Ruzie = RDP 1979,513 m.Bespr. Philip S. 465 (494 ft); dazu auch Bringuier Annales Clermont 1978, 3 ff; Dhommeaux RDP 1987, 1449 (1464 t). 62 Zu den Einzelheiten Ruzie Anm. 101 1978,579 (581 t); Hamon Anm D. 1979 jp 543; Carreau RGDIP 1979, 209 (211 ft).
63 " ... iI est constant que le second amendement a recueilli les conditions de majorite exigees par l'artic/e 17 et qu'i1 est, par suite, entre en vigueur le 1er avril cl I'egard de tous les Etats; ... iI s'impose des lors cl la France meme en I'absence de toute procedure d'approbation sur autorisation legislative dans les conditions prevues par I'article 53 de la Constitution, en vertu des engagements qu'elle a souscrits en adherant reguIierement, cl la suite de la loi du 26 decembre 1945, a I'accord relatif au Fonds Monetaire International" (6. Erwägungsgrund).
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Damit erscheint als hinreichend gesichert, daß die von als verbindlich ausgestalteten64 Mehrheitsentscheidungen internationaler Gremien ausgehende Bindungswirkung in der französischen Rechtsordnung auch eine Kontrolle am möglicherweise abweichenden Maßstab der Verfassung ausschließt - alles andere wäre eine inzidente Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit des bereits verbindlichen Vertrags selbst.
bb) Kontrolle der Vertragsmäßigkeit des Sekundärrechts Die Ausfilhrungen des Conseil constitutionnel in der Entscheidung zur Änderung der IWF-Statuten63 konnten den Eindruck entstehen lassen, daß der Conseil constitutionnel in solchen Fällen statt der Verfassungsmäßigkeit der Sekundärrechtsakte ihre Vereinbarkeit mit dem Primärrecht prüfen wUrde66 ; eine solche ersatzweise Prüfung wäre an sich nicht unvorstellbar67 , denn nur soweit das Sekundärrecht sich im Rahmen der Vorgaben des Primärrechts hält, ist es tatsächlich durch die Ratifikation des zugrundeliegenden Vertrages "gedeckt". Bei entsprechender Kooperation mit dem EuGH (und Achtung seines Verwerfungsmonopols) wäre eine solche Überprüfung auch nicht gemeinschaftsrechtswidrig68 •
64 In einer ähnlichen Konstellation inzidenter Kontrolle läßt eine andere Entscheidung aus dieser Zeit die Rüge gerade an der fehlenden Verbindlichkeit der Entscheidung scheitern: ee 29.12.1978 No 78-99 De - Loi de finances pour 1979, Rec. S. 36 = D. 1979 jp 541 (2. Entscheidung) m.Anm. Hamon = lDI 1979, 79 m.Anm. Ruzie = RDP 1979,510 m.Anm. Phi[jp S. 465 (475 ft): gerügt wurde hier, daß der französische Gesetzgeber sich zu Unrecht dem Beschluß des Europäischen Rates zur Errichtung des Europäischen Währungssystems unterworfen habe, ohne daß eine ordnungsgemäße Ratifikation erfolgt wäre. Der ee stellt fest, daß eine solche Unterwerfung nicht vorliege, da der Beschluß vom 5.12.1978 lediglich eine politische Absichtserklärung ohne rechtliche Bindungswirkung darstelle; auch eine vom Parlament gebilligte Ratifikation sei daher nicht nötig gewesen. 63 s.o. Fn 63.
66 So Dhommeaux RDP 1987, 1449 (1482 m.Fn. 126); Genevois lurisprudence Rn 566, S. 362; kritisch Phi[jp RDP 1979, 465 (496 t), der diese Passagen der Entscheidung als überflüssig ansieht; ebenso Carreau Anm. RGDIP 1979, 209 (215 t); ablehnend auch Ruz;e Anm. ID1 1978,579 (548 ff). 67 So freilich Ruzie Anm. lDI 1978, 579 (548 ft); Carreau Anm. RGDIP 1979, 209 (215); wohl auch Flauss LPA 1992 Nr 85, 15.7.1992, 17 (20); dagegen zu Recht Hamon Anm. D. 1979 jp 543 (544). 68 So zu Recht Constantinesco / Jacque in: Koenig / Rüfner (1985), 175 (183); Jacque in: Droit constitutionnel et droits de l'homme (1987), 321 (325).
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3. Kapitel: Verfassungs rechtliche Grenzen der Integration
Innerhalb der Rechtsprechung des Conseil constitutionnel würde eine solche Überprüfung am Maßstab des Primärrechts dagegen eine erhebliche Anomalie darstellen, da der Conseil constitutionnel die Verträge nicht in den "bloc de constitutionnalite" einbezieht und mit dieser Begründung die Kontrolle der Gesetze am Maßstab der Verträge verweigert. Es bedürfte zumindest genauerer Erklärung, wieso der Vertrag gerade und allein im Verhältnis zum Sekundärrecht zum Prüfungsmaßstab rur den Conseil constitutionnel werden sollte. In späteren Entscheidungen hat er eine solche Kontrolle auch ausdrücklich abgelehnt69 • Die IWF-Entscheidung wird daher heute eher dahin interpretiert, daß der Conseil constitutionnel hier allein die Existenz der Statuten-Änderung überprüft haeo. Auch die Frage etwaiger Kompetenzüberschreitungen durch Sekundärrecht dürfte danach den Conseil constitutionnel nicht berühren 71 ; derartige Rügen sind von den Fachgerichten in Kooperation mit dem EuGH zu prüfen 72 • Seit der Schengen-Entscheidung ist freilich zu vermuten, daß der Conseil constitutionnel die mit der Kontrolle von Sekundärrechtsakten verbundenen strukturellen Rechtsschutzprobleme im Vorfeld, nämlich im Rahmen der präventiven Überprüfung des Vertrages selbst berücksichtigt, sofern ihm durch eine Anrufung Gelegenheit dazu gegeben wird: Aus der Entscheidung ergibt sich, daß ein Vertrag, der unmittelbar in den Mitgliedstaaten wirkende Sekundärrechts-Akte vorsieht, auch den zugehörigen Rechtsschutz gegen dieses Sekundärrecht bereitstellen muß 73 • Wie der Conseil constitutionnel kurz darauf in
69 s.U. 6. Kap. B. III. I. sowie im hiesigen Zusammenhang Favoreu u.a. AUC 1991, 529 (552); unzutreffend daher die Darstellung von Goyard DÖV 1989,259 (262), nach der der CC das Sekundärrecht am Vertrag mißt. 70 So Genevois in: CC et CE (1988),191 (199); Flauss LPA 1992 Nr. 85,15.7.1992, S. 17 (20); Pretot RTDE 1992, 194 (197). 71 Zweifelnd Dubouis Melanges Boulouis (1991),205 (209).
72 Zu vom Gemeinschaftsrecht wider Erwarten nicht "abgeschirmten" und möglicherweise verfassungswidrigen Umsetzungsgesetzen s. aber unten 3. Kap. B. I. 2. e): die Fachgerichte können das Problem derzeit nicht lösen, da sie zwar - in Kooperation mit dem EuGH - eine etwaige Vertragswidrigkeit des Gesetzes feststellen und berücksichtigen, die möglicherweise unabhängig davon gegebene Verfassungswidrigkeit aber nicht prüfen können.
73 So der Umkehrschluß aus dem 62. Erwägungsgrund von CC 25.7.1991 - Accord de Schengen, Rec. S. 91; s.o. 3. Kap. A. 11. 3. b) bb) mit Fn 423.
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der Maastricht-I-Entscheidung74 festgestellt hat, bereiten diese Anforderungen dem Gemeinschaftsrecht jedoch keine Schwierigkeiten. c) Unantastbarkeit von EuGH-Entscheidungen
An dem durch den Schirm des geltenden Vertrages vermittelten Schutz nehmen auch die Entscheidungen des EuGH teil; tatsächlich bilden sie innerhalb des Vertragswerks - jedenfalls nach streng kontinentaleuropäischem Verständnis - selbst dann keine eigene Normenkategorie oder Rechtsquelle 7S, wenn der EuGH der Sache nach als "Ersatzgesetzgeber,,76 tätig wird oder Richterrecht setzt: Formal stellen seine Entscheidungen nur die authentische Lektüre des von ihm ausgelegten Primär- oder Sekundärrechts dar. Die Mißachtung oder Infragestellung der Verbindlichkeit dieser Entscheidungen stellt sich also als Infragestellung des jeweils vom EuGH ausgelegten Gemeinschaftsrechts und gleichzeitig der Art. 164 ff EGV dar, die diese Kompetenz zu letztverbindlicher Auslegung begrunden, ohne eine Beschränkung durch eine nationale "Vertretbarkeitskontrolle" vorzusehen 77. 74 17. und 18. Erwägungsgrund von CC 9.4.1992 - MaastrichtI, Rec. S. 55 = GDCC Nr. 45, S. 771 (1. Entscheidung); s.o. 3. Kap. A. H. 3. b) bb) mit Fn 427. 75 Dies scheint auch dem (Selbst-)verständnis des EuGH zu entsprechen: vom TGI Paris um die Wirkungen eines zuvor im Vertragsverletzungsverfahren ergangenen Urteils befragt, stellt er fest, "". daß sich die dem einzelnen zustehenden Rechte nicht aus diesem Urteil, sondern aus den Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts, die in der innerstaatlichen Rechtsordnung unmittelbare Wirkung haben, selbst ergeben": EuGH 14.12.1982 verb. Rs. 314 - 316 / 81 und 83 / 82 - Procureur de la Republique et Comite National de defense contre I'alcoolisme gegen Alex Waterkeyn, Slg. 1982,4337, Tz. 16 = D. 1983 jp 425 m. Anm. Chevallier I Constantinesco; s. jetzt auch EuGH 13.2.1996 verb. Rs. C-197 / 94 und C-252 / 94 - Ste Bautiaa gegen Directeur des services fiscaux des Landes und Ste frant;aise maritime SA gegen Directeur des services fiscaux du Finistere, Sig. 1996, I - 505, Tz. 47: "In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß nach ständiger Rechtsprechung durch die Auslegung einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts, die der Gerichtshof in Ausübung seiner Befugnisse aus Artikel 177 des Vertrages vornimmt, erläutert und erforderlichenfalls verdeutlicht wird, in welchem Sinn und mit welcher Tragweite diese Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre." 76 Dazu etwa Pescatore GS Constantinesco (1983), 559 ff; Everling RabelsZ 50 (1986), 192 (206 ff); Art in: Constitutional Adjudication (1992), 121 ff; Borchardt GS Grabitz (1995), 29 ff. 77 So Luchaire. Diskussionsbeitrag in: Conac / Maus (1990), 119 f gegen Goguel aaO S. 116 f, der über den Gegenseitigkeitsvorbehalt des Art. 55 eine solche Vertretbarkeitskontrolle begründen will: nach dieser Konstruktion ist bei einer Auslegung des
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
Auch hier gilt, daß das geltende Gemeinschaftsrecht in der französischen Rechtsordnung jedenfalls dogmatisch besser steht als in der deutschen Rechtsordnung: Während hierzulande inzwischen regelmäßig die Verbindlichkeit nicht gefallender EuGH-Entscheidungen mit verfassungsrechtlichen Erwägungen - wie Kompetenzüberschreitung, "Ausbruch aus dem Vertrag" etc. angegriffen wird, sind solche Argumente in der französischen Rechtsordnung fruchtlos, da sie eine Auflehnung gegen das vom Vertrag bereits zuvor geschaffene und damit unangreifbare System darstellen. Beanstandungen der Rechtsprechung des EuGH sind auf dieser Ebene auch vereinzelt geblieben; bekannt geworden 78 ist allein der spektakuläre Versuch der Abgeordneten Michel Debn~ und Jacques Foyer, den EuGH-Beschluß 1/78 79 wegen "Mißbrauch und Kompetenzüberschreitung"80 durch Gesetz rur unverbindlich gegenüber der französischen Republik erklären zu lassen 81 . Vertrages durch den EuGH, die französischen Vorstellungen widerspricht, die Gegenseitigkeit nicht mehr gewahrt und deswegen diese Auslegung unverbindlich, weil ihr die Basis des Art. 55 abhanden gekommen ist (ebenso ders. Le Figaro 9.4.1990, Droit communautaire et droit fran9ais. Primaute absolue de la Constitution, S. 2 t); diese abenteuerliche Konstruktion wird aber allgemein abgelehnt, s. außer Luchaire aaO nur Rideau in: Rep. cont. adm. Stichwort Droit communautaire Rn 354; ders in: La Constitution et I'Europe (1992), 67 (160).
78 Dazu Vlad Constantinesco Anm. JOI 1979, 929 ff; Apollis RMC 1979, 185 ff; Bettati Pouvoirs Nr. 48, 1989, 57 (64 t) sowie lsaac in: Les effets (1983), 101 (131 ff), insbes. zum Schicksal der Initiative S. 133. 79 EuGH 14.11.1978 Beschluß gern. Art. 103 Abs. 3 EAGV - Objektschutz von Kernmaterial, Slg. 1978, 2151; die Aufregung um diese Gutachten-Entscheidung rührte wohl auch daher, daß hier die nuklearen Grundlagen der nationalen Souveränität berührt waren. 80 Proposition de loi portant retablissement de la souverainete de la Republique en matiere d'energie nucleaire, Doc. AN No 917, wiedergegeben auch bei lsaac in: Les effets (1983),101 (132): "Est expressement constatee la nullite au regard de la Republique fran9aise, pour cause de fraude et d'exces de pouvoir, de I'acte dit 'Deliberation de la Cour de justice des Communautes europeennes', .... Cette constatation de nullite vaut pour les effets de I'application de la doctrine enoncee audit acte anterieurs a la publication de la presente loi. La sournission volontaire de toute autorite fran9aise a la doctrine enoncee par I'acte annule constitue le crime de forfaiture." Die Debatte um diesen Gesetzesvorschlag erbrachte das überraschende Bekenntnis Debres, er habe zu seiner Zeit als Premierminister die Anordnung gegeben, den EAGV nicht anzuwenden, dazu Vlad Constantinesco Anm. JOI 1979, 929 (933). 81 Auch nach den Maßstäben der französischen Rechtsordnung hätte dieses Gesetz den Vorrang des Vertrags in seiner Auslegung durch EuGH und damit die Verbindlichkeit der EuGH-Entscheidung nicht berühren können; praktisch sinnvoll war das Un-
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Der Conseil constitutionnel ist schon mangels Rechtswegs bisher anders als das BVerfG nicht unmittelbar mit der Verbindlichkeit von EuGH-Entscheidungen befaßt worden; er hatte aber in mehreren Fällen über die Verfassungsmäßigkeit nationaler Gesetzesänderungen zu befinden, die zur Anpassung der nationalen Rechtslage an die zuvor durch Entscheidungen des EuGH . geklärten Anforderungen des Gemeinschaftsrechts erfolgten ft2 • In keiner dieser Entscheidungen hat der Conseil constitutionnel die Tatsache angesprochen, daß der die Anpassungen erforderlich machende Inhalt des Vertrages zuvor erst vom EuGH definiert worden war. Insbesondere in der letzten dieser Entscheidungen, die das Gesetz zur Öffnung des öffentlichen Dienstes rur Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten betraf, hatten dabei die Antragsteller gerade versucht, den Conseil constitutionnel gegen den EuGH "in SteIlung" zu bringen: Sie hatten gerügt, daß diese Öffnung nicht nur gegen die Verfassung, sondern auch gegen Art. 48 Abs. 4 EWGV in seiner "richtigen", nämlich souveränitätsschützenden, aber von der Rechtsprechung des EuGH abweichenden Auslegung verstoße. Der Conseil constitutionnel ist auf diese Argumentation nicht eingegangen, da er die Kontrolle des Gesetzes am Maßstab des Vertrages nicht als seine Aufgabe ansieht: Nachdem er diesen Maßstab nicht heranzieht, besteht auch keine Gelegenheit, ihn in Konkurrenz mit dem EuGH und möglicherweise abweichenden Ergebnissen auszulegen. Offen bleibt bei diesem Befund allerdings das Verhältnis zwischen einer vom Conseil constitutionnel anläßlich der präventiven Kontrolle des Vertrages
ternehmen nur vor dem Hintergrund der damaligen Rechtsprechung des CE, die auf prozessualer Ebene die Ourchsetzung des Vorrangs vor dem Gesetz verweigerte, s. dazu unten 4. Kap. B. 11. 3.; folgerichtig schließt die Proposition de loi der Abgeordneten Oebn~ und Foyer (s. vorige Fn) mit einer Zuständigkeitszuweisung zugunsten des CE: "Le Conseil d'Etat est seul competent po ur interpreter la presente loi. Toute question d'interpretation soulevee devant quelque juridiction que ce soit, a I'exception de la Haute Cour de justice, est prejudicielle." Zur Kontrolle eines solchen Nichtanwendungs-Gesetzes durch den CC s. unten 4. Kap. B. 11. 1. a) bb) ß). 82 CC 30.12.1980 No 80-126 OC - Loi de finances pour 1981, Rec S. 53 = O. 1981 ir/sc 359 m.Anm. Hamon = RDP 1982, 127 (150) m.Anm. Philip S. 127 (129 ff) = RGDIP 1981,601 m.Anm. Decaux zur Anpassung der französischen Spirituosen-Besteuerung an die durch EuGH 27.2.1980 Rs. 168/78 - Kommission / Frankreich, Slg. 1980,347 geklärten Erfordernisse des Art. 95 EWGV; dazu etwa Gai"a Insertion S. 70 f. CC 23.7.1991 No 91-293 OC - Loi portant diverses dispositions relatives a la fonction publique, Rec. S. 77 = O. 1991 jp 617 (1. Entscheidung) m.Anm. Uo Hamon = RFOA 1991,918 m.Anm. Dubouis S. 903 = RFOC 1991,699 m.Anm. Gai'a = ALO 1992, 72. Zu diesen bei den Entscheidungen des CC s. auch noch unten 3. Kap. B. I. 3. b) aa).
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vorgenommenen präventiv-verfassungskonformen Auslegung 83 des Vertrages und späteren Entscheidungen des EuGH, die diese Auslegung nicht übernehmen; - insoweit bestünde durchaus ein Ansatzpunkt für einen Vertretbarkeitsvorbehalt nach deutschem Muster, der aber bisher nicht nutzbar gemacht wurde 84 • d) Grenzen der Unantastbarkeit: Der ecran transparent
Diese "Abschirmung" nationaler Ausfilhrungsgesetze durch den Vertrag oder das auf ihn gestUtzte Sekundärrecht hat ihre natürlichen Grenzen dort, wo der Vertrag dem nationalen Gesetzgeber selbst noch Spielraum läßt: Die Ausfilllung dieses Spielraums unterliegt weiter der Kontrolle durch den Conseil constitutionnel am Maßstab der Verfassung, wie dieser in mehreren Entscheidungen deutlich gemacht hat. aa) Nationales Umsetzungsverfahren Wie vor allem die Entscheidung zur Umsetzung der 6. MehrwertsteuerRichtlinie 8s gezeigt hat, bleibt die Rüge von Fehlern im nationalen Gesetzgebungverfahren möglich 86 • Der Erfolg solcher Rügen kann allerdings dazu fUhren, daß die Anpassung des nationalen Gesetzes an die Vorgaben des Gemeinschaftsrechts oder die Umsetzung von Sekundärrecht verhindert oder zumindest verzögert wird. Die Regelung der Folgen eines solchen Konflikts 83 Zu diesem Problem etwa Bon in: Droit constitutionnel et droits de I'homme (1987),269 (318 f); Rousseau RDP 1993, 5 (32); zu Hypothese der verfassungskonformen Auslegung eines bereits in Kraft getretenen Vertrages durch die Fachgerichte s. jetzt CE Ass. 3.7.1996 - Moussa Kone, D. 1996 jp 509 m.Anm. Julien-Laferriere = RFDA 1996, 880 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Delarue S. 870 und Anm. Favoreu S. 882, Gai"a S. 885, Labayle S. 890 u. Delperee S. 908 = RDP 1996, 1760 m.Anm. Braud S. 175 I = lCP 1996 11 22720 m.Anm. Pretot = AJDA 1996, 805 m.Anm. Chauvaux ! Girardot S. 722 ff = RGDIP 1997, 237 m.Anm. Alland; zu dieser Entscheidung s. noch unten 3. Kap. B. 11. I. b). 84 Gänzlich ablehnend gegenüber einer präventiv-verfassungskonformen Auslegung der Verträge durch den CC Luchaire RDP 1992, 589 (593): "... si les decisions du Conseil constitutionne1 s'imposent a toutes les autorites ... , il n'en est ainsi que dans I'ordre juridique frant;:ais; de plus et surtout ce n'est pas lui, mais la Cour de lustice des Communautes europeennes qui interprete souverainement le droit communautaire." 8S CC 29.12.1978 No 78-100 DC, Rec. S. 38 = D. 1979 jp 541 m.Anm. Hamon = RDP 1979, 510 m.Anm. Philip S. 465 (479 ff); s.o. 3. Kap. B.1. 2. b) aa) ß).
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Dubouis Melanges Boulouis (1991),205 (210); Gai"a Insertion S. 69 f.
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also die Durchsetzung des Vorrangs der Verträge wie auch des Sekundärrechts gegenüber dem nach wie vor abweichenden Gesetzesrecht auf der Grundlage von Art. 55 der Verfassung - ist dann aber nicht Sache des Conseil constitutionnel, sondern Aufgabe der Fachgerichte 87 •
bb) Die Kontrolle der Ausflillung inhaltlicher Spielräume durch den nationalen Gesetzgeber Auch die Ausfüllung der vom Vertrag gelassenen inhaltlichen Spielräume durch den nationalen Gesetzgeber ist weiter in vollem Umfang am Maßstab der Verfassung zu messen. Besonders deutlich haben das die Entscheidungen zu nationalen Gesetzgebungsvorhaben im Gefolge des Schengener Vertrages gezeigt: Die berühmt gewordene Entscheidung vom 13.8.1993 88 verpflichtete den nationalen Gesetzgeber, zur Wahrung der national-verfassungsrechtlichen Gewährleistung des Asylrechts die vom Schengener Vertrag offengelassene Möglichkeit einer "hinkenden Teilnahme" am Schengener System zu nutzen 89 • Eine weitere Entscheidung vom 5.8.1993 90 hat eine andere, vom Schengener Abkommen zugelassene, aber nicht geforderte Ausführungsmaßnahme für zum Teil verfassungswidrig erklärt: Als Kompensation für den Wegfall der Kontrollen an den Binnengrenzen der Vertragsstaaten sah das betroffene Gesetz die Möglichkeit vor, in einen Grenzabschnitt von 20 Km landeinwärts auch ohne konkrete Verdachtsmomente Personenkontrollen vornehmen zu können; der zuständige Präfekt wurde ermächtigt, die betroffene Zone auf 40 Km zu erweitern. Während der Conseil constitutionnel die 20-Km-Regelung als durch die Erfordernisse der öffentlichen Sicherheit und die Besonderheiten der Grenzlage gerechtfertigt ansah, hat er die Ermächtigung zur Ausweitung auf bis zu 40 Km als zu weit gehenden Eingriff in die Handlungsfreiheit der von jederzeitiger Kontrolle potentiell Betroffenen verworfen.
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s.o. 3. Kap. A. I. 2. c) dd) und unten 4. Kap. B.
CC 13.8.1993 No 93-325 DC - Maitrise de I'immigration, Rec. S. 224 = GDCC Nr. 46, S. 817 = RCDIP 1993, 597 = RFDA 1993, 887 m.Anm. Genevois S. 871 = RFDC 1993, 583 m.Anm. Favoreu = RGDIP 1994, 205 m.Anm. Alland; gekürzte deutsche Übersetzung in EuGRZ 1993, 508 m.Anm. Grewe / Weber S. 496 ff. 88
89 Zu dieser Entscheidung und der auf sie folgenden Verfassungsänderung s. bereits oben 3. Kap. A. III. 1. b) sowie noch unten 3. Kap. B. I. 3. b) bb) ß). 90 CC 5.8.1993 No 93-323 DC - Loi relative aux contröles et verifications d'identite, Rec. S. 213 = AJDA 1993, 815 m.Anm. Wachsmann = RFDC 1993, 835 m.Anm. Favoreu.
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Daß allerdings auch eine derartige, an sich aus der Sicht des Vertrages nicht zu beanstandende Inhaltskontrolle der vertraglich nicht detenninierten Teile eines Gesetzesvorhabens zu erheblichen Friktionen ruhren kann, zeigt der einer anderen Entscheidung vom 22.1.199091 zugrundeliegende Sachverhalt: Auf Drängen der EG-Kommission hatte der französische Gesetzgeber in diesem Fall eine Gesetzesänderung auf den Weg gebracht, mit der klargestellt werden sollte, daß der vom Gesetz an die Gewährung einer zusätzlichen Altersrente auch an Ausländer geknüpfte Vorbehalt der Existenz von Gegenseitigkeitsabkommen mit dem Heimatstaat die bereits vom EuGH festgestellten gemeinschaftsrechtlichen Ansprüche auf Gleichbehandlung hinsichtlich dieser Leistung92 nicht beeinträchtigte93 • Der Conseil constitutionnel beanstandete nun nicht diese - bereits aus den geltenden Verträgen bzw. dem auf sie gestützten Sekundärrecht folgende und vom Gesetzgeber nur noch deklaratorisch abgebildete - Erweiterung des Kreises der Leistungsberechtigten; er rügte vielmehr als Verstoß gegen den Gleichheitssatz der Verfassung, daß der Gesetzgeber nicht alle regulär und auf Dauer in Frankreich lebenden Ausländer in den Kreis der Leistungsberechtigten aufgenommen hatte94 • Folge dieser Beanstandung der begrenzten Erweiterung war allerdings, daß die verfassungs- und gleichzeitig vertragswidrige alte Fassung, deren nicht weit genug gehende Änderung damit gescheitert war, weiter in Kraft blieb. Der EuGH mußte insoweit in der Folge eine Vertragsverletzung Frankreichs feststellen 95 und im Jahr 1995 auf Vorlage nochmals präzisieren, daß die immer noch nicht geänderte - Vorschrift auch nicht auf Drittstaater angewandt
91 CC 22.1.1990 No 89-269 DC - Loi portant diverses dispositions relatives a la seeurite sociale et a la sante, Rec. S. 33 = RGDIP 1990, 281 = RCDIP 1990, 497 m.Anm. Simon-Depitre = Dr. soc. 1990, 352 m.Anm. Pretot = RFDA 1990, 416 m.Anm. Genevois S. 406 (414) = AJDA 1990,471 m.Anm. Benoit-Rohmer = RFDC 1990,330 m.Anm. Favoreu = RDSanSoc 1990,637 m.Anm. Dubouis. 92 EuGH 24.2.1987 verb. Rs. 379 bis 381 /85 und 93 / 86 - CRAM Rhöne-Alpes gegen Anna Giletti u.a., Sig. 1987,955. 93 So der Text der geplanten Neufassung des Gesetzes: "I'allocution supplementaire n'est due aux etrangers qu'en application des reglements communautaires ou de conventions internationales de reciprocite". 94 " ... l'excIusion des etrangers residant regulil!rement en France du benefice de I'allocation supplementaire, des lors qu'i1s ne se peuvent prevaloir d'engagements internationaux ou de reglements pris sur leur fondement, meconnait le principe constitutionnel d'egalite;" (35. Erwägungsgrund). 95 EuGH 11.6.1991 Rs. C-307 / 89 - Kommission / Frankreich, Sig. 1991, I - 2903.
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werden kann, die durch Kooperationsabkommen der Gemeinschaft sozialrechtlich gleichgestellt sind96 • Auch hier gilt aber, daß der als ungewollter Nebeneffekt der Verfassungskontrolle fortbestehende Konflikt zwischen Gesetz und Vertrag97 von den Fachgerichten zugunsten des Vertrages aufzulösen ist98 , was in diesem Fall seitens der zuständigen ordentlichen Gerichte auch zuverlässig erfolgte99 • Der vom Conseil constitutionnel festgehaitene zusätzliche Verfassungs verstoß durch den Ausschluß der nicht bereits vom Gemeinschaftsrecht einbezogenen Drittstaater blieb dagegen bestehen, da die Fachgerichte die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes - anders als seine Vertragswidrigkeit - nicht berucksichtigen können 100.
96 EuGH 5.4.1995 Rs. C-I03 / 94 - Zoulika Krid gegen Caisse nationale d'assurance vieillesse des travailleurs salaries, Sig. 1995, I - 719; anderes gilt, wenn kein solches Abkommen eingreift, s. EuGH 16.12.1992 Rs. C-206 / 91 - Ettien Koua Poirrez gegen Caisse d'allocutions familiales de la Seine-Saint-Denis (CAF), Sig. 1992, I - 6685. 97 Zur Bedeutung der Entscheidung vom 22.1.1990 fIlr die verfassungsrechtliche Qualifikation eines solchen Konflikts s. u. 4. Kap. B. II. I. b) aal. 98 s. ausfllhrlich unten 4. Kap. B. II. 99 Cass. soc. 20.1.1988 - CRAM Rhöne-Alpes c. Mme Giletti, Bull. civ. V No 52 (I. Entscheidung), S. 35; Cass. soc. 20.1.1988 - CPAM Bouches-du Rhöne c. M. Severini, Bull. civ. V No 52 (2. Entscheidung), S. 36; später noch Cass. soc. 26.9.1991 - Neeltje Brons c. CPAM de la Savoie, Bull. civ. V No 382, S. 238. 100 Der Versuch, die Erkenntnisse des CC zur generellen Unzulässigkeit der sozialrechtlichen Diskriminierung von Ausländern auf dem Weg über ein vertragliches Diskriminierungsverbot auch vor den Fachgerichten gegenüber gesetzlichen Beschränkungen durchzusetzen, ist kürzlich vor dem CE gescheitert, s. CE Ass. 15.4.1996 Mme Doukoure, RFDA 1996, 817 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Martin = AJDA 1996, 565 m.Anm. Chauvaux / Girardot S. 500 (507 ff) = RJF 5 / 1996 No 634, S. 363: der CE erkennt die Gangbarkeit dieses Weges zwar implizit an, urteilt aber entgegen den Schlußanträgen des Regierungskommissars, daß das hier geltendgemachte Diskriminierungsverbot gern. Art. 26 IPbpR wirtschaftliche und soziale Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit nicht erfaßt - anders zuvor zu einem parallelen Sachverhalt auch die nicht bindende Stellungnahme des UNMenschenrechtsausschusses vom 3.4.1989 - Ibrahima Gueye et autres c. France, RUDH 1989, 62; mitgeteilt auch bei Nowak EuGRZ 1989, 430 (435 f); kritisch zu dieser engen Auslegung von Art. 26 IPpbR durch den CE Dhornrneaux RFDA 1996, 1239 ff.
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
e) Die Bestimmung der Grenzen - Klärung von Zwei/eln um die Reichweite des "ecran communautaire" vor dem Conseil constitutionnel
Teils wird tatsächlich angenommen, daß der Conseil constitutionnel in Anwendung dieser Regeln der Auslegung bereits geltender völkerrechtlicher Verträge und vor allem des Gemeinschaftsrechts aus dem Wege gehen und auf diese Weise insbesondere Vorlagen nach Art. 177 EGV vermeiden könnte 101 , die aufgrund der in Art. 61 Abs. 3 der Verfassung statuierten Monatsfrist filr eine Entscheidung des Conseil constitutionnel kaum durchfilhrbar scheinen lO2 , aber auch unabhängig von dieser strikten Frist nicht mit einem Verfahren der präventiven Gesetzesprüfung harmonieren 103: Der Conseil constitutionnel verwendet die Verträge nicht als Prüfungsmaßstab filr von ihm zu kontrollierende Gesetze, sondern überläßt diese Aufgabe den Fachgerichten lO4 • Soweit die Verträge (gemäß Art. 54 oder auf dem Umweg über das Ratifikationsgesetz gemäß Art. 61 Abs. 2) nicht Maßstab, sondern selbst Gegenstand der 101 So etwa Abraham Droit international S. 165 f; ähnlich Genevois RFDA 1992, 373 (377). 102 Zur Problematik einer Anwendung des Art. 177 EGV auf den CC s. v.a. Druesne RMC 1975, 285 (290 ff): aus der Sicht des Gemeinschaftsrechts kann man sich dazu natürlich auf den Standpunkt stellen, daß Art. 177 EGV Vorrang auch vor den in der Verfassung verankerten Fristen verlangt; zu bedenken ist aber, daß hier eine präventive Normenkontrolle vorliegt, das nationale Gesetzgebungsverfahren damit für die Dauer des Vorlageverfahrens stillgelegt wäre. Eine derart weitgehende Konsequenz erscheint auch aus der Sicht des Gemeinschaftsrechts nicht gefordert, wenn gemeinschaftsrechtskonforme Alternativen - wie die Durchsetzung des Vorrangs durch die Fachgerichte denkbar sind; zur Problematik s. weiter Gai"a Insertion S. 58 f; Vedel luridictions fran~aises (1987), 11. 103 So zu Recht Favoreu Melanges Plantey (1995), 33 (41); Gai"a in: Droit constitutionnel national (1996), 231 (274); auch im internen Recht versucht der CC, Verzögerungen im Gesetzgebungsverfahren, die trotz der engen Frist etwa durch erneute Anrufung gegen das nach einer ersten Beanstandung entsprechend abgeänderte Gesetzesvorhaben ("contröle a double detente") entstehen können, so gering wie möglich zu halten; insbesondere dilatorischen Anrufungen hat er aus diesem Anlaß eine scharfe Ansage erteilt, so der 20. Erwägungsgrund von CC 23.8.1985 No 85-197 DC - Evolution de la Nouvelle-Caledonie, Rec. S. 70 = GDCC Nr. 38, S. 612/ 617 (2. Entscheidung) = D. 1986 jp 45 / 47 (2. Entscheidung) m. Anm. Luchaire: "... le contröle de constitutionnalite etabli par la Constitution du 4 octobre 1958 s'exerce a titre preventif apres le vote de la loi et avant sa promulgation; ... le Conseil constitutionnel doit se prononcer dans le delai d'un mois a compter du jour Oll iI est saisi et s'i1 y a urgence, dans un delai de huit jours; ... ainsi l'objet de ce contr6le est non de gener ou de retarder l'exercice du pouvoir legislatifmais d'assurer sa conformite a la Constitution ... "; s. zu diesem Aspekt auch Lebreton RDP 1983,419 (483). 104 s. bereits kurz oben 3. Kap. A. I. 2. c) dd) sowie ausführlich unten 4. Kap. B. 11.
B. Prozessuale Durchsetzung
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Kontrolle sind und zu diesem Zweck tatsächlich ausgelegt werden müssen, sind sie noch nicht in Kraft. Eine Vorlage an den EuGH kommt auch hier nicht in Betracht: Der Conseil constitutionnel legt den Vertrag vor seinem Inkrafttreten aus, der EuGH dagegen kann ihn erst nach seinem Inkrafttreten interpretieren. Die präventive Kontrolle durch den Conseil constitutionnel und die Auslegung des bereits geltenden Rechts durch den EuGH haben nach dieser Betrachtung keine Berührungspunkte; sie können insbesondere schon im zeitlichen Ablauf nie in unmittelbare Konkurrenz treten. Tatsächlich wird dieses Bild aber der Verschränkung beider Rechtsordnungen nicht vollständig gerecht: Um die Grenzen seiner autonomen Kontrolle des nationalen Gesetzes abzustecken, müßte der Conseil constitutionnel zum einen das Gemeinschaftsrecht auslegen, um festzustellen, inwieweit dieses den nationalen Gesetzgeber binden will. Nur so ist zu ermitteln, weIche Bestandteile des zur Überprüfung stehenden nationalen Gesetzes auf der anderen Seite noch auf die autonome Entscheidung des nationalen Gesetzgebers zurückzuführen und damit voll am Maßstab der Verfassung zu kontrollieren sind lO5 • Zum anderen müßte er auch feststellen, ob das umzusetzende Sekundärrecht selbst vertragskonform ist: Andernfalls würde er dem Gesetzgeber eine gemeinschaftsrechtliche Bindung und eine dieser Bindung entsprechende Freistellung von den Maßstäben der Verfassung zugestehen, die tatsächlich nicht gegeben sind 106 • Stellt sich die Unwirksamkeit des umzusetzenden Sekundärrechts tatsächlich erst später heraus, so kann die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des zur Umsetzung ergangenen Gesetzes nicht mehr nachgeholt werden. In beiden Fällen wäre eine Kooperation mit dem EuGH auf der Grundlage von Art. 177 EGV unerläßlich; gleichzeitig scheint die Nutzung des Vorlageverfahrens durch die engen Fristen im Rahmen der präventiven Gesetzesprüfung aber ausgeschlossen. Ein vergleichbares Problem stellt sich, wenn der "ecran communautaire" zum Zeitpunkt der Kontrolle durch den Conseil constitutionnel wirksam bestanden hat, aber nach Erlaß des Umsetzungsgesetzes weggefallen ist, etwa
105 Constantinesco I Jacque in: Koenig / Rüfner (1985), 175 (177); vollständig übersehen wird dieses Problem von Abraham Droit international S. 165 f. 106 Conac I Luchaire (-Luchaire), Pn!ambule, S. 87 (102): "par contre, si le droit derive n'etait pas conforme au traite instituant la Communaute, il ne trouverait plus dans ce traite un fondement suffisant pour porter atteinte a la souverainete nationale"; ebenso schon Luchaire RTDE 1979,393 (423 ff); ders. RDP 1979, 27 (52); Constantinescol Jacque in: Koenig / Rüfner (1985), 175 (183).
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
weil das umzusetzende Sekundärrecht später wieder aufgehoben wurde lO7 : Das zur Umsetzung erlassene nationale Gesetz war in dieser Konstellation zum Zeitpunkt seines Ergehens insoweit der Kontrolle am Maßstab der Verfassung entzogen; nachträglich kann diese gemeinschaftsrechtIich nun wieder zulässige Kontrolle nicht mehr ausgeübt werden. Dieser Sachverhalt kann mit den Mitteln der präventiven Kontrolle des Gesetzes überhaupt nicht mehr gelöst werden, selbst wenn eine Vorlage an den EuGH erfolgen würde: Auch der EuGH könnte zum Zeitpunkt der präventiven Kontrolle nur Existenz und Wirksamkeit des Sekundärrechts bestätigen. Der Conseil constitutionnel scheint sich einer Auseinandersetzung mit diesen Problemen bisher entzogen zu haben, indem er in den Fällen, in denen die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes im Ergebnis bejaht werden konnte, die bestehende gemeinschaftsrechtIiche Determinierung des Gesetzes gar nicht offen ausgesprochen hatlos. Kam es dagegen für das Ergebnis tatsächlich auf die wirksame Abschirmung an, so hat der Conseil constitutionnel ohne nähere Prüfung die Theorie des ecran angewandt, also im Zweifel Bestehen und Wirksamkeit der gemeinschaftsrechtlichen Bindung unterstelltl()9. Seine pragmatische Lösung geht damit nicht zu Lasten des Gemeinschaftsrechts, sondern wirkt zum Nachteil der nationalen Verfassungsprüfung, die auf diese Weise in Bereichen ausgeschlossen wird, die das Gemeinschaftsrecht ihr gar nicht streitig macht. Exemplarisch demonstriert wird dieses "überobligationsmäßige" Zurückweichen des nationalen Verfassungsrechts durch eine der ersten Entscheidungen des Conseil constitutionnel zum Phänomen des "ecran communautaire", die Isoglucose-Entscheidung vom 30.12.1977"°: In dieser Entscheidung hatte der Conseil constitutionnel die im nationalen Haushaltsgesetz wiedergegebene Isoglucose-Abgabe als durch die EWG-VO 11111 77 gedeckt und daher verfassungsgerichtIicher Kontrolle entzogen angesehen.
107 So in dem der Entscheidung BVerwG 29.11.1990 BVerwGE 87, 154 = RIW 1991, 426 = NVwZ 1992, 783 zugrundeliegenden Sachverhalt, der freilich keine verfassungsrechtlichen Probleme aufwies. lOK Für solche Fälle s.u. 3. Kap. B. I. 3. b) aa). 109 So Gai'a Insertion S. 58 f: "pn!somption de validite"; ähnlich Badinter / Genevois RUDH 1990,258 (265); Fromont FS Mosler (1983),221 (238 m.Fn 34). Der Conseil constitutionnel hat die Notwendigkeit der Auslegung eines geltenden Abkommens zum Zweck der Abgrenzung von den noch "frei" überprüfbaren Änderungen erstmals im 8. Erwägungsgrund der Maastricht-I-Entscheidung offen akzeptiert, s.u. 3. Kap. B. I. 3. b) bb) a) mit Fn 164 ff, dazu s. insbes. Gai'a RFDC 1992,398 (404 f).
110 CC 30.12.1977 No 77-89 DC - Cotisation 44; s.o. 3. Kap. B. I. 2. b) aa) a) mit Fn 47.
a la production d'isoglucose, Rec. S.
B. Prozessuale Durchsetzung
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Am 25.10.1978, also kaum ein Jahr später, hat der EuGW Il auf Vorlage eines britischen Gerichts dieselbe Verordnung als ungerechtfertigte Diskriminierung zwischen Isoglucose- und Zuckererzeugem beanstandet ll2 • Eine auch für das französische Staatsrecht befriedigende Lösung dieser Problemfälle ist letztlich nur durch die Einführung der Exception d'inconstitutionnalite l13 , d.h. der nachträglichen konkreten Normenkontrolle der Gesetze durch den Conseil constitutionnel, zu erwarten: Erst im Rahmen eines solchen Verfahrens wäre die Vorlage an den EuGH möglich, um zu erfahren, ob und in welchem Umfang das zur verfassungsgerichtlichen Überprüfung vorgelegte nationale Gesetz gemeinschaftsrechtlich determiniert und damit der Kontrolle am Maßstab der Verfassung entzogen ist. Insbesondere würden die mit dem Verfahren der präventiven Gesetzesprüfung wohl schon aus sachlicher Notwendigkeit verbundenen strikten Prüfungsfristen hier keine Geltung beanspruchen. Die Vorlage an den EuGH müßte in dieser Konstellation auch nicht notwendigerweise durch den Conseil constitutionnel selbst erfolgen; sie könnte schon in Vorbereitung der späteren Vorlage an den Conseil constitutionnel durch das Fachgericht veranlaßt werden 114. Solche Vorlagen seitens der Fachgerichte sind natürlich heute schon möglich, aber sinnlos, da das Fachgericht auf die Entscheidung des EuGH nicht angemessen reagieren kann: Erklärt der EuGH, daß die umstrittene gesetzliche Regelung vom Gemeinschaftsrecht weder gefordert noch verboten ist, so ist damit gemeinschaftsrechtlich der Weg zur fachgerichtlichen Kontrolle des Gesetzes am Maßstab der Verfassung frei l15 ; staatsrechtlich bleibt er derzeit
111 EuGH 25.10.1978 verb. Rs. 103 und 145 / 77 - Royal Scholten-Honig Limited gegen Intervention Board for Agricultural Produce; Tunnel Refineries Limited gegen Intervention Board for Agricultural Produce, Sig. 1978,2037. 112 Zu dieser Diskrepanz Isaac / Molinier Anm. RTDE 1979, 145 (156); BuffetTchakaloffCour de lustice S. 327 f. 113 Zu dieser ausführlich unten 3. Kap. B. l. 4. 114 Auch das deutsche BVerfG hat bisher das Verfahren nach 177 EGV nicht nutzen müssen, obwohl es die Relevanz der Auslegung des Gemeinschaftsrechts für seine Entscheidungen anders als der CC anerkennt; die erforderlichen Kliirungen waren bereits auf Initiative der Fachgerichte erfolgt, s. insbes. die Konstellation von BVerfG 28.1.1992 - Nachtarbeitsverbot für Frauen, BVerfGE 85, 191 (203). 115 So auf ausdrückliche Nachfrage EuGH 16.6.1994 Rs. C-132 / 93 - Volker Steen gegen Deutsche Bundespost (Steen I1), Sig. 1994, I - 2715 = JZ 1994, 1061 m.zust. Anm. Götz = EWS 1994, 271 m.Anm. Rainer im Anschluß an EuGH 28.1.1992 Rs. C332 / 90 - Volker Steen gegen Deutsche Bundespost (Steen I), Sig. 1992, I - 341 für eine Inländerdiskriminierungs-Konstellation.
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
ausgeschlossenl1 6 • Konsequenzen können die Fachgerichte aus der Antwort des EuGH nur ziehen, wenn das nationale Gesetz nicht nur gemeinschaftsrechtlich nicht gefordert, sondern darüber hinaus sogar gemeinschaftsrechtswidrig ist l17 : Die Vertragswidrigkeit eines Gesetzes können sie - anders als seine Verfassungswidrigkeit - selbst berücksichtigen IIK.
3. Erweiterung der Kontrolle durch die Rechtsprechung des Conseil constitutionnel: Die exception durch Richterrecht
Das bisher dargestellte Kontrollsystem des Conseil constitutionnel ermöglicht danach auf der Grundlage einer strikten Begrenzung auf die präventive Normprufung gemeinschaftsrechtskonforme Ergebnisse, ohne daß der materielle Vorranganspruch der Verfassung geopfert werden müßte. Diese Beschränkung auf eine rein präventive Prüfung der seiner Kontrolle unterworfenen Rechtsakte - Gesetze und Verträge - ist in neuerer Zeit aber durch die Entwicklung der Rechtsprechung zum internen Recht in Frage gestellt worden: Der Ausschluß der inzidenten Kontrolle bereits geltender Rechtsakte Grundlage der bisherigen Darstellung - ist jedenfalls im internen Recht, d.h. im Rahmen der Verfassungskontrolle der Gesetze auf der Grundlage von Art. 61 der Verfassung ins Wanken geraten. Für den Geltungsanspruch des Gemeinschaftsrechts stellt sich damit die Frage, ob diese Entwicklungen auch eine inzidente Kontrolle der Verträge am Maßstab der Verfassung ermöglichen.
116 Das zeigt sich z.B. in Situationen der Inländerdiskriminierung (s. vorige Fn) im Verhältnis zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Gesetz: antwortet der EuGH auf eine entsprechende Vorlage, daß der Sachverhalt nicht im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts liegt und folglich vom gemeinschaftsrechtlichen Diskriminierungsverbot nicht erfaßt wird, so kann die Prüfung nicht auf der Ebene des nationalverfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes fortgefllhrt werden; s. dazu mit Nachweisen auch noch unten 3. Kap. B. 11. 2. b) cc). 117 AJlein diesen FaJl hat Gai"a Insertion S. 59 im Auge. 118 s. ausfllhrlich unten 4. Kap. B.
B. Prozessuale Durchsetzung
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a) Die nachträgliche Kontrolle bestehender Gesetze aus Anlaß der Prüfung von Anderungsgesetzen
aa) Die Entwicklung der Rechtsprechung In seiner frühen Rechtsprechung hatte der Conseil constitutionnel das Verbot der verfassungsrechtlichen Bewertung bereits verkündeter Gesetze sehr weit gefaßt: Ein ihm unterbreitetes neues Gesetzesvorhaben war inhaltlicher Kontrolle bereits entzogen, wenn es eine anderweitig bereits bestehende gesetzliche Regelung kopierte oder deren Anliegen aufnahm. So jedenfalls wird heute eine der frühen Entscheidungen 119 des Conseil constitutionnel interpretiert I2O , mit der Maßnahmen "positiver Diskriminierung" zur Steigerung des Anteils von Angehörigen des mohammedanischen Glaubens in der französischen Richterschaft von der Verfassungskontrolle freigestellt wurden: Bedenken gegen die damit verbundene Verletzung des Gleichheitssatzes hat der Conseil constitutionnel hier mit der Erwägung verworfen, daß die Gesetzesänderung von demselben Geist geprägt sei wie die bereits zuvor ergangene Ordonnance im Gesetzesrang, deren Verfassungsmäßigkeit nachträglich nicht mehr in Frage gestellt werden könne I21 • Wenn diese Extremposition in der Folgezeit auch nicht mehr wiederholt wurde, so hat der Conseil constitutionnel doch in deutlichen Worten eine Inzidentkontrolle bereits geltender Gesetze aus Anlaß von Gesetzesänderungen oder -ergänzungen ausgeschlossen. Besonders deutlich geschah dies in einer Entscheidung aus dem Jahr 1978 122 : Damals war er gegen ein Gesetz angerufen worden, das die Verletzung des bereits bestehenden Rundfunkmonopols erstmals ausdrücklich 123 unter Strafe stellte; die Beschwerdefiihrer machten 119 CC 15.1.1960 No 60-6 OC - Magistrats Musulmans, Rec. S. 21 = O. 1960 jp 293 m.Anm. Uo Hamon = Sir. 1960,247 m.Anm. Rousset. 120 So etwa Favoreu / Philip GOCC S. 203; Vedef in: La Oeclaration (1989), 35 (46 f); w. Nachw. oben 3. Kap. A. I. 2. c) aal. 121 " .•. la loi organique dont le Conseil constitutionnel est saisi, avant promulgation, aux fins d'appreciation de sa conformite a la Constitution, a pour objet de determiner, notamment par voie de modification de l'ordonnance susvisee du 22 decembre 1958 dont fa conformite a fa Constitution ne peut etre contestee - et dans fe meme esprit, fes regfes d'apres lesquelles I'acces a la magistrature est ouvert aux Fran~ais musulmans ... " 122 CC 27.7.1978 No 78-96 OC - Monopole de la radio et de la television, Rec S. 29 = O. 1980 jp 169 m.Anm. Hamon = AJDA 10 / 1979, 27 m. Anm. Franck = RDP 1979, 516 m.Anm. Philip S. 465 (499 ff); zu dieser Entscheidung auch Chevenoy Annales Clerrnont 1978, 145 ff. 123 Tatsächlich war diese auf den ersten Blick erstaunliche Stratbarkeitslücke durch eine restriktive Rechtsprechung der ordentlichen Gerichte entstanden, s. CA Montpel-
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
geltend, daß die Verfassungswidrigkeit dieser Strafsanktionen sich aus der Verfassungswidrigkeit des durch sie geschützten bereits bestehenden Monopols ergebe. Der Conseil constitutionnel wies diese Argumentation mit der Bemerkung zurück, daß das einmal verkündete (Verbots-)Gesetz seiner Kontrolle entzogen sei l24 • Mit der berühmt gewordenen Neukaledonien-Entscheidung aus dem Jahr 1985 125 hat der Conseil constitutionnel diese Zurückhaltung jedoch aufgegeben und seine Kontrolle erstmals ausdrücklich unter bestimmten Bedingungen auch auf bereits verkündete Gesetze ausgedehnt: Der grundsätzliche Ausschluß einer nachträglichen Kontrolle wurde damit filr den Fall durchbrochen, daß etwa ein Gesetz zur Änderung des bereits geltenden Gesetzes vor den Conseil constitutionnel gelangt und sich auf diese Weise eine prozessuale Gelegenheit ergibt, eine beim Erlaß des zugrundeliegenden Gesetzes mangels Befassung des Conseil constitutionnel durch die dazu ermächtigten Organe unterbliebene l26 Verfassungskontrolle nachzuholen. Nach der grundsätzlichen Formulierung der Neukaledonien-Entscheidung kann die inhaltliche Verfassungsmäßigkeit bestehender Gesetze überprüft werden anläßlich der Kontrolle eines - prozessual ordnungsgemäß vor seiner Verkündung angegriffenen - Gesetzes, das das bereits erlassene Gesetz "ändert, vervollständigt oder seinen Anwendungsbereich berührt"l27. Die inzidente Kontrolle bleibt dagegen weiter ausgeschlossen, wenn das neue Gesetz lier (chambre d'accusation) 5.5.1978 - Oelmas et autres, O. 1979 jp 283 m.Anm. Chevallier; die gesetzliche Neuregelung schloß die durch diese Entscheidung aufgerissene Lücke, s. nur Chevenoy Annales Clermont 1978, 145 (147 f). 124 " ••• la conformite a la Constitution de ces lois ne peut etre mise en cause, meme par voie d'exception, devant le Conseil constitutionnel dont la competence est limitee par I'article 61 de la Constitution a I'examen des lois avant leur promulgation;" (4. Erwägungsgrund). CC 25.1.1985 No 85-187 OC - Etat d'urgence en Nouvelle-Caledonie, Rec. S. 43 Nr. 37, S. 598 = O. 1985 jp 361 m.Anm. Luchaire = JCP 1985 11 20356 m.Anm. Franck = AJOA 1985, 362 m.Anm. Wachsmann; unmittelbar zu dieser Entscheidung s. auch Genevois AUC 1985,399 (400 ff); Favoreu ROP 1986, 395 (411 ff). 126 Fraglich bleibt die Möglichkeit einer erneuten Kontrolle, wenn das Gesetz vor Erlaß tatsächlich vorgelegt und als verfassungsgemäß befunden wurde, s. dazu Ferstenbert RDP 1991,339 (372 ff); Vedel, Oiskussionsbeitrag in: Conac / Maus (1990), 117 f; Philip RDP 1987, 191 (198 f); eine erneute, diesmal inzidente Kontrolle ist wohl zumindest dann nicht ausgeschlossen, wenn der CC sich in der ersten Entscheidung mit den nunmehr umstrittenen Vorschriften nicht ausdrücklich auseinandergesetzt hatte. 125
= GOCC
127 " ••• la regularite au regard de la Constitution des termes d'une loi promulguee peut etre utilement contestee a I'occasion de I'examen de dispositions legislatives qui la modifient, la completent ou affectent son domaine ... " (10. Erwägungsgrund).
B. Prozessuale Durchsetzung
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eine bloße Anwendung des bereits geltenden Gesetzesrechts zum Gegenstand hat 128. Zudem beschränkt sich die Formulierung allein auf die Kontrolle der inhaltlichen Verfassungsmäßigkeit l29 des bereits verkündeten Gesetzes; Verfahrens- oder Kompetenzfragen können also auch nach dieser erweiternden Rechtsprechung nicht nachträglich geprüft werden 130. In dem dieser Entscheidung zugrundliegenden Verfahren führte auch diese Formel freilich nicht zur Überprüfung des bereits geltenden Gesetzes, weil die - auf den ersten Blick wenig bedeutsame - Ausnahme zu diesem neuen Grundsatz tatsächlich eingriff: Der Conseil constitutionnel war in diesem Fall gegen ein Gesetz zur Verlängerung des Notstands in Neu-Kaledonien angerufen worden. Die mit der Ausrufung des Notstandsregimes möglich werdenen Eingriffe waren in bereits seit Jahren geltenden Gesetzen, insbesondere in einem unter der 4. Republik unter dem Eindruck des Algerienkrieges erlassenen Gesetz vom 3.4. 1955 festgelegt l31 • Der Conseil constitutionnel befand hier in Anwendung seiner bei dieser Gelegenheit entwickelten Unterscheidung, daß in dieser Konstellation eine bloße Anwendung des bereits durch geltendes Gesetzesrecht definierten Notstandsregimes vorliege, also auch seine neue, bei dieser Gelegenheit fast obiter verkündete Formel eine Kontrolle nicht ermögliche. Auch der Conseil constitutionnel hat hier also die bekannte Taktik genutzt, eine grundsätzliche Wende durch die Nicht-Anwendung der Konsequenzen auf den entschiedenen Einzelfall abzumildern In. Teils wird sogar vermutet, daß die Gegenausnahme des bloßen Anwendungsgesetzes eigens gebildet wurde, um in dem politisch
128 Zur - möglicherweise parallelen - Weigerung des ce, in seiner Eigenschaft als Wahlprüfungsrichter die Verfassungsmäßigkeit der Wahlgesetze zu überprüfen, also anläßlich der Kontrolle ihrer Anwendung durch die Behörden, s.u. 4. Kap. B. 11. 1. b) bb) ß) sowie Genevois AUC 1985,399 (402); Ferstenbert RDP 1991,339 (382 f). 129 " ...
la regularite au regard de la Constitution des termes d'une loi promulguee ... "
s. Genevois AUC 1985,399 (402); ders. AUC 1989,471 (474); Rousseau RDP 1992,37 (61); Turpin Contentieux constitutionnel Rn 94, S. 150; s. auch unten 3. Kap. B. 1. 4. a) cc). 130
131 Zu dieser Regelung ausfllhrlich Drago RDP 1955, 670 ff; zusammenfassend Terneyre RDP 1987, 1489 ff; dieses einfachgesetzliche Notstandsregime ist zu unterscheiden von dem in Art. 36 der Verfassung erwähnten Belagerungszustand sowie den in Art. 16 der Verfassung geregelten Sonderbefugnissen des Präsidenten in Krisenzeiten (zu diesem oben 3. Kap. A. 1. 2. c) cc); es besteht neben diesen fort, s. noch unten 3. Kap. B. 1. 4. mit Fn 243; vgl. auch Genevois Jurisprudence Rn 472 f, S. 292 f.
In Rousseau Contentieux constitutionnel S. 189 f.
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
heiklen Fall der Notstandsgesetze eine Kontrolle mit vorhersehbar negativem Ergebnis vermeiden zu können lll . In der Literatur ist diese richterrechtliche Erweiterung der Prüfungszuständigkeit des Conseil constitutionnel mehrheitlich positiv aufgenommen aufgenommen worden; allein die innere Folgerichtigkeit und die Praktikabilität der Ausnahme zugunsten reiner Anwendungsgesetze ist umstritten geblieben l34 • In einer Entscheidung vom 25.7.1989 135 hatte der Conseil constitutionnel dann erstmals Gelegenheit, die neue Formel positiv anzuwenden, also tatsächlich bereits geltendes Gesetzesrecht auf seine Verfassungsmäßigkeit zu prüfen: Zur Überprüfung stand eine gesetzliche Regelung, die das gesetzlich bereits normierte beschleunigte Enteignungsverfahren 136 auf bisher nicht erfaßte Eisenbahnvorhaben erstreckte 137 - eine "affeetation du domaine" des ursprünglichen Gesetzes im Sinne einer Erweiterung seines Anwendungsbereichs lag damit vor; der Conseil constitutionnel hat folgerichtig die Vereinbarkeit des beschleunigten Enteignungsverfahrens mit dem Eigentumsgrundrecht der Sache nach geprüft, obwohl dieses Verfahren selbst in keiner Weise geändert worden war.
133 So Terneyre RDP 1987, 1489 (1500); Wachsmann Anm. AJDA 1985, 365; skeptisch dagegen Ferstenbert RDP 1991, 339 (347 f): in diesem Fall hätte der CC auch einfach die bisherige Linie der Rechtsprechung bestätigen können. 134 So bereits Wachsmann Anm. AJDA 1985, 362 (365); Franck Anm. JCP 1985 11 20356; Luchaire D. 1985 jp 361 (367); später z.B. Conac / Luchaire(-Luchaire), Art. 62, S. 1121 (1124); Rousseau Contentieux constitutionnel S. 189; ders. RDP 1992,37 (61 f). 135 CC 25.7.1989 No 89-256 DC - Expropriation d'extn!me urgence / TGV Amiens, Rec. S. 53 = RFDA 1989, 1023 m.Anm. Bon S. 1009; zu dieser Entscheidung auch Genevois CJEG 1 / 1990, 1 ff; ders. AUC 1989,471 (473); Rousseau RDP 1992, 37 (61); für einen neueren Anwendungsfall s. den 10. Erwägungsgrund von CC 16.7.1996 No 96-377 DC - Loi tendant a renforcer la repression du terrorisme, JORF 23.7.1996 = RDP 1996, 1258 m.Anm. Luchaire S. 1245 = JCP 1996 11 22709 m.Anm. Nguyen van Tuong = RFDC 1996, 806 m.Anm. Renoux = AJDA 1997, 86 m.Anm.Teitgen-Colly / Julien-Laferriere; zu dieser Entscheidung auch Rousseau RDP 1997, 13 (36 f). 136 Art. L 15-6 bis L 15-9 des code de I'expropriation; das Verfahren zeichnet sich vor allem durch eine erleichterte vorläufige Besitzeinweisung aus; das "normale" Enteignungsverfahren wird nicht ersetzt, sondern muß binnen eines Monats nachgeholt werden; s. im einzelnen Bon RFDA 1989, 1009 (1010 ff). 137 Die Änderung bestand allein in der Einfügung der Wendung "de voies de chemin de fer" unter den betr. Vorhaben.
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Eine weitere Entscheidung vom 29.12.1989 138 ließ dann sogar offen, ob die Anforderungen der Neukaledonien-Formel an den Zusammenhang von vorgelegtem und bereits verkündetem Gesetz erfüllt waren, da die beanstandeten Vorschriften des bereits verkündeten Gesetzes verfassungsmäßig, der Vorwurf gegen das bereits verkündete Gesetz also - unabhängig von seiner Zulässigkeit - jedenfalls unbegründet sei ll9 • Die in der Ausgangsentscheidung von 1985 gebildete und sogleich angewandte Gegenausnahme zugunsten eines Gesetzes, das ein bereits geltendes Gesetz nur anwendet oder in Bezug nimmt, hat in der folgenden Rechtsprechung dagegen nur selten Anwendung gefunden 140; eine neuere Entscheidung vom 20.12.1994 141 zeigt aber, daß dieser Vorbehalt weiter fortbesteht l42 •
138 CC 29.12.1989 No 89-268 DC - Loi de finances pour 1990, Rec. S. 110 = RGDIP 1990,278 = RFDA 1990, 159 m.Anm. Genevois S. 143 = RFDC 1990, 122 m.Anm. Philip; zu einem anderen Aspekt dieser Entscheidung s. auch noch unten 4. Kap. B. 11. 2. b) bei Fn 152; s. auch Genevois AUC 1989,471 (475). )]9 "". ainsi, et sans qu'i1 soit besoin pour le Conseil constitutionnel de se pro non cer sur la recevabilite du grief, I'article 105 n'a pas, en tout etat de cause, pour consequence d"affecter le champ d'application de dispositions legislatives anterieures qui seraient inconstitutionnelles;" (78. Erwägungsgrund; vorangegangen war eine sachliche Überprüfung der in Betracht kommenden Vorschriften). So auch die Interpretation durch Ferstenberg RDP 1991, 339 (355), der die Ausflihrungen des CC allerdings als rätselhaft bezeichnet. Es stellte sich in diesem Fall das zusätzliche Problem, daß die beanstandeten Vorschriften bereits im Haushaltsgesetz flir 1983 enthalten gewesen waren, das der CC 29.12.1982 No 82-154 DC, Rec. S. 80 flir verfassungsmäßig erklärt hatte, ohne auf die damals nicht beanstandeten, nunmehr aber angegriffenen Passagen einzugehen; auch der Frage nach der Reichweite der Rechtskraft dieser früheren Entscheidung ist der CC damit ausgewichen, s. Genevois AUC 1989, 471 (475); Ferstenbert RDP 1991, 339 (372 fi). 140 s. aber den 5. Erwägungsgrund von CC 2.8.1991 No 91-299 DC - Loi relative au conge de representation en faveur des associations, Rec. S. 124: "". la loi deferee ne modifie, ne complt!te ni n'affecte le dom ai ne d'intervention de la loi du 19 avril 1908; ". la mention de ce dernier texte ne saurait, en tout etat de cause, entacher la loi presentement examinee d'inconstitutionnalite; "." 141 CC 20.12.1994 No 94-350 DC, Rec. S. 134 = D. 1995 sc 348 m.Anm. Trlimeau = RFDC 1995, 167 m.Anm. Trlimeau; zu dieser Entscheidung auch Rousseau RDP 1996, 11 (31 f); Favoreu u.a. AUC 1994, 517 (523). 142 Zu Art. 1 des Loi No 94-1131 du 27.12.1994 portant statut fiscal de la Corse, JORF 28.12.1994, S. 18521: "La Corse est dotee d'un statut fiscal destine a compenser les contraintes de I'insularite (".). Dans le cadre de ce statut, I'ensemble des dispositions legislatives et reglementaires actuellement en vigueur sont maintenues." Der CC hielt hier wohl zu Recht fest, daß dieser Hinweis nicht die Überprüfung der damit in Bezug genommenen bereits geltenden gesetzlichen Regeln ermöglicht.
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
Auch die Maastricht lI-Entscheidung des Conseil constitutionnel '43 bietet ein spektakuläres Beispiel dieser inzidenten Verfassungskontrolle eines bereits verkündeten Gesetzes: Der Conseil constitutionnel hat hier, ohne insoweit die Frage seiner Prüfungskompetenz zu problematisieren, die Verfassungsmäßigkeit des bereits erlassenen (verfassungsändernden) Gesetzes zur ErmögIichung der Ratifikation des Unionsvertrages bestätigt: Gegenstand der Überprüfung war aber nicht dieses Gesetz, sondern der Vertrag, dessen Billigung durch die Verfassungsänderung erst möglich werden sollte '44 •
bb) Die Auswirkungen der nachträglichen Überprüfung auf das bereits verkündete Gesetz Die Kommentatoren der Neukaledonien-Entscheidung waren sich im Jahre 1985 weitgehend darüber einig gewesen, daß eine Durchbrechung des Grund-
satzes der rein präventiven Gesetzeskontrolle jedenfalls im Ergebnis nicht vorliege. Der Ausspruch des Conseil constitutionnel beziehe sich allein auf das Änderungsgesetz l45 und verhindere gegebenenfalls dessen Inkraftsetzung. Die Geltung des verfassungswidrigen, aber bereits verkündeten Gesetzes werde dagegen nicht berührt '46 ; dieses Gesetz werde nur als gesetzlicher Kontext des vorgelegten Gesetzes zu dessen Überprüfung - sozusagen zum besseren Verständnis - mit herangezogen, könne aber selbst nicht Prüfungsgegenstand sein. Folge einer solchen indirekten Beanstandung des Änderungsgesetzes sei danach allenfalls eine - ihrerseits nicht justiziable - Pflicht des Gesetzgebers, das bereits verkündete Gesetz der neuen verfassungsgerichtlichen Erkenntnis anzupassen. Diese restriktive Interpretation ist jedoch durch Formulierungen in Folgeentscheidungen des Conseil constitutionnel in Frage gestellt worden: So schien der Conseil constitutionnel in der Entscheidung vom 25.7.1989 durchaus be143 CC 2.9.1992 No 92-312 DC - Maastricht [I, Rec. S. 76 = GDCC Nr. 45, S. 7711 780 (2. Entscheidung); dazu in diesem Zusammenhang bereits oben 3. Kap. A. III. 3. 144 Dazu v.a. Beaud LPA 1993 Nr. 39, 31.3.1993, S. 7 (9 f); s. auch Rousseau RDP 1993,5 (19, 29 f). 145 Damit konnte auch die Ausnahme zu Lasten der Überprüfung reiner "Anwendungsgesetze" erklärt werden: hier könne der Blick auf das verkündete Gesetz zur inhaltlichen Beurteilung des noch nicht verkündeten Gesetzes nichts beitragen, weil letzteres eben gar keinen eigenständigen Inhalt habe; so v.a. Favoreu RDP 1986,395 (413). 146 So etwa Genevois AJIC 1985, 399 (402); Luchaire Anm. D. 1985 jp 361 (367); Favoreu RDP 1986, 395 (412 ff); Badinter / Genevois / Vedel RFDA 1987,844 (849 f); offen freilich schon damals Wachsmann Anm. AJDA 1985,362 (365).
B. Prozessuale Durchsetzung
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reit zu sein, neben dem Änderungsgesetz auch das zu ändernde Gesetz ausdrücklich zu würdigen und gegebenenfalls auch Konsequenzen rur dieses Gesetz zu ziehen l47 • Auch in der Literatur wird die zumindest mittelbare Maßgeblichkeit der Erkenntnisse des Conseil constitutionnel auch rur das verkündete Gesetz zunehmend behauptet und - gestützt auf Art. 62 der Verfassung l4K - die Folgerung gezogen, daß das betroffene Gesetz zwar vom Conseil constitutionnel nicht ausdrücklich fur nichtig erklärt werden könne (da es nicht Prüfungsgegenstand ist), aber nach einer impliziten Beanstandung durch den Conseil constitutionnel von den Fachgerichten nicht mehr angewandt werden dürfe l49 • Die damit erstmals als Möglichkeit im Raum stehende nachträgliche Kontrolle bereits geltender Gesetze wirft rur das französische Verfassungsrecht zahlreiche bis dahin unbekannte Fragen auf, so etwa das Problem der intertemporalen Auswirkungen solcher Entscheidungen auf möglicherweise bereits abgeschlossene Situationen 150. Wirklich praktisch bedeutsam sind diese Fragen bisher allerdings nicht geworden, da die Rechtsprechung der Fachgerichte den von der Literatur eröffneten Ausweg bisher nicht genutzt hat. Sie geht statt dessen weiter davon aus, daß das einmal verkündete Gesetz einer Verfassungskontrolle durch die Fachgerichte entzogen ist, selbst wenn der Conseil 147
So die Analyse von Favoreu I Philip GDCC S. 604 f.
148 Art. 62 Abs. I: "Une disposition dec1aree inconstitutionnelle ne peut etre promulguee ni mise en application." Art. 62 Abs. 2: " Les decisions du Conseil constitutionnel ne sont susceptibles d'aucun recours. Elles s'imposent aux Pouvoirs publics et a toutes les autorites administratives et juridictionnelles." 149 So wohl zuerst Renoux Anm. zu CC 18.1.1985 No 84-183 DC, D. 1986 jp 427 (435); später etwa Conac I Luchaire (-Luchaire), Art. 62, S. 1121 (1124); ders. in: Conac / Maus (1990), 83 (85 f); ders. RDP 1996, 1245 (1247) unter Aufgabe seiner früheren Auffassung (oben Fn. 146); Rousseau RDP 1992, 37 (62); dagegen freilich Genevois CJEG I / 1990, I (4); ders. AUC 1989,471 (474 f): nach seiner Auffassung isoliert diese Konstruktion in unzulässiger Weise die Rechtsfolgenbestimmung des Art. 62 von den Prüfungskompetenzen des CC, die nur noch nicht verkündete Gesetze betreffen; der zweite Satzteil des Art. 62 Abs. I beziehe sich im übrigen auf das Verbot der Anwendung von gemäß Art. 61 Abs. I für verfassungswidrig erklärter Geschäftsordnungen des Parlaments (reglements des assemblees), die nicht verkündet werden. Diesen historischen Ursprung erkennt auch Luchaire an, meint aber, daß man bei dieser historisch-systematischen Auslegung nicht stehenbleiben müsse. 150 Dazu Badinter I Genevois I Vedel RFDA 1987, 844 (857 f); de lege ferenda Genevois in: Conac / Maus (1990), 97 (\09); zum Problem s. aus Anlaß der EuGHRechtsprechung zur Beschränkung der zeitlichen Wirkung von Nichtigkeitsurteilen noch unten 3. Kap. B. 11. 4. b).
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
constitutionnel parallele Regelungsvorhaben zwischenzeitlich als verfassungswidrig verworfen hat'51.
b) Ausdehnung der nachträglichen Kontrolle au/völkerrechtliche Verträge? aa) Problemstellung Für den Status des Gemeinschaftsrechts und generell der völkerrechtlichen Verträge in der französischen Rechtsordnung hat diese Entwicklung in der Rechtsprechung des Conseil constitutionnel die Frage aufgeworfen, ob diese Erweiterung der Kontrolle auch auf völkerrechtliche Verträge bzw. die zu deren Ratifikation ermächtigenden Gesetze anzuwenden ist: Eine solche Ausdehnung würde bedeuten, daß nunmehr anläßlich der Kontrolle weiterer völkervertraglicher Schritte der Integration oder auch nur nationaler Rechtsakte zur Umsetzung bestehenden Gemeinschaftsrechts auch der bisherige Bestand des Gemeinschaftsrechts - der "acquis communautaire" nachträglich auf den verfassungsrechtlichen Prüfstand geraten könnte l52 . Die Gefahr, daß der bisher letztlich nur theoretisch existierende l53 Rangkonflikt zwischen Vertrag und Verfassung sich auf diese Weise ernsthaft realisiert, wäre nicht von der Hand zu weisen i54 . In der Literatur ist denn auch gemutmaßt worden, daß der Conseil constitutionnel seine Neukaledonien-Rechtsprechung bereits "avant la lettre" auch auf das Gemeinschaftsrecht angewandt hat: So haben Teile der Literatur bereits hinsichtlich der Europawahl-Entscheidung von 1976 angenommen, daß hier die grundsätzliche Entscheidung rur die Direktwahl des Europäischen Parla151 Zu Beispielen ftir diese Rechtsprechung s.u. 3. Kap. B. I. 4. a) bb) a). 152 So wohl zuerst Abraham Cours IEP 1985-1986, S. 42; später u.a. ders. Droit international S. 55 f; Darmon RTDE 1988, 217 (235 f); Jacque in: Droit constitutionnel et droits de I'homme (1987), 321 (324 f); Rideau RFDC 1990, 259 (272 ff); Pretot RTDE 1992, 194 (198); de Berranger Constitutions nationales S. 130 f; Gai"a Insertion S. 74 mit Fn 159 hält die Frage für noch hypothetisch, warnt aber ebenfalls vor den Folgen einer Ausdehnung auf völkerrechtliche Verträge, s. später aber ausführlicher dens. RFDC 1992, 398 (402 ff). 153 Abraham Droit international S. 168: "De toute farron, la superiorite de la Constitution SUT le droit communautaire est plus theorique que reelle." 154 s. nochmals Flauss LPA 1992 Nr. 83, 10.7.1992, 16 (22): "... le contröle de constitutionnalite des lois par la voie de I'exception risquerait de sonner le glas de la presomption de compatibilite a la Constitution accordee au droit conventionnel introduit dans I'ordre juridique franrrais."
B. Prozessuale Durchsetzung
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ments nochmals an der Verfassung gemessen wurde, obwohl sie schon in den Gründungsverträgen selbst entschieden schien i55 • Gegen diese Analyse ist allerdings zu Recht eingewandt worden, daß durch den Ratifikationsvorbehalt in Art. 138 a.F. EWGV die Entscheidung gerade offengehalten worden, also eine abschließende und bindende Grundsatzentscheidung im Vertrag vermieden worden war l56 ; richtig ist allerdings, daß der Conseil constitutionnel in der Eigenmittel-Entscheidung vom 19.6.1970 dem vergleichbaren Ratifikationsvorbehalt in Art. 201 EWGV keine entscheidende Bedeutung zugemessen hatte 157. Spätere Entscheidungen des Conseil constitutionnel legen dagegen tatsächlich die Vermutung nahe, daß eine Verfassungskontrolle unabhängig von der gemeinschaftsrechtlichen Determinierung eines Gesetzes vorgenommen und damit also auch indirekt nachträglich die Verfassungsmäßigkeit der Verträge geprüft wurde: So ging die Entscheidung zur gesetzlichen Neuordnung der Spirituosen-Besteuerung vom 30.12.1980 158 mit keinem Wort darauf ein, daß die Anpassung durch Art. 95 EWGV in der Auslegung des EuGH zwingend gefordert war, das Gesetz nach den in den beiden Entscheidungen von 1977 entwickelten Grundsätzen insoweit also an sich verfassungsgerichtlicher Überprüfung entzogen war l59 • Auch die Entscheidung vom 23.7.1991 160 über das Gesetz zur Zulassung von EG-Staatsangehörigen im öffentlichen Dienst l61 weist in diese Richtung: Ob155 So bereits Blumann RGDIP 1978, 537 (574 ff); Bon in: Droit constitutionnel et droits de I'homme (1987), 269 (293); Dubouis Melanges Boulouis (1991), 205 (210); Rideau RFDC 1990, 259 (273 f). 156 So de Villiers JCP 1978 I 2895; Abraham Droit international S. 52 f.; Gai"a Insertion S. 76 f; Combacau I Sur Droit international public (1993), 197 f; dagegen nimmt Dubouis aaO (vorige Fn.) an, daß die Grundsatzfrage trotz des Ratifikationsvorbehaltes bereits im Vertrag entschieden worden sei. 157 s.o. 3. Kap. A. 11. 1.; 3. Kap. B. I. 1.; auch Kovar I Simon RTDE 1977, 665 (670 f) weisen auf diese Diskrepanz hin. 158 CC 30.12.1980 No 80-126 DC - Loi de finances pour 1981, Rec. S. 53 = D. 1981 ir/sc 359 m.Anm. Hamon = RDP 1982, 127 (150) m.Anm. Philip S. 127 (129 ff) = RGDIP 1981,601 m.Anm. Decaux. 159 Dazu etwa Fromont FS Mosler (1983), 221 (238); Rideau RFDC 1990, 259 (278); Flauss LPA 1992 Nr. 83, 10.7.1992, S. 16 (21). 160 CC 23.7.1991 No 91-293 DC - Loi portant diverses dispositions relatives a la fonction publique, Rec. S. 77 = D. 1991 jp 617 (I. Entscheidung) m.Anm. Uo Hamon = RFDA 1991,918 m.Anm. Dubouis S. 903 = RFDC 1991,699 m.Anm. Gai"a = ALD 1992,72; s. auch Luchaire RDP 1991, 1499 ff; Favoreu u.a. AUC 1991,529 (550 ff). 161 Loi No 91-715 du 26.7.1991, JORF 27.7.1991, S. 9952; auszugsweise auch wiedergegeben in RFDA 1991,917; zu diesem Gesetz auch Pretot ALD 1992,67 ff.
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
wohl das Gesetz nur die Folgerungen aus Art. 48 Abs. 4 EWGV und der zu dieser Vertragsbestimmung ergangenen Rechtsprechung des EuGH zog, hat der Conseil constitutionnel hier - mit jeweils negativem Ergebnis - geprilft, ob möglicherweise Art. 6 der Menschenrechtserklärung den Zugang zum öffentlichen Dienst allein den Staatsbürgern vorbehält, oder ob die Zulassung von Ausländern die "wesentlichen Bedingungen der Ausübung der nationalen Souveränität" berührt; auch mit dieser Entscheidung scheint damit indirekt die Verfassungsmäßigkeit eines bereits ratifizierten Vertrages in Frage gestellt l62 • Letzten Aufschluß konnten diese Entscheidungen freilich nicht geben, da an ihrem Ende jeweils die Feststellung der Verfassungsmäßigkeit der überprüften Gesetze stand. Ein ernsthafter Konflikt zwischen Vertrag und Verfassung, dessen Entscheidung eine präzise Festlegung des verbliebenen nationalen Prilfungsspielraums erfordert hätte, bestand also nicht. Man kann sich sogar auf den Standpunkt stellen, daß der Conseil constitutionnel in diesen Entscheidungen durch das ausdrückliche Gütesiegel der Verfassungsmäßigkeit ("brevet de constitutionnalitcn den "Status" des indirekt betroffenen Gemeinschaftsrechts effektiver gestärkt hat, als er es durch die methodisch orthodoxe Feststellung der Unüberprütbarkeit hätte tun können l63 •
bb) Die Stellungnahme des Conseil constitutionnel
a) Die Maastricht I-Entscheidung vom 9.4.1992 Der Conseil constitutionnel dürfte diese Sorgen mit seiner Maastricht I-Entscheidung l64 beseitigt haben, wenn auch Zusammenhang und Interpretation der diesbezüglichen Passagen l6S der Entscheidung nicht unumstritten sind.
162
Gaia Anm. RFDC 1991, 699 (703); Oliver 43 ICLQ (1994), I (8 t).
Allgemein zum Legitimationsgewinn der Verträge durch eine erfolgreich bestandene Verfassungskontrolle Pol/mann RDP 1994, 1079 (1129 ft); zu diesem Manko der "prozessualen" Lösung der Konkurrenz von Vertrag und Verfassung s. noch unten 3. Kap. B. I. 4. b) bb) a): die Behauptung der Verfassungswidrigkeit kann nachträglich zwar nicht mehr gerichtlich geltendgemacht, dadurch aber eben auch nicht rechtskräftig ausgeräumt werden; sie bleibt damit der politischen Auseinandersetzung erhalten und schwächt die Legitimität des Gemeinschaftsrechts. 164 CC 9.4.1992 No 92-308 DC - Maastricht I, Rec. S. 55 = GDCC Nr. 45, S. 771 (I. Entscheidung) = JCP 199211 21853 m.Anm. Nguyen Van Tuong = RFDA 1992,403 m.Anm. Genevois S. 373 = RDP 1992, 608 m.Anm. Luchaire S. 587 = RTDE 1992, 163
B. Prozessuale Durchsetzung
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Mit dieser Entscheidung, die erstmals die Verfassungswidrigkeit von Teilen des vorgelegten Vertragswerks feststellte, wurde zumindest nach Auffassung der Mehrheit ihrer Interpreten nun erstmals auch der Gegenstand der Überprüfung und damit die Reichweite der noch überprüfbaren Vertragsänderungen in ausdrücklicher Abgrenzung zum bereits geltenden und damit nicht mehr kontrollierbaren Vertragsrecht definiert l66 • Die in der Minderheit befindliche Gegenauffassung l67 will in dieser Passage dagegen sogar Anzeichen filr eine Aufnahme der bereits geltenden Verträge in den "bloc de constitutionnalitc~" sehen: Danach hätte der Conseil constitutionnel die Vertragsänderungen auch am Maßstab des bereits geltenden Vertrages gemessen lhK • Nach der mehrheitlich vertretenen Lesart der einschlägigen Passage der Entscheidung l69 dient die Bezugnahme auf die durch Absatz 14 der Präambel von 1946 anerkannte Regel "pacta sunt servanda" dazu, den Ausschluß der Übertragung der Neukaledonien-Rechtsprechung auf bereits geltende völkerrechtliche Verträge zu rechtfertigen:
426; zum materiellrechtlichen Gehalt der Entscheidung s. bereits oben 3. Kap. A. H. I. b). 165 " .•• le traite sur l'Union europeenne porte modification d'engagements internationaux anterieurement souscrits par la France et introduits dans son ordre juridique en vertu de l'effet conjugue des lois qui en ont autorise la ratification et de leur publication soit au Journal officiel de la Republique fran~aise, soit au Journal officiel des Communautes europeennes, conformement A I'article 3 du decret no 53-192 du 14 mars 1953 modifie" (6. Erwägungsgrund). " ... il appartient au Conseil constitutionnel, saisi au titre de la procedure instituee par l'article 54 de la Constitution, d'un traite qui modifie ou comph:te un ou plusieurs engagements internationaux dejA introduits dans I' ordre juridique interne de determiner la portee du traite soumis a son examen en fonction des engagements internationaux que ce traite a pour objet de modifier ou de compteter" (8. Erwägungsgrund). 166 So u.a. Rideau in: Masclet / Maus (1993),67 (69 f) m.w.N.; ders. RAE 3 /1992, 7 (8); Luchaire RDP 1992, 589 (592); Genevois RFDA 1992, 373 (379 ff); Favoreu RGDIP 1993,39 (54 f); Favoreu u.a. AUC 1992,469 (499 ff); Favoreu / Philip GDCC S. 606; Hervouet RDP 1992, 1257 (1265 f); Grewe / Ruiz Fabri RUDH 1992,277 (280 f); Roseren 31 CMLRev (1994), 315 (316); Boulouis CDE 1994, 505 (510 f).
167 Jacque RTDE 1992,251 (254); Simon Europe 5 / 1992, 1 (2); Picard RFDA 1993, 47 ff; Rousseau RDP 1993, 5 (14 f). 168 Zu dieser Interpretation schon oben 3. Kap. A. I. 2. c) dd). 169 " .•• le quatorzieme alinea du preambule de la Constitution de 1946, auquel se refere le preambule de la Constitution de 1958, proclame que la Republique fran~aise 'se conforme aux regles du droit public international'; ... au nombre de celles-ci figure la regle Pacta sunt servanda qui implique que tout traite en vigueur lie les parties et doit etre execute de bonne foi;" (7. Erwägungsgrund).
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3. Kapitel: Verfassungs rechtliche Grenzen der Integration
Diese Regel erhebt einmal eingegangene völkerrechtlichen Verpflichtungen zwar nicht in Verfassungsrang l10 ; sie erlaubt es aber dem Verfassungsgericht, im Rahmen der (richterrechtlichen) Ausweitung seiner Prüfungskompetenz auch auf bereits verkündete Rechtsakte die besondere Lage völkerrechtlicher Verträge, insbesondere ihre von einer Verfassungskontrolle grundsätzlich unberührte völkerrechtliche Wirksamkeit zu berücksichtigen. Diese Erwägung führt zu einem Ausschluß der nachträglichen Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit völkerrechtlich wirksamer Abkommen sowohl auf der Grundlage des Art. 54 der Verfassung (im Rahmen der Prüfung von Änderungsabkommen) als auch auf der Grundlage des Art. 61 (im Falle einer Anrufung gegen das Zustimmungsgesetz zu einem Änderungsvertrag oder gegen ein Gesetz zur innerstaatlichen Ausführung vertraglicher Verpflichtungen).
ß) Die Entscheidung vom 13.8.1993: Maitrise de I'immigration Die mit der ersten Maastricht-Entscheidung gewonnene Sicherheit hinsichtlich der prozessualen Unangreitbarkeit einmal abgeschlossener Verträge wurde allerdings bereits kurze Zeit später durch die 2. Schengen-Entscheidung wieder in Frage gestellt: Nachdem der Conseil constitutionnel das Schengener Abkommen einschließlich seiner asylrechtlichen Bestimmungen mit der Entscheidung vom 25.7.1991 gebilligt hatte 111 , wurden die nationalen Ausführungsbestimmungen zu diesem Abkommen mit der Entscheidung vom 13.8.1993 112 insoweit als Verstoß gegen das im 4. Absatz der Präambel von 1946 gewährleistete Asylrecht verworfen, als sie bereits in anderen Vertragsstaaten abgewiesenen Asylbewerbern ein vorläufiges Aufenthaltsrecht zur Prüfung eines weiteren Asylantrags in Frankreich verwehrten und eine Asylgewährung in diesem Fall nur als freie Ermessensentscheidung des Staates vorsahen. Auf diese Weise schien der Conseil constitutionnel die verfahrensrechtliche Zuordnung der Asylbewerber zum ersten Aufnahmestaat und damit eines der 110 S.O. 3. Kap. A. I. 2. c) dd); bes. deutlich im hiesigen Zusammenhang Gai"a RFDC 1992,398 (404). 111 s.o. 3. Kap. A. H. I. a) dd); damals war diese Entscheidung allerdings vor allem unter dem Gesichtspunkt der nationalen Souveränität analysiert worden, so zurückblickend Rossetto RMC 1994, 315 (320).
112 CC 13.8.1993 No 93-325 DC - Maitrise de l'immigration, Rec. S. 224 = GDCC Nr. 46, S. 817 = RCDIP 1993, 597 = RFDA 1993, 887 m.Anm. Genevois S. 871 = RFDC 1993, 583 m.Anm. Favoreu = RGDIP 1994, 205 m.Anm. Alland; gekürzte deutsche Übersetzung in EuGRZ 1993, 508 m.Anm. Grewe / Weber S. 496 ff.
B. Prozessuale Durchsetzung
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Strukturprinzipien des Schengener Systems - also eines bereits ratifizierten Vertrages - nicht nur nachträglich in Frage gestellt, sondern tatsächlich als verfassungswidrig verworfen zu haben 173 • Bei genauerer Betrachtung erweist sich diese Analyse jedoch als unzutreffend; es handelt sich vielmehr um einen Fall der Kontrolle der Ausfiillung von auch nach Abschluß des Abkommens erhalten gebliebenen nationalen Handlungsspielräumen durch den nationalen Gesetzgeber l74 : Die Entscheidung von 1991 hatte das Schengener Abkommen gerade deshalb verfassungsrechtlich unbeanstandet gelassen, weil sein Artikel 29 Abs. 4 den Vertragsstaaten die Möglichkeit einräumte, die nationale Entscheidungszuständigkeit rur Asylanträge auch in den Fällen zu erhalten, in denen der Antragsteller über einen anderen Vertrags staat eingereist war 175 • Die Folgeentscheidung beanstandete nun allein die autonome Entscheidung des nationalen Gesetzgebers, diese vom Vertrag eingeräumte Möglichkeit einer "hinkenden Anwendung"176 des Systems nicht zu nutzen 177 bzw. sie auf Recht zur Gnadenzulassung zu reduzieren 178 •
173 So die Wertung von Picard Administration No 162 (1994), 156 f; Bordry Le Monde 28.8.1993; Solon Le Monde 9.9.1993; Drago Rev. adm. 1993,453; Nguyen van Tuong ALD 1994, 77 (79 ff); Fromont FS Bernhardt (1995), 1177 (1181 ff); vorsichtiger Nguyen Quoc Dinh / Daillier / Pellet Droit international public Rn 186, S. 279; auch Grewe / Weber EuGRZ 1993, 496 (498 ff) nehmen eine nachträglichen Mißbilligung des Schengener Vertrages durch den CC an. 174 Zu dieser Kategorie bereits oben 3. Kap. B. I. 2. d) bb). 175 CC 25.7.1991, 31. Erwägungsgrund: "... toutefois, le paragraphe 4 de I'article 29 reserve le droit de toute partie contractante 'pour des raisons particulil!res tenant notamment au droit national' d'assurer le traitement d'une demande d'asile meme si la responsabilite incombe a une autre partie; ... ces dernieres stipulations sont appetees a recevoir application au profit des personnes susceptibles de beneficier du droit d'asile en vertu du quatrieme alinea du preambule de la Constitution de 1946; ... " 176 So die Charakterisierung von Classen DÖV 1993, 227 (229 f), die Fromont FS Bernhardt (1995), 1177 (1181) übernimmt. 177 CC 13.8.1993, 88. Erwägungsgrund: " ... comme le Conseil constitutionnel I'a releve par sa decision no 91-294 DC du 25 juillet 1991, la determination d'un autre Etat responsable du traitement d'une demande d'asile en vertu d'une convention internationale n'est admissible que si cette convention reserve le droit de la France d'assurer, meme dans ce cas, le traitement d'une demande d'asile en application des dispositions propres ason droit national; ... le quatrieme alinea du Preambule de la Constitution de 1946 fait obligation aux autorites administratives et judiciaires frant;aises, de proceder a I'examen de la situation des demandeurs d'asile qui relevent de cet alinea ... " 178 In diesem Sinne freilich auch Picard Administration No 162 (1994), 156 (159): mit dem Vorbehalt in der Konvention sei dem Staat ein Recht zugestanden worden, das 15 Gundei
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Mit zunehmendem Zeitabstand zur tagespolitisch geprägten Aufregung um diese Entscheidung des Conseil constitutionnel scheint sich auch in der französischen Literatur die Auffassung durchgesetzt zu haben, daß die Entscheidung vom 13.8.1993 weder im Widerspruch zur ersten Schengen-Entscheidung stand noch die Verfassungsmäßigkeit eines bereits ratifizierten Vertrages in Frage stellte l79 • Daß die Teilnahme am Schengener System unter diesen Bedingungen der neuen bürgerlichen Mehrheit unter dem Gesichtspunkt des "Reserve-Asyllandes" nicht zumutbar lKO schien, steht auf einem anderen Blatt und hat zu einer bis dahin noch nie geschehenen "Überstimmung" des Conseil constitutionnel im Wege der Verfassungsänderung gefuhrt lKI - rechtlich und wohl auch praktisch IK2 aber war die Teilnahme am Schengener System unter gleichzeitiger Wahrung der Verfassungsgarantie des Asylrechts auch auf der Grundlage der Entscheidung des Conseil constitutionnel möglich geblieben. Auf politischer Ebene wurde die Version einer durch den Conseil constitutionnel nachträglich errichteten rechtlichen Hürde für die Durchführung eines bereits ratifizierten Vertrages allerdings - wohl vor allem als Argument rur die Unausweichlichkeit einer Verfassungsänderung - beibehalten lK3 ; auch der
dieser aber nicht ausüben müsse; vom Standpunkt des Abkommens ist dies richtig, hindert aber nicht, daß die insoweit souveräne Entscheidung des Vertragsstaates weiter durch die zwingenden Vorgaben seines innerstaatlichen (Verfassungs-)Rechts beherrscht wird. 179 So zu Recht Teitgen-Colly AJDA 1994, 97 (111); Luchaire RDP 1994, 5 (14 ff); de Berranger Constitutions nationales S. 269 ff; s. auch bereits C/assen DÖV 1993, 227 (229 f); besonders eindrücklich Rossetto RMC 1994, 315 (321): "Le passage d'une simple faculte a une obligation, qui est le nreud de la question, s'explique alors par le fait que les deux decisions ne se situent pas sur le meme plan. La premiere constate que le droit international en cause permet de faire jouer les dispositions du droit constitutionnel fran~ais. La seconde indique que, dans I'hypothese consideree, ce droit constitutionnel impose une obligation aux autorites fran~aises. En d'autres termes, ce qui ressortit a la competence discretionnaire d'un Etat dans I'ordre conventionnel, devient un imperatif pour les autorites de la Republique dans I'ordre juridique interne." 180
s. auch Picard Administration No 162 (1994), 156 (159 f); Rossetto RMC 1994,
315 (321). IKI
s. bereits oben 3. Kap. A. 111. I. b).
s. Rossetto RMC 1994, 315 (321); Gautier Europe 12 / 1993, 1 (2 f), die auf die Möglichkeit der Einrichtung von Eilverfahren ftlr bereits in anderen Vertragsstaaten abgelehnte Asylbewerber verweisen. 182
183 So insbes. der damalige Innenminister Charles Pasqua; seine Stellungnahmen in der Tagespresse (Le Monde 17.8.1993; Le Figaro 23.8.1993) sind z.T. auch wiedergegeben bei Fromont FS Bernhardt (1995), 1177 (1181).
B. Prozessuale Durchsetzung
227
Conseil d'Etat scheint in einem im Auftrag der Regierung lK4 erstellten Gutachten vom 23.9.1993 mit einer allerdings mehrdeutigen Formulierung lKS diese Sicht der Dinge übernommen zu haben lK6 • Als Ergebnis ist danach festzuhalten, daß jedenfalls durch die richterrechtliche Ausdehnung der Kontrolle des Conseil constitutionnel auf bereits geltendes Recht die innerstaatliche Verbindlichkeit völkerrechtlicher Verträge und damit auch des Gemeinschaftsrechts - nicht aktuell gefiihrdet ist, da der Conseil sie von dieser Entwicklung unter Berufung auf den Satz "pacta sunt servanda" auszunehmen scheint.
4. Erweiterung der Kontrolle durch den verfassungsändernden Gesetzgeber: Die exception d'inconstitutionnalite
a) Der interne Kontext
Das Potential einer nachträglichen Verfassungskontrolle der Gesetze ist mit dieser richterrechtlichen Erweiterung, die in ihren Voraussetzungen - der Befassung mit einer Gesetzesänderung, die ihrerseits hinreichenden Bezug zu den betroffenen Vorschriften des geltenden Rechts hat - von Zufiilligkeiten abhängig und in ihren Wirkungen auf das bereits geltende Gesetz unbestimmt bleibt, nicht erschöpft; weiter konnte der Conseil constitutionnel aus eigener Initiative allerdings auch kaum gehen. Seit 1989 ist jedoch die Diskussion über eine Erweiterung der Prilfungszuständigkeiten des Conseil constitutionnel, die mit der begrenzten Erweiterung des präventiven Antragsrechts auf die Minderheit in Nationalversammlung und Senat im Jahr 1974 ihren Abschluß gefunden zu haben schien lK7, wieder auf die Tagesordnung gelangt. 184 Zu diesem - schon mit einer Suggestivfrage formulierten - Auftrag Drago Rev. adm. 1993, 453; Teitgen-Colly AJOA 1994, 97 (110 f); Luchaire RDP 1994, 5 (21 ff); Fromont FS Bernhardt (1995), 1177 (1187); das Gutachten ist veröffentlicht im Jahresbericht 1993 des CE, EDCE Nr. 45, S. 317 ff sowie in RDP 1994, 41 ff. 185 So meint etwa Gautier Europe 12 / 1993, I (2 f), daß das Gutachten eindeutig die Unnötigkeit einer Verfassungsänderung belege; anders Grewe / Weber EuGRZ 1993, 496 (499). 186 Auch der CE erwähnt die Möglichkeit von Eilverfahren, kommt aber schließlich zu dem Ergebnis, daß die Entscheidung des CC es unmöglich mache, sich auf eine "strikte" Anwendung von Art. 29 Abs. 4 des Schengener Abkommens zu beschränken. IK7 ZU den folgenlos gebliebenen Reformvorschlägen der 60er und frühen 70er Jahre, die teils die Einrichtung einer "Cour constitutionnelle supreme" in Anlehnung an
15'
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
Sie richtet sich nunmehr vor allem auf die Eröffnung der Kontrolle auch über bereits geltende Gesetze im Rahmen ihrer Anwendung vor den Fachgerichten. Schon bei den Beratungen zur Verfassung von 1958 war mehrfach die Idee einer Verknüpfung zwischen Conseil constitutionnel und Fachgerichten durch die Einfllhrung eines Vorlageverfahrens geäußert worden, hatte sich aber - wohl aufgrund der dem Conseil constitutionnel zugedachten beschränkten Rolle (und des immer gegenwärtigen Schreckbilds eines "gouvernement desjuges") - nicht durchsetzen können l88 • Im Jahr 1989 wurden diese Gedanken in einer Initiative des damaligen Präsidenten des Conseil constitutionnel und früheren Justizministers, Robert Badinter l89 , wieder auf- und kurz darauf auch von Präsident Mitterrand l90 übernommen. Mit diesem Vorstoß, der auf die Einfllhrung einer Richtervorlage an den Conseil constitutionnel im Wege der konkreten Nonnenkontrolle abzielte, wurde die Unantastbarkeit des einmal erlassenen Parlamentsgesetzes de constitutione ferenda in Frage gestelle 91 • Auf diesem Wege sollte zumindest eine nachträgliche Inhaltskontrolle der Gesetze unter dem Gesichtspunkt einer Verletzung von Grundrechten l92 ennöglicht werden. Als Vorbilder fllr diesen - nach der vor allem von Favoreu l93 und Cappelletti l94 geprägten Systematisierung - "europäischen Typus" einer zentralisierten die amerikanische Terminologie, allerdings ohne Übernahme des amerikanischen Systems vorsahen, s. Juillard RDP 1974, 1713 ff; Ress löR n.F. 23 (1974), 121 (170 ft); ChirolLX Pouvoirs Nr. 13, (3.A.1991), 107 ff. 188 S. zu dieser Debatte: DPS 1 S. 382, 385; dazu auch Favoreu RDP 1967, 5 (96 t); Philip in: L'ecriture de la Constitution (1992), 467 (472 t); RenolLX in: L'ecriture de la Constitution (1992), 667 (680 t). 189 Interview in Le Monde 3.3.1989. 190 Fernsehansprache zum 14.7.1989, in Auszügen wiedergegeben in Le Monde 16.17.7.1989. 191 Umfassend zu diesem Vorhaben die zahlreichen Beiträge in Conac / Maus (Hrsg.) L'exception d'inconstitutionnalite (1990), passim; später noch Grewe in: La Revision (1993), 237 ff; aus der deutschen Literatur s. die kurzen Hinweise bei Spies NVwZ 1990,1040 (1045). 192 Zum Begriff der "droits fondamentaux" s. im Einzelnen unten cc) mit Fn 257 ff. 193 s. z.B. Favoreu in: Favoreu / lolowicz (1986), 17 (44 ft) sowie dens. "Modele europeen et modele americain de justice constitutionnelle" in AUC 1988, 51 ff = (eng\. Fassung) ders. in: Essays in Honour of Merryman (1990), 105 ff.
194 Cappelletti ludicial review (1971), 55 ff; ders. / Cohen Comparative Constitutional Law (1979),73 ff; ders. in: Favoreu (Hrsg.), Cours constitutionnelles (1982),461 (463 t); zuletzt ders. in: Essays in Honor of Merryman (1990), 341 (346 ft). Beide Autoren ordnen das französische System der Vorab-Kontrolle trotz seiner offensichtlichen Besonderheiten bereits de constitutione lata dem "europäischen" Modell zu, s.
B. Prozessuale Durchsetzung
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und beim Verfassungsgericht monopolisierten Verwerfungskompetenz l95 stehen offensichtlich das deutsche l96 wie das italienische 197 Modell zur Verfügung; aber auch die Überprufung der Rechtmäßigkeit des sekundären Gemeinschaftsrechts hat sich durch das Richterrecht des EuGH im Sinne eines solchen Verwerfungsmonopolsl98 des im Wege der Vorlage anzurufenden "Verfassungsgerichts"199 der Gemeinschaft entwickelt.
aa) Begriffe Die Diskussion um diese grundsätzliche Neuerung wird allgemein unter dem auch von Badinter gebrauchten Stichwort der "exception d'inconstitutionnalite,,200 gefiihrt, also eines im Prozeß inzident vorgetragenen Einwands der Verfassungs widrigkeit eines Gesetzes, das den in der Hauptsache ange-
aber die Ergänzung zu Cappellettis Bericht in: Cours constitutionnelles (1982), 461 (499 ff). 195 Im Gegensatz zum "amerikanischen Modell", nach dem die Verwerfungskompetenz wegen angenommener Verfassungswidrigkeit jedem Gericht zusteht, die Rechtswirkung dieser Inzidentverwerfung aber auch nicht über den entschiedenen Einzelfall hinausreicht; das europäische Modell wird in der Literatur auch - vorsichtiger und auf seine erste Manifestation verweisend - als österreichischer Typus bezeichnet, s. etwa aus der deutschsprachigen Literatur Weber in: Starck / Weber (1986), 41 (73 f); v. Brünneck Verfassungsgerichtsbarkeit (1992),28 f; Oellers-Frahm FS Doehring (1989), 691 (693). 196 Art. 100 Abs. 1 GG; zur deutschen Situation aus französischer Sicht Fromont in: Conac / Maus (1990), 13 ff, der das deutsche System als am vollständigsten ausgebaut bezeichnet: dieses Fazit ist allerdings kein reines Kompliment, da die Politik durch dieses System vollständig "eingerahmt" sei. 197 Art. 134 und 137 der Verfassung vom 27.12.1947, zu Italien Escarras in: Conac/ Maus (1990), 23 ff; aus deutscher Perspektive die Länderberichte von Ritterspach in: Starck / Weber (1986),219 ffund Monaco in: Grabitz (1987),363 ff. 198 EuGH 22.10.1987 Rs. 314 / 85 - Foto Frost gegen HZA Lübeck-Ost, Sig. 1987, 4199; dazu auch kurz Genevois in: Conac / Maus (1990), 97 (105). 199 Zu den vefassungsgerichtlichen Funktionen des EuGH s. in neuerer Zeit nur Mischo RMC 1990, 681 ff, Rodriguez Iglesias EuR 1992, 225 ff; Due in: Constitutional adjudication (1992), 3 ff; skeptisch zur Leistungsfähigkeit dieser Begriffsbildungen jedoch Jacobs in: Constitutional adjudication (1992), 25 ff. 200 s. etwa Conac / Maus (Hrsg.), L'exception d'inconstitutionnalite. Experiences etrangeres, situation fran~aise (1990), passim.
230
3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
griffenen Eingriff trägt. Auch der Conseil constitutionnel hat sich bereits dieser Terminologie bedient2O I . Es handelt sich dabei um eine begriffliche Parallelisierung202 mit der aus dem französischen Verwaltungsprozeß bekannten "exception d'iIIegalite": Mit diesem Instrument wird - ebenfalls inzident - die Gesetzwidrigkeit einer (bereits bestandskräftigen203 ) Verordnung geltendgemacht, um dem auf sie gestützten und vom Kläger angegriffenen Einzelakt der Verwaltung die Rechtsgrundlage zu entziehen. Diese Terminologie ist allerdings nicht zu Unrecht auf Widerspruch gestoßen, da die begriffliche Analogie zur "exception d'iIIegalite" den spezifischen Charakter des vorgesehenen Verfahrens nicht wiedergeben kann: Über die Frage der Verfassungswidrigkeit entscheidet ja nicht der Richter der Hauptsache nach dem Grundsatz "Ie juge de I'action est le juge de I'exception", sondern auf Vorlage durch das in der Hauptsache befaßte Gericht allein der Conseil constitutionnetl°4 •
bb) Die Diskussion um Notwendigkeit und Wünschbarkeit der Reform im internen Recht Die Wünschbarkeit einer solchen umfassenden Verfassungskontrolle von Gesetzen ist in der politischen Landschaft, aber auch in der französischen Rechtslehre umstritten geblieben.
201 s. den 4. Erwägungsgrund von CC 27.7.1978 No 78-96 DC - Monopole de la radio et de la television, Rec. S. 29 (s.o. 3. Kap. B. I. 3. a) aa) bei Fn 122 und 124). 202 So Renoux RFDC 1990, 651 (653). 203 Das französische Verwaltungsprozeßrecht läßt die prinzipale Normenkontrolle gegenüber Verwaltungsverordnungen in weitem Umfang zu, verbindet sie aber mit dem Institut der Bestandskraft: 2 Monate nach Verkündung wird die prinzipale Normenkontrollklage unzulässig; da in diesem Zeitpunkt rur den potentiellen Kläger eine tatsächliche konkrete Beeinträchtigung häufig noch nicht absehbar ist, muß ihm die Möglichkeit erhalten bleiben, auch bei Verzicht auf Klage gegen die Verordnung diese später noch inzident im Rahmen einer Klage gegen ihn nun tatsächlich beeinträchtigende Einzelakte anzugreifen; s. dazu m.w.N. noch unten 5. Kap. B. 111. 2. 204 Renoux RFDC 1990, 651 (655); seinen Einwänden folgend Turpin Contentieux constitutionnel Rn 215, S. 333; ähnlich auch die Klarstellungen von Favoreu RFDC 1990, 581 (598 f).
B. Prozessuale Durchsetzung
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a) Die Schwächen des Status qua Auf der einen Seite wird die Vorlage im Wege der konkreten Normenkontrolle als Vollendung des Rechtsstaates20S und der - mit der Errichtung des Conseil constitutionnel begonnenen - Verrechtlichung des französischen Verfassungslebens bezeichnet. So weist etwa Chevallie~06 darauf hin, daß diese Reform erstmals auch dem Bürger und nicht nur den bisher nach Art. 54 und 61 der Verfassung antragsberechtigten politischen Organen die Möglichkeit einräumen würde, in rechtlich relevanter Weise die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen in Frage zu stellen - bisher war diese Möglichkeit nur in Form des Volksaufstands, nach modemen Begriffen also des Widerstandsrechts, als Auflehnung gegen die gesamte geltende Ordnung vorstellba~07. Gegenüber dem naheliegenden Einwand einer Störung der Rechtssicherheit, die durch das bisherige System einer ausschließlich präventiven Kontrolle des noch nicht geltenden und damit auch noch nicht angewandten Gesetzes nicht beeinträchtigt wird208 , verweisen die BefUrworter der Reform auf den Autoritätsverlust, den die gesamte Rechtsordnung erleidet, wenn bestehende Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen nicht geklärt werden können 209, wenn etwa - wie in der gegenwärtigen Lage durchaus möglich und geschehen - bestehende Gesetze weiter gelten und angewandt werden, obwohl identische Passagen in neuen Gesetzesvorhaben vom Conseil constitutionnel verworfen wurden.
20S Auch die breite Verwendung des - in der Wissenschaft bereits lange bekannten Begriffs des "Etat de droit" in der öffentlichen Diskussion ist relativ jungen Datums und hat zusammen mit dem CC selbst "Karriere" gemacht; freilich hielt man ihn in den 70er Jahren bereits mit der Reform des Art. 61 der Verfassung fIlr vollendet, s. Avril RDP 1990,949 (951); Favoreu RFDC 1990,581 (607) sowie kritisch Ameller RFDC 1993, 258 (261 ff); zur Entwicklung des Begriffs in der französischen Literatur s. Chevallier RDP 1988,311 ff(insbes. 347 ff). 206 D. 1989 ehr. 255; ebenso Koubi LPA 1990 Nr. 89, 25.7.1990, S. 29 unter dem Titel "Du droit de resistance a I'oppression a l'Etat de droit. La saisine du CC par les citoyens toujours en question". 207 "Quand le Gouvernement viole les droits du peuple, I'insurrection est, pour le peuple et pour chaque portion du peuple, le plus sacre des droits et le plus indispensable des devoirs", so Art. 35 der Erklärung der Menschenrechte von 1793; die Menschenrechtserklärung von 1789 spricht unspezifischer von "n!sistance a I'oppression", s. Art. 2 Satz 2 der DDH. 208 Zu diesem Vorteil der rein präventiven Kontrolle s. bereits Favoreu in: Favoreu / 1010wicz (1986), 17 (54 f); später noch Pactet Melanges Chapus (1992), 503 (513 f). 209 Maus, Diskussionsbeitrag in: Conac / Maus (1990), 134 f.
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
Die Schwächen der rein präventiven Verfassungskontrolle haben sich bereits mit der zweiten "großen" Grundrechtsentscheidung des Conseil constitutionnel vom 27.12.1973 210 gezeigt: Wiederum - wie schon 1971 - vom Präsidenten des Senats angerufen, hatte der Conseil constitutionnel hier über eine Änderung des code general des im pots zu befinden, die dem fur sein angegebenes Einkommen zu aufwendig lebenden und daraufhin von Amts wegen nicht nach dem angegebenen Einkommen, sondern nach den "sichtbaren" Ausgaben für die Lebensführung besteuerten Steuerpflichtigen erstmals den Gegenbeweises gestattete, daß der "verdächtige" Lebensstil nicht aus nicht erklärtem Einkommen, sondern etwa aus dem Vermögensstamm oder aus Zuwendungen Dritter finanziert wurde. Angegriffen und vom Conseil constitutionnel als Verstoß gegen den Gleichheitssatz aus Art. 6 der Menschenrechtserklärung und damit als verfassungswidrig beanstandet wurde natürlich nicht diese Erweiterung des Rechtsschutzes, sondern eine in der Neuregelung vorgesehene Gegenausnahme, die Steuerpflichtigen mit besonders aufwendigem Lebensstil weiter den Gegenbeweis versagte. Dies führte freilich dazu, daß die gesamte Neuregelung verworfen wurde und damit die bestehende Regelung in Kraft blieb, nach der der Gegenbeweis allen Steuerpflichtigen abgeschnitten war. Das Eingreifen des Conseil constitutionnel hatte also nur dazu geführt, daß der ursprüngliche, "verfassungsfernere" Zustand erhalten blieb2ll ; die bereits geltenden gesetzlichen Regelungen, deren Verfassungswidrigkeit aufgrund dieser Entscheidung feststand, blieben bis 1986 in Kraft. In der weiteren Entwicklung haben die Grenzen des derzeitigen Systems der Verfassungskontrolle vor allem im Bereich des Strafrechts212 Aufsehen erregt: Ein eindrucksvolles Beispiel dafllr liefert eine weitere, ebenfalls berühmt gewordene frühe Entscheidung des Conseil constitutionneFI3 zum Grund-
210 CC 27.12.1973 No 73-51 OC - Taxation d'office, Rec. S. 25 = GOCC Nr. 21, S. 277 = AJDA 1974, 246 m. Anm. Gaudemet S. 236 = RDP 1974, 545 m.Anm. Philip = lCP 197411 17691 m.Anm. Nguyen Quoc Vinh; s. auch Hamon 0.1974 ehr. 83 (87 ff). 211 Der CC hatte es freilich in der Hand, dieses Ergebnis durch Beschränkung des Ausspruchs auf die Gegenausnahme zu vermeiden; er hat diese jedoch flir untrennbar vom Rest der Regelung befunden und aus diesem Grund in Anwendung von Art. 22 der Ordonnance v. 7.11.1958 die Verwerfung auf die Gesamtregelung erstreckt, s. nur Favoreu / Philip GOCC S. 277 (292 ff); Lebreton ROP 1983, 419 (436 ff). 212 Zum Strafprozeßrecht CC 23.7.1975 No 75-56 OC - luge unique, Rec. S. 22 = RDP 1975, 1353 m.Anm. Favoreu / Philip S. 1307 ff, insbes. zur Fortgeltung des verfassungswidrigen Ausgangsgesetzes S. 1322. 213 CC 28.11.1973 No 73-80 L - Code rural, Rec. S. 45 = O. 1974 jp 269 m.Anm. Hamon D. 1974 ehr. 83 (86 ff) = ROP 1974, 903 m.Anm. de Soto S. 889 = AJDA
B. Prozessuale Durchsetzung
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rechtsschutz vom 28.11.1973, mit der in einem obiter dictum 214 die Normierung von Freiheitsstrafen allein dem parlamentarischen Gesetzgeber zugewiesen und insoweit die Macht des - zur Festsetzung der Strafen fur Übertretungen zuständigen - Verordnunggebers beschnitten wurde 2l5 • Die Cour de cassation sah sich in der Folge außerstande, diese - von ihr wohl auch in der Sache nicht akzeptierte 216 - Rechtsprechung anzuwenden, da die Rechtsrnacht des Verordnungsgebers zur Normierung auch von Freiheitsstrafen durch Bestimmungen im Rang eines Gesetzes ausdrücklich anerkannt worden war2l7 • Nachdem die nachträgliche Verfassungskontrolle dieser Bestimmungen im Gesetzesrang 218 ausgeschlossen schien, wurde auch die durch sie "gedeckte" Verordnung weiter angewandt: Es kam zur Verurteilung2l9 • Bereinigt wurde 1974, 234 m. Anm. Rivero S. 229; dazu auch Madiot D. 1975 ehr. 1 ff; Chapus DAG I Rn 49, S. 28; Genevois Jurisprudence Rn 197, S. 116; Badinter / Genevois / Vedel RFDA 1987, 844 (861). 214 Die Wendung ist berühmt geworden als "petite phrase" des CC, so der Titel des Artikels von Vedel in Le Monde 5.12.1973. 215 " ... iI resulte des dispositions combinees du Preambule, des alineas 3 et 5 de I'art 34 et de l'art 66 de la Constitution que la determination des contraventions et des peines qui leur sont applicables est du domaine reglementaire lorsque lesdites peines ne comportent pas de mesure privative de liberte" (11. Erwägungsgrund). 216 s. die Schlußanträge von Generalanwalt Touffait zu Cass. crim. 26.2.1974 Schiavon, D. 1974 jp 273 (275 ff); de Soto RDP 1974, 889 (892). 217 Art. 465 des code penal: "L'emprisonnement pour contravention de police ne pourra etre moindre d'un jour ni exceder deux mois." Da die contraventions vom Verordnungsgeber definiert und sanktioniert werden, bedeutet diese Regelung Anerkennung seiner Rechtsrnacht auch zur Normierung von Freiheitsstrafen. 218 Auch diese Vorschrift beruht auf einer Ordonnance gern. Art. 92 der Verfassung (s.o. 3. Kap. A. I. 2. c) aa) a) im Rang eines (einfachen) Gesetzes, war also einer Kontrolle durch den CC nie ausgesetzt; dazu Madiot D. 1975 ehr. 1 (2 f); Waline Anm. zu CE 3.2.1978, RDP 1979, 535 (541) nimmt insoweit einen Mißbrauch der Notkompetenz aus Art. 92 Abs. 3 an, da kein Eilbedarf zu erkennen gewesen sei. 219 Cass. crim. 26.2.1974 - Schiavon, D. 1974 jp 273 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Touf/ait u.Anm. Vouin = RDP 1974, 905 = AJDA 1974, 235 m.Anm. Rivero S. 229 u. Anm. Larguier Rev. sc. crim. 1974, 855: "... ces derniers textes [sc: Art. 465, 466 Code penal], ayant valeur legislative, s'imposent aux juridictions de l'ordrejudiciaire qui ne sont pasjuges de leur constitutionnalite ... "; Ebenso CE Sect. 3.2.1978 - CFDT et CGT, Rec. S. 47 = RDP 1979, 543 m.Anm. Waline S. 535 = AJDA 1978, 388 m.Anm. Durupty: " ... il resulte des dispositions legislatives des articles 464 et 465 du Code penal, dont iI n'appartient pas au Conseil d'Etat statuant au Contentieux d'apprecier la constitutionnalite, que I'emprisonnement pour contravention de police peut etre infligee ... " zur Klage gegen eine Verordnung, die die Verteilung von Werbe-Handzetteln mit Freiheitsentzug bis zu 8 Tagen bedrohte; erneut bestätigt durch CE 17.2.1978 - Union des syndicats nationaux des cadres
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
diese Situation erst im Jahre 1993 im Rahmen der Refonn des Code penal durch die völlige Abschaffung des Freiheitsentzugs als Sanktion für Übertretungen 220 . Zugleich handelt es sich um ein eindrucksvolles Beispiel des sog. "ecran legislatif', also der "Abschinnung" der an sich gerichtlicher Überprüfung ausgesetzten22I Nonnsetzung der Exekutive durch das selbst nicht kontrollierbare Gesetz222 • 20 Jahre später wiederholte sich dasselbe Schauspiel strafgerichtlicher Verurteilungen auf verfassungswidriger gesetzlicher Grundlage: Kurz nachdem der Conseil constitutionnel mit einer Entscheidung vom 18.1.1985 223 anläßlich der Neufassung des Insolvenzrechts den - in der Sache seit 1838 unverändert gebliebenen und zuletzt 1967 gesetzlich bestätigten 224 - Straftatbestand der "malversation" (Fehlverwendung von Mitteln durch den Konkursverwalter) wegen unzureichender Bestimmtheit für verfassungswidrig erklärt hatte, verurteilte die Cour de cassation 22S erneut wegen dieses Delikts - auf der Grundlage des ursprünglichen Straftatbestands in der Fassung des Gesetzes von 1967, dessen unveränderte Übernahme in das neue Insolvenzrecht am Spruch des
et techniciens d'affichage et de publicite exterieure, Rec. S. 81; CE 8.3.1985 - Federation des associations fran~aises de tir au vol, Rec. S. 72. 220 Autbebung der einschlägigen Strafdrohungen in allen Verordnungen durch Oecret No 93-726 du 29.3.1993, JORF 30.3.1993, S. 5559; Streichung von Art. 465 code penal durch Loi No 93-913 du 19.7.1993, JORF 20.7.1993, S. 10199; die endgültige Neuregelung findet sich in Art. 131-12 des nouveau code penal, s. Desportes / Le Gunehec JCP 1992 1 3615; zusammenfassend Cartier in: La Cour de cassation et la Constitution (1995), 155 (156 f). 221 Sei es durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit oder den Strafrichter, der die Rechtmäßigkeit der verletzten Verordnungen eigenständig (inzident) prüft, s.u. 5. Kap. B. 11. I. 222 s. nur Moderne in: CC et CE (1988), S. 313 (355 ff); ausfUhrlich zum Einsatz dieser Technik gegenüber dem Gemeinschaftsrecht durch den CE S.u. 5. Kap. B. III. I. a).
223 CC 18.1.1985 No 84-183 OC - Redressement et liquidation judiciaire des entreprises, Rec. S. 32 = O. 1986 jp 425 (2. Entscheidung) m.Anm. Renoux; s. auch Genevois AUC 1985,399 (413 ff); Favoreu RDP 1986,395 (414); Cartier in: La Cour de cassation et la Constitution (1995), 155 (159). 224 Zur Gesetzgebungsgeschichte Genevois AUC 1985, 399 (413 f). 225 Cass. crim. 24.7.1985 - Baptiste et autre c. X, O. 1986jp. 220 m.Anm. Marchi = Gaz. Pa\. 1986, 1,47; scharf ablehnend Doucet Gaz. Pa\. 1986, I, doctr. 9; vorsichtig zustimmend dagegen Genevois AUC 1985,399 (414).
B. Prozessuale Durchsetzung
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Conseil constitutionnel gescheitert warm. Allein der Gesetzgeber reagierte diesmal schneller und schuf mit Wirkung zum 1.1.1986 einen präziseren Straftatbestand; die Eile erklärt sich freilich aus der Tatsache, daß das alte Konkursrecht zum 1.1.1986 insgesamt außer Kraft trat und so eine Stratbarkeitslücke entstanden wäre. Auch in der Folgezeit hat es an solchen Beispielen der weiteren Anwendung von mit größter Wahrscheinlichkeit verfassungswidrigen, aber eben bereits geltenden und damit einer Verfassungskontrolle grundsätzlich entzogenen Gesetzen nicht gefehlt2 27 •
ß) Gegenargumente (1) Auf der anderen Seite sind aber auch Beflirchtungen hinsichtlich der Folgen einer solchen Reform lautgeworden: So bestehen natürlich von politischer Seite228 die bekannten grundsätzlichen Bedenken gegen die mit einer Erweiterung der Kompetenzen des Conseil constitutionnel verbundenen Gefahren eines "gouvernement des juges"m fort; sie haben sich zuletzt in ande226 Zu der von der Cour de cassation nicht wahrgenommenen Möglichkeit, in dieser Situation mit Art. 7 EMRK zu "helfen", s. Marchi D. 1986 jp 220 (221); skeptisch insoweit Genevois AUC 1985, 399 (414); generell zu derartigen Ersatzperspektiven flir die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit noch unten 4. Kap. B. 11. 3. d) bb) und 6. Kap.
A. 227 So im Fall der Entscheidung CC 29.12.1983 No 83-164 DC - Perquisitions fiscales, Rec. S. 67 = GDCC Nr. 34, S. 532 = JCP 1984 11 20160 m.Anm. Drago / Decocq, mit der behördliche Durchsuchungen von Wohn- und Geschäftsräumen unter stärkere richterliche Aufsicht gestellt wurden: die wegen Feh1ens dieser Kontrolle verworfene Vorschrift fand sich in Art. 89 des Haushaltsgesetzes flir 1984 und betraf allein die Steuerfahndung; parallele Vorschriften befanden sich in einer großen Anzahl bereits verkündeter Gesetze, die nunmehr allmählich vom Gesetzgeber dem neuen Erkenntnisstand angepaßt werden, bis dahin aber anwendbar bleiben, s. zum Ganzen Genevois Jurisprudence Rn 351, S. 212 ffm.w.N.; Kayser Melanges Raynaud (1985), 329 (337 ff, 341 t). Weitere Beispiele finden sich bei Favoreu RDP 1986, 395 (414); Robert RDP 1990, 1255 (1275) sowie im Diskussionsbeitrag von Fromont in: Conac / Maus (1990), 134. 228 Zu den Reaktionen der Politik auf die Initiative von 1989 / 90 s. den Überblick von Maus in: Conac / Maus (1990), 91 ff. 229 Zu dieser Grundsatzdiskussion in neuerer Zeit z.B. Luchaire JöR n.F. 38 (1989), 173 (191 ft); temperamentvoll und bewußt zuspitzend zusammengefaßt werden diese Bedenken bei de Lacharriere Pouvoirs Nr. 13, 1980, 141 ff: die jeweilige politische Mehrheit liefere sich einer demokratisch nicht legitimierten "Oligarchie" von Richtern aus, die in Auslegung der wenig präzisen und widersprüchlichen Verfassungstexte ihre
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
rem Zusammenhang in der heftigen politischen Polemik um die AsylrechtsEntscheidung des Conseil constitutionnel vom 13.8.1993 geäußert, die schließlich erstmals zur "Überstimmung" des Conseil constitutionnel durch Verfassungsänderung geführt haf 30 • Zur grundsätzlichen Frage der demokratischen Legitimation verfassungsgerichtlicher Kontrolle über den Gesetzgeber treten in Frankreich zwei weitere Bedenken hinzu: So wird zum einen die geringe Präzision und häufig auch Widersprüchlichkeit der Maßstäbe einer Verfassungskontrolle geltendgemacht, die dem mit ihrer Anwendung betrauten Organ einen erheblichen eigenen Spielraum lassen 231 • Auch erscheint der wohl berechtigte Vorbehalt, daß jedenfalls im Kontext einer so weitreichenden Reform, die dem Conseil constitutionnel die Kontrolle über den gesamten Bestand der französischen Rechtsordnung eröffnen würde, auch das Verfahren der Auswahl der Richter des Conseil constitutionnel strikter - im Sinne der Minimierung politischer Einflüsse - geregelt werden müsse 232 • Zudem wäre auch das Verfahren vor dem Conseil constitutionnel streitig233 und ggf. öffentlich zu gestalten 234 • eigene Politik machen könnten. Prononciert auch Werner Pouvoirs Nr. 67, 1993, 117 ff. Zurückhaltender im Ton, aber ebenfalls eindeutig in der Wertung Chapus DAG I Rn 79, S. 60: " ... si I'institution d'une teile exception serait peut-etre un progn!s de I' 'Etat de droit', elle serait aussi, et surement, une (nouvelle) defaite de la democratie, a laquelle il n'est pas conforme que la volonte de la representation nationale puisse etre censuree par un collt!ge de personnalites depourvues de caractere representatif, - et cela surtout lorsque cette volonte a acquis, au terme du processus legislatif, 'force de loi'." 230 Dazu bereits oben 3. Kap. A. III. I. b); zu den bei dieser Gelegenheit geschehenen verbalen Entgleisungen gegenüber der Institution des CC s. etwa Rousseau RDP 1994, \03 (104 ff).
231 Dazu oben 3. Kap. A. I. 2.; im hiesigen Zusammenhang etwa Chiroux Pouvoirs Nr. 13 (3.A.1991), \09 (117). 232 Zu diesen Vorbehalten z.B. Favoreu RFDC 1990, 581 (602 ff); schon vor der Reformdiskussion de Lacharriere Pouvoirs Nr. 13, 1980, 141; gegen eine Änderung aber z.B. Robert RDP 1987, 1151 (1172 f). 233 Art. 6 EMRK kann auch auf verfassungsgerichtliche Verfahren anwendbar sein, so EGMR 23.6.1993 - Ruiz Mateos c. Espagne, Serie A Nr. 262; deutsche Übersetzung in EuGRZ 1993, 453 und dazu Matscher EuGRZ 1993, 449 ff; in einem Wahlprüfungsverfahren hat der CC seine Geschäftsordnung bereits an Art. 6 EMRK gemessen, einen Verstoß freilich verneint, da dieser keine öffentliche Verhandlung in Wahlprüfungsangelegenheiten verlangt, CC 8.11.1988 No 88-1113 - Assemblee Nationale, 6e circonscription Seine-Saint-Denis, Rec. S. 196 = JORF 1988, 14068; s. auch Genevois AUC 1988,385 (412 ff); Desmoulin RDP 1997, 143 (161 ff). 234 Zu den nur teilweise erfolgreichen Versuchen des CC, in eigener Initiative Ansätze eines streitigen Verfahrens zu entwickeln s. Philip RDP 1987, 191 (195); Favoreu RDP 1989, 399 (424 f). Immerhin werden seit 1983 die Schriftsätze der Beteilig-
B. Prozessuale Durchsetzung
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Mit der gleichen Zielrichtung wird auch die Notwendigkeit einer solchen Kontrolle bezweifelt, da der Fall verfassungswidriger Gesetze die seltene Ausnahme darstelle235 • Allgemein wird zudem - unter Hinweis auf die Beispiele aus Deutschland und Italien - eine Überfordung des Conseil constitutionnel durch eine Vielzahl von Vorlagen beflirchtetm . Diese letzten Gegenargumente widersprechen einander allerdings in der Tendenz: Bilden verfassungsrechtlich zweifelhafte Gesetze die seltene Ausnahme, so ist eine Überforderung unwahrscheinlich. Existieren sie in größerer Zahl, so ist die Reform jedenfalls nicht unnötig217 • Realistisch erscheint wohl am ehesten die Annahme, daß in der ersten Zeit nach Einführung der Reform eine erhebliche Zahl von ernsthaften Rügen gegen bis dahin einer Prüfung nicht ausgesetzte Gesetze - eine Art AltflilIe - zu bewältigen wäre, nach Abschluß dieser Durchforstung ("toilettage"238) der Rechtsordnung aber nur noch eine erträgliche Durchschnittsbelastung entstünde 239 .
(2) In der Rechtslehre werden - unter Verweis auf die Alternativen nach bereits geltendem Recht - vor allem Zweifel an der Notwendigkeit der Reform geltendgemacht: Zum einen wird angenommen, daß die verfassungsrechtlich zweifelhaften Gesetze zahlenmäßig kaum ins Gewicht fielen 240 . Aber auch in diesen Fällen stünde vielfach schon jetzt Abhilfe zur Verfügung: so weist Favoreu 241 darauf hin, daß hinsichlich der Anpassung bestehender Gesetze an neue Erkenntnisse des Conseil constitutionnel zum einen auch der Gesetzgeber gefordert und handlungsflihig sei, zum anderen auch den Fachgerichten dogmatische Instrumente zur Verfligung stünden:
ten zusammen mit der Entscheidung des CC im JO veröffentlicht, was den NachvolIzug der Ausführungen des CC erheblich erleichtert. 235 So etwa Chapus DAG I Rn 79, S. 61: "... comme les dispositions legislatives en vigueur qui seraient contraires a la Constitution ne so nt certainement pas legion, mieux vaut qu'elles subsistentjusqu'a ce que le Parlement en soit saisi et les corrige." 236 Zu diesen Befürchtungen s. die Diskussionsbeiträge von Fromont, Escarras und Roussillon in: Conac / Maus (1990), 72 ff; skeptisch auch De Laubadere / Venezia / Gaudemet Droit administratif Rn 821, S. 530. 237 s. auch Vedel / Luchaire L'exception d'inconstitutionnalite, Le Monde 11.6.1993, S.2. 238 SO Z.B. Favoreu RFDC 1990,581 (599). 239 So auch die Prognose von Badinter JCP 1992 I 3584. 240 Chapus DAG I Rn 79, S. 61. 241 AUC 1992, 11 ff; s. auch schon dens. Melanges Vitu (1989), 169 (194 fi).
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
- Soweit Gesetze aus der Zeit vor 1958 betroffen seien, könnten sie in Anwendung des Lex-posterior-Satzes als durch die Verfassung überholt (caduc 242 ) oder stillschweigend aufgehoben (implicitement abroge) angesehen werden; eine derartige Überprüfung der Fortgeltung des Gesetzes unter der neuen Verfassung, die der Conseil constitutionnel in manchen Entscheidungen bereits unauffiillig vorgenommen hae 43 , läge bereits heute in der Kompetenz der Fachgerichte, eben weil hier kein Urteil über das Verhalten des vorkonstitutionellen Gesetzgebers abgegeben, sondern nur ein intertemporaler Normenkonflikt gelöst werde. In der Rechtsprechung der Fachgerichte hat diese umstrittene Konstruktion bislang allerdings nur begrenzte Zustimmung gefunden. Der Conseil d'Etat scheint diese Möglichkeit zwar nicht auszuschließen, beschränkt sie aber auf die - in Grundrechtsfragen bisher in keinem Fall als erftillt angesehene - Hypothese der offensichtlichen Verfassungswidrigkeit eines vorkonstitutionellen Gesetzes 244 • Die Cour de cassation scheint darüber hinausgehend die Zustän242 Zur caducite Favoreu RFDA 1989, 142 (146 t); ders. AUC 1992, 11 (20 t); umfassend Tremeau AUC 1990, 219 ff; systematisch handelt es sich dabei um die Anwendung des - üblicherweise nur auf Normen gleichen Ranges an gewandten - lex-posterior-Satzes auf das Verhältnis zwischen höherrangigem lex posterior (neue Verfassung) und niederrangigem lex anterior (einfaches, vorkonstitutionelles Gesetz) in einer Art von Erst-Recht-Schluß. 243 So etwa in der Neukaledonien-Entscheidung (s.o. 3. Kap. B. I. 3. mit Fn 125 und 131): der CC hat hier eingangs festgestellt, daß das einfachgesetzliche Notstandsregime aus den Zeiten der 4. Republik nicht durch die Regelung des Belagerungszustands in Art. 36 der Verfassung der 5. Republik ersetzt worden ist: "... si la Constitution, dans son article 36, vise expressement I'etat de siege, elle n'a pas pour autant exclu la possibilite pour le legislateur de prevoir un regime d'Etat d'urgence .... ; ... ainsi, la Constitution du 4 octobre 1958 n'a pas eu pour effot d'abroger la loi du 3 avril 1955 relative a l'Etat d'urgence ... ;" (4. Erwägungsgrund); dazu etwa Luchaire Anm. D. 1985 jp 361 (366 t). 244 So die Einschätzung von Genevois in: Conac I Maus (1990), 97 (99); ders. Jurisprudence Rn 618, S. 394; Luchaire Anm. D. 1985 jp 361 (366 t); s. z.B. CE Sect. 25.7.1980 - Ministre de l'Interieur c. Eglise evangelique baptiste de Colmar, Rec. S. 230 = AJDA 1980, 207 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Galabert: die im ehemaligen Elsaß-Lothringen als "droit local" fortgeltenden vereinsrechtlichen Bestimmungen des BGB werden an der Vereinigungsfreiheit (liberte d'association) gemessen, die verfassungskonforme Interpretation aber der Feststellung der caducite vorgezogen (die Entscheidung folgt damit den Schlußanträgen, die beide Alternativen ausfllhrlich diskutieren); erneut bestätigt durch CE Ass. 22.1.1988 - Assoe. "Les Cigognes", Rec. S. 37 = RFDA 1988, 104 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Stirn S. 95 = AJDA 1988, 163 m.Anm. Azibert / de BoisdefJre S. 137 (151 ft): "... le maintien en vigueur de la legislation locale sur les associations procecte de la volonte du legislateur; ... si, posterieurement a la loi precitee du ler juin, les preambu-
B. Prozessuale Durchsetzung
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digkeit der Fachgerichte zu derartigen Feststellungen bisher grundsätzlich abzulehnen 245 • Auch versagt dieses Hilfsmittel, wenn das vorkonstitutionelle Gesetz in der 5. Republik vom Gesetzgeber z.B. durch Änderung bestätigt und dadurch in seinen Willen aufgenommen worden ise 46 : Mit dieser nachkonstitutionellen Bestätigung ist das Gesetz der Anwendung des Lexposterior-Satzes entzogen, auf dem die Vorstellung der caducite beruht247 • - Sei das zweifelhafte Gesetz unter der V. Republik entstanden, stehe zumindest die Möglichkeit der verfassungskonformen Auslegung zur Verfügung; dieses Instrument steht nicht nur dem Conseil constitutionnel im Rahmen der präventiven Kontrolle, sondern auch den Fachgerichten im Rahmen der Anwendung der Gesetze zur Verfügung 248 • - Der dritte Ausweg besteht darin, die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes durch eine Kontrolle seiner Vertragsmäßigkeit zu ersetzen, da letztere den Fachgerichten offen steht und dies seit 1989 auch vom Conseil
les des constitutions des 27 octobre 1946 et 4 octobre 1958 ont reajJirme les principes Jondamentaux reconnus par les lois de la Republique, au nombre desquels figure la liberte d'association, cette reajJirmation n'a pas eu pour effet d'abroger implicitement les dispositions de ladite loi;" Zu diesen Sachverhalten ausführlich Tremeau AUC 1990, 219 (278 ff). 245 So explizit Cass. crim. 18.11.1985 - Gibourdel, Bull. crim. No 359, S. 918: "... en n'examinant pas d'ojJice si les textes de loi permettant aux agents de I'administration des Impöts d'intervenir sans formalites prealables dans les locaux professionneis d'une personne soumise a la legislation sur les contributions indirectes, n'avaient pas ete implicitement abroges par I'article 66 de la Constitution du 4octobre 1958, les juges du fond n'ont fait que se conformer au principe selon lequel il n'appartient pas aux tribunauxjudiciaires de relever l'inconstitutionnalite des lois quelle que soit la date de leur promulgation." Zur Haltung der ordentlichen Gerichte in dieser Frage s. auch Tremeau AUC 1990, 219 (275); Jeol in: La Cour de cassation et la Constitution (1995), 69 (70 t); s. auch schon die Einschätzung von Druesne RDP 1974, 169 (199 ft). 246 Es handelt sich um eine interessante Parallele zu den Grenzen der Vorlagepflicht nach Art. 100 Abs. I GG, s. auch den anonymen Diskussionsbeitrag in: Conac / Maus (1990),71 f; Tremeau AUC 1990,219 (225 ft). 247 So im Fall der Hausdurchsuchungen (s.o. Fn 227): die Mehrzahl der betroffenen Vorschriften war unter der 5. Republik zumindest geändert und damit in den Willen des nachkonstitutionellen Gesetzgebers aufgenommen worden, so die Feststellung von Genevois Jurisprudence Rn 351, S. 213. 248 Zusammenfassend Jeol in: La Cour de cassation et la Constitution (1995), 69 ff, speziell zur verfassungskonformen Interpretation S. 73 ff; zur Umsetzung von "reserves d'interpretation" des CC im Rahmen der späteren Anwendung des vom CC überprüften Gesetzes durch die Fachgerichte s. zuletzt di Manno RFDC 1996, 560 (567 ft) sowie noch unten 4. Kap. B. 11. 1. c) cc) mit Fn 217.
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
d'Etat grundsätzlich anerkannt wird 249 : Statt der Verfassung und ihrer Präambel wird zum maßgeblichen Bezugspunkt des Grundrechtsschutzes gegen Gesetze damit die EMRK 250 • Auch dieser pragmatische Ersatz ist freilich nicht nur dogmatisch fragwürdig, da er den Grundrechtsschutz durch die Verfassung hintanund damit die Rolle des Conseil constitutionnel infrage stellt: Hinzu kommt, daß dieser Ausweg in der Praxis von den Fachgerichten häufig nicht wahrgenommen wird251 •
cc) Konturen der Reform 252 Das schließlich im Frühjahr 1990 vorgelegte Projekt eines verfassungsändemden Gesetzes 253 sowie eines Loi organique mit den Ausfilhrungsbestimmungen 254 berücksichtigte die Gegenargumente weitestgehend, soweit dies durch technische Vorkehrungen und ohne grundsätzliche Aufgabe des Vorhabens möglich schien: - Die möglichen Rügen wurden auf die Verletzung der "droits fondamentaux reconnus cl toute personne par la Constitution" beschränkt; damit war jeden-
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Dazu ausftihrlich unten 4. Kap. B. 11., insbes. zum CE 4. Kap. B. 11. 3. d).
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Dazu noch unten 4. Kap. und 6. Kap. A.
s. etwa Cass. crim. 24.7.1985 - Baptiste et autre c. X, D. 1986 jp. 220 m.Anm. Marchi = Gaz. Pal. 1986, 1,47 (oben Fn 225 f): eine Prüfung des vom CC als verfassungswidrig verworfenen Straftatbestands der Malversation an der EMRK ist hier unterblieben. 252 Dazu Favoreu RFDC 1990,581 ff, 610 ff; Luchaire RDP 1990, 1625 ff; RestierMelleray RDP 1991, 1039 ff; Chapus DAG I Rn 79, S. 59 ff; Turpin Contentieux constitutionnel Rn 215, S. 331 ff; Rousseau Contentieux constitutionnel S. 67 ff. 251
253 Projet de Loi Constitutionnelle portant revision des articIes 61, 62 et 63 de la Constitution et instituant un contröle de constitutionnalite des lois par voie d'exception, Doc. AN No 1203, JOAN 2.4.1990; wiedergegeben auch bei Delperee (Hrsg.) Recours des particuliers (1991), 123 ff. Art. 1er: II est ajoute, a l'articIe 61 de la Constitution , I'alinea ci-apres: "Les dispositions de loi qui concernent les droits fondamentaux reconnus a toute personne par la Constitution peuvent etre soumises au Conseil constitutionnel par voie d'exception a I'occasion d'une instance en cours devant une juridiction." 254 Projet de loi organique modifiant I'ordonnance No 58-1067 du 7 novembre 1958 portant loi organique sur le Conseil constitutionnel, Doc. AN No 1204, JOAN 2.4.1990, wiedergegeben auch bei Delperee (Hrsg.) Recours des particuliers (1991), 129 ff.
B. Prozessuale Durchsetzung
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falls die Rüge von Fehlern im Gesetzgebungsverfahren grundsätzlich 255 ausgeschlossen256 • Ob die Bezugnahme auf die "grundlegenden" Rechtem alle Gewährleistungen von Verfassungsrang (also die Gewährleistungen des bloc de constitutionnalite im oben definierten, materiellrechtlichen Sinne) umfassen 258 , oder aber nur einzelne, nicht nur von der Verfassung garantierte, sondern außerdem noch vom Conseil constitutionnel als grundlegend bezeichnete Gewährleistungen 259 TÜgefähig machen würde, blieb umstritten und hängt von der 255 Einschränkend unter Bezug auf Art. 6 Satz 2 DDH Luehaire RDP 1990, 1625 (1628). 256 An eine Nachahmung der "Elfes-Rechtsprechung" des BVerfG (BVerfG 16.1.1957, BVerfGE 6, 32), also die Zulassung inzidenter Rügen gegen die kompetenzund verfahrensrechtlich korrekte Entstehung von Gesetzen war also nicht gedacht, vielmehr wird der Anschluß an die Neukaledonien-Rechtsprechung des CC hergestellt, die ja ebenfalls die formelle Verfassungsmäßigkeit des verkündeten Gesetzes nicht überprüft; dazu Bon in: Delperee (Hrsg.) Recours des particuliers (1991), 10 I (111 ff); Genevois in: Conac / Maus (1990),97 (103); s. schon ders. Jurisprudence Rn 618, S. 395; kritisch zu dieser Einschränkung Grewe in: La Revision (1993), 237 (240); zweifelnd auch Rousseau Contentieux constitutionnel S. 67; Favoreu RFDC 1990, 581 (589). 257 Der in Frankreich als Neologismus angesehene und anscheinend - so jedenfalls Favoreu RFDC 1990, 581 (588), Christian Philip AFDI 1975,383 (384) - vom deutschen Verfassungsrecht inspirierte Begriff der "droits fondamentaux" wird zunehmend statt der bekannten, aber gegenständlich beschränkteren "Droits de I'homme" oder "libertes publiques" als Sammelbegriff verwendet, s. etwa den Titel des Beitrags von Loi'e Philip JöR n.F. 38 (1989), 119 ff: "La proteetion des droits fondamentaux en France", und zum Begriff dort S. 122 f; er scheint über die Grundrechtsdiskussion im Gemeinschaftsrecht in die französische Rechtssprache eingedrungen zu sein (s. nur Christian Philip AFDI 1975, 383 [384]); unzutreffend meint dagegen Schielte Kontrolle S. 102 mit Fn 46 noch im Jahr 1991 unter Berufung auf die seinerzeit durchaus richtigen Bemerkungen von Stahl Grundfreiheiten (1970 !), 4 f, daß der Begriff der droits fondamentaux auch heute nicht geläufig sei. Mit dem Erfolg des Projet de loi constitutionnelle wäre diese von ihm aufgenommene Terminologie erstmals Teil des (geschriebenen) positiven Rechts geworden, s. dazu Vedel Pouvoirs Nr. 67, 1993, 79 (85). 258 So der Definitionsvorschlag bei Badinter / Genevois RUDH 1990, 258: "Par droits fondamentaux, il convient d'entendre un ensemble de droits et de garanties que l'ordre constitutionnel reconnait aux particuliers dans leurs rapports avec les autorites etatiques." (Die Definition erfolgt ausdrücklich im Anlehnung an Auer Pouvoirs Nr. 43, 1987,87 ff, einer Darstellung zum Grundrechtsschutz in der Schweiz); ebenso Robert RDP 1990, 1255 (1272); ähnlich auch Philip JöR n.F. 38 (1989), 119 (129). 259 Der CC hat erstmals in der I. Nationalisierungsentscheidung die besondere Bedeutung der Eigentumsgewährleistung durch die Wendung "caractere fondamental du droit de propriete" hervorgehoben, so der 16. Erwägungsgrund von CC 16.1.1981 No 81-132 DC, Rec. S. 18 = GDCC Nr. 31, S. 444; später hat der CC eine solche Ein-
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
zugrundegelegten Definition ab 260 • Schlüssig erscheint in diesem, den Zugang zum Conseil constitutionnel betreffenden Zusammenhang freilich nur die Begriffsdefinition, die die Einhaltung aller Gewährleistungen von Verfassungsrang der nachträglichen Kontrolle zugänglich macht2 61 • Die Bezeichnung einzelner Gewährleistungen als "grundlegend" in der bisherigen Rechtsprechung der Conseil constitutionnel dient ersichtlich anderen Zwecken 262 und begründet keine hierarchische Abstufung des Geltungsanspruchs der jeweiligen Gewährleistung, die mit der Beschränkung der "exception" auf bestimmte Garantien unweigerlich geschaffen würde. - Um eine quantitative Überforderung des Conseil constitutionnel zu vermeiden, sah das 1990 zugleich mit dem verfassungsändernden Gesetz als Entwurf vorbereitete Loi organique einen doppelten Filter der Vorlagen vor 63 : Schien den Instanzgerichten das Vorbringen einer Prozeßpartei gegen die Verfassungsmäßigkeit von - rur den Ausgang des Verfahrens maßgeblichen - gesetzlichen Vorschriften hinreichend gewichtig, so hatte eine Vorlage an die jewei-
ordnung auch hinsichtlich der Pressefreiheit ("liberte fondamentale") vorgenommen, s. den 37. Erwägungsgrund von CC 10.-11.10.1984 No 84-181 DC - Entreprises de presse, Rec. S. 73 = GDCC Nr. 36, S. 574 ff; der Begriff "droit fondamental" erscheint erstmals 1990 im 33. Erwägungsgrund von CC 22.1.1990 No 89-269 DC - Loi portant diverses dispositions relatives a la securite sociale et a la sante, Rec. S. 33: " ... les Iibertes et droits fondamentaux reconnus a tous ceux qui resident sur le territoire de la Republique" (zu dieser Entscheidung s. schon oben 3. Kap. B. I. 2. d) bb) und unten 4. Kap. B. II. I. b) aa); zu dieser terminologischen Entwicklung Favoreu RFDC 1990, 581 (588); Rousseau RDP 1992,37 (42 mit Fn 14); Champeil-Desplats D. 1995 chr. 323 ff. 260 Zuletzt hat Champeil-Desplats D. 1995 chr. 323 (324 ff) insgesamt vier Varianten des Begriffs ausgemacht; wirklich bedeutsam scheinen aber nur die hierarchische Definition einerseits, die alle Gewährleistungen im Verfassungsrang einschließt, sowie andererseits die Gewichtung einzelner dieser Gewährleistungen durch den Ce. 261 Der terminologische Einwand von Champeil-Desplats D. 1995 chr. 323 (325), wonach die vom CC und dem Entwurf verwandte Kombination "droit fondamental a valeur constitutionnelle" bzw "droits fondamentaux reconnus par la Constitution" dann tautologischen Charakter habe (denn die droits fondamentaux haben danach ja per definitionem Verfassungsrang), ist zwar richtig, betrifft letztlich aber nur eine Stilfrage; s. auch schon Luchaire RDP 1990, 1625 (1629); Viguier RDP 1994, 969 (981 f).
262 Sie hat ersichtlich die Funktion, besonders strikte Anforderungen an die Rechtfertigung gesetzlicher Eingriffe in die betroffenen Rechte zu legitimieren, so die Analyse von Champeil-Desplats D. 1995 chr. 323 (327 ff), dem deutschen Verfassungsrecht ist dieses Vorgehen nicht unbekannt, s. die Formel des BVerfG vom "schlechthin konstitutierenden" Charakter der Meinungsfreiheit (BVerfG 15.1.1958 - Lüth, BVerfGE 7, 198 [208] ). 263
Dazu etwa Viguier RDP 1994, 969 (982 ff, 985 ff).
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lige höchste Instanz, also Cour de cassation oder Conseil d'Etat, zu erfolgen. Nur wenn die jeweilige Spitze des Instanzenzuges die Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit teilte, konnte sie durch eine weitere Vorlage den Conseil constitutionnel befassen 264 • - Die Rechtssicherheit sollte durch den grundsätzlichen Ausschluß der Rückwirkung von in diesem Verfahren ergehenden Entscheidungen des Conseil constitutionnel auf zum Zeitpunkt der Entscheidung noch nicht rechtshängig gemachte Fälle oder bereits rechtskräftig abgeschlossene Verfahren gesichert werden 265 ; in dem der Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit zugrundeliegenden Ausgangsverfahren sowie allen bereits laufenden Parallelverfahren sollte die Anwendung des als verfassungswidrig erkannten Gesetzes dagegen auch rückwirkend ausgeschlossen werden 266 • - Verzögerungen der zugrunde liegenden Gerichtsverfahren insbesondere durch den vorgesehenen "doppelten Filter" sollten durch die im Entwurf des Loi organique vorgesehenen strikten Fristen so weit wie möglich beschränkt werden: sowohl die Entscheidung der obersten Fachgerichte über die Weitergabe der von den Instanzgerichten an sie gerichteten Vorlagen als auch die Sachentscheidung des Conseil constitutionnel selbst sollten binnen einer Frist von jeweils drei Monaten ergehen 267 •
264 Gerade diese Betonung der Funktion der Fachgerichte bei der Prüfung der Erfolgsaussichten einer Rüge ist aber bei den parlamentarischen Beratungen auf Ablehnung gestoßen, in deren Verlauf das Verfahren des doppelten Filters sowohl 1990 als auch 1993 aus dem Entwurf gestrichen wurde: hier erschien eine sofortige Unterwerfung des Gesetzes unter die Kontrolle des CC erträglicher als seine auch nur vorläufige Infragestellung durch die obersten Fachgerichte; s. F avoreu RFDC 1990, 581 (601 f); Viguier RDP 1994, 969 (987 f). 265 s. Viguier RDP 1994,969 (994); zustimmend Genevois Journees Soc. Leg. comp. 1990, 75 (87); kritisch insoweit hinsichtlich rechtskräftiger strafgerichtlicher Verurteilungen Luchaire RDP 1990, 1625 (1643 f). 266 Die Lösung erinnert insoweit an die Rechtsprechung des EuGH, die von einer im Verfahren der Gültigkeitsvorlage ausgesprochenen Beschränkung der Ungültigkeit von Sekundärrecht auf die Zukunft ebenfalls das Ausgangsverfahren vor dem nationalen Gericht sowie alle bereits eingeleiteten Parallelverfahren ausnimmt, so auch Genevois in: Conac / Maus (1990), 97 (100 f); zur Akzeptanz dieser EuGH-Rechtsprechung vor französischen Gerichten s. auch noch unten 3. Kap. B. H. 4. b). 267 Dazu Viguier RDP 1994, 969 (985 f).
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- Zudem sollten diejenigen gesetzlichen Bestimmungen einer nachträglichen Kontrolle nicht zugänglich sein, die der Conseil constitutionnel im Rahmen der präventiven Kontrolle ausdrilcklich 26K unbeanstandet gelassen hatte 269 •
dd) Schicksal der Initiativen Trotz all dieser Rilcksichtnahmen ist die von der Regierung ernsthaft betriebene Reform im ersten Anlauf vor allem an den Begehrlichkeiten des Senats gescheitert, der diese Gelegenheit zu zahlreichen weiteren, seine eigene Stellung im Verfassungsgefilge stärkenden (und damit filr die anderen Beteiligten unannehmbaren) Verfassungsänderungen nutzen wollte 270 • Tatsächlich hat anders als im Verfahren der einfachen Gesetzgebung - die Regierung im Verfahren gemäß Art. 89 der Verfassung keine Möglichkeit, eine Verfassungsänderung gegen den Widerstand des Senats durchzusetzen 271 • Den alternativen Weg einer Verfassungsänderung durch Volksgesetzgebung im nach wie vor umstrittenen Verfahren nach Art. 11 der Verfassung - das eine Zustimmung des Senats erübrigt hätte 212 - hatte die Regierung selbst bereits frühzeitig ausgeschlossen. Letztlich ist die Reform aber wohl auch an den unausgesprochenen Vorbehalten der Nationalversammlung gescheitert273 : Insofern scheint sich die begrenzte Ausweitung des Zugangs zum Conseil constitutionnel im Jahr 1974 nun als Hemmschuh filr eine weitere Ausweitung zu erweisen; denn mit der Einführung der "exception d'inconstitutionnalite" ginge auch die Sonderstellung verloren, die auch die Minderheit in Nationalversammlung und Senat
268 Rügefahig blieben also Vorschriften, die der ee im Rahmen der Kontrolle des betr. Gesetzes nicht eigens geprüft hat; ebenso bereits der Stand der Literatur zur Reichweite der Neukaledonien-Rechtsprechung des ee, s.o. 3. Kap. B. I. 3. bei Fn 126. 269 Viguier RDP 1994,969 (984); kritisch Luchaire RDP 1990, 1625 (1633), der eine Versteinerung der Rechtsprechung des ee befürchtet. 270 Zu den Einzelheiten Luchaire RDP 1990, 1625 (1647 ff); Robert RDP 1990, 1255 (1281 ff). 271 s. bereits oben 3. Kap. A. III. 1. b) sowie Roy RDP 1980,687 (711 f); Lascombe RRJ 1991,653 (669 ff). 212 Die Ausschaltung dieses Vetorechts des Senats ist der zentrale Hintergrund für den Versuch, statt des Verfahrens gern. Art. 89 den Weg der Volksabstimmung gern. Art. 11 zu wählen. 273 So auch F avoreu RFDe 1990, 581 (611 f).
B. Prozessuale Durchsetzung
245
durch das ihr seit 1974 eingeräumte Recht zur Beanstandung verabschiedeter Gesetze einnimmt274 • Ein zweiter Anlauf erfolgte im Jahr 1993 im Rahmen der geplanten umfassenden Reform der Institutionen der 5. Republik: Das Vorhaben von 1990 wurde fast unverändert in die Reformvorschläge integriert, die das von Präsident Mitterrand eingesetzte "Comit6 consultatif pour la revision de la Constitution" unter dem Vorsitz von Georges VedeF 75 unterbreitet hatte 276 • Auch in das in der Folge vorbereitete Projekt eines verfassungsändemden Gesetzes fanden die Vorschläge damit Aufnahme; sie wurden aber im weiteren Verlauf angesichts des beharrlichen Widerstands des Senats fallengelassen und waren daher in der schließlich verabschiedeten Verfassungsänderung vom 27.7.1993 277 nicht mehr enthalten 27K • Zuletzt war ihre Verwirklichung im Wahlprogramm 279 des Premierministers und seinerzeit aussichtsreichsten Präsidentschaftskandidaten Balladur vorgesehen.
274 So die Andeutungen in der Ansprache von Präsident Mitterrand vor dem Conseil constitutionnel aus Anlaß des 20. Jahrestages der Verfassungsänderung von 1974 am 3.11.1994, wiedergegeben in RFDC 1994, 876 f; s. auch La Vie judiciaire 1994 No 2534, S. 1; ebenso im Anschluß daran auch Troper La Vie judiciaire 1994 No 2534, S. I f sowie zuvor bereits Lascombe RRJ 1991, 653 (671 f); in dieselbe Richtung deutet die anläßlich der ersten Initiative zur Einflihrung der exception 1990 im Senat beschlossene Abänderung, nach der nur Gesetze aus der Zeit vor 1974 der nachträglichen Kontrolle ausgesetzt werden sollten, s. dazu Favoreu RFDC 1990, 581 (586 f); Robert RDP 1990,1255 (1281 f); Viguier RDP 1994,969 (980). m Zu diesem Komitee und seinen Vorschlägen, die hier nicht weiter verfolgt werden können, s. das diesem Thema gewidmete Heft 14 der RFDC mit Beiträgen von Passelecq RFDC 1993,227 ff; Massot RFDC 1993,249 ff; Ameller RFDC 1993,259 ff; Renoux RFDC 1993,271 ff sowie im Rückblick Vandendriessche RDP 1996,637 (647 ff). 276 Der Abschlußbericht dieses Vedel-Komitees (Rapport remis au President de la Republique le 15 fevrier 1993 par le Comite consultatif pour la revision de la Constitution) ist veröffentlicht in JORF 16.2.1993, S. 2537 ff; in diesem Zusammenhang s. insbes. die Vorschläge flir einen neuen Art. 61-1 und die Änderung von Art. 62 der Verfassung, S. 2549; dazu Renoux RFDC 1993,271 (284 ff); scharfe Kritik an dieser Wiederaufnahme des Projekts übt aus der Sicht der Nationalversammlung Ameller RFDC 1993,258 (262 ff). 277 Loi constitutionnelle No 93-952 du 27.7.1992 portant revision de la Constitution du 4 octobre 1958 et modifiant ses titres VIII, IX, X et XVI, JORF 28.7.1993, S. 10600. 278 Zu den Einzelheiten s. etwa Viguier RDP 1994,969 (974 f). 279 s. le Monde 14.2.1995, S. 8.
246
3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
Trotz dieser mehrfach vergeblichen Anläufe scheint weiter der Eindruck zu bestehen, daß die Reform vielleicht nicht höchste Priorität hat, aber doch auf längere Sicht unvermeidlich istlHo • Das gilt um so mehr, als der Vorrang der Verträge vor den Gesetzen zwischenzeitlich vor den Fachgerichten effektiv durchgesetzt wird 2H1 - es erscheint danach schwer vorstellbar, daß die Durchsetzung der Verfassung gegenüber dem Gesetz im Vergleich dazu auf Dauer wesentlich 282 zurUckbleibt283 • b) Auswirkungen auf den Status des Gemeinschaftsrechts in der französischen Rechtsordnung
aa) Das Problem: Die Konfrontation zwischen Verfassung und Vertrag wird aktuell Schnell war bemerkt worden 28\ daß diese - an sich rein nationale - Reformdebatte auch erhebliche Auswirkungen auf den Status des geltenden Gemeinschaftsrechts mit sich bringen konnte: Soll den Rechtsunterworfenen die Rüge der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes eröffnet werden, um materielles Recht und prozessualen Rechtsschutz in Einklang zu bringen, so kann die Rüge der Verfassungswidrigkeit eines Vertrages von dieser Entwicklung jedenfalls nicht ohne nähere Be280 So etwa Luchaire in: Conac / Maus (1990),83 (89); ders. RDP 1990, 1625 ff: "une refonne constitutionnelle differee", insbes. S. 1649; ähnlich auch Genevois Journees Soc. Leg. comp. 1990, 75 (91); Laseambe RRJ 1991, 653 (668 i); Vedell Luchaire L'exception d'inconstitutionnalite, Le Monde 11.6.1993, S. 2; zuletzt Vandendriessche RDP 1996, 637 (700): "une refonne capitale et indispensable"; s. auch noch die Ansprache des (damaligen) Präsidenten des CC Badinter aus Anlaß des 20. Jahrestages der Verfassungsänderung von 1974 am 3.11.1994, wiedergegeben in RFDC 1994, 873 ff; skeptischer allerdings Viguier RDP 1994, 969 (970 fi). 281 Dazu ausführlich unten 4. Kap. B. 282 Eine vollständige Parallelisierung wird allerdings nicht möglich sein, da die Einbeziehung der Frage der Vertragsverletzung in ein System der Richtervorlage an den Conseil constitutionnel selbst eine Verletzung des Gemeinschaftsrechts darstellen würde, s. dazu unten 6. Kap. A. 283 Zu diesem Argument s. etwa Luchaire in: Conac / Maus (1990), 83 oder die Ansprache von Badinter vom 3.11.1994, RFDC 1994,873 (874 i). 284 s. vor allem Chevallier D. 1989 ehr. 255 ff; Genevois in: Conac / Maus (1990), 97 (100); zurückblickend Flauss J.-CI. administratif Stichwort "autorite du droit international" Rn 47; Favoreu RGDIP 1993,39 (64); nur ein kurzer Hinweis auf die Bedeutung des Problems findet sich bei Gai'a Insertion S. 98.
B. Prozessuale Durchsetzung
247
gründung ausgenommen bleiben. Dies gilt um so mehr, als der Conseil constitutionnel ja die präventive Kontrolle des Vertrages auch über den Weg der Kontrolle des Ratifikationsgesetzes eröffnet hat, die verfassungsprozessuale Unterscheidung zwischen Gesetz und Vertrag also verschwimmt. Dies würde aber bedeuten, daß die so elegant erscheinende Lösung des Rangkonflikts zwischen Verfassung und Vertrag durch die Beschränkung auf eine rein präventive Kontrolle des noch nicht verbindlichen Vertrages überholt wäre: Das bestehende Gemeinschaftsrecht müßte sich vielmehr einer nachträglichen Überprüfung am Maßstab der Verfassung stellen. Auf der Basis des Jahres 1989, in dem die Reformdebatte ihren Ausgang nahm, wäre dabei ein negativer Ausgang fur das Gemeinschaftsrecht klar absehbar gewesen: Bereits die Römischen Verträge beinhalten unbestreitbar eine Übertragung von Hoheitsrechten in nicht unerheblichem Umfang, die nach der damals maßgeblichen, der Direktwahl-Entscheidung von 1976 zugrundeliegenden Unterscheidung zwischen verbotenem transfert einerseits und erlaubter limitation de souverainete andererseits verfassungswidrig zu sein schien. Im System der rein präventiven Kontrolle konnten aus dieser Vermutung weitere Konsequenzen für das bereits geltende Gemeinschaftsrecht allerdings nicht gezogen werden. Unter Geltung des neuen, in der ersten Maastricht-Entscheidung entwickelten "Wesentlichkeits"-Kriteriums ist ein so eindeutig negatives Ergebnis zwar vermeidbar; Rechtssicherheit ist mit dieser stark wertungsabhängigen Formulierung allerdings auch kaum zu erzielen - nicht umsonst wurde bei dieser Entscheidung eine nähere Begründung vermißt, wieso die Beeinträchtigung der Ausübung der nationalen Souveränität gerade und allein in den drei schließlich vom Conseil constitutionnel sanktionierten Bereichen "wesentlich" sein sollte. So kann man sich Z.B. fragen, wieso das vom Conseil constitutionnel in der Schengen-Entscheidung vom 25.7.1991 285 unter Souveränitäts-Gesichtspunkten nicht beanstandete faktische Ende nationaler Ausländerpolitik durch die Einstellung der Kontrolle der Binnengrenzen geringer wiegt als die in der Maastricht-I-Entscheidung beanstandete offizielle Koordinierung der Visapolitiken auf Mehrheitsbasis durch Art. 100 C EGV 2K6 •
285 CC 25.7.1991 No 91-294 OC - Accord de Schengen, Rec. S. 91 = RFOC 1991, 703 m.Anm. Gaia = RFOA 1992, 180 m.Anm. Vedel S. 173 = RTOE 1992, 187 m.Anm. Pretot; deutsche Übersetzung in EuGRZ 1993, 187. 286 s. etwa Rideau in: Mascletl Maus (1993), 67 (102 t); de Berranger Constitutions nationales S. 267.
248
3. Kapitel: Verfassungsrechtl iche Grenzen der Integration
bb) Mögliche (gemeinschaftsrechtskonforme) Lösungen a) Aufprozessualer Ebene
Vorstellbar ist in dieser Situation eine prozessuale Lösung in Anlehnung an die Neukaledonien-Rechtsprechung des Conseil constitutionnel: Die nach der Mehrzahl der Interpreten in der Maastricht-I-Entscheidung und der dortigen Bezugnahme auf die Regel "pacta sunt servanda" liegende Selbstbeschränkung, die eine nachträgliche Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit völkerrechtlicher Verträge in Situationen ausschließt, in denen entsprechende Gesetze nach der Entwicklung der Rechtsprechung einer solchen Kontrolle ausgesetzt werden, wäre danach in die neue Vorlageregelung zu übernehmen 287 • Völkerrechtliche Verträge sowie die ihren Abschluß gestattenden Gesetze 288 wären damit von der nachträglichen Kontrolle ausgenommen; das gleiche gälte - wie schon bisher in der Rechtsprechung des Conseil constitutionneF89 für das Sekundärreche90 sowie für nationale Gesetze, die zur Umsetzung des Sekundärrechts bzw. generell zur Anpassung der nationalen Rechtslage an die Vorgaben der Verträge ergehen. Eine solche Bereichsausnahme vom ansonsten dann bestehenden Rechtsschutz gegen Gesetze ließe sich durch die Besonderheiten der Lage, insbesondere die bereits eingetretene vertragliche Bindung zwar durchaus rechtfertigen 29 \. Auch ist in anderen Fragen - etwa hinsichtlich der Beschränkung der Prüfung auf inhaltliche Verfassungsverstöße unter Ausschluß von Fehlern im Gesetzgebungsverfahren - ja erkennbar, daß die Reformprojekte sich an den in der Neukaledonien-Rechtsprechung des Conseil constitutionnel entwickelten Grenzen einer nachträglichen Verfassungskontrolle orientieren.
287 So wohl Grewe in: La Revision (1993), 237 (239); Roher! RDP 1990, 1255 (1271); Luchaire RDP 1990, 1625 (1631 f). 288 Auch insoweit gilt, daß es sich zwar formal um Gesetze (z.B. im Sinne von Art. 61 der Verfassung) handelt, materiell aber die Zustimmung zu einem Rechtsakt vorliegt, der nach seinem Inkrafttreten gern Art. 55 der Verfassung Ober den Gesetzen steht (s. schon oben zum Verhältnis zwischen Vertrag und Loi organique 3. Kap. A. I. 2. c) aal; so im hiesigen Zusammenhang Luchaire RDP 1990, 1625 (1632). 289 s.o. 3. Kap. B. I. 2. 290 So Rober! RDP 1990, 1255 (1271), der davon freilich nationale Gesetze zur Umsetzung von Richtlinien ausnimmt, ohne allerdings die Reichweite der Kontrolle des ce Ober solche Gesetze zu präzisieren; Luchaire RDP 1990, 1625 (1632: ein sinnentstellender Druckfehler macht an dieser Stelle aus "droit derive" "droit prive"). 29\ s. nur Luchaire RDP 1990, 1625 (1632).
B. Prozessuale Durchsetzung
249
Dennoch bliebe ein die Legitimität der Gemeinschaft in Frage stellender Schönheitsfehler zurück, wenn allein noch in diesem Bereich materielles Recht und prozessuale (Klärungs-) Möglichkeiten weiter auseinanderfielen 292 • Selbst für die Durchsetzung des in dieser Weise vor verfassungsrechtlicher Kontrolle geschützten Gemeinschaftsrechts wäre die Lösung - im dann neuen Umfeld - letztlich nicht ideal: Ist eine Überprüfung des Vertrages vor Inkrafttreten - wie etwa im Falle der Einheitlichen Europäischen Akte, aber auch schon der Gründungsverträgen selbst - unterblieben, so können bestehende Zweifel an seiner Verfassungsmäßigkeit zwar nicht mehr gerichtlich geltendgemacht, aber eben auch nicht auf diesem Wege endgültig ausgeräumt werden. Zumindest in der politischen Diskussion werden diese Zweifel dann immer wieder von neuem aufgeworfen und instrumentalisiert werden. Die Gewährung einer auf die Verträge beschränkten verfassungsprozessualen "Immunität" wäre unter dem Gesichtspunkt der Legitimation also nur die zweitbeste Lösung.
ß) Aufmateriellrechtlicher Ebene: Das Potential des neuen Art. 88-1 der Verfassung Die Verfassungsänderungen im Gefolge der ersten Maastricht-Entscheidung des Conseil constitutionnel haben eine andere Perspektive eröffnet, die eine "Versöhnung" der konkurrierenden Geltungsansprüche von Vertrag und Verfassung auf materiellrechtlicher Ebene ermöglichen könnte. Das grundsätzliche Bekenntnis zur Teilnahme an der europäischen Integration im neu hinzugefügten Art. 88-1 der Verfassung kann als generalklauselartige Feststellung verstanden werden, wonach die Gemeinschaftsverträge und die in ihrer Ausführung (primärrechtskonform) ergehenden Sekundärrechtsakte zwar nicht selbst Verfassungsrang erhalten293 , aber grundsätzlich mit der Verfassung vereinbar sind. Der Vorrang-Anspruch der Verfassung bliebe damit formal gewahrt, zugleich aber ist durch Art. 88-1 der Verfassung in dieser Interpretation klargestellt, daß dieser Vorrang nicht mit Aussicht auf Erfolg geltendgemacht werden kann, um unter Berufung auf andere Bestimmungen der Verfassung geltendes Gemeinschaftsrecht in Frage zu stellen: 292 Turpin Contentieux constitutionnel Rn 215, S. 331: " ... on peut aussi considerer ... que I'adoption d'un contröle de constitutionnalite aposteriori par le CC a I'encontre des seules lois mais non des engagements internationaux ou du droit communautaire derive confere aces derniers une 'immunite' relative constituant un 'obstacle au developpement de l'Etat de droit'. tt s. weiter Mathieu LPA 1992 Nr. 54,4.5.1992, S. 50 ff; Goguel Etendre 1a revision aux actes communautaires, Le Figaro 25.4.1990.
293
Dazu bereits oben 3. Kap. A. I. 2. c) dd).
250
3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
Das Gemeinschaftsrecht wäre danach generell als verfassungskonform anzusehen, selbst wenn es im Einzelfall so scheint, als bestünde ein Widerspruch zur jeweils betroffenen speziellen Bestimmung der Verfassung; diese ist nämlich wiederum im systematischen Zusammenhang des Art. 88-1 der Verfassung auszulegen, der auf diesem Wege gegenüber der in der Sache betroffenen Verfassungsnorm die lex specialis für Fragen der europäischen Integration darstellen würde 294 • Wie dieses System funktionieren könnte, hat der Conseil constitutionnel bereits in seiner Entscheidung zum Status der Banque de France 295 vorgezeichnet: Der Conseil constitutionnel hatte in dieser Entscheidung festgestellt, daß die mit der Unabhängigkeit der Banque de France verbundene Abweichung von Art. 20 und 21 der Verfassung durch den Unionsvertrag in Verbindung mit dem neuen Art. 88-2 der Verfassung nicht legitimiert werden konnte, weil der Unionsvertrag selbst noch nicht in Kraft getreten war. Im Gegenschluß läßt sich daraus folgern, daß nach Inkrafttreten des Unionsvertrages das nationale Anpassungsgesetz nicht zwar wegen Verstoßes gegen Art. 20 und 21 der Verfassung verfassungswidrig, aber prozessual unüberprüfbar ist, da es die Vorgaben eines bereits verbindlichen Vertrages umsetzt: Dies entspräche der bekannten und bisher üblichen prozessualen "Abschirmung" des nationalen Ausführungsrechts gegenüber der Verfassung. Das Gesetz ist vielmehr darüber hinaus trotz der Abweichung von Art. 20 und 21 der Verfassung materiell verfassungsmäßig, da diese Abweichung durch Art. 88-2 der Verfassung gerechtfertigt wird296 •
294 Dies dürfte z.B. im Verhältnis zwischen Art. 88-1 und der gleichzeitig erfolgten Ergänzung von Art. 2 der Verfassung zum Schutz der französischen Sprache (s. bereits oben 3. Kap. A. III. I. b) mit Fn 456) gelten: das gemeinschaftsrechtlich umstrittene "Loi Toubon" (Loi No 94-665 du 4.8.1994 relative a I'emploi de la langue fran~aise, JORF 5.8.1994, S. 11392) könnte sich gegenüber dem Vorwurf des Verstoßes gegen den Vertrag also auch dann - in der Sache - nicht auf die Legitimation aus Art. 2 der Verfassung stützen, wenn in Zukunft eine prozessuale Möglichkeit zur Klärung solcher Kollisionen eröffnet würde. Zu den gemeinschaftsrechtlichen Einwänden gegen das Gesetz s. etwa Albers / Swaak 21 ELRev (1996),71 ff; Endrös RIW 1995, 17 ff; Bigot Gaz. Pa!. 1995, 1, doctr. 262 (264). 295 CC 3.8.1993 No 93-324 DC, Rec. S. 208 = RFDC 1993, 843 m.Anm. Gai'a = JCP 1993 II 22193 m. Anm. Nguyen Van Tuong; s. zu dieser Entscheidung bereits 0.3. Kap. A. 11. 2. b) m.w.N. 296 s. auch Rousseau RDP 1994, 103 (118): "Sur le plan formel, la 'confrontation' ... se fait toujours entre la loi et les seules exigen ces de caractere constitutionnel; mais sur le plan materiel, le contenu de ces exigen ces constitutionnelles, c'est le Traite sur I'Union europeenne qui devient ainsi un texte de reference applicable au contröle de constitutionnalite des lois".
B. Prozessuale Durchsetzung
251
Die Übertragung dieser für den spezielleren Fall des Art. 88-2 bereits als gesichert erscheinenden Lösung auf die generelle Aussage des Art. 88-1 der Verfassung liegt danach nahe. Die Vorschrift würde damit die Funktion erfüllen, die in der deutschen Rechtsordnung dem längst wieder vergessenen Art. 142 a GG 297 für die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Gründung der Europäischen Verteidigungs gemeinschaft zugedacht war: Ohne daß jede einzelne auch nur möglicherweise berührte Verfassungsbestimmung gesondert geändert werden müßte und die Verfassung auf diese Weise zum "Flickenteppich" würde, ist mit einer solchen "summarischen Unbedenklichkeitsbescheinigung"298 gesichert, daß ein Verfassungskonflikt in allen Fällen durch systematische Interpretation der Verfassung zugunsten des Vertrages gelöst werden kann 299 . Auch das Sekundärrecht wäre mit dieser materiellrechtlichen Argumentation gegen eine - mit der Kontrolle am Maßstab des Primärrechts durch den EuGH - konkurrierende nationale Kontrolle am Maßstab der Verfassung abgesichert: Zu den Grundsätzen der national durch Art. 88-1 der Verfassung legitimierten Gemeinschaft gehört auch, daß das Sekundärrecht allein am Maßstab der Verträge zu messen ist. Der Vertrag schinnt also in gewisser Weise weiterhin das Sekundärrecht gegen eine Kontrolle am Maßstab der Verfassung ab ("traiteecran"); doch erfolgt diese Absicherung nicht mehr auf prozessualem Wege über die Unangreifbarkeit des ratifizierten Vertrages, sondern auf materiellrechtlicher Ebene aufgrund der durch Art. 88-1 der Verfassung gesicherten Rousseau zieht die Entscheidung allerdings primär dazu heran, das Gemeinschaftsrecht zum Prüfungsmaßstab fllr den ce zu erheben (s. schon oben 3. Kap. A. I. 2. c) dd); das ist im vorliegenden Zusammenhang nicht erforderlich: es genügt vollauf sicherzustellen, daß das Gemeinschaftsrecht mit allen seinen Implikationen zu jedem Zeitpunkt als umfassend verfassungskonform angesehen werden kann. 297 Der im Rahmen der Einfllgung der Notstandsverfassung durch das 17. Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes (BGBI 1968 I, S. 709) als funktionslos aufgehobene Art. 142 a GG lautete: "Die Bestimmungen dieses Grundgesetzes stehen dem Abschluß und dem Inkraftsetzen der am 26. und 27. Mai 1952 in Bonn und Paris unterzeichneten Verträge (Vertrag über die Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland und den drei Mächten und Vertrag über die Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft) mit ihren Zusatzund Nebenabkommen, insbesondere dem Protokoll vom 26. Juli 1952, nicht entgegen." Der korrespondierende Art. 79 Abs. I Satz 2 GG, der wie Art. 142 a GG durch die Verfassungsänderung vom 26.3.1954 (BGBI 1954 I, S. 45) eingefllgt worden war, ist dagegen erhalten geblieben. 298 So die Charakterisierung des 142 a GG durch Rump!DÖV 1968,673 (675). 299 Die Probleme der deutschen Rechtsordnung sind durch eine solche Klausel allerdings nicht vollständig gelöst, da sie zwar Konflikte mit der Verfassung klärt, aber nicht den Rang im Verhältnis zum (nachfolgenden) Gesetz bestimmt: in der französischen Rechtsordnung greift an dieser Stelle Art. 55 der Verfassung ein.
252
3. Kapitel: Verfassungsrechtl iche Grenzen der Integration
Verfassungsmäßigkeit des Vertrages und des in ihm angelegten, allein auf die Einhaltung des Primärrechts ausgerichteten Rechtsschutzsystems. Legt man eine derartige Auslegung des Art. 88-1 der Verfassung zugrunde, so würde eine prozessuale Immunität des Gemeinschaftsrechts gegenüber nachträglicher Verfassungskontrolle überflüssig. Es wäre gesichert, daß im materiellrechtlichen Ergebnis von dieser Kontrolle flir den GeItungsanspruch der Gemeinschaftsrechtsordnung keine Gefahr ausginge. Allerdings wäre nicht zu vermeiden, daß der Conseil constitutionnel sich auf diese Weise auch mit der Interpretation des Gemeinschaftsrechts auseinandersetzen müßte, um zu ermitteln, wie weit die - zuvor prozessual als "Abschirmung" beschriebene, jetzt materiellrechtIich wirkende - Legitimation Z.B. eines zu kontrollierenden Gesetzes durch das Gemeinschaftsrecht in Verbindung mit Art. 88-1 tatsächlich reicht. Tatsächlich besteht diese Problematik, der sich der Conseil constitutionnel bisher nicht offen gestellt hat, aber schon heute, wenn auch unter anderem, nämlich rein prozessualem Vorzeichen 30o • Im Rahmen der Einflihrung der exception d'inconstitutionnalite wäre diese Schwierigkeit aber - wie bereits ausgeflihrt - in Kooperation mit dem EuGH auch ohne gravierende Probleme zu bewältigen.
5. Erweiterung der Kontrolle durch den verfassungsändernden Gesetzgeber: Einrichtung spezieller Mechanismen zur Kontrolle des Sekundärrechts durch den Conseil constitutionnel?
Obwohl damit nach derzeitigem Stand eine Prüfung auch des Sekundärrechts am nationalen Verfassungsrecht prozessual ausgeschlossen scheineo l , wird eine derartige Überprüfung konkreter Vorhaben doch in der Literatur immer wieder vorgenommen 302 • Auch offizielle Stellungnahmen der französi-
300
Dazu schon oben 3. Kap. B. I. 2. e).
301
S.o 3. Kap. B. I. 1., 2.
302 s. zuletzt zur Beachtung der durch den 14. Erwägungsgrund von CC 20.1.1993 No 92-316 DC - Loi relative cl la prevention de la corruption et cl la transparence de la vie economique, Rec. S. 14 = RFDC 1993,375 m.Anm. Favoreu / Renoux / Philippe / Roux / Frayssinet = RFDA 1993,914 m.Anm. Pouyard S. 902 festgeschriebenen verfassungsrechtlichen Anforderungen an den Datenschutz durch die entspr. BinnenmarktRichtlinienvorschläge auf Gemeinschaftsebene: Meyer-Heine RFDC 1995, 637 ff (640 ff); Pellet RDP 1995, 361 ff (372 ff). Beide Beiträge gehen ohne weitere Problematisierung davon aus, daß der ce entsprechende Erkenntnisse durch Verwerfung des natio-
B. Prozessuale Durchsetzung
253
sehen Regierung beharren darauf, daß insbesondere das sekundäre Gemeinschaftsrecht im Rang unter der Verfassung stehe und - so der naheliegende Schluß - den Vorgaben der französischen Verfassung bis ins Detail entsprechen müsse 303 • In dieser Situation liegt die Versuchung nahe, diese materiellrechtliche Unterordnung auch prozessual zu effektivieren und durch Verfassungsänderung dem Conseil constitutionnel die Kontrolle über das Sekundärrecht zu eröffnen; wie dargestellt existiert eine solche Verfassungskontrolle bisher nicht, da das Sekundärrecht dem Vertrag selbst gleichgestellt wird. Tatsächlich scheinen die bisher in dieser Hinsicht unternommenen Vorstöße zur Erweiterung der Kompetenzen des Conseil constitutionnel durch den Wunsch bestimmt, den nationalen Einfluß auf die Ausgestaltung des sekundären Gemeinschaftsrechts zu stärken304 • Unternommen wurden derartige Versuche erstmals im Rahmen der parlamentarischen Beratungen um die 1990 erfolgte und insgesamt gescheiterte Initiative zur Einführung der exception d'inconstitutionnalite305 • Eine ähnliche Initiative ist im Rahmen der Verfassungsänderung zur Errnöglichung der Ratifikation des Unionsvertrags im Senat erfolgeo6 : Sie zielte darauf ab, durch Neufassung bzw. Ergänzung des Art. 54 auf Initiative von 60 Senatoren oder Abgeordneten eine Kontrolle des Conseil constitutionnel über Sekundärrechtsakte zu eröffnen; erst nachdem die Regierung die Unvereinbarkeit dieses Verfahrens mit der Struktur des Gemeinschaftsrechts deutlich gemacht hatte, wurde die Erweiterung des Art. 54 auf die 1974 unterbliebene
nalen Umsetzungsgesetzes durchsetzen würde; dies scheint dem derzeitigen Stand der Rechtsprechung des CC aber bei aller Vorsicht nicht zu entsprechen. 303 s. etwa die Antwort des Premierministers auf die schriftliche Anfrage des Abgeordneten Xavier Deniau, Reponse QE No 23.732 JOAN (Q) 25.2.1990, S. 837, wiedergegeben auch bei Rideau RFDC 1990, 259 (264): "... les traites occupent, dans la hierarchie des normes juridiques fran~aises, un rang inferieur cl celui de la Constitution. Cette regle s'applique au droit communautaire, et notamment au droit communautaire derive. Des lors, si une contradiction apparaissait entre l'evolution de ce droit et nos prescriptions, cette contradiction devrait etre soit invoquee par la France po ur re/user la transcription dans son droit interne, des nouvelles normes communautaires, soit resorbee par une revision de la Constitution .... " (Hervorhebung vom Verf.). Wörtlich übernommen auf Anfrage des Abgeordneten Pascal element durch das Ministerium ftlr Europafragen Reponse QE No 32.542 JOAN (Q) 24.9.1990, S. 4454. 304
Dazu s. auch oben I. Kap. A. I. 2. b) bb).
305
Dazu Favoreu RFDC 1990,581 (608 f).
306
Dazu etwa Rideau in: MascIet / Maus (1993),67 (116).
254
3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
Angleichung an Art. 61 Abs. 2 hinsichtlich völkerrechtlicher Verträge (unter Ausschluß des Sekundärrechts) beschränkt307 • Auch in der Folgezeit wurde dieses Ziel in verschiedenen Varianten weiterverfolgt. Bestärkt wurden diese Bestrebungen wohl auch durch die Debatten um Sekundärrechts-Vorhaben in Nationalversammlung und Senat im Rahmen des Verfahrens nach Art. 88-4 der Verfassung, in denen die nicht unmittelbar einschlägigen national-verfassungsrechtlichen Argumente vielfach in einer Weise vorgebracht werden, als stünden nationale Gesetzesvorhaben zur Beratung308 • So hat eine Initiative der Abgeordneten Mazeaud und Pandraud vom 18.5.1993 309 den bereits anläßlich der Verfassungsänderung zur Ermöglichung
der Ratifikation des Unionsvertrages unternommenen Versuch wiederholt, bereits geltendes Sekundärrecht einer Verfassungskontrolle durch den Conseil constitutionnel auszusetzen: Gegenstand war hier die Ermöglichung einer nachträglichen Kontrolle des Sekundärrechts durch Einfügung eines neuen Art. 88-5 der Verfassung, der diese Kontrolle unter denselben Bedingungen wie Art. 61 Abs. 2 gegenüber nationalen Gesetzen ermöglichen sollte: Wie die Regierung schon bei dem entsprechenden Versuch aus dem Jahr 1992 zu Recht geltendgemacht hatte, würde ein derartiger Mechanismus den offenen Konflikt mit dem Geltungsanspruch des Gemeinschaftsrechts bedeuten 3lO • Eine elegantere Lösung bietet die Initiative des Senators Oudin vom 2.6.1993 311 : Danach sollte eine Ergänzung des Art. 88-4 der Verfassung auf Anrufung durch jeweils 60 Abgeordnete oder Senatoren eine gutachtliche Stel-
lungnahme des Conseil constitutionnel zur Verfassungsmäßigkeit von Sekundärrechts-Projekten ermöglichen, also Vorschlägen der Kommission, von denen das Parlament zuvor im Verfahren nach 88-4 der Verfassung Kenntnis erlangt hat; die Stellungnahme des Conseil constitutionnel sollte nach diesem Vorschlag allerdings nicht bindend sein: Es handelte sich danach um eine geschickte Kombination zwischen der Autorität und Rigidität einer vom Conseil constitutionnel bestätigten verfassungsrechtlichen Argumentation auf der einen Seite, und auf der anderen Seite einem fortbestehenden Verhandlungs-
307
Zu dieser Erweiterung des Art. 54 s. bereits oben 2. Kap. A. 11. 2. a) aa) m. Fn.
308
s. die Beispiele bei Rullier LP A 1993 Nr. 122, 11.10.1993, S. 7 (12).
51. Doc. AN No 194, 1992-1993; dazu etwa Rul/ier LPA 1993 Nr. 122, 11.1 0.1993, S. 7 (12 m.Fn. 24); Bigaut Rev. adm. 1994,29 (36 t); Verdier RDP 1994, 1137 (1152). 309
310
So zu Recht Gaillard RFDC 1993, 707 (728); Bigaut Rev. adm. 1994,29 (37).
Doc. Senat No 328, dazu Rullier LPA 1993 Nr. 122, 11.1 0.1993, S. 7 (12 m.Fn. 24); Gaillard RFDC 1993, 707 (728); Bigaut Rev. adm. 1994,29 (38). 311
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spielraum auf europäischer Ebene, der durch den nicht bindenden Charakter der Stellungnahme zu einem zudem selbst noch nicht verbindlichen Sekundärrechtsakt gewährleistet bleiben sollte. Ein in dieser Weise "kontrollierter" und dosierter Einsatz der Verfassungsgerichtsbarkeit würde es erlauben, einerseits die nationale Position mit gerichtlichem Autoritätsanspruch zu untermauern, den Konflikt zwischen den Rechtsordnungen andererseits - etwa im Falle einer Überstimmung im Rat und des darauffolgenden Erlasses von im Vorfeld als verfassungswidrig gebrandmarktem Sekundärrecht - nicht auf die Spitze zu treiben. Diese Konstruktion ist denn auch in einer erneuten Initiative der Abgeordneten Mazeaud und Pandraud vom 13.3.1996312 - wiederum zur Schaffung eines neuen Art. 88-5 der Verfassung - aufgenommen worden. Diese folgenlos gebliebenen Initiativen dürfen angesichts des bekannten Erfindungseifers 313 französischer Parlamentarier für Vorschläge zu Verfassungsänderungen wohl nicht überbewertet werden. Ihren Erfolg haben angesichts der bisherigen Erfahrungen mit Änderungsvorschlägen aus der Mitte des Parlaments wohl auch die Initiatoren selbst nicht erwartet: Das Vorschlagsrecht steht gemäß Art. 89 Abs. 1 der Verfassung jedem einzelnen Abgeordneten oder Senator zu und wird eifrig genutzt, ohne daß bisher auch nur eine der unzähligen Initiativen tatsächlich zu einer Verfassungsänderung gefilhrt hätte 3l4 • Realistische Aussicht auf Erfolg haben derartige Initiativen nur, wenn sie als Änderungs- oder Ergänzungsanträge im Rahmen eines bereits aus anderen Gründen eingeleiteten Verfahrens der Verfassungsänderung eingebracht werden 3lS • Sie zeigen aber, daß die Möglichkeit, das nationale Verfassungsrecht und die nationale Verfassungsgerichtsbarkeit in Interessenkonflikten bei der Erarbei312 Doc. AN No 2641; wiedergegeben auch in RFDC 1996, 705 ff; s. dazu die Debatte in Passelecq u.a. RFDC 1996, 675 ff mit Beiträgen von Lenoir, Luchaire, CohenTanugi, de Roux, Favoreu und Maus. 313 Dazu Ardant in: La Revision (1993), 79 (82); Jos RDP 1988,717 (719 ff); Roy RDP 1980, 687 (696 ff) jeweils mit Zahlenangaben; eine tabellarische Auflistung der propositions de revision findet sich bei Conac I Luchaire (-Gaxie), Art. 89 Anhang 1, S. 1341-1349. 314 PrägnantJos RDP 1988,717 (736): "". les propositions de revision sont des occasions de prise de parole." Ebenso Texidor RFSP 1984, 1042 (1061 f), der die Erfolglosigkeit der parlamentarischen Initiativen zur Verfassungsänderung zum einen auf ihre inhaltlichen Mängel, aber auch auf die hohen Anforderungen des Art. 89 der Verfassung (obligatorisches Referendum in der 2. Phase der Änderung) zurückfUhrt und das Initiativrecht der Parlamentarier im Ergebnis als "Scheinrecht" empfindet (aaO S. 1053). 315 So etwa im Rahmen der Verfassungsänderung zur Ermöglichung der Ratifikation des Unionsvertrags, s. 3. Kap. A. III. 1. b).
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
tung des Sekundärrechts zu mobilisieren - oder vielleicht präziser: zu instrumentalisieren 316 -, auch in Frankreich erkannt worden istl l7 und durchaus Überlegungen angestellt werden, um hier mit dem Stand der Bundesrepublik gleichzuziehen3lH • 11. Die Durchsetzung des Vorrangs der Verfassung durch die Fachgerichte
Die Verfassungsmäßigkeit der Verträge wird von den fur ihre Anwendung nach Inkrafttreten verantwortlichen Fachgerichten traditionell in keiner Weise problematisiert: Dies gilt sowohl fur die direkte Überprlifung der Verträge, als auch rur Rügen der Verfassungswidrigkeit nationaler Rechtsakte, die die Vorgaben verbindlicher Verträge umsetzen. l. Ausschluß der direkten Kontrolle
a) Die traditionelle Rechtsprechung
Die direkte Infragestellung der inhaltlichen und verfahrensrechtlichen Verfassungsmäßigkeit ist vor den Fachgerichten ausgeschlossen: Sie würde den Eintritt in die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit bedeuten, den sich die Fachgerichte in ständiger Rechtsprechung nicht nur in bezug auf Gesetze,
316 Zu den von einer solchen Entwicklung ausgehenden Gefahren s.o. I. Kap. A. I. 2. b) bb) a); ähnlich die Vorbehalte von Bigaut Rev. adm. 1994, 29 (37): "Qu'adviendrait-i1 en effet si le Conseil constitutionnel declarait inconstitutionnel tel ou tel acte communautaire qui, par ailleurs, s'imposerait aux autres Etats membres? Du meme. si les autres Etats membres se dotaient de la meme procedure. si les decisions de leurs cours constitutionnelles respectives etaient opposees sur un meme acte." (Hervorhebung vom Verf.). 317 So deutlich Maus, Diskussionsbeitrag in: Passelecq u.a. RFDC 1996,675 (683): "Un gouvernement qui se presentera a Bruxelles en disant: 'sur tel projet de directive, ma cour constitutionnelle considere que c'est contraire a ma Constitution', aquand meme que\ques arguments pour faire modifier le projet. " Ähnlich de Roux, Diskussionsbeitrag in: Passelecq u.a. RFDC 1996, 675 (690); positiv und mit weitgehenden Folgerungen auch Gai"a in: Droit constitutionnel national (1996), 231 (283 ff). 318 So ist etwa die Entscheidung des BVerfG zur Rundfunkrichtlinie (BVerfG 22.3.1995, BVerfGE 92, 203 = EuGRZ 1995, 125) nach 6 Jahren des Wartens (seit der Ablehnung des Antrags auf einstweilige Anordnung durch BVerfG 11.4.1989, BVerfGE 80, 74) in verdächtiger zeitlicher Nähe zu den Verhandlungen über eine Neufassung der Richtlinie ergangen.
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sondern auch hinsichtlich völkerrechtlicher Verträge versagen 319 ; allein die Verwaltungssektionen des Conseil d'Etat sind in ihrer Funktion als Gutachter der Regierung mit der präventiven, d.h. - wie die Kontrolle seitens des Conseil constitutionnel - vor dem verbindlichen Abschluß des Vertrages erfolgenden Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Verträge befaßt320 • Für die durch Gesetz gebilligten Verträge ergibt sich dieser Ausschluß fachgerichtlicher Kontrolle am Maßstab der Verfassung bereits aus der Unangreifbarkeit des die Ratifikation billigenden Gesetzes 321 ; für die allein von der Exekutive abgeschlossenen Abkommen wird die Unüberprüfbarkeit aus dem Begriff des - gerichtlicher Kontrolle nicht unterliegenden - "acte de gouvernement" hergeleitet322 • Möglicher Gegenstand (verwaltungs-)gerichtlicher Kontrolle ist danach allein die durch Dekret getroffene Entscheidung zur Ver-
319 Besonders deutlich zu dieser Parallele etwa Cass. crim. 27.2.1990 - Touvier, Bull. crim. No 96, S. 251: " ... iI n'appartient pas aux juridictions de I'ordre judiciaire de se prononcer sur la constitutionnalite des traites non plus que de la loi; ... " 320 Soweit die Abkommen gern. Art. 53 der Verfassung gesetzlicher Billigung bedürfen, erfolgt diese Befassung gern. Art. 39 der Verfassung auf dem Umweg über den Entwurf des Billigungsgesetzes, das - ebenso wie andere Gesetze - gutachtlich auf seine Verfassungsmäßigkeit überprüft wird, dazu etwa Guillaume Melanges Braibant (1996), 353 ff und die Zahlenangaben in CE Droit international (1986), 9 f; die - heute regelmäßig im Jahresbericht des CE veröffentlichten - Stellungnahmen verbinden dabei häufig strikt verfassungsrechtliche Einwände und eher rechtspolitische Bedenken, s. dazu die Beispiele bei CE Droit international (1986), 38 fund Guillaume aaO S. 356 ff; in Ausnahmefällen wurden diese Gutachten auch früher schon veröffentlicht, s. etwa oben 3. Kap. A. 11.3. b) bb) mit Fn 424 zum Schengener Abkommen sowie die Dokumentation in CE Droit international (1986), 109 ff. 321 So schon für die - insoweit aber unveränderte - Verfassungs lage unter der 4. Republik Virally JCP 1953 I 1098; Pinto Melanges Mestre (1956), 437; CE Ass. 27.6.1958 - Georger et Teivassigamany, Rec. S. 403 = D. 1959 jp 121 m.Anm. Gilli = RGDIP 1958, 518 m.Anm. Charles Rousseau; sowie die Schlußanträge von Regierungskommissar Henry zu CE 4.3.1961 - Sieur Andre et Societe des Tissages Nicolas Caimant, RGDIP 1961,627 (628). 322 Abraham Droit international S. 37 ff; Dubouis AFDI 1971,9 (17); Schlußanträge von Regierungskommissar Henry zu CE 4.3.1961 - Sieur Andre et Societe des Tissages Nicolas Caimant, RGDIP 1961, 627 (628 f); ablehnend im Fall fehlender, aber erforderlicher Zustimmung des Parlaments insoweit etwa Pinto Melanges Mestre (1956), 437 (438 ff) m. zahlr. Nachw. aus der älteren Rspr. der Instanzgerichte; der Streit hat aber fur den Status des Gemeinschaftsrechts praktisch keine Bedeutung, da alle Abkommen in diesem Bereich durch Parlamentsgesetz gebilligt wurden.
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öffentlichung des Abkommens, in deren Rahmen aber eine inzidente Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des Abkommens ebenfalls ausgeschlossen istm . Diese Gleichstellung des prozessualen Status von Vertrag und Gesetz im Verhältnis zur Verfassung wird im Staatshaftungsrecht besonders deutlich 324 ; Ebenso wie eine Staatshaftung für verfassungswidrige Gesetze nicht existiert, weil die Gerichte die Vorfrage der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes nicht prüfen können 32S , ist auch eine Haftung für den Abschluß verfassungswidriger Verträge ausgeschlossen. In bei den Konstellationen hat die Rechtsprechung lediglich eine Sonderopfer-Entschädigung für den Erlaß von Gesetzen oder den Abschluß von Verträgen in den Fällen zugelassen, in denen der Schaden schwer und außergewöhnlich und eine Entschädigung durch das Regelungswerk nicht ausdrücklich oder stillschweigend ausgeschlossen ist326 • Hier wird also in extrem gelagerten Ausnahmeflil1en mit der Unterstel1ung geholfen, daß
323 So deutlich CE 4.3.1964 - Dechamps et autres, JCP 1964 11 13754 (4. Entscheidung) m.Anm. Leschemelle = RDP 1964, 1268 m.Anm. Robert: "... pour demander I'annulation du decret ... portant publication des accords conclus '" entre la France et le Monaco, l'association requerante n'invoque aucun vice propre au decret attaque; .... elle se borne, en effet, a soutenir que l'une des conventions entre la France et le Monaco, dont ledit decret prescrit la publication, est entachee d'ilIegalite; ... le moyen tire de I'illegalite d'une convention internationale n'est pas de nature a etre utilement presente devant le Conseil d'Etat statuant au contentieux; ... " 324 s. etwa Chapus DAG I Rn 1306 f, S. 1161 ff; Rideau in: Rep. cont. adm. Stichwort "droit communautaire" Rn 82; Dubouis AFDI 1971,9 (48); Questiaux in: Reuter u.a. (Hrsg.), 66 (68 f); aus der deutschsprachigen Literatur Reinhard JöR n.F. 30 (1981),74 (138 ff). 32S Dazu generell noch unten 4. Kap. B. 11. 2. c) und 3. e) cc). 326 So fIlr Gesetze erstmals CE Ass. 14.1.1938 - Ste des produits laitiers La Fleurette, Rec. S. 25 = GAJA Nr. 57, S. 308 = D 1938,3,41 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Roujou = RDP 1938, 87 mit den Schlußanträgen u.Anm Jeze = S. 1938, 3, 25 mit Schlußanträgen u.Anm. Laroque; erstmals auf Verträge übertragen durch CE Ass. 30.3.1966 - Compagnie generale d'energie radio-electrique, Rec. S. 257 = GAJA Nr. 99, S. 617 = RDP 1966, 774 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Bernard u. Anm. Waline S. 955 ff = D. 1966 jp 582 m.Anm. Lachaume = JCP 1967 11 15000 m.Anm. Dehaussy; tatsächlich erstmals positiv (im Sinne der Zuerkennung einer Entschädigung) auf einen Vertrag angewandt durch CE 29.10.1976 Ministre des Affaires etrangeres c. consorts Burgat, Rec. S. 452 = RDP 1977, 223 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Massot = JDI 1977,630 m.Anm. Burdeau = JCP 1977 II 18606 m.Anm. Julien-Laforriere = AJDA 1977,56 m.Anm. Nauwelaers I Fabius S. 26 (30 ff); ein Urteil über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetz oder Vertrag ist mit der Zuerkennung dieser Ausgleichsleistung nicht verbunden.
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das Gesetz bzw. der Vertrag327 selbst eine Ausgleichsregelung getroffen hätte, wenn der Schadenseintritt bedacht worden wäre 328 • In Anwendung dieser Grundsätze hat der Conseil d'Etat bereits früh eine Klage gegen das Dekret zur Veröffentlichung der Römischen Verträge abgewiesen 329 , ohne eine sachliche Prüfung des Vortrags der Kläger vorzunehmen: Diese hatten argumentiert, daß die Verträge gegen die Verfassung der 4. Republik verstießen und daher nur durch verfassungsänderndes Gesetz gebilligt werden könnten 33o •
327 Für einen Fall mit Gemeinschaftsbezug s. CAA Lyon 10.12.1990 - SA Girard Freres, Rec. Tables S. 964: "La loi ... mettant fin au monopole de la commercialisation des aIcools ethyliques par l'Etat, prise pour satisfaire aux obligations du traite de Rome, intervenue dans un but d'interet general et qui n'a pas prevu l'indemnisation des depositaires agrees subissant un prejudice du fait de son application, n'ouvre droit Cl aucune indemnite." Ebenso, aber ohne Hinweis auf den gemeinschaftsrechtlichen Hintergrund des Rechtsstreits CE 8.4.1994 - SA Etablissements CharbonneauxBrabant, Rec. S. 187. Ein Konflikt dieser Rechtsprechung mit dem Anspruch des Gemeinschaftsrechts auf unverfälschte und damit ggf. auch entschädigungsfreie Wirkung ist im übrigen schon nach den eigenen Voraussetzungen dieser Rechtsprechung ausgeschlossen: ist eine Entschädigung rur Auswirkungen des Gemeinschaftsrechts als gemeinschaftsrechtswidrig einzustufen, dann bedeutet das, daß die Gewährung stillschweigend ausgeschlossen wurde, die Voraussetzungen ihrer Zuerkennung also nicht vorliegen. 328 Morange D. 1962 chr. 163 spricht daher insoweit von einer "pseudo-responsabilite" des Gesetzgebers, die den grundsätzlichen Ausschluß der Staatshaftung für legislatives Unrecht nicht berühre. Er fährt fort: "11 aurait fallu, pour pouvoir accorder une indemnite en dehors de ces hypotheses, que le juge releve une faute Cl la charge de ce tegislateur. C'etait doublement impensable. Le Souverain ne peut commettre des fautes et, de toute farron, notre tradition constitutionnelle plarrait le juge dans une position trop inferieure vis-a-vis du pouvoir legislatif pour qu'j] puisse se livrer a un contröle ... sur les actes de celui-ci." (Hervorhebung vom Verf.). 329 CE 4.3.1961 - Sieur Andre et Societe des Tissages Nicolas Caimant, Rec. S. 154 = RGDIP 1962, 626 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Henry und Anm. Charles Rousseau = AJDA 1961,35 m.Anm. C.M. 330 " ... pour demander l'annulation du decret du 28 janvier 1958 portant publication du traite instituant la Communaute economique europeenne, le sieur Andre et la Societe des Tissages Nicolas Caimant n'invoquent aucun vice propre au decret attaque; ... ils se bornent, en effet a soutenir que les deux traites dont s'agit ont po ur effet de modifier la Constitution du 27 octobre 1946, qu'ils auraient du, en consequence etre ratifies en vertu d'une loi adoptee dans les forrnes prevues pour la loi constitutionnelle, et non en vertu d'une loi ordinaire, et que le President de la Republique ne pouvait legalement, en tout etat de cause, ratifier ces traites en y etant seulement autorise par une loi ordinaire;"
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Auch in diesem Fall besteht ein Gleichklang mit der traditionellen Rechtsprechung zum internen Recht, nach der auch das Dekret zur Verkündung von Gesetzen nicht angegriffen werden kann l3l • Dieser Beschränkung kann man jedenfalls in der vorliegenden Konstellation auch heute eine innere Logik nicht absprechen: Sie ergibt eine rationale Kompetenzabgrenzung im Verhältnis zum Conseil constitutionnel, der im Verfahren der präventiven Kontrolle gemäß Art. 54 der Verfassung die materielle Verfassungsmäßigkeit des Vertrages und darüber hinaus - im Falle einer Anrufung gegen das Ratifikationsgesetz gemäß Art. 61 der Verfassung - auch den ordnungsgemäßen Ablauf des Gesetzgebungsverfahrens überprüft. Auch hinsichtlich der Kontrolle durch die Fachgerichte gilt im übrigen, daß nicht nur der Vertrag selbst, sondern auch die auf ihn gestützten Rechtsakte einer Kontrolle ihrer Verfassungsmäßigkeit entzogen sind: Das gilt auch für die Entscheidungen des EuGH als authentische Interpretation des bereits geltenden Vertrages. Erwägungen zur Hypothese verfassungswidriger EuGHEntscheidungen erscheinen zwar teilweise in den Schlußanträgen der Regierungskommissare 332 , ohne daß aber ein dogmatischer Weg aufgezeigt würde, auf dem die Fachgerichte eine solche Erkenntnis an der Verbindlichkeit des Vertrages vorbei umsetzen könnten. Auch wenn damit verfassungsrechtliche Argumente gegen die Ergebnisse der EuGH-Rechtsprechung nicht zur Verfügung stehen bzw. nicht prozessual nutzbar gemacht werden können, bedeutet das allerdings nicht, daß diese "... d'une part .... le moyen tin: de ce que la loi du 2 aout 1957, autorisant le President de la Republique a ratifier les traites signes a Rome le 25 mars 1957 serait contraire a la Constitution du 27 octobre 1946, n'est pas de nature a etre utilement presente devant la juridiction administrative;" "... d'autre part ... il n'appartient pas au Conseil d'Etat statuant au contentieux d'apprecier la regularite de la procedure suivie pour la ratification des traites internationaux; ... " 331 CE 3.11.1933 - Desreumaux, Rec. S. 1036; dazu in neuerer Zeit Sauvignon RDP 1981, 989 ff; zur Parallele Dubouis AFDI 1971, 9 (17). 332 In seinen Schlußanträgen zur berühmten Cohn-Bendit-Entscheidung (CE Ass. 22.12.1978, Rec. S. 524, dazu im Einzelnen m.w.N. unten 5. Kap. B. III. 4.) spricht Regierungskommissar Genevois die Möglichkeit verfassungswidriger EuGH-Entscheidungen an und hält diese für nicht verbindlich, ohne aber den dogmatischen Weg zu diesem Ergebnis darzulegen; auch die Schlußanträge von Regierungskommissar Frydmann zur Nicolo-Entscheidung (CE Ass. 20.10.1989, Rec. S. 190, dazu m.w.N. unten 4. Kap. B. H. 3. d) aa) bezeichnen die Vorrang-Rechtsprechung des EuGH als Ausdruck verfassungswidriger Supranationalitäts-Vorstellungen, ohne daraus andere Folgerungen ziehen zu können, als diesen Vorrang statt dessen auf Art. 55 der Verfassung zu stützen.
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Rechtsprechung ohne weiteres übernommen würde: Soweit derartige Abweichungen bestehen, werden sie aber mit Argumenten aus dem EGV, also im Ansatz vertrags-immanent begründet. Das gilt auch für die berühmt gewordenen Divergenzen zwischen der Rechtsprechung von EuGH und Conseil d'Etat zu verschiedenen Fragen des Gemeinschaftsrechts333 : In der Mehrzahl der Fälle beruhten diese Abweichungen auf unterschiedlichen Vorstellungen vom Inhalt des EWGV, so z.B. zur Frage der Reichweite der Vorlagepflicht nach Art. 177 Abs. 3 EWGV 334 , der Rechtswirkung nicht oder unzureichend umgesetzter Richtlinien 335 oder der Befugnis des EuGH, die Nichtigkeit von Sekundärrechtsakten zeitlich zu begrenzen 336 • Mit dem Beharren auf seiner eigenen Konzeption 337 in solchen Fällen verstößt der Conseil d'Etat zwar gegen die aus dem Vertrag, insbesondere aus Art. 164 ff EGV, folgende Bindung an die Rechtsprechung des EuGH 338 ; der Kon333 Dazu die Überblicke bei Genevois EuR 1985, 355 ff; Vedel luridictions fran"aises (1987), 16 ff; Boniehot RFDA 1989, 579 ff; zuletzt Costa Melanges Plantey (1995), 45 (52 ft). 334 Zu dieser seit EuGH 6.10.1982 Rs. 283 / 81 - Srl C.I.L.F.I.T. und Lanificio di Gavardo gegen Ministerio della sanita, Slg. 1982, 3415 im Grundsatz ausgeräumten Kontroverse um die Geltung der "acte-clair-Doktrin" im Gemeinschaftsrecht s. aus der französischen Literatur etwa Labayle AJDA 1983, 155 ff; [saae in: Les effets (1983), 101 (125 [); Abraham Droit international S. 166 ff. 335 Dazu noch ausführlich unten 5. Kap. B. III. 4. 336 Dazu unten 3. Kap. B. 11. 4. b). 337 Eine interessante "richterpsychologische" Erklärung für die Unterschiede in der Rezeption der EuGH-Rechtsprechung durch die Cour de cassation - die in dieser Hinsicht nie Aufsehen erregt hat - und den häufig unnachgiebigen CE liefert Vedel luridictions fran"aises (1987), 22 (27): danach ist die Cour de cassation, selbst mit der Aufrechterhaltung der Rechtseinheit gegenüber den Instanzgerichten befaßt, dem Argument der Notwendigkeit einer gemeinschaftsweit einheitlichen Auslegung des Gemeinschaftsrechts eher zugänglich als der CE, der mit dem Problem einer Disziplinierung der Instanzgerichte in vollem Umfang erst seit dem dreistufigen Ausbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit ab 1987 konfrontiert ist. 338 Besonders deutlich noch CE Ass. 23.3.1984 - Ministre du Commerce exterieur c. Ste Alivar, Rec. S. 127 = AJDA 1984,396 m.Anm. Genevois = RTDE 1984,341 mit den abweichenden Schlußanträgen von Regierungskommissar Denoix de Saint Mare = Gaz. Pa!. 1984, 1,329 mit den Schlußanträgen u. Anm. M.R.B. = RGDIP 1985, 186 m.Anm. Rousseau: nachdem EuGH 4.3.1977 Rs. 68 / 76 - Kommission / Frankreich, Slg. 1977, 515 das 1975 eingeführte Erfordernis von Ausfuhrbestätigungen für Kartoffel-Exporte als Verstoß gegen Art. 34 beanstandet hatte, spricht der CE einem der betroffenen Unternehmen zwar Schadenersatz zu - aber ausdrücklich nicht wegen rechtswidrigen Verhaltens der Verwaltung, sondern auf der Grundlage der ausnahms-
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
flikt betrifft aber nicht das Verhältnis zwischen nationaler Rechtsordnung und Gemeinschaftsrecht - vielmehr wird gleichzeitig mit dem Gemeinschaftsrecht auch Art. 55 der nationalen Verfassung verletzt. Allein die - allerdings zentrale - Frage der Durchsetzung des Vorrangs des Vertrages auch vor nachfolgenden Gesetzen wurde mit Argumenten der internen Verfassungsordnung ausgetragen 339 • b) Perspektiven einer Kontrolle der formellen Verfassungsmäßigkeit des Vertragsschlusses
Eine jedenfalls faktische Lücke der präventiven Verfassungskontrolle der Verträge besteht bislang nur fUr Abkommen, deren Abschluß nicht in gesetzlicher Form gebilligt worden ist, weil die Regierung sie zu diesem Zeitpunkt möglicherweise zu Unrecht - als nicht vom Anwendungsbereich des Art. 53 der Verfassung erfaßt angesehen hat: In diesem Fall fehlt ein Gesetz, gegen das der Conseil constitutionnel gemäß Art. 61 angerufen werden könnte, und auch eine Überprüfung auf der Grundlage von Art. 54 der Verfassung wäre zwar möglich, würde aber nicht weiterfUhren: Die Frage der Zustimmungsbedürftigkeit des Abschlusses ist keine Frage der Verfassungsmäßigkeit des Vertrags selbse 40 •
weise anerkannten Sonderopfer-Entschädigung rur die Folgen rechtmäßigen (!) Handelns; dazu etwa Simon / Barav RMC 1987, 165 (167 ff); Barav in: Schenners / Heukels / Mead, Non-Contractual Liability (1988), 149 (159 ff); Schermers FS Doehring (1989), 883 (887 f). 339 Dazu im Einzelnen unten 4. Kap. 340 Favoreu RDP 1967, 5 (39); prägnant Rambaud RGDIP 1977, 617 (659): " ... l'article 54 ne concerne que les incompatibilites de fond entre le traite et la Constitution, non les incompatibilites fonnelles. II ne prevoit que I'hypothese ou une clause d'un engagement international serait contraire a la Constitution, non le cas ou cet engagement serait introduit irregulierement dans I'ordre juridique interne. 11 Anders im Sinne einer weiten Auslegung des Art. 54 allerdings Pollmann RDP 1994, 1079 (1094 ff). Zu einem Beispielfall dieser Problematik s.u. 4. Kap. B. 11. I. a) bb) a) bei Fn 147 / 149; allerdings hat der CC in der Eigenmittel-Entscheidung von 1970 (s.o. 3. Kap. A. 11. 1. a) aa) - möglicherweise obiter, vielleicht aber auch, um die Zu lässigkeit der Anrufung nach Art. 54 zu begründen - festgehalten, daß die Ratifikation gesetzlicher Zustimmung bedurfte, s. dazu Favoreu AFDI 1977,95 (100).
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Gleichzeitig verweigern aber auch Cour de cassation341 und Conseil d'Etatl42 bisher eine Überprüfung der fonneIIen Verfassungsmäßigkeit völkerrechtlicher Verträge, und prüfen allein die äußere Existenz des Abkommens, insbesondere seine amtliche Veröffentlichung 343 . Diese Lücke ist auch durch die Erweiterung des Zugangs zum Conseil constitutionnel auf der Grundlage von Art. 54 der Verfassung im Rahmen der Ratifikation des Unionsvertrags nicht geschlossen worden, nach der nunmehr wie im FaII der Überprüfung von Gesetzen gemäß Art. 61 Abs. 2 - 60 Abgeordnete oder Senatoren den Conseil constitutionnel direkt gegen den Vertrag (also ohne Umweg über ein Zustimmungsgesetz) anrufen können. Zwar steht die Überprüfung damit auch der parlamentarischen Minderheit offen, Gegenstand der KontroIIe bleibt aber aIIein die (materieIIe) Verfassungsmäßigkeit des geplanten Abkommens, nicht die Frage nach dem zu wählenden Verfahren der innerstaatlichen Billigung. Im Rahmen der Diskussion um die Durchsetzung des Vorrangs der Verträge gegenüber nationalen Gesetzen durch die Fachgerichte ist aIIerdings vielfach die Forderung erhoben worden, daß die Fachgerichte im FaII einer solchen Durchsetzung die Nonnenhierarchie auch in umgekehrter Richtung stärker zur 341 So deutlich Cass. civ. Ire 25.1.1977 - Reyrol c. Jugendamt Emmendingen, D. 1977 jp 685 m.Anm. Mezger = RCOIP 1978,352 m.zust.Anm. Simon-Depitre / Foyer = JOI 1977, 470 m.abI.Anm. Ruzie: "... il n'appartient pas aux tribunaux de l'ordre judiciaire d'apprecier la regularite de la ratification d'une convention internationale;" (zur Rüge eines in Deutschland zu Unterhaltszahlungen verurteilten Kindsvaters, nach der der Beitritt Frankreichs zum Haager Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen auf dem Gebiet der Unterhaltspflicht gegenüber Kindern vom 15.4.1958 nur mit gesetzlicher Zustimmung hätte erfolgen dürfen; das Übereinkommen bildete die Grundlage der Anerkennung des gegen ihn ergangenen Urteils); ebenso schon zuvor CA Paris 18.6.1968 - Dame Klarsfeld c. Office francoallemand pour la jeunesse. JCP 1969 11 15725 m.abI.Anm. Ruzie = 101 1969, 671 m.Anm. Kahn. Zur bis dahin nicht so eindeutigen älteren Rechtsprechung der ordentlichen Gerichte Druesne RDP 1974, 169 (180 ff); Blondeau in: Reuter (Hrsg.), 43 (47); Le Tallee RMC 1975, 124 (125 f); RambaudRGOIP 1977,617 (660 ff) sowie aus der deutschsprachigen Literatur Ress ZaöRV 1975,445 (453 m.Fn. 18). 342 CE 16.3.1966 - Cartel d'action morale et sociale et Union feminine civique et sociale, Rec. S. 211 = JCP 1967 11 15057 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Bertrand = 101 1967,383 m.Anm. Pinto: " ... il n'appartient pas au Conseil d'Etat statuant au contentieux d'apprecier la regularite de la procedure suivie pour la ratification des traites internationaux ... " 343 Für einen Anwendungsfall Cass. civ. lere 16.5.1961 - X c. Demoiselle Y, D. 1961 jp 489 m.Anm. Holleaux: " ... une convention internationale conclue par la France et non regulierement publiee ne saurait etre appliquee par les tribunaux; "; s. auch Pinto Melanges WaHne Bd. 1 (1974),233 ff; Ress ZaöRV 1975,445 (453 m.Fn. 17).
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
Geltung bringen müßten, also zumindest die in Art. 55 der Verfassung344 vorausgesetzte "ordnungsgemäße Ratifikation oder Billigung" selbst prüfen sollten 345 • Bisher haben diese Forderungen in der Rechtsprechung freilich noch keinen Widerhall gefunden. Selbst wenn sich die Rechtsprechung aber in Zukunft in diese Richtung bewegen soUte, könnte daraus wohl keine Gefahr für den Geltungsanspruch des Gemeinschaftsrechts entstehen, solange die Kontrolle auf die Frage der Form, insbesondere das Vorliegen der im Einzelfall gemäß Art. 53 der Verfassung möglicherweise erforderlichen gesetzlichen Billigung, beschränkt bleibt: Die Gründungsverträge der Gemeinschaft waren noch gemäß der Verfassung der 4. Republik, alle Änderungsverträge gemäß Art. 53 der Verfassung dem Parlament zur Billigung unterbreitet worden. Bedenklich würde die Situation erst, wenn - entsprechend der Argumentation der Kläger in der Entscheidung des Conseil d'Etat vom 4.3.1961 346 unter dem Mantel der Verfahrensprüfung zugleich eine verdeckte Inhaltskontrolle der Verträge mit dem Argument durchgeführt würde, daß im Falle einer inhaltlichen Abweichung des Vertrages von der Verfassung auch ein anderes Verfahren der gesetzlichen Zustimmung - nämlich das der Verfassungsänderung - hätte gewählt werden müssen. Eine so weitgehende Entwicklung wird man aber wohl ausschließen können: Mit einer solchen Inhaltskontrolle des Vertrages am Maßstab der Verfassung würden die Fachgerichte keine Lücke im Rechtsschutz füllen, sondern auf das Terrain des Conseil constitutionnel vordringen: Die Kontrolle der materiellen Verfassungsmäßigkeit der Verträge wird durch die Art. 54 und 61 der Verfassung bereits gesichert347 •
Ebenso schon Art. 26 der Verfassung von 1946. s. etwa Abraham Droit international S. 41 ff; auch Dubouis RFDA 1989, 1000 (1007); ders. Melanges Boulouis (1991),205 (211); eine Entwicklung in diesem Sinne prognostiziert auch Fromont EuZW 1992, 46 (49); zuvor bereits die Studie CE Droit international (1986), 15 f; ablehnend aufgrund der durch eine solche nachträgliche Prüfung völkerrechtlich häufig dennoch wirksamer Abkommen zu erwartenden Probleme Genevois RFDA 1989, 824 (829); Rideau RFDC 1990, 259 (288); ders. in: Rep. cont. adm. Stichwort "droit communautaire" Rn 350; ders. in: La Constitution et I'Europe (1992), 67 (140 f). 346 s.o. bei Fn 329. 344 345
347 Dubouis RFDA 1989, 1000 (1007); Rideau RFDC 1990, 259 (289); ders. in: Rep. cont. adm., Stichwort "droit communautaire" Rn 351; prägnant Abraham Droit international S. 43: "En exer9ant un tel contröle, les juridictions judiciaires et administratives empieteraient en effet sur une prerogative que la Constitution de 1958 reserve clairement au Conseil constitutionnel."
B. Prozessuale Durchsetzung
265
Verunsicherung hat insofern allerdings in jüngster Zeit eine Entscheidung des Conseil d'Etatl 48 ausgelöst, die einen völkerrechtlichen Vertrag im Licht eines - bei dieser Gelegenheit erstmals in seiner Existenz behaupteten - principe fondamental reconnu par les lois de la rt!publique, also eines Grundsatzes von Verfassungsrang, ausgelegt hatl 49 • Von der mit dieser Entscheidung möglicherweise praktizierten verfassungskonformen Auslegung eines Vertrages zur tatsächlichen Inhalts- und Gültigkeitskontrolle am Maßstab der Verfassung scheint der Schritt tatsächlich nur noch klein. Es ist aber durchaus fraglich, ob die Entscheidung tatsächlich als Ankündigung verstanden werden kann, daß der Conseil d'Etat im Falle eines nicht mehr im Wege der Auslegung lösbaren Widerspruchs zwischen Vertrag und Verfassung den Vertrag als verfassungswidrig unangewendet lassen würde 350 : Auch im Fall verfassungsrechtlich zweifelhafter Gesetze können die Fachgerichte das Instrument der verfassungskonformen Auslegung nutzen 3SI , nehmen aber kein Recht zur Verwerfung im Fall des offenen Widerspruchs zwischen Gesetz und Verfassung in Anspruch 352 • Darüber hinaus würden die Fachgerichte mit der Kontrolle des
348 CE Ass. 3.7.1996 - Moussa Kone, D. 1996 jp 509 m.Anm. Julien-Laferriere = RFDA 1996, 880 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Delarue S. 870 und Anm. Favoreu S. 882, Gai'a S. 885, Labayle S. 890 u. Delperee S. 908 = RDP 1996, 1760 m.Anm. Braud S. 1751 = JCP 1996 II 22720 m.Anm. Pretot = AJDA 1996, 805 m.Anm. Chauvaux / Girardot S. 722 ff = RGDIP 1997, 237 m.Anm. Alland; s. zu dieser Entscheidung auch schon oben 3. Kap. A. I. 2. b) cc) y) mit Fn 101.
349 " ... aux termes de l'articIe 44 de I'accord de cooperation franco-malien: 'L'extradition ne sera pas executee si I'infraction pour laquelle elle est demandee est consideree par la partie requise comme une infraction politique ou comme une infraction connexe a une teile infraction'; ... ces stipulations doivent etre interpretees conformement au principe fondamental reconnu par les lois de la Republique, selon lequell'Etat doit refuser I'extreadition d'un etranger lorsqu'elle est demandee dans un but politique; ... elles ne sauraient donc pas limiter le pouvoir de l'Etat franc;ais de refuser I'extradition au seul cas des infractions de nature politique et des infractions qui leur sont connexes;
"
350
In diesem Sinne Gai'a RFDA 1996, 885 (889).
351 s.o. 3. Kap. B. I. 4. a) bb) ß); im Fall des Vertrages stellt die verfassungskonforme Interpretation allerdings sicher keinen angemessenen Ersatz f1ir die unterbliebene präventive Kontrolle durch den CC dar; selbst im Rahmen dieser präventiven Kontrolle würde die verfassungskonforme Auslegung eines Vertrages mehr Probleme schaffen, als sie löst, s.o. 3. Kap. B. I. 2. c) mit Fn 83 f. 352 So der Hinweis von Delvolve RFDA 1996, 908: "C'est dans le silence d'une convention internationale que le Conseil d'Etat interprete celle-ci au regard de la norme constitutionnelle, comme il le fait pour une loi. La question de savoir si, en cas de contradiction expresse entre une convention et la Constitution, le Conseil d'Etat ecarterait la convention reste entiere. Tant qu'i1 refusera de contröler la constitutionnalite
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3. Kapitel: Verfassungsrechtl iche Grenzen der Integration
bereits geschlossenen Vertrages am Maßstab der Verfassung eine Kompetenz in Anspruch nehmen, die selbst der Conseil constitutionnel bei gegebener prozessualer Gelegenheit unter Hinweis auf die Regel "pacta sunt servanda" abgelehnt hatm . 2. Ausschluß auch inzidenter Kontrolle
a) Das Abstimmungsverhalten der französischen Vertreter im Rat
Auch das Verhandlungs- und Abstimmungsverhalten der französischen Regierung bzw. ihrer Vertreter im Rat ist gerichtlicher Kontrolle bislang nicht zugänglich. Diesbezügliche Klagen werden vom Conseil d'Etat als unzulässig abgewiesen, da sie sich gegen "actes de gouvernement" richten, die jeder gerichtlichen Kontrolle entzogen sind354 • So hat der Conseil d'Etat erstmals in einer Entscheidung vom 10.2. 197S 3SS in dem aufgrund seiner späteren Weiterungen bekannt gewordenen CFDT-Fall eine Klage gegen die Entscheidung der Regierung abgewiesen, die Gewerkschaft CFDT nicht rur die Besetzung der Plätze im Beratenden Ausschuß der EGKS vorzuschlagen 356 • Später ist diese Haltung nochmals durch die Abweisung einer Klage gegen das Abstimmungsverhalten der französischen Regie-
des lois, il refusera de contröler celle des conventions (et inversement)." Ähnlich auch Chauvaux / Girardot AJDA 1996, 722 (728). m So der Hinweis von Chauvaux / Girardot AJDA 1996, 722 (727 f). 354 Ausfilhrlicher zu diesem Rechtsinstitut noch unten 5. Kap. B. III. l. b). 3SS CE 10.2.1978 - Confederation franr;aise democratique du travail, Rec. S. 61 = D. 1978 ir 217 m.Anm. Delvolve. 356 Nachdem auch der EuGH die Klage gegen die Nicht-Berücksichtigung als unzulässig abgewiesen hatte (EuGH 17.2.1977 Rs. 66 / 76 - Confederation Franr;aise Democratique du Travail [CFDT] / Rat, Sig. 1977,305), hat die CFDT gegen die Gemeinschaften, hilfsweise gegen die Gesamtheit der in ihr vereinigten Mitgliedstaaten, Beschwerde bei der EKMR erhoben. Die EKMR hat diese Beschwerde mit Entscheidung vom 10.7.1978, Req No 8030/77, Annuaire CEDH 21 (1978), S. 530 = DR 13, S. 231 = 16 CMLRev (1979), 498 m.Anm. Alkema; deutsche Übersetzung in EuGRZ 1979,431 als ratione personae unzulässig zurückgewiesen (eine Beschwerde gegen Frankreich selbst war von vornherein ausgeschlossen, da Frankreich die Individualbeschwerde gern. Art. 25 EMRK erst 1981 zugelassen hat); zum Ganzen Fastenrath EuGRZ 1979,534 ff; Pescatore Melanges Wiarda (1990),441 (447 ff); s. auch noch unten 6. Kap. B.
B. Prozessuale Durchsetzung
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rung im Rat bestätigt worden 357 • Die in der deutschen Literatur vieldiskutierte Frage einer Bindung der nationalen Vertreter im Rat an die nationale Verfassung wird - wohl aufgrund der prozessualen Fruchtlosigkeit entsprechender Erkenntnisse - soweit ersichtlich in der französischen Literatur gar nicht gestellt358 •
b) Nationale Ausführungsverordnungen vor dem Conseil d'Etat: Der traite-ecran Auch auf dem Umweg über eine Kontrolle des nationalen Ausflihrungsrechts am Maßstab der nationalen Verfassung findet eine Kontrolle des Vertrages am Maßstab der Verfassung nicht statt. Vor den Fachgerichten zeigt sich dieses bereits bekannte Phänomen des "ecran communautaire" vor allem im Rahmen der Kontrolle nationaler Verordnungen, die im Regelfall dem Conseil d'Etat obliegt; eine Abschirmung von Gesetzen gegenüber der Verfassungskontrolle durch das Gemeinschaftsrecht ist vor den Fachgerichten anders als vor dem Conseil constitutionnel schon als theoretische Konstellation nicht denkbar, weil die Fachgerichte bereits diese Verfassungskontrolle - von der der "ecran" ausnahmsweise freistellen würde - nicht ausüben 359 • Zudem ergehen eher technisch geprägte Ausfllhrungsregeln z.B. zur Durchfilhrung bereits unmittelbar geltenden Primärrechts oder von EG-Verordnungen nicht durch Gesetz; die innerstaatliche Zuständigkeit zum Erlaß entsprechender Regelungen liegt im Regelfall bei der Exekutive 360, deren Tätigkeit unter der Kontrolle des Conseil d'Etat steht. Gegen nationale Verordnungen und Einzelakte zur Umsetzung gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben ist daher bei Vorliegen eines hinreichenden In-
357 CE Ass. 23.11.1984 - Association "Les Verts", Rec. S. 382; zustimmend zu dieser Entscheidung trotz grundsätzlicher Vorbehalte gegen das Institut des acte de gouvernement Moreau Melanges Loussouarn (1994), 293 (297). 358 Auch in der deutschen Literatur ist die Fragestellung erst im Gefolge von BVerfG 11.4. 1989 - Rundfunkrichtlinie, BVerfGE 80, 74 und BVerfG 12.5.1989 Tabakwerbung, NJW 1989,974 "entdeckt" worden, s. in diesem Zusammenhang etwa Nicolaysen EuR 1989, 2 15 ff; Herdegen EuGRZ 1989, 309 (313 t); Friauf / Scholz Europarecht und Grundgesetz (1990), passim; Streinz Bundesverfassungsgerichtliche Kontrolle (1990), 23 ff; später noch Heintzen Staat 1992, 367 ff. 359 Zu den Folgen etwa in der Frage der Inländerdiskriminierung durch nationales Gesetz s.u. 3. Kap. B. 11. 2. b) cc). 360 Dazu schon oben 3. Kap. A. 11. 2. a); s. auch Kovar Melanges Boulouis (1991), 341 (342).
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3. Kapitel: Verfassungs rechtliche Grenzen der Integration
teresses der nationale Verwaltungs rechtsweg in Form der Anfechtungsklage (recours pour exces de pouvoir) eröffnee61 • In diesem Rahmen findet auch die Rüge Platz, wonach das dem nationalen Rechtsakt zugrundeliegende Gemeinschaftsrecht seinerseits rechtswidrig sei, etwa gegen die Verfassung oder - im Fall von Sekundärrecht - gegen den zugrundeliegenden Vertrag verstoße. Der Conseil d'Etat mußte sich dementsprechend seit den 70er Jahren mit Klagen auseinandersetzen, deren formaler Gegenstand zwar die nationale Ausführungsverordnung war, die sich in der Sache aber gegen bereits in EG-Verordnungen vorgezeichnete Belastungen wandten. Die beiden denkbaren Kategorien von Rügen - Verstoß des Vertrages oder des Sekundärrechts gegen die Verfassung bzw. Verstoß des Sekundärrechts gegen den Vertrag - nehmen dabei ein insgesamt gemeinschaftsrechtskonformes unterschiedliches Schicksal: Während eine inzidente Überprüfung am Maßstab der Verfassung unterbleibt, wird die Frage eines Verstoßes gegen den Vertrag - ggf. in Kooperation mit dem EuGH - in der Sache geprüft362 •
aa) Beschränkung der Kontrolle durch Gemeinschaftsrecht Die Mechanismen im Zusammenspiel zwischen sekundärrechtlichen Vorgaben und nationalen Ausführungsverordnungen zeigten sich erstmals in einer Entscheidung vom 18.1.1974363 : Mit einer gegen ein nationales Dekret zur Festsetzung der Getreidepreise gerichteten Klage wurde hier unter anderem ein Verstoß gegen die nationale Berufsfreiheit geltendgemacht. Der Conseil d'Etat wies diese Rüge mit der Erwägung zurück, daß das nationale Dekret insoweit durch die Vorgaben des Gemeinschaftsrechts gedeckt sei. Erst die darüber hinausgehende Rüge, wonach die betroffene EWG-VO ihrerseits gegen das gemeinschaftsrechtliche Diskriminierungsverbot verstoße, wurde als zulässig akzeptiert und hat zur ersten Gültigkeitsvorlage eines französischen Gerichts an den EuGH geführt.
361
Dazu im Einzelnen unten 5. Kap. B. HI. 2.
362
Dazu im Einzelnen unten 3. Kap. B. H. 4.
CE 18.l.l974 - Union des Minotiers de la Champagne, Rec. S. 40 = D. 1974 jp 739 m.Anm. Boulard = RTDE 1975, 86 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Thery S. 89 und Anm. Colliard S. 83; s. auch Fromont EuR 1975, 334 (343). 363
B. Prozessuale Durchsetzung
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Auch in dem einer Entscheidung vom 22.12.1978 364 zugrunde liegenden Fall machten die Kläger einen Eingriff in die nationale Gewährleistung der Berufsfreiheie 65 durch das angegriffene Dekret geltend. Dieses machte die Verleihung eines weinrechtlichen Gütesiegels von verschiedenen Analysen abhängig, rur die Anordnung einer solchen Beschränkung war nach Ansicht der Kläger aber gemäß Art. 34 366 der Verfassung allein der Gesetzgeber zuständig. Nach den Feststellungen von Regierungskommissar Genevois 367 , denen sich der Conseil d'Etat anschloß, waren die einschlägigen Anforderungen jedoch schon in der zugrundeliegenen EWG-VO enthalten. Den nationalen Behörden war nur noch die Regelung des administrativen Vollzugs der Überprüfungen überlassen; der Eingriff war danach im Grundsatz bereits der EWG-VO zuzurechnen, so daß sich die Frage nach der innerstaatlichen Zuständigkeit insoweit nicht mehr stellte. In einem weiteren FaW68 aus dieser Zeit verlangten die Kläger die Anpassung einer nationalen Verordnung, die nach ihrem Vorbringen durch eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse nach ihrem Erlaß rechtswidrig geworden war, an diese neuen Verhältnisse. Das französische Verwaltungsprozeßrecht erkennt die Möglichkeit einer solchen Klage auf "Normanpassung" grundsätzlich an 369 • In diesem Fall jedoch beruhte die nationale Verordnung auf Vorgaben einer EG-VO, die nicht zur Disposition der Institute des nationalen
364 CE Sect. 22.12.1978 - Syndicat viticole des Hautes Graves de Bordeaux et autres, Rec. S. 526 = RTDE 1979, 727 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Genevois = D. 1979 jp 125 m.Anm. Delvolve = AJDA 3 / 1979, 40. 365 Auf der Ebene des Verwaltungsrechtsschutzes: liberte du commerce et de I'industrie als principe general du droit, dazu Chapus DAG I Rn 347 ff, S. 258 ffm.w.N. Auf verfassungsrechtlicher Ebene entspricht dem die liberte d'entreprendre, die der CC als Teil der allgemeinen Handlungsfreiheit gern. Art. 2 Absatz 2 und Art. 4 der Menschenrechtserklärung schützt, s. den 16. Erwägungsgrund von CC 16.1.1982 No 81132 DC - Nationalisations, Rec. S. 18 = GDCC Nr. 31, S. 444. 366 Art. 34 Satz 2 der Verfassung: "La loi fixe les rt!gles concernant:(I.Spiegeistrich) - les droits civiques et les garanties fondamentales accordees aux citoyens po ur l'exercice des libertes publiques." 367 Schlußanträge RTDE 1979, 717 (720). 368 CE Sect. 27.6.1980 - Syndicat unique des vignerons de I'Aude, Rec. Tables S. 623 = RTDE 1980, 363 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Genevois; s. auch Bonichot RFDA 1989,579(601). 369 Ausführlicher zu dieser sog. Despujol-Rechtsprechung unten 5. Kap. B. III. 2. a)
aal·
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
Verwaltungsprozeßrechts standen. Die Klage mußte daher abgewiesen werden 370 • bb) Verbleibende Kontrollspielräume bei der indirekten Kontrolle Ebenso wie bei der Überprüfung von durch das Gemeinschaftsrecht "veranlaßten" Gesetzen durch den Conseil constitutionnel371 geht die "Abschirmung" des nationalen AusfUhrungsrechts aber auch vor den Fachgerichten, also insbesondere dem Conseil d'Etat, nicht weiter, als die Vorgaben durch das Gemeinschaftsrecht reichen: Die AusfUlIung verbleibender nationaler Handlungsspielräume unterliegt also unbeschränkt den Vorgaben der nationalen Rechtsordnung - im Fall von Rechtsakten der Exekutive also dem gesamten "bloc de legalite" - , dessen Beachtung im Rahmen seiner Zuständigkeit vom Conseil d'Etat gesichert wird. So hat die Entscheidung vom 22.12.1978 zur Aufhebung eines Teils des angegriffenen Dekrets wegen Verstoßes gegen den Gleichheitssatz gefUhrt: Das Dekret hatte - ohne Vorgaben durch die EWGVerordnung und auch sonst ohne nachvollziehbaren Grund - fUr das Inkrafttreten der Kontrollregelung zwischen verschiedenen Fallgruppen zeitlich differenziert. Auch die in dem Dekret vorgesehene Gebührenregelung wurde aufgehoben, da derartige Abgaben nach Art. 34 372 der Verfassung allein durch Gesetz vorgesehen werden können. Auch die Einhaltung der nationalen Verfahrensbestimmungen wird weiterhin überprüft: Verletzungen der nationalen Zuständigkeits- und Verfahrensregeln fUr den Erlaß nationaler AusfUhrungsvorschriften können durch die regelmäßig allein inhalts bezogenen Vorgaben des Gemeinschaftsrechts nicht "gedeckt" werden 373 • 370 Die Möglichkeit, daß auch die EG-VO ungültig geworden sein und damit ihre beschränkende Wirkung verloren haben könnte (was auf Vorlage vom EuGH festzustellen wäre), wird in den Schlußanträgen nicht erwogen; allgemein zur Zurückhaltung des CE hinsichtlich solcher Gültigkeitsvorlagen s.u. 3. Kap. B. 11. 4. a). 371 Dazu oben 3. Kap. B. I. 2. 372 Art. 34 Satz 2 der Verfassung: La loi fixe les regles concemant: (4. Spiegelstrich:) - L'assiette, le taux et les modalites de recouvrement des impositions de toute nature. 373 CE 18.1.1974 - Union des Minotiers de la Champagne, Rec. S. 40 = D. 1974 jp 739 m.Anm. Boulard = RTDE 1975, 86 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Thery S. 89 und Anm. Colliard S. 83; weiter z.B. CE Sect. 11.7.1988 Conseil departernental de I'Ordre des medecins des Alpes-Maritimes c. M. Boucq, Rec. S. 291 = RTDE 1989, 104 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissarin Moreau = RFDA 1989,347 m.Anm. Dubouis zur Umsetzung einer Anerkennungsrichtlinie
B. Prozessuale Durchsetzung
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cc) Nationale Grenzen der vom Gemeinschaftsrecht belassenen Spielräume Diese vom Gemeinschaftsrecht belassenen Spielräume enden rur die Fachgerichte allerdings an den Grenzen, die das nationale Recht ihrer Kontrolle setzt174 : Soweit keine Abschirmung durch das Gemeinschaftsrecht vorliegt, kann danach zwar im Regelfall des Verhalten der Exekutive am Maßstab der nationalen Rechtsordnung gemessen werden. Die Kontrolle nationaler Gesetze in den vom Gemeinschaftsrecht weder positiv - im Sinne einer Abschirmung noch negativ - im Sinne der Vertragswidrigkeit - berührten Bereichen am Maßstab der nationalen Rechtsordnung bleibt dagegen den Fachgerichten derzeit verschlossen 37S, was sich z.B. im Problem feld der Inländerdiskriminierung ("discrimination arebours") auswirkt: Wo sich diese Diskriminierung aus dem Nebeneinander von Gemeinschaftsrecht und nationalem Gesetz ergibt, kann die Diskussion anders als in der deutschen Rechtsordnung nicht auf der Ebene des national-verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes fortgesetzt werden. Das würde die Ausübung der den Fachgerichten nach wie vor verschlossenen Kontrolle des Gesetzes am Maßstab der Verfassung bedeuten 376 • Die ordentlichen Gerichte haben daher zeitweise versucht, diesem Dilemma durch die Konstruktion eines über die Rechtsprechung des EuGH hinausgehenden gemeinschaftsrechtlichen Verbots der Inländerdiskriminierung zu entgehen 377 :
durch eine unzuständige Stelle; zuletzt CE 28.12.1992 - Federation nationale des exploitants d'abattoirs prestataires de service et autres, Rec. S. 459; s. dazu auch Kovar Melanges Boulouis (1991), 342 (347). 374 Zu dieser Konstellation Weber FS OLG Oldenburg (1989), 699 (705 ff), dessen vergleichender Überblick über die Reaktionsmöglichkeiten der Fachgerichte in den verschiedenen Mitgliedstaaten die Lage in Frankreich allerdings erstaunlicherweise nicht erörtert. 375 Zu einer solchen Konstellation s. schon oben 3. Kap. B. I. 2. e) für den Fall von Gesetzen, die zum Zeitpunkt ihrer Überprüfung durch den Conseil constitutionnel durch den Vertrag "abgeschirmt" schienen oder es tatsächlich waren. 376 Dazu z.B. Jeantet CDE 1983, 519 (525 f) sowie umfassend Grelon RTDE 1987, 405 (413 ff). 377 Cass. crim 16.6.1983 - Comite de defense contre I'alcoolisme c. Rossi di Montalera et autres, RTDE 1983, 468 m.Anm. Jsaac = JCP 1983 II 20044 (2. Entscheidung) m.Anm. Decocq; Cass. crim. 16.6.1983 - Procureur general pres la Cour d'appel de Grenoble et autres c. Cambournac, D. 1984 jp 43 m.Anm. Ryziger = JCP 1983 II 20044 (I. Entscheidung) m.Anm. Decocq: das typischerweise Spirituosen aus anderen Mitgliedstaaten diskriminierende - und deshalb insoweit nach den Feststellungen von EuGH 10.7.1980 Rs. 152/78 - Kommission / Frankreich, Sig. 1980,2299 = D. 1982 jp 141 m.Anm. Bergeres vertragswidrige - gesetzliche Werberegime wird auch auf den Vertrieb nationaler Produktion nicht angewandt, die in gleicher Weise betroffen ist;
272
3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
Ein auf den Vertrag gestütztes Diskriminierungsverbot könnte anders als der verfassungsrechtliche Gleichheitssatz auch von den Fachgerichten gegenüber dem Gesetz durchgesetzt werden. Sinnvoll auf national-verfassungsrechtlicher Ebene fortzuführen ist die Beanstandung der Inländerdiskriminierung also nur in den Fällen, in denen neben dem Gemeinschaftsrecht eine nationale Verordnung steht; auch hier besteht in der Sache allerdings wenig Aussicht auf Erfolg, da der insoweit im Regelfall zuständige 378 Conseil d'Etat aufgrund der Unterschiedlichkeit der Situation bisher einen Verstoß gegen den nationalen Gleichheitssatz verneint hatJ79 •
3. Eine offene Flanke: Abweichendes und zugleich jüngeres Verfassungsrecht
Offen ist jedoch die prozessuale Behandlung des "Ausbruchs" aus der Gemeinschaft oder aus einzelnen ihrer Regeln auf der Ebene der Verfassungsänderung: Materiellrechtlich ist dieser Ausbruch wie gesehen dogmatisch möglich, da aus der Perspektive der französischen Rechtsordnung weiter die nationale Verfassung der zentrale Bezugspunkt bleibt. Hinsichtlich der bereits geltenden Verfassungsordnung wird diese Tatsache allerdings dadurch verdeckt, daß eine nachträgliche Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit des Vertrages ausgeschlossen ist. Das muß aber nicht auch für - zeitlich dem Vertrag nachfolgende - Verfassungsänderungen gelten: Eine solche Ablösung des Vertrages durch eine neue Verfassungslage 380 würde vielmehr wohl auch von den Fachgerichten durchgesetzt werden, da sie kein Urteil über die ursprüngliche Verfassungsmäßigkeit des Vertrages beinhaltet, sondern auch als Lösung eines intertemporalen Normenkonflikts mit Hilfe der lex-posterior-Regel erklärt werden kann 381 • Auf kritisch insoweit lsaac Anm. RTDE 1983,470 (483 ff); zustimmend dagegen Decocq Anm. JCP 1983 H 20044; Ryziger Anm. D. 1984 jp 44 (47). 378 Zur Inzident-Verwerfungsbefugnis der Strafgerichte gegenüber Verordnungen s.u. 5. Kap. B. H. 1. 379 s. bereits andeutungsweise CE 20.10.1976 - Syndicat national des industries de I'alimentation animale, Rec. S. 426; deutlich dann CE Ass. 27.7.1979 - Syndicat national des fabricants de spiritueux, Rec. S. 335 = AJDA 11 / 1979, 36 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Genevois = RDP 1980, 219 m.Anm. Drago S. 214; s. weiter CE 25.7.1986 - Ste Sea Land service, Rec. Tables S. 415; CE 3.6.1987 Association professionnelle des guides interpretes, Rec. Tables S. 613. 380
Zur Rechtsfigur der caducite s. bereits oben 3. Kap. B. I. 4. a) bb)
ß).
rehoul AJDA 1995 No special, 43 (61 f); offen Flauss J.-CI. administratifStichwort "autorite du droit international" Rn 43; ders. LPA 1992 Nr. 83,10.7.1992, S. 16 381
B. Prozessuale Durchsetzung
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dem Wege dieser bereits bekannten Erst-recht-Anwendung der lex-posteriorRegel auf Normen unterschiedlichen Ranges wäre die jüngere Verfassungsbestimmung als lex posterior gegenüber dem Vertrag und damit letzterer als "caduc" anzusehen. Entsprechend dem bisherigen Einsatz der Rechtsfigur der Caducite ist aber anzunehmen, daß eine solche Situation nur in den Fällen zugrundegelegt würde, in denen der Wille des verfassungsändemden Gesetzgebers zum Ausbruch aus dem Vertrag eindeutig erkennbar geworden istl 82 • Angesichts der Grundaussage zugunsten der Europäischen Integration im neuen Art. 88-1 der Verfassung ist darüber hinaus für den Fall des Gemeinschaftsrechts davon auszugehen, daß jede scheinbar mit ihm in Konflikt tretende Verfassungsänderung, die nicht zugleich auch Art. 88-1 ändert, im Licht dieser Bestimmung zu interpretieren ise 83 : Die systematische Auslegung wird dann ergeben, daß ein Ausbruch nicht beabsichtigt war.
4. Gemeinschaftsrechtswidriges Sekundärrecht vor den Fachgerichten
a) Der Regelfall: Eine problemlose Zusammenarbeit mit dem EuGH Vor den Fachgerichten muß die Rüge der Gemeinschaftsrechtswidrigkeit von Sekundärrecht natUrIich zulässig sein. Dies gehört sogar zu den Vorgaben des Gemeinschaftsrechts an die nationale Rechtsordnung384, da der als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts anerkannte Anspruch des Einzelnen auf Rechtsschutz durch den eng beschränkten direkten Zugang zu
(20) sowie bereits Dubouis AFDI 1971, 9 (48); s. auch den Diskussionsbeitrag von Isaac in: Conac / Maus (1990), 126 f zur Frage, ob die Römischen Verträge als durch die Verfassung von 1958 auf diese Weise überholt angesehen werden könnten. 382 So auch Dubouis AFDI 1971, 9 (48). 383 Zum Potential des Art. 88-1 der Verfassung s. bereits oben 3. Kap. B. I. 4. b) bb)
ß)· 384 Generell zum Rechtsschutz-Anspruch vor den nationalen Gerichten s. EuGH 15.6.1986 Rs. 222 / 84 - Marguerite lohnston gegen Chief Constable of the Royal Ulster Constabulary, Sig. 1986, 1651; EuGH 15.10.1987 Rs. 222/86 - Union nationale des entraineurs et cadres techniques professionnels du football (Unectet) gegen Georges Heylens und andere, Sig. 1987, 4097; bes. deutlich später noch EuGH 3.12.1992 Rs. C-97 / 91 - Oleificio Borelli SpA / Kommission, Sig. 1992, I - 6313 und dazu Garcia de Enterria 13 YEL (1993), 19 ff; zu den Grenzen der Beanstandung bereits "bestandskräftigen" Sekundärrechts vor den nationalen Gerichten s. allerdings EuGH 9.3.1994 Rs. C-188 / 92 - Textilwerke Deggendorf, Sig. 1994, I - 833.
18 Gundei
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
EuG und EuGH allein nicht gewährleistet werden kann lKS • Aus der Sicht der französischen Rechtsordnung ist diese gemeinschaftsrechtsinterne Hierarchie von Primär- und Sekundärrecht als Abstufung innerhalb der Ebene des Art. 55 der Verfassung in die nationale Normenhierarchie integriert. Zugleich beachten die Fachgerichte dabei aber die ihnen durch das Gemeinschaftsrecht gesetzten Grenzen: Es ist keine Entscheidung bekannt, die etwa in Anwendung der "acte-clair-Doktrin" in eigener Initiative und Autorität, also ohne Vorlage an den EuGH, Sekundärrecht als primärrechtswidrig "verworfen" hätte 386 • Im Fall ernsthafter Zweifel an der Gültigkeit von Sekundärrecht wird hier zuverlässig das Vorlageverfahren eingesetzt3K7 ; bestehen solche Zweifel nicht, entscheiden die nationalen Gerichte in zulässiger Weise selbstlu. Tatsächlich treten solche Zweifel sogar fast zu selten auf: So hat der Conseil d'Etatl 89 etwa eine Anfechtungsklage gegen eine nationale Verordnung
38S Die innere Legitimation einer engen Auslegung von Art. 173 Abs. 4 EGV steht und Billt mit der dem Einzelnen einzuräumenden Möglichkeit, die Ungültigkeit von Sekundärrecht statt mit der damit im Regelfall unzulässigen Nichtigkeitsklage durch ein Verfahren vor den nationalen Gerichten geltendzumachen und auf diese Weise eine Vorlage an den EuGH auszulösen; s. zu diesem Zusammenhang etwa Nihoul RTDE 1994,171 (188 ff). 386 Flauss LPA 1992 Nr. 85, 15.7.1992, 17 (20) hält die Anwendung dieser Doktrin auch auf die Frage der Gültigkeit von Sekundärrecht immerhin fllr nicht ausgeschlossen. 387 Erstmals CE 18.1.1974 - Union des Minotiers de la Champagne, Rec. S. 40 = D. 1974 jp 739 m.Anm. Boulard = RTDE 1975,86 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Thery u. Anm. Colliard; s. auch Fromont EuR 1975, 334 (343); später etwa CE 15.10.1982 - Ste Roquette freres, Rec. S. 350 = RTDE 1983, 170 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Genevois S. 164; CE 22.4.1988 - Assoc. generale des producteurs de ble et autres cereales, Rec. S. 151.
m s. etwa CE Sect. 12.12.1986 - Ste Jean Lion et Cie, Rec. S. 280 = RFDA 1987, 503 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Vigouroux S. 496: " ... dans la mesure OU la societe entend soutenir que les autorites communautaires ... auraient meconnu les dispositions du droit communautaire, elle ne fait pas valoir, a I'appui de cette affirmation, d'elements suffisants pour justifier un renvoi prejudiciel de la question a la cour de justice des communautes europeennes;" CE 25.5.1990 - Federation Rhöne-Alpes de protection de la nature c. Federation departementale des chasseurs de l'Isere et autres, Rec. S. 133 = AJDA 1990, 730 m.Anm. Le Mire: die Rüge des Jägerverbandes, nach der die Voge1schutzrichtlinien der EG kompetenzwidrig erlassen worden seien, wird mit der Begründung zurückgewiesen, daß diese Kompetenz sich eindeutig (!) aus Art. 235 EWGV ergebe. Ebenso nochmals CE 29.6.1990 - Secretaire d'Etat charge de l'Environnement et Union nationale de defense des chasses traditionnelles, RJE 1991, 49 m.Anm. Janin. m CE 20.12.1991 - Devienne, Rec. S. 456.
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abgewiesen, die auf eine "Notverordnung" der Kommission 390 zur Festsetzung der Getreidepreise zurückging; die Frage nach der Gültigkeit dieser Kommissionsverordnung hat der Conseil d'Etat dabei selbst im positiven Sinne beantwortet. Die vom EuGH bisher nicht geklärte Frage der gemeinschaftsrechtlichen Ersatzzuständigkeit der Kommission im Fall der Handlungsunflihigkeit des Rates wäre durchaus eine Vorlage wert gewesen 391 • Hat der EuGH einmal über die Gültigkeit des Sekundärrechts mit negativem Ergebnis entschieden, so ziehen die nationalen Gerichte aus diesem Ergebnis auch in komplizierteren Konstellationen zuverlässig die nötigen Folgerungen für die entsprechenden nationalen Rechtsakte. So ist, nachdem der EuGH eine sekundärrechtliche Ermächtigung zur Erhebung von nationalen Einfuhrabgaben auf Wein im innergemeinschaftlichen Verkehr rur nichtig erklärt hatte 392 , auch die in Nutzung dieser Erlaubnis ergangene nationale Verordnung vom Conseil d'Etatl 93 als (primär-) rechtswidrig aufgehoben 394 worden. Schwierigkeiten bereitet dem französischen Verwaltungsprozeßrecht in diesem Zusammenhang allein das Fehlen einer verwaltungsgerichtlichen Generalklausel: Verweist die nationale Verwaltung nur nachrichtlich auf im gelten-
VO 2124 / 85 v. 26.7.1985, ABI EG 1985 L 198 / 31. In einem vergleichbaren Fall war EuGH 19.5.1982 Rs. 84 / 81 - Staple Dairy Products Ltd gegen Intervention Board for Agricultural Produce, Slg. 1982, 1763 einer Antwort unter Verweis auf die inzwischen rückwirkend erfolgte Übernahme der Kommissions-Lösung durch RatsVO ausgewichen; Generalanwalt Slynn hatte in diesem Verfahren die Kommissionspraxis jedenfalls im konkreten Fall als rechtswidrig angesehen; zum Problem s. aus Anlaß eben der vom CE als rechtmäßig erachteten Verordnung Karpenstein GS Geck (1989), 405 ff; zuletzt Mercadier-Francisci RTDE 1994, 579 (593 ff); de Majo DCSI 1994, 13 ff. 392 EuGH 20.4.1978 verb. Rs. 80 u. 81 / 77- Societe les Commissionnaires Reunis SarI gegen Receveur des douanes; SarI Les fils de Henri Ramel gegen Receveur des douanes, Sig. 1978, 927. 393 CE 1.3.1985 - Les Docks viticoles nantais et S.A. Friedrich et compagnie, Rec. Tables S. 514 = AJDA 1985, 380 m.Anm. Boulouis: "... iI resulte de I'arret de la Cour de justice des Communautes europeennes No 80 et 81/ 77 en date du 20 avril 1978 que les possibilites de derogation ouvertes par ce paragraphe [sc: du reglement] ne sont pas conforrnes aux stipulations du traite de Rome; ... des lors qu'une teile faculte de derogation n'etait pas ouverte, les requerants so nt fondes a soutenir que le decret attaque est entache d'ilh~galite et a en demander par ce motif I'annulation;" Zur Rückerstattung der auf dieser Grundlage bereits erhobenen Abgaben s. CA Lyon 30.11.1978 - SARL Les Fils de Henri Ramel c. Administration des douanes et droits indirects, D. 1979 jp 371 m.Anm. Berr = Gaz. Pa\. 1979, I, 178 sowie Jsaac in: Les effets (1983), 10 I (118 ft). 394 Zu gemeinschaftsrechtwidrigen Rechtsakten der Exekutive und ihrer Behandlung durch den CE s. noch unten 5. Kap. B. IlI. 390 391
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3. Kapitel: Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration
den Sekundärrecht enthaltene Verbote, ohne eine eigene (Verbots-) Entscheidung zu treffen, so fehlt der Ansatzpunkt für eine Anfechtungsklage (recours pour exces de pouvoir) und damit die Möglichkeit eines nationalen Ausgangsverfahrens, in dessen Rahmen die Gültigkeit des Sekundärrechts inzident geprilft und in der Folge ggf. dem EuGH vorgelegt werden könnte 395 • Dem Problem könnte freilich bereits durch eine großzügigere (gemeinschaftsrechtskonforme) Auslegung der nationalen Zulässigkeitsvoraussetzungen wirksam begegnet werden 396 • b) Ein Ausnahmefall: Der Konflikt um die temporale Wirkung der Nichtigkeitsentscheidungen des EuGH
Erhebliche Konflikte hat allerdings die Rechtsprechung des EuGH zur Möglichkeit einer Begrenzung der zeitlichen Wirkung von Ungültigkeitserklärungen auch im Rahmen von Vorabentscheidungen nach Art. 177 EGV 397 ausgelöst: Anders als die Cour de cassation, die den Ausspruch des EuGH mißachtende Entscheidungen der Instanzgerichte korrigiert hat398 , wollte der Conseil d'Etatl 99 nicht nur die als unbillig erscheinenden Ergebnisse dieser
395 S. zu diesem Problem die eindrücklichen Schlußanträge von Regierungskommissar Delarue zu CE 10.7.1995 - Syndicat des embouteilleurs de France, Rec. S. 30 I = RFDA 1996, 1231 mit den Schlußanträgen S. 1221. Im deutschen Verwaltungsprozeß wird die hier erkennbare Lücke durch die Feststellungsklage geschlossen, s. zu einem vergleichbaren Fall aus dem Weinwirtschaftsrecht den im Rahmen einer Feststellungsklage ergangenen Vorlagebeschluß des VG Mainz 25.3.1993, EuZW 1993,648 (nur Leitsatz), der zu der Entscheidung EuGH 13.12.1994 Rs. C-306 / 93 - SMW Winzersekt gegen Land Rheinland-Pfalz, Sig. 1994, I - 5555 geführt hat. 396 In diesem Sinne die Schlußanträge von Regierungskommissar De1arue (s. vorige Fn), RFDA 1996, 1221 ff; CE 10.7.1995 - Syndicat des embouteilleurs de France, Rec. S. 301 = RFDA 1996, 1231 ist dem allerdings nicht gefolgt, sondern hat die Klage als unzulässig abgewiesen. 397 Erstmals EuGH 15.10.1980 Rs. 4 / 79 - Societe Cooperative "Providence agricole de la Champagne" gegen Office National Interprofessionnel des Cereales (ONIC), Slg. 1980, 2823; EuGH 15. 10.1980 Rs. 109 / 79 - Sari MaYseries de Beauce gegen ONIC, Slg. 1980,2883; EuGH 15.10.1980 Rs. 145/79 - SA Roquette Freres gegen Französischer Staat, Sig. 1980, 2917. 398 Cass. com. 10.12.1985 - Administration des douanes C. S.A. Roquette Freres, RTDE 1986, 159 m.Anm. Masclet = D. 1986 jp 250 m.Anm. Le Tallec = AJDA 1986, 269 m.Anm. Boulouis gegen die Vor instanzen CA Douai 19.1.1983, Gaz. Pa\. 1983, 1, 292 m.Anm. Laurent und TI Lilie 15.7.1981, D. 1982 jp 9 m.Anm. Boulouis. 399 CE Sect. 26.7.1985 - ONIC C. Ste MaYseries de Beauce, Rec. S. 233 = AJDA 1985,615 mit den abweichenden Schlußanträgen von Regierungskommissar Genevois
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Rechtsprechung400 nicht akzeptieren, sondern meldete grundsätzliche Bedenken an: Mit dieser Rechtsprechung habe der EuGH seine Kompetenzen überschritten; der EuGH habe nur das Recht, die Ungültigkeit des Sekundärrechtsakts festzustellen. Ihm fehle aber die Befugnis, die sich aus dieser Feststellung ergebenden Folgen festzulegen oder gar gestaltend zu regulieren. Auch in der französischen Literatur ist die Rechtsprechung des EuGH auf verbreitetes Unverständnis gestoßen40I , während sie in der deutschen Literatur kaum Aufsehen erregt hat402 • Zu erklären ist diese unterschiedliche Rezeption wohl durch die Tatsache, daß das Problem der zeitlichen Dimension von Normenkontrollentscheidungen im internen französischen Recht entweder nicht existiert oder von anderen, nicht-gerichtlichen Organen geregelt wird, während die deutsche Literatur an entsprechende "Gestaltungs"-Entscheidungen nicht nur des BVerfG "gewöhnt" ist: Im Rahmen der Verfassungskontrolle der Gesetze kann das Problem in der französischen Rechtsordnung bislang nicht auftreten, da die präventive Kon-
RTDE 1986, 157 mit den Schlußanträgen S. 145 u.Anm. Masclet S. 161; CE 13.6.1986 - ONIC c. Ste des produits du maIs, RTDE 1986,542 mit den abweichenden Schlußanträgen von Regierungskommissar Bonichot S. 533; zu diesen Entscheidungen auch Constantineseo / Simon / Soler-Couteaux RTDE 1988, 87 ff. 400 Der EuGH hat dieser verbreiteten Kritik inzwischen dadurch Rechnung getragen, daß er nunmehr den Kläger des Ausgangsverfahrens sowie alle anderen Betroffenen, die zum Zeitpunkt seiner Entscheidung bereits Verfahren eingeleitet hatten, von der Beschränkung auf die Zukunft ausnimmt; so bereits die Andeutung in EuGH 27.2.1985 Rs. 112 / 83 - Societe des Produits de maIs SA gegen Administration des douanes et droits indirects, Slg. 1985, 719 Tz 18 und den diesbez. Hinweis in den Schlußanträgen von Regierungskommissar Bonichot zu CE 13.6.1986 - ONIC c. Ste des produits du maIs, RTDE 1986, 533 (541). Nach einem vergeblichen Anlauf (EuGH 30.5.1989 Rs. 20 / 88 - SA Roquette freres / Kommission, Slg. 1989, 1553) ist diese Modifikation schließlich in einem Parallel fall auch der Roquette SA zugutegekommen, die 1985 vor der Cour de cassation (s.o. Fn 398) im Gefolge der damaligen EuGH-Rechtsprechung leer ausgegangen war, s. EuGH 26.4.1994 Rs. C-228 / 92 - Roquette Freres SA gegen HZA Geldern, Slg. 1994, I - 1445; so auch schon die Prognose von Everling FS Börner (1992), 57 (70). 401 Symptomatisch Boulouis Anm. D. 1982 jp 10 (12); ders. Melanges Teitgen (1984),23 (28 f); deutlicher noch ders. Anm. AJDA 1986,270: derartige Entscheidungen seien Aufgabe der Legislative; ebenso Le Mire Melanges Chapus (1992), 367 379 f); s. auch Abraham Droit international S. 173 ff; Labayle RTDE 1982, 484 (506 ff). Dagegen wirbt [saae CDE 1987, 444 ff mit zahlreichen rechtsvergleichenden Hinweisen auf die Praxis der deutschen und italienischen Verfassungsgerichtsbarkeit, aber auch auf die Übung des "prospective overruling" im Common-Law-Rechtskreis um Verständnis für die Position des EuGH. 402 So die Feststellung von Everling FS Börner (1992), 57 (62).
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3. Kapitel: Verfassungs rechtliche Grenzen der Integration
trolle durch den Conseil constitutionnel noch nicht geltende, also auch noch nicht angewandte Gesetze betrifft403 . Bei der Kontrolle normativer Rechtsakte der Exekutive durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit, insbesondere im Rahmen der Inzident-Kontrolle der Rechtsgrundlage bei der Überprüfung von Einzelfallentscheidungen (exception d'illegalite404 ), kann sich der Konflikt zwischen materiellem Recht und Rechtssicherheit zwar stellen; gelöst wird er aber grundsätzlich nicht durch den Richter, der die zugrunde liegende Verordnung vielmehr als von Anfang an rechtswidrig behandelt405 . Sofern ein entsprechender politische Wille besteht, greift statt dessen der Gesetzgeber ein und billigt nachträglich und rückwirkend entweder die beanstandete Verordnung selbst oder die auf dieser unwirksamen Rechtsgrundlage ergangenen AusfUhrungsverordnungen und Einzelakte mittels einer sogenannten "validation legislative"406. Das mit der Regulierung der zeitlichen Wirkung des normverwerfenden Urteils unbestreitbar verbundene Element politischer Gestaltung ist also - entsprechend dem traditionellen französischen Bild von der Funktion des Richters407 - nicht bei den Gerichten angesiedelt408 , sondern dem Gesetzgeber als Badinter I Genevois I Vedel RFDA 1987,844 (857 ff). 404 Zu diesem Mechanismus noch unten 5. Kap. B. III. 2. 405 s. nur Chapus Contentieux administratif Rn 889, S. 733, der auch den Unterschied zur Lage im Gemeinschaftsrecht hervorhebt. 406 So auch der Hinweis in den Schlußanträgen von Regierungskommissar Genevois RTDE 1986, 145 (157); zu diesem Rechtsinstitut Chapus Contentieux administratif Rn 929 ff, S. 766 ff sowie umfassend Mathieu Validations legislatives (1987), passim; zuletzt ders. RFDA 1995, 780 ff; aus der deutschsprachigen Literatur Classen Europäisierung S. 98; Schlette Kontrolle S. 72 sowie bereits Ress JöR n.F. 23 (1974), 121 (167). 407 Auch die parallele Problematik der Rückwirkung einer neuen Linie der Rechtsprechung und ihrer Begrenzung wird in der französischen Literatur kaum behandelt, denn auch eine vollständige Neuorientierung wird als· erstmalige· Erkenntnis bereits zuvor geltenden Rechts eingeordnet, s. dazu plastisch Vedel in: Blaurock (Hrsg.), 75 (77); s. aber immerhin Rivero AJDA 1968, 15 ff und in neuerer Zeit Mouly JCP 1994 I 3776; die Begrenzung der Rückwirkung einer neuen Auslegung durch EuGH 8.4.1976 Rs. 43 / 75 • Gabrielle Defrenne gegen Soch~te anonyme beige de navigation aerienne Sabena (Defrenne 11), Slg. 1976, 455 ist in der französischen Literatur anders als die späteren Entscheidungen zur Begrenzung der Rückwirkung der Ungültigkeit aber auch nicht auf Widerspruch gestoßen. 408 Auch das französische Verwaltungsprozeßrecht kennt Mechanismen, die diesen Konflikt unabhängig von einem Eingreifen des Gesetzgebers abmildern, wie etwa die Bestandskraft von Einzelfallentscheidungen, s. dazu den Hinweis in den Schlußanträ· gen von Regierungskommissar Bonichot RTDE 1986, 533 (542); in den Schlußanträ· gen von Regierungskommissar Genevois RTDE 1986, 145 (156); s. auch Simon Liber 403
B. Prozessuale Durchsetzung
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politischem Entscheidungsträger anvertraut4()9. Seine Entscheidung ist allerdings wiederum der Kontrolle durch den Conseil constitutionnel41O unterworfen, der inzwischen eine reichhaltige Rechtsprechung zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an diese "lois de validation" entwickelt hat4ll • In neuerer Zeit ist allerdings die Vermutung geäußert worden, daß der Conseil d'Etat, der zu dieser Problematik seit 1986 nicht mehr Stellung nehmen konnte, auch angesichts der Entwicklungen in der Rechtsprechung des EuGH
Amicorum Pescatore (1987), 651 (655); Bonichot RFDA 1989, 579 (591); Genevois, Diskussionsbeitrag in: Conac / Maus (1990), 122; sowie unten 5. Kap. B. III. 2.; zu weitgehend allerdings Everling FS Börner (1992), 57 (62). 409 So ausdrücklich die Kritik von Le Mire Melanges Chapus (1992), 367 (379 f): " ... I'attitude de la Cour ... correspond tout simplement a une 'validation' du reglement reconnu illegal, la Oll dans les systemes nationaux cette besogne est reservee au legislateur.... Meme si I'on doit admettre la necessite de proceder a de teiles validations, iI est c1air que la n'est pas le röle du juge." Interessanterweise geht der EuGH rur das Gemeinschaftsrecht davon aus, daß beide Wege sich nicht ausschließen: hat der EuGH von der Möglichkeit, die Ungültigkeit des Rechtsakts zeitlich zu begrenzen, keinen Gebrauch gemacht, so kann dennoch der Rat den Rechtsakt rückwirkend erneut erlassen, wenn die Vorgaben des Gemeinschaftsrechts nunmehr eingehalten sind und der Vertrauensschutz nicht entgegensteht, so EuGH 30.9.1982 Rs. 108 / 81 - G. R. Amylum / Rat, Sig. 1982, 3107; EuGH 13.11.1990 Rs. C-331 / 88 - Fedesa u.a., Sig. 1990, 1-4025. 410 Soweit die "validation legislative" sich über völkerrechtliche Verträge hinwegzusetzen sucht, obliegt die Kontrolle allerdings den Fachgerichten, dazu unten 4. Kap. B. 11.3. d) aa) sowie die Nachw. in der folgenden Fn. 411 Die rückwirkende Validation ist danach nicht zu beanstanden, wenn sie im öffentlichen Interesse liegt und die von den Fachgerichten bereits rechtskräftig entschiedenen Einzelfälle nicht berührt, s. nur Rousseau Contentieux constitutionnel S. 220 ff; Chapus Contentieux administratif Rn 932, S. 768 f sowie zuletzt CC 28.12.1995 No 95-369 DC - Loi de finances pour 1996, Rec. S. 257 = JORF 31.12.1995, S. 19099 = RFDC 1996, 119 m. Anm. Philip; CC 9.4.1996 No 96-375 DC - Loi portant diverses dispositions d'ordre economique et financier, JORF 13.4.1996, S. 5730 = RDP 1996, 1159 m.Anm. Pretot S. 1147 = RFDC 1996, 598 m.Anm. Gai'a; zu bei den Entscheidungen s. auch Rousseau RDP 1997, 13 (49 fl). Auch ein Verstoß gegen Art. 6 und 13 EMRK unter den Gesichtspunkt einer Einflußnahme auf den Ausgang laufender Gerichtsverfahren wird unter diesen Bedingungen verneint von Cass. soc. 15.2.1995 - PrUet de la region Lorraine et autre c. M. Grinwald, AJDA 1995, 579 m. Anm. Pretot; ebenso jetzt Cass. Ass. plen. 14.6.1996 Kloeckner, JCP 1996 11 22692 mit den Schlußanträgen von Generalanwalt Monnet = Dr. fisc. 1996 No 986, S. \031 mit den Schlußanträgen = RJF 8 / 1996 No 1118, S. 631.
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die nächste sich bietende Gelegenheit nutzen wird, um diese Divergenz mit der Rechtsprechung des EuGH auszuräumen 4l2 • Auf der anderen Seite hat der Conseil d'Etat in Übereinstimmung mit der freilich erst später entwickelten - Rechtsprechung des EuGH 413 festgestellt, daß den nationalen Behörden kein - haftungsauslösender - Vorwurf zu machen ist, wenn sie Sekundärrecht anwenden, das sich später als primärrechtswidrig erweist414 : Dies impliziert, daß auch nach Ansicht des Conseil d'Etat den nationalen Behörden insoweit415 keine Normverwerfungskompetenz zusteht416 •
III. Zusammenfassung Der materiell bestehende Vorrang der Verfassung vor den Verträgen wird danach heute im Konfliktfall weder vom Conseil constitutionnel noch von den Fachgerichten durchgesetzt: Der Conseil constitutionnel beschränkt sich auf eine präventive Prüfung des Vertrages (Art. 54 der Verfassung) oder des seine Ratifikation billigenden Gesetzes (Art. 61 der Verfassung); mögliche Gelegenheiten zur inzidenten Kontrolle geltender Verträge etwa aus Anlaß der 412
So Bonichot AJDA 1996 No special, 15 (\6).
Speziell zur Haftung der nationalen Behörden EuGH 13.2.1979 Rs. 101 /78 Granaria BV gegen Hoofdproduktschaft voor Akkerbouwprodukten, Slg. 1979, 623; EuGH 26.2.1986 Rs. 175 / 84 - Krohn & Co. Import-Export / Kommission, Slg. 1986, 753; EuGH 29.9.1987 Rs. 81 / 86 - De Boer Buizen BV / Rat und Kommission, Slg. 1987,3677; allgemein zum Verwerfungsmonopol des EuGH s. EuGH 22.10.1987 Rs. 314/ 85 - Foto Frost gegen HZA Lübeck-Ost, Slg. 1987, 4199. 413
414 CE 5.11.1971 - Comptoir agricole du Pays bas-normand, Rec. Tables S. 941 = RGDIP 1972, 910 m.Anm. Rousseau = D. 1973 jp 481 m.abI.Anm. Grimaux; zustimmend dagegen Dubouis AFDI 1971, 9 (25 f); Rideau D. 1974 chr. 147 (150 f); Boulard Anm. D. 1974 jp 741 (742) sowie die Schlußanträge von Regierungskommissar Genevois zu CE 28.6.1985 - ONIC c. Societe Marseries de Beauce, RTDE 1986, 146 (\50); s. auch Scoffoni CDE 1990,574 (603 f). Anders wäre die Lage natürlich, wenn die Kläger nicht Schadenersatz, sondern Erstattung der auf (angeblich) nichtiger Basis entrichteten Zahlungen verlangt hätten: dann wäre bei ernsthaften Zweifeln an der Gültigkeit des Sekundärrechts eine Vorlage unausweichlich gewesen. 415 Zur Normverwerfungskompetenz der Behörden im Fall gemeinschaftsrechtswidriger nationaler Gesetze s. u. 4. Kap. B. 11. 2. c) fIlr die Rechtsprechung der Cour de cassation und 4. Kap. B. 11. 3. d) cc) bzw. e) dd) fIlr den CE; fur gemeinschaftsrechtswidrige nationale Verordnungen unten 5. Kap. B. III. 416 Auch der BGH hat sich dem nun angeschlossen, s. BGH 11.3.1993 - Milchquoten, EWS 1993,222 = NJW 1993,449 = DVBI 1993,717; BGH 27.1.1994 - IrakEmbargo, BGHZ 125,27 = EuZW 1994,219 m.Anm. Ress = JZ 1994, 726 m.Anm. Herdegen = NJW 1994, 858.
B. Prozessuale Durchsetzung
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Überprüfung nationaler Umsetzungs gesetze oder von Änderungsverträgen werden - anders als nach der Entwicklung im internen Recht - gegenüber den Verträgen unter Berufung auf die Regel "Paeta sunt servanda" nicht wahrgenommen. Die Fachgerichte ihrerseits schließen traditionell die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit völkerrechtlicher Verträge aus; bestärkt wird diese Haltung unter der 5. Republik durch die präventive Zuständigkeit des Conseil constitutionnel, die als ausschließlich anzusehen ist. Eine Erweiterung der Kontrolle durch die Fachgerichte erscheint danach nur in dem von der Zuständigkeit des Conseil constitutionnel nicht abgedeckten Bereich der ohne gesetzliche Zustimmung abgeschlossenen Verträge möglich, der wiederum das Gemeinschaftsrecht nicht betrifft. Auch im Falle der Erweiterung der Kontrollmöglichkeiten durch Verfassungsänderung, also der Einführung der "exception d'inconstitutionnalite", ist eine Einschränkung des Geltungsanspruchs des Gemeinschaftsrechts nicht zwingend: Zum einen besteht die Möglichkeit, daß die völkerrechtlichen Verträge - wie auch schon in der Rechtsprechung des Conseil constitutionnel - von dieser Entwicklung ausgenommen werden. Selbst wenn dies aber nicht der Fall wäre und eine nachträgliche Überprüfung der Verträge am Maßstab der Verfassung möglich würde, so würde dies zwar andere völkerrechtliche Verträge, nicht aber notwendigerweise auch das Gemeinschaftsrecht gefahrden: Der neue Art. 88-1 der Verfassung kann dahin ausgelegt werden, daß das Gemeinschaftsrecht als solches zwar nicht selbst Verfassungsrang erhalten hat, aber - einschließlich des Sekundärrechts - generell als verfassungskonform anzusehen ist. Einzig der gezielte Ausbruch aus der Gemeinschaft im Wege der Verfassungsänderung ist danach nach den Maßstäben der internen Rechtsordnung möglich und auch vor den nationalen Gerichten durchsetzbar.
4. Kapitel
Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber nationalen Gesetzen A. Der materiellrechtliche Vorrang des Gemeinschaftsrechts I. Begründung und Wirkung des Vorrangs 1. Begründung
Basis des Vorrangs der Gemeinschaftsverträge vor den Gesetzen in der innerstaatlichen Rechtsordnung ist Art. 55 der Verfassung von 1958, der diesen Vorrang generell tUr alle völkerrechtlichen Verträge, also nicht nur das Gemeinschaftsrecht, anordnet und gleichzeitig mit Bedingungen versieht. Der Versuch, das Gemeinschaftsrecht einem gesonderten Status zuzuordnen und seinen Vorrang in der französischen Rechtsordnung allein aus dem Gemeinschaftsrecht selbst und seiner Eigenständigkeit zu begründen, ist zwar auch in der französischen Literatur vertreten); er hat sich aber weder vor den Gerichten noch in der Literatur durchsetzen können. Weiter ist festzuhalten, daß Art. 55 allein den Rang völkerrechtlicher Verträge im Verhältnis zum nationalen Gesetz betrifft. Mit den besonderen Mechanismen der europäischen Integration und ihren verfassungsrechtlichen Schranken besteht insoweit kein Zusammenhang, insbesondere stellt Art. 55 ) s. etwa die Schlußanträge von Generalanwalt Touffait zu Cass. eh. mixte 24.5.1975 - Cafes Jacques Vabre (ausführlich u. m.w.N. unten 4. Kap. B. 11. 2. a); Rohmer / Teitgen RMC 1976, 381 ff sowie aus neuerer Zeit die unten (4. Kap. B. 11. 3. d) aal bei Fn 400) nachgewiesenen Stellungnahmen zur Nicolo-Entscheidung; begründet wird diese Beschränkung auf eine spezifisch gemeinschaftsrechtliche Begründung vor allem in den älteren Stellungnahmen mit der Befürchtung, daß der Rekurs auf nationale Ranganordnungen vielleicht für Frankreich zu befriedigenden Ergebnissen führen könne, im übrigen aber divergierende Ergebnisse in anderen Mitgliedstaaten begründen könnte, deren Rechtsordnung den "klassischen" völkerrechtlichen Verträgen eine weniger vorteilhafte Stellung zuweist. Verkannt wird dabei, daß das von der Gemeinschaftsrechtsordnung vorgegebene Ergebnis für alle Mitgliedstaaten identisch ist. Allein der Weg dorthin ist den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen freigestellt, s. bereits o. 1. Kap. B.
A. Materiellrechtlicher Vorrang
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der Verfassung keinen - wie auch immer zu verstehenden - "Integrationshebel" nach deutschen Vorstellungen dar, wie dies von deutschen Beobachtern auch heute noch vielfach wahrgenommen wird 2• Die maßgebliche Rechtsprechung insbesondere des Conseil constitutionneP zum Verhältnis zwischen Vertrag und Gesetz und zu seiner eigenen Rolle bei der Durchsetzung des Vorrangs ist denn auch nicht zur Frage der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts entwickelt worden, sondern bezog sich auf die EMRK, um später unterschiedslos auch auf das Gemeinschaftsrecht angewandt zu werden. Auch die bekannte, eine Durchsetzung des Vorrangs gegenüber dem jüngeren Gesetz ablehnende frühere Rechtsprechung4 des Conseil d'Etat war vielleicht atmosphärisch auch durch Vorbehalte gegenüber der europäischen Integration bedingt, deren Verfassungsmäßigkeit allerdings schon aus Respekt vor dem zur Billigung der Ratifikation ergangenen Gesetz nicht mehr in Frage gestellt werden konnte 5 - in ihrer Begründung und in ihren Folgen traf sie alle völkerrechtlichen Verträge Frankreichs. 2. Wirkung
Über die Wirkung des Vorrangs des Vertrages auf das widersprechende Gesetz besteht bisher keine endgültige Klarheit: Hinsichtlich älterer Gesetze wird überwiegend traditionell angenommen, daß sie durch den nachfolgenden Vertrag implizit aufgehoben und damit endgültig beseitigt sind6 ; es handelt sich hier um die bereits an anderer Stelle 7 festgestellte Anwendung des lex-
2 So etwa Weber FS OLG Oldenburg (1989), 699 (709); ders. FS Benda (1995),421 (422, 435); Commichau Gemeinschaftsverfassung (1995), 82 ff. 3 Dazu unten 4. Kap. B. 11. 1. 4
5
Dazu ausfllhrlich unten 4. Kap. B. 11. 3. s. bereits oben 3. Kap. B. 11. 1.
6 CM. / F.D. / YA. AJDA 1991, 91 (101); Constantinesco / Jacque in: Koenig/ Rüfner (1985), 175 (204); Schlußanträge von Regierungskommissar Massot zu CE Ass. 8.4.1987 - Ministre de l'lnterieur c. Pe1tier, Rec. S. 128 (133): "L'entree en vigueur d'une convention posterieure cl une loi qu'elle contredit directement entraine l'abrogation du texte de droit interne." Questiaux in: Reuter (Hrsg.), 63 (67 f); Teitgen in: La France et les CE (1975), 811 (818); s. auch Boulouis RGDIP 1990,91 (95), der jedenfalls fllr den Fall auf Dauer angelegter Verträge die Abrogation vorzieht; offen Abraham Droit international S. 104; fllr ein "Wiederaufleben" des älteren nationalen Gesetzes nach Wegfall des Widerspruchs dagegen Lagrange RTDE 1969,240 (249). 7 Zum Verhältnis zwischen Gesetz und nachfolgender Verfassung (-sänderung) und der Rechtsfigur der caducite s.o. 3. Kap. B. I. 4. a) bb) ß).
284
4. Kapitel: Vorrang gegenüber Gesetzen
posterior-Satzes auf ein lex posterior höheren Ranges 8 • Gerichtlich entschieden ist diese Frage allerdings bisher niche. Jüngere, dem Vertrag nachfolgende Gesetze werden dagegen jedenfalls im Ergebnis nicht als nichtig oder gerichtlich authebbar, sondern nur als im Anwendungsbereich des konkurrierenden Vertrages unanwendbar angesehen, soweit die in Art. 55 genannten Bedingungen des Vorrangs erfüllt sind lO • Diese beschränkte Rechtsfolge des Vorrangs gegenüber nachfolgenden Gesetzen wird in der Rechtsprechung des Conseil constitutionnel deutlich herausgestellt ll . Für die Fachgerichte ergibt sie sich bereits aus der Tatsache, daß ihnen kein Recht zusteht, Gesetze mit konstitutiver Wirkung für nichtig zu erklären l2 • Nicht entschieden ist allerdings bisher, ob diese einmal bestehende Unanwendbarkeit dauerhaften Charakter hat, also auch nach einem späteren Wegfall des Widerspruchs fortbesteht 13 • Das Gemeinschaftsrecht verlangt eine weitergehende Befugnis der nationalen Gerichte aber auch nicht; es genügt vollauf, wenn die Gerichte gemeinschaftsrechtswidriges nationales Gesetzesrecht nicht mehr anwenden. Die durch den optischen Fortbestand widersprechenden nationalen Rechts ausgelöste Rechtsunsicherheit wird zwar auch vom EuGH beanstandet; doch verlangt er Abhilfe in diesem Fall nicht von den nationalen Gerichten, sondern vom nationalen Gesetzgeber, der verpflichtet wird, auch nicht mehr angewandte nationale Vorschriften durch förmliche Authebungzu beseitigen und so auch optische Klarheit zu schaffen l4 • 8 So etwa die Schlußanträge von Regierungskommissar Morisot zu CE Ass. 22.10.1979 - Maulaud et autres, RDP 1980,541 (548); Abraham Droit international S. 104f. 9 CM / FD. / Y.A. AJDA 1991,91 (101); Flauss J.-CI. adm. Stichwort "autorite du droit international" Rn 35. 10 s. vorerst nur Favoreu / Philip RDP 1975, 165 (190 ff); Nguyen Quoc Dinh AFDI 1975, 859 (867 f); Favoreu AFDI 1977, 95 (115); Constantinesco / Jacque in: Koenig / Rüfner (1985), 175 (206 f). II s. im einzelnen unten 4. Kap. B. H. I. a). 12 s. nur Rideau RFDC 1990,259 (293); CM. / FD. / Y.A. AJDA 1991,91 (101); anders ist die Lage im Fall von Verordnungen: eine rechtzeitig angegriffene gemeinschaftsrechtwidrige Verordnung wird vom CE konstitutiv und mit Wirkung erga omnes aufgehoben, s.u. 5. Kap. B. IlI. 2. a); einer förmlichen Aufhebung durch den Verordnungsgeber bedarf es hier nicht mehr. IJ CM / FD. / Y.A. AJDA 1991,91 (101); für dauerhaft-endgültige Unanwendbarkeit wohl Genevois Anm. RFDA 1989, 824 (826 f) mit dem Argument, daß auch eine als vertragswidrig aufgehobene Verordnung endgültig beseitigt ist (s. vorige Fn). 14 Betont z.B. von Barav Melanges Boulouis (1991), 1 (4 f); s. etwa EuGH 14.12.1982 verb. Rs. 314 - 316 / 81 und 83 / 82 - Procureur de la Republique et Comite
A. Materiellrechtlicher Vorrang
285
11. Reichweite des Vorrangs 1. Auf nationaler Seite
Von diesem in Art. 55 der Verfassung angeordneten Vorrang der völkerrechtlichen Verträge gegenüber nationalen Gesetzen werden nicht nur einfache Gesetze erfaßt, sondern auch die Lois organiques l \ Lois referendaires auf der Grundlage von Art. II der Verfassung, soweit sie nicht selbst Verfassungsrang bekleiden l6 , sowie die Gesetzes-ersetzenden Notmaßnahmen des Präsidenten gemäß Art. 16 der Verfassung 17 • Nicht betroffen ist dagegen das Verfassungs"gesetz" selbst: Die Anordnung eines solchen vollständigen eigenen Rangrilcktritts durch die Verfassung selbst ist zwar denklogisch möglich l8 , de constitutione lata entspricht sie aber - wie bereits dargestellt l9 - nicht dem System der Art. 53 ff der Verfassung.
2. Auf der Seite des Gemeinschaftsrechts
Der in Art. 55 der Verfassung angeordnete Vorrang kommt nicht nur dem Vertrag selbst einschließlich der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts 20 zugute; er erstreckt sich darilber hinaus auch auf das gesamte
National de defense contre I'alcoolisme gegen Alex Waterkeyn, Sig. 1982, 4337; EuGH 26.10.1995 Rs. C-151/94 - Kommission 1 Luxemburg, Sig. 1995,1 - 3685 Tz. 18; zuletzt EuGH 7.3.1996 Rs. C-334 1 94 - Kommission 1 Frankreich, Sig. 1996, 1 1307, Tz. 30: "Zunächst läßt sich nach ständiger Rechtsprechung die Unvereinbarkeit von nationalem Recht mit dem EG-Vertrag, auch soweit dieser unmittelbar anwendbar ist, letztlich nur mit Hilfe verbindlichen innerstaatlichen Rechts ausräumen. das denselben Rang hat wie die zu ändernden Bestimmungen." 15 s.o. 3. Kap. A. I. 2. c) aa). 16 s.o. 3. Kap. A. I. 2. c) bb); zur Eventualität einer Kontrolle der einfach-gesetzlichen Volksgesetzgebung am Maßstab der Verträge s.u. 4. Kap. B. 11. 3. d) dd). 17 s.o. 3. Kap. A. I. 2. c) cc).
18 19
Anders wohl Lachaume Droit administratifS. 57. s.o. 3. Kap. A. I. I.
20 Zu letzteren s. Rideau AJDA 1996 No special, 6 (li f); Dantonel-Cor RTDE 1995,471 (474 f); Simon Europe 3/1995, 9 sowie die Schlußanträge von Regierungskommissar Toutee zu CE Ass. 17.2.1995 - Meyet et autres, AJDA 1995, 223 (224 f); zuletzt Galmot CDE 1997, 67 (68 f); aus französischer Sicht ist diese Feststellung schon deshalb nicht selbstverständlich, weil die allgemeinen Rechtsgrundsätze des nationalen Rechts im Rang neben oder unter den Gesetzen stehen, s.o. 3. Kap. A. I. 2.
b).
286
4. Kapitel: Vorrang gegenüber Gesetzen
Sekundärrecht unter dem einzigen Vorbehalt, daß dieses seinerseits primärrechtskonform isf'. Der Conseil constitutionnel hat diese Gleichstellung des Sekundärrechts mit dem Vertrag selbst als dessen logische Fortsetzung und Verlängerung bereits früh vorgenommen 22 • Auch die einhellige Rechtsprechung der Fachgerichte23 sowie die ganz überwiegende Literatur folgen dieser Konzeption; nur vereinzelt finden sich abweichende Auffassungen 2\ die zudem zu unterschiedlichen Konsequenzen gelangen 25 • Wie schon zum Ausschluß der Kontrolle des Sekundärrechts am Maßstab der Verfassung festgehalten, kommt diese Stellung nicht nur den Sekundärrechtsakten des Gemeinschaftsrechts, sondern auch vergleichbaren Rechtsakten klassischer internationaler Organisationen ZU 26 , sofern diese zur Anwendung in der innerstaatlichen Rechtsordnung geeignet und bestimmt sind27 • 111. (Nationale) Bedingungen des Vorrangs
Der Wortlaut des Art. 55 der Verfassung knüpft den Vorrang der Verträge an Bedingungen: Vorrang genießen nur die ordnungsgemäß ratifizierten oder 2' s. nur Constantinesco / Jacque in: Koenig / Rüfner (1985), 175 (20 I f); Dubouis AFDI 1971, 9 (55); zur Prüfung der Primärrechtskonformität des Sekundärrechts als Alternative zur Kontrolle seiner Verfassungsmäßigkeit durch die nationalen Gerichte s. bereits oben 3. Kap. B. I. 2. b) bb) rur den Conseil constitutionnel, 3. Kap. B. II. 4. rur die Fachgerichte. 22 s.o. 3. Kap. B. I. 2.; die Lösung entspricht derjenigen des EuGH zur innergemeinschaftlichen Einordnung von Sekundärrechtsakten internationaler Organe, die auf der Grundlage von durch die Gemeinschaft abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträgen agieren; dazu bereits oben 2. Kap. B. III. 23 Zur Rechtsprechung des CE s. bereits 0.3. Kap. B. H. 2. b) sowie Dubouis AFDI 1971,9 (55); zur Haltung der Cour de cassation s.u. 4. Kap. B. H. 2. a). 24 Zu kategorisch daher Frydman RF AP 1990, 145 (146): "Nul ne conteste, en effet, que les actes pris sur le fondement des traites communautaires, tels que les reglements et les directives, ont eux-memes valeur de traites au regard de la hierarchie des normes reconnue en droit interne." 25 So sprechen Mourre Gaz. Pa\. 1992, 2, doctr. 818 f und Bore Melanges Vitu (1989), 25 (27) dem Sekundärrecht mangels ausdrücklicher Erwähnung in Art. 55 der Verfassung den Vorrang ab; umgekehrt will Roseren in: Constitutional Adjudication (1992),257 (265); ders. 31 CMLRev (1994),317 (342) den Vorrang des Sekundärrechts mit demselben Textargument allein auf das Gemeinschaftsrecht selbst stützen. 26 Lachaume Droit administratif S. 57. 27 Zu dieser Voraussetzung bereits oben 2. Kap. A. I. I. a).
A. Materiellrechtlicher Vorrang
287
gebilligten und anschließend veröffentlichten Verträge, und auch dies gilt grundsätzlich nur unter dem Vorbehalt der Anwendung auch durch die Gegenseite. Eine genauere Betrachtung ergibt freilich, daß allein das letzte Erfordernis, die Bedingung der Gegenseitigkeit, eine echte Bedingung fllr die Zuerkennung des Vorrangs darstellt. 1. Ordnungsgemäßer Abschluß
Nach dem Wortlaut des Art. 55 der Verfassung kommt der Vorrang vor den Gesetzen nur ordnungsgemäß ratifizierten oder gebilligten Verträgen zu. Zu dieser Voraussetzung gehört auch das Vorliegen der ggf. gemäß Art. 53 der Verfassung erforderlichen Billigung durch das Parlament. Tatsächlich handelt es sich hier aber nicht nur um eine Bedingung des Vorrangs: In Frage steht über das Problem des innerstaatlichen Rangs hinaus die Verfassungsmäßigkeit des Abschlusses des betroffenen Vertrages. Das ist zugleich der Grund dafllr, daß dieser Punkt, insbesondere was die ordnungsgemäße Beteiligung des Parlaments betrifft, derzeit von keiner der beteiligten Gerichtsbarkeiten überprüft wird28 : Im Ergebnis reduziert sich die Prüfung derzeit auf die Frage, ob das Abkommen tatsächlich abgeschlossen wurde.
2. Veröffentlichung
Auch die Veröffentlichung des Vertrages ist nicht erst eine Bedingung des Vorrangs vor den Gesetzen: Sie ist bereits Voraussetzung der innerstaatlichen Anwendbarkeit völkerrechtlicher Verträge, zumindest soweit diese Belastungen fllr den Einzelnen begründen sollen 29 •
3. Gegenseitigkeit der Anwendung (reciprocite dans I'application)
a) Grundsätzliches
Art. 55 der Verfassung stellt den Vorrang der Verträge zudem unter den Vorbehalt ihrer Anwendung durch die Gegenseite; anders als Absatz 15 der Präambel von 1946 betrifft diese Voraussetzung also nicht die Gegenseitigkeit
28 S.O.
3. Kap. B. H. I.
2. Kap. A. I. 1. a) aa); kritisch zu dieser Einschränkung Burdeau AFDI 1986, 837 (850 ff). 29 S.O.
288
4. Kapitel: Vorrang gegenüber Gesetzen
der Verpflichtung selbst, sondern die Gegenseitigkeit der Erfüllung der bereits eingegangenen vertraglichen Verpflichtungen. Vom allgemeinen völkerrechtlichen Gegenseitigkeitsvorbehalt (der schon durch den Verweis auf die Regeln des Völkerrechts in Absatz 14 der Präambel erfaßt wäre) unterscheidet sich der Vorbehalt in Art. 55 der Verfassung durch seinen automatischen Effekt. Ohne daß auf internationaler Ebene die Vertragsuntreue der Gegenseite gerügt werden müßte, verliert der Vertrag allein durch die tatsächliche Nichterrullung auf der Gegenseite seinen innerstaatlichen Rang 30 • Dieser innerstaatliche Automatismus 3 ) des Gegenseitigkeitsvorbehalts stellt gegenüber der Lage unter der 4. Republik 32 die einzige substantielle Neuerung im Status des völkerrechtlichen Vertrages in der Verfassung von 1958 dar. Er gilt allgemein als wenig geglücke 3, da seine wörtliche Anwendung die Gerichte vor unüberwindliche Schwierigkeiten allein schon im Bereich der tatsächlichen Feststellungen stellen müßte; zugleich würde ihnen mit der Beurteilung der Vertragserrullung durch die Gegenseite eine auch politische Verantwortung rur die Gestaltung der äußeren Beziehungen aufgebürdet. Tatsächlich üben die Gerichte diese Kontrolle heute auch außerhalb des Gemeinschaftsrechts nicht selbst aus: Während der Conseil d'Etae 4 im Fall
30 Umstritten ist dabei, ob der Vertrag nur seinen Vorrang vor den Gesetzen - so Kovar Anm. CDE 1975, 636 (654 f); Ruzüf JDI 1975,249 (254 f) - oder jede innerstaatliche Anwendbarkeit verliert - so Lagarde RCDIP 1975, 25 ff; Schlußanträge von Regierungskommissar Thery zu CE Ass. 29.5.1981 - Rekhou, RDP 1981, 1707 (1713). 3) Dazu etwa Decaux Reciprocite (\980), 171 ff; Regourd RGDIP 1983, 780 (791 ff); Abraham Droit international S. 85 f. 32 Art. 28 Satz 1 der Verfassung von 1948: "Les traites dip10matiques regulierement ratifies et publies ayant une autorite superieure a cel\e des 10is internes, leurs dispositions ne peuvent etre abrogees. modifiees ou suspendues qu'a la suite d'une denonciation reguliere, notifiee par voie dip10matique." 33 s. schon Charles Rousseau Me1anges Basdevant (\ 960), 463 ff; Nguyen Quoc Dhin RGDIP 1959, 515 (558 ff); zusammenfassend Regourd RGDIP 1983, 780 ff; Blumann Anm. RGDIP 1982,410 (421 ff); Rideau in: Rep. cont. adm. Stichwort droit communautaire Rn 353.
34 So die Lösung von CE Ass. 29.5.1981 - Rekhou, Rec. S. 220 = RDP 1981, 1707 mit den Schlußanträgen von Regierungskornmissar Thery = JDI 1982, 440 (1. Entscheidung) m.Anm. Chappez = D. 1982 jp 137 m.Anm. Galonec = RCDIP 1982, 78 mit den Schlußanträgen und Anm. Lagarde = RGDIP 1982, 410 m.Anm. Blumann = AJDA 1981, 485 (1. Entscheidung) m.Anm. Tiberghien I Lasserre S. 459; seit der Entscheidung CE Ass. 29.6.1990 - GISTI, Rec. S. 171 (w. Nachw. s.u. 4. Kap. B. H. 3. e) aa) dürften derartige Stel\ungnahmen aber zumindest nicht mehr bindend sein, s. CMI FDI YA AJDA 1991,91 (97); de Berranger Constitutions nationales S. 188 f(al\e Entscheidungen betreffen Sachverhalte außerhalb des Gemeinschaftsrechts).
A. Materiellrechtlicher Vorrang
289
eines Streits um die Gegenseitigkeit der VertragserfUlIung eine Stellungnahme des Außenministeriums zu dieser Frage einholt, unterlassen die Zivilgerichte35 jede Beschäftigung mit dieser Frage, solange von der fUr die Gestaltung der äußeren Beziehungen verantwortlichen Regierung keine Initiative ausgegangen ist: Der in Art. 55 der Verfassung verfUgte Automatismus ist damit jedenfalls de facto beseitigt. Der Conseil constitutionnel hat mit einer Entscheidung vom 30.12.198036 immerhin klargestellt, daß die Erfüllung des Vertrages durch die Gegenseite keine Bedingung der Verfassungsmäßigkeit der VertragserfUlIung durch Frankreich darstelle 7: Ein Vertrag und die ihn ausfUhrenden Gesetze bleiben also verfassungskonform, auch wenn ein anderer Vertragspartner den Vertrag nicht erfUllt; allein der in Art. 55 der Verfassung angeordnete Vorrang vor den Gesetzen geht verloren. Die eigene Vertragserfüllung ist damit in das Belieben des nationalen Gesetzgebers gestellt. Die Annahme der Verfassungswidrigkeit würde dagegen dem Gesetzgeber diese Entscheidungsfreiheit verwehren und ihn zur Nachahmung der Vertragsuntreue der anderen Seite zwingen 38 • Der entschiedene Fall betraf im übrigen sogar einen gemeinschaftsrechtlichen Sachverhalt, ohne daß der Conseil constitutionnel sich zur besonderen Situation des Gegenseitigkeitsvorbehalts gegenüber dem Gemeinschaftsrecht hätte äußern müssen: Die Opposition in der Nationalversammlung hatte die gesetzliche Anpassung der französischen Alkoholbesteuerung an die Anforderungen von Art. 95 EWGV im Gefolge einer Entscheidung des EuGH 39 mit 35 Cass. civ. Ire 6.3.1984 - Kryla c. Dame Lisak, RCDIP 1985, 109 m.zusI.Anm. Droz = RGDIP 1985, 538 m. Anm. Charles Rousseau = 101 1984, 859 m.Anm. Chappez: " ... en I'absence d'initiative prise par le gouvernement po ur denoncer une convention ou suspendre son application, il n'appartient pas aux juges d'apprecier le respect de la condition de reciprocite prevue dans les rapports entre Etats par I'article 55 de la Constitution ... "; fast wörtlich ebenso in neuerer Zeit Cass. civ. Ire 16.2.1994 - Ordre des avocats a la cour d'appel de Paris c. M. Art Kaci, Bull. civ. 1 No 65, S. 50; in diesem Sinne bereits die Schlußantrlige von Regierungskommissar Thery (vorige Fn) sowie Lagarde RCDIP 1975, 25 ff. 36 CC 30.12.1980 No 80-126 DC - Loi de finances pour 1981, Rec. S. 53 = D. 1981 ir / sc 359 m.Anm. Hamon = RDP 1982, 127 (150) m.Anm. Philip S. 127 (129 ff) = RGDIP 1981,601 m.Anm. Decaux; s. auch Abraham Droit international S. 84 f; Rideau in: Rep. conl. adm. Stichwort droit communautaire Rn 356 f; Jacque Rev. adm. Est France 1981, 5 (31 t); Constantinesco I Jacque in: Koenig / Rüfner (1985), 175 (202 t).
37 " ... la regle de reciprocite po see a I'article 55 de la Constitution, si elle affecte la superiorite des traites ou accords sur les lois, n'est pas une condition de la conformite des lois a la Constitution; " (6. Erwligungsgrund). 38
So der treffende Einwand von Philip RDP 1982, 127 (130).
39
EuGH 27.2.1980 Rs. 168 / 78 - Kommission / Frankreich, Sig. 1980, 347.
19 GundeI
290
4. Kapitel: Vorrang gegenüber Gesetzen
dem Argument beanstandet, daß auch andere Mitgliedstaaten weiter diskriminierende Steuersysteme anwandten. Der Conseil constitutionnel konnte dem entgegenhalten, daß - selbst bei Unterstellung dieser Sachlage sowie der Anwendbarkeit des Gegenseitigkeitsvorbehalts auch im Gemeinschaftsrecht diese Situation den französischen Gesetzgeber nicht hindern würde, die vertraglichen Pflichten Frankreichs weiter zu erfüllen. b) Anwendung des Gegenseitigkeitsvorbehalts auf das Gemeinschaftsrecht?
Die Rechtsprechung des EuGH lehnt bekanntlich jede Einschränkung des Vorrangs durch Gegenseitgkeitsvorbehalte unabhängig davon ab, ob diese aus dem allgemeinen Völkerrecht oder aus der nationalen Verfassung eines Mitgliedstaats begründet werden 40 • Nachdem der Conseil constitutionnel in der Entscheidung vom 30.12.1980 eine Stellungnahme zu der Frage vermieden hatte, ob der Gegenseitigkeitsvorbehalt des Art. 55 der Verfassung überhaupt auf das Gemeinschaftsrecht anzuwenden ist, ist die Lösung dieses Problems in der Literatur nach wie vor umstritten; in der Rechtsprechung der Fachgerichte zum Gemeinschaftsrecht spielt die Problematik dagegen keine Rolle mehr.
aa) Ausschluß des Vorbehalts aufgrund der Eigenständigkeit des Gemeinschaftsrechts? Die Anwendung des Gegenseitigkeitsvorbehalts des Art. 55 auf das Gemeinschaftsrecht wird in der Literatur häufig mit dem Hinweis verneint, daß das Gemeinschaftsrecht in seiner Auslegung durch den EuGH den Einwand der Gegenseitigkeit nicht anerkenne. Aus der Sicht der innerstaatlichen Rechtsordnung greift diese Begründung allerdings zu kurz: Der EGV, der in der innerstaatlichen Rechtsordnung den ihm von Art. 55 zugewiesenen Rang bekleidet, kann dessen Inhalt und Bedingungen nicht ändern. Die Existenz des Gegenseitigkeitsvorbehalts in Art. 55 der Verfassung ist sogar das wichtigste Argument der Befürworter einer Begründung des Vorrangs allein aus der Eigenständigkeit des Gemeinschaftsrechts: Hier wird der 40 s. bereits EuGH 13.11.1964 verb. Rs. 90 und 91 / 63 - Kommission / Luxemburg und Kommission / Belgien, Sig. X (1964), 1329 (1344 t); später etwa EuGH 22.6.1972 Rs. I / 72 - Rita Frilli gegen Belgischen Staat, Sig. 1972, 457; EuGH 25.9.1979 Rs. 232 / 78 - Kommission / Frankreich, Sig. 1979, 2729; s. dazu etwa Jacque GS Constantinesco (1983), 325 ff; Schwarze EuR 1983, I (21 ft).
A. Materiellrechtlicher Vorrang
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Vorbehalt herangezogen, um zu zeigen, daß die Begründung des Vorrangs aus dem innerstaatlichen Recht angemessene, den Vorgaben des Gemeinschaftsrechts genügende Ergebnisse nicht ermöglicht41 •
bb) Flexibler Charakter des Art. 55? Weiterruhrend ist dagegen der Hinweis, daß der EGV insoweit doch einen Sonderfall darstellt, als er den Gegenseitigkeitsvorbehalt durch das in Art. 169 ff EGV vorgesehene Rechtsschutzsystem ersetzt. Notwendige Prämisse der Zulässigkeit dieser Argumentation vor dem Hintergrund des Art. 55 ist allerdings eine Auslegung des in dieser Vorschrift enthaltenen Gegenseitigkeitsvorbehalts als flexible Norm, die zwar keinen reinen Verweis auf die jeweilige völkerrechtliche Lage darstellt, einem Verzicht auf die Bedingung der Gegenseitigkeit bei bestimmten Kategorien von Verträgen jedoch nicht entgegensteht, wenn dieser Verzicht von Seiten des Völkerrechts aus nachvollziehbaren Gründen postuliert wird. Das gilt nach auch in der französischen Literatur ganz überwiegend geteilter Auffassung z.B. rur den Fall der EMRK42 und auch des humanitären Völkerrechts, bei denen es sich nicht um "Austauschverträge" klassischen Typs handelt. Die somit angenommene Offenheit des Art. 55 rur AusnahmeflilIe geht entgegen einer auch in der Literatur vertretenen Auffassung freilich wohl nicht soweit, alle multilateralen Verträge schon deshalb vom Erfordernis der Gegenseitigkeit auszunehmen, weil hier der Gegenseitigkeitsvorbehalt sinnlos oder in der Praxis schwer umsetzbar wäre 43 • Doch erscheint es vertretbar, jedenfalls die Gemeinschaftsrechtsordnung als derartigen Ausnahmefall zu behandeln: Dies gilt zum einen, weil das Gemeinschaftsrecht sein eigenes Rechtsschutzsystem bereithält, also eine nach allgemeinem Völkerrecht nicht
41 s. etwa Roseren in: Constitutional Adjudication (1992), 257 (265 fO; Rohmer / Teitgen RMC 1976, 381 (384 0; zuletzt de Berranger Constitutions nationales S. 186 ff.
42 Zur Anwendbarkeit des Gegenseitigkeitsvorbehalts auf die EMRK Eissen in: Cohen-Jonathan (Hrsg.), Droits de I'homme en France (1985), I (13 ff); Schlußanträge von Regierungskommissar Stirn zu CE Ass. 21.12.1990 (Nachweise s.u. Fn 409), RFDA 1990, 1065 (1073); CM / FD / YA AJDA 1991,91 (96 f); Abraham RUDH 1991,275 (279).
43 So freilich Luchaire Conseil constitutionnel S. 136 f; Turpin Contentieux constitutionnel Rn 65, S. 112 f; wohl auch Rideau Anm. CDE 1975,608 (618); dagegen aber z.B. Autexier ZaöRV 1982, 327 (339); Lachaume Droit administratif S. 57.
19"
292
4. Kapitel: Vorrang gegenüber Gesetzen
gegebene Alternative zur Selbsthilfe bietet44 • Vor allem aber haben die Verträge ein komplexes System errichtet, in dem die Anwendung des Gegenseitigkeitsvorbehalts gegenüber einem anderen Mitgliedstaat nicht nur diesen, sondern auch alle anderen Mitgliedstaaten und zudem die vom Vertrag geschaffenen Institutionen treffen würde45 • Da Ausgangspunkt die nationale Verfassung und insbes. deren Art. 55 ist, folgt der Verzicht auf das Gegenseitigkeitserfordernis danach aber nicht "unbesehen" allein aus dem "besonderen Charakter" des Gemeinschaftsrechts und dessen Anforderungen; er wird auch anderen Vertragswerken zugutekommen, mit deren System die Prüfung der Gegenseitigkeit ebenfalls - wenn auch vielleicht aus anderen Gründen - nicht vereinbar wäre46 •
ce) Die Wahl der Rechtsprechung a) Der Conseil constitutionnel
Der Conseil constitutionnel hat bisher ausdrückliche Festlegungen zur Anwendbarkeit des Gegenseitigkeitsvorbehalts auf bestimmte Kategorien von Abkommen vermieden. Allein eine Formulierung in der Entscheidung vom 15.1.1975 läßt vermuten, daß eine pauschale Freistellung sämtlicher multilateraler Abkommen vom Gegenseitigkeitsvorbehalt nicht in Betracht kommt47 • Die Existenz des Gegenseitigkeitsvorbehalts und die damit verbundene Labilität des Vorrangs ist allerdings ein wesentliches Element in der Argumenta-
44 So etwa Blumann RGDIP 1978, 537 (579); diese Argument läßt allerdings die bekannte Frage offen, ob im Fall des Versagens dieses Rechtsschutzsystems - etwa bei Nichtbefolgung der Rechtsprechung des EuGH durch einen anderen Mitgliedstaat nicht doch auf Selbsthilfe zurückgegriffen werden kann, s. dazu Schwarze EuR 1983, 1
(22).
45 Ähnlich Jacque in: Oroit constitutionnel et droits de I'homme (1987), 321 (331): "... le texte de I'article 55 ne semble viser que les traites bilateraux ou ceux dans lesquels les relations entre parties sont bilateralisables." (Hervorhebung vom Verf.); eben eine solche gedankliche Auflösung in bilaterale Austauschbeziehungen ist nach der Anlage des Gemeinschaftsrechts nicht möglich; plastisch dazu auch Bermann 28 ICLQ (1979), 458 (468); s. auch Bleckmann OÖV 1978,391 (393). 46 So flir die EMRK Abraham RFOA 1990, 1053 (1055 f). 47 So der 4. Erwägungsgrund von CC 15.1.1975 No 74-54 OC - Interruption volontaire de gros ses se (IVG), Rec. S. 19 = GOCC Nr. 23, S. 299: " ... condition de reciprocite dont la realisation peut varier selon le comportement du ou des Etats signataires ... "; zu dieser Entscheidung s. noch ausflihrIich unten 4. Kap. B. 11. 1. a).
A. Materiellrechtlicher Vorrang
293
tion der mit dieser Entscheidung begründeten Rechtsprechung des Conseil constitutionnel, die jede eigene Überprüfung der Vertragsmäßigkeit der Gesetze im Rahmen der Verfassungskontrolle nach Art. 61 der Verfassung ablehnt. Aus der Tatsache, daß diese Argumentation gerade aus Anlaß der Prüfung eines Gesetzes am Maßstab der EMRK bzw. zur Begründung des Ausschlusses dieser Überprüfung entwickelt wurde, ist teils geschlossen worden, daß der Conseil constitutionnel den Gegenseitigkeitsvorbehalt als ausnahmslos auf alle Abkommen anwendbar ansieht48 • Diese Schlußfolgerung ist aber wohl zu weitgehend: Zum einen ist die mit dem Gegenseitigkeitsvorbehalt verknüpfte Labilität des Vertrages nur eines von mehreren Argumenten des Conseil constitutionnel. Zum anderen ist das einzige Ergebnis, daß der Conseil constitutionnel mit diesem Argument rechtfertigen will, die eigene umfassende und globale, d.h. von Bedeutung und Charakter des jeweils betroffenen Vertrages unabhängige Unzuständigkeit zur Kontrolle der Gesetze am Maßstab völkerrechtlicher Verträge. Damit ist aber nicht gesagt, daß jedes zur Begründung dieses Ergebnisses vorgetragene Argument auf jeden Vertrag in gleicher Weise zutreffen muß 49 • Der mit dieser Haltung verbundenen Zurückhaltung des Conseil constitutionnel gegenüber einer eigenen Rolle bei der Kontrolle der Beachtung der Verträge entspricht es vielmehr gerade, zur Reichweite des Gegenseitigkeitsvorbehalts keine Aussagen zu treffen; tatsächlich hat der Conseil constitutionnel mit der späteren Entscheidung vom 30.12.1980 auch diese Linie eingeschlagen.
ß) Die Cour de cassation als Haupt der ordentlichen Gerichtsbarkeit Die Cour de cassation hat die Frage der Anwendung des Gegenseitigkeitsvorbehalts auf das Gemeinschaftsrecht ftlr die ordentliche Gerichtsbarkeit 48 s. nur Weiss LIEI 1979/ 1, 51 (75 t); Jacque OS Constantinesco (1983), 325 (333); Philip in: Droit constitutionnel et droits de I'homme (1987),249 (264). 49 So Favoreu Anm. RFDA 1989,993 (998): "". si, dans sa decision de principe du 15 janvier 1975, le juge constitutionnel amis en avant 'Ie caractere a la fois relatif et contingent' de la superiorite des traites sur les lois po ur refuser d'assurer le contröle de la conformite pn!vu a I'article 61 de la Constitution, c'est en consideration de la generalite des conventions internationales et sans tenir compte de tel ou tel cas particulier dans lequel n'existerait pas I'exigence de reciprocite ou le risque de precarite"; s. auch schon dens. AFDI 1977,95 (119 t); ebenso nochmals ders. Melanges Plantey (1995), 33 (40); ähnlich Kovar Anm. CDE 1975,636 (655 t); Rideau RFDC 1990,259 (286); ders. in: Rep. co nt. adm. Stichwort droit communautaire Rn 354; ders. in: La Constitution et l'Europe (1992), 67 (158).
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4. Kapitel: Vorrang gegenüber Gesetzen
in derselben Entscheidung vom 24.5.1975 50 geklärt, mit der sie auch die Rolle der ordentlichen Gerichte bei der Durchsetzung des Vorrangs der Verträge gegenüber dem Gesetz definiert hat: Die Anwendung des Gegenseitigkeitsvorbehalts wird unter Berufung auf die Besonderheiten des Gemeinschaftsrechts abgelehnt51 • Nachdem die Entscheidung den Vorrang des Gemeinschaftsrechts und seine Durchsetzung im übrigen aber auf Art. 55 der Verfassung stützt, ist diese Begründung vielfach als Widerspruch, als Wechsel von der nationalverfassungsrechtlichen Argumentation zu einer rein gemeinschaftsrechtlichen Begründung verstanden worden 52 • Diese Sicht vernachlässigt aber die Möglichkeiten einer einschränkenden Auslegung des Art. 55, die den Boden der national-verfassungsrechtlichen Argumentation dennoch nicht verläßt 53 •
y) Der Conseil d'Etat als Haupt der Verwaltungsgerichtsbarkeit
Der Conseil d'Etat hat bisher zur Anwendung des Gegenseitigkeitsvorbehalts auf das Gemeinschaftsrecht nicht Stellung nehmen müssen; es ist aber anzunehmen, daß er die von der Cour de cassation begründete einschränkende Auslegung des Gegenseitigkeitsvorbehalts übernehmen würde 54 • Auch die vom Conseil d'Etat verantwortete Studie zum Verhältnis zwischen internationalem
50 Cass. Ch. mixte 24.5.1975 - Administration des Douanes c. Ste Cafes Jacques Vabre et SARL J. Weigel et Cie, Gaz. Pal. 1975,2,470 mit den Schlußanträgen von Generalanwalt Touffait und Anm. R.C. = D. 1975 jp 497 mit den Schlußanträgen = RTDE 1975, 336 mit den Schlußanträgen = JCP 1975 11 18180 bis mit den Schlußanträgen = AJDA 1975, 567 m.Anm. Boulouis = CDE 1975, 631 m.Anm. Kovar = RGDIP 1976, 960 m.Anm. Charles Rousseau = RCDIP 1976, 351 m.Anm. Foyer I Holleaw; (358 t) sowie Besprechungen von Jeantet JCP 1975 I 2743; Favoreu / Philip RDP 1975, 1307 (1335 ft); Druesne RMC 1975, 378 ff; Piroutte-Gerouville RTDE 1976, 215 ff; Vienne Annales Toulouse 1975, 31 ff; deutsche Übersetzung in EuR 1975, 326 m.Anm. Bieber; aus der deutschsprachigen Literatur s. auch die Besprechung von Baumgartner DVBI 1977, 70 ff; zu dieser Entscheidung auch noch ausführlich unten 4. Kap. B. 11. 2. a). 51 " ... dans I'ordre juridique communautaire, les manquements d'un Etat membre ... aux obligations qui lui incombent en vertu du traite du 25 mars 1957 etant soumis au recours prevu par I'art. 170 dudit traite, I'exception tiree du defaut de reciprocite ne peut etre invoquee devant les juridictions nationales; ... " 52 s. etwa Baumgartner DVBI 1977, 70 (74); kritisch insoweit Boulouis Anm. AJDA 1975, 569 (573 t) und Ferstenbert RTDE 1979,32 (67 t). 53 So etwa Blumann RGDIP 1978, 537 (577 t).
54
So jedenfalls Abraham Droit international S. 158 f.
B. Prozessuale Durchsetzung
295
und nationalem Recht hat anerkannt, daß es völkerrechtliche Verträge gibt, die sich der Anwendung des Gegenseitigkeitsvorbehalts per se entziehen55 •
B. Die prozessuale Durchsetzung des Vorrangs Erhebliche Probleme hat der französischen Rechtsordnung über Jahrzehnte hinweg allerdings nicht der - im Grundsatz unstreitig bestehende - materiellrechtliche Vorrang der Verträge und damit auch des Gemeinschaftsrechts gegenüber den nationalen Gesetzen, sondern die tatsächliche Durchsetzung dieses Vorrangs vor den nationalen Gerichten bereitet. Vorab soll daher hier das Arsenal der möglichen (und vertretenen) Argumente präsentiert werden, um in der Folge die jeweilige Wahl der mit der Frage befaßten Gerichtsbarkeiten in ihrer Entwicklung zwischen diesen argumentativen Eckpunkten darzustellen. I. Die möglichen Argumentationslinien 1. Die Argumente gegen die Kontrolle der Vertragskonformität durch die Fachgerichte
Die klassische, aus der 3. Republik überkommene Behandlung eines Konflikts zwischen Vertrag und Gesetz unterscheidet nach der Chronologie: Ist das Gesetz älter als der Vertrag, so gilt das Gesetz als durch den späteren Vertrag implizit aufgehoben. Die Durchsetzung des Vertrages ist rur den Richter in dieser Abfolge problemlos. Problematisch ist dagegen der umgekehrte Fall des späteren, einem älteren Vertrag widersprechenden Gesetzes: 56 Hier wurde traditionell versucht, den Konflikt im Wege der "harmonisierenden" Auslegung zu umgehen. "Opfer" dieser Auslegung konnte des nachfolgende Gesetz sein, dem die Vermutung implantiert wurde, daß es die Anwendung bestehender Verträge implizit vorbehalte, solange es deren Mißachtung nicht ausdrücklich anordne. Die Auslegung konnte sich aber auch gegen den Vertrag
55
CE Droit international (1986), 17.
Zur Frage einer - möglicherweise ausschließlichen - Kompetenz des CC s. sogleich unter 1. b); entscheidender Prüfstein fllr die Gemeinschaftsrechtskonformitat des Systems ist die Befugnis der Fachgerichte zur Durchsetzung des Vorrangs, denn die Möglichkeit einer Kontrolle durch den CC kann ein umfassende Durchsetzung des Vorrangs nicht gewährleisten. 56
296
4. Kapitel: Vorrang gegenüber Gesetzen
wenden: Dieser wurde dann so restriktiv interpretiert, daß er den neuen gesetzlichen Einschränkungen nicht mehr im Wege zu stehen schien 57 • Nur wenn der Widerspruch auf diesem Wege nicht aufzulösen war, wurde eine Entscheidung zwischen Gesetz und Vertrag erforderlich, die seit den Zeiten der 3. Republik zugunsten des nachfolgenden Gesetzes erfolgte. Zusammengefaßt werden diese die noch unter der Verfassung der 3. Republik entwickelten Grundsätze unter dem Begriff der nach dem Generalanwalt bei der Cour de cassation Paul Matter H benannten "Matter-Doktrin". Ausgangspunkt dieser Doktrin ist allerdings die Verfassungs lage der 3. Republik, deren Verfassung keine Regelung über den innerstaatlichen Status völkerrechtlicher Verträge enthielt; in dieser Lage ist die materiellrechtliche Gleichstellung des Vertrages mit dem Gesetz naheliegend. Die Anwendung des lex-posteriorSatzes ist dann nur die logische Folgerung aus dem identischen Rang der Normen; die Abmilderungen durch vertragskonforme Auslegung des Gesetzes stellen sich in diesem System als ein von der Logik der innerstaatlichen Normenhierarchie nicht gefordertes, pragmatisches "Entgegenkommen" gegenüber dem Vertrag dar, das vor allem den Eintritt völkerrechtlicher Haftung vermeidet. Die dogmatische Grundlage dieser Konstruktion war allerdings bereits mit der Neuordnung der Normenhierarchie durch die Verfassung der 4. Republik entfallen, die den völkerrechtlichen Verträgen materiellrechtlich den eindeutigen Vorrang auch vor nachfolgenden Gesetzen einräumte59 • Die ursprünglich mit dieser Doktrin begründeten Handlungsmuster und insbesondere der dem nachfolgenden Gesetz eingeräumte Vorzug haben diese Neuordnung der Normenhierarchie überlebt. Allein die Begründung ist nun eine andere: Sie stellt entscheidend auf die Stellung der (Fach-) gerichte in der französischen Rechtsordnung ab; diese haben traditionell allein das Gesetz anzuwenden, ohne seine Rechtmäßigkeit zu bewerten.
a) Argumente aus der (vorkonstitutionel/en) Verfassungstradition
Auch dieser Grundsatz, der den Fachgerichten die Kompetenz zur Durchsetzung der Normenhierarchie gegenüber dem Gesetzgeber abspricht, wird auf verschiedenen Wegen begründet.
57 Zu dem in dieser Hinsicht besonders eindrucksvollen Fall des französisch-spanischen Konsularabkommens vom 7.1.1862 s. bereits oben 2. Kap. A. I. 2. b) mit Fn 36. 58 Schlußanträge zu Cass. civ. 22.12.1931 - Sanchez c. Gozland, Sir. 1932, 1,257. 59
So auch die Feststellung von Abraham Droit international S. 75 f.
B. Prozessuale Durchsetzung
297
aa) Die separation des pouvoirs Der Ausschluß der gerichtlichen Kontrolle über den Gesetzgeber wird zum einen global durch ein von den deutschen Vorstellungen abweichendes Verständnis der Gewaltenteilung bzw. -trennung gerechtfertigt, das auf den Ausschluß jeglicher gegenseitiger Kontrolle der Gewalten abzielt. Als normative Grundlagen dieses Verständnisses gelten der - allerdings über den Begriff nicht hinausführende - Art. 16 der Menschenrechtserklärung, vor allem aber Art. 10 des nie förmlich aufgehobenen 60 Gesetzes vom 16.-24. August 179061 , der den Gerichten jede Einmischung in die Tätigkeit des Gesetzgebers untersagte; abgesichert wurde dieses Verbot durch Art. 127 des code penal 62 • Der Verweis auf Art. 127 des code penal konnte dabei rur sich genommen allerdings nie überzeugen, da dieser die Kompetenzen des Richters bei Anwendung des Gesetzes nicht definierte, sondern nur eine vorausgesetzte Kompetenzverteilung strafrechtlich sanktionierte. Aber auch darüber hinaus ist ein solches Verständnis, das eine gegenseitige Abschottung der Gewalten postuliert, alles andere als selbstverständlich: Wäre der Grundsatz der separation des pouvoirs in dieser Auslegung geltendes Verfassungsrecht der 5. Republik, so wäre die Kontrolle der Verwaltung durch die zwar aus der Verwaltung entstandene, heute aber selbständige Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht zu rechtfertigen, wie in neuerer Zeit vor allem Chapus63 hervorgehoben hat. Dasselbe gilt erst recht für die in bestimmten Bereichen bestehende Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte zur Kontrolle des Verwaltungshandeins. Wenn aber die separation des pouvoirs einer Kontrolle der
60 Betont wird diese Tatsache u.a. in den Studien des CE zu dieser Problematik, CE Droit communautaire (1982), 47; CE Droit international (1986), 25; s. auch Abraham Droit international S. 110. 61 "Ies tribunaux ne pourront prendre directement ou indirectement aucune part a I'exercice du pouvoir legislatif, ni empecher ou suspendre I'execution des decrets du Corps legislatif sanctionnes par le Roi, apeine de forfaiture". 62 " Seront coupables de forfaiture et punis de degradation civique: I. Les juges qui se seront immisces dans I'exercice du pouvoir legislatif ... soit en arretant ou en suspendant I'execution d'une ou plusieurs lois, soit en deliberant sur le point de savoir si les lois sero nt publiees ou executees". 63 Chapus in: La Declaration (1989), 181 (189): "Puisque ce principe ne fait pas obstacle a ce que le juge administratif se prononce (ainsi, d'ailleurs, que le juge judiciaire, quand il se trouve etre competent) sur les actes du pouvoir executif, il nIest pas davantage susceptible d'interdire l'exercice de son contröle sur les actes du pouvoir legislatif'; ebenso Venezia Melanges Boulouis (1991), 505 ff.
4. Kapitel: Vorrang gegenüber Gesetzen
298
Exekutive durch die Gerichte nicht entgegensteht, ist nicht zu erklären, wieso sie eine Kontrolle über die Legislative ausschließen soll64. Auch der Conseil constitutionnel, der sich bisher noch nicht unmittelbar zur Frage der Gesetzeskontrolle durch die Fachgerichte äußern konnte, scheint dem Verständnis der Gewaltentrennung als striktem Ausschluß jeder gegenseitigen Kontrolle sehr skeptisch gegenüberzustehen: Die eigenständige Existenz der Verwaltungsgerichtsbarkeit gegenüber den ordentlichen Gerichten, die im Ursprung - als reine Selbstkontrolle der Verwaltung unter Ausschluß der "Fremdkontrolle" durch die ordentlichen Gerichte - ebenfalls aus diesem Verständnis der Gewaltentrennung gerechtfertigt werden konnte 65 , legitimiert er in einer Entscheidung vom 23.1.198766 weder unmittelbar aus dem - gemäß Art. 16 der Menschenrechtserklärung mit Verfassungsrang ausgestatteten 67 Grundsatz der separation des pouvoirs selbst noch aus Art. 10 des Gesetzes von 1790, dem die Entscheidung ausdrücklich Verfassungsrang abspricht. Ihre verfassungsrechtliche Gewährleistung folgt vielmehr allein aus dem (wie wohl zu ergänzen ist: historischen) "französischen Verständnis der Gewaltentrennung"68, das sich (erst) im 19. Jahrhundert herausgebildet und in der gesetzli64 s. nochmals Chapus (vorige Fn), aber auch schon die Schlußanträge von Regierungskommissar Latournil!re zu CE 6.11.1936 - Arrighi, Sir. 1937,3,33. 65 Völlig verwirrend wird die Lage, wenn gleichzeitig die traditionellen Beschränkungen der Verwaltungsgerichtsbarkeit wie z.B. der Ausschluß der Verpflichtungsklage ebenfalls auf den Grundsatz der Gewaltentrennung zurückgeführt werden: denn zugleich ist nach diesem traditionellen Verständnis die Verwaltungsgerichtsbarkeit ja Teil der kontrollierten Verwaltung; kritisch denn auch Rivero Melanges Dabin Bd. 2 (1963),813 (827 ff); ders. EDCE 1979-1980,27 (28); Moderne RFDA 1990, 798 (804 ff); zum auch auf den Einfluß des Gemeinschaftsrechts zurückzuführenden Ende dieser Beschränkungen s.u. 5. Kap. B. III. 3. b). 66 CC 23.1.1987 No 86-224 DC - Conseil de la concurrence, Rec. S. 8 = GDCC Nr. 41, S. 687 = GAJA Nr. 109, S. 710 = RFDA 1987,299 m.Anm. Genevois S. 287 und Favoreu S. 301 = AJDA 1987,345 m.Anm. Chevallier = D. 1988 jp 117 m.Anm. Luchaire = JCP 1987 II 20854 m.Anm. Sestier = RDP 1987, 1353 m.Anm. Gaudemet S. 1341. 67 So in anderem Zusammenhang CC 23.5.1979 No 79-104 DC - Nouvelle Caledonie, Rec. S. 27 = RDP 1979,1728 m.Anm. Favoreu S. 1659 (1700 ff). 68 "... les dispositions des articles 10 et 13 de la loi des 16 et 24 aout 1790 ... qui ont pose dans sa generalite le principe de separation des autorites administratives et judiciaires n'ont pas en elles-memes valeur constitutionnelle; ... neanmoins, conformement la conception fram;aise de La separation des pouvoirs, figure au nombre des 'principes fondamentaux reconnus par les lois de la Republique' celui selon lequel ... releve en dernier ressort de la competence de lajuridiction administrative l'annulation ou la reformation des decisions prises, dans I'exercice des prerogatives de puissance publique, par les autorites exer9ant le pouvoir executif;" (15. Erwägungsgrund); Art. 16
a
B. Prozessuale Durchsetzung
299
chen Regelung 69 der Stellung des Conseil d'Etat niedergeschlagen haeo, und wird daher in ihrem Kern (nur) als "Principe fondamental reconnu par les lois de la Republique" geschützt.
bb) Die Souveränität des Gesetzgebers (Souverainete de la loi) Neben der globalen Bezugnahme auf den Grundsatz der Gewaltentrennung steht schon seit der späten 3. Republik 71 ein weiterer, spezifisch auf den Status der Legislative bezogener Argumentationsstrang: Es handelt sich um die Vorstellung der Souveränität des parlamentarischen Gesetzgebers, die auf diese Weise mit der nationalen Souveränität verschwimmt 72 • Im verfassungsrechtlichen Rahmen der 3. Republik wurde diese Vorstellung durch die Tatsache gefördert, daß zum einen die Verfassung selbst keinen materiellen Gehalt hatte, zum anderen zur Verfassungsänderung zwar ein von der einfachen Gesetzgebung abweichendes Verfahren, aber auch nur die einfache Mehrheit erforderlich war73 : Die auch damals rein logisch schon denkbare Überprüfung des einfachen Gesetzes am Maßstab der Verfassung hätte sich
der Menschenrechtserklärung wird in der Entscheidung nicht einmal erwähnt, obwohl seine Verletzung geltendgemacht worden war, s. Genevois RFDA 1987,287 (290). 69 Die gesetzliche Anerkennung ist zwingende Voraussetzung für die vom CC vorgenommene Anerkennung als PFRLR (s.o 3. Kap. A. I. 2. b) ce) y); obwohl der CC in dieser Entscheidung kein konkretes Gesetz bezeichnet, ist vorrangig an das Gesetz vom 24.5.1872 zu denken, mit dem die Streitsachenabteilung des CE verselbständigt und mit der Befugnis zur bindenden Entscheidung ausgestattet worden war, s. Genevois RFDA 1987,287 (292). 70 F avoreu / Philip GDCC S. 713 (716); Gaudemet RDP 1987, 1341 (1346 ff); diese vom CC vorgenommene Unterscheidung zwischen dem Grundsatz der Gewaltentrennung und seiner historischen Rezeption übersehen z.B. Velley RDP 1989, 767; Pretot D. 1990 jp 164 (166), die anzunehmen scheinen, daß der CC diese Rezeption als authentisch übernehmen wollte: dann aber wäre jede Unterscheidung überflüssig und der direkte Rückgriff auf Art. 16 der Menschenrechtserklärung naheliegender gewesen; gegen diese Interpretation u.a. Genevois RFDA 1989, 691 (694); Chapus in: La Declaration (1989), 181 (203 f). 71 Schlußanträge von Regierungskommissar Latourniere zu CE 6.11.1936 - Arrighi, Sir. 1937, 3, 33. 72 s. dazu bereits - im Zusammenhang der Beeinträchtigung der Parlamentskompetenzen durch die Integration - 3. Kap. A. 11. 2. a) aa). 73 Art. I, 3 und 8 des Verfassungsgesetzes vom 25.2.1875.
300
4. Kapitel: Vorrang gegenüber Gesetzen
also auf den Vorwurf an den Gesetzgeber beschränkt, eine reine Verfahrensfönnlichkeit unterlassen zu haben. In der geltenden Verfassung, also dem Text von 1958, finden all diese Erwägungen, insbesondere zum Verhältnis zwischen Gesetzgeber und Fachgerichten, keinen Niederschlag. Wenn hier dennoch auf verfassungsrechtlicher Ebene argumentiert wird, so geschieht dies v.a. mit der "tradition constitutionnelle" - die aber nach der Rechtsprechung des Conseil constitutionnel keinen eigenständigen Erkenntniswert besitzf 4 - oder aber mit dem als "beredt" angesehenen Schweigen der Verfassung von 1958, die daraufverzichtet habe, Status und Befugnisse der Gerichte neu zu ordnen 75. b) Argumente aus der Systematik der Verfassung von 1958
Die Tatsache der Einrichtung einer verfassungsgerichtlichen Nonnenkontrolle durch die Verfassung von 1958 beeinflußt diese Diskussion in zwei Richtungen: Zum einen stellt die nunmehr bestehende Möglichkeit einer Verfassungskontrolle des Gesetzes (bzw. auch nur des bereits beschlossenen, aber noch nicht verkündeten Textes) durch den Conseil constitutionnel die zuvor unbeschränkte Autorität des parlamentarischen Gesetzgebers in Frage. Das Gesetz ist nicht mehr souveräner Ausdruck des Volkswillens 76 : Es gibt nun 74 S.O. 3. Kap. A. 1. 2. b) cc) y); bes. deutlich in diesem Sinne der 11. Erwägungsgrund von CC 20.7.1988 No 88-244 OC - Loi d'amnistie, Rec. S. 119 = O. 1989 jp 269 m.Anm. Luchaire = AJDA 1988, 752 m.Anm. Wachsrnann = Or. soc. 1988, 760 m.Anm. Pretot S. 755 = JCP 1989 11 21202 m.Anm. Paillet: "... la tradition republicaine ne saurait etre utilement invoquee pour soutenir qu'un texte legislatif qui la contredit serait contraire a la Constitution qu'autant que cette tradition aurait donne naissance a un principe fondamental reconnu par les lois de la Republique; ... " 75 So die Schlußanträge von Regierungskommissarin Questiaux zu CE 1.3.1968 Syndicat general des semoules de France, RCDIP 1968, 516 (524): " ... el1e [sc.: la Constitution] n'a pas juge bon de definir d'une nouvel1e maniere les pouvoirs du juge; la mission de celui-ci reste celle, subordonnee, d'appliquer la loi." Zu diesen Beharrungskräften der vorkonstitutionel1en Tradition auch Lagrange RTOE 1969,240 (253) sowie Vedel Melanges Waline Bd. 2 (1974), 777 (791): " ... une sorte de presomption selon laquel1e les textes constitutionnels ne peuvent, sauf de fa~on expresse et imperative, changer l'ordre administratif.". 76 So die klassisch gewordene Ergänzung des Art. 6 Satz I der Menschenrechtserklärung von 1789 - "La loi est I'expression de la volonte generale" - durch den 27. Erwägungsgrund von CC 23.8.1985 No 85-197 OC - Evolution de la Nouvel1e-Caledonie, Rec. S. 70 = GOCC Nr. 38, S. 612 /617 (2. Entscheidung) = O. 1986 jp 45/ 47 (2. Entscheidung) m. Anm. Luchaire: " ... la loi ... n'exprime la volonte generale que dans le respect de la Constitution, ... "; Zu dieser Passage auch Favoreu RDP 1986, 395 (434
B. Prozessuale Durchsetzung
301
eine gerichtliche Instanz77 , die ausdrücklich ermächtigt ist, sich im Namen der Verfassung dem Willen jedenfalls des parlamentarischen 78 Gesetzgebers in den Weg zu stellen. Diese Neuerung scheint auf den ersten Blick eine Durchsetzung des Vorrangs auch der völkerrechtlichen Verträge zu erleichtern: Auch eine gerichtliche Durchsetzung von Art. 55 der Verfassung gegenüber dem parlamentarischen Gesetzgeber sollte nun möglich sein 79 • Auf der anderen Seite hat die Existenz des Conseil constitutionnel aber eine weitere, selbständige Argumentationslinie begründet, die die Durchsetzung des Vorrangs der Verträge durch die Fachgerichte ausschließt: Danach ist die bis dahin vollständig ausgeschlossene Überprüfung der Gesetze am Maßstab der Verfassung nunmehr ausschließlich dem Conseil constitutionnel zugewiesen, was jedenfalls einen unmittelbare Kontrolle der Gesetze am Maßstab der Verfassung durch die Fachgerichte ausschließeo. In einem weiteren, für die Argumentation entscheidenden Schritt soll diese ausschließliche Zuständigkeit des Conseil constitutionnel auch die Kontrolle der Vertragsmäßigkeit der Gesetze umfassen und damit eine parallele Kontrolle an diesem Maßstab durch die "einfachen" GerichteS I ausschließen. Nach dieser Argumentation stellt jeder f): "une formule sans appel" sowie aus der deutschsprachigen Literatur Arnold JöR n.F. 38 (1989), 197 (200). 77 Der historisch anmutende Streit um die Einordnung des Conseil constitutionnel als Gericht soll hier nicht aufgenommen werden; dazu in neuerer Zeit etwa Luchaire JöR n.F. 38 (1989),173 (175 ff); zuvor bereits ders. RDP 1979,27 ff; aus der deutschsprachigen Literatur Ress JöR n.F. 23 (1974), 121 (161 ff). 78 Zum Ausschluß der Kontrolle des CC über die Gesetzgebung durch Referendum s. bereits oben 3. Kap. A. 1I. c) dd).
79 So etwa Anm. Pellet Gaz. Pa\. 1976, 1, 25 (26): "En effet, a partir du moment ou la loi n'est plus la norme supreme et incontestable, il n'y a aucune raison de ne pas donner effet a I'art. 55 de I'actuelle Constitution." Ähnlich z.B. Fromont EuZW 1992, 46 (47). 80 Venezia Melanges Boulouis (1991), 505 (508 f); Genevois EDCE 1979-1980, 73 (80); s. schon Rivero Anm. AJDA 1971, 537 (zu CC 16.7.1971): "L'exception d'inconstitutionnalite n'ajamais ete accueillie a une epoque ou elle eut ete pourtant la seule voie permettant d'assurer la protection des Iibertes contre la loi. Le sera-t-elle davantage alors qu'une autre voie vient de se reveler qui conduit au meme but? La reponse ne semble guere douteuse." Ebenso Odent in: La France et les CE (1975), 811 (819); zur Abgrenzung der Zuständigkeiten der Fachgerichte auf der einen Seite und des CC andererseits s. schon oben 3. Kap B. H. 1. b) hinsichtlich der Kontrolle der Verträge am Maßstab der Verfassung.
81 Zu dem die Verwaltungsgerichtsbarkeit (juridiction administrative) und die ordentlichen Gerichte (juridiction judiciaire) zusammenfassend dem Conseil constitutionnel gegenüberstellenden Begriff der "juridictions ordinaires" s. bereits oben 2. Kap. A. 1. 2. a) mit Fn 26.
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4. Kapitel: Vorrang gegenüber Gesetzen
Verstoß des Gesetzes gegen einen Vertrag zugleich eine Mißachtung der von Art. 55 der Verfassung vorgegebenen Nonnenhierarchie und somit einen zumindest mittelbaren Verfassungsverstoß dar82 , den zu sanktionieren allein und ausschließlich 83 dem Conseil constitutionnel obliege H4 • Der Weg zur Sicherstellung des Vorrangs des Vertrages gegenüber dem Gesetz wäre nach dieser Auffassung zwar durch die Errichtung des Conseil constitutionnel erstmals eröffnet, im gleichen Schritt aber eng begrenzt worden: Die tatsächliche Durchsetzung des Vorrangs hinge danach von der Anrufung des Conseil constitutionnel durch die dazu ennächtigten politischen Instanzen ab; ist diese Anrufung vor Verkündung des Gesetzes unterblieben, so kann die Kontrolle später weder vom Conseil constitutionnel nachgeholtK5 noch durch die Fachgerichte ersetztH6 werden. Dem Gemeinschaftsrecht ist eine solche Argumentation mit der "indirekten Verfassungswidrigkeit" gemeinschaftsrechtswidriger Gesetze nicht unvertraut, doch findet sie sich bezeichnenderweise vor allem in Staaten mit dualistischer Rechtsordnung: So hatte mit derselben Begründung der italienische Verfassungsgerichtshof die Gemeinschaftsrechtskonfonnität italienischer Gesetze zur Verfassungsfrage erhoben; die Folgen rur das Gemeinschaftsrecht waren unter den Rahmenbedingungen der italienischen Rechtsordnung allerdings weniger gravierend: Die 82 s. etwa Odent in: La France et les CE (1975), 811 (819 ft); Batailler Conseil d' Etat (1966), 278 f; zu dieser Argumentation auch - statt vieler - Nguyen Quoc Dinh AFDI 1975,859 (864 t); Pellet Anm. Gaz. Pal 1976, 1,25 (26); Genevois EDCE 19791980, 73 (81); Buffet-TchakaloffCour de Justice S. 301. Verkannt wird diese Argumentation von Lerche ZaöRV 1990, 599 (609 ft), der die Frage der - möglicherweise (!) ausschließlichen - Zuständigkeit des CC als "sekundäres Problem" bezeichnet: zumindest solange die Kontrolle durch den CC präventiv und seine Anrufung politischen Organen überlassen bleibt, ist die Frage entscheidend - denn solange ist der Schutz durch die alternativ zur Verfügung stehenden Gerichtsbarkeiten nicht vergleichbar und damit kein bloßes Zuständigkeitsproblem wie etwa die Abgrenzung zwischen ordentlicher und Verwaltungsgerichtsbarkeit; Lerche folgend freilich Streinz DVBI 1991, 325 (327 t), Anmerkung zu CE 24.9.1990 - Boisdet. 83 Zu dieser Konsequenz etwa Jacque in: Droit constitutionnel et droits de I'homme (1987), 321 (332); nur wenige Autoren können sich mit dem Gedanken einer konkurrierenden Kontrolle der Vertragskonformität durch CC und Fachgerichte anfreunden, s. aber immerhin Ruzie JDI 1975,249 (264 Fn 82); Druesne RMC 1975,379 (383); Rideau Anm. CDE 1975,608 (629 t). 84 Für Fromont DÖV 1995, 481 (483) ist das Argument der ausschließlichen Zuständigkeit des CC im Rückblick "der einzige ernstzunehmende Einwand" gegen die Durchsetzung des Vorrangs durch die Fachgerichte. 85 Zu den durch die Neukaledonien-Rechtsprechung des CC begründeten Ausnahmen s.o. 3. Kap. B. I. 3. 86 Dazu schon oben 3. Kap. B. I. 4. a) bb).
B. Prozessuale Durchsetzung
303
Fachgerichte wurden von einer Überprüfung der Gemeinschaftsrechtskonformität der Gesetze nicht ausgeschlossen, sondern waren gezwungen, die Frage an den Verfassungsgerichtshof weiterzuleiten. Auch in der deutschen Literatur fanden sich parallele Konstruktionen, die jedes gemeinschaftsrechtswidrige Gesetz zum Verstoß gegen Art. 24 GG erklärten und auf diese Weise eine Vorlagepflicht der nationalen Fachgerichte nach Art. 100 Abs. I GG begründen wollten 81, ohne daß das BVerfG dem allerdings gefolgt wäre 88 • "Traditionalistische" und "systematische" Argumentation gegen die Durchsetzung des Vorrangs durch die (Fach-)gerichte haben freilich zweierlei gemeinsam: Die auf diesen Wegen postulierte Beschränkung der Kognitionsbefugnis der (Fach-)Gerichte muß auf der Ebene der Verfassung angesiedelt werden; hätte sie nur Gesetzesrang, so müßte sie gleichermaßen - zusammen mit dem in der Sache widersprechenden Gesetz - gemäß Art. 55 der Verfassung dem höherrangigen Vertrag weichen 89 • Es handelt sich folglich um ein Problem der Verfassungsauslegung (was im folgenden dazu führt, die Rechtsprechung des Conseil constitutionnel voranzustellen, obwohl dieser rein chronologisch seine Position erst nach dem Conseil d'Etat entwickeln konnte). Zum zweiten muß sich diese Auffassung mit der Existenz von Art. 28 der Verfassung der vierten Republik bzw. Art. 55 der Verfassung von 1958 auseinandersetzen, die materiellrechtlich unzweifelhaft den Vorrang des Vertrages auch vor späteren Gesetzen anordnen. Die Harmonisierung dieser - in ihrer materiellrechtlichen Existenz ja unbestreitbaren und unbestrittenen - Rangzuweisung mit dem Ausschluß einer fachgerichtlichen Durchsetzung dieses Ranges erfolgt regelmäßig mit der Behauptung, daß diese Anordnung sich allein an den nationalen Gesetzgeber richte, aber keine Ermächtigung an die Fachgerichte bedeute, den Gesetzgeber zur Beachtung dieses Vorrangs anzuhalten 90 •
87 s. etwa Carstens FS Riese (1964), 65 (80); wieder aufgenommen von Pagenkopf NVwZ 1993,216 (223). 88 s. bereits BVerfG 9.6.1971, BVerfGE 31, 145 (174 f); bestätigend BVerfG 31.5.1990 - Absatzfondsgesetz, BVerfGE 82,159 (191). 89 Dazu noch unten 4. Kap. B. 11. 3. c).
90 So etwa Francescakis RCDIP 1969,425 (432 ff); Blondeau in: Reuter (Hrsg.), 43 (61); wohl auch Lagarde RCDIP 1975,25 (30 f).
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4. Kapitel: Vorrang gegenüber Gesetzen
2. Argumente zugunsten einer Kontrolle durch die Fachgerichte
Auch die Beftirworter einer Durchsetzung des Vorrangs der Verträge durch die Fachgerichte gehen von der im Grundsatz weithin unumstrittenen 91 Prämisse aus, daß die Kontrolle der Gesetze am Maßstab der Verfassung den Fachgerichten grundsätzlich verschlossen ist, sei es, weil diese Beschränkung der Verfassungstradition entspricht - auch wenn die ftir diesen Zustand aus dem Grundsatz der Gewaltentrennung abgeleiteten Argumente nicht so weit tragen mögen, wie dies zeitweise angenommen wurde - , sei es, weil die Ausübung dieser Kontrolle jedenfalls durch die Verfassung von 1958 ausschließlich dem Conseil constitutionnel vorbehalten ist. a) Aus der Eigenständigkeit des Gemeinschaftsrechts?
Einige Stimmen fordern, den Vorrang des Gemeinschaftsrechts und erst recht seine Durchsetzung vor den Fachgerichten nicht auf Art. 55 der Verfassung, sondern unmittelbar auf den eigenständigen Charakter des Gemeinschaftsrechts in Verbindung mit der Vorrang-Rechtsprechung des EuGH zu stützen 92 • Diese Konstruktion endet jedoch in einem logischen Zirkel: Solange Gemeinschaftsrecht und die jeweilige nationale Rechtsordnung getrennte, wenn auch miteinander verschränkte Rechtsordnungen bilden, bundesstaatliche Verhältnisse also noch nicht erreicht sind93 , muß das Verhältnis 91 So auch Genevois EDCE 1979-1980, 73 (80); s. auch bereits oben 3. Kap. B. I. 4. zum Reformvorhaben der Exception d'inconstitutionnalite als beschränkter Durchbrechung dieses (damit vorausgesetzten) Grundsatzes, die den Fachgerichten die Prüfungskompetenz erstmals einräumen, die Verwerfungskomptenz aber beim Conseil constitutionnel belassen würde. 92 So insbes. die vielbeachteten Schlußanträge von Generalanwalt Touffait zu Cass. Ch. mixte 24.5.1975 - Cafes Jacques Vabre (s.u. 4. Kap. B. II. 2. a); ebenso Boulouis RGDIP 1990, 91 (93 ft); Roseren in: Constitutional Adjudication (1992), 257 (264 ft); Kovar D. 1990 ehr. 57 ff.
93 Regierungskommissar Frydman identifiziert diese Begründungslinie in seinen Schlußanträgen zu CE Ass. 20.10.1989 - Nicolo (s.u. 4. Kap. B. II. 3. d) aa) mit der (seiner Ansicht nach verfassungswidrigen) Konstruktion der Supranationalität: " ... la Cour de justice des communautes europeennes - qui, comme on le sait, reconnait au droit communautaire une suprematie absolue sur les regles de droit interne, fussenteIles constitutionnelles - n'a, pour sa part, pas hesite a affirmer I'obligation d'ecarter en toutes hypotheses les lois contraires aux normes communautaires. ... une logique, difficilement justifiable, de supranationalite, a laquelle ne souscrit d'ailleurs pas expressement le traite de Rome et qui conduirait ... a rendre celui-ci tn':s certainement inconstitutionnel." (Hervorhebung im Original).
B. Prozessuale Durchsetzung
305
zwischen beiden Rechtsordnungen auch vom nationalen Recht des jeweiligen Mitgliedstaates aus bestimmt werden. Vom innerstaatlichen Rechts Frankreichs her gesehen hängt der Verweis auf die Eigenständigkeit des Gemeinschaftsrechts aber "in der Luft"; er ist in die Verfassungslandschaft nicht einzuordnen 94 • b) Aus Art. 55 der Verfassung Der Schlüssel muß also in der nationalen Rechtsordnung gesucht werden. Zentraler Bezugspunkt ist dabei Art. 55 der Verfassung; auch hier haben sich zwei Argumentationslinien entwickelt, die ihr identisches Ergebnis gleichermaßen auf Art. 55 der Verfassung stützen, im konzeptionellen Ausgangspunkt aber erheblich voneinander abweichen.
aa) Art. 55 der Verfassung als Kollisionsnorm zwischen Vertrag und Gesetz Zum einen wird vielfach argumentiert, daß die vom Richter zu treffende Auswahl der auf den Sachverhalt anwendbaren Rechtssätze auch dann keine Verwerfung des Gesetzes als verfassungswidrig bedeutet, wenn dieses in Anwendung des Art. 55 der Verfassung zugunsten eines älteren Vertrages hintangestellt wird: In diesem Fall werde nur die von der Verfassung zwischen Vertrag und Gesetz aufgestellte Kollisionsregel angewandt, ohne daß Verbindlichkeit und Geltung des Gesetzes in Frage gestellt würden. Allein seine Anwendbarkeit im Kollisionsfall, also im Anwendungsbereich des Vertrages, sei betroffen95 • Ein Kompetenzkonflikt mit dem Conseil constitutionnel kann nach dieser Sicht nicht auftreten, da die Fachgerichte anders als dieser das Gesetz nicht mit konstitutiver Wirkung verwerfen, sondern nur unter konkurrierenden Die Berechtigung dieser Einschätzung hängt von der zugrundegelegten Definition des Begriffs der Supranationalität ab: sie erscheint zutreffend, wenn Frydman damit bundesstaatliche Strukturen gemeint haben sollte, in denen Rang und Wirksamkeit des Bundesrechts nur noch von diesem selbst bestimmt werden. Tatsächlich geht aber ja auch der EuGH nicht soweit, von den nationalen Gerichten eine Begründung des Vorrangs allein aus dem Gemeinschaftsrecht zu verlangen, s. bereits oben 1. Kap. B. I. sowie noch unten 4. Kap. B. 11. 3. d) aa). 94 So bes. deutlich die Schlußanträge von Regierungskommissar Morisot zu CE Ass. 22.10.1979 - Maulaud et autres, RDP 1980,541 (547). 95 So etwa Lagrange RTDE 1975, 44 (50); Ruzie in: Reuter u.a. (Hrsg.), 103 (123 f); ML. Anm. D. 1968 jp 285; Kovar Anm. CDE 1974,402 (411); Lardy Force obligatoire (1966),117; Jacque Rev. adm. Est France 1981,5 (29); Bonichot RFDA 1989,579 (583).
20 GundeI
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4. Kapitel: Vorrang gegenüber Gesetzen
Normen die vorrangige auswählen und anwenden. Auch die traditionelle Argumentation gegen eine "Zensur" des Gesetzgebers durch den Richter erscheint zumindest abgeschwächt, weil eine derartige "Verwerfung" des Gesetzes als rechtswidrig nach dieser Konzeption gar nicht vorliegt, wenn statt des Gesetzes der Vertrag angewandt wird. Gegen diese Argumentation spricht freilich, daß Art. 55 keine "neutrale" Kollisionsnorm darstellt, sondern durchaus eine Normenhierarchie vorgibt. Auch wird die Vorstellung einer nur teilweisen Verdrängung des Gesetzes zur Fiktion, wenn Vertrag und nachfolgendes Gesetz tatsächlich denselben Anwendungsbereich beanspruchen: Für einen eigenen (Rest-) Anwendungsbereich des Gesetzes bleibt dann kein Raum mehr96 • Zudem erregt die Tatsache Mißtrauen, daß mit exakt derselben Argumentation unter der 4. Republik eine Minderheit in der Literatur97 für eine Verfassungskontrolle der Gesetze durch die Fachgerichte argumentiert hatte 98 • Die Übernahme dieser Argumentation könnte also in einer Art von Kettenreaktion zur Rechtfertigung einer fachgerichtlichen Kontrolle der Gesetze nicht nur am Maßstab der Verträge, sondern auch der Verfassung führen. Diese "überschießende" Konsequenz aber ist anders als noch unter der 4. Republik - unter systematischem Aspekt nicht mehr akzeptabel, so wünschenswert eine umfassendere Durchsetzung der Verfassung gegenüber dem Gesetz auch sein mag, um die oftmals schockierende weitere Anwendung ersichtlich verfassungswidriger Gesetze zu beenden 99 : Schon die bloße Existenz des Conseil constitutionnel fUhrt dazu, daß die Zuständigkeit der Fachgerichte zur Verfassungskontrolle der Gesetze nicht mehr durch die bloße Inanspruchnahme dieser Kompetenz mittels einer Änderung der Rechtsprechung begründet werden könnte 1110. Im Fall ihrer Einführung würde vielmehr eine prozessuale Koordination zwischen Fachgerichten
96
So etwa Genevois EuR 1985,355 (359 f).
So etwa Geny JCP 1947 I 613: "place en face de deux lois qu'il estime contradictoires et dont une seule doit etre appliquee, il [Ie juge] choisit la loi dont la valeur est superieure comme loi constitutionnelle, de meme qu'en d'autres cas il aurait a faire le choix entre une loi ancienne et une loi nouvelle ou entre la loi fran~aise et la loi etrangere"; ihm folgend Mignon D. 1952 ehr 45 (47). 97
98 So etwa Chenot LPA 1989 Nr. 6,13.1.1989, S. 16 (19): " ... les vieux arguments des etemels partisans d'un contröle de la constitutionnalite des lois ... "; ebenso Honorat/ Baptiste AJDA 1989, 756 (758 f): "Declarer une loi inapplicable a une espece parce qu'il existe une norme de valeur superieure et que celle-ci lui est contraire n'est rien d'autre que la mise en ceuvre de l'exception d'inconstitutionnalite, ... " 99 Für Beispiele s.o. 3. Kap. B. I. 4. a) bb) a). 100 Dafllr freilich Negrier RDP 1990, 767 (770 ff); ihm zustimmend wohl Charles Debbasch Melanges Chapus (1992), 127 (131).
B. Prozessuale Durchsetzung
307
und Conseil constitutionnel erforderlich werden, die nicht durch Richterrecht geschaffen werden kann 101.
bb) Art. 55 als implizite Ermächtigung (Habilitation implicite) der Fachgerichte zur Kontrolle der (indirekten) Verfassungsmäßigkeit? Die Vertreter des alternativen BegrUndungsweges erkennen dagegen als Ausgangspunkt durchaus an, daß die Herstellung und Durchsetzung der von der Verfassung vorgesehenen Normenhierarchie zwischen Vertrag und Gesetz durchaus ein Votum über das Gesetz, also die traditionell verbotene "Verwerfung" des Gesetzes durch den Richter bedeute; dennoch greift nach dieser Auffassung das Argument der ausschließlichen Zuständigkeit des Conseil constitutionnel nicht, weil ein vertragswidriges Gesetz nur einen "mittelbaren" Verstoß gegen die Verfassung darstellt: Verstoßen wird nicht gegen den Inhalt der Verfassung, sondern gegen die von der Verfassung aufgestellte Normenhierarchie. Vergleichbar ist insofern der Fall des gesetzwidrigen Verwaltungshandeins: Auch hier könnte man von indirekter Verfassungswidrigkeit sprechen, weil der von der Verfassung vorausgesetzte lO2 Vorrang des Gesetzes (principe de legalite) verletzt worden ist; dennoch ist die Sanktionierung des Verstoßes nicht Aufgabe des Conseil constitutionnel 103 • Die Vertragswidrigkeit eines Gesetzes entspricht danach nicht seiner Verfassungswidrigkeit im engen Sinn, und muß auch nicht denselben prozessualen Regeln unterliegen: Während die Feststellung der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes weithin unstreitig ausschließlich dem Conseil constitutionnel vorbehalten ist, ist es durchaus vorstellbar, die Kontrolle der Vertragsmäßigkeit allein den Fachgerichten zu überlassen. Diese Differenzierung kann sich zudem darauf stützen, daß der Conseil constitutionnel seit der grundlegenden Entscheidung vom 15.1.1975 tatsächlich - wenn auch mit im einzelnen nicht unbedingt überzeugenden Argumenten - in ständiger Rechtsprechung die ei101 s. auch noch unten 6. Kap. A. I. 2.; auch die Furcht vor solchen Weiterungen mag die langanhaltende Weigerung der Verwaltungsgerichtsbarkeit erklären, die Vertragskonformität nachfolgender Gesetze zu kontrollieren, so etwa die Argumentation von Odent in: La France et les CE (1975), 811 (820): "on voit mal pour quel motif le contröle juridictionnel ne porterait que sur la conformite de la loi aux traites et ne s'etendrait pas a la conformite de la loi a la Constitution. Les traites ont certes une autorite superieure a ceIle de la loi, mais I'autorite de la Constitution est au moins egale sinon meme superieure aceIle des traites ... " 102 Eine ausdrückliche Festschreibung dieses Grundsatzes in der Verfassung fehlt allerdings, s. nur Renoux D. 1991 chr. 169 mit Fn 5. 103 s. schon Goose Normenkontrolle (1973), 140; Ress ZaöRV 1975,445 (473 f).
20'
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4. Kapitel: Vorrang gegenüber Gesetzen
gene Zuständigkeit zur Kontrolle der Vertragskonfonnität der Gesetze verneint lO4 • Das neben diesem - damit ausgeräumten - systematischen Argument stehende und traditionell aus dem Grundsatz der Separation des Pouvoirs abgeleitete Verbot, sich zum Richter über das Gesetz aufzuschwingen, kann nach Ansicht der Vertreter dieser Auffassung dagegen grundsätzlich fortgelten: Es ist danach nur fur den Fall des Verhältnisses zwischen Gesetz und völkerrechtlichem Vertrag durch Art. 55 der Verfassung durchbrochen, der implizit auch den "einfachen" Richter ennächtigt, die Nonnenhierarchie zwischen Vertrag und nachfolgendem Gesetz im Konfliktfall durchzusetzen J05 • Diese unausgesprochene Ennächtigung ergibt sich danach aus der Tatsache, daß ein anderer Weg zur effektiven Durchsetzung des 55 nicht ersichtlich ist. Die einzige Alternative bestünde darin, Art. 55 nur noch die Bedeutung eines moralischen Appells an den Gesetzgeber zuzumessen: Als abstrakte Beteuerung der Vertragstreue des französischen Gesetzgebers wäre die Bestimmung aber neben Absatz 14 der Präambel von 1946 überflüssig J06 • Mit dieser vervollständigten Lesart von Art. 55 der Verfassung klärt sich auch das Schicksal der nonnativen Verankerungen der Beschränkung des Richters auf die bloße Anwendung des Gesetzes, wie etwa Art. 10 des Gesetzes vom 16.-24.8.1790: Diese nie ausdrücklich außer Kraft gesetzte Beschränkung der fachgerichtlichen Kompetenzen ist durch Art. 55 der Verfassung als nachfolgendes (Verfassungs-)Gesetz implizit aufgehoben, soweit sie der Durchsetzung seiner Vorgaben im Wege steht; einer besonderen gesetzlichen Aufhebung bedarf es nicht mehr"17 •
104 CC 15.1.1975 No 74-54 DC - Interruption volontaire de grossesse (IVG), Rec. S. 19 = GDCC Nr. 23, S. 299; zu dieser Entscheidung und ihrer Begründung s. ausführlich unten 4. Kap. B. H. 1. a). 105 So etwa Vedel luridictions fran!j:aises (1987), \0 f; ders. Melanges Waline Bd. 2 (1974),777 (790 f); Ruzie lDI 1975,249 (261 f); s. auch die prägnante Darstellung bei Abraham Droit international - Mise ajour S. IX f, der diese Sicht allerdings ursprünglich nicht geteilt hat und auch heute noch skeptisch ist ( "... une teile interpretation de I'article 55 n'est pas d'une evidence aveuglante ... "). 106 s. Vedel Melanges Waline Bd. 2 (\ 974), 777 (790 f); Jacque Rev. adm. Est France 1981,5 (29). 107 So Sabourin Anm. D. 1990 jp 561 (563); Kovar D. 1990 chr. 57 (61); Isaac Droit communautaire 1.A. 1983, S. 183; ders. RTDE 1989, 787 (793), BuffetTchakaloffCour de lustice S. 308; ebenso schon besonders prägnant Olmi RMC 1981, 242 (246): "Si, en effet, I'article 55 de la constitution a consacre la primaute des traites sur les lois et son application n'est pas reservee, en tant que 'contröle de constitutionnalite', au Conseil constitutionnel, c'est qu'il a ete destine a etre applique par les juri-
B. Prozessuale Durchsetzung
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Die BefUrworter einer Kontrolle der Vertragsmäßigkeit durch die Fachgerichte nehmen damit allerdings in Kauf, daß auf diese Weise der völkerrechtliche Vertrag im praktischen Ergebnis, also in der täglichen Rechtsanwendung besser gegen Verletzungen durch den Gesetzgeber geschützt wird als die Verfassung selbstJ()8: Die aus Art. 55 der Verfassung herausgelesene implizite Ermächtigung an die Fachgerichte beschränkt sich strikt auf die Kontrolle der Vertragsmäßigkeit der Gesetze. Die Kontrolle ihrer Verfassungsmäßigkeit (im engeren Sinne) bleibt dagegen weiter dem Conseil constitutionnel ausschließlich vorbehalten; sie bleibt daher nach den gegenwärtigen Strukturen im Grundsatz rein präventiv, und zudem im Regelfall der Überprüfung einfacher Gesetze auch fakultativ. Diese Diskrepanz kann argumentativ natürlich in beide Richtungen eingesetzt werden: Sie kann zum einen als Ansporn dienen, den prozessualen Schutz auch der Verfassung zu verbessern, nachdem "sogar" die Verträge effektiv durchgesetzt werden 109. Sie kann aber auch genutzt werden, um die Angemessenheit der prozessualen Durchsetzung des Vertrages gegenüber dem Gesetz in Frage zu stellen, nachdem "nicht einmal" die Verfassung einen so weitgehenden Schutz genießt"o. 3. Klärung durch den Gesetzgeber?
Über lange Zeit wurde angenommen, daß der gordische Knoten dieser Diskussion nur durch eine eindeutige Intervention des Gesetzgebers gelöst werden könne, der das Problem im einen oder anderen Sinne regeln müsse ill . Die Klärung sollte dabei nach Möglichkeit auf der Ebene eines verfassungsändictions et qu'iI a donc lui-meme deja deroge a la loi de 1790 et au code penal." S. auch nochmals dens. Liber Amicorum Pescatore (1987), 499 (523). Zur zugrundeliegenden Rechtsfigur der caducite s. schon oben 3. Kap. B. I. 4. a) bb) ß). 108 Bonichot RFDA 1989, 579 (581). 109 Zur Diskussion um die Einführung der exception d'inconstitutionnalite, in der auch dieses Argument eingesetzt wird, s. z.B. Luchaire in: Conac / Maus (1990), 83 oder die Ansprache des damaligen Präsidenten des CC, Robert Badinter, zum 20. Jahrestag der Verfassungsreform von 1974 am 3.11.1994, wiedergegeben in RFDC 1994, 873 (874 t); zuletzt Ga/mot CDE 1997,67 (76 ft); s. auch o. 3. Kap. B. I. 4. a) dd). 110 So die Begründung der Initiative der Abgeordneten Debn: und Mazeaud vom 9.10.1990, durch eine Änderung des Art. 55 den Vorrang der Verträge zu beseitigen; dazu m.w.N. noch unten 4. Kap. B. 11.3. d) cc) mit Fn 427. 111 So z.B. die Schlußanträge von Regierungskommissar Genevois zu CE Ass. 31.10.1980 - Lahache, D. 1981 jp 38 (40), s. m.w.N. unten 4. Kap. B. 11. 3. b); sowie B.G. (wiederum Genevois) Anm. zu CE Ass. 22.10.1979 - UDT, AJDA 1980,43 (46) jeweils für eine ausdrückliche Ermächtigung der Fachgerichte zur Durchsetzung des Vorrangs der Verträge.
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4. Kapitel: Vorrang gegenüber Gesetzen
dernden Gesetzes erfolgen l12 ; teils wurde die Problematik sogar als so grundsätzlich empfunden, daß nur eine Entscheidung auf dem Wege des Referendums in Betracht komme" 3 • Tatsächlich ist trotz mehrerer Anläufe 114 in gegensätzliche Richtungen eine solche konstitutive Klärung nicht erfolgt. Die Abwägung der im Raum stehenden Argumente blieb der Rechtsprechung überlassen, die nach über Jahrzehnte andauernden Divergenzen zwischen den obersten Gerichten Frankreichs schließlich doch zu einer zumindest im Ergebnis einheitlichen Lösung gelangt ist.
11. Die Entwicklung der Rechtsprechung 1. Die Rechtsprechung des Conseil constitutionnel
Die Rechtsprechung des Conseil constitutionnel steht aus zwei Gründen im Zentrum der Problematik um die Durchsetzung des Vorrangs gegenüber nationalen Gesetzen: Zum einen handelt es ersichtlich um eine Frage auf der Ebene der Verfassungsauslegung"s, so daß die vom Conseil constitutionnel eingeschlagene Richtung die Haltung der anderen Gerichtsbarkeiten zwar nicht rechtskräftig binden konnte 116, aber doch zumindest langfristig beeinflussen mußte. Zudem schien es zumindest naheliegend, daß das in der französischen Rechtsordnung relativ neue Phänomen einer Kontrolle der Gesetze nicht nur hinsichtlich des Maßstabes der Verfassung, sondern generell - also hinsichtlich jeder denkbaren höherrangigen Norm - allein von dem zum Zwecke der Gesetzeskontrolle neu geschaffenen Organ ausgefUllt werden würde. Gerade diese Erwartung hat sich allerdings nicht erfUllt: Der Conseil constitutionnel sieht es jedenfalls in seiner Funktion als "Richter über das Gesetz""7 nicht als seine Aufgabe an, den Vorrang der Verträge durchzusetzen.
112 So schon frUh Oden! Contentieux Administratif, Les Cours de Droit 1970 - 71, 131; Bonnefoy JDI 1971, 501 (531 t); Rideau Droit international et droit interne franryais (1971),21; Genevois EDCE 1979-1980,73 (82); Buffet-TchakaloffCour de lustice S. 308. 113 So Chenot LPA 1989 Nr. 6, 13.1.1989, S. 16 (19). 114 S.u. 4. Kap. B. 11. 3. c). 115 s. schon oben 4. Kap. B. I. 1. b). 116 Dazu unten 4. Kap. B. 11. 1. c) cc). 117 So der Titel der vielbeachteten Schrift von Uo Hamon zur Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Frankreich: "Les juges de la loi. Naissance et röle d'un contre-pouvoir" (1987).
B. Prozessuale Durchsetzung
311
a) Ausschluß des Vertrags als Prüjungsmaßstab im Rahmen der Kontrolle der Verjassungsmäßigkeit der Gesetze
aa) Verweigerung des Abgleichs zwischen Vertrag und Gesetz Der Conseil constitutionnel hat zur Frage seiner Zuständigkeit erstmals mit einer Entscheidung vom 15.1.1975 118 Stellung genommen, das die weitere Entwicklung der Diskussion in den seitdem vergangenen 20 Jahren grundlegend geprägt hat.
a) Die Grundsatzentscheidung vom 15.1.1975
In diesem Verfahren war die heftig umstrittene Neuregelung der französischen Abtreibungsgesetzgebung durch das (nach der damaligen Gesundheitsministerin Simone Veil) sogenannte "Loi Veil" zu prüfen. Die Abgeordneten der Nationalversammlung, die den Conseil constitutionnel angerufen hatten, beanstandeten zum einen Verstöße gegen die Präambel der Verfassung, zum anderen auch einen Verstoß gegen das in Art. 2 der erst kurz zuvor ratifizierten 119 EMRK gewährleistete Recht auf Leben. Der Conseil constitutionnel hat nur die aus der Verfassung hergeleiteten Argumente in der Sache beantwortet. Eine Auseinandersetzung mit der EMRK hat er dagegen mit grundsätzlichen Erwägungen abgelehnt: Die Beachtung des in Art. 55 der Verfassung ausgesprochenen Vorrangs völkerrechtlicher Verträge gegenüber nationalen Gesetzen könne nicht im Verfahren der Verfassungsprüfung nach Art. 61 der Verfassung gesichert werden; die in diesem Verfahren ergehenden Entscheidungen wirkten unbegrenzt und endgültig (absolu et
118 CC 15.1.1975 No 74-54 OC - Interruption volontaire de grossesse (IVG), Rec. S. 19 = GOCC Nr. 23, S. 299 = O. 1975, jp 529 m.Anm. Uo Hamon = JCP 1975 II 18030 m.Anm. Bey = Gaz. Pa\. 1976, 1, 25 m.ab\.Anm. Pellet = RCDIP 1975, 125 m.Anm. Lagarde = AJDA 1975, 134 m.Anm. Rivero = JDI 1975, 267 m.Anm. Ruzie S. 249; deutsche Übersetzung in EuGRZ 1975, 54 m.Anm. Eissen; s. auch die umfassende Besprechung durch Ress ZaöRV 1975,445 ff. 119 Oie Ratifikation ist am 3.5.1974 erfolgt, s. Loi No 73-1227 du 31.12.1973, JORF 3.1.1974, S. 67; Oecret No 74-360 du 3.5.1974, JORF 4.5.1974, S. 4750; zu den Hintergründen dieses späten Beitritts Pellet RDP 1974, 1319 ff; Goy Netherlands internat. law review 22 (1975), 31 ff; die Individualbeschwerde gern. Art. 25 EMRK hat Frankreich erst am 2.10.1981 akzeptiert, dazu Cohen-Jonathan AFDI 1981, 269 ff; Pellet RDP 1981,69 ff; Autexier ZaöRV 1982,327 ff.
312
4. Kapitel: Vorrang gegenüber Gesetzen
detinitif), während der in Art. 55 der Verfassung angeordnete Vorrang der Verträge begrenzt und unbestimmt sei (relatif et contingent)l2o. Der Vorrang bleibt danach begrenzt, weil er nur im Anwendungsbereich des Vertrages wirkt, eine gegen einen bilateralen Vertrag verstoßende gesetzliche Regelung also gegenüber Drittstaaten ohne weiteres anwendbar bleibt. Er bleibt unbestimmt im Sinne von instabil, da die Erfüllung der von Art. 55 gesetzten Bedingungen des Vorrangs durch den betroffenen Vertrag, insbesondere die Erfüllung des Gegenseitigkeitserfordernisses - im Verhältnis zu verschiedenen Vertragspartnern, aber auch in zeitlicher Hinsicht - schwanken kann. Auf diese Prämissen folgt etwas abrupt die apodiktische Feststellung, daß ein vertragswidriges Gesetz allein deshalb noch nicht verfassungswidrig sei 121. Im nächsten Erwägungsgrund folgt wieder die Rückkehr zu der spezifisch verfahrenstechnischen Folgerung, daß der Vorrang der Verträge im Verfahren der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze nach Art. 61 Abs. 2 der Verfassung nicht gesichert werden kann 122. Die Begründung läßt vor allem zweierlei erkennen: Zum einen lehnt der Conseil constitutionnel es grundsätzlich ab, im Rahmen der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze auch die völkerrechtlichen Verträge als Prüfungsmaßstab einzubeziehen. Zum anderen ist er auch ersichtlich nicht bereit, im Einzelfall zu überprüfen, ob die nach dieser Argumentation maßgeblich gegen diese Einbeziehung sprechende Instabilität des Vorrangs auf den konkret betroffenen Vertrag tatsächlich zutrifft. Auf etwaige Besonderheiten einzelner Verträge - wie gerade der in diesem Fall betroffenen EMRK, aber auch 120 " •.• les decisions prises en application de l'art 61 de la Constitution revetent un caractere absolu et definitif, ainsi qu'il resulte de l'art 62, qui fait obstacle a la promulgation et a la mise en application de toute disposition declaree inconstitutionnelle; ... au contraire, la superiarite des traites sur les lais, dont le principe est pose a l'art 55 precite, presente un caractere la lais relatif et cantingent, tenant, d'une part, a ce qu'elle est limite au champ d'application du traite et d'autre part, a ce qu'elle est subordonnee a une condition de reciprocite dont la realisation peut varier selon le comportement du ou des Etats signataires du traite et du moment ou doit s'apprecier le respect de cette condition;" (4. Erwägungsgrund).
a
121 " ••. une loi contraire a un traite ne serait pas, pour autant, contraire tion;" (5. Erwägungsgrund).
a la Constitu-
122 " ... ainsi le contröle du respect du principe enonce a l'art 55 de la Constitution ne saurait s'exercer dans le cadre de l'examen prevu a l'art 61, en raison de la difference de nature de ces deux contröles;" (6. Erwägungsgrund). " ... dans ces conditions, il n'appartient pas au Conseil constitutionnel, lorsqu'il est saisi en application de l'art 61 de la Constitution, d'examiner la conformite d'une loi aux stipulations d'un traite ou d'un accord international;" (7. Erwägungsgrund).
B. Prozessuale Durchsetzung
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des Gemeinschaftsrechts - soll offensichtlich keine Rücksicht genommen werden: Die Kategorien der Vefassungsmäßigkeit einerseits und der Vertragsmäßigkeit andererseits werden einer strikten Trennung unterworfen. Die Literatur, die vor dieser Entscheidung die Zuständigkeit des Conseil constitutionnel als unproblematisch angesehen 12l, die Frage aber nur selten vertieft hatte 12\ hat diese Entscheidung ursprünglich überwiegend negativ aufgenommen: Die Kritik richtete sich zum einen gegen die vom Conseil constitutionnel verwandte - und tatsächlich angreifbare - Begründung; der vom Conseil constitutionnel behauptete vorübergehende (contingent) und relative Charakter eines Konflikts zwischen Vertrag und nachfolgendem Gesetz wurde als Verallgemeinerung empfunden, die zumindest bestimmten Verträgen - wie der von der Entscheidung betroffene EMRK, aber auch dem Gemeinschaftsrecht - nicht gerecht werde, auf die diese Einwände nicht zuträfen 125. Regelmäßig räumten auch die Kritiker jedoch ein, daß zumindest praktische Gründe wie die unüberschaubare Zahl der Abkommen (und im Gemeinschaftsrecht insbesondere der Umfang des Sekundärrechts) sowie die Kürze der zur Verfügung stehenden Prüfungsfrist l26 jedenfalls die Haltung des Conseil constitutionnel zumindest verständlich machen 127. Auch erkannte die Kri-
123 s. vor allem Luchaire Melanges Waline Bd. 2 (1974),563 (569 f); s. weiter die wenigen Nachweise bei Ruzü} 101 1975, 249 (255 Fn 31 u. 32); die Literatur hatte sich für diese Annahme v.a. auf die Eigenmittel-Entscheidung des CC von 1970 (s.o. 3. Kap. A. II. I. a) aa) gestützt und aus der in dieser Entscheidung implizierten Anerkennung der Regel "pacta sunt servanda" die Zuständigkeit des CC zur Kontrolle der Einhaltung auch der völkerrechtlichen Verträge hergeleitet. 124
So auch die Feststellung von Rideau Anm. CDE 1975, 608 (611).
So etwa Rivero Anm. AJDA 1975, 134 (135); Pellet Anm. Gaz. Pal 1976, 1,25 (27); Leo Hamon Anm. D. 1975 jp 530 (531); Rideau Anm. CDE 1975,608 (618 ff); Genevois EDCE 1979-1980, 73 (81); ders. RFDA 1989, 824 (827); ähnlich trotz grundsätzlicher Zustimmung auch Favoreu I Philip RDP 1975, 165 (191); s. noch heute Vedel 1uridictions fran~aises (1987), 10; Rideau in: Droit constitutionnel et droits de I'homme (1987), 205 (243 f); Bon in: Droit constitutionnel et droits de I'homme (1987),269 (296 f); Rousseau in: Rousseau / Sudre (1990), 117 (120 f). 125
126 Diese Frist würde eine ggf. ja notwendige Vorlage zum EuGH gern. Art. 177 EGV unmöglich machen, s. bereits oben 3. Kap. B. I. 2. e) bei Fn 102; der CC müßte also entweder unter Mißachtung der Monatsfrist gern. Art. 61 Abs. 3 der Verfassung vorlegen oder aber unter Mißachtung des Art. 177 Abs. 3 EGV auf sich selbst gestellt entscheiden: in diesem Fall könnte er zudem eine Auslegung des Gemeinschaftsrechts wählen, die vom EuGH später aus Anlaß anderer Verfahren korrigiert würde, so Genevois RFDA 1989, 824 (827).
127 Chapus DAG I Rn 144, S. 113; Pellet Anm. Gaz. Pa!. 1976, 1,25 (27); Favoreul Philip RDP 1975, 165 (192); später noch Vedel 1uridictions fran~aises (1987), 11;
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4. Kapitel: Vorrang gegenüber Gesetzen
tik an, daß für eine Differenzierung zwischen den als "zentral" empfundenen Abkommen wie der EMRK und der unüberschaubaren Zahl bilateraler oder rein technischer Abkommen ein verfassungsrechtlicher Ansatzpunkt nicht gegeben war: Art. 55 der Verfassung stellt alle Verträge auf eine Stufe l2K • Es ist allerdings durchaus bemerkt worden, daß der Rückzug auf die Kontrolle allein am Maßstab der Verfassung (im engeren Sinn l29 des "bloc de constitutionnalite") nicht eben konsequent scheint 130, da der Conseil constitutionnel auch die Beachtung der Lois organiques durch die einfachen Gesetze im Verfahren nach Art. 61 Abs. 2 der Verfassung sichert l31 • Das Loi organique steht nach heute hinreichend gesicherter Erkenntnis seinerseits im Rang unter dem Vertrag 132. Wenn der Conseil constitutionnel also den Vorrang der Lois organiques vor den Gesetzen, nicht aber den Vorrang der Verträge (gegenüber einfachen Gesetzen, aber wohl auch Lois organiques) durchsetzt, so bedeutet das im Ergebnis eine nur selektive Sicherung der Normenhierarchie durch den Conseil constitutionnel: Seine Kontrolle beginnt auf der Ebene der Verfassung selbst, um dann auf der "Zwischenebene" der Verträge auszusetzen, und schließlich eine Stufe tiefer - zugunsten der Lois organiques - wieder aufgenommen zu werden. Auch dieser auf den ersten Blick tatsächlich befremdliche Unterschied läßt sich aber rechtfertigen: Die Zahl der Lois organiques ist von Verfassungs wegen begrenzt, ihr Inhalt dem Conseil constitutionnel aufgrund der vorangegangenen obligatorischen Kontrolle gemäß Art. 61 Abs. 1 der Verfassung bekannt 133 • Es ist also verständlich, wenn der Conseil constitutionnel sich hier eher in der Lage sieht, die Beachtung der Normenhierarchie selbst durchzusetzen. Die Kritik richtete sich zum anderen gegen das befürchtete Ergebnis eines negativen Kompetenzkonflikts: Obwohl die Entscheidung keine Aussagen zur Kontrolle der Vertragskonformität durch die Fachgerichte machte, wurde Genevois Jurisprudence Rn 581, S. 372 ff; Abraham Droit international S. 113 f; Honorat / Baptiste AJDA 1989, 756 (757); de Berranger Constitutions nationales S. 231. 128 Rivero Anm. AJDA 1975, 134 (136); Favoreu AFDI 1977,95 (114 f); Genevois EDCE 1979-1980, 73 (81); ders. RFDA 1989,824 (827 t); ders. Melanges Braibant (1996), 323 (338); zum damit entstehenden Problem der Vertragskonkurrenz s.u. 6. Kap.B. 129 Dazu bereits oben 3. Kap. A. I. 2. a). 130 Pellet Anm. Gaz. Pal. 1976, 1,25 (27); s. auch Ress ZaöRV 1975,445 (472 ft), der allerdings die Frage des Rangverhältnisses zwischen Loi organique und Vertrag seinerzeit wohl zu Recht - als ungeklärt bezeichnet. 131 s.o. 3. Kap. A. I. 2. c) aal. 132 s.o. 3. Kap. A. I. 2. c) aal. 133 s.O. 3. Kap. A. I. 2. c) aal.
B. Prozessuale Durchsetzung
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dieses Schweigen zwar mehrheitlich als unausgesprochene Aufforderung an die Fachgerichte verstanden, diese Kontrolle selbst auszuüben 134. Sollten die Fachgerichte diesem Appell aber nicht folgen, sondern sich ebenfalls weigern, die Gesetze auf ihre Vereinbarkeit mit dem Vertrag zu prüfen, so entstünde eine Rechtsschutzlücke: Art. 55 der Verfassung würde zu einer rein moralischen Aufforderung an den Gesetzgeber degradiert 135 • Der Conseil constitutionnel hat sich von dieser Kritik nicht beeindrucken lassen und seine Unzuständigkeit zur Kontrolle der Vertragsmäßigkeit der Gesetze bereits kurze Zeit später erneut bestätigt l36 • Seit dieser Zeit gehört der Ausschluß dieser Kontrolle im Rahmen der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur ständigen Rechtsprechung des Conseil constitutionnel.
ß) Anderung der Lage durch die Verfassungsänderung im Rahmen der Ratifikation des Unionsvertrages (Art. 88-1 ff der Verfassung)? Diese grundsätzliche Abstinenz des Conseil constitutionnel scheint auch durch die verfassungsrechtlichen Entwicklungen im Rahmen der Ratifikation des Unionsvertrages nicht in Frage gestellt. Insbesondere hat die punktuelle Bezugnahme auf die Bestimmungen des EGV durch Art. 88-2 der Verfassung und die im diesem Zusammenhang erfolgte Feststellung des Conseil constitutionnel 137 , wonach das zur Ausführung vorgesehene Loi organique die Vorgaben dieser Verfassungsbestimmung und damit mittelbar auch der in Bezug genommenen Vertragsbestimmungen zum Kommunalwahlrecht einhalten müsse, keine generelle Änderung der Rechtsprechung bewirkt: Durch das nunmehr bestehende Verfassungskapitel zur europäischen Integration wird diese zwar grundsätzlich verfassungsrechtlich gesondert legitimiert, damit aber nicht
134
s. die Nachweise unten bei Fn 173.
So insbesondere Ruzie JDI 1975,249 (257 f, 264); Hamon Anm. O. 1975 jp 530 (531); Rideau Anm. COE 1975,608 (627). 136 U.a. CC 20.7.1977 No 77-83 OC - Obligations de service des fonctionnaires, Rec. S. 39 = RDP 1978, 862 m. Bespr Favoreu S. 801 (827 ff) = AJDA 1977,437 = O. 1979 jp 297 m.Anm. Uo Hamon - Überprüfung eines Gesetzes am Maßstab von ILO-Konvention Nr. 95 abgelehnt; CC 18.1.1978 No 77-91 OC - Contre-visite medicale, Rec. S. 21 = RDP 1978, 868 m. Bespr. Favoreu S. 801 (834 ff) - EMRK als Maßstab abgelehnt; CC 24.6.1991 No 91-298 OC - Loi portant diverses dispositions d'ordre economique et financier, Rec. S. 82 (21. Erwägungsgrund): keine Überprüfung nationaler Mehrwertsteuer-Berechnungsregeln am Maßstab des EWGV oder des Sekundärrechts. 137 Zu dieser Passage von CC 2.9.1992 No 92-312 OC - Maastricht II, Rec. S. 76 s. bereits oben 3. Kap. A. I. 2. c) dd) mit Fn 181. 135
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4. Kapitel: Vorrang gegenüber Gesetzen
schon selbst in Verfassungsrang erhoben und auf diese Weise zum Prüfungsmaßstab im Rahmen der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze gemacht. Allenfalls können Gesetze, die im Anwendungsbereich der 88-1 ff der Verfassung ergehen und sich im Rahmen von deren Vorgaben halten, unter Bezug auf diese Bestimmungen verfassungsrechtlich legitimiert werden, soweit sie bei isolierter Betrachtung gegen anderweitige Bestimmungen der Verfassung zu verstoßen scheinen 138; allein in diesem (Rechtfertigungs-) Zusammenhang könnte in Zukunft der Vertrag auch zum Bezugspunkt der Verfassungskontrolle seitens des Conseil constitutionnel werden. Wohl um anhaltenden Spekulationen l39 um eine weitergehende Entwicklung seiner Rechtsprechung den Boden zu entziehen 140, betont der Conseil constitutionnel vielmehr in neuerer Zeit den Ausschluß der eigenen Zuständigkeit sogar in besonders grundsätzlichen Formulierungen 141. Tatsächlich hält die Grundentscheidung des Conseil constitutionnel der Kritik bei ergebnisbezogener Betrachtung auch heute noch stand l42 • Auch der Vorschlag einer konkurrierenden Zuständigkeit von Verfassungs gericht und Fachgerichten im Sinne eines doppelten Filters stellt keine zufriedenstellende Alternative zur grundsätzlichen Abstinenz des Conseil constitutionnel dar: Sie könnte zwar die Lücken schließen, die sich aus einer unterbliebenen Anrufung des Conseil constitutionnel gegen das fragliche Gesetz ergeben; wurde der Conseil constitutionnel aber mit dem Gesetz befaßt und würde er bei dieser
138
Zu dieser Möglichkeit bereits oben 3. Kap. B. I. 4. b) bb) ß).
Zu solchen Stimmen s. bereits oben 3. Kap. A. I. 2. c) dd). So die Vermutung von Favoreu RFDC 1993,587 (600); ders. Me1anges Plantey (1995), 33 (36); Gai"a D. 1995 sc. 302 (303). 141 CC 13.8.1993 No 93-325 DC - Maitrise de l'immigration, Rec. S. 224 = GDCC Nr. 46, S. 817 = RFDA 1993, 887 m.Anm. Genevois S. 871 = RFDC 1993, 583 m.Anm. Favoreu: " ... I'appreciation de la constitutionnalite des dispositions que le legislateur estime devoir prendre ne saurait etre tiree ... de la conformite de la loi avec les stipulations de conventions internationales mais resulte de la confrontation de celle-ci avec les seules exigences de caractere constitutionnel;" (2. Erwägungsgrund). Fast wörtlich wiederholt durch den 6. Erwägungsgrund von CC 21.1.1994 No 93335 DC - Urbanisme et construction, Rec. S. 40 = RFDC 1994, 364 m.Anm. MilinSoucramanien = RFDA 1995, 22 m.Anm. Hocreitere S. 7 = D. 1995 sc. 302 m.Anm Gaiä; zuletzt in diesem Sinne auch der 9. Erwägungsgrund von CC 9.4.1996 No 96375 DC - Loi portant diverses dispositions d'ordre economique et financier, JORF 13.4.1996, S. 5730 = RDP 1996, 1159 m.Anm. Pritot S. 1147 = RFDC 1996, 598 m.Anm. Gai"a. 142 So zuletzt auch wieder Favoreu Me1anges Plantey (1995), 33 (38 ff); Genevois Melanges Braibant (1996), 323 (338 f). 139 140
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Gelegenheit auch die Kontrolle der Vertragsmäßigkeit ausüben, so wäre eine positive, d.h. Verfassungs- und Vertragsmäßigkeit des Gesetzes bejahende Entscheidung des Conseil constitutionnel gemäß Art. 62 der Verfassung verbindlich. Sollte der Conseil constitutionnel bei dieser Prüfung also ein Abkommen übersehen oder falsch interpretiert haben, so wäre dieses - angesichts der Kürze der Prüfungsfrist und des Fehlens eines wirklich kontradiktorischen Verfahrens verzeihliche - Versehen in späteren Verfahren vor den Fachgerichten nicht mehr korrigierbar. Denkbar bleibt allerdings eine begrenzte Entwicklung im Gefolge der Maastricht-II-Entscheidung: Der Conseil constitutionnel könnte nicht nur - wie diese Entscheidung wohl andeutet - die Vertragskonformität des Loi organique zur Umsetzung des Kommunalwahlrechts auf der Grundlage von Art. 88-3 der Verfassung, sondern generell im Rahmen der obligatorischen Überprtifung dieser Gesetzeskategorie deren Vereinbarkeit mit den völkervertraglichen Verpflichtungen Frankreichs selbst prtifen l43 • Selbst diese begrenzte Perspektive enthält jedoch Unwägbarkeiten: Zwar stellt sich hier nicht das Problem der Folgen einer unterbliebenen Überprüfung; wohl aber besteht wiederum die Gefahr eines - nicht mehr korrigierbaren - Fehlurteils. Auch hier gilt, daß der Conseil constitutionnel zur Vermeidung solcher Disparitäten mit einer solchen Erweiterung seiner Prüfungsmaßstäbe zugleich auch die Zusammenarbeit mit dem EuGH im Rahmen des Art. 177 EGV akzeptieren müßte l44 •
bb) Verbleibende Kontrollzuständigkeiten des Conseil constitutionnel in seiner Eigenschaft als Verfassungs gericht Die grundsätzliche Ablehnung der eigenen Zuständigkeit zur Überprtifung der Gesetze am Maßstab der Verträge bedeutet aber nicht, daß der Conseil constitutionnel Art. 55 nicht als vollwertigen Teil der Verfassung ansähe; tatsächlich existieren Konstellationen, in denen der Conseil constitutionnel unter Beibehaltung seiner Grundposition selbst und in seiner Eigenschaft als Verfassungsgericht l45 die Beachtung der Regel des Art. 55 sichert.
143 So die Überlegung von Verdier RDP 1994, 1137 (1159); Genevois Melanges Braibant (1996), 323 (334). 144 Dazu bereits oben 3. Kap. B. I. 2. e). 145 Zur Haltung des Kap. B. 11. 1. b) bb) ß).
ce
in seiner Eigenschaft als Fachgericht (Wahlrichter) s.u. 4.
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4. Kapitel: Vorrang gegenüber Gesetzen
a) Sanktionierung "unmittelbarer" Verletzungen von Art. 55 der Verfassung Dies ist vor allem dann der Fall, wenn ein Gesetzestext den in Art. 55 der Verfassung verfUgten Grundsatz des Vorrangs der Verträge unmittelbar attakkiert, also zum Beispiel versucht, den Anwendungsbereich dieser Vorschrift durch die Hinzufligung weiterer Bedingungen zu verkürzen. Hier zögert der Conseil constitutionnel nicht, derartige Bestimmungen unmittelbar an Art. 55 zu messen und gegebenenfalls fUr verfassungswidrig zu erklären. So hat der Conseil constitutionnel mit einer Entscheidung vom 3.9.1986 146 eine von Michel Debrt~ zu verantwortende 147 Ergänzung zum Gesetz über die Neuregelung des Ausländerrechts beanstandet; nach dieser Klausel sollten diesem Gesetz nur "ordnungsgemäß ratifizierte oder nicht gekündigte"148 völkerrechtliche Verträge vorgehen 149. Der aus anderen Gründen gegen das Gesetz angerufene Conseil constitutionnel hat zu dieser Klausel von Amts wegen 150 festgehalten, daß Art. 55 der Verfassung auch nicht ratifikations-
146 CC 3.9.1986 No 86-216 DC - Loi relative aux conditions d'entree et de sejour des etrangers, Rec. S. 135 = 101 1987,301 m.Anm. Pinto S. 289 = RFDA 1987, 126 m.Anm. Genevois S. 120; zu dieser Entscheidung auch Favoreu RDP 1989,399 (450); s. auch noch unten bei Fn 182. 147 Zu den Hintergründen s. Dhornrneaux RDP 1987, 1449 (1460 ff): Debre hatte beanstandet, daß das deutsch-französische Abkommen über den schrittweisen Abbau der Grenzkontrollen dem Parlament nicht gern. Art. 53 der Verfassung zur Zustimmung vorgelegt worden war, und wollte den Vorrang solcher Dokumente ausschließen. Die Regierung dagegen ging davon aus, daß das Abkommen Art. 53 nicht unterfiel und folglich der Zustimmung des Parlaments nicht bedurfte; ein Rechtsweg zur Klärung solcher Streitigkeiten fehlt bis heute, da auch die Fachgerichte bei Anwendung des Art. 55 der Verfassung das Abschlußverfahren nicht überprüfen, s.o. 3. Kap. B. 11. 148 "conventions internationales dflment ratifiees ou non denoncees". 149 Tatsächlich war die Formulierung ein peinlicher terminologischer Fehlgriff Debres: er hatte mit Ratifikation die Zustimmung des Parlaments gemeint. Zu Debres eigentlichem Anliegen, die Einhaltung des Art. 53 der Verfassung sicherzustellen, ist der CC daher gar nicht vorgedrungen, s. Dhornrneaux RDP 1987, 1449 (1461). 150 Zu diesem "soulevement d'office", d.h. der eigenständigen Überprüfung von in der Vorlage nicht beanstandeten Vorschriften des vorgelegten Gesetzes s. Conac / Luchaire (-Luchaire), Art. 61, S. 1111 (1116); Genevois Jurisprudence Rn 79-82, S. 46 ff; Rousseau Contentieux constitutionnel S. 161 f: dem CC kann nur das Gesetz in seiner Gesamtheit vorgelegt werden, er überprüft daraufhin zwar regelmäßig nicht systematisch das gesamte Gesetz, behält sich aber immer vor, im Einzelfall doch von der (nicht begründungsbedürftigen !, s. nur Rousseau Contentieux constitutionnel S. 161; kritisch Favoreu RDP 1989,399 [425 f1) Vorlage nicht bemerkte oder bewußt
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bedürftigen Abkommen Vorrang vor den Gesetzen einräumt. Die verengende Formulierung des Gesetzes verstieß also unmittelbar gegen Art. 55 der Verfassung und wurde aus diesem Grunde vom Conseil constitutionnel verworfen 151. Weitere Gelegenheiten zur Beanstandung derartiger direkter Verstöße gegen den Grundsatz des Vorrangs haben sich in der Folgezeit nicht ergeben; der Conseil constitutionnel hat allerdings in mehreren späteren Entscheidungen durch eine e-contrario-Argumentation signalisiert, daß er diese Kontrolle auf unmittelbare Verstöße weiter ausüben wird 152 •
ß) Ausdehnung der Kontrolle des Conseil constitutionnel au/weitere Konstellationen?
Denkbar wäre eine Erweiterung der Kontrolle durch den Conseil constitutionnel auf den Fall von Gesetzen, die ausdrücklich gegen bestimmte Verträge handeln, etwa bestimmen, daß bestimmte Bestimmungen eines Vertrages nicht angewandt werden sollen, oder die z.B. eine mißliebige Entscheidung des EuGH als unverbindlich bezeichnen l53 : In derartigen Fällen handelt es sich um Gesetze, deren Vertragswidrigkeit schon aufgrund ihrer eigenen Aussage nicht gerügte Verstöße aus eigener Initiative zu beanstanden (oder aber möglich scheinende Verstöße ausdrücklich zu prüfen und dann zu verneinen). 151 " ••• l'article I-I de la loi soumise a I'examen du Conseil constitutionnel exclut de I'application des mesures qu'i1 Miete, non I'ensemble des conventions internationales mais uniquement les 'conventions internationales dfiment ratifiees et non denoncees'; ... en restreignant ainsi le domaine d'application de l'article 55. l'expression 'dfiment ratifiees et non denoncees' n'est pas conforme a la Constitution;" (5. Erwägungsgrund). 152 CC 29.12.1989 No 89-268 DC - Loi de finances pour 1990, Rec. S. I IO = RGDIP 1990, 278 = RFDA 1990, 159 m.Anm. Genevois S. 143 = RFDC 1990, 122 m.Anm. Philip: "... s'i1 revient au Conseil constitutionnel, 10rsqu'i1 est saisi sur le fondement de l'article 61 de la Constitution de s'assurer que la loi respecte le champ d'application de l'article 55, il ne lui appartient pas en revanche d'examiner la conformite de celle-ci aux stipulations d'un traite ou d'un accord international;" (79. Erwägungsgrund). Wörtlich ebenso der 5. Erwägungsgrund von CC 23.7.1991 No 91-293 DC - Loi portant diverses dispositions relatives a la fonction publique, Rec. S. 77 = D. 1991 jp 617 (I. Entscheidung) m.Anm. Uo Hamon = RFDA 1991,918 m.Anm. Dubouis S. 903 = RFDC 1991,699 m.Anm. Gai'a sowie der 21. Erwägungsgrund von CC 24.6.1991 No 91-298 DC - Loi portant diverses dispositions d'ordre economique et financier, Rec. S. 82; zuletzt nochmals der 9. Erwägungsgrund von CC 9.4.1996 No 96-375 DC - Loi portant diverses dispositions d'ordre economique et financier, JORF 13.4.1996, S. 5730 = RDP 1996, 1159 m.Anm. Pretot S. 1147 = RFDC 1996, 598 m.Anm. Gai'a. 153 Für einen solchen Fall s.o. 3. Kap. B. I. 2. c) mit Fn 80.
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4. Kapitel: Vorrang gegenOber Gesetzen
feststeht 154. Dem gleichzustellen wären möglicherweise Gesetze, deren Vertragswidrigkeit auch ohne ausdrückliche Aussage allgemein bekannt oder offensichtlich wäre l55 • Als Beispiel wird in den 80er Jahren immer wieder die Hypothese einer gesetzlichen Wiedereinführung der Todesstrafe unter Verstoß gegen das 6. Zusatzprotokoll zur EMRK I56 genannt l57 : Die Vorstellung, daß ein solches evident vertragswidriges Gesetz die Kontrolle des Conseil constitutionnel passieren und der Verstoß erst im Rahmen der Rechtsanwendung durch die Strafgerichte sanktioniert werden könnte, wird teils als schockierend empfunden. Dennoch ist auch die Entwicklung einer auf evidente Fälle beschränkten Kontrolle der Vertragsmäßigkeit der Gesetze durch den Conseil constitutionnel nicht zu erwarten. Eine derart beschränkte Kontrolle würde dem Conseil constitutionnel zwar die Mühe ersparen, das verletzte Abkommen selbst aufzuspüren, sowie durch Auslegung zu ennitteln, ob tatsächlich ein Widerspruch besteht. Auch diese bloße Evidenzkontrolle würde aber die vom Conseil constitutionnel abgelehnte Prüfung verlangen, ob der betroffene Vertrag die von Art. 55 der Verfassung aufgestellten Bedingungen des Vorrangs erfüllt, bzw. ob diese Bedingungen auf das im Einzelfall betroffene Abkommen im vollem Umfange anwendbar sein können. Der Conseil constitutionnel wird sich aller Wahrscheinlichkeit nach also auch in Zukunft auf die Kontrolle und Verwerfung abstrakt-genereller gesetzlicher Eingriffe in den von Art. 55 der Verfassung angeordneten Vorrang der Verträge beschränken. In diesen von der Kontrolle des Conseil constitutionnel erfaßten Bereich dürften nicht nur gesetzliche Bestimmungen nach dem Muster "dieses Gesetz gilt unbeschadet aller (oder bestimmten Kategorien) völkerrechtlichen Verträge" fallen 158. Erfaßt werden darüber hinaus wohl auch Gesetze, die versuchen, Art. 55 auf Umwegen seine praktische Wirksamkeit zu nehmen, etwa indem den (Fach)gerichten untersagt wird, aus Art. 55 der Verfassung in Verbindung
154 s. Pinto 101 1987, 289 (300); vgl. auch Dhommeaux RDP 1987, 1449 (1484); Genevois Anm. RFDA 1989, 824 (827). 155 In diesem Sinne Jaeque in: Droit constitutionnel et droits de I'homme (1987), 321 (332 f). 156 Zum Streit um die Verfassungsmäßigkeit der Ratifikation dieses Protokolls, die dem Gesetzgeber der folgenden Legislaturperiode die Entscheidungsfreiheit über die Wiedereinflihrung nehmen sollte, s.o. 3. Kap. A. 11. 1. a) ce). 157 Etwa Dhommeaux RDP 1987, 1449 (1484 m.Fn 131); Genevois Anm. RFDA 1989,824 (827); Favoreu Melanges Vitu (1989), 169 (193). 158 So [saae in: Rep. dr. eomm. Stichwort "Primaute du droit communautaire" Rn 25; Jacque in: Droit eonstitutionnel et droits de I'homme (1987), 321 (332).
B. Prozessuale Durchsetzung
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mit einem (älteren) Vertrag negative Folgerungen für die Anwendbarkeit eines Gesetzes zu ziehen i59 • b) Betonung der Verbindlichkeit des Art. 55 für alle (anderen) Staatsorgane
aa) Aufforderung zur Beachtung an Legislative und Exekutive Die Weigerung des Conseil constitutionnel, die im Verfahren nach Art. 61 der Verfassung zu überprüfenden Gesetze auch auf Abweichungen von völkerrechtlichen Verträgen zu untersuchen, bedeutet aber nicht, daß er die Beachtung des Art. 55 für vernachlässigbar hielte: Der Conseil constitutionnel hat mehrfach und mit wachsendem Nachdruck darauf hingewiesen, daß Legislative wie Exekutive die Pflicht haben, die kraft der verfassungsrechtlich vorgegebenen Nonnenhierarchie vorrangigen völkerrechtlichen Verpflichtungen bei der Normsetzung zu beachten. In einem Nebensatz erschien diese Aufforderung bereits in einer der Entscheidungen zu den Dezentralisierungsgesetzen von 1982 16°, die sich mit der Neuordnung der Staatsaufsicht über die Gemeinden befaßte: Beiläufig wurde hier festgestellt, daß auch die Kommunen die internationalen Verpflichtungen Frankreichs beachten müssen, und diese Beachtung durch die Staatsaufsicht sicherzustellen ist; mit pädagogischem Impetus fügte der Conseil constitutionnel hinzu, daß der Abschluß völkerrechtlicher Verträge im nationalen Interesse erfolge l61 - was ihre Einhaltung auch unter "nationalem" Aspekt rechtfertigt.
159 Zum "Amendement Aurillac", das genau diesen Weg eingeschlagen hatte, s.u. 4. Kap. B. II. 3. c) aa). 160 CC 25.2.1982 No 82-137 OC - Loi relative aux droits et libertes des communes, des departements et des regions, Rec. S. 38 = GOCC Nr. 32, S. 484 (1. Entscheidung) = AJDA 1982, 294 (1. Entscheidung) m.Anm. Boulouis S. 303 (305) = JCP 1983 II 20099 (I. Entscheidung) m.Anm. Franck; speziell zu dieser Passage der Entscheidung auch Rideau in: Rep. cont. adm. Stichwort "droit communautaire" Rn 34; CoussiratCoustereAJDA 1985, 171 (177); Dhommeaux RDP 1987, 1449(1483). 161 " ... a la condition que le contröle administratif prevu par l'article 72 (alinea 3) permette d'assurer le respect des lois et, plus generalement, la sauvegarde des interets nationaux auxquels, de surcroit, se rattache l'application des engagements internationaux contractes Cl cettefin." (4. Erwägungsgrund).
21 GundeI
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4. Kapitel: Vorrang gegenüber Gesetzen
In einer weiteren Entscheidung vom 25. - 26.6.1986 162 hatte der Conseil constitutionnel über die Verfassungsmäßigkeit des (Re-)Privatisierungsgesetzes l63 zu befinden: Das Gesetz übertrug der Regierung die Befugnis, durch Verordnung gemäß Art. 38 der Verfassung (Ordonnance)164 bestimmte staatliche Unternehmen zu reprivatisieren und die Bedingungen dieser Privatisierung zu regeln; politisch gewollt war dabei auch eine gemeinschaftsrechtlich höchst problematische Beschränkung des Zugangs von Ausländern zu den Kapitalanteilen, um den "Ausverkauf' der heimischen Wirtschaft an das Ausland zu vermeiden. Der Conseil constitutionnel stellte dazu zwar fest l65 , daß derartige Beschränkungen zum Zwecke der Wahrung der nationalen Unabhängigkeit grundsätzlich zulässig und sogar gefordert seien, machte aber in derselben Entscheidung an anderer Stelle klar, daß die internationalen Verpflichtungen Frankreichs auch durch Ordonnances nicht mißachtet werden dürften l66 . Besonders deutlich wird in diesem Sinne eine Entscheidung des Conseil constitutionnel vom 22.1.1990 167 : In diesem die sozialrechtliche Stellung der
162 CC 25.-26.6.1986 No 86-207 DC - Privatisations, Rec. S. 61 = GDCC Nr. 39, S. 641 = AJDA 1986, 575 m. Anm. Rivero; dazu auch Bonichot RFDA 1989, 579 (582); Flauss LPA 1992 Nr. 85,15.7.92,17 (18).
163 Art. 5 des Loi No 86-793 du 2.7.1986 autorisant le Gouvernement a prendre diverses mesures d'ordre economique et social, JORF 3.7.1986, S. 8240. 164 Art. 38 Absatz 1: "Le gouvernement peut, pour I'execution de son programme, demander au Parlement I'autorisation de prendre par ordonnances, pendant un delai limite, des mesures qui sont normalement du domaine de la loi." Es handelt sich also um Verordnungen kraft zeitlich begrenzter Ermächtigung im Unterschied zur eigenständigen Verordnungsgewalt des pouvoir reglementaire gern. Art. 37. Gemäß Art. 38 Abs. 2 muß die Ordonnance zudem binnen einer im Delegationsgesetz (Ioi d'habilitation) gesetzten Frist der Billigung / Bestätigung durch den parlamentarischen Gesetzgeber unterworfen werden (Ioi de ratification). 165 Die entsprechende Ordonnance lag bei Erlaß des loi d'habilitation weder vor noch hätte sie unmittelbar vom CC kontrolliert werden können: das wäre Aufgabe des CE geworden, s. unten 5. Kap. B. 111. sowie Genevois RFDA 1987,287 (298 f); Mathieu RFDA 1987, 700 (710 mit Fn 93); Rideau in: Masclet / Maus (1993),67 (77); die Ausführungen des CC waren daher wohl gleichzeitig als Vorgaben für die Kontrolle durch den CE zu verstehen, s.u. 4. Kap. B. 11. 1. b) bb) ß). 166 "... les ordonnances ne sauraient etre contraires, en meconnaissance de I'article 55 de la Constitution, aux obligations internationales de la France" (24. Erwägungsgrund). 167 CC 22.1.1990 No 89-269 DC - Loi portant diverses dispositions relatives a la securite sociale et a la sante, Rec. S. 33 = RGDIP 1990, 281 = RCDIP 1990, 497 m.Anm. Simon-Depitre = Dr. soc. 1990, 352 m.Anm. Pretot = RFDA 1990, 416 m.Anm. Genevois S. 406 (414) = AJDA 1990,471 m.Anm. Benoit-Rohmer = RFDC
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Ausländer betreffenden Sachverhalt l68 stellte der Conseil constitutionnel fest, daß der Gesetzgeber zwar grundsätzlich berechtigt ist, Ausländer besonderen, vom Status der eigenen Staatsangehörigen abweichenden Regeln zu unterwerfen - diese Befugnis wird aber sogleich unter den Vorbehalt gestellt, daß die verfassungsrechtlichen Gewährleistungen und auch die einschlägigen völkervertraglichen Bindungen beachtet werden müssen l69 • Eine ähnliche Formulierung findet sich auch in der Entscheidung vom 13.8.1993 17°, mit der der Conseil constitutionnel seine eigene Unzuständigkeit zur Ausübung dieser Kontrolle am Maßstab der völkerrechtlichen Verträge nochmals bekräftigt hatte l71 • Diese Formulierungen lassen grundsätzliche Schlüsse zu den dogmatischen Grundlagen der Konzeption des Conseil constitutionnel zu: Danach stellt Art. 55 der Verfassung nicht nur eine Kollisionsregel auf, nach der das widersprechende Gesetz im Einzelfall dem Vertrag weichen müßte; der Gesetzgeber ist vielmehr verfassungsrechtlich verpflichtet, bei seinem Tun den Vertrag ebenso zu beachten wie die Verfassung selbse n . Insoweit widersprechen die Formulierungen der Begründung der Ausgangsentscheidung vom 15.1.1975, nach deren - wenig überzeugenden - Ausfiihrungen ein gesetzlicher Verstoß gegen den Vertrag mit der Verfassung
1990,330 m.Anm. Favoreu = RDSanSoc 1990,637 m.Anm. Dubouis. Zu dieser Entscheidung auch Genevois AUC 1990,627 (665 f); Rousseau RDP 1992,37 (42 f). 168 Zum gemeinschaftsrechtlichen Kontext dieser Entscheidung s. bereits oben 3. Kap. B. I. 2. d) bb). 169 "". le h~gislateur peut prendre a I'egard des etrangers des dispositions specifiques a la condition de respecter les engagements internationaux souscrits par la France et les Iibertes et droits fondamentaux de valeur constitutionnelle "." (33. Erwägungsgrund). 170 CC 13.8.1993 No 93-325 DC - Maitrise de I'immigration, Rec. S. 224 (w. Nachw. s.o. Fn 141; s.auch 3. Kap. B. I. 3. b) bb) ß): "". l'artide 31 [des geprüften Gesetzes] ". permet de refuser I'admission d'un demandeur d'asile dans differents cas 'sous reserve du respect des dispositions de I'artide 33 de la Convention de Geneve du 28 juillet 1951 "., modifiee par le protocole de New-York du 31 janvier 1967; ". cette reserve doit s'entendre comme concernant I'ensemble des stipulations de cette conventions susceptibles d'etre appliquees; ". defaut, la loi meconnaitrait les dispositions de l'article 55 de la Constitution; ". sous cette reserve d'interpretation ladite disposition n'est pas contraire a la Constitution;" (85. Erwägungsgrund). 171 s.o. bei Fn 141.
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172 Der 33. Erwägungsgrund der Entscheidung vom 22.1.1990 nennt beide Schranken in einem Atemzug, s.o. Fn 169; das bedeutet aber nicht, daß der CC die Kontrolle hinsichtlich der Vertragsmäßigkeit nun selbst wahrzunehmen gedächte, so die Klarsteilung von Genevois Anm. RFDA 1990,406 (414).
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4. Kapitel: Vorrang gegenüber Gesetzen
nichts zu tun haben sollte ("une loi contraire autant, contraire a la Constitution").
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traite ne serait pas, pour
Nunmehr scheint demgegenüber klargestellt, daß die Mißachtung des Vertrages durch den Gesetzgeber durchaus ein rechtswidriger - indirekter - Verstoß gegen die Verfassung ist. An den Ergebnissen der Entscheidung vom 15.1.1975 ändert dieser Wandel in der Begründung aber nichts: Es handelt sich nämlich um einen besonders gelagerten Fall des Verstoßes gegen die Verfassung, der eine Abweichung von der normalen Zuständigkeitsverteilung hinsichtlich der Verfassungskontrolle der Gesetze rechtfertigt. Ein "indirekter" Verstoß gegen Art. 55 der Verfassung hat vor allem nur beschränkte Folgen; er führt insbesondere nicht zur (endgültigen) Ungültigkeit des Gesetzes: Denn schon der Entscheidung von 1975 liegt ja die Vorstellung zugrunde, daß dieser Verstoß nur vorübergehenden Charakter haben könnte; der Verweis der Kontrolle solcher Verstöße an die Fachgerichte bleibt danach auch dann sinnvoll, wenn man - wie nunmehr im Grundsatz anscheinend auch der Conseil constitutionnel - die Einordnung des Vertragsverstoßes als mittelbaren Verfassungsverstoß akzeptiert.
bb) Aufforderung zur Durchsetzung des Vorrangs der Verträge an die Fachgerichte In seiner Leitentscheidung vom 15.1.1975 hatte der Conseil constitutionnel sich auf die Feststellung der eigenen Unzuständigkeit zur Ausübung der Kontrolle der Gesetze am Maßstab der Verträge beschränkt. Es blieb damit offen, ob statt der verfassungsgerichtlichen Kontrolle eine Kontrolle durch die Fachgerichte stattfinden sollte, oder ob - wie bei der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit bereits verkündeter Gesetze - eine Lücke im Rechtsschutz entstehen würde. Vielfach wurde dieses Schweigen aber bereits als unausgesprochene Aufforderung an die Fachgerichte verstanden, diese Kontrolle nunmehr selbst auszuüben 173 • In der weiteren Entwicklung der Rechtsprechung hat der Conseil constitutionnel immer deutlichere, schließlich sogar unmißverständliche Signale in diesem Sinne gesetzt.
173 So Favoreu / Philip RDP 1975, 165 (193); Pellet Anm. Gaz. Pa!. 1976, 1,25 (27); Lagrange RTDE 1975,44 (51); Nguyen Quoc Dinh RGDIP 1976, 1001 (1009 f); Ruzie JDI 1975,249 (257 f); anders vor allem Lagarde Anm. RCDIP 1975, 126 (128): die Frage sei in jede Richtung offengeblieben.
B. Prozessuale Durchsetzung
325
a) Verbale Aufforderungen an die Fachgerichte
Schon die Privatisierungs-Entscheidung des Conseil constitutionnel vom 25. - 26.1986 174 konnte als implizite Aufforderung an den Conseil d'Etat verstanden werden, bei der ihm obliegenden Kontrolle l75 der Ordonnances auch den Vorrang der völkerrechtlichen Verträge durchzusetzen 176: Da die Ordonnances bis zu ihrer Genehmigung durch das Parlament als Rechtsakte der Exekutive gelten und damit allein der Kontrolle durch den Conseil d'Etat unterworfen sind 177 , waren die Ausführungen zum Verhältnis von Ordonnance und völkerrechtlichem Vertrag nur sinnvoll, wenn sie auch vom Conseil d'Etat als zuständigen Gericht durchzusetzen waren 178. Zudem wurde dem Conseil d'Etat damit bedeutet, daß er sich nicht auf die Prüfung der Ordonnance am Maßstab allein des Ermächtigungsgesetzes beschränken konnte l79 ; ob der Ausgleich durch eine vertragskonforme Auslegung des Ermächtigungsgesetzes oder aber - etwa im Falle eines eindeutigen, durch Auslegung nicht mehr auflösbaren Konflikts zwischen Loi d'habilitation und Vertrag - durch die Einräumung des Vorrangs erfolgen sollte, wurde allerdings nicht mit letzter Deutlichkeit ausgesprochen. Aufgrund der weiteren Entwicklung konnte allerdings nicht geklärt werden, ob und auf welche technische Weise der Conseil d'Etat dieser direkten Aufforderung zu diesem Zeitpunkt gefolgt wäre: Zur Probe aufs Exempel kam es nicht, da Präsident Mitterrand die Unterzeichnung der vorgesehenen Ordonnance verweigerte l80 und diese nie erlassen wurde. Die
174
s.o. 4. Kap. B. H. 1. b).
Zur Ausübung dieser Kontrolle durch den CE s. noch unten 5. Kap. B. III. 176 Bonichot RFDA 1989,579 (582); Rideau RFDC 1990,259 (283). 177 s. nur den 23. Erwägungsgrund von CC 8.8.1985 No 85-196 DC, Rec. S. 63 = GDCC NT. 38, S. 612 (1. Entscheidung) = D. 1986 jp 45 (1. Entscheidung) m.Anm. Luchaire = AJDA 1985,605 (1. Entscheidung) m.Anm. Leo Hamon; indirekt und mit zeitlicher Verzögerung kann auch der CC die Verfassungsmäßigkeit der Ordonnance prüfen, wenn ihm das loi de ratification vorgelegt wird; dann wird im Durchgriff nicht nur das genehmigende Gesetz, sondern auch der Inhalt der genehmigten Regelung überprüft, dazu Conac / Luchaire (-Luchaire), Art. 61, S. 1111 (1117); Rousseau Contentieux constitutionnel S. 155 f. und zu den Folgen einer Überprüfung mit negativem Ergebnis Luchaire Melanges Hamon (1982), S. 445 (455 mit Fn 12). 175
s. nur Emeri RDP 1990,335 (353); Rousseau Contentieux constitutionnel S. 155. Zur Praxis des ecran legislatif, also der "Abschirmung" des grundsätzlich gerichtlicher Kontrolle ausgesetzten Verwaltungshandelns durch das Gesetz, s. u. 5. Kap. B. III. 1. 180 Ob er dazu berechtigt war, bildete eine des umstrittensten Verfassungsfragen der "Cohabitation", sie ist bis heute nicht abschließend geklärt; s. nur Mathieu RFDA 178
179
326
4. Kapitel: Vorrang gegenüber Gesetzen
(Re-)Privatisierung erfolgte schließlich statt dessen durch Gesetz, dessen äußerst zweifelhafte Gemeinschaftsrechtskonformität nie geklärt wurde l81 • In der bereits erwähnten Entscheidung vom 3.9.1986 182 hat der Conseil constitutionnel darüber hinausgehend die Beachtung der Hierarchie zwischen Vertrag und Gesetz allen mit dem Vollzug befaßten Staatsorganen - also auch den Gerichten lS3 - zur Pflicht gemachtI 84 und auf diese Weise das überprüfte Gesetz vor dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit bewahrt: Das "Loi relative aux conditions d'entree et de sejour des etrangers" nahm selbst keine Rücksicht auf den Aufenthaltsstatus von Asylberechtigten und schien damit klar gegen den 4. Absatz l8S der Präambel von 1946 zu verstoßen. Nach der Argumentation des Conseil constitutionnel mußte das Gesetz diese Situation aber auch nicht mehr gesondert berücksichtigen, da sie bereits in gemäß Art. 55 der Verfassung vorrangigen völkerrechtlichen Verträgen, vor
1987, 700 (712 ff); Colliard RDP 1989, 1565 (1593 ff); Turpin Contentieux constitutionnel Rn 140, S. 210 ff. ISI Gegen das zu diesem Zweck verabschiedete Loi No 86-912 du 6.8.1986 relative aux modalites d'application des privatisations decidees par la loi No 86-793 du 2.7.1986 autorisant le Gouvernement a prendre diverses mesures d'ordre economique et social, JORF 7.8.1986, S. 9695 wurde der CC nicht mehr angerufen; die Vereinbarkeit der in Art. 10 dieses Gesetz tatsächlich enthaltenen 20 o/o-Grenze rur ausländische Kapitalbeteiligungen mit dem Gemeinschaftsrecht, insbes. mit Art. 52 und 221 EWGV, wurde nie geklärt, s. Genevois Jurisprudence Rn 581, S. 374; Carreau I Juillard I Flory Droit international economique Rn 1196, S. 715 f. Auch der hätte sie freilich im Falle einer Anrufung nicht klären können, da dies den von ihm abgelehnten verfassungsgerichtlichen Vergleich zwischen Gesetz und Vertrag verlangt hätte: nach der Konzeption des CC wäre es vielmehr Aufgabe der Fachgerichte geworden, die Vertragswidrigkeit des Gesetzes festzustellen, s. Rideau in: Masclet / Maus (1993), 67 (77); ders. RAE 3 /1992,7 (13). 182 CC 3.9.1986 No 86-216 DC - Loi relative aux conditions d'entree et de sejour des etrangers, Rec. S. 135 = JDI 1987,301 m.Anm. Pinto S. 289 = RFDA 1987, 126 m.Anm. Genevois S. 120; zu dieser Entscheidung schon oben bei Fn 146; s. auch Favoreu RDP 1989, 399 (496 f). 183 So die Schlußfolgerung von Moderne in: CC et CE (1988), 313 (358); Darmon RTDE 1988, 217 (249 f); Bonichot RFDA 1989, 79 (582). 184 " ... la regle edictee par I'article 55 de la Constitution, dont le respect s' im pose, meme dans le silence de la loi, s'applique notamment a la Convention de Geneve ... il appartient aux divers organes de l'Etat de veiller a ['application de ces conventions internationales dans le cadre de leurs competences relatives" (6. Erwägungsgrund). ISS "Tout homme persecute en raison de son action en faveur de la liberte a droit d'asile sur les territoires de la Republique".
ce
B. Prozessuale Durchsetzung
327
allem der Genfer Flüchtlingskonvention, geregelt und dieser Vorrang von allen staatlichen Instanzen selbstverständlich zu beachten ist l86 • Die Interpretation dieser Entscheidung ist allerdings nicht völlig zweifelsfrei: Die betreffenden Passagen können auch als "klassische" vertragskonforme Interpretation des Gesetzes im Gefolge der Matter-Doktrin verstanden werden 187 • Für diese Auslegung spricht, daß die Formulierung der Entscheidung sich an eine frühere Entscheidung vom 9.1.1980 188 anlehnt: Diese hatte einen Verstoß des damals überprüften Gesetzes gegen die Verfassungsgarantie des Asylrechts verneint, weil die Anwendung der einschlägigen völkerrechtlichen Verträge im Gesetz ausdrücklich vorbehalten war 189. Statt des ausdrücklichen Vorbehalts im damaligen Fall wäre dieser nun als implizit ("meme dans le silence de la loi") im Gesetz enthalten anzusehen. Auf der anderen Seite steht die recht kategorische Formulierung zur Beachtung des Art. 55 der Verfassung, die die Eventualität eines offenen Konflikts zwischen Vertrag und Gesetz durchaus einzubeziehen scheint; angesichts der Möglichkeit einer vertragskonformen Interpretation des Gesetzes im konkreten Fall handelt es sich aber möglicherweise "nur" um ein mit starken Worten formuliertes obiter dictum 190. Auch die mit dieser Entscheidung angedeutete Konstruktion, von der Verfassung grundsätzlich gewährleistete Rechte nicht unmittelbar, sondern auf dem Umweg über den Vorrang paralleler völkervertraglicher Gewährleistungen gegenüber abweichenden Gesetzen zu sichern - bzw. genauer: von den Fachgerichten sichern zu lassen - , ist allerdings nur schwer mit der argumentativen Ausgangsposition des Conseil constitutionnel vereinbar: Nach diesen
186 Skeptisch hinsichtlich der vollständigen Deckungsgleichheit von Konvention und Verfassungsgarantie allerdings Genevois RFDA 1987, 120 (126). 187 So versteht etwa Abraham Droit international S. 107 Fn I die Entscheidung als Anweisung an die mit dem Vollzug befaßten Organe zur vertragskonformen Auslegung des Gesetzes; unentschieden wohl Philip in: Droit constitutionnel et droits de I'homme (1987), 250 (265). 188 CC 9.1.1980 No 80-109 DC - Prevention de I'immigration clandestine, Rec. S. 29 = D. 1980jp. 249 m.Anm. Auby; s. auch Dhommeaux RDP 1987,1449 (1483). 189 " ... cette loi n'apporte aucune modification aux dispositions de I'art 2 de I'ordonnance du 2 nov. 1945 relative a I'entree et au sejour en France des etrangers, lesquelles reservent expressement l'application des conventions internationales; ... parmi ces conventions, figure notamment la Convention de Geneve du 28 juill. 1961 sur le statut des refugies; ... il ne saurait, dans ces conditions, resulter de la loi dont il s'agit aucune atteinte au droit d'asile;" (I. Erwägungsgrund). 190 Zur Reichweite der Rechtskraft bzw. Bindungswirkung von Entscheidungen des CC S.u. 4. Kap. B. H. I. c) cc).
328
4. Kapitel: Vorrang gegenüber Gesetzen
Prämissen ist der völkerrechtliche Vertrag und damit auch der durch ihn gegenüber dem Gesetz gewährte Schutz ja gerade "instabil" und kann auch wieder entfallen - und in diesem Augenblick stünden sich das nun bereits verkündete Gesetz und die Verfassungsgarantie wieder unmittelbar gegenüber, ohne daß die Möglichkeit einer nachträglichen Verfassungskontrolle bestünde l91 • Auch trägt der Ansatz nicht, wenn eine Verletzung des Asylrechts gerade durch die Bestimmungen eines völkerrechtlichen Vertrages geItendgemacht wird: In diesem Augenblick stellt sich das Problem der Vertragskonkurrenz l92 , dessen Behandlung der Conseil constitutionnel ablehnt, weil er dazu den völkerrechtlichen Vertrag entgegen seiner allgemeinen Rechtsprechung zum Prüfungsmaßstab der Verfassungskontrolle erheben müßte l93 • Der Conseil constitutionnel ist daher zwischenzeitlich auch dazu übergegangen, nicht nur völkerrechtliche Verträge l9\ sondern auch Gesetze l95 unmittelbar an der Verfassungsgarantie des Asylrechts zu messen. Die Entscheidung von 1986 würde also in dieser Form heute wohl nicht mehr ergehen 196; das wesentliche Element ihrer Begründung, nämlich die
191 Zu einer parallelen Konstellation s. schon oben 3. Kap. B. I. 2. e); anderes würde nur gelten, wenn das einem Vertrag widersprechende Gesetz auf Dauer - also auch nach Wegfall der Kollision - unanwendbar bliebe. 192 So auch der Einwand von Favoreu u.a. AUC 1991,529 (556 f). 193 Dazu genauer unten 6. Kap. B. III. \. m.w.N.; speziell zum Asylrecht CE 16.3.1988 - Ministre de l'Interieur c. Kanapathipillai, Rec. S. 12 \. 194 So bereits CC 17.7.1980 No 80-116 DC - Convention d'entraide judiciaire, Rec. S. 36; später CC 25.7.1991 No 91-294 DC - Accord de Schengen, Rec. S. 91; zu beiden Entscheidungen s. m.w.N. o. 3. Kap. A. 11. 3. b) aa).
195 So erstmals der 34. Erwägungsgrund von CC 25.2.1992 No 92-307 DC - Zones de transit, Rec. S. 48 = RFDA 1992, 198 m.Anm. Genevois S. 185 = JCP 1992 II 21848 m.Anm. Nguyen van Tuong = 101 1992, 669 m.Anm. Lochak; parallel dazu wiederholt der 10. Erwägungsgrund nochmals die Konstruktion über die Genfer Flüchtlingskonvention; zu dieser Entscheidung auch Julien-Lafferiere AJDA 1992, 656 ff; Grewe / Ruiz Fabri RUDH 1992, 277 (291 ff); Favoreu u.a. AUC 1992, 469 (516 ff). Spektakulär dann CC 13.8.1993 No 93-325 DC - Maltrise de I'immigration, Rec. S. 224, s. ausführlich m.w.N. bereits oben 3. Kap. B. I. 3. b) bb) ß). 196 Die seit 1980 vom CC verwandte Formel, wonach die Verfassungsgarantie des Asylrechts durch die Beachtung die völkervertraglichen Verpflichtungen Frankreichs umgesetzt werde, hat zudem den CE zu dem wohl verfehlten - und durch die Entscheidung des CC vom 13.8.1993 (s. vorige Fn) widerlegten - Schluß geführt, daß der 4. Absatz der Präambel nicht unmittelbar geltendes Recht sei; so CE 27.9.1985 - France Terre d'asile, Rec. S. 263 = RFDA 1986, 274 = 101 1986, 347 m.Anm. JulienLaferriere: " ... le principe pose par les dispositions du preambule ... ne s'impose au pouvoir reglementaire, en I'absence de precision suffisante, que dans les conditions et
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329
Pflicht aller Staatsorgane, insbesondere von Verwaltung und Gerichten, zu Beachtung und Durchsetzung des Vorrangs völkervertraglicher Verpflichtungen vor einfachen Gesetzen, ist dagegen seitdem in ständiger Rechtsprechung immer wieder bestätigt worden l97 •
ß) Das eigene Beispiel: Der Conseil constitutionnel als Fachgericht Der Conseil constitutionnel ist schließlich über solche verbalen Appelle hinausgegangen und hat in einer vielbeachteten Entscheidung vom 21.1 0.1988 198 selbst durch Vornahme der Kontrolle des Gesetzes am Maßstab der Verträge demonstriert, welche Funktion die Fachgerichte nach seiner Konzeption in dieser Situation übernehmen sollen. Nachdem der Conseil constitutionnel in diesem Fall selbst als Fachgericht tätig geworden war, hat er sich mit der Vornahme dieser Prüfung nicht in Widerspruch zu seiner Grundsatzposition gesetzt, sondern diese vielmehr eindrucksvoll bestätigt l99 •
limites definies par les dispositions contenues dans les lois ou dans les conventions internationales incorporees au droit fran"ais;" Dem CE in dieser Interpretation der älteren Rechtsprechung des CC folgend Grewe / Ruiz Fabri RUDH 1992,277 (291); Fromont FS Bernhardt (1995), 1177(1179); dagegen aber Luchaire RDP 1994, 5 (16 f). 197 So der 79. Erwägungsgrund von CC 29.12.1989 No 89-268 DC - Loi de finances pour 1990, Rec. S. 110 = RGDIP 1990, 278 = RFDA 1990, 159 m.Anm. Genevois S. 143 = RFDC 1990, 122 m.Anm. Philip: " ... dans le cadre de leurs competences respectives, iI incombe aux differents organes de l'Etat de veiller a I'application des conventions internationales"; wörtlich wiederholt im 5. Erwägungsgrund von CC 23.7.1991 No 91-293 DC - Loi portant diverses dispositions relatives a la fonction publique, Rec. S. 77 = D. 1991 jp 617 (1. Entscheidung) m.Anm. Leo Hamon = RFDA 1991, 918 m.Anm. Dubouis S. 903 = RFDC 1991, 699 m.Anm. Gai"a; ebenso fast wörtlich der 37. Erwägungsgrund von CC 20.7.1993 No 93-321 DC - Loi reformant le code de la nationalite, Rec. S. 196 = RFDC 1993, 820 m.Anm. Philippe. 198 CC 21.10.1988 No 88-\082/1187 - Bischoff / Guyomarc'h (5e circonscription Val d'Oise), Rec. S. 183 = D. 1989 jp 285 m.Anm. Luchaire = AJDA 1989, 128 m.Anm. Wachsmann = RFDA 1988,916 m.Anm. Genevois S. 908; s. auch Genevois AUC 1988,385 (389 f); Favoreu RDP 1989,399 (450). 199 In diesem Sinne die in der vorigen Fn nachgewiesenen Stellungnahmen sowie in neuerer Zeit nochmals nachdrücklich Favoreu Melanges Plantey (1995), 33 (37 f); Desmoulin RDP 1997, 143 (154). Anders nur Rousseau in: Rousseau / Sudre (1990), 117 (127 f), der die Entscheidung als Aufnahme der EMRK in den "bloc de constitutionnalite" unter Widerruf der Entscheidung vom 15.1.1975 einordnet und die abweichende (durch die spätere Rechtsprechung des CC zudem bestätigte) Interpretation durch die h.L. als "combat d'arriere-garde inutile et sans doute perdu d'avance" be-
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4. Kapitel: Vorrang gegenüber Gesetzen
Neben seinen spezifisch verfassungsgerichtlichen Kompetenzen sind dem Conseil constitutionnel auch Zuständigkeiten zugewiesen, in deren Ausübung er wie ein "nonnaler" Richter Rechtsstreitigkeiten "ex post" beurteilt. So ist ihm zum Beispiel die Überprüfung von Wahlen und Abstimmungen auf nationaler Ebene übertragen 2OO • In einer solchen Situation befand sich der Conseil constitutionnel in dem der Entscheidung vom 21.10.1988 zugrunde liegenden Sachverhalt. Hier wurde mit der Wahlprufungsbeschwerde ein Verstoß des französischen Wahigesetzes 201 gegen die Verfassung sowie gegen Art. 3 des (1.) Zusatzprotokolls zur EMRK gerugt, weil das System der Parlamentswahlen in 2 Wahlgängen es ennöglicht, daß im 2. Wahlgang nur noch ein WahlkreisKandidat zur Verfügung steht; das ist der Fall, wenn die im ersten Wahlgang "nächstplazierten" und folglich zur Teilnahme am zweiten Wahlgang zugelassenen Kandidaten ihre Bewerbung zuruckziehen ("desistement"). In dieser Situation können nach der gesetzlichen Regelung die im ersten Wahlgang noch schlechter plazierten und damit bereits ausgeschiedenen Kandidaten nicht mehr nachrucken 202 , wenn nicht im ersten Wahlgang mindestens 12, 5 % der Wahlberechtigten für sie gestimmt haben. Diese auf den ersten Blick unwahrscheinliche Konstellation war im vorliegenden Fall gegeben; die nicht als Nachrucker zugelassenen Kandidaten des ersten Wahlgangs erhoben Wahlprufungsbeschwerde zum Conseil constitutionnel. Die Rüge der Verfassungswidrigkeit des Wahlgesetzes hat der Conseil constitutionnel als unzulässig zuruckgewiesen: Er wird hier in seiner Eigenschaft als Wahlrichter tätig und ist folglich nicht für die Überprufung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen zuständig, die allein in dem nach Art. 61 der
zeichnet; zumindest mißverständlich auch die kurzen Bemerkungen von Ress in: Protection of Human Rights (1993), 801 (843 f). 200 Art. 58 der Verfassung für Präsidentschaftswahlen, Art. 59 für Wahlen zur Nationalversammlung und zum Senat, Art. 60 für Volksabstimmungen; zur WahlprUfung durch den CC s. u.a. Philip Pouvoirs Nr. 13, 1980 (3,A, 1991),67 ff; Renoux in: Delperee (Hrsg.), Recours des particuliers (1991), 79 ff; zur Anwendung der EMRK auf das Verfahren der WahlprUfung durch den CC Flauss RFDC 1994,573 ff; ders. AJDA 1995,719 (725 f); zuletzt Desmoulin RDP 1997, 143 ff. Streitigkeiten um Kommunalund Europawahlen sind dagegen dem CE zugeordnet, der in diesem Rahmen mehrfach zur Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts Stellung genommen hat, s.u. 4. Kap. B. H. 3. b). 201 Konkret: Art. L 162 des code electoral. 202 So die Auslegung der betr. gesetzlichen Regelung durch die st. Rspr. des CC seit 1978, Nachweise bei Genevois AUC 1988, 385 (431).
B. Prozessuale Durchsetzung
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Verfassung vorgesehenen Verfahren erfolge o3 . Der Conseil constitutionnel befindet sich als Wahlrichter also in keiner anderen Lage als jede andere nationale Gerichtsbarkeit, der beim gegenwärtigen Stand des Rechts die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen versagt ise 04 . Erst dieser Rahmen begründet die besondere Bedeutung der folgenden Ausfilhrungen des Conseil constitutionnel. Er stellte fest, daß die einschlägigen Vorschriften jedenfalls "in der Gesamtschau mit dem Protokoll nicht unvereinbar"205 waren, wohl - wie man zur Begründung ergänzen muß - da zumindest im ersten Wahlgang ja mehrere Kandidaten zur Wahl standen und unabhängig davon auch im 2. Wahlgang keine Pflicht zur Wahl des einzig verbliebenen Kandidaten bestand 206 . Die Rüge der EMRK-Widrigkeit des Gesetzes hat der Conseil constitutionnel in dieser Entscheidung also - auch und gerade wegen seiner Position als "normaler" Wahlrichter in diesem Verfahren - im Unterschied zur ausdrücklich als unzulässig zurückgewiesenen Rüge der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes - implizit als zulässig angesehen und in der Sache beantwortet, eben weil sie nach seiner Konzeption keine Frage der (direkten) Verfassungsmäßigkeit des Wahlgesetzes beinhaltete 207 • Die damit einhergehende "Diskriminierung" der Verfassung wird offensichtlich auch vom Conseil constitutionnel als derzeit unvermeidlich in Kauf genommen. 203 " ... le Conseil constitutionnel ne peut etre appele ci statuer sur la conformite d' une loi ci la Constitution que dans les cas et suivant les modalites definis par son art. 61; ... il ne lui appartient donc pas, lorsqu'il se prononce en qualite de juge de I'election en vertu de l'art. 59 de la Constitution, d'apprecier la constitutionnalite d'une loi." (3. Erwägungsgrund). So auch schon die ältere Rechtsprechung, zuvor zuletzt CC 1.4.1986 - Ille-et-Vilaine, Rec. S. 33; weitere Nachweise bei Genevois RFDA 1988, 908 (909); Ferstenbert RDP 1991,339 (382 f). 204 So die Analyse von Wachsmann Anm. AJDA 1989, 129;'ebenso Luchaire Anm. D. 1989 jp 286, der selbst freilich rur die Ausdehnung der Neukaledonien-Rechtsprechung (s.o. 3. Kap. B. I. 3. a) auf die Wahlprüfung durch den CC plädiert, s. D. 1989 jp 286 (287 f); ders. Anm. zu CC 4.6.1988 No 88-1027/ 1028 / 1029, D. 1988 jp 445 (447), s. auch schon ders. Conseil constitutionnel S. 317 f; Luchaire übersieht jedoch, daß auch diese Rspr. eine Verfassungskontrolle der Wahlgesetze anläßlich der Kontrolle ihrer Anwendung bei der beanstandeten Wahl nicht trägt: gerade die reine Anwendung bestehender Gesetze hat der CC ja von der Inzident-Kontrolle ausgenommen, s.o. 3. Kap. B. I. 3. a); ähnlich auch Genevois AUC 1988,387 (389 f). 205 "... prises dans leur ensemble, les dispositions de la loi ... ne sont pas incompatibles avec les stipulations de l'artic1e 3 du protocole No I additionnel de la Convention;" (5. Erwägungsgrund); zu den aus dieser Formulierung gezogenen Folgerungen rur die Kontrolldichte s.u. 4. Kap. B. 11. 3. e) bb). 206 Kritisch zu diesem Ergebnis in der Sache Wachsmann Anm. AJDA 1989, 130. 207 So auch Favoreu RDP 1989,399 (450).
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4. Kapitel: Vorrang gegenüber Gesetzen
Aus dieser Entscheidung ließ sich ohne weiteres herleiten, wie nach den Vorstellungen des Conseil constitutionnel die Fachgerichte auf die verschiedenen Rügen reagieren sollten: Die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit im engen Sinne ist ausschließlich dem Conseil constitutionnel in den dafür vorgesehenen Verfahren nach Art. 54 und 61 der Verfassung aufgegeben; die Kontrolle der Vertragsmäßigkeit der Gesetze ist dagegen Aufgabe der Fachgerichte.
c) Zusammenfassung: Das System des Conseil constitutionnel
Die Konzeption des Conseil constitutionnel läßt sich danach schlüssig zusammenfassen.
aa) Die eigene Funktion - Die Vertragsmäßigkeit eines Gesetzes ist von seiner Verfassungsmäßigkeit - im engeren Sinne - zu unterscheiden; zwar ist der Gesetzgeber nach Inkrafttreten des Vertrages verpflichtet, keine diesem Vertrag widersprechenden Gesetze mehr zu erlassen, ein solches Gesetz wäre wegen Verstoßes gegen die von der Verfassung vorgegebene Normenhierarchie durchaus "indirekt" verfassungswidrig, sein Erlaß ist ein Verstoß gegen die aus Art. 55 hergeleiteten Pflichten. Art. 55 wird danach nicht nur als reine Kollisionsnorm verstanden, sondern ist durchaus ein Maßstab für die Rechtmäßigkeit des Verhaltens von Legislative und Exekutive (freilich sind hier Schwankungen in der Rechtsprechung feststellbar; insbesondere scheint die Entscheidung zur Genfer Konvention in Richtung einer Kollisionsnorm zu deuten. In diesem Fall wäre die Entscheidung aber auch insofern jedenfalls durch die spätere Rechtsprechung überholt). - Doch kontrolliert der Conseil constitutionnel nur unmittelbare, direkte Verstöße des Gesetzgebers gegen Art. 55 der Verfassung; die Kontrolle mittelbarer Verstöße gegen die damit aufgestellte Normenhierarchie (und damit der "indirekten" Verfassungswidrigkeit) sieht er nicht als seine Aufgabe an. Seit der plakativen, aber gleichzeitig zu einfachen Formulierung in der Grundsatzentscheidung vom 15.1.1975 ist also eine bemerkenswerte Verschiebung der Argumentation erfolgt, die das Problem vollständig von der materiellrechtlichen auf die prozessuale Ebene verlagert: Der Conseil constitutionnel bestreitet nicht mehr, daß der vertragswidrig handelnde Gesetzgeber damit auch mittelbar verfassungswidrig agiert; dennoch sieht er sich pro-
B. Prozessuale Durchsetzung
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zessual nicht in der Lage, dieses mittelbar verfassungswidrige Handeln des Gesetzgebers selbst zu sanktionieren.
bb) Die Aufgabe der Fachgerichte Das aus der ausschließlichen Zuständigkeit des Conseil constitutionnel zur Verfassungskontrolle des Gesetzgebers hergeleitete systematische Argument gegen eine Durchsetzung des Vorrangs durch die Fachgerichte wird damit gegenstandslos. - Die Pflicht aller beteiligten Staatsorgane zur Durchsetzung des Art. 55 begründet zugleich die Ermächtigung der Fachgerichte (und der rechtsanwendenden Behörden), ausnahmsweise ein Gesetz - zugunsten des widersprechenden Vertrages - außer Anwendung zu lassen: Das "traditionelle" Argument gegen die Gesetzeskontrolle durch den Richter wird also punktuell - nämlich beschränkt auf den Anwendungsbereich des Art. 55 der Verfassung - durchbrochen. Diese Ermächtigung umfaßt allerdings nicht die Befugnis, das Gesetz aufzuheben oder in anderer Weise seine Unwirksamkeit festzustellen; insoweit stellt Art. 55 dann tatsächlich (nur) eine Kollisionsnorm auflos . - Die vom Conseil constitutionnel verwandte Begründung, die wesentlich auf die Instabilität völkervertraglicher Bindungen abstellt, wird dabei dem Charakter des Gemeinschaftsrechts nicht unbedingt gerecht; dies ist aber auch nicht erforderlich, da die nationale Rechtsordnung in der Wahl der innerstaatlichen Begründungen frei ist, solange nur im Ergebnis eine effektive Durchsetzung des Vorranganspruchs des Gemeinschaftsrechts gesichert ist. Dieses Ergebnis ist wiederum nur zu erreichen, wenn die "alltägliche" Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts auch gegenüber Gesetzen den Fachgerichten anvertraut (bzw. aufgegeben) wird: Genau zu dieser Kompetenzverteilung führt aber die Rechtsprechung des Conseil constitutionnel.
20S So bereits das Konzept von Rideau CDE 1975,608 (629): " il [sc: I'art. 55] prend donc une signification differente selon I'autorite consideree. Po ur le legislateur, pour le gouvernement, il edicte une regle de comportement I'incitant a prendre en consideration I'autorite supreme des traites au moment de I'adoption des textes internes. Pour le juge, il est une regle dont il doit s'inspirer pour resoudre le conflit eventuel entre une norme internationale et un texte interne." In der Tendenz anders aber heute ders. in: Rep. co nt. adm. Stichwort droit communautaire Rn 344.
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4. Kapitel: Vorrang gegenUber Gesetzen
cc) Verbindlichkeit der Sicht des Conseil constitutionnel fur die Fachgerichte? Die Effektivität und damit auch die Gemeinschaftsrechtskonformität des vom Conseil constitutionnel entworfenen Systems hing damit von der Frage ab, ob die Fachgerichte - also die ordentliche Gerichtsbarkeit unter der Führung der Cour de cassation und die Verwaltungsgerichtsbarkeit unter Leitung des Conseil d'Etat - die vom Conseil constitutionnel erst implizit, dann aber immer deutlicher ausgesprochene Verweisung annehmen würden. Die Übernahme dieses Konzepts durch die Fachgerichte war dabei allein von der Überzeugungskraft der zugrunde liegen den Argumentation abhängig, da sie nicht schon durch die äußere Autorität der Entscheidungen des Conseil constitutionnel gesichert war: Schon die Reichweite der in Art. 62 der Verfassung vorgesehenen Bindungswirkung der Entscheidungen des Conseil constitutionnel ist zweifelhaft209 ; sie umfaßt zwar neben dem Tenor der Entscheidung auch die notwendigen Elemente ihrer Begründung2lO , beschränkt sich gegenständlich aber auf den Wortlaut der überprüften Regelung211 und darüber hinaus allenfalls auf - trotz abweichender Formulierung - in der Sache gleichbedeutende Texte 2l2 . Eine allgemeine Verbindlichkeit der einer Entscheidung
209 Vgl. Rousseau Contentieux constitutionnel S. 148 ff; Rodeville-Hermann RDP 1989, 1735 (1760 ff); der CC nähert sie der Rechtskraft an, s. CC 20.7.1988 No 88-244 DC - Loi d'amnistie, Rec S. 199 (unten Fn 211).
210 So der 1. Erwägungsgrund von CC 16.1.1962 No 62-18 L - Loi d'orientation agricole, Rec. S. 31 = GDCC Nr. 13, S. 162: "... I'autorite des decisions ... s'attache non seulement a leur dispositif, mais aussi aux motifs qui en sont le soutien necessaire et le fondement meme; ... "
211 So der 18. Erwägungsgrund von CC 20.7.1988 No 88-244 DC - Loi d'amnistie, Rec. S. 199 = D. 1989 jp. 269 m. insoweit zust. Anm. Luchaire = AJDA 1988, 752 m.Anm. Wachsmann = Dr. soc. 1988,760 m.Anm. Pdtot S. 755 = JCP 1989 II 21202 m.Anm. Paillet: " ... I'autorite de chose jugee attachee la decision du Conseil constitutionnel du 22 octobre 1982 est Iimitee a la declaration d'inconstitutionnalite visant certaines dispositions de la loi qui lui etait alors soumise;" s. dazu auch Genevois AUC 1988, 385 (392).
a
212 So weitergehend der 13. Erwägungsgrund von CC 8.7.1989 No 89-258 DC - Loi d'amnistie, Rec. S. 48 = JCP 199011 21409 m.Anm. Franck = D. 1990 sc 138 m.Anm. Chelle / Pretot: "... si I'autorite attachee a une decision du Conseil constitutionnel declarant inconstitutionnelles les dispositions d'une loi ne peut en principe etre utilement invoquee a I'encontre d'une autre loi confi:ue en termes distincts, iI n'en va pas ainsi lorsque les dispositions de cette loi, bien que redigees sous une forme differente, ont, en substance, un objet analogue a celui des dispositions legislatives declarees contraires a la Constitution;" dazu auch Genevois AUC 1989, 471 (479 f); kritisch Rousseau RDP 1992,37 (60 f).
B. Prozessuale Durchsetzung
335
zugrunde liegenden "Philosophie" bzw. theoretischen Konzeption ist damit aber nicht verbunden 2ll • Selbst wenn man entgegen dieser auch für die Frage der Zuständigkeit zur Durchsetzung des Vorrangs völkerrechtlicher Verträge herrschenden Auffassung 214 zur Reichweite der Bindungswirkung mit einzelnen Stimmen in der Literatur2I5 eine weitergehende Konzeption zugrundelegen wollte, so wäre sie doch im Konfliktfall nicht durchsetzbar l6 : Eine prozessuale Koordination zwischen den Gerichtsbarkeiten, die einer solchen Bindungswirkung zur Durchsetzung verhelfen könnte, fehlt vollständig 217 • 213 Dies bezeichnet den Unterschied zu den nach wie vor ausgeschlossenen "arrets de reglement", s. nur Art. 5 Code civil: "11 est defendu au juges de prononcer par voie de disposition generale et reglementaire sur les causes qui leur sont soumises" sowie Favoreu RIDC 1986, 611 (629); Favoreu / Philip GDCC S. 167 f; zuletzt Favoreu / Renoux in: La Cour de cassation et la Constitution (1995), S. 15 (30): "... le Conseil constitutionnel ne rend pas des 'arrets de reglement' et ... comme pour toute juridiction, I'autorite de chose jugee s'attache a ses decisions et non a sa jurisprudence." 214 Etwa Favoreu RIDC 1986,611 (629); ders. RFDA 1987,264 (269 f); Moderne in: CC et CE (1988), 313 (346). 215 In diesem Sinne die Schlußanträge von Generalanwalt Touffait Gaz. Pal. 1975, 2, 470 (4741. Sp.) = D. 1975 jp 397 (503) in der Rs. Jacques Vabre (s.u. Fn 228); wohl auch Roseren in: Constitutional Adjudication (1992), 257 (261); begrenzte Zustimmung noch bei Favoreu / Philip RDP 1975, 1307 (1338 f): nachdem der CC seine Unzuständigkeit zur Durchsetzung des Art. 55 der Verfassung mit Bindungswirkung festgestellt habe, könnten die Fachgerichte diese Aufgabe jedenfalls nicht mehr mit dem Argument der ausschließlichen Zuständigkeit des CC ablehnen; ebenso Ress ZaöRV 1975,445 (477 f). 216 So bereits Ress ZaöRV 1975,445 (479); besonders prägnant Mercuzot in: Droit administratif en mutation (1993), 177 (179): "Toutes proportions gardees, la valeur des decisions du Conseil constitutionnel a I'egard des autorites juridictionnelles teile qu'elle est arretee par la Constitution, a principalement une force prescriptrice, a I'instar de la valeur reconnue a la Constitution avant que ne soit mis en place un contröle de constitutionnalite des lois." 217 Diese Tatsache macht auch die vom CC in neuerer Zeit vermehrt bei der Gesetzeskontrolle eingesetzte Technik der verfassungskonformen Auslegung (reserves d'interpretation) zum Wagnis: theoretisch nimmt diese Auslegung als notwendiges Fundament einer die Verfassungsmäßigkeit bejahenden Entscheidung zwar an deren Rechtskraft teil - so die allg. Meinung, s. nur Genevois Jurisprudence Rn 118, S. 68; anders freilich Beaud / Cayla RDP 1987, 677 (699 fi), die der verfassungskonformen Interpretation durch den CC jede Verbindlichkeit absprechen - ; ob sie aber auch tatsächlich bei der Gesetzesanwendung durch die Fachgerichte zugrundegelegt wird, ist mangels prozessualer Kontrollmöglichkeit letztlich deren gutem Willen überlassen, s. nur Moderne in: CC et CE (1988), 313 (348 fi); Aubert FS Schindler (1989),655 (668); Philip RDP 1987, 191 (208) und - insoweit zutreffend - Beaud / Cayla aaO S. 700.
336
4. Kapitel: Vorrang gegenüber Gesetzen
Dementsprechend haben sich vor allem im ersten Jahrzehnt der Tätigkeit des Conseil constitutionnel zahlreiche Divergenzen im Verhältnis zur Rechtsprechung des Conseil d'Etat ergeben, die sich nicht allein durch die unterschiedliche Stellung beider Gerichtsbarkeiten, wie etwa die Bindung des Conseil d' Etat an das bereits verkündete Gesetz, erklären ließen, sondern Folge einer unterschiedlichen Auslegung des Verfassungstextes selbst waren 2l8 • Diese Situation hat sogar zu der Fragestellung geflihrt, ob beiden Gerichtsbarkeiten eine jeweils eigene Rechtsordnung zuzuerkennen ist2l9 • Die meisten dieser insbesondere im Bereich der Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Gesetzgeber und autonomer Verordnungsgewalt entstandenen - Divergenzen haben sich in der weiteren Entwicklung der Rechtsprechung freilich aufgelöst220 • In neuerer Zeit werden die vom Conseil constitutionnel entwickelten Konzepte von den Fachgerichten widerstandslos auch über den von der Reichweite der Rechtskraft erfaßten Bereich hinaus übernommen 22l , soweit ihre Stellung das zuläßt diese Einschränkung bedeutet insbesondere, daß die Umsetzung von Erkenntnissen des Conseil constitutionnel durch eine Verfassungskontrolle bereits verkündeter Gesetze seitens der Fachgerichte ausgeschlossen bleibt222 • Der am längsten andauernde Interpretationskonflikt war nicht zufällig im Schnittbereich zwischen divergierender Interpretation in der Sache und unterschiedlicher Aufgabenstellung beider Gerichtsbarkeiten angesiedelt: Es handelte sich gerade um die Frage der Befugnis der Fachgerichte zur Kontrolle der Gesetze am Maßstab der Verträge.
218 s. dazu etwa den Beitrag von Favoreu in: CC et CE (1988),145 ff(s. auch folgende Fn). 219 So der Titel des Beitrags von Favoreu: "Dualite ou unite d'ordre juridique. CC et CE participent-ils a deux ordres juridiques differents?", in: CC et CE (1988), 145 ff; Chapus DAG I Rn 111 ff, S. 85 ff ist bis heute der (isolierten) Ansicht, daß für beide Gerichtsbarkeiten eine jeweils eigene WeIt mit voneinander abweichender Normenhierarchie existiert; ihm folgend aber immerhin Lachaume Droit administratif S. 89; dagegen Genevois in: Rep. cont. adm. Stichwort "principes generaux du droit" Rn 545 ff. 220 s. nur Genevois Jurisprudence Rn 183 ff S. 108 ff; Moderne in: CC et CE (1988), 313 ff. 221 s. etwa Favoreu RIDC 1986,611 (630 ft); ders. RFDA 1987,264 ff; ders. RFDA 1989, 142 ff.; Fromont JöR n.F. 38 (1989), 151 (154 t); Mercuzot in: Droit administratif en mutation (1993), 177 (179 ft); Chevallier in: Droit administratif en mutation (1993), 11 (33 ft). 222 s.o. 3. Kap. B. I. 4. sowie Favoreu Journees Soc. leg. comp. 1987,463 (480 t); ders. RFDA 1987,264 (269 ft).
B. Prozessuale Durchsetzung
337
2. Die Haltung der ordentlichen Gerichte unter Führung der Cour de cassation
a) Die Durchsetzung des Vorrangs Die Cour de cassation hatte sich bis zu den ersten Entscheidungen des Conseil constitutionnel nicht entscheidungserheblich mit dem Verhältnis zwischen Vertrag und (insbesondere) nachfolgendem Gesetz unter der 5. Republik auseinandersetzen müssen. Zwar zeigen einige Entscheidungen in Strafsachen, insbes. zwei Entscheidungen vom 22.10.1970 - RameF23 - und vom 7.1.1972 Guerrinj224 - bereits eine deutliche Aufgeschlossenheit rur die später auch vom Conseil constitutionnel verfochtene Durchsetzung des Art. 55 durch die Fachgerichte 225 • Entscheidungserheblich wirkte sich dies jedoch in beiden Fällen nicht aus: Im Fall der Entscheidung vom 22.10.1970 war das abweichende Gesetz deutlich älter als die Entscheidung des Rates, so daß letztere nach allen vertretenen Ansichten den Vorrang beanspruchen konnte. In dem der Entscheidung vom 7.1.1972 zugrundeliegenden Sachverhalt bestand der Widerspruch zwischen einer älteren französischen Verordnung und einer jüngeren EWG-Verordnung226 . Die tatsächliche Bedeutung bei der Entscheidungen liegt daher im Rückblick eher in der Gleichstellung von Sekundärrechtsakten mit dem Vertrag selbst227 •
223 Cass. crim. 22.10.1970 - Administration des contributions indirectes et Comite interprofessionnel des vins doux natureis c. Ramel, D. 1971 jp. 221 mit dem Bericht von Conseiller Mazard und Anm. Rideau = RTDE 1970, 750 = JCP 1971 II 16671 m.Anm. PL = CDE 1971, 356 m.Anm. Talion / Gaudemet-Tallon: Strafverfolgung wegen der Einfuhr italienischen Weins, dessen Zuckergehalt den französischen Vorschriften nicht entsprach, dem aber durch Ratsentscheidung ein Einfuhr-Kontingent nach Frankreich eingeräumt war. 224 Cass. crim. 7.1.1972 - Guerrini, D. 1972 jp 497 m.Anm. Rideau = JCP 1972 II 17158 (2. Entscheidung) m.Anm. Guerin = 101 1973,346 m.Anm. Kovar = RGDIP 1972, 1209 m.Anm. Charles Rousseau. m s. die Formulierung von Cass. crim. 22.10.1970 - Administration des contributions indirectes et Comite interprofessionne1 des vins doux natureis c. Rame1 (oben Fn 223): "... 1e principe de territorialite de la loi fiscale ne pouvant tenir en echec la loi internationale dont la puissance s'impose en vertu de la loi constitutionnelle; ... " 226 S. Druesne RMC 1975,378 (380 m. Fn 6); Le Tallec RMC 1975, 124 (128 f); Bermann 28 ICLQ (1979), 458 (470 f); dagegen ordnet Ress ZaöRV 1975, 445 (483 f) diese Entscheidungen bereits als Durchbruch der ordentlichen Gerichte zur Durchsetzung des Vertrages auch gegenüber dem lex posterior ein; gegen ihn zu Recht Baumgartner DVBI 1977, 70 (73 mit Fn. 49). 227 So Rideau in: La Cour de cassation et la Constitution (1995), 227 (237); vgl. auch Bore Melanges Vitu (1989), 25 (35). 22 GundeI
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4. Kapitel: Vorrang gegenüber Gesetzen
Zur Entscheidung gezwungen war die Cour de cassation erst durch den Sachverhalt, der der berühmt gewordenen Entscheidung vom 24.5.1975 228 Cafes Jacques Vabre - zugrundelag: In diesem Steuerstreie29 trugen die Kläger vor, daß das von ihnen aus anderen Mitgliedstaaten eingefllhrte Kaffeepulver mit im Vergleich zur inländischen Produktion 230 unverhältnismäßig hohen und daher gegen Art. 95 des EWGV verstoßenden Verbrauchssteuern belegt worden sei; beide Vorinstanzen 231 hatten den Klägern Recht gegeben und die beklagte Zollverwaltung zur Erstattung der überzahlten Beträge verurteilen. Diese legte Kassationsbeschwerde ein und machte unter anderem geltend, daß die maßgeblichen Vorschriften des Code des Douanes gegenüber dem EWGV das jüngere Gesetz seien; den Gerichten sei es jedoch versagt, das jüngere Gesetz zugunsten des älteren Vertrages hintanzustellen 233 •
228 Cass. Ch. mixte 24.5.1975 - Administration des Douanes c. Ste Cafes Jacques Vabre et SARL 1. Weigel et Cie, Gaz. Pal. 1975,2,470 mit den Schlußanträgen von Generalanwalt Touffait und Anm. R.C. = D. 1975 jp 497 mit den Schlußanträgen = RTDE 1975,336 mit den Schlußanträgen = JCP 1975 11 18180 bis mit den Schlußanträgen = AJDA 1975, 567 m.Anm. Boulouis = CDE 1975, 631 m.Anm. Kovar = RGDIP 1976,960 m.Anm. Charles Rousseau = RCDIP 1976,351 m.Anm. Foyer / Holleaux (358 f) sowie Besprechungen von Jeantet JCP 1975 I 2743; Favoreu / Philip RDP 1975, 1307 (1335 ff); Druesne RMC 1975, 378 ff; Pirotte-Gerouville RTDE 1976, 215 ff; Vienne Annales Toulouse 1975, 31 ff; deutsche Übersetzung in EuR 1975, 326 m.Anm. Bieber; aus der deutschsprachigen Literatur s. auch die Besprechung von Baumgartner DVBI 1977, 70 ff.
219 Zur Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte in (Verbrauchs-)steuersachen und dem Versuch des Gesetzgebers, ihnen diese aufgrund ihrer gemeinschaftsfreundlichen Rechtsprechung zu entziehen, s. u. 4. Kap. B. 11. 3. c) bb). 230 Die inländische Produktion löslichen Kaffees wurde nicht unmittelbar, sondern durch die Besteuerung des Rohprodukts Kaffee belastet; der von den Instanzgerichten angestellten Berechnungen ergaben aber, daß die Belastung des eingeführten Endprodukts erheblich Uber der Belastung einer Vergleichsmenge des Rohstoffs lag. 231 TI Paris 8. \.1971, CDE 1974, 400 m.Anm Kovar; in zweiter Instanz bestätigt von CA Paris 7.7.1973, Gaz. Pal. 1973,2,661 mit den Schlußanträgen von Generalanwalt Cabannes = D. 1974 jp 159 m.Anm. Rideau = RTDE 1973, 511 = RGDIP 1974, 1199 m.Anm. Charles Rousseau = CDE 1974, 394 m.Anm. Kovar = JDI 1974, 820 m.Anm. Ruzie; s. auch Fromont EuR 1973, 59 (64); ders. EuR 1975, 334 (340 f). 232 Die Entscheidungen der Vor instanzen stUtzten dieses Ergebnis allerdings nur hilfsweise auf den Vorrang völkerrechtlicher Verträge auch vor nachfolgendem Gesetzesrecht, da sie den maßgeblichen Vorschriften des Code des Douanes nur Verordnungsrang zubilligten, s. dazu die Anm. Rideau D. 1974 jp 162 (163). 233 "Aucune juridiction fran~aise, a I'exception du Conseil Constitutionnel, n'a le pouvoir de declarer une loi inconstitutionnelle"; so der Vortrag der Zollverwaltung im Kassationsverfahren, zitiert bei Nguyen Quoc Dinh AFDI 1975, 859 (877).
B. Prozessuale Durchsetzung
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Die Cour de cassation hat dieser Frage soviel Bedeutung zugemessen, daß die Entscheidung der Chambre mixte 234 , besetzt mit Vertretern aller sechs Kammern 23S der Cour de cassation, übertragen wurde. In seinen vielbeachteten Schlußanträgen zu diesem Verfahren forderte Generalanwalt Touffait236 , nachdem er die betroffenen nationalen Vorschriften als nachfolgendes Gesetzesrecht qualifiziert und damit die EntscheidungserhebIichkeit der Frage begründet hatte, die Cour de cassation auf, dem Gemeinschaftsrecht nicht nur Vorrang einzuräumen, sondern zudem diesen Vorrang nicht aus nationalem Recht, d.h. Art. 55 der Verfassung, zu begründen, sondern ihn allein auf die Eigenständigkeit des Gemeinschaftsrechts und dessen Vorranganspruch zu stützen 237 . Das Gericht folgte seinem Generalanwalt im Ergebnis, nicht aber in allen Teilen der Begründung: Die Entscheidung stützte den Vorrang des Vertrages zwar auch auf dessen eigenen (GeJtungs- und damit) Vorranganspruch, zu-
234 Zu Funktion und Besetzung dieser - den großen Senaten der deutschen Bundesgerichte vergleichbaren - Formation anläßlich der Neuordnung durch Gesetz v. 3.7.1967 Lobin Melanges Audinet (1968), S.159 (163 f); zuletzt ausflihrIich Perdriau JCP 1994 I 3798. m Üblicherweise erfolgt die Besetzung nur mit Vertretern der Kammern, zwischen denen eine Divergenz besteht oder auftreten könnte; da der Rang des Gemeinschaftsrechts freilich alle Rechtsbereiche berührt, wurden hier auch alle Kammern beteiligt, s. die Schlußanträge von Generalanwalt Touffait Gaz. Pal. 1975, 2, 470. 236 s. auch dens. Melanges Ancel (1975), 379 ff; dens. in: La France et les CE (1975), 823 (832 ff); Touffait wurde kurze Zeit später französischer Richter am EuGH (1976 - 1982); S. seinen Erfahrungsbericht über diese Zeit in RIDC 1983,283 ff. 237Gaz.Pal. 1975, 2, 470(475)=D. 1975jp497 (504): "11 vous serait possible pour faire prevaloir I'application de I'art 95 du traite de Rome sur la loi posterieure de vous appuyer sur I'art 55 de notre Constitution, mais personnellement, je vous demande de ne pas le mentionner pour ne fonder votre argumentation que sur la nature meme de I'ordre juridique institue par le traite de Rome. En effet, dans la mesure ou vous vous borneriez a deduire de I'art 55 de notre Constitution, la primaute dans I'ordre interne fran~ais du droit communautaire sur le droit national, vous expliqueriez et la justifieriez, en ce qui concerne notre pays, mais cette motivation laisserait admettre que c'est de notre Constitution et d'elle seulement que depend le rang du droit communautaire dans notre ordre juridique interne. Des lors, implicitement, vous fourniriez un argument non negligeable aux juridictions des Etats membres qui, faute d'affirmation dans leurs constitutions de la primaute des traites, seraient tentes d'en deduire la solution inverse ... " Touffaits Ansatz zustimmend Bieber Anm. EuR 1975, 330 (332); Kovar Anm. CDE 1975,636 (657 ff); Rohmer/Teitgen RMC 1976,381 (392 f); wohl auch Druesne RMC 1975,378 (389).
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4. Kapitel: Vorrang gegenüber Gesetzen
sätzlich aber auch - als nationale Entsprechung - auf Art. 55 der Verfassung 238 ; gleichzeitig optierte die Entscheidung ftlr eine kollisionsrechtlich inspirierte Rechtfertigung gegenüber dem Vorwurf, sich zum Richter über das Gesetz aufzuschwingen 239 • Der besondere Status des Gemeinschaftsrechts spiegelte sich allerdings in der Entscheidung insofern wieder, als die Überprüfung der Gegenseitigkeit in der Anwendung - als Bedingung des in Art. 55 der Verfassung ausgesprochenen Vorrangs - unter Verweis auf die Sanktionsmechanismen des Gemeinschaftsrechts abgelehnt wurde 240 : Die Cour de cassation entschied sich damit zugleich ftlr eine "flexible" Lesart der Bedingungen des Art. 55 241 • Das zeitgenössische Echo dieser Entscheidung in der Literatur war ganz überwiegend sehr positiv242 • Allgemein wurde das Urteil als unmittelbare Reaktion der Cour de cassation auf die vier Monate zuvor ergangene Entscheidung des Conseil constitutionnel zum "Loi Veil" verstanden 243 • b) Die Begründung des Vorrangs aus der Sicht der Cour de cassation
Eine kurz darauf ergangene Entscheidung244 hat seinerzeit Spekulationen ausgelöst, da sie auf jede Erwähnung von Art. 55 der Verfassung als Grundla-
238 " ... le traite du 25 mars 1957, qui, en vertu de I'art. susvise de la Constitution, a une autorite superieure a celle des lois, institue un ordre juridique propre integre a celui des Etats membres; ... en raison de cette specificite, I'ordre juridique qu'il a cree est directement applicable aux ressortissants de ses Etats et s'impose aleurs juridictions ... " 239 " ... des lors, c'est a bon droit, et sans exceder ses pouvoirs, que la Cour d'appel a decide que I'art 95 du traite devait etre applique en I'espece, a I'exclusion de I'art 265 C. douanes, bien que ce demier texte fUt posterieur ... " 240 " ... dans I'ordre juridique communautaire, les manquements d'un Etat membre ... aux obligations qui lui incombent en vertu du traite du 25 mars 1957 etant soumis au recours prevu par I'art. 170 dudit traite, I'exception tiree du defaut de reciprocite ne peut etre invoquee devant les juridictions nationales ... " 241 Dazu bereits oben 4. Kap. A. III. 3. b) cc). 242 Grundsätzlich ablehnend allein Foyer / Holleaux Anm. RCDIP 1976, 351; s. auch noch Foyer Pouvoirs Nr. 16, 1981, 17 (27), der die Haltung der Cour de cassation als Amtsmißbrauch ("forfaiture") qualifiziert. 243 s. nur Favoreu / Philip RDP 1975, 1307 (1335 fi). 244 Cass. civ. 3me 15.12.1975 - von Kempis c. Epoux Geldof, D. 1976jp 33 mit den Schlußanträgen von Generalanwalt Touffait = JCP 1976 II 18286 mit den Schlußanträgen u. Anm. Ourliac / de Juglart = JDI 1976,416 m.Anm. Tantaroudas = RTDE 1976, 727 = CDE 1976, 455 m. Anm. Mertens de Wilmars.
B. Prozessuale Durchsetzung
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ge des Vorrangs verzichtete: Die Entscheidung wurde vielfach als verspätete Übernahme der in den Schlußanträgen von Generalanwalt Touffait zur Jacques-Vabre-Entscheidung vorgeschlagenen Konstruktion verstanden 245 , nach der die Durchsetzung des Vorrangs statt auf nationales Verfassungsrecht doch auf den eigenständigen Charakter des Gemeinschaftsrechts zu stützen sei. Mögliche Folge einer solchen engeren Begründung wäre gewesen, daß die Durchsetzung des Vorrangs anderer völkerrechtlicher Verträge gegenüber dem Gesetz von der neuen Rechtsprechung ausgeschlossen geblieben wäre. Derartige Annahmen erschienen aber schon zum damaligen Zeitpunkt spekulativ, zumal der zugrunde liegende Sachverhalt keinen Konflikt zwischen Vertrag und Gesetz, sondern zwischen Vertrag und einem - zudem gegenüber dem EWGV älteren und damit nach keiner Ansicht mehr anwendbarem 246 - Dekret betraf; auch hätte die Entscheidung der 3. Zivilkammer schwerlich mit Wirkung für die gesamte ordentliche Gerichtsbarkeit die Begründung der kurz zuvor ergangenen Entscheidung der Chambre mixte ersetzen oder verdrängen können. Tatsächlich hat die zweite Höchst-Formation der Cour de cassation, die Assemblee pleniere 247 , diese Zweifel mit einer Entscheidung vom 14.10.1977 248
245 s. nur Rohmer / Teitgen RMC 1976, 381 (394 t); Weiss LIEI 1979 / I, 51 (81 ft); Jacque Rev. adm. Est France 1981, 5 (24); Olmi RMC 1981,242 (245); später noch Buffet-Tchakaloff Cour de lustice S. 282 f; dies. RPP No 919 (1985), 79 (85); Olmi Liber Amicorum Pescatore (1987),499 (522); Boulouis RGDIP 1990,91 (100); Flauss LPA 1992 Nr. 83, 10.7.1992, S. 16 (25); Fromont FS Börner (1992),77 (80); ders. EuZW 1992, 46 mit Fn. 1; zuletzt wieder de Berranger Constitutions nationales S. 214. 246 Zum Verhältnis zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalen Rechtsakten im Rang unter dem Gesetz s.u. 5. Kap.; insbes. zur Kompetenz der ordentlichen Gerichte, die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit solcher Rechtsakte festzustellen, unten 5. Kap. B. 11.
1. 247 Die Assemblee pleniere verdankt ihre Rolle der - aus deutscher Sicht - eigentümlichen Ausgestaltung der beschränkten innerprozessualen Bindungswirkung von Entscheidungen der Cour de Cassation: das nach einem Rückverweis neu entscheidende Instanzgericht ist an die Rechtsansicht der Cour de Cassation im verweisenden Urteil nicht gebunden; eine Bindung tritt erst ein, wenn nach erneuter Kassationsbeschwerde die nunmehr zuständige Assemblee pleniere die ursprüngliche Entscheidung der Cour erneut bestätigt, s. zuletzt Perdriau lCP 1994 I 3798; es handelt sich um die durch Gesetz v. 3.7.1967 umbenannten früheren chambres reunies, s. Lobin Melanges Audinet (1968), 159 (161 t); in den zeitgenössischen Anmerkungen geraten die Begriffe wohl aus diesem Grund tlw. durcheinander. 248 Cass. Ass. plen. 14.10.1977 - Bloch c. Ste Filtex, RCDIP 1978, 166 m. Anm. Batiffol = D. 1978 jp 417 m. zust. Anm. Lagarde = JDI 1978, 304 m.abI.Anm. Gerard Lyon-Caen: Bestätigung von CA Colmar 20.11.1974, RCDIP 1975, 294 m.Anm. P.L.
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4. Kapitel: Vorrang gegenüber Gesetzen
ausgeräumt, indem sie einen Rechtsstreit nach denselben Grundsätzen entschieden hat, der nicht das Gemeinschaftsrecht, sondern einen klassischen völkerrechtlichen Vertrag betraf: Im Streit war hier das Verhältnis des bilateralen schweizerisch-französischen Gerichtsstandsabkommens aus dem Jahre 1869 zur Güngeren) französischen Schutzgesetzgebung filr Handlungsreisende. Während die filr Arbeits- und Sozial sachen zuständige 5. Kammer der Cour de cassation das Abkommen als mit dem zwingenden Charakter der Schutzgesetzgebung unvereinbar und damit unanwendba~49 angesehen hatte, bestätigte die Assemblee pIeniere die dem widersprechende - und dem Vertrag Vorrang einräumende - erneute Entscheidung des Instanzgerichts mit der Begründung, daß auch der zwingende Charakter nationalen Gesetzesrechts am Vorrang der Verträge nichts ändern könne 2lO • Auch die Assemblee pleniere hat in der Begründung dieser Entscheidung von einer ausdrücklichen Erwähnung des Art. 55 der Verfassung als Grundlage dieses Vorrangs abgesehen. Da eine alternative Begründung des Vorrangs filr den Fall klassischer völkerrechtlicher Verträge - anders als filr das Gemeinschaftsrecht - gar nicht diskutiert wird, scheint der Schluß gerechtfertigt, daß das Fehlen eines ausdrücklichen Hinweises auf Art. 55 keine Abweichung in der Sache bedeutet. Seitdem gehört der auf Art. 55 der Verfassung gestützte251 Vorrang des Gemeinschaftsrechts sowie anderer völkerrechtlicher Verträge auch vor späteren Gesetzen zur ständigen Rechtsprechung 252 der Cour de cassation und der ihr untergeordneten Instanzgerichte. Grundsätzlich abweichende Entscheidungen gegen Cass. soc. 22.11.1972, RCDIP 1973, 565; dazu auch Le Tallec RMC 1975, 124 (130).
249 Der Hintergrund dieser Argumente war komplex: nach dem Abkommen war für die Klage das Gericht am (schweizer) Sitz der beklagten Gesellschaft ausschließlich zuständig. Der klagende Handlungsreisende wollte dagegen die Zuständigkeit der französischen Gerichte durchsetzen; er befürchtete wohl, daß das schweizer Gericht die französische Schutzgesetzgebung nicht anwenden und damit die im Abkommen enthaltene Regelung der internationalen Zuständigkeit den Ausgang des Verfahrens in der Sache zu seinem Nachteil bestimmen würde. Heftige Kritik an der Entscheidung der Assemblee pleniere übt denn auch aus arbeitsrechtlichem Blickwinkel Lyon-Caen Anm. JDI 1978, 305 f. 250 "... le caractere d'ordre public de la loi de fond ne commande pas d'ecarter une regle de competence contenue dans un traite international dont l'autorite est superieure a celle de la loi interne; ... " 251 Der Verweis auf Art. 55 unterbleibt allerdings weiterhin häufig, da er zwischenzeitlich als selbstverständlich vorausgesetzt wird; so die Erklärung von Le Tallec Melanges Boulouis (1991), S. 363 (369); Rideau in: La Cour de cassation et la Constitution (1995), 227 (232 ff). 252 Zahlreiche Nachweise bei Le Tallec aaO (vorige Fn) S. 363 (368 f); Rideau aaO (vorige Fn), S. 227 ff.
B. Prozessuale Durchsetzung
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finden sich nur noch von vereinzelten Instanzgerichten in der zweiten Hälfte der 70er Jahre253 • Das schließt natürlich nicht aus, daß es im Einzelfall dennoch zu gemeinschaftsrechtswidrigen Entscheidungen der ordentlichen Gerichte kommt, die auf Fehlinterpretationen des Gemeinschaftsrechts beruhen 254 ; ein strukturelles Problem stellt die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts auch gegenüber nachfolgendem Gesetzesrecht seit dieser Zeit fllr die ordentlichen Gerichte jedoch nicht mehr dar. Es ist sogar bemerkt worden, daß die nach ihrer Begründung fllr alle völkerrechtlichen Verträge geltende Lösung sich im Ergebnis doch vor allem fUr das Gemeinschaftsrecht positiv ausgewirkt hatm : Das von den ordentlichen Gerichten regelmäßig respektierte 256 Vorlageverfahren gemäß Art. 177 EGV sichert den Vorrang des Gemeinschaftsrechts in der vom EuGH gegebenen Auslegung 257 und erstickt im Keim jede Versuchung, unter formaler Wahrung des Vorrangs des Vertrages diesen so eng auszulegen, daß das Gesetz schließlich doch nicht mehr als Verstoß erscheint258 • Die ordentlichen Gerichte haben auf diese Weise in der Folgezeit mehrfach auch die Vertragsmäßigkeit von Gesetzen geprüft, deren Verfassungsmäßigkeit (im engen Sinne) zuvor vom Conseil constitutionnel festgestellt worden war259 • Die Rüge der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes wird dagegen wei253 Nachweise (zur EMRK) bei Eissen in: Cohen-Jonathan (Hrsg.), Droits de I'Homme en France (1985), 1 (3 f); Pellet RDP 1981, 69 (82). 254 So hat Cass. civ. 2me 3.3.1988 - Zacharias et autre c. agent judiciaire du Tresor, Bull. civ. 11 No 55, S. 30 den Erben eines in Frankreich beschäftigten deutschen Verbrechensopfers die Opferentschädigung wegen Fehlens der vom Gesetz verlangten Gegenseitigkeit verweigert, da dieses Erfordernis nicht gegen die eindeutigen (!) Bestimmungen des Gemeinschaftsrecht verstoße; kurz darauf entschied EuGH 2.2.1989 Rs. 186 I 87 - lan William Cowan gegen Tresor public, Slg. 1989, 195 gerade umgekehrt; s. dazu Bonichot Rev. sc. crim. 1989, 562 (572) und Roseren 31 CMLRev (1994),314 (351 f). 255 Genevois RFDA 1989, 824 (832). 256 So die Feststellung von Vedel Juridictions fran~aises (1987), 25, der allerdings den "Ausreißer" von Cass. civ. 2me 3.3.1988 - Zacharias et autre c. agent judiciaire du Tresor, Bull. civ. 11 No 55, S. 30 (oben Fn 254) noch nicht berücksichtigen konnte. 257 Sie wird von den ordentlichen Gerichten als authentisch anerkannt, s. v.a. Cass. crim. 5.12.1983 - Administration des Douanes c. Epuran, D. 1984 jp 217 (I. Entscheidung) m.Anm. Cosson. 258 So stellt Genevois RFDA 1989, 824 (832) fest, daß die "autonome" Auslegung der EMRK durch die Cour de cassation noch immer zu der Feststellung gefllhrt hat, daß das gerügte nationale Gesetz den Anforderungen des Vertrages genüge. 259 Besonders prägnant einerseits CC 29.12.1989 No 89-268 DC - Loi de finances po ur 1990, Rec. S. 110 = RGDIP 1990, 278 = RFDA 1990, 159 m.Anm. Genevois S. 143 = RFDC 1990, 122 m.Anm. Philip: die dreiprozentige Sondersteuer auf den Wert der Immobilien ausländischer Gesellschaften in Frankreich ist nicht verfassungswidrig,
344
4. Kapitel: Vorrang gegenüber Gesetzen
terhin und unabhängig von einer vorangehenden Überprüfung dieses Gesetzes durch den Conseil consitutionnel als unzulässig zurückgewiesen 26o • c) Die Durchsetzung des Vorrangs auch in "kritischen" (= jinanzwirksamen) Fällen
In der Folgezeit haben die ordentlichen Gerichte mit dieser Überprüfung teils wiederholte Versuche des nationalen Gesetzgebers vereitelt, die Wirkung des Gemeinschaftsrechts und insbesondere von Entscheidungen des EuGH im sensiblen Bereich finanzwirksamer Vorschriften zu begrenzen. sondern ein angemessenes Mittel zur Reaktion auf die Steuerflucht ins Ausland; über die Vertragsmäßigkeit ist nicht zu befinden; andererseits Cass. Ass. plen. 21.12.1990 Oirecteur general des impöts c. SA Roval, Bull. civ. No. 12, S. 23 = O. 1991 jp 305 mit den Schlußanträgen von Generalanwalt Oontenwille: die Steuer verstößt gegen ein französisch-schweizerisches Ooppelbesteuerungsabkommen von 1966; zu dieser Entscheidung s. auch Lachaume AFDI 1991, 893 (902). Zuvor bereits einerseits CC 17.1.1979 No 78-101 OC - Conseils des prud'hommes, Rec. S. 23 = RDP 1979, 1723 m.Anm. Philip S. 1659 (1689 ff), andererseits TGI Paris 27.1.1987 - Laboratoires Galeniques Vernin c. ASSEDIC, Gaz. Pa!. 1987, I, somm. 131 m. Anm. Pettiti / Pettiti Gaz. Pa!. 1987, I, doctr. 430 = Or. soc. 1987,473 m.Anm. Pretot S. 469: Verstoß u.a. gegen Art. 6 EMRK bejaht; aufgehoben durch CA Paris 14.10.1987, Gaz. Pa!. 1987,2,706 mit den Schlußanträgen von Generalanwalt Lupi u. Anm. Pettiti / Pettiti Gaz. Pa!. 1988, I, doctr. I: Verstoß in der Sache verneint; sowie einerseits CC 3.9.1986 No 86-213 OC - Loi relative ci la lutte contre le terrorisme et aux atteintes ci la sflrete de l'Etat, Rec. S. 122, andererseits Cass. crim. 7.5.1987 Schleicher / Halfen, Bull. crim. No 186, S. 497 = Rev. sc. crim. 1987,625 m.Anm. Koering-Joulin S. 621. 260 s. etwa Cass. crim. 7.5.1987 - Schleicher / Halfen, Bull. crim. No 186, S. 497 = Rev. sc. crim. 1987,625 m.Anm. Koering-Joulin S. 621: "... Ies dispositions critiquees sont de nature legislative, ... I'appreciation de la constitutionnalite d'une loi echappe ci la competence des juridictions de I'ordre judiciaire," Ebenso Cass. civ. I re I. 10.1986 - Epoux Guillot, JCP 1987 II 20894 m.ab!.Anm. Agostini: die auf ein Gesetz vom 11. germinal An XI gestützte Verweigerung der Eintragung des Vornamens "Fleur de Marie" wird an Art. 8, 9 und 14 der EMRK gemessen, eine Kontrolle des Gesetzes am Maßstab der Verfassung jedoch ausgeschlossen (auch hier hat die Cour de cassation also die Rechtsfigur der caducite des vorkonstitutionellen Gesetzes nicht genutzt, s.o. 3. Kap. B. I. 4. a) bb) ß). Zuletzt Cass. com. 9.7.1996 - Tapie et autres C. Ste de banque occidentale et autres, O. 1996 jp 465 mit den Schlußanträgen von Generalanwalt de Gouttes: die gesetzliche Anordnung des Verlusts der Wählbarkeit (und damit auch des Sitzes im Europäischen Parlament) durch Konkurs ist mit verfassungsrechtlichen Argumenten nicht mehr angreifbar, ein Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht wird dagegen in der Sache geprüft und verneint (zur Parallelentscheidung des CE in dieser Sache S.U. Fn 403).
B. Prozessuale Durchsetzung
345
Geschehen ist dies etwa im Fall von Art. 13 Abs. 5 des Haushaltsgesetzes für 1981, der den Beweis für die Nichtabwälzung der durch zu Unrecht erhobene Abgaben entstandenen Belastungen dem Gläubiger aufbürdete und auf diese Weise die Auswirkungen einer Entscheidung des EuGH 261 zur Vereinbarkeit der französischen Spirituosenbesteuerung mit Art. 95 EWGV beschränken sollte262 : Auf Vorlage durch die Cour de cassation hatte der EuGH hier Gelegenheit, seine Rechtsprechung263 zur Unzulässigkeit derart weitgehender Beweislastregeln zu bestätigen 264 • Dieselbe Unerschrockenheit haben die ordentlichen Gerichte in der unendlichen Geschichte um die 1980 neu gestaltete differenzierte Kfz-Steuer bewiesen: Nachdem die Regelung von 1980 durch den EuGH 265 als Verstoß gegen Art. 95 EWGV beanstandet worden war, haben weitere Vorlagen der ordentlichen Gerichte dem EuGH auch die Beanstandung der auf diese Entscheidung hin erfolgten ersten Neuordnung der Steuer durch ein Gesetz aus dem Jahr 1985 266 ermöglichf67 • Erst den zweiten Anlauf einer Neuordnung
261
EuGH 27.2.1980 Rs. 168 / 78 - Kommission / Frankreich, Slg. 1980, 347.
s. rurol RJF 3 / 1989, 115 (116); die - ebenfalls nicht vollständig gemeinschaftsrechtskonforme - Anpassung des französischen Steuersystems für die Zukunft war auf der anderen Seite Gegenstand eines Verfahrens vor dem CC, bei dem die angeblich fehlende Gegenseitigkeit in der Anwendung des Art. 95 EGV gerügt wurde, s.o. 4. Kap. A. III. 3. a) und b) cc). 263 EuGH 9.11.1983 Rs. 199 / 82 - Amministrazione delle finanze dello Stato gegen S.p.A. San Giorgio, Slg. 1983,3595. 264 EuGH 25.2.1988 verb. Rs. 331, 376 u 378 / 85 - Les Fils de Jules Blanco und J. Girard Fils SA gegen Directeur general des douanes et droits indirects, Slg. 1988, 1099. Im Ergebnis ebenso zuvor aus eigener Autorität TI Villejuif 16.6.1983 - SARL Rungis Porcs c. Etat fran~ais-Administration des Douanes, D. 1983 jp 517 m.Anm. Y.L.; CA Douai 6.6.1984 - Etat fran~ais-Administration des Douanes c. Ste Rungis Porcs, D. 1984 jp 534 m.Anm. Y.L.; s. später noch Cass. com. 23.11.1993 - Ste Barton et Guestier, RJF 3 / 1994 No 363, S. 200 = JCP 1994 IV 252 = Europe 3 / 1994, 6 m.abI.Anm. Simon. S. weiter Huglo RTDE 1995, 1 (8 t); Simon in: Rep. dr. comm. Stichwort "Repetitionde l'indu" Rn 41 ff; Berlin Droit fiscal communautaire S. 90 f. 265 EuGH 9.5.1985 Rs. 112/84 - Michel Humblot gegen Directeur des services fiscaux, Sig. 1985, 1367; zu den Bedenken gegen die Vereinbarkeit der Regelung mit Art. 95 EWGV S. schon Bergeres RTDE 1982, 288 ff. 266 Art. 18 des Loi No 85-695 du 11. 7 .1985 portant diverses dispositions d'ordre economique et financier, JORF 12.7.1985, S. 7855. 262
267 EuGH 17.9.1987 Rs. 433 / 85 - Jacques Feldain gegen Directeur des services fiscaux du departement du Haut-Rhin, Slg. 1987, 3521 (Vorlage des TGI Mühlhausen); EuGH 28.4.1988 verb. Rs. 76, 86 bis 89 und 149/87 - G. Seguela und A. Lachkar und andere gegen Administration des impöts, Slg. 1988, 2397 (Vorlagen der TGI SaintBrieuc und Nancy); S. dazu etwa rurot RJF 3 / 1989, 115 (118).
346
4. Kapitel: Vorrang gegenüber Gesetzen
durch Gesetz vom 30.12.1987 268 hat die Cour de cassation schließlich nach Ausräumung internrechtlicher Bedenken269 und einer weiteren Vorlage an den EuGH 270 als grundsätzlich gemeinschaftsrechtskonfonn angesehen 271 • Zugleich wurde auch die durch dasselbe Gesetz272 im Jahr 1985 angeordnete Beschränkung der Rückerstattung der zuvor zu Unrecht erhobenen Abgaben auf bereits zum Zeitpunkt der Entscheidung gestellte Anträge vereitelt273 • Erst den im Jahr 1989 unternommenen nächsten gesetzlichen Anlauf zur zeitlichen Beschränkung der Rückerstattung von auf (auch, aber nicht nur gemeinschafts-) rechtswidriger Grundlage erhobenen Abgaben 274 hat die Cour de Loi No 87-1061 du 30.12.1987, JORF 31.12.1987, S. 15532. Cass. com. 6.4.1993 - Directeur general des impöts C. Lovaert, Bull. civ. IV No 95, S. 141 = RJF 5 /1993, No 756, S. 438 mit den Schlußanträgen von Generalanwalt de Gouttes S. 365 = JCP 1993 II 22064 m.Anm. Nguyen van Tuong hatte beanstandet, daß wesentliche Elemente der Steuer nicht durch das Gesetz, sondern entgegen Art. 34 der Verfassung durch ministerielle Dienstanweisung (circulaire) geregelt worden waren; diese Beanstandung wurde durch rückwirkende Erhebung der Dienstanweisung in Gesetzesrang ("validation legislative") mit Gesetz vom 22.6.1993 ausgeräumt. 270 EuGH 30.11.1995 Rs. C-I13 / 94 - Elisabeth Casarin, verheiratete Jacquier, gegen Directeur general des impöts, Slg. 1995, I - 4203 auf Vorlage durch Cass. com. 29.3.1994 - Jacquier, RJF 7 / 1994 No 870, S. 502; S. dazu Berlin RTDE 1997, 103 (157 f). 271 So unter Berufung auf die Entscheidung des EuGH nun Cass. Ass. plen. 14.6.1996 - Kloeckner, JCP 1996 II 22692 mit den Schlußanträgen von Generalanwalt Monnet = Dr. fisc. 1996 No 986, S. 1031 mit den Schlußanträgen = RJF 8 / 1996 No 1118, S. 631; s. dazu Berlin RTDE 1997, 103 (158 f); Der CE dagegen hat ein Detail der in Gesetzesrang erhobenen Regelung inzwischen als gemeinschaftsrechtswidrig beanstandet, S.U. 4. Kap. B. II. 3. d) aa) mit Fn 405. 268
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Art. 18-V Abs. 2 des Loi No 85-695 du 11.7.1985, JORF 12.7.1985, S. 7855. EuGH 29.6.1988 Rs. 240 / 87 - Deville gegen Administration des impöts, Slg. 1988,3513 (Vorlage des TI Lilie); s. auch Berlin Droit fiscal communautaire S. 88 f.; Turot RJF 3 / 1989,115 (122); umgesetzt u.a. durch Cass. com. 7.11.1989 - Dubois, Feldain, Franceschini (3 Entscheidungen), RJF 12 / 1989, No 1460, S. 751 mit den Schlußanträgen von Generalanwalt Raynaud S. 682, s. dazu Communier ! Hatoux RJF 2/1990,85 ff. 274 Ergänzung von Art. 190 des Livre des Procedures Fiscales (LPF) um 2 Absätze durch Art. 36 des loi de finances rectificative pour 1989 (Loi No 89-936 du 29.12.1989, JORF 30.12.1989, S. 16393): " Sont instruites et jugees seI on les regles du present chapitre toutes actions tendant a la decharge ou a la reduction d'une imposition ou a I'exercice de droits a deduction, fondees sur la non-conformite de la regle de droit dont il a ete fait application une regle de droit superieure. Lorsque cette non-conformite a ete revelee par une decision juridictionnelle I'action en restitution des sommes versees ou en paiements des droits a deduction non exerces ou 272 273
a
B. Prozessuale Durchsetzung
347
cassation schließlich - wohl zu Recht275 , allerdings ohne Vorlage an den EuGH - als gemeinschaftsrechtskonform akzeptiert276 • Zuletzt hat die Cour de cassation mit einer Entscheidung vom 21.2.1995 277 filr den insoweit begrenzten Zuständigkeitsbereich der ordentlichen Gerichte27! auch die staatshaftungsrechtlichen Konsequenzen aus dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber nationalen Gesetzen gezogen. Auch der Hintergrund dieser Entscheidung reicht zurück in die frühen achtziger Jahre: Seit einer im Vertragsverletzungsverfahren ergangenen Entscheidung des EuGH vom 10.7.1980 279 stand fest, daß die gesetzliche Beschränkung der Spirituosenwerbung aufgrund ihres diskriminierenden Charakters in wesentlichen I'action en reparation du prejudice subi ne peut porter que sur la periode posterieure au ler janvier de la quatrieme annee precedant celle OU la decision revelant la nonconformite est intervenue." Die Cour de cassation hatte zuvor in den Fällen, in denen die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit der Abgabe aufgrund einer Entscheidung des EuGH bereits feststand, die Rückerstattungsverlangen der 30jährigen Verjährungsfrist des gemeinen Rechts unterstellt, s. ausführlich Amselek Melanges Chapus (1992), 5 (15 ff). Gemeinschaftsrechtlich war diese Großzügigkeit wohl kaum gefordert, eine abweichende Regelung durch den Gesetzgeber also möglich. 275 So Hugla RTDE 1995, 1 (6 f); ders. in: Rapport de la Cour de cassation 1994, 227 (232); Zweifel äußern Simon / Gautier Europe 7 / 1993, 5 f; Turat RJF 12 / 1992, 955 (958) mit dem bedenkenswerten Argument, daß die Regelung zwar formal allgemein gefaßt sei, im Ergebnis aber vor allem Rückerstattungsansprüche auf der Grundlage des Gemeinschaftsrecht treffe: die Verfassungswidrigkeit eines Steuergesetzes läßt sich anders als die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit nachträglich ja nicht feststellen; dazu zuletzt Bacci / Calisti Dr. fisc. 1996, 340 ff. 276 Cass. com. 13.12.1994 - Directeur general des impöts C. Bluteau, Bull. civ. IV No 379, S. 313 = RJF 2 /1995 No 284, S. 157 (3. Entscheidung) mit den (gemeinsamen) Schlußanträgen von Generalanwalt Raynaud S. 82; Cass. com. 13.12.1994 Abelsohn C. Directeur general des impöts, Bull. civ. IV No 380, S. 313 = Europe 11 1995, 8 = RJF 2 / 1995 No 284, S. 157 (2. Entscheidung); dazu Siman Europe 2 / 1995, 3; Hugla RTDE 1995, 1 (7); die Cour de cassation stellt allerdings klar, daß die neue Frist auch rur zurückliegende Sachverhalte erst mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zu laufen beginnt. 277 Cass. com. 21.2.1995 - Stes United Distillers France, John Walker and sons Ud, Tanqueray Gordon and Cie Ud C. agent judiciaire du Tresor public et autre, Bull. civ. IV No 52, S. 50 = RJF 5 / 1995 No 688, S. 397 = Europe 5 / 1995, 9. 278 Die Zuständigkeit in Staatshaftungssachen liegt fast ausschließlich bei der Verwaltungsgerichtsbarkeit; die ordentlichen Gerichte entscheiden nur über Fehlverhalten der Justizorgane (hier: des lustizministeriums als Haupt der Staatsanwaltschaft); S. allgemein Chapus DAG I Rn 1273 ff, S. 1123 ff. 279 EuGH 10.7.1980 Rs. 152/78 - Kommission / Frankreich, Slg. 1980,2299 1982 jp 141 m.Anm. Bergeres.
=
D.
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4. Kapitel: Vorrang gegenUber Gesetzen
Teilen mit Art. 30 EWGV unvereinbar war; dennoch ordnete eine Dienstanweisung des lustizministers an die Staatsanwaltschaften vom 10.10.1980 ftlr jeden Fall eines Verstoßes gegen die nationalen Werbebeschränkungen die Einleitung eines Strafverfahrens an 280 . Nach der dieser Dienstanweisung zugrunde liegenden Konzeption sollte der Einfluß des Gemeinschaftsrecht auf den jeweiligen Einzelfall nicht schon von der Staatsanwaltschaft, sondern erst vor Gericht festgestellt werden, zumal erst in diesem Stadium die Möglichkeit von Vorlagen zum EuGH bestünde. Die in der Folge mit diesen Verfahren befaßten Strafgerichte281 hatten das Gemeinschaftsrecht in seiner Auslegung durch den EuGH 282 zuverlässig angewandt, und den durch diese Rechtsprechung gewährten Schutz sogar über die Ausftlhrungen des EuGH hinaus auch auf französische Produkte erstreckt, sofern nur eine Diskriminierung gegenüber anderen in- oder ausländischen Produkten erkennbar war283 • Die Kläger des neuen Verfahrens machten nun geltend, auf entsprechende Werbung ftlr ihre Produkte in Erwartung der Einleitung solcher Strafverfahren auch gegen sie verzichtet zu haben, und verlangten Ersatz des auf diese Weise entgangenen Gewinns 284 • Die Cour de cassation hat in der Entscheidung vom 280 s. auch BujJet-TehakalojJ Cour de Justice S. 355; Chevallier I Constantineseo Anm. D. 1983 jp 426. 281 Cass. crim 16.6.1983 - Comite de defense contre l'alcoolisme c. Rossi di Montalera et autres, RTDE 1983,468 m.Anm. [saae = JCP 1983 II 20044 (2. Entscheidung) m.Anm. Deeoeq; Vorinstanz CA Versailles 27.4.1981, CDE 1983,304 m.Anm. Jeantet; Cass. crim. 16.6.1983 - Procureur general pres la Cour d'appel de Grenoble et autres c. Camboumac, D. 1984 jp 43 m.Anm. Ryziger = JCP 1983 II 20044 (1. Entscheidung) m.Anm. Deeoeq; zum Ganzen auch Jeantet CDE 1983, 519 ff; Grelon RTDE 1987,405 (409 ft). 282 Auf Vorlage hat der EuGH seine Rechtsprechung nochmals bestätigt und verdeutlicht, EuGH 14.12.1982 verb. Rs. 314 - 316 / 81 und 83 / 82 - Procureur de la Republique et Comite National de defense contre l'alcoolisme gegen Alex Waterkeyn, Slg. 1982,4337 = D. 1983 jp 425 m. Anm. Chevallier I Constantineseo. 283 Kritisch insoweit [saae Anm. RTDE 1983, 470 (483 ft); zustimmend dagegen Deeoeq Anm. JCP 1983 II 20044; Ryziger Anm. D. 1984 jp 44 (47); zu den abweichenden Grundvoraussetzungen der Diskussion um die Inländerdiskriminierung auf der Basis des national-verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes s. bereits oben 3. Kap. B. 11. 2. b) cc): in den Fällen, in denen die Diskriminierung sich aus dem Nebeneinander von Gemeinschaftsrecht und nationalem Gesetz ergibt, kann die Diskussion anders als in Deutschland nicht auf dieser Ebene fortgesetzt werden, denn das würde die den Fachgerichten nach wie vor verschlossene Kontrolle des Gesetzes am Maßstab der Verfassung bedeuten. 284 Parallel dazu haben dieselben Kläger den durch die diskriminierende Besteuerung eingeführter Spirituosen entgangenen Gewinn als Schaden vor den Verwaltungsgerichten geltendgemacht, s.u. 4. Kap. B. II. 3. e) cc) mit Fn 479.
B. Prozessuale Durchsetzung
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21.2.1995 die in diesem Bereich nach nationalem Staatshaftungsreches5 bestehende Haftungsvoraussetzung groben Verschuldens als durch den Erlaß der Dienstanweisung erfüllt angesehen, und den Klägern den verlangten Schadenersatz dem Grunde nach zugesprochen; ohne weitere Problematisierung war damit klargestellt, daß die Verantwortung für die Durchsetzung des Vorrangs gegenüber Gesetzen nicht erst den Gerichten, sondern - entsprechend der Formulierung des Conseil constitutionnel in seiner Entscheidung vom 3.9.1986286 - allen nationalen Behörden aufgegeben ist287 •
3. Die Haltung des Conseil d'Etat
Anders als die Cour de cassation hatte der Conseil d'Etat schon prononciert Stellung bezogen, bevor der Conseil constitutionnel seinerseits Gelegenheit erhielt, seine Konzeption zur Durchsetzung des Vorrangs zu entwickeln: Die Durchsetzung späterer Verträge gegenüber älteren Gesetzen bereitet ihm keine Schwierigkeiten, wie die ständige Rechtsprechung zum Gemeinschaftsrecht288 , aber auch zu klassischen völkerrechtlichen Verträgen 2K9 sowie zu den - von
285
Art. L. 781-1 des Code de I'organisationjudiciaire; s. Chapus DAG 1 Rn 1267, S.
1125. 286 CC 3.9.1986 No 86-216 DC - Loi relative aux conditions d'entree et de sejour des etrangers, Rec. S. 135; s.o. 4. Kap. B. 11. 1. b) bb). 287 "... I'effet du droit communautaire implique, pour les autorites nationales competentes, prohibition de plein droit d'appliquer une prescription nationale reconnue incompatible avec le Traite, ... " "... la circulaire Iitigieuse, en invitant le ministere public a exercer des poursuites pena1es pour toute publicite pour un produit importe effectuee en violation des articles L. 17 et L. 18 du Code des debits de boissons au motif qu'i1 appartient au juge penal de determiner si le produit importe doit etre considere comme similaire ou entrant en concurrence avec un produit national a meconnu la portee des arrets de la Cour de justice ... son adoption constitue ainsi une faute lourde ... " 288 s. etwa CE Ass. 22.1.1982 - Conseil regional de Paris de I'Ordre des expertscomptables agrees, Rec. S. 28 = AJDA 1982, 170 (3 Entscheidungen) mit den gemeinsamen Schlußanträgen von Regierungskommissar Franc S. 402 u.Anm. Boulouis S. 172 = RTDE 1982, 346 mit den Schlußanträgen u. Anm. Idot: Art. 52 EWGV stand hier gegen das Staatsangehörigkeitserfordernis flir die Zulassung als Wirtschaftsprüfer gern. Art. 26 einer Ordonnance (im Gesetzesrang) vom 19.9.1945. 289 s. etwa CE Ass. 7.7.1978 - Croissant, Rec. S. 292 = AJDA 1978, 579 m.Anm. Dutheillet de Lamothe / Robineau S. 559 = RGDIP 1979, 848 m.Anm. Prevost = Gaz. Pal. 1979, 1,34 m.Anm. Derouin = JDI 1979,90 m.Anm. Ruzie zum Verhältnis zwischen nationalem Auslieferungsgesetz und deutsch-französischem Auslieferungsabkommen: " ... si I'article I er de la loi du 10 mars 1927 dispose que cette loi s'applique
350
4. Kapitel: Vorrang gegenüber Gesetzen
Frankreich ja erst spät ratifizierten und damit im Verhältnis zum widersprechenden Gesetz häufig "jüngeren" - Menschenrechtsverträgen 290 zeigt. Letztlich wird hier aber auch nur die lex-posterior-Regel angewandt: Die Lösung würde auch nicht anders ausfallen, wenn Vertrag und Gesetz materiellrechtlich denselben Rang bekleideten 291 • Auch ist darüber hinaus das Bemühen erkennbar, jüngere Gesetze nach Möglichkeit im Licht älterer Verträge auszulegen 292 und auf diese Weise einen offenen Konflikt zu vermeiden. Erst wenn ein Widerspruch auf diese Weise nicht auszuräumen war, kam es zum offenen Bruch mit der Regel des Art. 55 der Verfassung: Über lange Jahre hat der Conseil d'Etat in solchen Fällen dem jüngeren Gesetz den faktischen Vorrang eingeräumt, indem er sich weigerte, das Gesetz am Maßstab des Vertrages zu messen. Im Ergebnis, wenn auch nicht in der kompetenzrechtlich-prozessualen Begründung, bestand damit eine Situation, die auch in dualistischen Rechtsordnungen nicht anders ausgesehen hätte 293 •
aux points qui n'auraient pas ete reglementes par les traites, cette disposition ne saurait prevaloir sur celles de la convention precitee, qui sont plus recentes et qui, en vertu de I'article 55 de la Constitution du 4 octobre 1958, ont une autorite superieure ace/le de la lai". CE 15.2.1980 - Gabor Winter, Rec. S. 87 = D. 1980 jp 449 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Labetoulle ebenfalls zum Verhältnis zwischen Auslieferungsgesetz und Auslieferungsabkommen. 290 CE 21.12.1979 - Vimare, Rec. S. 478 = D. 1980 jp 225 (I. Entscheidung) m.Anm. Madiot zum Verhältnis zwischen EMRK und (älterem) Wehrdienstgesetz; CE Ass. 23.11.1984 - Roujansky, Rec. S. 383 = AJDA 1985,216 (2. Entscheidung) mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Labetoulle zum Verhältnis zwischen nationaler Europawahlgesetzgebung und dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19.12.1966, der für Frankreich am 4.2.1981 in Kraft getreten ist (Loi No 80-460 du 25.6.1980, JORF 26.6.1980, S. 1569; Decret No 81-76 du 29.1.1981, JORF 1.2.1981, S. 398). 291 So die einschränkenden Bemerkungen von Lachaume AFDI 1979,853 (861) und Constantinesco / Jacque in: Koenig I Rüfner (1985), 175 (208 f) aus Anlaß der Entscheidung CE Ass. 7.7.1978 - Croissant (oben Fn 289), in deren Begründung der nur ergänzende Charakter des Vorrang-Arguments deutlich zutage tritt. 292 s. etwa CE 7.4.1965 - Secretaire d'Etat au Commerce c. Hurni, Rec. S. 226 = RCDIP 1965, 532 m.Anm. M.S.-D. zum Verhältnis zwischen allgemeinem Ausländerrecht und einem Schweizerisch-Französischen Abkommen von 1882; CE Ass. 2.5.1975 - Mathis, Rec. S. 279 (zu dieser Entscheidung noch unten 5. Kap. B. II. I. bei Fn 24 f); s. auch Bon in: Droit constitutionnel et droits de I'homme (1987), 269 (303 f). 293 So die konsternierte Feststellung von Colliard Melanges Waline Bd. I (1974), 187 (201); Constantinesco / Jacque in: Koenig I Rüfner (1985), 175 (210).
B. Prozessuale Durchsetzung
351
a) Der faktische Ausschluß des Vorrangs gegenüber nachfolgenden Gesetzen: Die "Jurisprudence des Semoules"
aa) Die Entscheidung vom 1.3.1968 Der Gegenstand dieser ersten Grundsatzentscheidung des Conseil d'Etae94 zum Verhältnis zwischen Gemeinschaftsrecht und Gesetz - oder genauer: zu seiner eigenen Rolle in diesem Verhältnis - war vordergründig banaler Natur: Ein Verband französischer Griesproduzenten beanstandete die Genehmigung der zoll- und abgabenfreien Einfuhr eines Kontingents von Gries aus Algerien; nach seiner Ansicht handelte es sich hier nach der Unabhängigkeit Algeriens um Einfuhren aus einem Drittstaat, die nach der EWG-VO Nr. 19 vom 4.4.1962 dem Regime der Einfuhr-Abschöpfungen zu unterwerfen waren. Die Lage wurde dadurch kompliziert, daß auf Grund einer Ordonnance vom 19.9.1962 Algerien hinsichtlich der Wareneinfuhr vorläufig weiterhin als Inland zu behandeln war; die Ordonnance wiederum stützte sich auf die dem Präsidenten der Republik durch das Referendum vom 13 .4.1962 erteilte Ermächtigung, alle im Zusammenhang mit der Regelung der Algerien-Frage nötigen Maßnahmen zu treffen. EWG-Verordnung und nationale Ordonnance schienen also in Widerspruch zueinander zu stehen. Wäre es bei diesem Normenkonflikt geblieben, so hätte der Conseil d'Etat wohl der EWG-VO den Vorrang zugebilligt: Bereits zuvor hatte er in der berühmt gewordenen Canal-Entscheidung vom 19.1O.196229s geklärt, daß die auf die Ermächtigung durch das Referendum gestützten Ordonnances selbst nicht den Gesetzesrang des Volksgesetzes hatten, sondern wie die Ordonnances nach Art. 38 der Verfassung im Rang unter dem Gesetz standen und seiner
294 CE Sect. 1.3 .1968 - Syndicat general de fabricants de semoules de France, Rec. S. 149 = AJDA 1968, 235 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissarin Questiaux = D. 1968 jp 285 m.Anm. ML (Maurice Lagrange, so jedenfalls Druesne RMC 1975,379 [382] und Rideau CDE 1975,608 [625]) = RTDE 1968,388 m.Anm. Constantinides-Megret = RCDIP 1968, 517 mit den Schlußanträgen und Anm. Kovar = RGDIP 1968, 1128 m.Anm. Char/es Rousseau; deutsche Übersetzung in EuR 1968, 317 m.Anm. Leontin-Jean Constantinesco und H.P. Ipsen; s. auch noch Leontin-Jean Constantinesco Riv. dir. euro 1968, 259 ff.
CE Ass. 19.10.1962 - Canal, Robin et Godot, Rec. S. 552 = GAJA Nr. 97, S. 599 1963 II 13068 m.Anm. Char/es Debbasch = Rev. adm. 1962,623 m.Anm. LietVeaux = AJDA 1962, 626 m.Anm. de Laubadere S. 612. 295
= JCP
352
4. Kapitel: Vorrang gegenüber Gesetzen
Kontrolle unterworfen waren 296 ; daraus war zu schließen, daß der Conseil d'Etat auch den Vorrang völkerrechtlicher Verträge gleich welchen Alters gegenüber diesen Rechtsakten der Exekutive durchsetzen würde 297 • Gerade die Canal-Entscheidung, mit der eine Ordonnance zur Errichtung eines militärischen Sondergerichts aufgehoben worden war (womit auch die von diesem Sondergericht bereits ausgesprochenen und kurz vor der Vollstreckung stehenden Todesurteile gegen die Kläger ihre Grundlage verloren), hatte aber nicht nur die Empörung von General de Gaulle und einen offiziellen Protest der Regierung ausgelöst, sondern auch eine Intervention des Gesetzgebers bewirkt: Mit Gesetz vom 15.1.1963 298 wurde nicht nur das vom Conseil d'Etat verhinderte Sondergericht erneut - und nunmehr für den Conseil d'Etat jedenfalls mit verfassungsrechtlichen Argumenten unangreifbar299 - errichtet; Art. 50 dieses Gesetzes 300 verlieh darüber hinaus allen auf der Grundlage der Ermächtigung durch das Algerien-Referendum erlassenen Ordonnances rückwirkend Gesetzesrang30I • Erst durch diese Intervention wurde die Klage gegen die Gries-Einfuhr zum Konfliktfall zwischen Gemeinschaftsrecht und nachfolgendem nationalen Gesetz. 296 Zu dieser Gleichstellung s. neben den in der vorigen Fn nachgewiesenen Entscheidungsanmerkungen auch noch Stillmunkes RDP 1964, 261 (284 f); zum Status der ordonnances nach Art. 38 der Verfassung s. bereits oben 4. Kap. B. II. I. b). 297
Zum Verhältnis zwischen Vertrag und Rechtsakten der Exekutive s.u. 5. Kap.
298 Loi No 63-23 du 15.1.1963 fixant la composition, les regles de fonctionnement et la procedure de la Cour de sflrete de l'Etat ... , JORF 16.1.1963, S. 508.
299 Long / Weil u.a. GAJA S. 600 (605); Pezant Melanges Burdeau (1977), 455 (465); der CC wurde gegen dieses Gesetz nicht angerufen (die Opposition hatte vor 1974 noch keinen Zugang zum CC); im Rückblick halten Long / Weil aaO. die Bestimmung flir verfassungswidrig. 300 Art. 50: "Les ordonnances prises en vertu de l'article 2 de la loi no 62-421 du 13 avril 1962 ont et conservent force de loi a compter de leur publication." CE 2.12.1964 - Sieur de Bonnechose, Rec. S. 608 erkennt dieses Ergebnis an: " ... il resulte de la generalite des termes desdites dispositions [sc: Art. 50] qu'elles ont eu po ur effet de valider toutes les ordonnances, quel que soit leur objet, prises en vertu de l'article 2 de la loi no 62-421 du I3 avril 1962; ... tel est le cas notamment de I'ordonnance ... dont les dispositions ne sont, par suite, plus susceptibles d'etre discutees par la voie contentieuse; ... " 301 Es handelte sich dabei um keine "validation legislative" (zum Begriff s.o. 3. Kap. B. II. 4. b) im klassischen Sinne, da der Rang der aufgrund der Ermächtigung im Referendum getroffenen Maßnahmen nicht konstitutiv verändert, sondern das Volksgesetz als Ermächtigung zur Ausübung der gesetzgebenden Gewalt "authentisch interpretiert" werden sollte; dazu etwa Garrigou-Lagrange RDP 1969, 641 (679 ff); Stillmunkes RDP 1964, 261 (285 f).
B. Prozessuale Durchsetzung
353
Gemeinschaftsrechtlich lag der Sachverhalt im übrigen nicht so einfach, wie heute die kurzen Bemerkungen in der deutschen Literatur vermuten lassen 302 : Immerhin war Algerien als geographische Einheit in Art. 227 Abs. 2 EWGV 303 ausdrücklich neben den nur abstrakt umschriebenen überseeischen Departements in die Gemeinschaft einbezogen. Diesen ausdrücklichen Wortlaut konnte man zwar angesichts der tatsächlichen Entwicklung und in Anwendung des Prinzips der beweglichen Vertragsgrenzen als gegenstandslos oder überholt ansehen; doch ist die Gegenstandslosigkeit von Vorschriften des Gemeinschaftsrechts zum einen nicht zu vermuten 30 \ zum anderen ist in der zugrundeliegenden Frage der Staatennachfolge in Verträge einiges ungeklärt305 • Auch Rat und Kommission ließen in der damaligen Situation eine eindeutige Festlegung vermissen 306 • Das Verhältnis Algeriens zur Gemeinschaft wäre also durchaus einer Vorlage zum EuGH würdig gewesen, ein klarer Fall auch im Sinne einer weit verstandenen acte-clair-Doktrin lag keinesfalls vor; es war nicht einmal wirklich gesichert, daß ein Konflikt zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Gesetz tatsächlich bestand. Die Schlußanträge von Regierungskommissarin Questiaux erwähnen tatsächlich die Möglichkeit einer Vorlage zur Klärung des gemeinschaftsrechtlichen Status Algeriens. Im Ergebnis wird diese allerdings als unnötig angesehen, da die Lösung des Rechtsstreits sich bereits aus dem internen Recht ergebe: Selbst wenn das Gemeinschaftsrecht zu einem anderen Ergebnis komme, sei doch eindeutig durch jüngeres nationales Gesetz geregelt, daß weiter das Inlandsregime angewandt werden müsse. Eine vertragskonforme Auslegung des jüngeren Gesetzes im Stil der "Matter-Doktrin" sei zwar grund302 s. GTE(-Schräder) Rn 18 zu Art. 227 EWGV; Grabitz / Hilf (-Hummer) Rn 41 zu Art. 227, die beide (im Ergebnis natürlich zu Recht) vom Ausscheiden Algeriens mit der Unabhängigkeit ausgehen; Ehlermann EuR 1984, 113 (122) erwähnt zumindest die damaligen Unsicherheiten. 303
Eine Anpassung ist erst durch Art. 227 Abs. 2 EGV in der Fassung des EUV er-
folgt. 304 EuGH 14.12.1971 Rs. 7/71 - Kommission / Frankreich, Slg. 1971, 1003, Tz. 18120 zum Euratom-Vertrag. 305 In bezug auf die Algerien-Problematik s. die ausführliche Darstellung von Tavernier RTDE 1972, I (5 ff). 306 s. Tavernier RTDE 1972, 1 (3 ff, 17 ff); Pirotte-Gerouville RTDE 1976, 215 (218); in einem ähnlichen Sachverhalt, der die Wareneinfuhr aus Tunesien betraf, hat der EuGH aufgrund der unklaren Rechtslage und des widersprüchlichen Verhaltens der Gemeinschaftsorgane eine Vertragsverletzung Frankreichs nicht feststellen können, EuGH 9.7.1970 Rs. 26/69 - Kommission / Frankreich, Sig. 1970,565 und dazu Buffet-TchakaloffCour de lustice S. 68 f.
23 GundeI
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4. Kapitel: Vorrang gegenüber Gesetzen
sätzlich möglich, hier aber ausgeschlossen. In diesem Konflikt käme die Durchsetzung des Vorrangs des Vertrages einer Verwerfung des Gesetzes gleich: Die Gerichte seien aber traditionell nicht berechtigt, eine Hierarchie zwischen den Gesetzestexten herzustellen; auch die Verfassung der 5. Republik habe daran nichts geändert, da sie die Verfassungskontrolle des Gesetzes zwar ermöglicht, sie aber zugleich ausschließlich dem Conseil constitutionnel zugewiesen habe. Die Entscheidung des Conseil d'Etat folgte ohne eigene Begründung den Schlußanträgen: Die Klage wurde abgewiesen, da die angegriffenen Einfuhrerlaubnisse dem - gegenüber der EG-Verordnung jüngeren - nationalen Gesetz entsprachen. Nachdem der Conseil d'Etat durch seine rein intern-rechtliche geprägte Entscheidung eine Vorlage an den EuGH vermieden hatte, trat im übrigen genau die Situation ein, die das Vorabentscheidungsverfahren verhindern soll: Während Frankreich Algerien zoll- und agrarrechtlich weiter als Inland behandelte, gingen die anderen Mitgliedstaaten zunehmend dazu über, Algerien - häufig sogar nach Warengruppen differenziert - als Drittstaat zu behandeln 307 .
bb) Erklärungsansätze Über die in den Schlußanträgen von Regierungskommissarin Questiaux hinaus enthaltenen dogmatischen Begründungsansätze sind auch psychologische Erwägungen zur Rechtfertigung oder zumindest Erklärung der starren Position des Conseil d'Etat herangezogen worden. Zum einen wird vor allem von Angehörigen der Institution geltendgemacht, daß der Conseil d'Etat als Kontrolleur der Verwaltung vor allem Verbündeter des Gesetzgebers sei und daher mit diesem nicht in Konflikt treten könne30K ; die Eröffnung einer solchen "zweiten Front"309 müsse zwangsläufig die Kontrollmöglichkeiten gegenüber der Exekutive schwächen.
307 s. die Antwort der Kommission auf die Anfrage des Abg. Vredeling ABI. EG 1969 C 73 /1. 30K SO v.a. die Angehörigen des CE selbst, u.a. Questiaux in: Reuter u.a. (Hrsg.), 63 (73 0; Genevois EuR 1985, 355 (362); Bonichot RFDA 1989, 579 (581); de Clausade RPP No 937 (1988), 37 (42); aber auch ausländische Beobachter wie Bergsten Community Law (1973), 50. 309 Die kriegerische Formulierung stammt von Sabourin RDP 1992, 397 (407); ähnlich aber auch Genevois EuR 1985, 355 (362).
B. Prozessuale Durchsetzung
355
Diese Argumentation scheint jedoch nicht unbedingt stichhaltig, da zum einen der Conseil d'Etat die Maßstäbe fUr die Kontrolle der Verwaltung ja großteils nicht dem Gesetz entnommen und dieses durch seine Kontrolle verteidigt, sondern - mit den "principes generaux du droit administratif" - im wesentlichen selbst gebildet hae lO • Von einem Bündnis zwischen Gesetzgeber und Conseil d'Etat zur Kontrolle der Exekutive, das als durch die Kontrolle des Gesetzes "aufgekündigt" angesehen werden könnte, war also schon zuvor wenig zu bemerken. Zudem kommt die Verweigerung der Durchsetzung des Vorrangs des Vertrages gegenüber dem Gesetz regelmäßig der Exekutive zugute, die sich zur Stützung ihrer Maßnahmen vor den Verwaltungsgerichten regelmäßig auf das nationale Gesetz beruft, und - wenn dies de lege lata nicht ausreichen sollte - entsprechende rückwirkende Gesetzesänderungen herbeifUhrt 311 • Naheliegender scheint die Vennutung, daß der Conseil d'Etat in den heiklen Fragen der äußeren Beziehungen312 nicht mit der von ihm ja eigentlich zu kontrollierenden Exekutive in Konflikt geraten wollte 313 : So wie der Conseil constitutionnel es in der Amtszeit de GaulIes nicht gewagt hatte, eine materielle Verfassungskontrolle der Gesetze zu entwickeln3l4 , wäre danach auch der Conseil d'Etat einer Konfrontation aus dem Wege gegangen, nachdem de Gaulle bereits nach der Canal-Entscheidung von 1962 dessen Auflösung und die Abschaffung der Verwaltungs gerichtsbarkeit überhaupt erwogen haben so1l3lS. Die Regelung der Verwaltungsgerichtsbarkeit lag zudem nach zu dieser Zeit überwiegender Auffassung nicht in der Hand des Gesetzgebers, sondern
310 Zur Kategorie der principes generaux du droit s. bereits die Nachweise oben 3. Kap. A. I. 2. b) bei Fn 93; s. im hiesigen Zusammenhang Vedel Juridictions fran9aises (1987), 22 (27), der die auf diese Weise gewonnene Unabhängigkeit des CE betont.
311 Zu dieser Praxis der "lois de validation" s.o. 3. Kap. B. 11. 4. b); Flauss RUDH 1991,326 spricht insoweit von fiktiver bzw. Gefälligkeitsgesetzgebung ("actes legislatifs fictifs ou de complaisance") und stellt die Vereinbarkeit mit Art. 13 EMRK in Frage, soweit die validation allein dem Ausschluß des Rechtsschutzes dient. 312 Auch die zweite, wenig bemerkte Entscheidung zum Verhältnis zwischen Gesetz und Vertrag aus dieser Zeit, CE 19.4.1968 - Sieurs Heid et autres, Rec. 243 = AJDA 1968,462, betrifft das problematische Verhältnis zu Algerien. 313 So auch allgemein Pacteau Contentieux administratif Rn 43, S. 54: "Structurellement, le Conseil d'Etat est d'abord menace par le pouvoir politique, son justiciable, qui voudrait dem eurer son maHre." 314
s. oben 3. Kap. A. I. 2. b).
s. bereits oben 4. Kap. B. 11. 3. a) aa) sowie Favoreu Melanges Auby (1992), 111; Pacteau Contentieux administratif Rn 43, S. 54. 315
23'
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4. Kapitel: Vorrang gegenUber Gesetzen
in der Kompetenz der Exekutive 3l6 ; wenn tatsächlich eine Bedrohung der Verwaltungsgerichtsbarkeit bestand, mußte sie von dieser Seite ausgehen. Für diese Vermutung spricht jedenfalls der Sachverhalt, der der SemoulesEntscheidung zugrunde lag: Mit dem Gemeinschaftsrecht konfrontiert war ja nicht eine originär vom Gesetzgeber geschaffene Regelung, sondern eine von ihm nur nachträglich gebilligte und erst dadurch zu Gesetzesrang gelangte Ordonnance. Das Argument der Wahrung der Souveränität des Gesetzgebers durch den Ausschluß einer Kontrolle am Maßstab früherer Verträge hatte in diesem Fall also eher formalen Charakter, denn der Gesetzgeber war nur am Rande involviert. Auch war das Billigungsgesetz, das zugunsten des Gemeinschaftsrechts hätte unbeachtet bleiben müssen, eben exakt dasjenige, das auch die Canal-Entscheidung des Conseil d'Etat rückgängig gemacht hatte. Hätte der Conseil d'Etat in dieser Situation gerade dieses Gesetz zugunsten des Vertrages unangewendet gelassen, so hätte das den Eindruck einer gesteigerten Bestätigung der Canal-Entscheidung hinterlassen müssen: Der Regierung wäre damit bedeutet worden, daß sie die Kontrolle des Conseil d'Etat über ihre Handlungen in bestimmten Fällen - nämlich eben im Fall von Vertragsverstößen - nicht einmal durch die nachträgliche Billigung ihrer Maßnahmen seitens des Gesetzgebers ausschließen konnte. (Tatsächlich hat die Exekutive von dem mit der Semoules-Entscheidung erteilten Freibrief, sich durch Veranlassung einer gesetzlichen Bestätigung ihres HandeIns über ältere völkerrechtliche Verträge hinwegzusetzen, in der Folge in zum Teil ausgesprochen zynischer Weise Gebrauch gemache I7 ).
316 Tatsächlich setzte die Regierung in Reaktion auf die Canal-Entscheidung eine Arbeitsgruppe zur Reform des Conseil d'Etat ein, deren - veröffentlichte - Vorschläge durchaus geeignet waren, die Unabhängigkeit der Mitglieder des Conseil d'Etat einzuschränken; die schließlich ergangenen Dekrete Nr 63-766 und 63-767 vom 30.7.1963 enthielten aber nur noch im wesentlichen technische Änderungen; s. u.a. Dupeyroux RDP 1983, 565 (577 ff); Favoreu Melanges Auby (1992), 111 (115 ff); Drago AJDA 1963,524 (525 ff); ders. 13 ICLQ (1964), 1282 ff; Bergsten Community Law (1973), 46 ff. 317 Das gilt vor allem für die jahrzehntelang schwelenden Auseinandersetzungen um die Anerkennung der durch algerische Staatsangehörige unter französischer Herrschaft erworbenen Rentenansprüche: nachdem Frankreich sich im Abkommen von Evian zur Anerkennung dieser Ansprüche verpflichtet und der CE 15.3.1972 - Dame veuve Sadok AIi, Rec. S. 213 den Klägern auf dieser Grundlage Recht gegeben hatte, zog sich die Finanzverwaltung zunächst auf das Argument der fehlenden Gegenseitigkeit in der Anwendung des Abkommens zurück; die dazu vom CE mit Entscheidung vom 29.5.1981 (s.o 4. Kap. A. III. 3. a) mit Fn 34) gestellte Anfrage an das Außenministerium wurde mit der Bemerkung unbeantwortet zurückgeleitet, daß es auf die Gegenseitigkeit nun nicht mehr ankomme: der Ausschluß der vertraglich zugesicherten Renten sei inzwischen durch Gesetz vom 3.8.1981 ausdrücklich bestätigt worden; der CE hat
B. Prozessuale Durchsetzung
357
Diese - vermuteten - Befürchtungen waren zu jener Zeit also nicht ohne jede tatsächliche Grundlage, zumal die Verwaltungsgerichtsbarkeit nach traditionellem Verständnis eben nicht "Gerichtsbarkeit", sondern ein mit richterlichen Funktionen betrauter Teil der Verwaltung war. Ihre Kompetenzen und die richterliche Unabhängigkeit ihrer Angehörigen waren folgerichtig durch die Verfassung von 1958 nicht ausdrücklich gewährleistet, während die ordentliche Gerichtsbarkeit in Art. 64 318 der Verfassung besonders geschützt war. Die Semoules-Entscheidung wird in diesem historischen Zusammenhang zumindest verständlich Jl9 • Heute sind solche Ängste dagegen weitgehend gegenstandslos, nachdem der Conseil constitutionnel sowohl die Unabhängigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit320 als auch den Kernbereich ihrer Zuständigkeiten32 1 als "principe fondamental reconnu par les lois de la republique"322 an er-
das Verfahren darauf als erledigt eingestellt, CE 25.11.1981 - Rekhou, 101 1982, 440 (2. Entscheidung) m. Anm. Chappez; dazu neben Chappez a.a.O auch Blumann Anm. RGDIP 1982, 407 (430 f). 318 Art. 64 Abs. I: "Le president de la Republique est garant de I'independance de I'autorite judiciaire". 319 So Ryziger RFDA 1990,850 (856); ihm folgend Sabourin RDP 1992, 397 (407 f). 320 CC 22.7.1980 No 80-119 DC - Loi portant validation d'actes administratifs, Rec. S. 46 = GDCC Nr. 29, S. 404 = AJDA 1980, 480 m.Anm. Carcassonne S. 602 = D. 1981 ir 356 m.Anm. Hamon = lCP 1981 11 19603 m.Anm. Nguyen Quoc-Vinh = RDP 1980, 1691 m. Anm. Favoreu S. 1627 (1658 ff): "... iI resulte de l'articJe 64 de la Constitution en ce qui concerne I'autorite judiciaire et des principes fondamentaux reconnus par les lois de la Republique en ce qui concerne, depuis la loi du 24 mai 1872, la juridiction administrative, que I'independance des juridictions est garantie ainsi que le caractere specifique de leurs fonctions sur lesquelles ne peuvent empieter ni le legislateur ni le Gouvernement;" (6. Erwägungsgrund). 321 CC 23.1.1987 No 86-224 DC - Conseil de la concurrence, Rec. S. 8 = GDCC Nr. 41, S. 687 = GAlA Nr. 109, S. 710 = RFDA 1987,299 m.Anm. Genevois S. 287 und Favoreu S. 301 = AJDA 1987, 345 m.Anm. Chevallier = D. 1988 jp 117 m.Anm. Luchaire = lCP 19871120854 m.Anm. Sestier = RDP 1987, 1353 m.Anm. Gaudemet S. 1341: "... a I'exception des matieres reservees par nature a I'autorite judiciaire, releve en dernier ressort de la competence de la juridiction administrative I'annulation ou la reformation des decisions prises, dans I'exercice des prerogatives de puissance publique, par les autorites exen;ant le pouvoir executif ... " (15. Erwägungsgrund); zum europapolitischen Kontext dieser Entscheidung s. noch unten 4. Kap. B. Il. 3. c); wörtlich wiederholt durch den 19. Erwägungsgrund von CC 28.7.1989 No 89-261 DC - Loi relative aux conditions de sejour et d'entree des etrangers en France, Rec. S. 81 = D. 1990 jp. 161 m.Anm. Pretot = RFDA 1989, 699 m.Anm. Genevois S. 691 = AJDA 1989, 619 m.Anm. Cheva/lier; zum Ganzen auch Rousseau Contentieux constitutionnel S. 224 - 230; Chapus DAG I Rn 830, S. 637. 322 Zu dieser Kategorie s. oben 3. Kap. A. l. 2. b) cc) y).
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4. Kapitel: Vorrang gegenüber Gesetzen
kannt und damit auf Verfassungsebene abgesichert hat m . Gleichzeitig fällt damit nach verbreiteter Auffassung324 die Regelung der Grundstrukturen der Verwaltungsgerichtsbarkeit als "grundrechtsrelevante" Materie nunmehr in die Zuständigkeit des Gesetzgebers 325 • Daß solche Befllrchtungen tatsächliche eine Rolle gespielt haben, lassen auch die Ausfuhrungen des Regierungskommissars Frydman in den Schlußanträgen zur Nicolo-Entscheidung326 vermuten: Er weist ausdrücklich auf diese neuen Absicherungen hin. Die diesen Erklärungsversuchen gemeinsame Prämisse erscheint jedoch zumindest als übertriebene Verallgemeinerung: Der Konflikt zwischen Vertrag und nachfolgendem (widersprechendem) Gesetz wird als bewußte Auflehnung des Gesetzgebers, als politische Machtprobe zwischen Gesetz und Vertrag verstanden 327 , die der innerstaatliche Richter nicht schlichten könne. Dem scheint die Vorstellung zugrundezuliegen, daß alle unbeabsichtigten Verstöße in Gesetzesvorhaben bei der gemäß Art. 39 der Verfassung 328 vorgesehenen
323
Vgl. Favoreu RDP 1980,1627 (1664).
s. etwa Favoreu 10urnt!es Soc. leg. comparee 1987, 463 (466 ff) sowie zuletzt Pacteau RFDA 1996, 5 ff; tatsächlich sind mit dem Loi No 86-14 du 6.1.1986 "fixant les regles garantissant I'independance des membres des tribunaux administratifs", 10RF 7.1.1986, S. 332, wiedergegeben auch in RFDA 1986, 791, erstmals in größerem Umfang gesetzliche Regelungen zur Struktur der Verwaltungsgerichtsbarkeit ergangen; dazu etwa Pacteau RFDA 1986, 783 ff; Tourdias AJDA 1986, 275 ff. 324
325 Zu dieser durch den 1. Spiegelstrich von Art. 34 der Verfassung ("La loi fixe les regles concernant: - les droits civiques et les garanties fondamentales accordees aux citoyens pour I'exercice des Iibertes publiques".) hergestellten Verknüpfung zwischen Grundrechtsrelevanz und Zuständigkeit des Gesetzgebers s. etwa Arnold löR n.F. 38 (1989), 197 (200).
326 Rec. S. 191 = RTDE 1989,771 = RFDA 1989,813 = ZaöRV 1990,629; deutsche Übersetzung in EuGRZ 1990,99; S.u. 4. Kap. B. 11. 3. d) aa). 327 So etwa Regierungskommissarin Questiaux in den Melanges Stassinopoulos (1974),387 (393): "Le champ d'application de lajurisprudence 'Syndicat des fabricants de semoules en France' se limite aux situations a proprement pari er politiques, ou par indiscipline communautaire, le Parlement souhaite meconnaitre le traite, mais a ce moment la iI cree un probleme politique que le juge ne peut pas resoudre et qui appelle une solution politique;" Ähnlich Foyer / Holleaux Anm. RCDIP 1976, 351 (358 f), die auf dieser Grundlage de lege ferenda eine Vorlage des mit dem Konflikt befaßten Gerichts an das Parlament vorschlagen: die Vorlagefrage wäre, ob das Parlament den Vertrag wirklich brechen will (werde die Frage bejaht, müsse das Gericht sich dem beugen I). 328 Art. 39 Absatz 2 Satz 1: "Les projets de loi so nt deliberes en Conseil des ministres apres avis du Conseil d'Etat."
B. Prozessuale Durchsetzung
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Überprüfung der Gesetzesentwürfe durch die Verwaltungsabteilung329 des Conseil d'Etat entdeckt würden 330 . Diese Vorstellung bedeutet freilich eine Überschätzung der Verwaltungsabteilung des Conseil d'Etat, die genausowenig alle Verstöße gegen Gemeinschaftsrecht entdecken kann331 , wie sie alle Verfassungsverstöße eliminiere32 • Zudem unterliegen nur die Regierungsvorlagen zu Gesetzen (projets de loi) ihrer Überprüfung333 , spätere Ergänzungen oder Änderungen aus der Mitte des Parlaments oder auf Initiative der Regierung bleiben ebenso unbegutachtet wie Gesetzesinitiativen der Parlamentarier (propositions de loi), die dieser Kontrolle von Anfang an nicht ausgesetzt sind334 • Verstöße gegen Gemeinschaftsrecht durch spätere Gesetze müssen also durchaus nicht auf bewußtem "bösen Willen" beruhen. Auf der anderen Seite kann die Verweigerung der Anpassung älterer Gesetze durch das Parlament genauso auf dem Willen zum politischen Konflikt beruhen wie der Erlaß eines neuen Gesetzes 335 , und dennoch setzt sich der Conseil d'Etat traditionell in
329 Zu ihrer Funktion bei Erarbeitung der Gesetze s. statt aller Gaudemet in: CC et CE (1988),87 ff; aus der deutschsprachigen Literatur Reinhard JöR n.F. 30 (1981),73 (79 ff). 330 So wiederum Questiaux Melanges Stassinopoulos (1974), 387 (393): " ... cl travers son röle consultatif, le Conseil d'Etat peut eliminer par avance des projets de lois, les dispositions qui, par inadvertance seraient en contradiction avec le traite ou ses reglements d'application. 11 exerce a l'heure actuelle un contröle constant en amont des textes legislatifs." Skeptischer Genevois EDCE 1979-1980, 73 (82); B.G., Anm. zu CE Ass. 22.10.1979 - UDT, AJDA 1980,43 (46). 331 So jetzt auch die Studie des CE Droit international (1986), S. 41: "I'elaboration des textes de droit interne peut se faire dans l'ignorance des conventions internationales auxquelles la France est partie". 332 Zu verfassungsrechtlichen Fehleinschätzungen der Verwaltungsabteilung bei der Begutachtung von Gesetzesvorlagen der Regierung s. etwa Luchaire Rev. adm. 1979, 141 (142); allerdings ist in neuerer Zeit durchaus zu beobachten, daß der ganz überwiegende Teil der vom CC beanstandeten Vorschriften nicht den vom CE geprüften Vorlagen der Regierung entstammt, sondern auf spätere Änderungen oder Ergänzungen im Rahmen der parlamentarischen Beratung zurückgeht. 333 Projet de loi = Initiative der Regierung; Gesetzentwurf aus der Mitte des Parlaments = proposition de loi, vgl. Art. 40 und 41 der Verfassung. 334 s. nur Genevois AUC 1988, 385 (386); Gaudemet in: CC et CE (1988), 87 (90 f).
335 So etwa im Fall der Staatsangehörigkeitsvoraussetzung für die Beschäftigung von Seeleuten auf Schiffen französischer Flagge, s. EuGH 1.4.1974 Rs. 167 / 73 Kommission / Frankreich, Slg. 1974,359 = D. 1974 jp 717 m.Anm. Pacteau; nachdem die erforderliche Änderung des Code de travail maritime im Senat auf anhaltenden Widerstand stieß, beschränkte die Regierung sich darauf, durch Verwaltungsanweisung
360
4. Kapitel: Vorrang gegenüber Gesetzen
Anwendung des lex-posterior-Satzes über diese Form politisch-parlamentarischen Widerstandes hinweg. Nicht zu Unrecht wird allerdings weiter geltendgemacht, daß die Anerkennung und Durchsetzung des Vorrangs fur den Conseil d'Etat letztlich einen größeren Schritt bedeuten müßte als für die Cour de cassation: Während die Cour de cassation sich darauf beschränken kann, ein als gemeinschaftsrechtswidrig erkanntes Gesetz im Einzelfall unangewendet zu lassen, müßte der Conseil d'Etat - zwar nicht kraft Gemeinschaftsrechts, wohl aber aufgrund der Struktur des nationalen Verwaltungsrechtsschutzes336 - gegebenenfalls die auf das Gesetz gestützten und dem Willen des Gesetzgebers entsprechenden Rechtsakte der Exekutive aufheben. Insbesondere im Fall gesetzeskonfonner, aber gemeinschaftsrechtswidriger Verordnungen blieben die Konsequenzen also nicht auf einen Einzelfall beschränkt337 • b) Beharren auf der Unantastbarkeit der Lex posterior
Der Conseil d'Etat hat diese Rechtsprechung freilich auch nach der Entscheidung des Conseil constitutionnel vom 15 .1.l97 5 aufrechterhalten, obwohl diese Entscheidung jedenfalls der systematischen Begründung fur den Ausschluß einer Kontrolle der Vertragskonformität durch die Fachgerichte die Grundlage entzogen hatte m , die Cour de cassation der in dieser Entscheidung enthaltenen unausgesprochenen Aufforderung an die Fachgerichte zur Ausübung dieser Kontrolle bereits gefolgt war und auch politische Sanktionen im Fall einer Änderung der Semoules-Rechtsprechung angesichts der Stabilisierung der 5. Republik nicht mehr zu erwarten waren.
vom 29.4.1975 (JORF 2.5.1975, S. 4471 = RTDE 1975, 800) die Unanwendbarkeit des (älteren) Gesetzes auf Angehörige anderer Mitgliedstaaten festzustellen; s. dazu BuffetTchakaloffCour de lustice S. 354 ff; lsaac RTDE 1975,800 ff; Frankreich ist daraufhin durch EuGH 7.3.1996 Rs. C-334 / 94 - Kommission / Frankreich, Slg. 1996, I 1307 erneut verurteilt worden. 336 Dazu unten 5. Kap. A. I. 2. und B. III. 337 B.G. Anm. zu CE Ass. 22.\0.1979 - UDT, AJDA 1980,43 (45); Abraham Droit international S. 119; Druesne RMC 1975,379 (383 f); Vienne Annales Toulouse 1975, 31 (41 f); ebenso die Schlußanträge von Regierungskommissar Morisot zu CE Ass. 22.10.1979 - Philippe Maulaud et autres, RDP 1980, 541 (549). 33K SO auch die zeitgenössische Einschätzung von Ress ZaöRV 1975,445 (494 f); Baumgartner DVBI1977, 70 (75).
B. Prozessuale Durchsetzung
361
Die Bestätigung der traditionellen Sichtweise erfolgte in bezug auf das Gemeinschaftsreche 39 zuerst in ganz unnötiger, teils als Affrone 40 empfundener Weise in den Wahlanfechtungsentscheidungen vom 22.10.1979 341 zu den ersten Direktwahlen zum Europäischen Parlament. Als Wahlfehler wurde hier ein Verstoß des französischen Europawahlgesetzes gegen Art. 138 Abs. 3 EWGV gerügt, der ja ein einheitliches Wahlverfahren in der gesamten Gemeinschaft vorsah: Der Conseil d'Etat hätte hinsichtlich dieser Rügen den Schlußanträgen von Regierungskommissarin Hagelsteen 342 folgen und mit ihr darauf hinweisen können, daß die Einführung dieses einheitlichen Verfahrens durch den Akt zur Einführung der Direktwahlen aufgeschoben worden war und das französische Wahlgesetz nicht mehr am ursprünglichen Vertrag, sondern an diesem Rechtsakt zu messen war. Dies wäre auch nach der traditionellen Rechtsprechung des Conseil d'Etat ohne weiteres möglich gewesen, da der am 1.7.1978 in Kraft getretene Akt gegenüber dem Wahlgesetz vom 7.7.1977 lex posterior war343 • Man kann darüber spekulieren, ob der Conseil d'Etat auf diese Weise die Gelegenheit wahrnehmen wollte, seine Rechtsprechung mit der größtmögli-
339 Bereits zuvor hatte die Entscheidung CE Ass. 24.6.1977 - Astudillo-Calleja, Rec. S. 290 = D. 1977 jp 695 mit den Schluß anträgen von Regierungskommissar Genevois = JDI 1978, 73 (2. Entscheidung) m.abI.Anm. Ruzilf = RDP 1978, 269 m.Anm. Rohert S. 263 = AJDA 1977, 516 m.Anm. Nauwelaers / Dutheillet de Lamothe S. 483 (490 ff) am Beispiel eines klassischen völkerrechtlichen Vertrages ahnen lassen, daß der CE an seiner Haltung festhalten würde: die durch ein älteres französisch-spanisches Auslieferungsabkommen vorgesehenen Bedingungen wurden hier durch zusätzliche Anforderungen des jüngeren Auslieferungsgesetzes ergänzt. 340 So etwa Flauss J.-CI. Administratif Stichwort "Autorite du droit international" Rn 5; es ist nicht zu vergessen, daß in diese Zeit auch die ihrerseits vom zugrundeliegenden Sachverhalt nicht geforderte Cohn-Bendit-Entscheidung zur Richtlinie fliIIt (dazu unten 5. Kap. B. 111. 4.); zudem betraf der Sachverhalt gerade den Bereich der Europawahlen, der zu der integrationsfeindlichen Entscheidung des CC vom 29.30.12.1976 (s.o. 3. Kap. A. 11. 1. a) bb) geführt hatte. 341 CE Ass. 22.10.1979 - Union democratique du travail (UDT), Rec. S. 383 = AJDA 1980, 39 (3.Entscheidung) m.Anm. B.G. (Bruno Genevois, so jedenfalls Lachaume AFDI 1989,91 [95]) = RDP 1980,539 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissarin Hagelsteen S. 531; sowie die Parallelentscheidungen CE Ass. 22.10.1979 - Philippe Maulaud et autres, Rec. S. 385 = RDP 1980, 569 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Morisot S. 541. 342 RDP 1980, 531 (538 f). 343 So neben den Schlußanträgen Hamon / Buisson Melanges Charlier (1981), 131 (133 ff); Jacque Rev. adm. Est France 1981,5 (24 f).
362
4. Kapitel: Vorrang gegenüber Gesetzen
chen Autorität, nämlich durch einen Arret d'Assemblee, zu bestätigen 344 : Die den großen Senaten der deutschen Obergerichte begrenzt vergleichbare Assemblee du contentieux des Conseil d'Etae 45 entscheidet in der Regel nur besonders gravierende oder umstrittene Rechtsfragen, ihre Entscheidungen gelten daher als richtungweisend 346 - in Europawahlsachen dagegen ist sie unabhängig von der Bedeutung der Angelegenheit kraft gesetzlicher Anordnung allein zuständig 347 • Während die Semoules-Entscheidung von 1968 noch als aus der Not geborene Einzelfallentscheidung348 angesehenen werden konnte, war die Rechtsprechung des Conseil d'Etat mit dieser Entscheidung der Assemblee jedenfalls fixiert und de facto nur durch eine erneute - widerrufende - Entscheidung der Assemblee du contentieux aus der Welt zu schaffen. In der Begründung der Entscheidung findet sich freilich eine neue Nuance, die als Reaktion auf die zwischenzeitliche ergangene Rechtsprechung des Conseil constitutionnel verstanden werden kann: Die Prüfung der Vertragsmäßigkeit des Gesetzes wird nicht mehr mit einer Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit gleichgesetzt und aus diesem Grunde ausgeschlossen, sondern als eigenständige Kategorie neben der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit aufgeführt 349 • Mit der ausschließlichen Zuständigkeit des Conseil constitutionnel zur Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit hätte der Conseil d'Etat auch nur noch schlecht argumentieren können, nachdem der Conseil constitutionnel gerade jede eigene Zuständigkeit in dieser Frage verneint hatte 350 •
In diesem Sinne wohl Jacque Rev. adm. Est France 1981, 5 (24). Zu ihrer Besetzung s. Chapus DAG I Rn 848, S. 653. 346 Chapus DAG I Rn 848, S. 653 f; zur unterschiedlichen Autorität der Entscheidungen des CE s. Genevois Melanges Chapus (1992),245 ff. 344
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347 Art. 2S Abs. 1 Satz 2 des Loi No 77-729 du 7.7.1977 relative a l'election des representants a l'Assemblee des communautes europeennes, JORF 8.7.1977, S. 3579. 348 So prägnant Ryziger RFDA 1990,850 (856); ähnlich Baumgartner DVBI 1977, 70 (75), der mit dieser Einordnung die optimistische Prognose einer baldigen Änderung der Rechtsprechung verbunden hatte. 349 " ... les moyens ... tendent necessairement a faire apprecier par le juge administratif la constitutionnalite des dispositions de la loi et leur conformite a ce traite; ... ces moyens ne peuvent donc etre accueillis ... " 350 s. etwa Vienne Annales Toulouse 1975,31 (41) sowie Favoreu I Philip RDP 1975, 1307 (1339 f), die freilich bereits mutmaßten, daß der CE seine Rechtsprechung aufrechterhalten und nun eben allein auf die klassische Begrundungsvariante stUtzen werde.
B. Prozessuale Durchsetzung
363
Das Ergebnis blieb trotz dieser neuen Differenzierung unverändert: Beide Kategorien, die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit wie der Vertragsmäßigkeit der Gesetze, blieben der Verwaltungsgerichtsbarkeit verschlossen 351 • Der Conseil d'Etat bestätigte diese Haltung kurz darauf auch filr den Fall der EMRK mit einer bezeichnenden Entscheidung von 1980352 , die einen Zwillingssachverhalt zur IVG-Entscheidung des Conseil constitutionnel vom 15.12.1975 betraf. So wie der Conseil constitutionnel sich damals für unzuständig erklärt hatte, die Vereinbarkeit der Abtreibungsgesetzgebung mit der EMRK zu überprüfen, lehnte nun auch der Conseil d'Etat im Einklang mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Genevois eine Überprüfung des Gesetzes am Maßstab der Konvention ab m : Das am 17.1.1975 verkündete nationale Gesetz ging der filr Frankreich am 4.5.1974 in Kraft getretenen 354 EMRK als jüngere Regelung vor. Der von Ruzie 355 befilrchtete und auch von Regierungskommissar Genevois 356 ausdrücklich bedauerte negative Kompe-
351 Moderne in: CC et CE (1988), 313 (359 Fn 182); Rials Anm. Rev. Adm. 1981, 38 (39); ders. in: Rep. cont. adm. Stichwort "Constitution" Rn 37; auch Lerche ZaöRV 1990, 599 (611) hebt diese Abkoppelung von der Frage einer Zuständigkeit des CC hervor, bemerkt allerdings nicht, daß - jedenfalls gegenilber den Schlußanträgen von Regierungskommissarin Questiaux zur Semou1es-Entscheidung - hier durchaus ein Wechsel in der Begrilndung stattgefunden hat. 352 CE Ass. 31.1 0.1980 - Lahache, Rec. S. 403 = D. 1981 jp. 38 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Genevois = RDP 1981,224 m.Anm. Rohert S. 216 = Rev. Adm. 1981,38 m.Anm. Rials = JCP 1982 II 19732 m.Anm. Deweuker-DeJossez: Klage des Vaters eines gegen seinen Willen abgetriebenen (ehelichen) Kindes gegen das Krankenhaus auf Schmerzensgeld. 353 Der CE beschränkt sich auf die Feststellung, daß das Verfahren den gesetzlichen Vorschriften entsprochen habe und diese eine Zustimmung des Vaters nicht verlangen; die Überprilfung der Vereinbarkeit des Gesetzes mit der EMRK wird verweigert: " ... M. Lahache ne saurait utilement pretendre ... que le legis1ateur aurait meconnu les stipulations d'une convention internationale .... " TA Rennes 19.4.1978 (n.v.) hatte als Vorinstanz einen Verstoß des Gesetzes gegen die EMRK in der Sache geprilft und verneint, s. dazu Drzemczewski Riv. dir. euro 1978, 299 (302).
354 Zur späten Ratifikation der EMRK durch Frankreich S. bereits oben 4. Kap. B. 11. 1. a) aa) mit Fn 119. 355 JOI 1975,249 (264). 356 Seine Schlußanträge sind allerdings nicht frei von Widersprilchen: er hält an der traditionellen Selbstbeschränkung der Verwaltungsgerichtsbarkeit fest und verlangt zur Lösung des Dilemmas eine gesetzliche Regelung, die dem Richter die Kontrolle des Gesetzes am Maßstab des Vertrages ausdrilcklich erlaubt; ein Gesetz, das umgekehrt die Kontrolle ausdrilcklich verböte, hält er gleichzeitig für verfassungswidrig; positiv gewendet heißt das aber, daß die Verfassung die Kontrolle gebietet, ohne daß eine einfachgesetzliche Ermächtigung nötig wäre.
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4. Kapitel: Vorrang gegenüber Gesetzen
tenzkonflikt zwischen Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit war damit offensichtlich eingetreten. Diese Grundlinie hat der Conseil d'Etat über die 80er Jahre in zahlreichen weiteren Folgeentscheidungen 357 bestätigt, unter anderem auch durch eine erneute Entscheidung der Assemblee du contentieux aus Anlaß der Überprüfung der 2. Europawahlen l58 •
c) Eine Pattsituation Der auf diese Weise entstandene negative Kompetenzkonflikt zwischen Conseil constitutionnel und Conseil d'Etat erzeugte Unbehagen auch bei den Autoren, die der Haltung des Conseil d'Etat wohlwollend oder zumindest verständnisvoll gegenüberstanden l59 . Auch wurde das dauerhafte Auseinanderfallen der Rechtsprechung von Cour de cassation und Conseil d'Etat zunehmend als unglücklich empfunden, zumal auch hier eine prozessuale Koordination im Fall von Divergenzen in Sachfragen 360 nicht existiert und die Zuständigkeitsab-
3S7 So z.B. CE Ass. 13.5.1983 - SA Rene Mouline, Ree. S.. 191 = AJDA 1983, 623 m.Anm. Bazex; CE 8.2.1985 - Association des centres distributeurs Edouard Leclere, Ree. S. 26; CE Seet. 13.12.1985 - Ste International Sales and Import Corporation BV, Rec. S. 377 = AJDA 1986, 174 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissarin Laroque = RTDE 1988, 108 m Anm Soler-Couteaux S. 87 (100); CE 19.11.1986 - Ste Smanor et Syndieat national des produits surgeles, Rec. S. 260 = AJDA 1986, 715 m.Anm. Azibert / de BoisdejJre S. 681 = JCP 1987 11 20822 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Lasserre = (auszugsweise) RTDE 1988, 117 m.Anm. Vlad Constantinesco S. 87 (113 ft); CE 27.4.1988 - Ste Bernard Carant et compagnie c. Ministre d'Etat charge de I'economie, des Finances et de la Privatisation, Rec. S. 171. Zu diesen Entscheidungen s. noch unten 5. Kap. B. III. I. a). 3S8 CE Ass. 23.1l.1984 - Roujansky, Rec. S. 383 = AJDA 1985, 216 (2. Entscheidung) mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Labetoulle; der Kläger hatte in diesem Fall geschickterweise auch eine Verletzung des internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte vom 19.12.1966 gerügt, eines Abkommens also, dem Frankreich nach Erlaß des Europawahl-Gesetzes beigetreten war (s. bereits oben Fn 290): der CE konnte einer sachlichen Prüfung der Rüge in dieser Konstellation nicht mehr ausweichen, stellte aber keinen Verstoß fest. 359 So Abraham Droit international S. 119 f; Genevois EDCE 1979-1980, 73 (81 0; Hubac / Robineau Pouvoirs Nr. 46, 1988, 113 (121): nicht zufallig sind diese Autoren allesamt selbst Angehörige des Conseil d'Etat. 360 Das Tribunal des Conflits entscheidet ausschließlich Kompetenzfragen, sachliche Divergenzen können nur im indirekten Dialog der obersten Gerichtsbarkeiten "ausgetragen" werden; s. schon oben 4. Kap. B. 11. I. c) cc).
B. Prozessuale Durchsetzung
365
grenzung häufig als im Detail wenig zwingend empfunden wird 361 : Diese Zuständigkeitsverteilung konnte nunmehr den Ausgang des Rechtsstreits in der Sache maßgeblich bestimmen. So konnte es etwa geschehen, daß Klagen gegen eine Verordnung zur Stratbewehrung der Buchpreisbindung vor dem Conseil d'Etat erfolglos blieben, weil die Buchpreisbindung selbst nicht in der Verordnung, sondern durch das gegenüber Art. 30 EWGV jüngere "Loi Lang" gesetzlich festgeschrieben worden wa~62; zugleich wäre dieselbe Verordnung aber von den Strafgerichten nicht angewandt worden, soweit diese Preisbindung gegen Art. 30 EWGV verstieß 363 .
aa) Grundsätzliche Lösungsversuche des Gesetzgebers In dieser Blockadesituation ist es zu mehreren Versuchen gekommen, durch gesetzlichen Eingriff die Rechtsprechung in dem einen oder anderen Sinne zu vereinheitlichen. In diesem Zusammenhang bekannt geworden ist vor allem das "Amendement Aurillac"364: Mit diesem vom Abgeordneten Aurillac als Ergänzungsantrag zum gerade beratenen Gesetz zur Reform des "code de l'organisation judiciare" eingebrachten und in erster Lesung von der Nationalversammlung angenommenen Text wurde der Versuch unternommen, die ordentlichen Gerichte wieder auf die Linie des Conseil d'Etat zu fUhren. Inhaltlich handelte es sich um eine sprachlich verjüngte Wiederholung von Art. 10 des Gesetzes vom 16-24.8.1790 365 , die jedoch durch einen auf die Situation des vertragswidrigen Gesetzes zugeschnittenen Nachsatz ergänzt worden 361 s. nur Cohen-Jonathan in: ders. (Hrsg.), Droits de I'Homme en France (1985), 167 (180); Berlin RTDE 1985,95 (122 mit Fn 130). 362 CE 8.2.1985 - Association des centres distributeurs Edouard Leclerc, Rec. S. 26; s. Dubouis RFDA 1985, 289 (297); Abraham Droit international S. 118. 363 Vgl. Cass. com. 15.5.1985 - Association des centres distributeurs Edouard Leclerc et autres C. Syndicat des librairies de Loire-Ocean, Bull. civ. IV No 156, S. 133 = D. 1986 jp 159 (I. Entscheidung) m.Anm. Goyet: Abweisung zivilrechtlicher Unterlassungsklagen von Konkurrenten unter Berufung auf EuGH 10.1.1985 Rs. 229 / 83 Association des Centres distributeurs Edouard Leclerc und andere gegen SARL "Au ble vert" und andere, Sig. 1985, 1; auch die Strafgerichte haben das Dekret - freilich mit einer internrechtlichen Begründung (Fehlen einer Ermächtigung im Gesetz) - tatsächlich nicht angewandt, S. die Nachweise in den Schlußanträgen von Regierungskommissar Hubert zu CE 22.1l.1991 - Association des centres distributeurs Edouard Leclerc et SA des marches et Usines Auchan, RFDA 1992,489 (491). 364 JOAN Deb 10.10.1980, S. 2636 f; dazu v.a. lsaac Gaz. Pal. 1980,2, doctr. 583; Jacque Rev. adm. Est France 1981, 5 (26 t); Olmi RMC 1981, 242 (246); Abraham Droit international S. 121 f; Buffet-TchakaloffCour de lustice S. 346 f. 365 s.o. 4. Kap. B. I. 1. a) aa) mit Fn 61.
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4. Kapitel: Vorrang gegenüber Gesetzen
war366 : Den Gerichten sollte verboten werden, "aus welchem Grund auch immer" ein Gesetz außer Anwendung zu lassen. Diese breite Formulierung sollte neben dem auch von den ordentlichen Gerichten weiterhin respektierten Ausschluß der Verfassungskontrolle der Gesetze gerade die Kontrolle der Vertragsmäßigkeit erfassen 367 • Das Vorhaben war jedoch auf dieser einfachgesetzlichen Ebene gleich in mehrfacher Hinsicht zum Scheitern verurteilt: Zum einen wäre diese Passage im Falle einer Überprüfung durch den Conseil constitutionnel aller Wahrscheinlichkeit nach als Verstoß gegen Art. 55 der Verfassung beanstandet worden. Es hätte sich um einen der seltenen Fälle einer unmittelbaren Verletzung des Art. 55 der Verfassung gehandelt, nämlich den Versuch, dieser Bestimmung ihre praktische Wirkung zu nehmen, ohne daß es für diese Feststellung die Untersuchung des Inhalts des im Einzelfall betroffenen Vertrages erforderlich wäre. Wie bereits erwähne6K, verweist der Conseil constitutionnel in solchen Fällen nicht auf die Zuständigkeit der Fachgerichte, sondern ist bereit, derartige unmittelbare Verstöße gegen die grundsätzliche Festlegung des Art. 55 selbst zu sanktionieren. Aber auch wenn die Anrufung des Conseil constitutionnel unterblieben und das Gesetz daraufhin in Kraft getreten wäre, hätte es sich als einfaches Gesetz vor den ordentlichen Gerichten nicht gegen Art. 55 der Verfassung in Verbindung mit dem jeweils angewandten Vertrag durchsetzen können 369 : Ein Gericht, das unter Berufung auf eine Bestimmung der Verfassung den Vorrang der Verträge vor den einfachen Gesetzen durchsetzt, wird sich daran durch ein weiteres einfaches Gesetz schwerlich gehindert sehen. In Gegenrichtung sollte ein 1987 im Senat eingebrachter, später aber wieder zurückgezogener Ergänzungsantrag zum Gesetz über die Einrichtung der Berufungsgerichte in Verwaltungssachen (Cours administratives d'appel) die Verwaltungsgerichtsbarkeit zur Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts auch
366 "Les juges ne pourront, directement ou indirectement, prendre aucun part a I'exercice du pouvoir legislatif, ni empecher ou suspendre I'execution des lois reguIierement promulguees, pour quelque eause que ce soU. Le tout a peine de forfaiture."
Abraham Droit international S. 122. S.o. 4. Kap. B. 11. I. a) bb) a) sowie [saae Gaz. Pa\. 1980, 2, doctr. 583 (585); de Berranger Constitutions nationales S. 222 f. 367
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369 So Hamon / Buisson Melanges Charlier (1981), 130 (141 Fn 11): "Cet amendement ... ne parait pas apporter une solution appropriee. En effet, etant donne qu'i! a ete adopte dans le eadre de la proeedure legislative ordinaire, il ne sauraU avoir davantage d'autorite que n'importe quelle autre loi posterieure au traUe de Rome." (Hervorhebung vom Verf.); ebenso Buffet-TehakaloffCour de lustice S. 347.
B. Prozessuale Durchsetzung
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gegenüber jüngeren Gesetzen verpflichten 37u • Auch diese Bestimmung hätte eine abschließende Lösung aber nicht sichern können: In der Logik des Conseil d'Etat hätte sie zwar als "jüngstes Gesetz" den Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber allen bis zu ihrem Erlaß geschehenen gesetzlichen Verstößen herstellen können. Im Konflikt mit weiteren, nach ihrem Erlaß ergehenden gemeinschaftsrechtswidrigen Gesetzen wäre diese Bestimmung vom Conseil d'Etat möglicherweise wiederum als nun schon wieder älteres Gesetz ebenso wie der Vertrag "beiseitegeschoben " worden 371 • Auf systematisch korrekter Ebene, nämlich als Vorschlag eines verfassungsändernden Gesetzes, erfolgte ein Interventionsversuch erst zu einem Zeitpunkt, in dem eine Divergenz zwischen den Gerichtsbarkeiten schon nicht mehr bestand372 • Auch diese als Nachhutgefeche 73 empfundene Initiative zur faktischen Beseitigung des Art. 55 der Verfassung ist aber folgenlos geblieben. bb) Teil-"Lösungen" durch gesetzliche Verlagerung der gerichtlichen Zuständigkeiten Die jeweils interessierten Parteien richteten sich in der Folgezeit auf diese fortdauernde Divergenz zwischen den Obersten Gerichten Frankreichs ein und versuchten, sie in ihrem Sinne zu nutzen: Die Verwaltung suchte die Obhut des Verwaltungsrichters gegen das Gemeinschaftsrecht374 , während auf der
370 Eingebracht von den Senatoren Taittinger und Villepin; s. dazu Pacteau RFDA 1988, 168 (179); Chapus DAG I Rn 150, S. 118; Rideau in: Rep. cont. adm. Stichwort droit communautaire Rn 332. 371 So die Prognose von Abraham Droit international S. 121.
Dazu unten 4. Kap. B. H. 3. d) cc) mit Fn 427. So wörtlich Putman RRJ 1991, 937 ("combat d'arriere-garde"); schroff ablehnend auch Rideau, in: Rep. cont. adm. Stichwort droit communautaire Rn 352: "Condamnee a I'echec, elle [la proposition] restera sans doute au niveau de ce qu'on ne peut que considerer que comme une facetie juridico-politique mais traduit la persistance d'un courant de pensee qui, par des biais juridiques detournes, poursuit I'objectif politique plus ou mo ins avoue de remettre en cause la construction communautaire au nom d'une conception retrograde et erronee de I'independance nationale et de la souverainete parlementaire." 374 So plädierte etwa die beklagte Verwaltung in der Rs. Jacques Vabre vor der Cour de Cassation erstmals für die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte, nachdem sie in beiden Vorinstanzen in der Sache unterlegen war. In seltenen Fällen haben französische Verwaltungsbehörden - erfolglos - die Zuständigkeit aller nationalen Gerichte mit dem Argument bestritten, daß sie beim mittelbaren Vollzug des Gemeinschaftsrechts nicht als nationale Behörde tätig würden, s. dazu CE Ass. 2.10.1981 - OIE Vipal, Rec. S. 347 172
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4. Kapitel: Vorrang gegenUber Gesetzen
Gegenseite die beteiligten Unternehmen sich bemühten, im Zweifel den Streit vor die ordentlichen Gerichte zu tragen 375 • Aber auch auf der Ebene des Gesetzgebers wurde der Versuch unternommen, durch Bestimmung der zuständigen Gerichtsbarkeit indirekt über Anwendung oder Nichtanwendung des Gemeinschaftsrechts in einzelnen Sachgebieten zu entscheiden: So wurden mit Gesetz vom 31.12.1981 die traditionell der ordentlichen Gerichtsbarkeit zugewiesenen Streitigkeiten über indirekte Steuern 376 zum Teil - nämlich hinsichtlich des anwendbaren Tarifs, also der Höhe der Abgabenlast - der Verwaltungsgerichtsbarkeit zugewiesen 377 • Nach der offiziellen Begründung diente diese Regelung der Vereinfachung der Rechtswegabgrenzung, tatsächlich aber sollte sie wohl die Rechtsprechung des EuGH zur Rückerstattung gemeinschaftsrechtswidrig erhobener Abgaben konterkarieren 378 • Die EG-Kommission ihrerseits, die einer direkten Beanstandung der Rechtsprechung des Conseil d'Etat aus dem Weg ging, versuchte zumindest die in der Rechtsprechung der Cour de cassation erzielten Fortschritte zu bewahren, indem sie sich solchen Zuständigkeitsverlagerungen zu Lasten des Gemein-
= D. 1982 jp. 209 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Genevois = RDP
1982,1122 m. zust. Anm. Auby gegen die Vorinstanz TA Poitiers 9.2.1979, Rec. S. 504, die dieser Argumentation tatsächlich gefolgt war; CE Sect. 26.7.1985 - ONIC c. Ste Mai'series de Beauce, Rec. S. 233 = AJDA 1985, 615 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Genevois = RTDE 1986, 157 mit den Schlußanträgen S. 145 u. Anm. Masclet S. 161. 375 Für solche Kompetenzkonflikte s. etwa TC 24.4.1978 - SARL Jean de SaintLaurent c. Administration des Douanes, Rec. S. 648 = D. 1979 jp \05 m.abI.Anm. Berr; TC 28.5.1979 - Soc. Les cafes Jacques Vabre c. Directeur general des douanes et droits indirects, Rec. S. 567 = D. 1979 jp 620 m.Anm. Castagnede (in beiden Fällen entschied das TC zugunsten der Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte); entgegengesetzt in einem ähnlichen Sachverhalt CA Lyon 30.11.1978 - SARL Les Fils de Henri Ramel c. Administration des douanes et droits indirects, D. 1979 jp 371 m.Anm. Berr. 376 Dazu Chapus DAG I Rn 967, S. 776; BujJet-TchakalojJCour de Justice S. 347 f; Gest RFDA 1990, 822 ff.; Rideau in: Rep. cont. adm. Stichwort droit communautaire Rn 332; zuletzt Flauss in: Schwarze (Hrsg.) Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß (1996), 3 I (79 f). 371 Art. 38 V des Loi No 81-1160 du. 30.12.1981, Loi de finances pour 1982, JORF 31.12.1981, S. 3539: "par derogation cl l'article 1946 du code general des impöts, les decisions prises par l'administration sur les reclamations contentieuses relatives aux tarifs applicables en matiere de contributions indirectes ne peuvent etre contestees que devant les juridictions administratives." 378 So jedenfalls BujJet-TchakalojJCour de lustice S. 347 f; Gest RFDA 1990,822 (824 f); ein Rechtsstreit wie in der Rechtssache lacques Vabre wäre dann vor den Verwaltungsgerichten auszutragen und würde nach deren Grundsätzen gelöst.
B. Prozessuale Durchsetzung
369
schaftsrechts widersetzte: Sie leitete in diesem Fall ein Vertragsverletzungsverfahren ein und bewertete die gesetzliche Neuregelung als Verstoß gegen Art. 5 Abs. 2 EWGV. Das Verfahren führte bis zur Klageerhebung vor dem EuGH 379 und wurde erst nach gesetzlicher Wiederherstellung der ursprünglichen Kompetenzverteilung durch Klagerücknahme erledigeso. Mit diesem Verfahren wäre die Haltung des Conseil d'Etat und mit ihr die generelle Problematik der Vereitelung des Vorrangs durch Entscheidungen nationaler Gerichte erstmals vor den EuGH gelangt, wenn auch in sehr gewundener und mittelbarer Form: Die Rechtsprechung des Conseil d'Etat bildete den Hintergrund des von der Kommission gegenüber dem französischen Gesetzgeber erhobenen Vorwurfs, einer notorisch "gemeinschaftsrechtsfeindlichen" Gerichtsbarkeit zusätzliche Kompetenzfelder zugewiesen und den Schaden für die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts damit weiter vertieft zu haben 381 • Auf der Gegenseite hat die als negativ empfundene Einstellung des Conseil d'Etat zum Gemeinschaftsrecht mit dazu beigetragen JM2 , daß die Verwaltungsgerichtsbarkeit gegen den ausdrücklichen Widerspruch der Verwaltungsabteilung des Conseil d'Etat lHJ , aber mit Billigung des Conseil constitutionnel die Zuständigkeit für die Kontrolle von Maßnahmen der staatlichen Wettbewerbs-
379
Rs. \05/86, ABI. EG 1986 C 169/5 vom 8.7.1986.
380 Art. 15 des Loi No 87-502 du 8.7.1987 modifiant les procedures fiscales et douanieres, JORF 9.7.1987, S. 7470; s. Coussirat-Coustere Pouvoirs Nr. 46, 1988, 85; ABI. EG 1987 C 334 / 5 (Streichung der Rechtssache). Bereits zuvor hatte die übereinstimmende Rechtsprechung von CE und Cour de cassation der Gesetzesänderung durch eine enge Auslegung Spitze und Sinn genommen, vgl. die Nachweise bei Gest RFDA 1990,822 (824 Fn 13 u. 14): nach dieser Rechtsprechung waren Streitigkeiten über die Rückerstattung überzahlter Beträge keine Streitigkeiten über den anwendbaren Steuertarif im Sinne der Gesetzesänderung und somit weiter vor den ordentlichen Gerichten auszutragen; Jacques Vabre wäre also auch weiterhin von der Cour de cassation zu entscheiden gewesen. 381 So die zusammenfassende Wiedergabe der Klagebegründung in ABI EG 1986 C 169 / 5: "Die französischen Behörden dürften keine Maßnahme treffen, die dazu führe, daß der Stand der Anwendung des Gemeinschaftsrechts in Frankreich sich noch verschlechtere." (Hervorhebung vom Verfasser). 382 So Bolze D. 1988 ehr. 169 (171); Drago JCP 1987 I 3300 = JCP ed E 1987 II 14987 m.w.N.; Sabourin RDP 1992,397 (403). 383 Die ablehnende Stellungnahme der Verwaltungssektion des CE gern. Art. 38 Absatz 2 der Verfassung veranlaßte die Regierung zunächst, im Rahmen der zuerst erlassenen Ordonnance die Zuständigkeit des CE beizubehalten; das in der Folge vorbereitete Gesetz kehrte dann zur Zuständigkeitsverlagerung zurück, s. de Mello Gaz. Pal. 1987,1, doctr. 27; Genevois RFDA 1987,287 f; Luchaire Anm. D. 1988jp 118 (119).
24 GundeI
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4. Kapitel: Vorrang gegenüber Gesetzen
aufsicht verloren hae 84 • Sie wurde durch Gesetz vom 6.7.1987 385 der ordentlichen Gerichtsbarkeit - genauer: der Cour d'Appel von Paris - übertragen. d) Die neue Rechtsprechung des Conseil d'Etat
In der zweiten Hälfte der 80er Jahre schien sich jedoch auf anderen Problemfeldem eine gewisse "gemeinschaftsrechtsfreundliche" Entwicklung in der Rechtsprechung des Conseil d'Etat anzudeuten: So wurde der theoretisch schon zuvor anerkannte Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber Rechtsakten der Exekutive nunmehr effektiver durchgesetzt, insbesondere wurde das Verwaltungshandeln nicht mehr systematisch unter Berufung auf gesetzliche Ermächtigungen der Kontrolle am Maßstab des Gemeinschaftsrechts entzogen 3K6 • Auch der bekannte Konflikt des Conseil d'Etat mit der EuGH-Rechtsprechung zur innerstaatlichen Wirkung der Richtlinien schien sich abzuschwächen m . Die Rechtsprechung zum Verhältnis zwischen Gesetz und Vertrag blieb von diesen Andeutungen einer Neuorientierung 38K des Conseil d'Etat jedoch zu-
384 Der CC hat diese Verlagerung mit der Entscheidung CC 23.1.1987 No 86-224 DC - Conseil de la concurrence, Rec. S. 8 (w. Nachw. s.o. Fn 321) trotz der Garantie eines Kernbereichs der Verwaltungsgerichtsbarkeit akzeptiert, da dieser Kernbereich der Kontrolle von Verwaltungsentscheidungen zwar berührt war, im Bereich des Wettbewerbsrechts jedoch erhebliche Überschneidungen mit straf- und zivilgerichtlichen Zuständigkeiten bestehen, so daß dem Gesetzgeber die Konzentration der Zuständigkeiten bei einer der betroffenen Gerichtsbarkeiten zugestanden werden müsse. Im ersten Anlauf wurde das Gesetz dennoch fIlr insgesamt verfassungswidrig erklärt, da es keine adäquate Regelung des vorläufigen Rechtsschutzes enthielt; das Gesetz vom 6.7.1987 schloß auch diese LOcke, der CC wurde nicht mehr angerufen; s. zum Ganzen Bolze D. 1988 chr. 169 ff. 385 Loi No 87-499 transferant le contentieux des decisions du Conseil de la concurrence a lajuridiction judiciaire, JORF 7.7.1987, S. 7391. 386 Zum Phänomen des ecran legislatif und seiner Abschwächung s. noch unten 5. Kap. B. III. I. a) sowie Flauss LPA 1992 NT. 85, 15.7.1992, 19; Bonichot RFDA 1989, 579 (584); Moderne in: CC et CE (1988), 313 (363); Venezia Melanges Boulouis (1991),505 (511). 387 Dazu, insbesondere zu der in dieser Zeit ergangenen Alitalia-Entscheidung (CE Ass. 3.2.1989 - Compagnie Alitalia, Rec. S. 44 = GAJA Nr. 112, S. 732) s. unten 5. Kap. B. III. 4. 388 Verges Anm. RTDE 1989,512 (528) spricht maliziös von einer "perestroIka" der gemeinschaftsrechtlichen Rechtsprechung des CE.
B. Prozessuale Durchsetzung
371
nächst unberührt: Die Verweigerung der Kontrolle des Lex posterior am Maßstab des Vertrages wurde weiterhin beibehaltenm.
aa) Der Durchbruch: Die Nicolo-Entscheidung vom 20.10.1989 Gelegenheit zur Korrektur dieser Rechtsprechung gab erneut die Überprüfung der Wahlergebnisse der - nunmehr dritten - Europawahlen, die wiederum - wie bereits 1979 und 1984 - unabhängig von der Bedeutung des Rechtsstreits automatisch zu einer Entscheidung der Assemblee du contentieux fUhren mußte. Der Sachverhalt war tatsächlich einigermaßen banal und hätte eine Befassung der Assemblee sicher nicht gerechtfertigt, auch wenn umstritten ist, ob die Lösung in der Sache tatsächlich so auf der Hand lag, wie der Conseil d'Etat selbst und auch die Mehrzahl der Kommentatoren der Entscheidung meinten: Zur Begründung seiner Wahlbeschwerde gegen die Europawahlen von 1989 brachte der Kläger Nicolo vor, daß das Wahlgesetz insoweit gegen den EWGV verstoße, als es die Teilnahme auch der überseeischen Departements und Territorien Frankreichs am Urnengang vorsieht. Die Assemblee wies diesen Vorwurf in ihrer Entscheidung vom 20.10.1989 390 mit wenigen Worten und dem Hinweis auf die Regelung des territorialen Geltungsbereichs des Gemeinschaftsrechts in Art. 227 EWGV zurück391 ; eine Vorlage an den EuGH zur
389 s. etwa CE 27.4.1988 - Ste Bernard Carant et compagnie c. Ministre d'Etat charge de I'economie, des Finances et de la Privatisation, Rec. S. 171; zu dieser Entscheidung s. noch unten 5. Kap. B. III. 1. a) bb). 390 CE Ass. 20.10.1989 - Nicolo, Rec. S. 190 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Frydman = GAJA Nr. 113, S. 743 = A10A 1989,788 m.Anm. Simon sowie Honorat/ Baptiste A10A 1989, 756 = D. 1989 jp 135 m.Anm. Sabourin = RGDIP 1989, 1041 m. Bespr. Boulouis RGDIP 1990,91 = RTDE 1989,786 mit den Schlußanträgen S. 771 und Anm. lsaac S. 787 = RFDA 1989,823 mit den Schlußanträgen S. 813 und Anm. Genevois S. 824 = Administration No 146 (1990), 125 m.Anm. Pretot S. 122 = LPA 1989 Nr. 137, 15.11.1989, 10 m.Anm. Gruber S. 4 = JCP 1989 II 21371 (2. Entscheidung) mit den Schlußanträgen; unmittelbar zu dieser Entscheidung auch Rambaud AFDI 1989, 91 ff; Lebreton LPA 1989 Nr. 148, 11.12.1989, 11 ff; Favoreu RFDA 1989, 993 ff; Dubouis RFDA 1989, 1000 ff; Galmot Administration Nr. 149 (1990), 8 ff; Lachaume RMC 1990, 384 ff; Calvet JCP 1990 1 3429; Dehaussy 101 1990, 5 ff; Touchard RDP 1990, 801 ff; Manin 28 CMLRev (1991), 499 ff; aus der deutschsprachigen Literatur Dewost EuR 1990, 1 ff; Ludet / Stotz EuGRZ 1990, 93 ff; Lerche ZaöRV 1990, 598 ff. 391 " ... les regles ... , definies par la loi du 7 juillet 1977, ne so nt pas incompatibles avec les stipulations claires de I'article 227-1 ... du Traite de Rome".
24"
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4. Kapitel: Vorrang gegenüber Gesetzen
Auslegung dieser Vertragsbestimmung wurde in Anwendung der acte-clairDoktrin vermieden J92 • Die grundsätzliche Bedeutung der Entscheidung, die in ihr enthaltene "verschlüsselte Botschaft"393 erschließt sich erst durch eine Parallelentscheidung vom selben Tag 39\ mit der die Assemblee du contentieux - in Bestätigung der traditionellen Rechtsprechung - die Rüge der Verfassungswidrigkeit des Wahlgesetzes als unzulässig behandelt hatm , sowie die durch die gemeinsamen Schlußanträge396 von Regierungskommissar Patrick Frydman zu diesen beiden Entscheidungen: Tatsächlich hat der Conseil d'Etat damit erstmals die Vereinbarkeit eines jüngeren Gesetzes mit dem älteren Vertrag in der Sache geprüft. Der Conseil d'Etat kopierte damit exakt das Verhalten, das der Conseil constitutionnel in seiner Eigenschaft als Wahlrichter an den Tag gelegt hatte l97 : Die Rüge der Verfassungswidrigkeit des Wahlgesetzes wurde ohne Prüfung in der Sache als unzulässig verworfen, die Rüge der Vertragswidrigkeit dagegen in der Sache geprüft. Die dogmatische Begründung für diesen Durchbruch findet sich in den Schlußanträgen: Basis der Kontrolle ist nicht der Vorranganspruch des Gemeinschaftsrechts allein; diese "bundesstaatliche", von ihm als supranational bezeichnete und zugleich dem EuGH zugeschriebene Vorstellung verwirft Regierungskommissar Frydman als verfassungswidrig. Aber auch die den Vorgang der Kontrolle bagatellisierende Behauptung, wonach nur unter verschiedenen Normen die jeweils anwendbare ausgewählt werde, ohne die Geltung der zurücktretenden Norm in Frage zu stellen, wird verworfen. Die Schlußanträge stützen sich vielmehr allein auf Art. 55 der Verfassung, der als implizite Ermächtigung der Fachgerichte verstanden wird, die Vertragsmäßigkeit nachfolgender Gesetze zu überprüfen; auch die Entscheidung der Assemblee du contentieux scheint diesem Ansatz implizit zu folgen, was allerdings nur aus der Bezugnahme auf Art. 55 der Verfassung in der am Beginn der Entscheidung stehenden Auflistung der angewandten Vorschriften, den sog. "visa" ersichtlich ist. 392 Kritisch insoweit Kovar D. 1990 ehr. 57 (64 Fn 65). 393 So [saae Anm. RTDE 1989, 787 (790). 394 CE Ass. 20.10.1989 - Roujansky, LPA 1989 Nr 137,15.11.1989,10 = RFDA 1989,993 (dort Fn *) = JCP 198911 21371 (2. Entscheidung) mit den Schlußanträgen. 395 "... il n'appartient pas au juge administratif d'apprecier la constitutionnalite de la loi du 7 juillet 1977; ... " 396 Veröffentlicht in Rec. S. 191 = RTDE 1989,771 = RFDA 1989,813 = ZaöRV 1990, 629; deutsche Übersetzung in EuGRZ 1990, 99. 397 s.o. 4. Kap. B. 11. I. b) bb) ß); zur Parallelentscheidung Gruber LPA 1989 Nr. 137, 15.11.1989,4; Pretot Administration No 146 (1990), 122 (123 m.Fn. 3).
B. Prozessuale Durchsetzung
373
Diese beschränkte Begründung schließt vor allem - anders als die kollisionsrechtlich inspirierte Vorstellung von der Suche nach der anwendbaren Norm 398 - jedes Übergreifen auf die Verfassungskontrolle im Erst-RechtSchluß aus, wie die Roujanski-Entscheidung vom selben Tag deutlich zeigt. Die Entscheidung hat neben der ganz überwiegenden Zustimmung in der Literatur auch Kritik aus gegensätzlichen Richtungen gefunden: Während auf der einen Seite die weitere Schwächung des parlamentarischen Gesetzgebers beklagt wurde 399 , ging sie manchen Beftirwortern der Integration nicht weit genug, weil der gewählte Begründungsansatz dem Gemeinschaftsrecht keinen Sonderstatus einräumte und insbesondere die Begründung des Vorrangs aus dem Gemeinschaftsrecht selbst ausschloß40o • Auch ist die Aufforderung an den Conseil d'Etat nicht ausgeblieben, nunmehr auch die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze selbst zu prüfen 40I , obwohl sein Begründungsansatz einen solchen Analogieschluß doch eigentlich verbot; gerade die Parallelentscheidung vom selben Tag hatte die auf die Durchsetzung der Verträge beschränkte Bedeutung der neuen Rechtsprechung auch deutlich gemacht. Gegen diese Kritik muß die Entscheidung freilich "in Schutz genommen" werden: Auf der einen Seite ist das Ende der absoluten Bindungsfreiheit des parlamentarischen Gesetzgebers nicht das Werk der Rechtsprechung, sondern gehört zum Verfassungssystem der 5. Republik; die Nicolo-Entscheidung zieht aus diesem neuen rechtlichen Rahmen nur (verspätet) die letzten Konsequenzen. Auf der Gegenseite haben die Verfechter einer Begründung des Vorrangs allein aus dem Gemeinschaftsrecht die Rechtsprechung des EuGH wohl in dem gleichen Sinne mißverstanden wie auf der anderen Seite Regierungskommissar Frydman: Der EuGH selbst begründet den Vorrang-Anspruch zwar mit gemeinschaftsrechtsimmanenten Argumenten, schon weil ihm Argumente aus den nationalen Rechtsordnungen nicht zur Verftigung stehen. Er verlangt 398 Auch die ordentliche Gerichtsbarkeit, die diese Begründung neben Art. 55 heranzieht, hat die Verfassungskontrolle freilich nicht in Anspruch genommen, sondern unterscheidet strikt zwischen der - allein dem CC vorbehaltenen - Prüfung der Gesetze am Maßstab der Verfassung und der Kontrolle der Vertragskonformität; s.o. 4. Kap. B.
11.2. b). 399 Aurillac Le dernier verrou de la souverainete, Le Monde 3.11.1989, S. 11; Jean Foyer Le mepris de la loi par le juge, La vie judiciaire No 2286, S. I. 400 So insbes. Kovar D. 1990 chr. 57 (61 ff); ders. RCADE Vol. IV-I (1993), 15 (55); Boulouis RGDIP 1990, 91 (99 ff); Debard / Alibert AJDA 1990, 281 (287); von deutscher Seite Lerche ZaöRV 1990, 598 (622 ff); zurückhaltender Simon Anm. AJDA 1989,788 (792): entscheidend sei letztlich doch das positive Ergebnis. 401 So insbes. Negrier RDP 1990, 767 (770 ff); zustimmend wohl Charles Debbasch Melanges Chapus (1992), 127 (131); ähnlich Habib. Diskussionsbeitrag in: Conac / Maus (1990),123; zum Problem noch unten 6. Kap. A.
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4. Kapitel: Vorrang gegenüber Gesetzen
aber mitnichten, daß die nationalen Rechtsordnungen auch diese Begründung selbst übernehmen: Aufgabe der nationalen Rechtsordnung des jeweiligen Mitgliedstaates ist es vielmehr, mit ihren eigenen Mitteln und Strukturen ein gemeinschaftsrechtskonformes Ergebnis zu erzielen402 • Mit der neuen Auslegung des Art. 55 der Verfassung ist dies der französischen Rechtsordnung jedenfalls fur das Verhältnis zwischen Vertrag und nationalem Gesetz gelungen. Die Durchsetzung des primären Gemeinschaftsrechts gegenüber nachfolgenden Gesetzen gehört seitdem zur ständigen Rechtsprechung des Conseil d'Etat403 • Anläßlich der turnusmäßigen Überprüfung der 4. Europawahlen ist sie auch von der Assemblee du contentieux erneut bestätigt worden 404 • Zuletzt hat eine Entscheidung vom 5.5.1995 405 in einem letzten Nachspiel zu dem im übrigen vor allem vor den Zivilgerichten ausgetragenen Streit um die dis-
402
So auch Streinz DVBI 1991,325 (327) - Anmerkung zu CE 24.9.1990 - Boisdet.
s. etwa zum Streit um die Vereinbarkeit des "octroi de mer", einer 1984 durch Gesetz neu gefaßten Sondersteuer auf Einfuhren in die überseeischen Territorien Frankreichs, mit Art. 12 EWGV: CE 2.4.1993 - Conseil regional de la region Martinique c. SA Lancry, Rec. Tables S. 639 = RFDA 1994, 340 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Lasvignes im Gefolge von EuGH 16.7.1992 Rs. C-163 / 90 - Administration des douanes et droits indirects gegen Leopold Legros u.a., Slg. 1992, I - 4625; dazu auch Simon / Masselot Europe 2 / 1993, 1 ff; Slotboom CDE 1996, 9 ff. Zu der - wiederum vor den ordentlichen Gerichten geltendzumachenden - Rückerstattung der Abgaben s. später noch auf Vorlage der CA Paris EuGH 9.8.1994 verb. Rs. C363/93, C-407 / 93 bis 411 /93 - Rene Lancry SA u.a. gegen Direction generale des douanes u.a., Slg. 1994, I - 3957 sowie die darauf ergangene Entscheidung CA Paris 1O.1.1996 - Ste Rene Lancry, RJF 12/1996 No 1501, S. 886. Weiter CE 18.3.1994 - de Brito Rodriguez, Rec. S. 146 zum Verhältnis zwischen Ausländergesetz und den Personenverkehrsfreiheiten des EWGV; CE 1.6.1994 - Letierce, Rec. S. 178 = AJDA 1994, 633 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Arrighi de Casanova zum Verhältnis zwischen Art. 90 EWGV und einem Gesetz von 1964; CE 24.6.1994 - Federation fran~aise des societes d'assurances et autres, Rec. S. 328 zum Verhältnis zwischen einem Gesetz von 1988 und Art. 85 EWGV; zuletzt CE 8.7.1997 - M. Tapie, AJDA 1997,288 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Stahl zur Gemeinschaftsrechtskonformität des gesetzlich vorgesehenen Mandatsverlusts durch Konkurs (zur Parallelentscheidung der Cour de cassation in dieser Sache s.o. Fn 260). 403
404 CE Ass. 17.2.1995 - Meyet et autres, Rec. S. 78 Schlußanträgen von Regierungskommissar Toutee.
=
AJDA 1995, 223 mit den
405 CE 5.5.1995 - Ministre de I'Equipement, des Transports et du Tourisme c. SARL D.E.R., Rec. S. 192 = RDP 1995, 1106 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Scanvic = AJDA 1995,936 m.Anm. Hamoniaux = RJF 8 /1995 No 1047, S. 619; ebenso zu einer anderen validation legislative CAA Paris 12.6.1995 - Office national interprofessionne1 du lait et des produits laitiers (ONILAIT) c. Ste cooperative agricole l'Armoricaine laitiere, Rec. S. 527.
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kriminierende Besteuerung importierter Kraftfahrzeuge 406 den Vorrang des Primärrechts, hier des Art. 95 EGV, sogar gegenüber einer durch eine "validation legislative" zu Gesetzesrang erhobenen Verwaltungsanweisung durchgesetzt; der Exekutive ist damit eindrücklich deutlich gemacht, daß - anders als zu Zeiten der Semoules-Rechtsprechung - mißliebige Vertragspflichten heute auch durch die Unterstützung des Gesetzgebers nicht mehr ausgeschaltet werden können. bb) Anwendung auch auf andere völkerrechtliche Verträge: Insbesondere die EMRK Wie zu erwarten 407 und schon in den Schlußanträgen von Regierungskommissar Frydman vorgeschlagen worden war, hat der Conseil d'Etat seine neue Linie auch andere völkerrechtliche Verträge angewandt, insbesondere auf die EMRK: Erstmals geschah dies in einer wenig beachteten Entscheidung vom 8.6.1990408 , die die Vereinbarkeit der französischen Gesetzgebung zur Wehrdienstverweigerung mit der EMRK feststellte. Es folgten zwei aufsehenerregende Entscheidungen der Assemblee du contentieux vom 21.12.1990 409 , die demonstrierten, daß die Rechtsprechung von Conseil constitutionnel und Conseil d'Etat nunmehr wie Zahnräder ineinandergreifen und sich damit lückenlos ergänzen: Erneut war - wie im Jahr 1975 vor dem Conseil constitutionnel und 1980 vor dem Conseil d'Etat - die Verfassungs- und Vertragsmäßigkeit der gesetzlichen Regelung des Schwangerschaftsabbruchs zu beurteilen, diesmal aus Anlaß der Zulassung der "Abtreibungspille" RU 486, deren Aufhebung von verschiedenen Organisationen s. bereits o. 4. Kap. B. II. 2. c). s. nur Abraham Droit international- Mise ajour S. VII f. 408 CE 8.6.1990 - Chardonneau, Rec. S. 146 = LPA 1990 Nr. 80, 4.7.1990, 20 m.Anm. Ce/erier = D. 1990 ir 211. 409 CE Ass. 21.12.1990 - Confederation nationale des associations familiales catholiques et autres, Rec. S. 369 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Stirn = D. 1991 jp. 283 (1. Entscheidung) m.Anm. Sabourin = AJDA 1991, 157 (1. Entscheidung) = RFDA 1990, 1074 (1. Entscheidung) mit den gemeinsamen Schlußanträgen S. 1065 ff = RUDH 1991, 13 (1. Entscheidung); CE Ass. 21.12.1990 - Association pour I'objection de conscience a toute participation a I'avortement, Association des medecins pour le respect de la vie, D. 1991 jp. 283 (2. Entscheidung) m.Anm. Sabourin = AJDA 1991, 157 (2. Entscheidung) = RFDA 1990, 1074 (2. Entscheidung) mit den gemeinsamen Schlußanträgen S. 1065 ff= RUDH 1991, 13 (2. Entscheidung) = RDP 1991, 538 m.Anm. Auby S. 525; zu bei den Entscheidungen auch Ruiz Fabri RUDH 1991, 1 ff; CM / FD/ YA AJDA 1991,91 ff. 406 407
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4. Kapitel: Vorrang gegenüber Gesetzen
beantragt wurde. Zur Begründung trugen die Kläger unter anderem vor, daß die gesetzliche Grundlage dieser Zulassung nicht nur gegen die Präambel der Verfassung, sondern auch gegen Art. 2 der EMRK, Art. 6 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte 410 sowie die Menschenrechtserklärung von 1948 verstoße. So wie der Conseil constitutionnel 1975 unter Berufung auf seine beschränkte Mission als Verfassungsrichter allein die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes geprüft, die Prüfung der Vertragsmäßigkeit dagegen abgelehnt und damit (damals noch unausgesprochen) den Fachgerichten überlassen oder überwiesen hatte, wies nunmehr der Conseil d'Etat das Argument der Verfassungswidrigkeit als unzulässig zurück411 , da diese Prüfung weiter ausschließlich dem Conseil constitutionnel vorbehalten bleibt4l2 • Die Vereinbarkeit mit EMRK und IPbpR413 dagegen wurde - anders als noch in der Lahache-Entscheidung von 1980 - vom Conseil d'Etat in der Sache geprüft. Der Conseil d'Etat bediente sich zur Feststellung des Ergebnisses seiner Prüfung414 sogar der Formulierung, mit der der Conseil constitutionnel
410 Für Frankreich in Kraft seit dem 1.2.1981 und damit lex posterior gegenüber dem (1979 bestätigten und in seiner Geltung verlängerten) Gesetz von 1975, s. bereits oben bei Fn 290 sowie die Schlußanträge von Regierungskommissar Stirn RFDA 1990, 1065 (1071), Delvolve RFDA 1991, 316 (318); durch die neue Sichtweise des Art. 55 spielt diese Chronologie nun keine Rolle mehr. 411 " .•• il n'appartient pas au Conseil d'Etat statuant au co ntenti eu x de se prononcer sur la conformite de la loi avec les principes poses par le Preambule de la Constitution du 27 oct. 1946," Ebenso die Schlußanträge von Regierungskommissar Stirn Rec. S. 371 (375) = RFDA 1990, 1965 (1069): " ... le moyen est inoperant en tant qu'il repose sur la violation de principes de valeur constitutionnelle. Les griefs allegues sur ce point apparaissent, en effet, comme une exception d'inconstitutionnalite a l'encontre des lois du 15 janvier 1975 et du 31 decembre 1979. 11 ne vous appartient pas de connaitre de teiles questions." 412 Unerwähnt blieb dabei, daß die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes zudem durch die Entscheidung des CC vom 15.1.1975 rechtskräftig feststeht, so die berechtigte Ergänzung von Ruiz Fabri RUDH 1991, 1 (3); da der CE sich auch flir vom CC nicht geprüfte Gesetze ein eigenes Prüfungsrecht nicht zugesteht, war dieser zusätzliche Aspekt zur Begründung der Entscheidung auch nicht nötig.
413 Die Berufung auf die UN-Menschenrechtserklärung von 1948 blieb dagegen erfolglos, da sie kein verbindliches Abkommen im Sinne von Art. 55 der Verfassung darstellt; dazu die Schlußanträge Rec. S. 371 (375) = RFDA 1990, 1065 (1070); Ruiz Fabri RUDH 1991, 1 (3) m.w.N. aus der Rechtsprechung des CE. 414 " ... eu egard aux conditions ainsi posees par le legislateur, les dispositions issues des lois des 17 janv. 1975 et 31 dec 1979 relatives a l'interruption volontaire de grosses se, prises dans leur ensemble, ne sont pas incompatibles avec les stipulations
B. Prozessuale Durchsetzung
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im Jahre 1988 - in seiner Funktion als Wahlprüfungsgericht - die Vereinbarkeit des französischen Wahlgesetzes mit der EMRK festgestellt hattem . Die vom Conseil constitutionnel in der Entscheidung vom 15.1.1975 noch implizit ausgesprochene Verweisung ist damit also endgültig "angenommen" und die lange Zeit bestehende Rechtsschutzlücke auf diese Weise geschlossen. Im Ergebnis ist damit jede Kategorie von Rügen gegen das Gesetz ausschließlich einer Gerichtsbarkeit zugeordnet; nur in den Fällen, in denen zugleich eine unmittelbare Verletzung des Art. 55 der Verfassung durch das Gesetz vorliegt4l6, besteht ein schmaler Überschneidungsbereich, in dem Fachgerichte und Conseil constitutionnel nebeneinander den Vorrang des Vertrages durchsetzen. Inhaltlich ergeben sich allerdings gerade im Grundrechtsbereich häufig Überschneidungen zwischen national-verfassungsrechtlicher und international-vertraglicher Gewährleistung derselben Rechtspositionen, die im Ergebnis zu einer doppelten Kontrolle des Gesetzes am Maßstab derselben Grundwerte fuhren können 4l7 • In weiteren Entscheidungen hat der Conseil d'Etat die Durchsetzung des Vorrangs gegenüber auch jüngeren Gesetzen auch auf andere, weniger prominente "klassische" völkerrechtliche Verträge angewandt4l8 • Dabei wurde deutlich, daß sich die neue Berücksichtigung des Vorrangs durchaus nicht immer zugunsten des Einzelnen auswirken muß: Wo der Vertrag engere Bestimmungen abschließenden Charakters enthält, kann auch das nachfolgende Gesetz keine zusätzlichen Bedingungen zum Schutz des Einzelnen durchsetzen419 • precitees de la Convention europeenne de sauvegarde des droits de I'homme et du Pacte international sur les droits civils et politiques." 415 s. oben 4. Kap. B. 11. I. b) bb) ß); die Anlehnung an diese Formulierung wird in den Schlußanträgen von Regierungskommissar Stirn Rec. S. 371 (378) = RFDA 1990, 1965 (1074) bewußt vorgeschlagen; zu ihrer Problematik s. noch unten 4. Kap. B. 11. 3. e) bb). 416 Zu diesen Fällen s. bereits o. 4. Kap. B. 11. I. a) bb) a). 417
bb).
Ruiz Fahri RUDH 1991, 1 (6); zu diesem Problem noch unten 4. Kap. B. 11. 3. e)
418 So etwa zum Verhältnis zwischen Auslieferungsverträgen und dem Auslieferungsgesetz von 1927: CE 23.10.1991 - Urdiain Cirizar, Rec. S. 347 = AJDA 1992, 82 (I. Entscheidung) m.Anm. lulien-Laferriere = JCP 1992 IV 143 m.Anm. Rouau/t; CE 23.10.1991 - Watts, AJDA 1992,82 (2. Entscheidung) m.Anm. Julien-Laferriere; CE 9.5.1994 - M. Hejli, AJDA 1994, 751 m.Anm. Julien-Laferriere: in Korrektur der Astudillo-Calleja-Entscheidung (s.o. Fn 339) werden die Auslieferungsverträge entgegen der ausdrücklichen gesetzlichen Bestimmung nun nicht mehr um die Bedingungen des Gesetzes ergänzt, soweit sie sich selbst abschließenden Charakter zumessen). 419 So der Vorbehalt von F/auss J.-CI. administratif Stichwort "Autorite du droit international" Rn 31: "La consecration de Ia primaute du traite anterieur risque de faire
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4. Kapitel: Vorrang gegenüber Gesetzen
cc) Anwendung auf das Sekundärrecht Schon in den ersten Reaktionen auf die Nicolo-Entscheidung war als logische Folgerung angenommen worden, daß der aus Art. 55 der Verfassung begründete Vorrang des Vertrages und die Kontrolle nachfolgender Gesetze an diesem Maßstab auch dem Sekundärrecht zugutekommen müsse420 • Für das Verhältnis zwischen EG-Verordnung und nachfolgendem Gesetz hat der Conseil d'Etat diese Schlußfolgerung bereits mit einer Entscheidung vom 24.9.1990 421 bestätigt. Der zugrundeliegende Sachverhalt aus dem Agrarmarktordnungsrecht fiihrte zur Konfrontation zwischen einem Gesetz vom 4.7.1980 und der EG-Verordnung 1035/72 vom 18.5.1972: Während diese Marktordnung nach der maßgeblichen Rechtsprechung des EuGH 422 insoweit abschließenden Charakter hatte, als sie die einseitige Erstreckung zusätzlicher Regelungen regionaler Erzeugerorganisationen auf Nicht-Mitglieder dieser Gemeinschaften ausschloß, sah eine - zuletzt im Jahr 1980 und damit nach Ergehen der Verordnung erneuerte - gesetzliche Regelung die Erlaubnis einer solchen Erstreckung durch ministerielle Genehmigung vor. Auch diese Entscheidung des Conseil d'Etat korrigierte ein älteres Urteil423 zu einem parallelen Sachverhalt, das penibel die zeitliche Abfolge der Texte ermittelt hatte und nur auf dieser Grundlage zu einer Durchsetzung des in dem damals zugrundeliegenden Sachverhalt jüngeren Gemeinschaftsrechts gelangt war. Die Entscheidung hat zugleich auch - im Ergebnis unbegründete - Spekulationen424 über
disparaitre, pour partie au moins, I'un des avantages caches de la prevalence de la loi posterieure, a savoir celui de I'application de la loi garantissant un standard de protection plus eleve que le traite." 420 So Isaac RTDE 1989,787 (794); Lachaume RMC 1990,384 (390 f); Dubouis RFDA 1989, 1000 (1005 f); Simon Anm AJDA 1989, 788 (791); Frydman RFAP 1990, 145 (146); Rideau RFDC 1990,259 (294); Abraham Droit international- Mise a jour S. VI f. 421 CE 24.9.1990 - Boisdet, Rec. S. 250 = LP A 1990 Nr. 123, 12.10.1990, S. 15 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissarin Laroque = AJDA 1990, 906 m.Anm. Honorat! Schwartz S. 863 = RFDA 1991, 176 m.Anm. Dubouis S. 172 = RGDIP 1991,964 m.Anm. Charles Rousseau; deutsche Übersetzung in EuR 1991, 183; DVBI 1991,324 m.Anm. Streinz; EuZW 1991, 124 m.Anm. Stotz S. 118. 422 EuGH 25.11.1986 Rs. 218 I 85 - Association Comite economique agricole regional fruits et h!gumes de Bretagne gegen A. Le Campion, Sig. 1986,3513. 423 CE 11.12.1987 - Danielou, Rec. S. 408 gen von Regierungskommissarin Laroque.
= RFDA 1988, 452 mit den Schlußanträ-
424 So etwa Simon Melanges Boulouis (1991), 481 (482 Fn 5); Roseren in: Constitutional Adjudication (1992), 257 (267).
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einen Wechsel in der Begründung des Vorrangs ausgelöst, da sie auf jede Erwähnung von Art. 55 der Verfassung verzichtete 425 • Obwohl sie in der Logik des Systems angelegt war und auch allgemein erwartet wurde, hat diese Ausdehnung der Durchsetzung des Vorrangs vor nachfolgenden Gesetzen auch auf das Sekundärrecht nochmals eine heftige Debatte ausgelöst, die den Vorrang exekutiver Rechtsakte ohne unmittelbare demokratische Legitimation gegenüber nationalen Parlamentsgesetzen infrage stellte426 • Der parlamentarische Unmut über diese Situation hat sogar zum Entwurf eines verfassungsändernden Gesetzes geftihrt, mit dem durch eine Änderung des Art. 55 nicht etwa die gerichtliche Kontrolle späterer Gesetze prozessual ausgeschlossen, sondern darüber hinausgehend in einem radikalen Schritt der Vorrang der Verträge gegenüber nachfolgenden Gesetzen materiellrechtlich beendet werden sollte 427 • Auch diese Initiative hatte jedoch keine weiteren Folgen 428 •
425 Eine Parallele findet sich hier in der Rezeption der Rechtsprechung der Cour de cassation: auch hier wurden die auf das Urteil in der Rs. Jacques Vabre folgenden Entscheidungen minutiös auf einen solchen Begründungswandel durchleuchtet, s.o. 4. Kap. B. 11. 2. b). 426 Scharfe Kritik findet sich etwa bei Blaizot-Hazard RDP 1992, 1293 (1313 ff); kritisch noch heute Chapus DAG I Rn 151, S. 120 f; sein zusätzlicher Einwand, daß die Vertragskonformität des Sekundärrechts nicht sichergestellt sei, wird von Dubouis RFDA 1991, 171 (175 f) zu Recht zurückgewiesen: die Möglichkeit der Vorlage an den EuGH erlaubt es gerade, solche Unsicherheiten auszuschließen; ebenso Fines Anm. RDP 1992, 1480 (1487). 427 So der Wortlaut der von den Abgeordneten Pierre Mazeaud und Jean-Louis Debre eingebrachten "proposition de loi constitutionnelle portant revision de I'article 55 de la Constitution et tendant a Iimiter la primaute des traites internationaux sur les lois", Doc. AN No 1633,9.10.1990, wiedergegeben auch bei Dubouis RFDA 1991, 172 (177): Article unique. "L'article 55 de la Constitution est ainsi redige: Les traites ou accords reguli