Die dritte Dimension des Organisierens: Steuerung und Kommunikation [1. Aufl.] 9783658292461, 9783658292478

Es ist ein offenes Geheimnis: Unsere Organisationen funktionieren mehr schlecht als recht. Darin liegt das Kernproblem u

269 12 8MB

German Pages XI, 348 [343] Year 2020

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Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XI
Prolog: Warum das alles wichtig ist (Martin Pfiffner)....Pages 1-14
Front Matter ....Pages 15-15
Einführung (Martin Pfiffner)....Pages 17-39
Die 10 Kardinalfehler des Organisierens (Martin Pfiffner)....Pages 41-68
Front Matter ....Pages 69-69
Ein Modell für Steuerung und Kommunikation (Martin Pfiffner)....Pages 71-81
Einführung in das Modell (Martin Pfiffner)....Pages 83-112
Russische Puppen (Martin Pfiffner)....Pages 113-121
Hierarchie und Redundanz potenzieller Führung (Martin Pfiffner)....Pages 123-135
Front Matter ....Pages 137-137
Übersicht über den Diagnoseprozess (Martin Pfiffner)....Pages 139-144
Die Grundstruktur prüfen und gestalten (Anatomie, Schritt I) (Martin Pfiffner)....Pages 145-161
Komplexität beherrschen (Exkurs) (Martin Pfiffner)....Pages 163-176
Führbar oder nicht? (Schritt II) (Martin Pfiffner)....Pages 177-185
Fokus auf erfolgskritische Aufgaben (Schritt III) (Martin Pfiffner)....Pages 187-194
Zentral oder dezentral? (Schritt IV) (Martin Pfiffner)....Pages 195-201
Die Steuerungsfunktionen prüfen und gestalten (Schritt V) (Martin Pfiffner)....Pages 203-229
Die Kommunikationskanäle prüfen und gestalten (Schritt VI) (Martin Pfiffner)....Pages 231-253
Front Matter ....Pages 255-255
Die Organisation verständlich machen (Schritt VII) (Martin Pfiffner)....Pages 257-268
Erfolgreich umsetzen (Martin Pfiffner)....Pages 269-281
Schnelldiagnosen (Martin Pfiffner)....Pages 283-307
Balance von Gegenwart und Zukunft (Martin Pfiffner)....Pages 309-336
Epilog: The Proof of the Pudding is in the Eating (Martin Pfiffner)....Pages 337-340
Back Matter ....Pages 341-348
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Die dritte Dimension des Organisierens: Steuerung und Kommunikation [1. Aufl.]
 9783658292461, 9783658292478

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Martin Pfiffner

Die dritte Dimension des Organisierens Steuerung und Kommunikation

Die dritte Dimension des Organisierens

Martin Pfiffner

Die dritte Dimension des Organisierens Steuerung und Kommunikation

Martin Pfiffner Fondation Oroborus Altendorf, Schweiz

ISBN 978-3-658-29246-1    ISBN 978-3-658-29247-8  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-29247-8 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer Gabler © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort

Normalerweise dauert es 50 bis 60 Jahre, bis sich grundlegende Neuerungen – sogenannte Basisinnovationen – so weit ausgebreitet haben, dass sie einen wirklichen Nutzen in der Wirtschaft und Gesellschaft erzeugen.1 Um eine solche grundlegende Neuerung geht es in diesem Buch, weil wir sie erstens dringend brauchen, und weil sie uns zweitens nach 50 Jahren Praxiserprobung und Technologieentwicklung einsatzbereit zur Verfügung steht. Vor ziemlich genau 50 Jahren stellte der britische Wissenschaftler und Top-Manager Stafford Beer der Welt seine Lösung für ein Problem vor, das es damals, mindestens in der allgemeinen Wahrnehmung, noch gar nicht gab. Und die Technologie dazu war zwar in ihren ersten Zügen erkennbar, aber noch lange nicht ausgereift. Beer war seiner Zeit weit voraus, denn es ging um die Frage, wie man komplexe Unternehmen zum Funktionieren bringt. Einige Jahre zuvor, während des Zweiten Weltkriegs, hatte eine Gruppe von Wissenschaftlern in Mexico City eine neue Wissenschaft entdeckt, die die Welt so stark verändern sollte wie keine Disziplin je zuvor: die Kybernetik, die Lehre von der Steuerung und Kommunikation in komplexen Systemen – oder ganz einfach gesagt, die Lehre des Funktionierens. Sie ermöglichte die beispiellose technologische Revolution der Nachkriegszeit, die bis zur aktuellen Industrie 4.0 und Digitalisierung führte. Beer hat die Lehre des Funktionierens als Erster systematisch auf das Management von Unternehmen angewandt – das Business, in dem er als Top-Manager selber drinsteckte. Er zeigte die Strukturen auf, die da sein müssen, damit ein Unternehmen seinen Zweck erfüllen und seine Ziele erreichen kann – egal, wie groß oder wie komplex es ist. Wenn nun die Kybernetik nicht nur auf die technischen Systeme, sondern jetzt zunehmend auch auf die sozialen Systeme, also unsere Organisationen, angewandt wird, könnte das die Welt ein zweites Mal revolutionieren. Denn wie im Buch gezeigt wird, ist das Funktionieren von Organisationen das Kernproblem wie auch die Lösung für die  Die Arbeiten von Cesare Marchetti beschreiben den Mechanismus und Verlauf dieser Ausbreitungs- und Substitutionsprozesse, die er an vielen Beispielen untersucht und in vielen Publikationen demonstriert hat. Zum Beispiel: Marchetti, Cesare (1982). Die magische Entwicklungskurve. Bild der Wissenschaft, 19(10): 114–128, oder Marchetti, Cesare (1986). The 50-Year Pulsation in Human Affairs. Analysis of some physical indicators. Futures Juni, 17(3): 376–388.

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Vorwort

­ erausforderungen unserer Zeit. Schlecht funktionierende Organisationen verursachen H die Krisen, in denen die Welt steckt. Die meisten von ihnen sind von der Komplexität und Dynamik ihrer Umwelt überfordert, und sie verpuffen unnötig viel Kraft, Energie und Zeit in ihren lähmenden und lückenhaften internen Mechanismen. Wenn wir unsere Handlungsfreiheit zurückgewinnen wollen, brauchen wir bessere Lösungen. Aber finden wir diese wirklich in noch besseren Anatomien beziehungsweise Organigrammen des Unternehmens – obwohl wir diese bereits seit über 100 Jahren optimieren und alle denkbaren Formen bereits ausprobiert haben? Finden wir sie wirklich in der noch besseren Physiologie des Unternehmens beziehungsweise in der Prozessgestaltung  – obwohl wir auch diese Technik seit 30 Jahren nutzen und optimieren? Oder müssen wir unseren Blick nicht eher auf eine dritte Dimension des Organisierens richten, nämlich auf das, womit eine Organisation ihre innere und äußere Komplexität bewältigt: ihre Neurologie? Ohne Neurologie keine Komplexitätsbewältigung, keine Agilität und keine Intelligenz und Kreativität. Welche Lektion können wir also von der Neurologie lernen für die Steuerung und Kommunikation im Unternehmen? Aus ihrem Blickwinkel heraus betrachtet lösen sich – wie wir sehen werden – viele Dauerbrennerfragen des Organisierens auf, wie zum Beispiel die Frage von Autonomie versus Hierarchie, von Agilität versus Kohäsion oder von Flexibilität versus Kontinuität. Dazu hat uns Stafford Beer ein Modell an die Hand gegeben, das verschiedene Organisationsstrukturen erstmals messbar, vergleichbar und in ihrer Qualität und Leistungsfähigkeit beurteilbar macht. Der Maßstab, der dazu angelegt wird, orientiert sich an der Frage, wie gut sie mit Komplexität und Dynamik umgehen. Solange wir hingegen in den ersten beiden Dimensionen des Organisierens gefangen bleiben, sitzen wir Modewellen auf, lösen ein Problem, und schaffen damit ein anderes. Der Umgang mit Komplexität und Dynamik ist die Hauptherausforderung unserer Zeit und die Gestaltung der dritten Dimension des Organisierens deshalb das Generalmanagement-Thema der Zukunft, das jede Führungskraft persönlich betrifft. Beers „Viable System Model“ ist das bisher weltweit einzige Modell, das die dritte Dimension umfassend thematisiert. Nach mehr als zwei Jahrzehnten praktischer Erfahrung damit habe ich mich entschlossen, diese aufzuschreiben, und meinen Beitrag zur wachsenden internationalen Community von Praktikern und Wissenschaftlern zu leisten. Ich wollte das Buch für jene Führungskraft schreiben, die damit etwas tun will. Dazu muss so ein Buch vor allem verständlich und nützlich sein. Aber wenn die Inhalte nicht fundiert sind oder langweilig vorgetragen werden, legt man es trotzdem weg. Die Herausforderung lag also darin, diesen Dreifach-Spagat zwischen praktischer Nützlichkeit, wissenschaftlicher Gründlichkeit und Reichhaltigkeit und Faszination möglichst gut hinzukriegen. Ich bin vielen Menschen zu großem Dank verpflichtet. An erster Stelle danke ich meiner Frau Sibylle, die mich seit 25 Jahren begleitet, ermutigt und unterstützt. Sie hat viel zu diesem Buch beigetragen. Ich danke Claudia Zürcher für die Erstellung der handgemalten Grafiken, und dass ich in der Schlussphase auf ihrem Gut südlich der Toskana arbeiten durfte, sowie Katharina Aufderheide, Martin Hochuli, Stefan Studer, Max Pfiffner, Markus Schwaninger und Marc Höchli für ihre kritischen Anmerkungen, Korrekturen und

Vorwort

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hilfreichen Hinweise. Katharina Harsdorf und Ulrike Lörcher vom Springer Gabler Verlag danke ich für ihre Unterstützung vom ersten Exposé des Buches bis hin zu seiner Fertigstellung. Zweitens gilt mein großer Dank der Unternehmerin Frau Bernadette Langenick-Pfister und ihrem verstorbenen Mann Willy Pfister, der mich als Freund und als Verwaltungsratspräsident im Aufbau eines Unternehmens begleitet hat, das mit der Innovation von Modellen und Methoden aus der Management-Kybernetik und -Bionik beauftragt war. Bernadette und Willy haben zusammen die Stiftung Fondation Oroborus ins Leben gerufen, die die praktische Ausbreitung der Management-Kybernetik fördert, und die auch dieses Buch unterstützt hat: www.fondationoroborus.ch. Drittens danke ich den tausenden von Führungskräften in Business- und Non-­Business-­ Unternehmen weltweit für die Gelegenheit, mit ihnen gemeinsam über Anwendungsfragen zu diskutieren, neue Wege auszuprobieren und daraus lernen zu dürfen. Sie sind, zusammen mit meinen ehemaligen Kolleginnen und Kollegen am Management Zentrum St. Gallen und im weltweiten Netzwerk von Kybernetikern, das Fundament, auf dem dieses Buch steht. Schließlich bedanke ich mich bei meinen beiden Lehrern und Mentoren. Die Zusammenarbeit mit Fredmund Malik über fast dreißig Jahre hat mein Denken geprägt. Er hat mich schon als Student in den 1980er-Jahren in die Praxis der systemorientierten Managementlehre und in die Management-Kybernetik eingeführt und mich später mit Stafford Beer zusammengebracht. Von Fredmund Malik habe ich gelernt, was richtiges und gutes Management ist und wie man damit in der Praxis, die ihm immer besonders am Herzen lag, tatsächlichen Nutzen schafft. Mein größter Dank gehört schließlich Stafford Beer selbst, der die Kybernetik für das Management nutzbar gemacht, und der mir sein Denken, seine Modelle und Methoden mit Geduld und Zuneigung in vielen, langen Gesprächen während seinen letzten drei Lebensjahren nähergebracht hat. Seine Bedingung war, dass ich mein gewonnenes Wissen wiederum an Andere weitergeben würde. Das war wohl der wichtigste Antrieb für mich, dieses Buch zu schreiben. Ich verbeuge mich vor den Pionieren der Kybernetik, allen voran Norbert Wiener, Warren McCulloch, Heinz von Foerster, Ross W.  Ashby, Walter Pitts, John von Neumann, Claude Shannon, Margaret Mead und Gregory Bateson, auf deren Schultern wir stehen. Schauen wir also, was wir von dort aus erkennen können … Altendorf, Schweiz 26. Dezember 2019

Martin Pfiffner

Inhaltsverzeichnis

1 Prolog: Warum das alles wichtig ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   1 Literatur ����������������������������������������������������������������������������������������������������������������  14 Teil I  Notwendigkeit und Nutzen der dritten Dimension 2 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  17 2.1 Der Bedarf an guten Strukturen��������������������������������������������������������������������  17 2.2 Aufbau- und Ablauforganisation stoßen an ihre Grenzen����������������������������  19 2.3 Komplexität ist der gemeinsame Nenner������������������������������������������������������  23 2.4 Orientierung am Organismus������������������������������������������������������������������������  25 2.5 Aufbau und Nutzen des Buches ������������������������������������������������������������������  31 Literatur ����������������������������������������������������������������������������������������������������������������  39 3 Die 10 Kardinalfehler des Organisierens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  41 3.1 Mit Organigrammen beginnen����������������������������������������������������������������������  41 3.2 Am Kundennutzen vorbei organisieren��������������������������������������������������������  43 3.3 Beim Konkurrenten abschauen ��������������������������������������������������������������������  45 3.4 Schwachstellen optimieren ��������������������������������������������������������������������������  48 3.5 In die Matrix flüchten ����������������������������������������������������������������������������������  50 3.6 Mit den Menschen beginnen ������������������������������������������������������������������������  52 3.7 Verschachtelung übersehen��������������������������������������������������������������������������  54 3.8 Das Neue im Alten organisieren ������������������������������������������������������������������  56 3.9 Unterstützende und operative Einheiten nicht unterscheiden ����������������������  57 3.10 Die Neurologie vernachlässigen ������������������������������������������������������������������  60 Literatur ����������������������������������������������������������������������������������������������������������������  68 Teil II  Das Viable System Model 4 Ein Modell für Steuerung und Kommunikation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  71 Literatur ����������������������������������������������������������������������������������������������������������������  81

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Inhaltsverzeichnis

5 Einführung in das Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  83 5.1 Die Grundelemente: Umwelt, Operation und Management ������������������������  86 5.2 System 1: Die operativen Einheiten��������������������������������������������������������������  89 5.3 System 2: Koordination��������������������������������������������������������������������������������  93 5.4 System 3: Optimierung und Auditierung������������������������������������������������������  97 5.5 System 4: Aufklärung und Erneuerung�������������������������������������������������������� 103 5.6 System 5: Identität���������������������������������������������������������������������������������������� 108 Literatur ���������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 111 6 Russische Puppen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Literatur ���������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 121 7 Hierarchie und Redundanz potenzieller Führung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Literatur ���������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 135 Teil III  Diagnostizieren und Gestalten 8 Übersicht über den Diagnoseprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 9 Die Grundstruktur prüfen und gestalten (Anatomie, Schritt I) . . . . . . . . . . . 145 9.1 Rekursionsebenen aufnehmen���������������������������������������������������������������������� 147 9.2 Das System in Focus (SIF) festlegen ���������������������������������������������������������� 150 9.3 Die Segmentierung prüfen �������������������������������������������������������������������������� 152 Literatur ���������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 161 10 Komplexität beherrschen (Exkurs). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Literatur ���������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 175 11 Führbar oder nicht? (Schritt II). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Literatur ���������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 185 12 Fokus auf erfolgskritische Aufgaben (Schritt III) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Literatur ���������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 194 13 Zentral oder dezentral? (Schritt IV). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 14 Die Steuerungsfunktionen prüfen und gestalten (Schritt V) . . . . . . . . . . . . . . 203 14.1 S2: Koordination und Unterstützung���������������������������������������������������������� 205 14.2 S3: Optimierung des heutigen Geschäfts �������������������������������������������������� 211 14.3 S3*: Real-Life Information und Auditierung �������������������������������������������� 215 14.4 S4: Außenkommunikation, Aufklärung und Erneuerung�������������������������� 218 14.5 S5: Identität, Normatives und S5-S3/4-Interaktion ������������������������������������ 225 Literatur ���������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 229

Inhaltsverzeichnis

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15 Die Kommunikationskanäle prüfen und gestalten (Schritt VI). . . . . . . . . . . . 231 15.1 Kommunikationsleistung���������������������������������������������������������������������������� 232 15.2 Kommunikationssicherheit ������������������������������������������������������������������������ 237 15.3 Verknüpfung in mehreren Ebenen�������������������������������������������������������������� 240 15.4 Funktioniert das „algedonische Signal“?���������������������������������������������������� 244 Literatur ���������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 253 Teil IV  Vom Wissen zum Nutzen 16 Die Organisation verständlich machen (Schritt VII). . . . . . . . . . . . . . . . . . .   257 16.1 Darstellung der Steuerungsorganisation ������������������������������������������������   258 16.2 Stellenbeschreibung��������������������������������������������������������������������������������   262 16.3 Organigramm������������������������������������������������������������������������������������������   265 Literatur����������������������������������������������������������������������������������������������������������������  268 17 Erfolgreich umsetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 17.1 Inkrementelle Veränderung oder Reorganisation?�������������������������������������� 270 17.2 Person versus Sache ���������������������������������������������������������������������������������� 272 17.3 Vier Umsetzungsphasen ���������������������������������������������������������������������������� 274 17.4 Vier Erfolgsfaktoren ���������������������������������������������������������������������������������� 278 Literatur ���������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 281 18 Schnelldiagnosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 18.1 Dissoziation������������������������������������������������������������������������������������������������ 285 18.2 Schizophrenie �������������������������������������������������������������������������������������������� 288 18.3 Der Flaschenhals���������������������������������������������������������������������������������������� 291 18.4 Unkontrolliertes Wachstum������������������������������������������������������������������������ 295 18.5 Dominanz �������������������������������������������������������������������������������������������������� 298 18.6 Multiple Persönlichkeit������������������������������������������������������������������������������ 301 18.7 Kopflosigkeit���������������������������������������������������������������������������������������������� 303 19 Balance von Gegenwart und Zukunft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 19.1 Beyond Dispute������������������������������������������������������������������������������������������ 311 19.2 Der Operations Room �������������������������������������������������������������������������������� 320 Literatur ���������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 335 20 Epilog: The Proof of the Pudding is in the Eating. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Literatur������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 340 Glossar�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 341 Literatur zum Viable System Model (chronologisch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347

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Prolog: Warum das alles wichtig ist

Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better. (Samuel Beckett)

Eine weltbewegende Entdeckung: Die Rezeptur des Gelingens Warren McCulloch betritt abends den Gemeinschaftsraum des Konferenzzentrums, irgendwo im Amerika der 1940er-Jahre, etwa zur Zeit, als die ersten Computer gebaut wurden. Dort findet er Norbert Wiener in seinem Klub Chair sitzend, ganz in seine Lektüre versunken. „Norbert“, sagt er, „ich und mein Kollege Walter Pitts arbeiten an einer Maschine, die es Blinden ermöglichen soll, mit ihren Ohren zu lesen.“ Was danach passiert, gehört zu einer Reihe von Ereignissen, die zu einer der folgenschwersten und zentralsten Entdeckungen des 20. Jahrhunderts geführt haben. In unserem Jahrhundert wird diese Entdeckung eine sogar noch gewichtigere Rolle spielen als bisher. Wiener blickt interessiert auf. „Das hat den Vorteil, dass die Bücher nicht in Blindenschrift gedruckt werden müssen. Aber wir haben da ein Problem, das ich gerne mit dir diskutieren möchte. Unsere Maschine scannt den Text. Das Problem ist, dass sie die einzelnen Buchstaben wegen ihrer unterschiedlichen Größen und Schrifttypen nicht erkennt. Wir könnten zwar standardisierte Buchstaben drucken, aber das gibt es mit Braille ja bereits. Also muss unsere Maschine die Gestalt eines Buchstabens „n“ in jeder Größe und Form erkennen können. Ich habe nun eine Idee, wie wir das der Maschine beibringen könnten.“ McCulloch zeichnet ein technisches Diagramm auf ein Blatt Papier. Er erklärt Wiener das Design von Scanner, fotoelektrischen Zellen und Oszillatoren. Die beiden Wissenschaftler diskutieren und argumentieren eine Weile. Später gießt sich McCulloch noch einen Whisky ein und geht zu Bett. Das Diagramm lässt er auf dem Tisch liegen. Kurz darauf betritt Gerhardt von Bonin den Gemeinschaftsraum. Er ist ein führender © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Pfiffner, Die dritte Dimension des Organisierens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29247-8_1

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1  Prolog: Warum das alles wichtig ist

­ xperte in Neuroanatomie, also ein Kenner des Nervensystems, seines Aufbaus und seiner E Prozesse. Von Bonin sieht die Zeichnung auf dem Tisch, studiert sie kurz und fragt Wiener: „Wer hat da versucht, ein Diagramm des Sehzentrums des Gehirns zu zeichnen? [1]“ Wiener ist überwältigt. Sollte es tatsächlich möglich sein, dass der Bauplan im Gehirn für das Erkennen von Gestalt gleich aussieht wie auf McCullochs Zeichnung? Sind es wirklich die gleichen Dinge im Gehirn wie in der Maschine, die sie zum Funktionieren bringen? Am nächsten Abend erzählt er den anderen Teilnehmern der Konferenz, was passiert ist. Etwa zwanzig Personen sind anwesend. Das Besondere an dieser Konferenz ist, dass die Teilnehmer allesamt Vertreter verschiedener Fachgebiete sind, und jeder von ihnen ist eine weltweit führende Kapazität in seiner Disziplin. Wiener ist einer der sechs weltbesten Mathematiker seiner Zeit und wird auch „the American Leibniz“ genannt. McCulloch, der die Konferenz leitet, ist ein weltbekannter Neurophysiologe und Nachbar Albert Einsteins, mit dem er gut befreundet ist. Wieners Aufregung überträgt sich rasch auf die anderen Teilnehmer. Braucht ein Ingenieur, der eine solche Maschine bauen will, also denselben Bauplan, wie ihn die Natur in vier Milliarden Jahren Evolution bereits entwickelt hat? Können wir vom Organismus lernen, wie wirklich schwierige Dinge funktionieren, wie eben beispielsweise das Erkennen von Gestalt? In der Folge diskutieren die Wissenschaftler das technische Diagramm und versuchen es zu quantifizieren: Mit welcher Geschwindigkeit muss die Maschine operieren, damit sie funktioniert? Das Resultat ist die nächste große Überraschung: Sie berechnen eine Rate von zehn Schwingungen pro Sekunde – das entspricht der Alphawelle des Gehirns, die beim Tagträumen in entspannter Grundhaltung entsteht. Unser Gehirn scannt die Welt demzufolge mit der gleichen Geschwindigkeit, wie es ein Scanner tun muss, damit er Buchstaben erkennt. Offensichtlich funktioniert das Erkennen im Gehirn mit den gleichen Zutaten wie in der Maschine. Die Wissenschaftler spüren instinktiv, dass sie einer Sache auf der Spur sind, die das Potenzial hat, die Welt zu verändern. Wenn es Prinzipien gibt, die in zwei so unterschiedlichen Welten wie der Maschine und dem Organismus gleichermaßen gelten, könnte es dann sein, dass sie auch in weiteren Disziplinen Gültigkeit haben? Hat uns der Fokus auf unsere existierenden Fachgebiete blind gemacht für die Entdeckung universeller Prinzipien? Und wer sagt denn eigentlich, dass Gott den Unterschied zwischen Biologie und Engineering oder zwischen Physik und Chemie kennt? Das Geburtsjahr einer neuen Wissenschaft lässt sich normalerweise nicht genau da­ tieren. Niemand kann sagen, wann die Physik entstanden ist oder wann die Philosophie angefangen hat. In diesem Fall ist das anders. Ab 1943, mitten im Krieg, gründen McCulloch, Wiener und der Physiologe Arturo Rosenblueth in Mexico-City einen fachübergreifenden Gesprächszirkel. Das ist ungewöhnlich. Normalerweise finden sich nur Vertreter desselben Fachgebietes zu Gesprächen zusammen. Dieser interdisziplinäre Dialog wird zwischen 1946 und 1953 in einer von der Josiah Macy Jr. Foundation gesponserten Serie von zehn Konferenzen weitergeführt. Es werden nur die Besten aus jedem Fachgebiet zu den Gesprächen zugelassen, damit sich die Teilnehmer nicht erst gegenseitig ihren Status beweisen müssen und in Verteidigungshaltung gehen, wie das so oft geschieht. Sie sollen sich einander öffnen. McCulloch ist als Vorsitzender dieser K ­ onferenzen sorg-

1  Prolog: Warum das alles wichtig ist

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fältig darauf bedacht, die interdisziplinäre Balance und die handverlesene Besetzung aufrechtzuerhalten. Viele wollen teilnehmen, aber nur wenige werden akzeptiert. Zu ihnen gehören die Anthropologen Margaret Mead und Gregory Bateson, der Physiker Heinz von Foerster, der Mathematiker und Vater der Informatik John von Neumann, der Soziologe Paul Lazarsfeld, der Psychiater Ross W. Ashby, der Informationstheoretiker Claude Shannon oder der Elektroingenieur Julian Bigalow, der damals mit von Neumann zusammen den MANIAC baute – einen der ersten universell programmierbaren Computer. Im Laufe der Diskussionen in den Macy-Konferenzen kristallisiert sich bald eine Kernfrage heraus: Könnte es sein, dass gerade das, worauf es in der Wissenschaft und für die Menschheit am meisten ankommt, genau zwischen die etablierten Stühle an unseren Universitäten fällt? Biologen und Ingenieure sprechen schließlich unterschiedliche Sprachen und forschen an unterschiedlichen Themen. Ihre einzige namhafte Schnittstelle war bisher die Mensa an den Universitäten, und so ist es mit allen anderen Fachgebieten auch. Die Konferenzteilnehmer finden dieses universelle Thema schließlich in „Control“, also in der Frage, wie Dinge gesteuert werden, damit etwas gelingt. Das fällt in jedes und gleichzeitig in kein existierendes Fachgebiet, denn „Control“ ist ein interdisziplinäres Phänomen. Es kommt überall vor, in der Astrophysik wie in der Biologie, in der Anthropologie wie im Engineering und in der Politik wie auch im Management. Es geht um die ordnenden Kräfte, Voraussetzungen und Prinzipien, die gegeben sein müssen, damit Dinge funktionieren. Es geht um die Rezeptur des Gelingens. Kybernetik: Die Lehre vom Steuern und Kommunizieren Bereits 1943 befasst sich Wiener erstmals mit der Control-Frage. Es ist Krieg, und er wird von der amerikanischen Armee mit dem Problem der „Anti-Aircraft Artillery“ beauftragt. Er soll herausfinden, wie die Abschussquote der Artillerie von  feindlichen Bombern erhöht werden kann. Die Control-Frage dahinter: Wie gelingt es, ein bewegliches Ziel zu treffen? Der State-of-the-Art sagt nur, dass der Schütze ein wenig vorhalten soll. Piloten machen jedoch allerhand Ausweichmanöver, wenn sie unter Beschuss kommen. Als Mathematiker und Spezialist für statistische Methoden nutzt Wiener Radar-Informationen, um Prognosen über den wahrscheinlichsten Standort des Flugzeuges zu jedem Zeitpunkt zu machen, und verbindet diese elektronisch mit dem Ziel-Mechanismus der Kanone. Das Flugzeug und die Kanone „kommunizieren“ jetzt sozusagen miteinander in einem geschlossenen Regelkreis: Ändert sich die Flugrichtung, schießt die Kanone in eine andere Richtung, was wiederum den Piloten zu einem neuen Manöver veranlasst. Auch in anderen Wissenschaftsgebieten gibt es Control-Probleme, die untersucht und diskutiert werden. Jeder Teilnehmer der Macy-Konferenzen hat aus seiner eigenen Fachperspektive heraus jedoch eine andere Sicht auf Control und demzufolge auch ein anderes Verständnis davon. So dauert es drei Jahre, bis sie anfangen, einander zu verstehen und herausfinden, was Control eigentlich ist. Je mehr sie verstehen, desto mehr einigende Prinzipien und Gesetze finden sie, die quer durch alle Wissenschaftsgebiete hindurch gelten. Die Control-Probleme folgen dem gleichen Muster: In einer dynamischen Umgebung werden ohne Kenntnis der Kausalzusammenhänge und trotz ambivalenter Information

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­ ewusst oder automatisch Entscheidungen getroffen und Dinge verändert, damit ein Zielb wert erreicht wird und stabil bleibt. So wird beispielsweise unsere Körpertemperatur über im Organismus verteilte Control-Mechanismen konstant auf 36,6 Grad Celsius gehalten, auch wenn die Umgebung viel wärmer oder kälter ist. Eine generelle Theorie von Control entsteht, in der die Prinzipien des Funktionierens untersucht und systematisiert werden. Warum wird aus einer Kastanie keine Eiche, und warum braucht man eine Eichel dazu? Wie muss etwas gestaltet sein, damit ein bestimmtes Ziel erreicht wird? Dabei stellen die Wissenschaftler die bisherige Logik von Kausalzusammenhängen auf den Kopf: Etwas zeitlich Früheres wird durch etwas zeitlich Späteres erklärt, also aus seiner zukünftigen Bestimmung statt aus seiner Vergangenheit heraus. Der Steuerungsprozess wird nicht durch Ereignisse in der Vergangenheit bestimmt, sondern durch Ereignisse in der Zukunft. In einer komplexer werdenden Gesellschaft, in der immer weniger vom Studium der Teile auf das Ganze geschlossen werden kann, und in der man immer weniger weiß, was eigentlich gerade genau vor sich geht, ist diese teleologische Umkehr ein hilfreicher Trick. Die Zukunft statt der Vergangenheit bestimmt die Gegenwart. Wie kann das funktionieren? Zu den wichtigsten Erkenntnissen gehören das Feedback-Prinzip und das Prinzip der Selbst-Organisation: Gestalte ein System so, dass es sich selbst organisieren, steuern und lernen kann. Jede Einheit steuert sich selbst mittels Feedback-Prinzip: Sie visiert ein Ziel an, misst permanent das Maß ihres Fehlens und füttert dieses Signal in den Input zurück. So werden Zielwerte selbst in hoch dynamischen und komplexen Umgebungen erreicht. Die deutsche Übersetzung des Wortes Control könnte daher missverständlich sein. Gemeint ist nicht die explizite Kontrolle, die einem System entgegengesetzt wird, sondern die implizite, in das System eingebaute Selbst-Steuerung. Sie entsteht dann, wenn man in Kreisläufen denkt und die Folgen einer Handlung auf das zurückführt, was sie verursacht. Diese Zirkularität ist ein universelles Prinzip, das bisher noch niemand in dieser Form kennt, das aber sehr wohl in alten Volksweisheiten vorkommt: Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus. Was du säst, das wirst du ernten. 1948 publiziert Norbert Wiener die bisherigen Erkenntnisse und kündigt die Entdeckung einer neuen, universellen Wissenschaft an: Einer „science of everything“. Auf der Suche nach einem Namen für die Wissenschaft von Control bedient er sich des Bildes vom Steuermann, der auf treibender See einen Leuchtturm anvisiert, aber aufgrund von Strömungen und Winden permanent abgetrieben wird und nachsteuern muss. Er weiß nicht genau, was passiert und was auf ihn zukommt. Er kennt weder die genauen Fakten noch die Zusammenhänge, und dennoch gelingt es ihm, sein Ziel zu erreichen (Abb. 1.1). Das griechische Wort für Steuermann ist „Kybernetes“. Also tauft Wiener die neue Wissenschaft „Kybernetik“. In Latein ist der Steuermann der „Gubernator“ – ein Wort, das heute noch in Begriffen wie Government, Gouverneur, oder Corporate Governance vorkommt, die mit dem Steuern zu tun haben. Wieners Buch trägt schließlich den erstaunlichen Titel: cc

Cybernetics: Or Control and Communication in the Animal and the Machine [2].

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Abb. 1.1  Kybernetes, der Steuermann

Im ersten Teil des Titels wird erkannt, dass jede Steuerung von Kommunikation abhängt und dass sich diese wiederum auf die Steuerung auswirkt. „Control and Communication“ – wenn man den Draht kappt, geht nichts mehr. Wiener deckt damit die fundamentale Bedeutung von Information auf. Inzwischen ist auch die mathematische Kommunikationstheorie verfügbar, die maßgeblich von Claude Shannon entwickelt wurde: die Informationstheorie. Steuerung und Kommunikation gehören zusammen und bedingen einander. Wenn etwas Schwieriges gelingen soll, braucht es dazu zirkuläre Kommunikationsschleifen oder „Feed­ back-Loops“. Der zweite Teil des Titels zerschmettert das aktuelle Weltbild. „In the Animal and the Machine“ – die animierte und die unbelebte Welt haben weit mehr gemeinsam, als uns in der Schule und an den Universitäten gelehrt wurde. Biologie und Engineering werden jetzt über gemeinsame Prinzipien miteinander verbunden, obwohl sie als klar getrennte Disziplinen studiert und gelehrt werden. Die bisherige, kartesianische Trennung dieser Welten ist offensichtlich ein Irrtum, wenn sich ein Biologe auf einmal mit einem Ingenieur versteht, ein Anthropologe mit einem Physiker oder ein Soziologe mit einem Mathematiker. „In the Animal and the Machine“  – darin steckt die provozierende Aussage, dass die Gesetze und Prinzipien des Funktionierens allgemeingültig sind. Gelingen funktioniert immer nach dem gleichen Muster, und dieses kann und muss in allen Arten von komplexen Systemen angewandt werden. Wieners Buch und die darin offengelegten Entdeckungen verursachen große Aufregung in der Wissenschaft und in der Philosophie.

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Anwendung auf Technologie Bahnbrechende Entdeckungen schlagen sich normalerweise zuerst in technischen Anwendungen nieder. So auch hier: Die Kybernetik und die Fortschritte in der Informationstheorie beginnen sich ab den 1950er-Jahren in praktisch allen Lebensbereichen auszuwirken. Sie führen zu einem neuen Schub an Automation und Robotik, zur Entstehung neuer Produkte und Dienstleistungen und zum Wachstum neuer Branchen. Radio, Telefon und Television werden kontinuierlich verbessert und für immer mehr Leute erschwinglich. In England, Amerika und in Deutschland werden unter dem Einfluss von Alan Turing die ersten, universell programmierbaren Computer gebaut – „elektronische Gehirne“, wie man sie nennt. Diese Maschinen dienen nicht mehr wie früher der Verstärkung von Muskelkraft, sondern der Intelligenzverstärkung. Es entstehen denkende Maschinen, die selbstständig Fertigungsstraßen von Automobilwerken bedienen. Autos, Flugzeuge, Schiffe und der Zugverkehr, aber auch die Raumfahrt werden mit Hilfe der Kybernetik weiterentwickelt und erreichen neue Leistungsniveaus. Die Lehre von Steuerung und Kommunikation beginnt sich weltweit auszubreiten. Nach den Amerikanern sind es die Russen, die sich die neue Wissenschaft zu Nutze machen. Der Sputnik-Schock von 1957 ist ein markantes Zeichen dafür, wie erfolgreich sie das tun. Gleichzeitig sorgt er im russenfeindlichen Amerika des Kalten Krieges für eine negative Konnotation des Wortes Kybernetik. Gerade weil die Russen diesen Begriff immer häufiger verwenden, entscheiden sich die Amerikaner für andere Begriffe wie Artificial Intelligence (AI) und Information Technology (IT), die jedoch die ursprüngliche Universalität des Begriffes und seine Interdisziplinarität aushöhlen. In den Subkulturen der späten 1960er-Jahre werden im westlichen Amerika Begriffe geprägt wie Cyborg, Cyberspace, Cybersex oder Cyberwar, die überhaupt nichts mehr mit der Idee der Kybernetik als Lehre von Steuerung und Kommunikation zu tun haben. Unabhängig von Begriffen führt die Kybernetik in der Nachkriegszeit aber zu einem technologischen und wirtschaftlichen Aufschwung, der bis heute anhält und in der aktuellen Digitalisierung und Vernetzung von Dingen im Rahmen der Industrie 4.0 ihren vorläufigen Höhepunkt findet. Die Realität hat die utopischsten Vorstellungen eingeholt. Es gibt immer wieder Phasen in der Entwicklung von Gesellschaften, in denen der Wandel besonders dramatisch ist. Es sind die großen Übergänge, die teilweise erst viel später durch die Brille des Historikers als solche erkannt werden. Die in den 1950er-­ Jahren einsetzende Erforschung von Information, Kommunikation und Steuerung läutet einen solchen großen Übergang ein. Neben Materie und Energie wird nun Information als dritte Grundgröße der Natur nutzbar gemacht und Kommunikation als Bindefaktor in Operationen wie auch in der Gesellschaft erkannt. Die Befassung mit der Materie hatte die Agrargesellschaft hervorgebracht und die Befassung mit Energie die Industriegesellschaft. Jetzt erleben wir die Entwicklung hin zur Informations- oder Wissensgesellschaft, wie sie auch gelegentlich genannt wird. In dieser Gesellschaft ist die systematische Nutzung von Information erfolgsentscheidend, und Wissen wird wichtiger als Kapital. Denn diese Gesellschaft wird durch Wissen verändert und durch Information gesteuert. Oder wie es McCulloch als Prinzip  ausgedrückt hat: „Power resides where information resides“ [3].

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Organisationen, die sich über Jahrhunderte hinweg  erfolgreich halten konnten, wie die katholische Kirche, politische Institutionen, das Militär oder selbst die Mafia, machen sich dieses Prinzip zu Nutze, seit sie existieren. Bereits der Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft und danach die beiden industriellen Revolutionen, in denen zuerst mittels Wasser- und Dampfkraft die Mechanisierung und dann mittels Elektrizität die Fließband- oder Massenfertigung eingeleitet wurden, waren von großen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Erschütterungen geprägt. Der aktuelle Übergang zur Informationsgesellschaft lässt uns ebenso große und vermutlich in Zukunft noch größere Turbulenzen spüren.1 Neue Technologien führen zu neuen Lösungen, die das Bestehende obsolet machen. Schumpeters Mechanismus der kreativen Zerstörung lässt ganze Branchen verschwinden und neue entstehen. Das sind die „Geburtswehen einer neuen Welt“, wie sie Fredmund Malik nennt. Er beschreibt die „Große Transformation 21“ als eine der größten Transformationen der Geschichte, die Wirtschaft und Gesellschaft je erfahren haben. Fast alles was wir tun, wie wir es tun und warum wir es tun wird sich in dieser Transformation verändern: Eine alte Welt vergeht und eine neue Welt entsteht [4]. Der obere Teil der Abb. 1.2 zeigt, wie sich durch Kybernetik und Informationstechnologie getrieben neue technische Lösungen, Produkte und Dienstleistungen in Form einer neuen S-Kurve ausbreiten und die alten Lösungen auf der unteren Kurve substituieren: Das Auto mit Verbrennungsmotor auf der unteren Kurve weicht der Elektromobilität auf der oberen Kurve und die Papier-Enzyklopädie weicht Wikipedia. Wie aber steht es um die Qualität der Organisationen, die das alles steuern sollen? Hat sich diese gleich schnell mitentwickelt? Oder stehen wir diesbezüglich nicht eher noch auf der unteren Kurve? Anwendung auf Organisationen (soziale Systeme) Die großen technischen Erfolge, die mittels Kybernetik erzielt werden, führen in den Köpfen der Menschen zu einer gewissen Gleichsetzung der Kybernetik mit Technik und in dieser Zeit auch zu einer gewissen unkritischen Technikgläubigkeit. Dies im Gegensatz zu den Bestrebungen der Teilnehmer der Macy-Konferenzen, welche die Kybernetik als disziplinübergreifende Wissenschaft von Steuerung und Kommunikation verstehen und die universelle Gültigkeit der „unifying principles“ hervorheben, wie sie einer Systemwissenschaft entsprechen. Erfolge und Fortschritte gibt es neben den technischen Anwendungen zwar auch in anderen Wissenschaftszweigen, sind aber dort für die Allgemeinheit weniger sichtbar. 1959 erscheint das Buch „Cybernetics and Management“ [5]. Dessen Autor Stafford Beer wendet darin die Lehre von Steuerung und Kommunikation erstmals auf soziale Systeme an, also auf alle Arten von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Institutionen: Wie kann ein Manager in einer komplexen, sich ständig verändernden Umwelt trotz un Der Übergang zur Informationsgesellschaft wird auch als dritte und vierte industrielle Revolution bezeichnet. Er basiert auf der Kybernetik und den damit verbundenen Fortschritten in der Informationstechnologie, die zur weiteren Automatisierung (Industrie 3.0) und zur Digitalisierung und Vernetzung (Industrie/Wirtschaft 4.0) führte.

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Abb. 1.2  Von der alten in die neue Welt

genügender Information Ziele erreichen? Wie muss er seine Organisation gestalten, damit sie verlässlich und auf Dauer funktioniert? Beer ist seiner Zeit weit voraus, denn in den 1960er-Jahren sind Führungskräfte im Allgemeinen noch davon  überzeugt, dass Erfahrung, Talent und Bauchgefühl den Erfolg ausmachen und Wissenschaft wohl in der Technik gebraucht wird, aber im Management wenig verloren hat. Komplexität und Dynamik sind noch kein Thema, und die Führung der noch vergleichsweise einfachen Organisationen kommt auch ohne Kybernetik zurecht. Nachdem Beer bereits mit 17 Jahren die Schule verlassen hatte, um an einer englischen Universität zu studieren, wird er im Zweiten Weltkrieg zum Militär eingezogen und als Kommandant der 9th Gurkha Rifles, einer britisch-indischen Elite-Truppe, nach Indien geschickt. Im Krieg befasst er sich mit Fragen des Operations-Research: Der wissenschaftlichen und interdisziplinären Lösung praktischer Probleme. Nach dem Krieg wird er „Head of Operations-Research und Production Control“ eines Stahlwerks in Sheffield, UK und später „Head of Management Science“ bei United Steel, für die er als eine der ersten Firmen in den Fünfzigerjahren einen Computer installiert, einen Ferranti Pegasus. Gleichzeitig vertieft er sich in verschiedene Wissenschaftsgebiete.

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Beer ist erst 22 Jahre alt, als 1948 Wieners „Cybernetics“ erscheint. Er erkennt mit Freude, dass er sich selbst als Kybernetiker verstehen darf und nimmt Kontakt mit Wiener auf. Kurz darauf wird er von McCulloch in den Zirkel der Wunderkinder der Macy-­Konferenzen aufgenommen. McCullloch besucht Beer in Sheffield und ist von dessen Anwendungen der Kybernetik auf Management so begeistert, dass er zu seinem persönlichen Mentor wird. Später wird Beer „Development Director“ in einem der damals weltweit größten Verlage, der IPC International Publishing Company. Er fängt an, über Management-­Kybernetik zu publizieren, leitet ein großes Beratungsunternehmen und berät Top-Manager und Regierungen. Er ist die seltene Kombination eines erfahrenen Praktikers, der die Welt und die Realitäten des Managers kennt, und eines herausragenden Wissenschaftlers. Sein primäres Interesse gilt der Frage, wie Organisationen strukturiert sein müssen, damit sie funktionieren – egal wie komplex sie sind. cc

Cybernetics is the science of effective Organization … of which management is the profession. (Stafford Beer)

Gegen Ende der 1960er-Jahre wird dieser Ansatz von der HSG Hochschule St. Gallen für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in der Schweiz aufgegriffen und zur Grundlage des St. Galler Management Modells, welches ihr europaweit einen hervorragenden Ruf bereiten wird. Ein kleines, praxisnahes Team von Wissenschaftlern, darunter Walter Krieg, Fredmund Malik, Gilbert Probst u. a., sucht unter der Leitung von Professor Hans Ulrich nach den Grundlagen für den Umgang mit dem, was sich für den Praktiker immer deutlicher als schwierigstes Problem herausstellt: das Navigieren ins Unbekannte, der Umgang mit Unerwartetem und das Entscheiden in Ungewissheit, also die Konfrontation mit Komplexität und Dynamik in all ihren Erscheinungsformen. Auch sie finden diese Grundlagen nicht in den Fächern der Betriebs- und Volkswirtschaftslehre, sondern neu in den Systemwissenschaften und in der Kybernetik. So wie die Medizin die Wissenschaft für den Beruf des Arztes ist, wird die Kybernetik zur Wissenschaft für den Beruf des Managers. Sie wird in St. Gallen zur Lehre und Praxis einer funktionierenden Gesellschaft und ihrer Organisationen, die die Wirtschaft umfassen, aber darüber hinausgehen. Es geht um das Funktionieren komplexer, produktiver, sozialer Systeme [6]. Das St. Galler Management Modell wird von der Praxis sehr gut aufgenommen, denn es kommt den Herausforderungen ihres Alltags näher als das, was die Führungskräfte von der klassischen Betriebswirtschaftslehre her kennen. Die Idee, dass das Kernproblem von Management im Meistern von Komplexität besteht, fällt in Europa grundsätzlich auf fruchtbaren Boden. Sie entspricht dem Charakter Europas mit seiner großen Vielfalt an Kulturen und Regulierungen. Auch in Amerika wird Kybernetik vereinzelt auf Management angewandt. Beispielsweise überträgt Peter Drucker 1954 das Prinzip von Feedback und Selbst-Steuerung mit „Management by Objectives and Self-Control“ in die Praxis [7]. Dennoch bleibt der anfängliche Erfolg der Kybernetik in sozialen Systemen ganz im Unterschied zu den technischen Systemen ein eher lokales Phänomen.

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Wirtschaft 4.0 mit Organisation 2.0 führt zu Turbulenzen Um die Jahrtausendwende ist der Stand der Technik mit der Wirtschaft 4.0 und der fortschreitenden Digitalisierung und Vernetzung auf der oberen S-Kurve bereits weit fortgeschritten. Was jedoch fehlt, ist der entsprechende Fortschritt in der Gestaltung sozialer Organisationen. Diese bleiben eher nach einem Modus 2.0 gestaltet, hinken in ihrer Leistungsfähigkeit hinterher, sind zu träge, zu ineffizient, zu teuer, und sie steuern noch immer über Autorität und Macht statt über Information. Sie sind auf der unteren S-Kurve stecken geblieben (vgl. Abb. 1.2). Die soziale Entwicklung hinkt der technischen Entwicklung um mindestens zwanzig Jahre hinterher. Die Herausforderungen der neuen Welt sollen also von Organisationen gemeistert werden, die selber noch aus der alten Welt stammen. Und so stolpern wir von der einen Krise in die nächste. Der rasante technische Fortschritt führt zu immer höheren Ebenen des Funktionierens in Form von noch mehr Leistungsfähigkeit, Komplexität und Dynamik, und die Geschwindigkeit nimmt zu. Das überfordert die Organisationen, wenn sie nicht selber eine höhere Ebene des Funktionierens erreichen. Auch die Turbulenzen der technologischen Substitution setzen sie unter Druck: Firmen versuchen in neuen Märkten Fuß zu fassen oder kämpfen in gesättigten Märkten um Marktanteile und Renditen, die ebenso rasch verschwinden, wie neue Märkte entstehen. Die Firmen müssen neben Technologien, Kunden und Lieferanten auch immer mehr Anspruchsgruppen und Regulierungen im Auge behalten. Viele kommen dabei an ihre Leistungsgrenze. Die globale Vernetzung wird zu einer zusätzlichen Herausforderung. Was 2008 mit dem Grounding der Lehman Brothers als Bankenkrise beginnt, entwickelt sich zur internationalen Finanzkrise, und da die Finanz- und Realwirtschaft über die Schulden miteinander verbunden sind, schnell auch zu einer Wirtschaftskrise. Am Schluss wird eine Systemkrise daraus, weil einzelne Banken und ganze Staaten den Schlamassel nicht aus eigener Kraft bewältigen können und auf Hilfe angewiesen sind. Und die Zeichen stehen noch immer auf Sturm. Die eigentliche Krise, die alldem zu Grunde liegt, ist die Krise unserer Organisationen. Sie nutzen die Prinzipien des Funktionierens und die Rezeptur des Gelingens nicht, die in der Technik zum Entwicklungsschub geführt haben. Sie haben noch nicht nachgezogen. Auch Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen scheinen mit den großen He­ rausforderungen unserer Zeit nicht mehr klarzukommen: Der massiven Verschuldung (obwohl wir in den vergangenen 70 Jahren hauptsächlich auf wirtschaftliche Schönwetterlage zurück blicken), der Wirtschaftssituation mit negativen Zinsen, den Migrationsproblemen, dem Klimawandel, dem Terrorismus, der sich weiter öffnenden Schere zwischen Arm und Reich und den demografischen Herausforderungen. Gemeinsames, grenzüberschreitendes Lösen von Problemen scheint immer schwieriger zu werden, so dass der amerikanische Präsident 2018 gar das Ende der Globalisierung voraussagt. Energische Reformen werden gefordert, damit rund um den Globus nicht bald jeder nur noch für sich selbst sorgt. Auch UNO-Generalsekretär António Guterres zeichnet im gleichen Jahr ein düsteres Bild der Welt. Die UNO, Verkörperung einer multilateralen Weltordnung, die auf Regeln und Recht statt auf Macht basiert, stecke tief in der Krise. Den Grund dafür sieht er im schwindenden Glauben der Menschen an internationale Lösungen für ihre Probleme. Bürger und Regie-

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rungen setzen vermehrt auf nationale Rezepte, auf Alleingänge und auf populistische Antworten. Er diagnostiziert einen akuten Fall von Vertrauensstörung gegenüber internationalen Institutionen [8]. Große Abkommen zerfallen und der Nationalismus erlebt eine neue Blüte. Nicht weil die Nationen besser funktionieren als die übergeordneten, internationalen Institutionen, sondern weil sie es gerade nicht tun und ihnen ihre eigenen, ungelösten Probleme und Missstände näher liegen als die komplexeren, übergreifenden Probleme. Erstmals seit dem letzten großen Krieg scheint die Welt wieder aus den Fugen und die Organisationen international und national mehr oder weniger „Out of Control“ zu sein. Wie gelingt es uns, das Leistungslevel der sozialen Systeme ebenfalls auf die obere S-Kurve und damit auf das Leistungslevel der Technologie zu bringen – damit die Technik schließlich dem Menschen dient und nicht umgekehrt? Denn die Angst der Menschen vor der Technik hängt mit ihrer berechtigten Befürchtung zusammen, dass unsere Institutionen nicht in der Lage sein werden, diese zu kontrollieren. In der Praxis herrscht eine gewisse Rat- und Orientierungslosigkeit. Es gibt grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Entweder wir holen mit noch besseren Führungskräften das Maximum aus den bestehenden Organisationen heraus, oder wir geben den Führungskräften die wir haben leistungsfähigere Organisationen an die Hand. Obwohl, oder gerade weil in solchen Situationen immer wieder der Ruf nach wahren Leadern erklingt, scheint die zweite Variante die realistischere zu sein. Organisationen müssen die Arbeit nicht erschweren; sie können sie auch erleichtern, wenn sie richtig gestaltet sind. Die Organisation rückt deshalb seit einigen Jahren wieder ins Interesse der Führungskräfte, und wir erleben derzeit so etwas wie eine Wiedergeburt des Organisierens [9]. Man beginnt nach neuen Lösungen zu suchen, und so treiben bald neue Organisationsformen als aktuelle Modewellen durch die Wirtschaft. Sie versuchen bessere Rahmenbedingungen für den Wissensarbeiter im dynamischen Umfeld zu schaffen und enthalten die immer wieder neu aufflackernde und ideologisch besetzte Idee der Hierarchiefreiheit, und damit das ungelöste Problem von Autonomie versus Kohäsion. Metamorphose anstatt „mehr desselben“ Eine einigende und klärende Organisationstheorie gibt es indes nicht. Vieles, was mit den neuen Modellen propagiert wird, funktioniert zwar in der einen Organisation, aber in der anderen nicht, oder es funktioniert im kleinen Maßstab, aber nicht in einem Unternehmen mit 200.000 Mitarbeitern. Es wird am falschen Ort nach neuen Lösungen gesucht, denn der gemeinsame Nenner aller Organisationen liegt weder in ihrer Größe, ihrem Charakter, noch in ihrer Branche, und schon gar nicht in ideologischen Fragen, sondern in ihrer Komplexität: Wie sie entsteht und wuchert und wie man Information zu ihrer Beherrschung einsetzt. Von dieser Frage sind alle Unternehmen gleichermaßen betroffen, denn Komplexität und Information sind das Kernthema und die Substanz modernen Managements, ebenso wie es die physische Materie und die Energie waren, mit denen unsere Vorväter zu kämpfen hatten, die den Pferdepflug und die Dampfmaschine erfanden. Und damit ist die Kybernetik als Lehre von Steuerung und Kommunikation der Ort, an dem man fündig wird, denn die Bedeutung von Information ist im Bereich des Managements

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ebenso relevant wie im Bereich der Technik. Für das Funktionieren moderner Organisa­ tionen stehen die Informationsströme im Vordergrund und nicht mehr die Waren- oder Finanzströme. Deshalb müssen die universellen Prinzipien von Steuerung und Kommunikation auch auf Management angewandt werden. Wir befolgen sie erfolgreich im technologischen Bereich, aber in unseren sozialen Systemen lassen wir sie sträflich außer Acht. Die Gesetze ordnender Kräfte sind dennoch die gleichen, und es lohnt sich, sie zu studieren. Solange wir versuchen, unsere Managementsysteme ohne die Erkenntnisse kybernetischer Steuerung zu verbessern, bleiben wir beim Prinzip „mehr desselben“ – doch wie Einstein schon sagte: Die Probleme können nicht mit denselben Methoden gelöst werden, die sie verursacht haben. Die Organisationsmethoden aus dem 20. Jahrhundert eignen sich nur beschränkt für die Probleme des 21. Jahrhunderts. Menschen wollen keine Reorganisationen, wenn sie damit nicht mehr erreichen können, als Verantwortlichkeiten herumzuschieben. Wir brauchen nicht noch ein neues Organisationsmodell mit mehr desselben, sondern einen echten Sprung in eine neue Dimension des Funktionierens. Wir brauchen etwas, das über das Bisherige hinausgeht. Eine Metamorphose ist nötig. Wenn wir den Organismus als Metapher verwenden, könnte man sagen, dass mit den Organigrammen die Anatomie gestaltet wurde (Organisation 1.0) und mit den Geschäftsprozessen die Physiologie (Organisation 2.0). Damit sind wir weit gekommen, aber das genügt heute nicht mehr. In der neuen Welt des Informationszeitalters muss jetzt die Neurologie gestaltet werden – die Organisation von Steuerung und Kommunikation, und damit die Führung des Ganzen. Das ist die dritte Dimension des Organisierens. Ohne Neurologie keine Komplexitätsbewältigung. Es geht um die informative Verknüpfung und Verschränkung des Gesamtorganismus inklusive seiner Umwelt. Die alten Denkweisen und Methoden haben sich damit nicht erübrigt. Aber ohne die dritte Dimension können unsere Organisationen mit den Turbulenzen der Wirtschaft und Gesellschaft nicht mehr mithalten, ja sie verursachen sie sogar teilweise selbst. Wir sprechen also nicht von ein paar ausgefeilten, organisatorischen Tricks, sondern von einer Revolution im organisatorischen Denken. Die Lehre von der Steuerung und Kommunikation, die den technischen Fortschritt hin zur Wirtschaft 4.0 ermöglicht hat, verändert die Welt ein zweites Mal im Bereich der Steuerung sozialer Systeme. cc

Communication is the binding factor in societies as in operations. (Norbert Wiener)

Welches Unternehmen und welche Institution kann von sich behaupten, dass Steuerung und Kommunikation gut funktionieren? Wir werden vermutlich in den nächsten zwei bis drei Jahrzehnten während der turbulenten Phase der Geburtswehen der neuen Welt noch manche Organisation sehen, die mit einem zu trägen oder zu komplizierten Steuerungssystem gegen die Wand fährt. Selten gibt es außerdem eine Organisation, in der die Kommunikation nicht ein Dauerbrenner-Thema wäre. Sie wird meistens als Kulturfrage oder als zwischenmenschliches Thema verstanden – und dann breitet sich gleich Ratlosigkeit

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aus, weil man hier bereits alles ausprobiert hat. Kommunikation und auch andere vermeintliche Kulturprobleme sind aber eher Symptome für ein schlechtes Steuerungssystem. Die grundsätzlichen Kommunikationsprobleme liegen nicht im Zwischenmenschlichen, sondern an der falschen Verkabelung des Nervensystems der Organisation. Wird die Verkabelung geflickt, lösen sich viele Probleme in Luft auf. Das heißt aber auch, dass man Steuerung und Kommunikation organisieren muss. Wie macht man das? Die dritte Dimension des Organisierens Wir erinnern uns: Wiener und McCulloch haben an der Maschine für Blinde entdeckt, dass gewisse Funktionsprinzipien gleichermaßen in der Maschine wie auch im Organismus gelten. Sollte es dann nicht möglich sein, vom Organismus auch zu lernen, wie man eine leistungsfähige Steuerung gestaltet? Immerhin ist das eigene Nervensystem das leistungsfähigste Control-System, das der Mensch kennt. Diese Frage stellt sich Stafford Beer in den 1960er-Jahren. Nach etwa zehnjähriger Forschung stellt er 1972 im Buch „Brain of the Firm“ der Welt sein Modell für Control and Communication in einem sozialen System vor, das „Viability“ (Lebensfähigkeit) ermöglicht [10]. Viability ist dabei weit mehr als „Agility“, die selber nur eine von vielen anderen Eigenschaften ist, die eine in der dritten Dimension richtig gestaltete Organisation hervorbringt. Beer zeigt, wie das Nervensystem des Unternehmens gestaltet werden muss, so dass Anatomie und Physiologie selbst dann funktionieren, wenn es normal ist, dass sich vieles immer wieder ändert und schnell darauf reagiert werden muss. Er erklärt, wie ein Unternehmen steuerbar bleibt, wenn es komplexer wird und welche Steuerungs- und Kommunikationskanäle dazu auf welche Art zu organisieren sind. Was sein Modell besonders interessant macht, ist erstens die Anwendbarkeit auf jede Art von Organisation, ob groß oder klein, ob Verwaltung, Wirtschaft, Verein oder Großprojekt. Zweitens beinhaltet es die notwendigen und hinreichenden Elemente, die nötig sind, damit eine Organisation funktioniert. Es beschreibt alle relevanten Steuerungselemente und -zusammenhänge in einem Modell und enthält das, was es wirklich braucht, aber auch nicht mehr als das. Bis jetzt ist es das weltweit einzige, generische Modell für Steuerung und Kommunikation in einem sozialen System und damit der einzige Einstieg in die dritte Dimension des Organisierens. Das sogenannte „Viable System Model“ (Modell Lebensfähiger Systeme) hat sich in den ersten Jahrzehnten primär im Bereich der Wissenschaft etabliert, wo es weltweit getestet und diskutiert wurde. In über 100 Büchern wurde darüber publiziert. In der Praxis hingegen stieß das Modell anfänglich nur auf bescheidenes Interesse. Im ausgehenden letzten Jahrtausend war die ansteigende Komplexität zwar bereits sichtbar, aber die Gestaltung eines leistungsfähigen Nervensystems war kein Thema, das Führungskräfte beschäftigte. Jetzt im neuen Jahrtausend, wo die Steuerungs- und Kommunikationsprobleme in allen Arten von Organisationen augenfällig werden, wird das Modell erst wirklich re­ levant. Wo es in der Praxis angewandt wurde, um damit Organisationsstrukturen zu dia­ gnostizieren und zu gestalten, hat man damit präzise und schnelle Resultate erzielt. Dauerbrenner-­Fragen des Organisierens wurden gelöst und organisatorische Pathologien aufgedeckt, die man oftmals überhaupt erst durch die Brille des Viable System Models

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erkannt hatte. Das Interesse der Praktiker am Viable System Model wächst im neuen Jahrtausend sehr schnell. Und mit der zunehmenden Praxiserfahrung und dem steigenden Interesse an neuen Organisationslösungen erscheinen auch die ersten Bücher und Referenten an internationalen Konferenzen, die über die Praxisanwendungen berichten. Die Zutaten sind nun zum ersten Mal alle vorhanden: Ein zunehmendes, weltweites Control-Problem auf allen Ebenen und in allen Arten von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Organisationen, die Suche nach neuen Lösungen, ein Modell, das sich in der Praxis wie auch im wissenschaftlichen Diskurs bewährt hat, und die Technologie, um es zum Leben zu erwecken. Jetzt, da alle Voraussetzungen da sind, wird es Zeit, den Vorsprung der Technologie aufzuholen. Mit besser funktionierenden Organisationen eröffnen wir uns die realistische Chance, eine besser funktionierende Gesellschaft zu gestalten. Wir sind nicht am Ende, sondern am Anfang unserer Möglichkeiten. Es ist Zeit, die Erkenntnisse der Kybernetik, die die Technologie so weit gebracht haben, auch auf die sozialen Systeme anzuwenden. Es ist Zeit für den Schritt in die dritte Dimension des Organisierens. Also, starten wir …

Literatur 1. Wiener, Norbert. 1948. Cybernetics: Or control and communication in the animal and the machine, 2. Aufl., 22 ff., 133 ff. Cambridge, MA: MIT Press. 2. Wiener, Norbert. 1948. Cybernetics: Or control and communication in the animal and the machine, 2. Aufl. Cambridge, MA: MIT Press. 3. McCulloch, Warren. 1965. Embodiments of mind. Cambridge, MA: MIT Press. 4. Malik, Fredmund. 2011. Strategie. Navigieren in der Komplexität der neuen Welt, 23 ff. Frankfurt/New York: Campus. 5. Beer, Stafford. 1959. Cybernetics and Management. London: The English Universities Press. 6. Ulrich, Hans. 1968. Gesammelte Schriften. Band 1–5. Bern/Stuttgart/Wien: Haupt. 7. Drucker, Peter. 1954. The practice of management. New York: Harper & Row. 8. SFR, Echo der Zeit. 2018. Ein akuter Fall von einer Vertrauensstörung (25.09.2018). https://www. srf.ch/news/international/trump-vor-der-uno-ein-akuter-fall-von-einer-vertrauensstoerung. Zugegriffen am 25.09.2019. 9. Pfiffner, Martin. 2010. Die Wiedergeburt des Organisierens. M.o.M.  Malik on Management 18(2/10): 20–38. 10. Beer, Stafford. 1972. Brain of the Firm, 2. Aufl. Chichester/New York/Brisbane/Toronto/Singapore: Wiley.

Teil I Notwendigkeit und Nutzen der dritten Dimension

There are many possible manifestations. There is one cybernetic solution. (Stafford Beer)

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Einführung

2.1

Der Bedarf an guten Strukturen

Wir leben heute in einer Welt von Organisationen. In einer modernen Gesellschaft passiert nichts, ohne dass nicht mindestens eine, normalerweise aber viele teils in Lieferketten miteinander verbundene Organisationen daran mitwirken. Die gesamte Privatwirtschaft, aber auch Gemeinden, Vereine, Spitäler, Bildungsinstitutionen, Ministerien und Regierungen oder supranationale Institutionen wie die EU oder die UNO, bestehen aus mehr oder weniger komplexen Organisationen, die mehr oder weniger gut funktionieren. Wir sind persönlich unmittelbar von der Qualität der vielen Organisationen betroffen, mit denen wir jeden Tag zu tun haben: Wir leben in einer Familienstruktur, in einer Gemeinde, arbeiten in einer Firma und haben dort mit Lieferanten und Kunden zu tun, und wir verbringen unsere Freizeit in Vereinen wie dem Fußballklub und anderen Institutionen wie der freiwilligen Feuerwehr. In allen Lebensbereichen, ob wir krank sind, ausgebildet werden, reisen, essen oder uns vergnügen, sind zahlreiche Organisationen an den Vorgängen beteiligt. Damit wird klar, dass das Funktionieren einer modernen Gesellschaft und unsere täglich gefühlte Lebensqualität direkt vom Funktionieren dieser Organisationen abhängt. Wir freuen uns, wenn sie funktionieren, und wir ärgern uns auch jeden Tag über die Dinge, die eben nicht funktionieren. Das war nicht immer so. Noch vor hundert Jahren wurde vieles von den Menschen selbst erledigt  – auch in den Industrienationen. Wer sich zum Abendessen eine Suppe kochen wollte, hat sich das Gemüse dazu hinter dem Haus geholt und mit Holz aus dem eigenen Wald den Ofen angefeuert. Danach hat man Dinge geflickt, gelesen, Karten gespielt oder zusammen musiziert. Man hat alles selber gemacht. Heute sind an einem gemütlichen Abend zu Hause dutzende von Organisationen in irgendeiner Form beteiligt: Der Gemüsehändler und seine gesamte, bis ins Ausland reichende Lieferkette, das Elektrizitätswerk, das Fernsehen und die Organisationen, die die Sendungen produzieren, und so weiter. Noch vor

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Pfiffner, Die dritte Dimension des Organisierens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29247-8_2

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2 Einführung

hundert Jahren mussten nicht viele Menschen organisieren, und vieles funktionierte auch ohne explizite Organisation. Wenn wir in der Geschichte nochmals ein paar hundert Jahre weiter zurück gehen, waren am Ende die Kirche, der Staat und das Militär die einzigen großen Organisationen überhaupt. Sie wurden von den klügsten und talentiertesten Köpfen der Gesellschaft gestaltet. Das Organisieren war ein Thema weniger Leute. Im Laufe der Zeit ist das Organisieren ein Thema vieler Leute geworden. Heute muss praktisch jede Führungskraft etwas organisieren, sei es ein Team, ein Projekt, eine Abteilung, eine Division, ein Geschäft oder einen ganzen Konzern. Die Qualität der Organisationen spielte lange Zeit keine entscheidende Rolle, weil gute Führungskräfte fast jede organisatorische Schwäche weitgehend kompensieren konnten. Sie machten ein paar Überstunden mehr, ordneten ein paar zusätzliche Sitzungen an, führten vielleicht etwas autoritärer und trugen ein paar zusätzliche Konflikte aus. Heute können wir es uns hingegen kaum noch leisten, Managementkapazität auf das Kompensieren organisatorischer Schwächen zu verwenden. Im heutigen, kompetitiven Umfeld muss sich die volle Aufmerksamkeit der Führungskräfte und ihre volle Kraft auf das Geschäft und auf die Kunden richten. Damit wird die Organisation zum Flaschenhals: Macht sie es den Menschen einfach oder schwer, erfolgreich zu sein? „Eine gute Organisation lässt die Leute ihren Job tun“ soll Alfred P. Sloan gesagt haben, der als Präsident die General Motors Corporation (GM) zu einer der weltweit größten Firmen des letzten Jahrhunderts gemacht hatte, denn bereits damals waren viele Organisationen eher Arbeitsverhinderungs-Maschinen. Sie generierten viel Aufwand für Dinge, die wenig mit dem zu tun hatten, wofür die Leute eigentlich bezahlt wurden. Mit steigender Komplexität und Dynamik der Umwelt ist es noch schlimmer geworden, weil die Organisationen selber immer komplexer werden mussten. Der Druck und die Anforderungen steigen. Wir haben uns daran gewöhnt, dass Führungskräfte ein besonders dickes Fell brauchen, um die Spannungen im Arbeitsleben auszuhalten, dass sie zahllose Überstunden machen, die Wochenenden für die Firma opfern, ihre Familien und am Ende ihre eigene Gesundheit zu Gunsten des Jobs vernachlässigen, und wir scheinen das inzwischen als gegeben zu betrachten. Mit Disziplin und einer guten Arbeitsmethodik lassen sich zwar oft noch persönliche Produktivitätsreserven mobilisieren. Aber am Ende stellt sich doch die Frage, ob das alles wirklich so sein muss? Wäre es nicht möglich, die Organisationen so zu bauen, dass es wieder einfacher wird, erfolgreich zu sein? Inzwischen ist das Organisieren bei Führungskräften, die dieses Thema bislang eher an Stabsabteilungen und Fachexperten delegiert haben, zurück ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. In den Jahrzehnten davor hatte man sich anderen General-Management-Themen zugewandt: Der Strategie, den Kosten, der Corporate-Governance, den Finanzen oder der Kultur und der Wirksamkeit von Führungskräften. In den nächsten zehn bis zwanzig Jahren könnte das Organisieren aber sogar zum wichtigsten Gestaltungselement und zum Schlüsselthema im Top-Management werden, denn hier liegen die größten Schwachstellen in den Unternehmen, oder anders gesagt, die größten Potenziale für die Verbesserung ihrer Wirksamkeit und die größten Leistungs- und Kapazitätsreserven. Die Organisation ist von zentraler Bedeutung für die Ausrichtung des Unternehmens

2.2  Aufbau- und Ablauforganisation stoßen an ihre Grenzen

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auf den Kunden und damit den Gewinn von Marktanteilen, für die Gestaltung der Produktivität, der Innovationskraft, der Attraktivität für gute Leute und für die Profitabilität des Ganzen. Nachdem man sich jahrzehntelang nicht mehr mit Organisationsfragen beschäftigt hatte, ist sowohl der Bedarf als auch die Möglichkeit für neue und bessere Lösungen hier am größten. Führungskräfte erkennen, dass sie sich selber um dieses Thema kümmern müssen und es nicht mehr delegieren dürfen, genauso wenig, wie sie ihre Strategie einer Stabsabteilung überlassen. Der Wettbewerb wird nicht mit noch besseren Führungskräften gewonnen, denn davon werden wir für unsere zahllosen Unternehmen immer zu wenig haben, sondern mit der besseren Freisetzung und Nutzung des bestehenden Potenzials durch besser funktionierende Organisationen mit weniger Reibungsverlust und höherem Wirkungsgrad. Für die richtige Gestaltung dieser Organisationen dürfen wir uns dabei nicht abhängig machen von Erfahrungen aus vergangenen Dekaden, und es gibt auch nicht genügend Organisationstalente in unserer Welt. Wir müssen auf Systematisierung und Methode bauen.

2.2

Aufbau- und Ablauforganisation stoßen an ihre Grenzen

Im Wesentlichen organisieren wir heute immer noch nach dem gleichen Muster, wie wir es bereits vor 100 Jahren getan haben: Wir zeichnen Organigramme. Ich nenne dieses Muster „Organisation 1.0“ und meine damit den Fokus auf die Aufbauorganisation. Im Jahr 1855 entwarf der Eisenbahnmanager Daniel McCallum das wohl erste moderne Organigramm für eine amerikanischen Eisenbahngesellschaft. Außerdem war McCallum Generalmajor der Union im Sezessionskrieg. Mit Hilfe von Organigrammen hatte er damals die Logistik der Nordstaaten per Eisenbahn organisiert, die in militärischen Operationen kriegsentscheidend sein kann: „Ohne Mampf kein Kampf“. Etwa 50 Jahre später entstand der Begriff „Organizational Chart“ und ab 1920 breitete sich das Organisieren per Organigramm in der Geschäftswelt aus – mehr oder weniger so, wie wir es auch heute immer noch tun. Außerdem begann man sich mit der effizienten Gestaltung von Produktionsabläufen, der Automatisierung und Fragen der Massenfertigung zu befassen. Im Zuge von Taylors „scientific management“ und Fords Erfolgen in der Fließbandfertigung wurden Prozesse systematisch optimiert. Später in den 1950er- und 60er-Jahren entstanden mit der Human-Relations-Bewegung, basierend auf den Hawthorne-Experimenten von Elton Mayo und den motivationstheoretischen Ansätzen von Abraham Maslow und Dou­ glas McGregor, Theorien um die Fragen von Mitarbeiterführung und Verhaltensbeeinflussung, die aber hauptsächlich akademischer Natur blieben. Auch andere Ansätze wurden in dieser Zeit an den Universitäten entwickelt. Sie haben sich in der Führungskräfteausbildung niedergeschlagen und zur modernen Personalwirtschaftslehre geführt. Wenig davon hat aber Eingang in die Praxis des Organisierens gefunden. In den 1970er-Jahren ist die Matrix-Organisation aufgekommen, die zwar eine große Verbreitung in der Wirtschaft erfuhr, jedoch im Wesentlichen auch nur das alte Organisieren mit Organigrammen war, nun einfach in zwei oder noch mehr Dimensionen.

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2 Einführung

In den 1990er-Jahren richtete sich mit dem Business Process Reengineering die Aufmerksamkeit erneut auf die Ablauforganisation und die Prozesse, und es begann eine Phase, die ich „Organisation 2.0“ nenne. Im Gegensatz zur herkömmlichen Geschäftsprozess-Optimierung, die bereits im Taylorismus und Fordismus genutzt wurde, ging es den Vordenkern Michael Hammer und James Champy nun um die Frage, wie man Prozesse grundsätzlich neu denken und gestalten kann, jetzt wo jedes Unternehmen über Computer und Informationstechnologie verfügt [1]. Man betrachtete die Unternehmen nicht mehr hierarchisch, sondern in einem um 90 Grad gedrehten Blickwinkel als End-to-­ End-Prozess vom Kunden – hin zum Kunden. Das Process Reengineering hat sich weit verbreitet, und so werden in fast jeder Organisation heute Prozesse auseinandergenommen, analysiert und neugestaltet. Die Systematik dazu ist weit entwickelt. Mit weiteren Methoden wie Kaizen, KVP, oder Six Sigma wurde die kontinuierliche Optimierung der Ablauforganisation sogar selbst zum Prozess gemacht. Im Vordergrund standen die Verbesserung von Qualität, Kosten und Zeit von Geschäftsprozessen. Im Vergleich mit den Themenbereichen Governance, Strategie, Kultur und Führung, in denen viel publiziert wurde, oder im Vergleich mit Fachbereichsthemen wie Finance, Marketing oder Recht, wurde über die richtige Organisation eines Unternehmens als Ganzes bis vor wenigen Jahren hingegen fast nichts Neues mehr publiziert. Die Praxis orientiert sich nach wie vor primär an den alten Vorgehensweisen. Aufbau- und Ablauforganisation scheinen genügend erforscht und praktisch ausprobiert zu sein. Aber werden wir die neuen Probleme wirklich mit noch besseren Aufbau- und Ablauforganisationen in den Griff ­bekommen – nachdem wir diese beiden etablierten Dimensionen schon seit Jahrzehnten kontinuierlich optimiert haben? Ein wirklich wesentlicher Fortschritt im Organisieren ist damit nicht in Sicht. Wenn wir bedenken, wie viele Milliarden für das Design von Produkten und Dienstleistungen ausgegeben werden, ist es doch erstaunlich, wie wenig Aufwand betrieben wird für das Design der Organisationen, die diese Produkte und Dienstleistungen hervorbringen. Wir verharren in den Dimensionen Organisation 1.0 und Organisation 2.0. Das wäre durchaus in Ordnung, wenn die Führungskräfte mit ihren Organisationen zufrieden wären. Es gibt jedoch vier Symptome, darauf hindeuten, dass dem überhaupt nicht so ist. Kaum einer ist zufrieden Wenn man die Führungskräfte fragt, ob bei ihnen das Unternehmen eher „wegen“ oder eher „trotz“ der Organisation funktioniert, ziehen die meisten die Augenbrauen hoch und machen ein Gesicht, wie wenn sie einen Außerirdischen vor sich hätten: „Gott sei Dank funktioniert es bei uns auch trotz der Organisation. Wir haben Organisationshandbücher und Prozessbeschreibungen, aber da schaut eigentlich niemand rein. Wenn die Organisation uns Barrieren in den Weg stellt, umgehen wir sie. Regeln und Dienstwege sind da, um umgangen zu werden. Ohne ein gesundes Maß an Pragmatismus überlebt bei uns keiner.“ Die „gute Organisation“ scheint es im wirklichen Leben nicht zu geben, nur schlechte und weniger schlechte. So gewöhnt man sich an die Schwächen der eigenen Organisation, findet sich mit ihnen ab, lernt damit umzugehen, und kommt mit etwas dicker Haut und

2.2  Aufbau- und Ablauforganisation stoßen an ihre Grenzen

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einem guten internen Netzwerk über die Runden. Kaum einer ist zufrieden, viele glauben, bereits alles ausprobiert zu haben, und einige geben die Hoffnung nach besser funktionierenden Lösungen bereits auf. Dienst nach Vorschrift als Drohung Der „Dienst nach Vorschrift“ ist zur beliebten Drohung von Betriebsräten geworden. Das ist eine paradoxe Situation, denn es wird damit gedroht, genauso zu arbeiten, wie es organisatorisch vorgesehen ist! Jeder erfahrenen Führungskraft stellen sich die Nackenhaare auf, wenn sie diese Drohung hört. Sie weiß: Wenn das passiert, funktioniert bei uns gar nichts mehr. Wenn Dienst nach Vorschrift geleistet wird, steht die Organisation still. Es fahren dann keine Züge mehr, die Lastwagen kommen zu spät an, Flugzeuge bleiben an den Flughäfen stehen und Patienten sterben in den Spitälern. Das ist ein Symptom dafür, dass die organisatorischen Elemente wie Organigramme, Stellenbeschreibungen, Prozessbeschreibungen, oder Regelwerke die Realität des Geschäftes im Alltag nicht genügend abbilden und unterstützen. Oftmals wird versucht, der wachsenden Komplexität des Geschäftes mit noch mehr Regelwerken und Standardisierungen zu begegnen. Das stellt sich bald als Holzweg heraus. Die Menschen sind es sich gewohnt, mit Logik und gesundem Menschenverstand mit ungeplanten Situationen umzugehen und Probleme selber zu lösen. Das ist der Grund, warum Züge trotz allem pünktlich fahren, Lastwagen rechtzeitig ankommen, Flugzeuge abheben und Patienten überleben. Die Organisation ist dabei oftmals eher eine Erfolgsbarriere. „Organisitis“ als chronische Erkrankung [2] Es scheint fast schon ein Reflex vieler Führungskräften zu sein: Sobald sie einen neuen Job haben, reorganisieren sie erst einmal. Vielleicht, weil es hier am einfachsten ist, etwas zu ändern. Und gerade wenn sie neu im Job sind, wollen sie Zeichen setzen und Dinge verändern. Sie fangen häufig mit einem neuen Organigramm an, denn Organigramme malen kann jeder, und sie haben die Hoffnung, dass sich damit gewisse organisatorische Schwachstellen auflösen lassen. Häufig werden sie enttäuscht, weil statt der alten Pro­bleme gerade so viele neue Probleme auftauchen. Die Anzahl organisatorischer Probleme scheint vor und nach der Reorganisation irgendwie konstant zu bleiben. Die Reibereien und Ineffizienzen verschieben sich einfach vom einen Ort zum anderen. In anderen Fällen ändert sich zwar etwas auf dem Papier, doch wenn auch auf den Türschildern danach etwas anderes steht, bleibt die Arbeit der Mitarbeiter die gleiche. Fast jede Unternehmung leidet daran, dass zu viel reorganisiert wird. Die „Organisitis“ scheint gar eine Form von Hypochondrie zu sein, denn Organisation ist ein hochsensibles Thema, weil jeder betroffen ist, und weil Veränderungen immer auch mit Ängsten einhergehen. Radikalere Eingriffe führen bei den Mitarbeitern zum Schützengraben-Verhalten. Sie gehen erst einmal auf Tauchstation, und sie befassen sich während der ganzen Reorganisationsphase vornehmlich mit sich selbst statt mit dem Kunden. Es dauert nach einer Reorganisation oft lange, bis die Produktivität wieder ansteigt. Deshalb sollte man nicht leichtfertig damit umgehen. Peter Drucker vergleicht das Reorganisieren mit einem chirurgischen Eingriff  – ohne Betäubung und bei vollem

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2 Einführung

Bewusstsein des Patienten – und betont, dass selbst die kleinen Eingriffe Risiken bergen. Man erkennt leider oft nicht, wann ein Eingriff wirklich (nicht) nötig ist. Modewellen und Orientierungslosigkeit Ein viertes Indiz dafür, dass mit dem Organisieren etwas nicht stimmt, ist die Abhängigkeit von Modewellen. Man hat das Gefühl, dass sich diese im Management schneller ändern als die Rocklänge in der Mode. Es sind einerseits Versuche, Antworten auf die zunehmende Dynamik des Umfeldes zu finden und Organisationen beweglicher zu machen. Andererseits sind es die ungelösten Dauerbrenner des Organisierens, die alle Jahrzehnte wieder ausgegraben werden: Es geht um das Verhältnis zwischen Autonomie und Hierarchie, zwischen Zentralität und Dezentralität, zwischen Stab und Linie und zwischen Flexibilität versus Größe. Die aktuelle Modewelle besteht aus einer Mischung von Einflüssen aus der agilen Softwareentwicklung, Selbstmanagementmethoden und den Ideen der Soziokratie, also selbstorganisierten Zirkeln, die über Repräsentanten miteinander verlinkt werden und integrative Entscheidungsprozesse bevorzugen. Ob sich die Konzepte von Scrum, Holacracy oder Agility auch nachhaltig in den Organisationen etablieren, wird sich zeigen. Einmal wird klein, agil und autonom bevorzugt, und zehn Jahre später wieder die Zusammenarbeit und Stärke durch Größe. Die alten Probleme von Autonomie versus Kohäsion des Ganzen scheinen auch heute nicht gelöst zu sein. Und ob die aktuell propagierten Formen wirklich zu innovativeren Organisationen führen, muss sich erst zeigen. Das grundsätzliche Problem ist aber, dass wir beim Organisieren auf keine verbindlichen Maßstäbe zurückgreifen können. Uns fehlt die Orientierung darüber, was richtig und was falsch ist und wann eine Organisation vollständig organisiert ist und wann nur lückenhaft. Weil wir keinen verbindlichen Maßstab zur Hand haben, sind wir orientierungslos und anfällig auf Modewellen. Im Übrigen bleiben nur die Einzelerfahrungen, die die Führungskräfte im Laufe ihrer Karriere gemacht haben. Es wird dann argumentiert, dass eine Lösung in einem alten Unternehmen früher schon einmal ausprobiert wurde und dort nicht funktioniert oder sehr gut funktioniert hat. Nun ist aber jedes Unternehmen anders, und was für das eine Unternehmen richtig sein kann, kann für das andere dennoch falsch sein. Unser organisatorisches Denken orientiert sich nach wie vor am Modell der Maschine. An den Universitäten haben wir gelernt, dass man zuerst eine Analyse der Aufgaben und Aktivitäten macht, und dann alles was gleich ist, in Organisationseinheiten zusammenpackt: Alles was mit Geld zu tun hat kommt in die Finanzen, alles was mit Menschen zu tun hat ins Personal und so weiter. Die Organisation regelt dann, wie diese Komponenten zusammenwirken. Dieses Modell ist auf die Reproduktion von Vorgängen ausgelegt. Solange immer die gleichen Dinge getan und alles bis ins Detail organisiert und getaktet werden kann, funktioniert das. Wenn es aber komplex und dynamisch wird und sich wie etwa bei einem Fußballspiel die Aufgaben situativ ändern, funktioniert das Modell der Maschine nicht mehr. Wir würden alle Stürmer, alle Verteidiger und alle Flügelspieler in Teams zusammenfassen und die Teamleiter müssten während dem Spiel Sitzungen einberufen, um ihre Pläne neu abzusprechen und sich zu koordinieren. Man würde jedes Spiel verlieren.

2.3  Komplexität ist der gemeinsame Nenner

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Modelle sind wichtig, weil wir mit ihrer Hilfe Organisationen vergleichen und eine Diskussion darüber führen können, was richtig und was falsch ist. Das deterministische Modell der Maschine verliert aber seine Aussagekraft in unseren hochkomplexen sozialen Systemen. Ein Automobilwerk funktioniert anders als ein Spital, ein Handelsunternehmen oder ein Zeitschriftenverlag. Die Erfahrungen aus einem Bereich lassen sich nur sehr beschränkt auf einen anderen Bereich übertragen. Und ein kleines Unternehmen muss anders organisiert sein als ein großes, selbst wenn beide in der gleichen Branche tätig sind. Für den Praktiker ist es also schwer herauszufinden, was die richtige Organisation für sein Unternehmen ausmacht. Er muss sich zurecht finden zwischen verschiedenen, konkurrierenden Organisationstheorien, aktuellen Modewellen und unterschiedlichen Erfahrungen seiner Kollegen aus anderen Organisationen. Es fehlt an einer einheitlichen, generellen Organisationstheorie, an der er sich festhalten und orientieren kann. Eine solche Theorie müsste von dem ausgehen, was für alle Organisationen gleich und was für alle Organisationen entscheidend ist, gleichgültig ob es sich um das Automobilwerk, das Spital oder den Zeitungsverlag handelt.

2.3

Komplexität ist der gemeinsame Nenner

Wie machen wir also unterschiedliche Organisationen mit unterschiedlichen Zwecken, Charakteren und Größenordnungen vergleichbar? Und wie können wir überhaupt feststellen, wie gut sie tatsächlich funktionieren? Wir messen zwar die Qualität von Produkten und Dienstleistungen, und auch die Qualität einer Strategie oder diejenige von Führungskräften können wir beurteilen. Wir wissen, nach welchen Maßstäben wir das tun müssen. Bei der Beurteilung einer Organisationsstruktur tun wir uns aber schwer. Normalerweise würde man sagen, dass die erzielten Resultate der Maßstab sein müssen. Aber auch diese müssen je nach Unternehmen sehr unterschiedlich beurteilt werden. Haben wir es mit einem Start-Up-Unternehmen zu tun, oder mit einer etablierten Organisation? Ist es ein Business oder ein Non-Business-Unternehmen? Und was zählt überhaupt als Resultat? Sind es die kurzfristigen Gewinne oder die langfristige Lebensfähigkeit? Selbst wenn die Leistung stimmt, können wir daraus nicht notwendigerweise auf die Qualität der Struktur schließen, denn eine gute Organisationsstruktur ist zwar eine Voraussetzung für gute Leistung, garantiert sie aber nicht. Eine schlechte Struktur hingegen drückt zwar massiv auf die Leistungsfähigkeit, in einem blühenden Markt ist aber selbst der Blinde ein König. Selbst mit schlechten Strukturen lassen sich eine Zeit lang und unter den richtigen Rahmenbedingungen gute operative Resultate erzielen. Buchhalter haben irgendwann angefangen, die klassischen vier „Ms“ für das Management messbar und vergleichbar zu machen, indem sie alles in finanziellen Größen quantifizierten: Men, Machinery, Materials, Money. Aber auch dieser Ansatz eignet sich nicht als universelle Messgröße für die Beurteilung der Qualität einer Organisation, weil er die ganze Varietät von Unternehmen und Branchen auf eben diese vier Größen reduziert. Die Bedeutung von Geld oder von Maschinen ist aber je nach Sektor oder Branche sehr

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2 Einführung

­ nterschiedlich. Was wir managen müssen geht außerdem über die vier Ms hinaus. Es ist u das Unternehmen als Ganzes, mit all seinen Interaktionen und Zusammenhängen, die selbst seine Umwelt miteinschließen. Was die Unternehmen bedroht, ist die steigende Komplexität und Dynamik im und um das Unternehmen. Jede Organisation ist damit konfrontiert, egal um welche Branche es sich handelt, ob es um Wirtschaft oder Verwaltung geht und ob es ein großes oder ein kleines Unternehmen ist. Wobei Komplexität und Größe zwei verschiedene Kategorien sind, denn es gibt große, aber relativ einfache Organisationen, wie zum Beispiel die weltweit größte Restaurantkette McDonalds, die letztlich immer die gleichen Prozesse und Produkte multipliziert, und kleine, aber hoch komplexe Organisationen wie ein Zeitungsverlag oder ein Spital. Komplexität eignet sich als universelle Messgröße deshalb besser als die vier Ms. Sie ist nicht nur der gemeinsame Nenner aller Unternehmen in allen Sektoren, sondern zugleich auch ihre größte Herausforderung. Sie ist das richtige Maß für das, was wir eigentlich messen wollen: Die Unordnung, die wir in Ordnung bringen müssen. Der Zweck des Organisierens besteht ja gerade darin, Ordnung in die Unordnung zu bringen. Die Organisationsstruktur ist das Vehikel, mit dem wir in einer instabilen Welt Stabilität erzeugen und uns in die Lage bringen, einen bestimmten Zweck oder ein Ziel trotz aller Widrigkeiten zu erreichen. Niemand hat es bisher jedoch geschafft, die Komplexifizierung in das fiskalische Bild zu übertragen. Deshalb wird sie in den Gleichungen des Managements weiterhin ignoriert. Nicht bewältigte Komplexität drückt sich aus in unzufriedenen Kunden, sinkender Produktivität, Informationsüberlastung, scheiternden Kooperationen, internen Friktionen, unzufriedenen Mitarbeitern oder ungenutzten Geschäftschancen. Die Symptome und Erscheinungsformen nicht beherrschter Komplexität sind vielfältig. Und vieles lässt sich nicht in Geld oder Zahlen ausdrücken. Wenn wir also eine Aussage über die Qualität einer Organisation machen wollen, müssen wir beurteilen, in welchem Maß sie in der Lage ist, Komplexität zu beherrschen. „Beherrschen“ ist allerdings ein Wort, das leicht zu Missverständnissen führt. In unserem Kontext bedeutet es nicht das Niederdrücken von Kräften, weil Komplexität gleichzeitig auch Leistung sein kann. Oder wie es der deutsche Physiker und Genetiker Carsten Bresch ausgedrückt hat: Höhere Fähigkeiten entstehen immer aus mehr Komplexität [3]. Es kommt also darauf an, Komplexität zu nutzen und richtig mit ihr umzugehen. Sie ist wie ein wildes Tier, das einem Kraft verleiht, wenn man es unter Kontrolle hat, das einen aber auch umbringen kann. Wir wissen außerdem, dass es in komplexen Systemen immer Dinge gibt, die wir nicht unter Kontrolle haben. Gemeint ist Beherrschung also eher in dem Sinne, wie wir eine Sprache beherrschen oder wie unser Körper die Komplexität unserer inneren Vorgänge beherrscht, so dass wir gesund bleiben. Er tut das nicht per Befehl und Anordnung, sondern in dem er geeignete strukturelle Voraussetzungen schafft. Er organisiert seine Selbstorganisation. Anders geht es nicht, denn komplexe Systeme funktionieren wie Kinder, Pflanzen oder Ehepartner: Sie reagieren schlecht auf Befehle und Anordnungen. Es nützt nichts, dem Kind zu befehlen, dass es jetzt schlafen oder keine Angst haben soll. Wir können aber die Voraussetzungen schaffen, dass es schlafen kann oder dass es keine Angst haben muss. Ebenso wenig können wir den Pflanzen schönes Wachstum

2.4  Orientierung am Organismus

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befehlen. Unter den richtigen Voraussetzungen bezüglich Sonne, Wasser und Dünger hingegen tun sie es von selbst. Wenn wir also die richtigen Rahmenbedingungen schaffen, entwickelt sich die Eigendynamik komplexer Systeme von selbst in die richtige Richtung – und aus einer Eichel wird eine Eiche. Wir werden uns später im Buch genau mit diesen Voraussetzungen befassen. Erst über die Beurteilung von Komplexitätsverhältnissen können wir Organisationen ganz unterschiedlicher Natur vergleichen, beurteilen und schließlich auch klare Aussagen zu den scheinbar unlösbaren Dauerbrennerfragen des Organisierens machen. An Stelle von Ideologien und Modewellen tritt die maßgeschneiderte Organisation, für die wir genau festlegen können: • wie viel Autonomie und wie viel Hierarchie und Kohäsion sie braucht • wie stark wir sie verflachen können und wie groß die maximale Führungsspanne sein kann • wie viel Flexibilität und wie viel Stabilität sie braucht • was dezentralisiert und was zentralisiert werden muss Der Versuch hingegen, Organisationsmodelle von der Stange weg, sozusagen nach Konfektionsgröße im Unternehmen einzuführen, kann nicht funktionieren, weil jedes Unternehmen anders ist. Organisationsstrukturen müssen wie Maßanzüge geschneidert werden. Unter Betrachtung der Komplexität als Messgröße wird das möglich.

2.4

Orientierung am Organismus

Wenn es einfach ist, braucht man keine Organisation. Wie aber bringt man nun eine komplexe Organisation zum verlässlichen Funktionieren? Eine funktionierende Organisation ist robust, schnell, anpassungsfähig, effizient und effektiv, auch wenn die Umwelt noch so komplex ist. Die gesamte Geschichte unserer Welt ist die Geschichte der Zunahme von Komplexität und der Entstehung immer höherer Fähigkeiten. Organismen haben im Laufe der Evolution gelernt, mit dieser Komplexität umzugehen und sie zu ihrem Vorteil zu nutzen. Was wäre also, wenn wir unsere Unternehmen so strukturieren könnten, wie Organismen strukturiert sind, so dass wir ähnliche Fähigkeiten und Eigenschaften wie diese gewinnen könnten? Wenn wir als Mensch joggen wollen, fassen wir einen Entschluss und schon setzen sich Millionen von Zellen in Bewegung, um genau das umzusetzen. Und wenn wir plötzlich die Richtung ändern wollen, haben wir kein Problem, das zu tun. Es mag nach Science-Fiction klingen, wenn wir davon sprechen, eine Unternehmung wie einen Organismus zu gestalten. Die Grundlagen dazu sind indessen schon lange vorhanden. Es ist nicht nur die Kybernetik, die sich an der Schnittstelle zwischen „the Animal and the Machine“ bewegt. Ebenfalls in den 1950er-Jahren entstand die Bionik als neuer Wissenschaftszweig. Sie befasst sich mit der Frage, was wir für die Lösung unserer Probleme lernen können von den Lösungen, die die Natur in vier Milliarden Jahren Evolution bereits

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2 Einführung

hervorgebracht hat. Bionik ist demzufolge ein Wortgebilde aus Bio(-logie) und (Tech-)nik (Abb. 2.1). Wie die Kybernetik wurde auch die Bionik bisher primär auf die Lösung technischer Probleme angewandt. Erfolgreiche Beispiele dazu gibt es viele: • schmutzabweisende Oberflächen als Farbe oder als Textil (Lotusblumen) • strömungsoptimierte Oberflächen und Formen bei Schiffen und Flugzeugen (Haifischhaut, Delfinrumpf, Adlerschwingen) • selbstschärfende Messer (Rattenzähne) • Isolierung für die Raumklimatisierung (Eisbärenhaare oder Termitenhügel) • Leichtbaukonstruktion für den Fahrzeugbau (organische Skelettmuster) • schusssichere Westen (Spinnenseide) Interessant dabei ist, dass die von der Natur entwickelten Lösungen optimiert sind und höchste Wirkungsgrade aufweisen. Das bedeutet nun nicht, dass wir uns die Natur generell zum Vorbild nehmen oder als Blaupause verwenden sollen. Wir wollen und können das auch gar nicht. Hingegen können wir von Gestaltungs-, Verfahrens- oder Entwicklungsprinzipien lernen und diese auf technische oder eben auch auf soziale Systeme übertragen. Das ist das Prinzip der Bionik [4]. Was also können wir vom Organismus für die Gestaltung eines sozialen Systems lernen? Er ist das biologische Modell einer Organisation, beispielsweise einer industriellen Firma, die mit ihrer Umwelt interagiert. Der Körper steht für die physischen Gebäude und die organisatorischen Einheiten des Unternehmens. Er ändert sich, wächst und schrumpft organisch mit neuen internen und externen Anforderungen. Der Organismus frisst Kapital, Arbeit und Rohmaterial. Seine internen Services energetisieren und konditionieren seine Körperteile wie der Blutfluss und die Drüsen den Körper. Seine interne Kommunikation ist

Abb. 2.1  Lernen von der Natur: Bionik

2.4  Orientierung am Organismus

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ein Mittel zur Steuerung und Integration des Ganzen. Gerade in diesem letzten Bereich, der Kommunikation und Steuerung durch das Nervensystem, liegen die großen Verbesserungspotenziale, die von Kybernetik und Bionik ausgehen, denn das Level und die Qualität dieser Kommunikation in den heutigen Organisationen ist vergleichbar mit dem Niveau eines Schwammes [5]. Ein Modell, das auf dem Organismus statt auf der Maschine basiert, eröffnet uns neue Horizonte (Abb. 2.2). Es bringt uns weg vom Gedanken der Organisation, die auf einen ewig gleichbleibenden Zweck hin ausgerichtet ist und so funktioniert, wie wir das im Detail geplant haben. Organismen sind keine „single-purpose machines“, sondern anpassungsfähig und können verschiedene Zwecke erfüllen. Sie sind flexibel, agil und doch relativ robust, indem sie sich permanent selber erneuern. Es bringt uns weg vom Fokus auf die Teile hin zu Beziehungen und Relationen. Es bringt uns weg vom Blue-Collar-Worker mit gleichbleibenden, manuellen Tätigkeiten hin zum Knowledge Worker, der in unserer heutigen Gesellschaft bereits rund dreiviertel der Beschäftigtenzahl ausmacht [6]. Wenn wir dem Organisieren das Modell des Organismus zugrunde legen, entdecken wir als Erstes, dass es neben der Anatomie und der Physiologie auch eine Neurologie gibt (Abb. 2.3). Diese dritte Dimension scheint beim Organisieren bisher vergessen ge-

Abb. 2.2  Vom Modell der Maschine zum Modell des Organismus

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2 Einführung

Abb. 2.3  Anatomie, Physiologie und Neurologie

gangen zu sein, oder sie wurde auf Basis von Talent und Erfahrung gestaltet. Die systematische und vollständige Gestaltung der Neurologie hingegen vermissen wir in der bisherigen Organisationslehre. Dabei ist diese Steuerungs-Organisation der Hauptmechanismus für die Bewältigung von Komplexität. Wir agieren als Mensch aufgrund der Vorausschau, die uns die Neurologie ermöglicht, und wir reagieren blitzschnell aufgrund eingebauter Reflexe. Die Neurologie verknüpft und integriert die Bausteine unserer Anatomie. Beim Organismus sind das die Organe wie die Leber, das Herz, die Haut oder die Nieren. Im Unternehmen sind es die organisatorischen Einheiten, die wir im Organigramm finden. Die Anatomie als solche kann noch nichts bewirken. Auch die Physiologie, also die Abläufe im Körper wie das Verdauen oder der Herzkreislauf respektive die Geschäftsprozesse im Unternehmen ermöglichen noch nicht das Funktionieren des Ganzen. Erst die Verschränkung aller Elemente bringt die Eigenschaften hervor, die Organismen ­haben, und erst sie bringt Leistung und Lebensfähigkeit hervor. In den Systemwissenschaften spricht man von Emergenz: Das Ganze ist etwas anderes als die Summe der Teile. Wie diese Elemente zusammengebracht werden, ist entscheidend. Wir können zum Beispiel Wasserstoff und Sauerstoff so zusammenbringen, dass ein explosives Gemisch entsteht. Wir können es aber auch so zusammenbringen, dass H2O entsteht – mit emergenten Eigenschaften, die wir in den einzelnen Elementen selbst nicht finden konnten, denn weder Wasserstoff noch Sauerstoff ist nass [7]. Das richtige Zusammenwirken der Elemente setzt die richtige Relation der Teile und den richtigen Informationsfluss zwischen ihnen voraus. Mit der richtigen Neurologie wird das Ganze dann nicht nur zu etwas

2.4  Orientierung am Organismus

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a­ nderem als der Summe seiner Teile, sondern zu mehr als der Summe seiner Teile. Es entsteht Leistung. Wenn wir das Modell des Organismus nun auf die Organisationsstruktur eines Unternehmens anwenden, entdecken wir zwei Lücken in der Praxis des bisherigen Organisierens, die durch das sogenannte Viable System Model (VSM) geschlossen werden, mit dem wir in diesem Buch arbeiten (Tab. 2.1): a. Die Methodik zur Diagnose & Gestaltung der richtigen Aufbauorganisation b. Die Methodik zur Diagnose & Gestaltung sowie zur Darstellung der Steuerungsorganisation Wir erkennen, dass die klassische Einteilung in eine Aufbau- und eine Ablauforganisation nicht obsolet, aber unvollständig ist. Die Gestaltung der Organisationseinheiten und Geschäftsprozesse ist notwendig, aber nicht hinreichend. Wenn bei uns im Körper nur die Organe und die physiologischen Prozesse wie der Herz-Kreislauf und der Verdauungsapparat funktionieren würden, könnten wir vielleicht sogar eine Zeit lang überleben, aber erst mit der Gestaltung der übergeordneten Steuerungs- und Kommunikationsprozesse werden wir lebensfähig. Das gilt im Organismus gleich wie im Unternehmen. Das Neuron und der Manager haben nur eine Kernaufgabe zu erfüllen: zu entscheiden. Damit entschieden werden kann, braucht es die richtige Information für die Entscheidung, und damit schließlich auch etwas passiert, braucht es wiederum die Kommunikation der Entscheidung an die richtigen Stellen. Letztendlich geht es beim Organisieren also um die drei folgenden Kernfragen: • wer entscheidet (oder steuert) was? • aufgrund welcher Information? • und muss wen darüber informieren?

Tab. 2.1  Die dritte Dimension des Organisierens I

II

III

Aufbau-Organisation

Ablauf-Organisation

Steuerungs-Organisation

Organisatorische Einheiten

Geschäftsprozesse

Steuerungs- und Kommunikationsprozesse

Anatomie

Physiologie

Neurologie

Diagnose & Gestaltung

VSM

Business Process Reengineering

VSM

Darstellung

Organigramme Funktionendiagramme Stellenbeschreibungen

Flussdiagramme

VSM

Thema Analogie

VSM steht für „Viable System Model“ (Modell Lebensfähiger Systeme)

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2 Einführung

Ein Teil dieser Fragen wird über die Anatomie, also die Zusammenfassung von Aufgaben in organisatorische Einheiten geklärt, und ein Teil über die Definition der Geschäftsprozesse. Damit die Führungskraft auch ein guter Steuermann des Ganzen sein kann, braucht es die dritte Dimension des Organisierens: Die Steuerungs-Organisation, die auch die Kommunikationsprozesse umfasst. Jetzt, wo wir über die nötige Kommunikationstechnologie verfügen, sollten wir damit nicht einfach nur das Bisherige in Silikon gießen, sondern uns die Frage stellen, wie das Unternehmen aussehen muss, wenn es in Echtzeit und synchron zu den immer dynamischeren Veränderungen in und um das Unternehmen herum gesteuert werden soll. Das Design der Informations-, Kommunikationsund Steuerungsprozesse wird erfolgsentscheidend. cc

Die Potenziale im Organisieren heben wir nicht mit noch besseren Aufbauorganisationen oder noch besseren Geschäftsprozessen, sondern indem wir die Neurologie des Unternehmens zum Funktionieren bringen.

Damit wir das zielgerichtet tun können, brauchen wir ein geeignetes Modell für die Neurologie, das die Eigenschaften eines Nervensystems hervorbringt: Geschwindigkeit, Effizienz und Effektivität, Anpassungsfähigkeit, Robustheit und sogar Selbstheilung. Was muss informativ vernetzt und was im Gegenteil entnetzt werden? Wo braucht es hierarchische Steuerung und wo Selbst-Steuerung? Früher glaubte man lange Zeit, dass das Gehirn als zentrale Instanz alles steuert. Heute wissen wir, dass eine zentrale Steuerung, die alles im Detail regelt, nur in einem planbaren, deterministischen Umfeld funktioniert. Es ist aber falsch, Methoden und Modelle, die in einer kontrollierbaren Umgebung funktionieren, in einer komplexen Umgebung anzuwenden. Genau das tun wir derzeit noch mit dem Modell der Maschine – gerade weil es in der Vergangenheit so gut funktioniert hat. Ein Schachprogramm gewinnt gegen jeden Gegner, seit IBM’s Deep Blue 1997 erstmals gegen den damals amtierenden Schachweltmeister Garri Kasparow gewonnen hat. Aber in einem Schachspiel werden Regeln eingehalten, beide Spieler haben volle Transparenz über die Situation und alle Variablen, und das Spiel bleibt das Gleiche. Sobald das nicht mehr gegeben ist, reicht die zentrale Steuerung nicht mehr aus; das Ende der kommunistischen Planwirtschaft ist ein Beispiel dafür. Es braucht Subsysteme, die sich selber steuern. Wenn unser Gehirn die Prozesse steuern müsste, die in unserer Leber jede Minute ablaufen, wäre das Übervölkerungsproblem bald gelöst. Und auch die Erforscher der künstlichen Intelligenz haben herausgefunden, dass Roboter mit zentraler Steuerung lange nicht so elegant gehen können, wie Roboter mit dezentraler Sensorik und Aktorik. Die Erkenntnis ist am Ende, dass höher entwickelte Systeme beides brauchen: Eine zentrale hierarchische Steuerungsachse, die für Optimierung und Kohäsion sorgt, und eine verteilte, dezentrale und autonome Steuerung, die für Effektivität und Agilität sorgt. Die kritische Haltung gegenüber Hierarchie ist in diesem Sinne eher eine Kritik am Modell der Maschine, denn auch in natürlichen Systemen gibt es Hierarchie. Sie ist nichts Schlechtes, solange sie sich über die Logik von übergeordneten und untergeordneten Steuerungs-Systemen her definiert und nicht über Menschen, Macht und Prestige.

2.5  Aufbau und Nutzen des Buches

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Das von Stafford Beer entwickelte Viable System Model, das Kernthema dieses Buches, ist kein Modell eines Nervensystems. Aber es destilliert die Faktoren heraus, die ein Steuerungs- und Kommunikationssystem aufweisen muss, damit Lebensfähigkeit entsteht. Die „Viability“ steht dabei im Vordergrund, also die Fähigkeit, eine eigene Existenz auf Dauer aufrecht zu erhalten. Das entspricht den Grundsätzen guten, unternehmerischen Managements und einer guten Corporate Governance [8]: • Lebensfähigkeit vor Gewinnmaximierung • Wettbewerbsfähigkeit vor Unternehmenswertsteigerung • Customer Value vor Shareholder Value Geld ist in diesem Sinne nicht das oberste Ziel, sondern eher eine Randbedingung und der Maßstab dafür, wie gut der Dienst am Kunden erfüllt wird, und wie konkurrenzfähig das Unternehmen ist. Lebensfähigkeit enthält Adaption und Fortschritt, aber auch Robustheit gegenüber Schocks von außen oder von innen. Das Modell geht über das modern gewordene Gewinnmaximierungsdenken hinaus und ist deshalb gleichermaßen interessant für Wirtschaftsunternehmen, wie auch für Verwaltungsunternehmen, Non-­Governmental Organizations oder für jede andere Art von Institution, die eine Organisationsstruktur braucht.

2.5

Aufbau und Nutzen des Buches

Zum Zweck dieses Buches Seit Stafford Beers ersten Publikationen über das Viable System Model hat sich vieles in die Richtung entwickelt, die er voraussah. Damals waren nur wenige Firmen im Besitz von Computern, welche zudem wie riesige Ungeheuer aussahen, die mit Lochkarten gefüttert wurden. Und in jeder Firma fragte man sich, wie man die neue, bahnbrechende Technologie wohl am besten werde nutzen können. Stafford stellte bereits damals, lange vor dem Business Process Reengineering, die umgekehrte Frage: Jetzt wo wir die neue Technologie haben, wie könnten unsere Firmen wohl aussehen? Was müssen wir neu denken, jetzt wo wir alle Möglichkeiten haben, die uns diese Technologie eröffnet? Heute sind die Firmen voll von Computern, so dass es gar ein Status-Symbol ist, keinen Computer auf seinem Schreibtisch stehen zu haben. Solange wir die Informationstechnologie aber nur zur Unterstützung unserer herkömmlichen Organisations- und Führungsstrukturen nutzen, um Bestehendes schneller, einfacher und günstiger zu machen, bleiben wir in den ersten zwei Dimensionen des Organisierens gefangen: der Aufbau- und insbesondere der Ablauforganisation. Dieses Buch handelt davon, wie wir die dritte Dimension der Neurologie in unseren Institutionen entwickeln und die neuen Technologien zu diesem Zweck nutzen. Wie dargelegt wurde, muss im Bereich Organisation ein großer Schritt nach vorne getan werden, denn die Krisen der modernen Gesellschaft werden nicht, wie häufig behauptet, einfach nur durch Geldgier, sondern primär durch Missmanagement verursacht. Das Buch soll den Leser in die Lage versetzen, mit Hilfe des Viable System

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2 Einführung

­ odels seine eigene dritte Dimension des Organisierens zu gestalten, damit Führung M wieder einfacher und wirksamer wird und damit vielleicht sogar auch wieder mehr Freude machen kann. In diesem Sinne ist es kein Buch über das Viable System Model per se, sondern ein Buch über die Praxis des Viable System Models. Es führt durch den Diagnose- und Gestaltungsprozess und beantwortet Anwendungsfragen mit praktischen Beispielen, basierend auf meiner eigenen Erfahrung. Ich habe das Modell als Unternehmensberater und Unternehmer auf allen Erdteilen und in allen Arten von Institutionen über 25 Jahre hinweg angewandt. Über das Modell selbst gibt es bereits ausreichend Literatur (siehe Anhang). In diesem Buch hingegen soll es um die Frage gehen, wie man vom Wissen über das Modell zum Nutzen für das eigene Unternehmen kommt. Es geht um die Anwendung. Tatsächlich gehört es zur Tradition von Kybernetikern, sich mit dem Praktischen zu beschäftigen, denn erst in der Praxis zeigen sich die Anwendungsfragen, dank denen man lernt und innoviert, und erst durch die Anwendung entsteht Nutzen. Ohne Innovation bleibt die beste Invention wirkungslos. Der Leser muss willig sein, das Thema Organisation neu zu durchdenken und Vertrautes vorerst einmal über Bord zu werfen, um im Kopf Platz für eine neue Sichtweise zu schaffen. Das ist es, was die Zukunft von uns erwartet: Dass wir immer wieder unsere Gewissheiten hinterfragen und neue Wege und Möglichkeiten entdecken, unser Leben besser zu gestalten. Diese neue Sichtweise fällt den wenigsten in den Schoß. Sie muss erdacht und erarbeitet werden. Es gibt leider keinen „One Minute Manager“ zur Anwendung des Modells, und es umfasst mehr als die berühmte Handvoll Prinzipien der Erfolgsliteratur. Man muss sich darauf einlassen und sich mit dem Modell befassen. Die in Aussicht gestellte Belohnung rechtfertigt aber den Aufwand. Das Buch richtet sich an den Praktiker, der eine ergebnisverantwortliche Einheit führt, egal was das für eine Einheit ist, und der sich mit den Lücken klassischer Organisation nicht mehr abfinden will. Es richtet sich an den General Manager und nicht nur an den Organisationsexperten, denn das Organisieren ist eine General Management Aufgabe. Jede Führungskraft muss heute organisieren, wenn das Ganze funktionieren soll. Und man muss sich selbst darum kümmern, wenn man die großen Potenziale wirklich nutzen will. Heute kommt niemand mehr an den Organisationsfragen der dritten Dimension und den Erkenntnissen der Management-Kybernetik vorbei. Die Non-/Government-­Organisationen werden ihre Aufgaben je länger je weniger ohne aktive Gestaltung der dritten Dimension bewältigen können, und in der Wirtschaft werden diejenigen Firmen maßgebliche Wettbewerbsvorteile gewinnen, die es früher als ihre Konkurrenten tun. Zu meiner eigenen Arbeit mit dem Viable System Model Ich bin dem Modell gegen Ende der 1980er-Jahre zum ersten Mal begegnet, im Rahmen einer Vorlesung von Fredmund Malik an der Universität St. Gallen. Seine Vorlesungen waren bei den Studenten sehr beliebt, weil sie eben von der Praxis handelten und dennoch wissenschaftlich fundiert waren. Malik war damals schon Geschäftsführer des Management Zentrums St. Gallen, das ursprünglich einmal zwecks Verbreitung des St. Galler

2.5  Aufbau und Nutzen des Buches

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Management Modells als Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Praxis zur Universität gehörte, und das er zu einem großen Beratungs- und Schulungs-Unternehmen ausbaute. Ende der 1990er-Jahre begegnete ich durch Maliks Vermittlung Stafford Beer persönlich in Toronto, der während seiner letzten Lebensjahre zu meinem Mentor wurde. Er schulte mich in dieser Zeit in vielen und langen persönlichen Gesprächen in Kanada, England, Wales und in der Schweiz, und half als Tutor in Anwendungsprojekten des Viable System Models mit. In den folgenden Jahrzehnten habe ich auf dieser Basis und als Mitarbeiter des Management Zentrums etwa hundert Unternehmen in der Anwendung begleitet und tausende von Führungskräften geschult. Das gab mir die Möglichkeit, praktische Anwendungsfragen in allen Arten von Firmen und Institutionen in Europa, Amerika und Asien zu studieren und daraus zu lernen. Die Rückmeldungen über die Erfolge in diesen Organisationen rechtfertigen dieses Buch. Ich werde überall da, wo sie der Veranschaulichung dienen, Beispiele und Berichte aus diesen praktischen Erfahrungen einstreuen. Stafford Beer hat drei zusammengehörende Begleitbände zu seinem Viable System Model in der Buchreihe „The Managerial Cybernetics of Organization“ veröffentlicht: cc cc cc

Brain of the Firm (1972) [9]: Entwicklung des Viable System Models, basierend auf Einsichten aus dem Studium des Nervensystems The Heart of Enterprise (1979) [10]: Interpretation des Modells in Anwendung auf ein Unternehmen Diagnosing the System for Organizations (1985) [11]: Beschreibung des Dia­ gnose- und Gestaltungsprozesses in detaillierter Form

Das Vorgehen im vorliegenden Buch entspricht weitgehend dem Vorgehen im Buch „Diagnosing the System for Organizations“. Aus praktischen Gründen habe ich in meinen Anwendungen aber zuweilen abgekürzt oder eine pragmatischere Vorgehensweise gewählt. Wo neue Anwendungsfragen zu lösen waren, sind an einigen Stellen auch eigene Ideen eingeflossen. Anregungen dazu habe ich insbesondere bei Fredmund Malik und Peter Drucker gefunden. Stafford Beers Bücher enthalten außerdem auch weiterführende Inhalte, die ich in der Praxis nicht verwendet habe. „Absolutum Obsoletum“, wie Beer sagte: „If it works, its out of date“. Es wäre höchst unkybernetisch zu behaupten: So wird es gemacht. Die Vorgehensweise in diesem Buch ist eine Möglichkeit unter anderen; allerdings eine, die sich in der Praxis bewährt hat. Beer selber schrieb: „There is no „correct“ interpretation of the VSM. We have spoken instead of more or less useful interpretations. Even so, there may well be incorrect interpretations, in the sense that the model’s power to account for viability may become denatured by their use [9].“ Mit dem letzteren Punkt meinte er trivialisierte Anwendungen durch Leute, die das Modell wie ein Organigramm verwenden und so in der ersten Dimension des Organisierens gefangen bleiben. Solange wir das Modell aber nicht missbrauchen, dürfen wir durchaus kreativ damit umgehen und experimentieren. Die Grundlagen sind reichhaltig genug. Darum will dieses Buch weder eine „Prediction“ noch eine „Prescription“ sein. Es erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, wohl aber auf Nützlichkeit.

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2 Einführung

Von praktischen Erfahrungen und vom Nutzen des Modells Seit Jahrzehnten wird das Viable System Model in Firmen aller Größenordnungen, aber auch in Spitälern, Schulen, Universitäten, in der Verwaltung, in Bundesämtern und ganzen Ländern angewandt und genutzt. Dabei hat sich die hohe, diagnostische Kraft des Modells gezeigt. Wo es als Kurzdiagnose im Kopf zur Beurteilung einer Organisation verwendet wird, findet man die neuralgischen Punkt so schnell und präzise wie mit keinem anderen Vorgehen, das mir bekannt ist. Wo es zur Klärung spezifischer, organisatorischer Fragestellungen verwendet wird, wie beispielsweise der Frage der Geschäftsfeldsegmentierung, De-/Zentralisierungsfragen oder Fragen der maximalen Verflachung der Organisation, kommt man schneller zum Konsens, weil sich die Diskussionen nicht mehr um Gefühle, Meinungen und Erfahrungen drehen müssen. Und wo es um die Diagnose und Gestaltung der gesamten Organisation geht, kommt man zu maßgeschneiderten Lösungen, die oftmals den Flaschenhals des Unternehmens platzen lassen. Ich habe in meiner Arbeit mit Praktikern folgende fünf Erfahrungen gemacht [12]: Erstens: Das Interesse von obersten Führungskräften an Organisationsfragen hat drastisch zugenommen. Sie schätzen verbindliche Orientierungspunkte zur Unterscheidung einer richtigen von einer falschen Organisation und eine einheitliche Sprache, mit der sie sich überhaupt erst wirksam über die wesentlichen Organisationsfragen verständigen können. Sie schätzen die Transparenz, die das Modell ins Unternehmen bringt – für sich selbst, aber auch für die Mitarbeiter. Zweitens: Das Viable System Model ist eine eigene Sprache. Wie beim Erlernen jeder neuen Sprache braucht es den Willen und die Geduld, sich darauf einzulassen. Da das Modell aber nahe bei der Funktionsweise unseres eigenen Körpers ist, wird diese Sprache rasch aufgenommen, und weil sie nützlich ist, auf Dauer beibehalten. Das führt zur Vermeidung von Missverständnissen, denn gerade bei Organisationsthemen redet man sehr oft, und ohne es zu merken, solange aneinander vorbei, bis die Emotionen hoch gehen. Die Etablierung des Modells in den Köpfen von Führungskräften auf allen Führungsebenen führt zu einer Art „genetischem Code“, der eine selbstorganisierende Wirkung erzeugt. Indem in allen Fraktalen der Organisation das gleiche Modell in den Köpfen verankert ist und diese Modelle logisch aneinander andocken, entsteht eine funktionierende Gesamtorganisation. Viele Organisationsprobleme müssen dann nicht mehr gelöst werden, weil sie sich von selbst auflösen. Drittens: Das Modell erzeugt eine ungewohnte Sichtweise, da man das wirkliche Funktionieren beleuchtet. Das Weiße im Organigramm wird ausgefüllt. Das Denken in Kommunikationskanälen statt in „Kästchen“ und in Kreisläufen statt in linearen Prozessen ist für viele Praktiker, und manchmal selbst für Ingenieure, neu und ungewohnt. Der Blick geht weg von dem, was das Unternehmen ist, auf das, was es tut. Beziehungen und Relationen werden wichtiger als die Elemente selbst und als die physischen Organisationseinheiten, in denen wir zu denken gewohnt sind. Das kann anfangs zu Irritationen führen.

2.5  Aufbau und Nutzen des Buches

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Viertens: Die ungewohnte Sichtweise erzeugt relevante und oftmals ganz andere und neue Erkenntnisse. Ich habe es oft erlebt, dass Führungskräfte das Problem beispielsweise in den Menschen verortet haben, mit denen sie zu tun haben. Nachdem die Situation mit dem Viable System Model beleuchtet wurde, erkannten sie hingegen das dahinter liegende, strukturelle Problem, das diese Menschen in ihre Verhaltensweisen zwang. Ob wir die Ursache oder nur das Symptom erkennen, hängt vom Modell ab, durch das wir die Welt betrachten. Die Daten bleiben die gleichen, aber die Interpretationen können sich grundsätzlich voneinander unterscheiden. Kopernikus hat durch sein Fernrohr auf die gleichen Sterne geschaut wie seine Vorgänger und Zeitgenossen – seine Erkenntnisse waren aber grundlegend anders, denn er hatte ein anderes Modell im Kopf zur Interpretation dessen, was er sah [13]. Durch die Brille der dritten Dimension werden Dinge unübersehbar, die wir durch die Brille unserer klassischen Modelle der Aufbau- und Ablaufstruktur nicht einmal wahrgenommen hätten. Das Viable System Model eignet sich in diesem Sinne als „Hinterkopf-Modell“, mit dem man mit minimalem Aufwand in einer Schnelldiagnose rasch auf die neuralgischen Punkte in einer Organisation stößt. Fünftens: Ich habe mich an vielen langen Projekt-Abenden mit den Führungskräften, mit denen ich das Modell anwendete, über den praktischen Nutzen unterhalten. Sie erkennen ihn primär in folgenden Punkten: 1. Organisatorische Voraussetzungen schaffen für den Gewinn von Marktanteilen durch klare Verankerung von Verantwortung für Kundennutzen. 2. Das Senior-Management entlasten. Ihm Zeit schaffen, seine eigentlichen Aufgaben wahrzunehmen und damit seine Wirksamkeit um ein Vielfaches steigern. Damit auch Steigerung der Innovations- und Umsetzungskraft. 3. Kostensenkung und Produktivitätssteigerung durch Beschleunigung, Entrümpe lung, Vereinfachung und Verflachung der Organisation. 4. Flexibilisierung der Organisation und Gestaltung der Selbst-Anpassungsmechanismen an dynamische Märkte. Die Verteilung der Steuerung ist attraktiv für gute Leute im Unternehmen und hilft, Führungsnachwuchs zu schaffen. Problemloses Wachsen oder Schrumpfen. Was das Viable System Model aus ihrer Sicht leistet, kann in fünf Punkte kondensiert werden: 1. Es gibt aufgrund der methodischen Klarheit die Sicherheit, dass man richtig und vollständig organisiert hat; es befreit vom Gefühl, dass man es vielleicht doch hätte anders machen sollen. 2. Das Diagnosevorgehen ist schnell und treffsicher. Man erkennt den Handlungsbedarf im Sinne von Ursachen statt Symptomen und damit eine gründliche Roadmap. 3. Es bringt Klarheit, Transparenz und Verbindlichkeit in die Organisation und beendet die damit verbundenen, endlosen Diskussionen und Konflikte.

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2 Einführung

4. Es macht die Struktur zum „enabling-link“ zwischen Strategie und Kultur. Es löst viele Kommunikationsprobleme auf. 5. Es integriert Außen und Innen, Gegenwart und Zukunft, Aufbau- und Ablauforganisation, Führungs- und Leistungsorganisation, tiefere und höhere Managementebenen in einem systematischen, ganzheitlichen Modell. Abschließend sei gesagt, dass sich der Nutzen des Buches nur aus dem Modellverständnis als Ganzes erschließt und nicht aus dem Studium einzelner Kapitel. Mit diesem Modell im Kopf wird man hingegen jede Organisation durch andere Augen sehen. Zum Aufbau des Buches Im Prolog wird die grundsätzliche Thematik umrissen und gezeigt, dass die Leistungsfähigkeit der technischen Systeme der Leistungsfähigkeit der sozialen Systemen (also unseren Unternehmen und gesellschaftlichen Institutionen) weit voraus ist und dass dieser Vorsprung aufgeholt werden muss, damit Wirtschaft und Gesellschaft besser funktionieren. Es wird auch gezeigt, dass die Kybernetik, die den technischen Erfolg einleitete, dieselbe wissenschaftliche Grundlage ist, die auch den Erfolg in den sozialen Systemen ermöglichen wird. Steuerung und Kommunikation sind das zentrale Thema in unserer Informationsgesellschaft, und Information ist die Grundgröße, mit der sich das Management primär auseinandersetzen muss. Die dritte Dimension des Organisierens ist die Gestaltung dieser Steuerungs- und Kommunikationsstrukturen und die Vorlage dazu ist unser eigenes Nervensystem. Im ersten Teil wird einerseits gezeigt, dass eine moderne Gesellschaft von der Qualität ihrer Organisationen abhängt und dass jede Führungskraft heute organisieren muss. Es wird die aktuelle Situation des Organisierens beleuchtet und argumentiert, dass wir uns für die Organisationen des 21. Jahrhunderts nun vom Modell der Maschine verabschieden und uns dem Modell des Organismus zuwenden müssen. Komplexität wird als gemeinsamer Nenner jeder Organisation in Business und Non-Business Bereich, und deren Nutzung statt Reduzierung als maßgeblicher Wettbewerbsfaktor erkannt. Die Aufbau- und Ablauforganisation stellen die ersten zwei Dimensionen des Organisierens dar, sinngemäß der Anatomie und der Physiologie des Körpers. Die Dritte Dimension ist die Neurologie, also die Kommunikations- und Entscheidungsprozesse, die Steuerung ermöglichen. Über diese wird Komplexität beherrscht, und die beste Vorlage dazu, mit vier Milliarden Erfahrung, ist das Nervensystem von Organismen. Anschließend geht es um die Praxis des ­Organisierens, die im Fokus dieses Buches steht. Die Kardinalfehler des Organisierens werden beleuchtet und diskutiert. Der zweite Teil führt in das Viable System Model ein. Wir wenden es beispielhaft auf ganz unterschiedliche Systeme wie eine Familie, ein Projekt, ein Unternehmen und einen Staat an, um damit seine generelle Gültigkeit zu zeigen, und um ein umfassenderes Verständnis des Modells zu erhalten. Es wird gezeigt, dass das Modell rekursiv ist: Dieselbe Struktur wiederholt sich auf jeder Führungsebene. Somit lassen sich kleine aber auch noch so große Organisationen mit ein und demselben Modell gestalten. Zum Schluss geht es um

2.5  Aufbau und Nutzen des Buches

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den Menschen in der Organisation. Es wird argumentiert, warum er üblicherweise „verschiedene Hüte aufhat“ und warum Hierarchie nichts Schlechtes, sondern aus Gründen der Logik notwendig ist, solange sie sich aus der Relevanz von Information ergibt, und nicht aus Status und Machtbedürfnissen von Personen. Im dritten Teil geht es um die Anwendung des Modells: Wir gehen durch den Dia­ gnose- und Gestaltungsprozess. Am Schluss jedes Kapitels wird jeweils zur Aktion aufgerufen. Der Leser wird aufgefordert, das Gelesene auf seinen eigenen Verantwortungsbereich anzuwenden, egal ob es sich um die Organisation eines Teams, eines Projektes, einer Abteilung, eines Geschäftes oder einen ganzen Konzern handelt. Erst durch die Anwendung und das Experimentieren entsteht ein vertieftes Verständnis. Wir lernen, wie man vom Kunden herkommend die eigene Organisation maßschneidert und welche Steuerungs- und Kommunikationsstrukturen dabei geprüft und entwickelt werden müssen. Wir werden in diesem Teil auch den richtigen Umgang mit Komplexität beleuchten, die wichtigsten Gesetze dafür kennen lernen und uns mit Kommunikationsleistung und -sicherheit befassen. Im vierten Teil geht es um die Umsetzung. Wie kann die Organisationsstruktur verständlich dargestellt werden, so dass Aufbau-, Ablauf- und Steuerungsorganisation verschränkt werden? Welche Vorgehensweise hat sich in der Praxis für die Umsetzung von Reorganisationsprojekten bewährt, und warum sollte man so vorgehen? Ergänzend werden einige typische Muster „kranker“ Organisationen mittels Viable System Model dargestellt. Es wird klar, dass man die dahinterstehenden Pathologien mit Organigrammen oder Prozessdarstellungen nicht erkennen würde. Manchmal sind es die Anatomien, die zu einer Neurologie-Krise respektive zu einer Überlastung des Nervensystems führen, und manchmal sind es Lücken im Nervensystem selbst. Zum Schluss werden ergänzend zwei weitere Methoden beleuchtet, die Stafford Beer im Zusammenhang mit dem Viable System Model entwickelt hat. Es geht um die Balance zwischen den Anforderungen des heutigen und den Anforderungen des zukünftigen Geschäftes. In diesem Bereich finden die existenziell wichtigsten Entscheidungen statt und hier ist die Gefahr am größten, dass die Erfolgsfaktoren der Vergangenheit in die Zukunft extrapoliert und damit die Anpassungsfähigkeit der Organisation unterminiert wird. Team Syntegrity ist eine kybernetische Kommunikationsstruktur für die Willensbildung und der Operations Room eine architektonische Führungs- und Entscheidungsstruktur, wie sie heute schon überall da im Einsatz ist, wo es um Leben und Tod geht und deshalb die Systeme funktionieren müssen. Abends an der Bar: Am Ende jedes Teils werden ausgesuchte Inhalte nochmals kritisch reflektiert und typische Missverständnisse ausgeräumt. Die Diskussion zwischen den Protagonisten Sandra, Rachel, Marc und David abends an der Bar ist eine Stellvertreter-­Diskussion zwischen dem Leser und dem Autor, die auch Beer in seinem Buch „The Heart of Enterprise“ verwendet hat. Es hat mir immer großen Spaß gemacht, diesen Teil zu lesen und meine Aufmerksamkeit auf besonders relevante Punkte hinlenken zu lassen. Ich habe dieses didaktische Mittel deshalb hier ebenfalls eingesetzt.

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2 Einführung

Zur Sprache Ich verwende bewusst keine wissenschaftliche Sprache, sondern die Sprache, in der ich mich mit Führungskräften unterhalte. Dazu gehören auch Anglizismen, soweit sie zur gebräuchlichen Fachsprache gehören oder der Verbindung mit der Originalsprache des Viable System Models dienen. Da die Anwendung und der praktische Nutzen im Vordergrund stehen, habe ich auf Details verzichtet, die den Leser verwirren oder seinen Lesefluss bremsen könnten. Begriffe, die den Körper erklären, werden verwendet, ohne in die Details zu gehen. Trotzdem ist das Modell mehr als nur eine Metapher. Auf die Theorie des Viable System Models selbst gehe ich nur soweit ein, wie es für das Verständnis nötig ist. Wer sich für die wissenschaftlichen Grundlagen interessiert und es genauer wissen will, den verweise ich auf die oben angegebene Original-Literatur von Stafford Beer. In seinen Büchern werden Axiome, Theoreme, Gesetze und Prinzipien in der Tiefe dargelegt. Das Wort „Organisation“ kann immer beides meinen, die Institution und das Instrument. Ein Unternehmen ist eine Organisation und es hat eine Organisation. Unsere Sprache ist hier nicht wirklich klar. Im Buch verwende ich den Begriff vorwiegend für das Instrument und ergänze ihn zuweilen mit „Organisationsstruktur“. Genau genommen sind Organisation (als Instrument) und Struktur nochmals zwei verschiedene Dinge. Unter der Struktur von etwas werden die Bestandteile und die Relationen verstanden, die eine Einheit konstituieren und ihre Organisation verwirklichen. Unter Organisation hingegen sind nur die Relationen zu verstehen, die zwischen den Bestandteilen gegeben sind [14]. Für unsere praktischen Belange können wir jedoch über diese akademischen Feinheiten hinwegsehen und Organisation und Struktur synonym verwenden. Sofern mit Organisation hingegen die Institution gemeint ist, sind alle Arten von Institutionen in der Wirtschaft und Gesellschaft angesprochen: Firmen, Vereine, Gemeinden, NGOs, die Verwaltung und so weiter. Der Begriff „soziale Systeme“ umfasst sie alle, klingt aber etwas umständlich und theoretisch. Ich verwende stattdessen das Wort „Unternehmen“, weil mir dieser Begriff am umfassendsten und klarsten erscheint. Schließlich macht der Wissenschaftler auch Unterschiede zwischen den Begriffen „Steuern“, „Lenken“ und „Regeln“. Auch hier können wir getrost etwas vereinfachen. Ich verwende „Steuerung“ als Kernbegriff, in Anlehnung an den Gubernator, den Steuermann Kybernetes, von dem sich das Wort Kybernetik herleitet und meine damit zuweilen auch Lenkung oder Regelung. Für eine bessere Lesbarkeit verzichte ich auf explizit weibliche Formen und bitte davon auszugehen, dass ich stets den Menschen meine. „Führungskräfte“ oder „Manager“ sind in diesem Buch Menschen, ob jung oder alt, männlich oder weiblich, die eine Verantwortung für einen Beitrag ans Unternehmen tragen, und mit „Senior-­Management“ ist nicht der alte autoritäre Boss gemeint, sondern das übergeordnete (Meta-)Steuerung­ system, wie wir sehen werden. Im Übrigen verweise ich auf das Glossar im Anhang des Buches und sage mit Warren McCulloch: cc

Don’t bite my finger – look where I am pointing.

Literatur

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Literatur 1. Champy, James, und Michael Hammer. 1995. Business Reengineering. Die Radikalkur des ­Unternehmens, 5. Aufl. Frankfurt/New York: Campus. 2. Drucker, Peter. 1974. Management: Tasks, responsibilities, practices, 462–465. London: Butterworth-­Heinemann. 3. Bresch, Carsten. 1977. Zwischenstufe Leben. Evolution ohne Ziel? München: Piper. 4. Nachtigall, Werner. 2002. Bionik. Grundlagen und Beispiele für Ingenieure und Naturwissenschaftler, 2. Aufl., 3–15. Berlin/Heidelberg/New York/Hongkong/London/Mailand/Paris/Tokio: Springer. 5. Beer, Stafford. 1959. Cybernetics and management, 132. London: The English Universities Press. 6. Pfiffner, Martin, und Peter Stadelmann. 2012. Wissen wirksam machen. Wie Kopfarbeiter produktiv werden, 3. Aufl., 39–57. Frankfurt/New York: Campus. 7. Malik, Fredmund. 2008. Unternehmenspolitik und Corporate Governance. Wie Organisationen sich selber organisieren, 90 und 156. Frankfurt/New York: Campus. 8. Malik, Fredmund. 2008. Die richtige Corporate Governance. Mit wirksamer Unternehmensaufsicht Komplexität meistern. Frankfurt/New York: Campus. 9. Beer, Stafford. 1972. Brain of the firm. The managerial cybernetics of organization, 2. Aufl., 122. Chichester/New York/Brisbane/Toronto/Singapore: Wiley. 10. Beer, Stafford. 1979. The heart of enterprise. The managerial cybernetics of organization. Chichester/New York/Brisbane/Toronto/Singapore: Wiley. 11. Beer, Stafford. 1985. Diagnosing the system for organizations. The managerial cybernetics of organization. Chichester/New York/Brisbane/Toronto/Singapore: Wiley. 12. Pfiffner, Martin. 2010. Five Experiences with the Viable System Model. Kybernetes 39(9/10: Emerald): 1615–1626. 13. Malik, Fredmund. 2015. Navigieren in Zeiten des Umbruchs. Die Welt neu denken und gestalten, 17–19. Frankfurt/New York: Campus. 14. Maturana, Humberto, und Francisco J. Varela. 1987. Der Baum der Erkenntnis. Wie wir die Welt durch unsre Wahrnehmung erschaffen – die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens, 3. Aufl. Bern/München/Wien: Scherz.

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Die 10 Kardinalfehler des Organisierens

3.1

Mit Organigrammen beginnen

Wenn Führungskräfte sich über die geeignete Organisationsstruktur unterhalten, tun sie es immer auf die gleiche Weise. Sie treffen sich im Sitzungszimmer, nehmen einen Flipchart zur Hand und beginnen Organigramme zu malen. Anhand von Kästchen und Hierarchie­ linien überlegen sie, wie sie das Unternehmen in Zukunft organisieren oder wie sie die zugekaufte Firma integrieren wollen, welche Einheit zentral und welche dezentral angesiedelt werden soll, wo „solid“ und wo „dotted lines“ benötigt werden. Jeder Diskussionsteilnehmer hat im Laufe seiner Karriere ein paar Erfahrungen mit verschiedenen Organisationsformen gemacht, die er nun in die Diskussion einwirft. Dieses Vorgehen ist aus drei Gründen problematisch. Erstens sind Organigramme rein beschreibend. Man kann mit ihnen weder diagnostizieren noch gestalten. Sie sind so etwas wie Landkarten der Organisation, die der groben Orientierung dienen. Was sie beschreiben, ist alleine die Befehlskette und die Verteilung von Verantwortung. Sie beschreiben wer schuld ist, wenn etwas schiefgelaufen ist, aber dafür bauen wir die Organisationen nicht. Wir bauen sie, damit die Dinge eben gerade nicht schieflaufen, und das erfordert eine richtige Gestaltung. Organigramme zeigen die Zerlegung des Ganzen in seine Bausteine, nicht aber deren Zusammenspiel. Das Zerlegen an sich ist nicht schwierig: Um aus einem Fisch eine Fischsuppe zu machen, legen wir ihn in einen Topf und stellen diesen auf den Herd. Nach kurzer Zeit ist der Fisch in seine Bauteile zerlegt. Aber umgekehrt aus einer Fischsuppe einen Fisch zu machen ist eine ganz andere Geschichte. Was beim Zerlegen verloren geht, ist die Information, wie die Bausteine zusammenwirken, damit der Fisch funktioniert. Organigramme sagen also nichts über das tatsächliche Funktionieren aus, ganz gleich, ob man funktional, als Matrix oder divisional organisiert ist, und niemand mit Erfahrung würde das von einem Organigramm erwarten. In Wirklichkeit funktioniert das Unternehmen kreuz

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Pfiffner, Die dritte Dimension des Organisierens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29247-8_3

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3  Die 10 Kardinalfehler des Organisierens

und quer durch das Organigramm hindurch, und das Weiße zwischen den Kästchen ist oftmals wichtiger als die Kästchen selbst. Wesentliche Dinge fehlen im Organigramm: a. Die Kunden, die letztlich ja Ort der Zweckerfüllung des Unternehmens sind. b. Die Gremien, in denen Entscheidungen vorbereitet oder kommuniziert werden und über die sich Führungskräfte koordinieren und austauschen. c. Die Projekte, durch die die meisten Dinge in einem Unternehmen realisiert werden. d. Die Sekretariate, die das Geschäft täglich am Laufen halten (wenn sie streiken würden, ständen viele Unternehmen innerhalb kurzer Zeit still). e. Die Sitzungen, durch die fast alles, was im Unternehmen erfolgt, besprochen, entschieden und kommuniziert wird. f. Die tradierten Regeln, die jeder Mitarbeiter kennt, und die nirgends aufgeschrieben sind. Sie sind ein Teil der Unternehmenskultur. Man weiß, was man in diesem Unternehmen tut, wie man es tut, und was man nicht tut. Organigramme (Abb. 3.1) sind wie das „Windows“ auf unserem Computer – eine dem Sinnesorgan zugängliche Oberflächenstruktur. Die Tiefenstruktur dahinter, das Betriebssystem, das alles zum Funktionieren bringt, zeigen sie nicht. Für die Diagnose und das Design einer Organisation sind sie deshalb unbrauchbar. In unserer Metapher der drei Dimensionen des Organisierens stehen die Organigramme für die Anatomie des Unternehmens – die Aufbauorganisation. Sie beschreiben, welche organisatorischen Einheiten es gibt, wer dafür Verantwortung trägt und wer wem disziplinarisch unterstellt ist. Sie zeigen jeder Person im Unternehmen, wo sie „zu Hause“ ist, wie die Berichtslinien verlaufen und

Abb. 3.1 Organigramme

3.2  Am Kundennutzen vorbei organisieren

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an wen sie sich für Informationen, Entscheidungen oder Unterstützung wenden muss. Das können sie gut, solange man sie nicht überfrachtet. Bei gewissen Organigrammen großer Konzerne gewinnt man hingegen zuweilen den Eindruck, dass dort der ganze Stammbaum der Habsburger nachgeführt wird – inklusive unehelichen Söhnen. Organigramme müssen zwar nicht unbedingt einfach sein, aber sie müssen klar sein, damit sie Orientierung geben. Wir brauchen sie dazu erst am Ende, und nicht am Anfang des Organisierens. cc

Das Organisieren beginnt nicht mit Organigrammen, sondern es endet mit ihnen.

Zweitens scheint sich beim Organisieren jedermann automatisch und selbstverständlich für kompetent zu halten. Schließlich lebt ja jedermann in vielen Organisationen und glaubt sich deshalb mit dem Organisieren auszukennen. Das stimmt nur begrenzt. Um wirklich von Erfahrung mit dem Organisieren zu sprechen, müsste man sehr viele Organisationen selber aktiv gestaltet und ihr Funktionieren dann auch lange genug erlebt haben, damit man das Resultat beurteilen kann. Das trifft auf die Wenigsten zu. Die meisten Führungskräfte machen im Laufe ihrer Karriere vielleicht mit fünf verschiedenen Organisationen wirklich vertiefte, nutzbare Erfahrung, und die meisten davon haben sie nicht selber gestaltet. Außerdem lässt sich die Erfahrung mit einer Organisationsform nicht einfach auf eine andere Institution übertragen, selbst wenn sie in derselben Branche tätig ist. Die Vorstellung der Übertragung von Organisationsformen mit Hilfe des Organigramms ist drittens ohnehin problematisch. Abgesehen davon, dass das Organigramm eben einen nur sehr kleinen Teil der Organisation beschreibt, dürfen wir die Organisation a priori nicht einfach wie ein Objekt behandeln und die unserer Meinung nach geeignete Organisationsform wie einen Konfektions-Anzug sozusagen von der Stange weg auswählen. Wir haben oben im Zusammenhang mit Komplexität als Messgröße bereits dargelegt, dass das Organisieren wie das Schneidern eines Maßanzuges funktioniert: Man geht vom Kunden aus. Alles andere ergibt sich zwangsläufig nach Maßgabe der Erfüllung seiner Bedürfnisse. Diese stehen im Zentrum jeder guten Strategie. Zusammen mit der Absicht, wie man in der Erfüllung dieser Bedürfnisse besser sein will als der Wettbewerb, sind sie der Fixstern, an dem wir unser Vorgehen zur richtigen Gestaltung orientieren müssen. Sie sagen uns, was in Sachen Organisation das richtige Maß und die richtige Form ist – für genau dieses eine Unternehmen und in seiner jetzigen Situation. Ab Kap.  9 schauen wir uns an, wie man das tut.

3.2

Am Kundennutzen vorbei organisieren

„Kunde im Mittelpunkt“ steht in fast jedem Unternehmensleitbild. Aber nur die wenigsten Führungskräfte können beurteilen, ob ein Unternehmen seine Kunden wirklich in den Mittelpunkt stellt. Ausrichtung auf den Kunden bedeutet genau das in den Fokus zu stellen, wofür der Kunde bereit ist, Geld auszugeben (für den Leistungsempfänger in Non-­ Business Organisationen kann das sinngemäß formuliert werden). Das ist etwas anderes,

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3  Die 10 Kardinalfehler des Organisierens

als was wir aus Kundenzufriedenheitsstudien herauslesen. Ein Kunde kann sehr zufrieden sein mit Leistungen, die wir erbringen. Aber er wäre vielleicht nie bereit, für sie zu bezahlen, wenn er das müsste. Er bezahlt nur für das, was ihm wirklich wichtig ist, und alles andere nimmt er einfach mit. Wofür er bereit ist, Geld auszugeben, ist die Zielscheibe des Unternehmens. Genau in diesen Faktoren gilt es zu punkten – und zwar besser, als es die Konkurrenten tun. In der Schweizer Armee nimmt jeder Soldat sein Gewehr mit nach Hause. Er muss dann einmal jährlich im Schießstand zeigen, dass er damit noch ein Ziel treffen kann. Dabei kommt es immer wieder vor, dass einer eine Zehn schießt – aber auf die falsche Scheibe: Das gibt null Punkte. Und so schießen auch viele Unternehmen eine Zehn auf die falsche Scheibe, indem sie besonders gut in Dingen sind, für die ihre Kunden nicht bezahlen. cc

Das Organisieren beginnt mit der Frage, wie man das, wofür der Kunde bezahlt, ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellt, so dass es von dort nicht wieder verschwinden kann.

Haben wir mit unserer Organisation Verantwortung für genau diese Dinge verankert? Oder wer verantwortet sie sonst? Und wissen wir überhaupt, wofür uns der Kunde auch wirklich bezahlt? Die Erfahrung zeigt, dass man sieben verschiedene Antworten erhält, wenn man fünf Führungskräfte im selben Unternehmen fragt. Und wie ist es mit den Nicht-Kunden? Denn selbst wenn wir einen Marktanteil von 30 % besitzen, bedeutet das doch immer noch, dass 70 % der möglichen Kunden bei der Konkurrenz kaufen. Es lohnt sich also, sich gründlich mit dieser Frage auseinanderzusetzen. Man darf sich nie mit einer Antwort zufriedengeben, und man muss diesen Punkt immer wieder neu hinterfragen – auch deshalb, weil er sich im Laufe der Zeit ändert. Er bestimmt das, was als Resultat und als Leistung in diesem Unternehmen gelten muss. Ob der „Kunde im Mittelpunkt“ steht, muss also mit dem erzielten Kundennutzen im Vergleich zum Wettbewerb beurteilt werden. Dieser ist ausschlaggebend für den Gewinn von Marktanteilen, wie empirische Langzeitstudien gezeigt haben: Diejenigen Unternehmen gewinnen auf Dauer Marktanteile, die einen höheren relativen Kundennutzen ausweisen [1]. Der Kundennutzen ist das Preis-Leistungsverhältnis, wobei sich die Leistung durch die kaufentscheidenden Kriterien des Kunden definiert. Normalerweise zieht ein potenzieller Käufer nicht viel mehr als fünf bis neun verschiedene Kriterien in Betracht, bevor er entscheidet, ob er bei dieser oder jener Firma kauft. Beim Kauf eines Autos mag dies beispielsweise die Motorenleistung, die Sicherheit, der Komfort, der Verbrauch, die Umweltfreundlichkeit, das Image und in Zukunft vermehrt die Social-Media-Fähigkeit sein. Wenn man Führungskräfte nach den kaufentscheidenden Kriterien für die Produkte ihres Unternehmens fragt, zählen sie hingegen für gewöhnlich viel zu viele Dinge auf. Aus ihrer Sicht sind es wichtige Dinge oder Eigenschaften ihrer Produkte und Dienstleistungen, auf die sie stolz sind. Die wenigsten Käufer ziehen jedoch mehr als eine Handvoll Kriterien wirklich in Betracht. Manchmal sagen Führungskräfte auch, dass der Preis das wichtigste Kriterium sei, oder dass für die Kunden eigentlich fast nur der Preis zählt. Das mag sein, aber dennoch

3.3  Beim Konkurrenten abschauen

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müssen beide Seiten des Kundennutzens getrennt voneinander betrachtet werden. Die Frage ist: Wofür bezahlt der Kunde? Niemand bezahlt für einen Preis. Man bezahlt immer für die Leistung. Worin diese Leistung besteht, ist die Frage, die uns für das richtige Organisationsdesign interessiert. Ob man diese Leistung auch zu einem kompetitiven Preis erbringen kann, ist früher oder später immer eine Frage der Größe des Unternehmens im Vergleich zu seinen Wettbewerbern. Größere Unternehmen haben entsprechend den Gesetzen der Erfahrungskurve größere Möglichkeiten, an ihren Kosten zu arbeiten [2]. Die von dieser Größe abhängige, unterste erreichbare Kostengrenze bestimmt schließlich, wie kompetitiv der eigene Preis sein kann, so dass man immer noch die nötige Marge erzielt. Und hier schließt sich der Kreis, weil gerade dann, wenn der Marktanteil noch zu klein für einen kompetitiven Preis ist, der überlegene Kundennutzen umso mehr durch überlegene Leistung in den kaufentscheidenden Kriterien entstehen muss. So sind Strategie und Struktur eng miteinander verbundene Dimensionen der gleichen Frage: Wie man den Kunden genau da noch besser bedient, wo es für ihn am meisten zählt. Ich habe allerdings oft erlebt, dass Führungskräfte die Organisation eher „Inside-Out“ gestalten. Sie beginnen nicht mit der Sicht des Kunden, sondern mit ihrer eigenen Innensicht. Sie gehen von den bestehenden Produkten und Dienstleistungen aus und überlegen sich, mit welcher Struktur sie diese am besten zum Kunden bringen. Das führt früher oder später mit großer Wahrscheinlichkeit dazu, dass man eine Zehn auf die falsche Scheibe schießt – spätestens dann, wenn sich die Kundenbedürfnisse verändert haben. Eine gute Organisation beginnt mit den Resultaten, die sie erbringen soll, also mit dem, was als Leistung zu verstehen ist. Und diese wird immer durch den Kunden oder den Leistungsempfänger, also „Outside-In“ definiert. Gute Organisationsstrukturen entstehen nicht einfach von selbst durch evolutives Wachstum. Das einzige was in einer Organisation von selbst entsteht, ist Unordnung, Friktionen und schlechte Performance. Sie müssen aktiv gestaltet werden. Das erfordert viel Gedankenarbeit und einen systematischen Ansatz, der von der Frage ausgeht, wofür Kunden eigentlich wirklich bezahlen. Je besser es uns gelingt, Verantwortung für Kundennutzen im Unternehmen zu verankern, desto größer die Wettbewerbsfähigkeit und die Chancen auf Gewinn von Marktanteilen. Im Abschn. 9.3 werden wir diskutieren, wie man den Kunden wirklich in den Mittelpunkt stellt.

3.3

Beim Konkurrenten abschauen

Typischerweise entsteht am Flipchart nach einigen Stunden Diskussion unter den Führungskräften eine gewisse Ratlosigkeit. Jeder Diskussionsteilnehmer hat inzwischen seine Meinung und Vorschläge zur Verbesserung der Organisation eingebracht. Aber wie beurteilen wir nun, welche Vorschläge sinnvoll sind und welche nicht? Woran messen wir die Qualität der Vorschläge? Zu diesem Zeitpunkt geschieht nach meiner Beobachtung meistens folgendes: Jemand schlägt vor, dass man die Organisationsstruktur des erfolgreichsten Konkurrenten studiert, bevor man weiter diskutiert. Der Gedanke dahinter: Wenn dieser

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3  Die 10 Kardinalfehler des Organisierens

Wettbewerber damit erfolgreich ist, kann das ja nicht so falsch sein. Der Vorschlag wird mit Erleichterung angenommen, und so gibt man erst einmal eine Studie in Auftrag. Man will sozusagen die „best practice“ in der eigenen Branche studieren, um sie dann möglicherweise zu kopieren. Nun ist aber „best practice“ nicht immer auch gleich „right practice“. In diesem Fall führt das Vorgehen sogar systematisch zu einer „wrong practice“. Das Problem hängt damit zusammen, dass man eine Organisationsstruktur nie alleine für sich betrachten darf. Sie hat erstens eine Verbindung zur Strategie, in der festgelegt wird, wo das Unternehmen hinwill. „Strategy is a big word for knowing what to do“ soll Peter Drucker gesagt haben. Die Struktur ist dann das Vehikel, das einen da hinbringen soll. Je nachdem wo man hinwill, benötigt man ein ganz anderes Vehikel: Wer in den Bergen zur Alphütte fahren will, braucht dazu einen Off-Roader, und wer am Nürburgring gewinnen will, braucht einen Formel-1-Boliden. cc

Structure follows strategy! (Alfred J. Chandler)

Eine gute Strategie beginnt beim heutigen und zukünftigen Kunden. Sie definiert, wer dieser Kunde ist, und sie definiert die Leistung, die das Unternehmen auf Basis seiner eigenen Stärken für ihn erbringen will, und mit der es ein Stück besser als der Wettbewerb sein kann. Auf Dauer gelingt das nur, wenn es seine eigenen Stärken optimal zum Tragen bringt. Diese Wettbewerbsfähigkeit definiert in einer Marktwirtschaft den Erfolg. Kundennutzen und Wettbewerbsfähigkeit sind deshalb die beiden Fixsterne für die Steuerung des Unternehmens. Die Strategie umfasst aber auch die Stoßrichtungen, mit denen das Unternehmen seine Marktstellung, Innovationskraft, Produktivität, Attraktivität für gute Leute, Liquidität und Profitabilität stärken will [3]. Die Struktur ist danach die logische Ableitung davon. Sie muss das Zusammenspiel von eigenen Stärken und Kundenbedürfnissen ermöglichen und dabei helfen, die strategischen Stoßrichtungen umzusetzen. Wer nun die Struktur seines Konkurrenten kopiert, kopiert insofern auch seine Strategie. Das heißt, er versucht die Konkurrenz da zu schlagen, wo diese ihre Stärken hat und worauf sie ihre Ressourcen fokussiert. Niemand kann eine solche Strategie wollen und niemand kann damit auf Dauer erfolgreich sein. Deshalb kann das eigene Unternehmen auch nicht mit der Struktur des Konkurrenten erfolgreich sein, außer in dem einen Fall, wo die Strategie und Struktur des Konkurrenten schlecht gemacht wurden. Umso weniger sollten sie dann kopiert werden. Selbst wenn man im Zuge einer Organisationsdiagnose zur gleichen Grundstruktur wie die Konkurrenz kommt, so tut man dies doch aus anderen Gründen. Und es ist für das weitere Organisieren wichtig, diese Gründe zu kennen. Wenn wir über Organisation reden, müssen wir immer die Verknüpfung der Struktur zur Strategie, wie auch zur Kultur des Unternehmens im Kopf behalten. „Structure follows Strategy“ steht für den Pfeil in Abb. 3.2, der von der Strategie zur Struktur geht. Die Struktur folgt der Strategie. Aber auch in umgekehrter Richtung gibt es eine logische Verbindung: Wofür eine Strategie gemacht wird, hängt immer von den bereits vorhandenen, heutigen organisatorischen Gefäßen ab. Ein Strategieprozess ist deshalb oftmals kein linearer Prozess, sondern ein iteratives Vorgehen. Man beginnt mit den Eckwerten einer Strategie,

3.3  Beim Konkurrenten abschauen

47

Abb. 3.2  Struktur in Verbindung mit Strategie und Kultur

passt danach die Struktur an, und aus dieser heraus entstehen wiederum neue Strategien. Die Zirkularität, die gegenseitige Abhängigkeit von Strategie und Struktur, wird damit sichtbar. Die Verbindung zwischen der Struktur und der Kultur, also den Menschen und ihrem Handeln, ist genauso wichtig. Die Struktur bestimmt und leitet diese Handlungen in einem gewissen Sinne. Ein autoritär geführtes Unternehmen mit steiler Hierarchie und engen Handlungsspielräumen bringt eine andere Kultur hervor, als eine flache Hierarchie, in der „Unternehmer im Unternehmen“ über große Autonomie verfügen. Ebenso wie die Art der Führung selbst bestimmt auch die Struktur, ob sich die Führungskräfte eher aktiv oder eher passiv-abwartend verhalten: Traut man sich einen Schritt vor, oder scheut man grundsätzlich die Risiken? Agiert man gestaltend oder eher verwaltend? Ist man schnell oder eher träge? Ist man umsetzungsstark oder -schwach? Wir kennen das auch aus dem Privatleben: Wer eine Familie mit Kindern hat, weiß, wie sehr die Strukturen des Zusammenlebens die Kultur in der Familie beeinflussen. Auch wenn diese nirgends aufgeschrieben sind. Und wieder wirkt nicht nur die Struktur auf die Kultur, sondern umgekehrt auch die Kultur auf die Struktur zurück: Strukturen und Kulturen wachsen miteinander. Die Resistenz vorhandener Kulturen gegenüber Veränderungen darf dabei nicht unterschätzt werden. Nicht jede Struktur wird sich innerhalb der bestehenden Kultur umsetzen lassen. Auch aus diesem Grund dürfen wir die Struktur nicht der Konkurrenz abschauen. Oftmals müssen Kompromisse wegen der Menschen gemacht werden, beispielsweise auch wegen der ganz simplen Frage, ob man am Ende genügend und die richtigen Leute hat, um die Struktur so umzusetzen, wie man sie idealerweise gestalten will. Das ist der Pfeil von der Kultur und den Menschen zurück zur Struktur. Meistens ist es eher der Mangel an

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3  Die 10 Kardinalfehler des Organisierens

menschlichen Ressourcen, also der Mangel an genügend qualifizierten Führungskräften, der einen zu Kompromissen zwingt, als der Mangel an finanziellen Mitteln. Wie man in solchen Situationen zu den richtigen Kompromissen kommt, und wie man einen guten von einem schlechten Kompromiss unterscheidet, werden wir im Abschn. 3.6 diskutieren.

3.4

Schwachstellen optimieren

Wir haben oben davon gesprochen, dass Prozesse zur Gestaltung der Struktur nicht immer so linear ablaufen, wie wir uns das vorstellen, sondern manchmal eben zyklisch. Führungsteams durchlaufen selbst oft auch eine Art von psychischer Schlaufe. Sie geraten während des Gestaltungsprozesses in mentale und emotionale Krisen, in denen sie die bisher gewonnenen Erkenntnisse und Gewissheiten wieder verlieren und nochmals alles hinterfragen. Man kennt zwar die Schwächen und die Probleme der heutigen Organisation, aber man kennt die zukünftige Organisation noch nicht. Man erahnt zwar deren Vorteile, aber wenn man sich das dann praktisch vorstellt, kommen Zweifel auf: Wie soll das alles gehen? Da man keinen klaren Maßstab für die Beurteilung von Richtig und Falsch hat, entsteht die Versuchung, den Gestaltungsprozess abzubrechen oder massiv zu reduzieren: „Sollten wir dann nicht doch vielleicht eher bei der heutigen Organisation bleiben und einfach deren akuteste Probleme lösen?“ Obwohl man die Organisation nur dann ändern soll, wenn es wirklich sein muss, kann das ein Irrweg sein. Und dieser wird oft begangen. Hier ist die Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Arten von Problemen hilfreich: Solche, mit denen man leben und für die man eine Lösung finden muss, und solche, die gar nicht erst vorhanden sein dürften, wenn das Unternehmen richtig strukturiert wäre. Diese zweite Art von Problemen dürfen nicht gelöst – sie müssen aufgelöst werden. Sie zu lösen würde bedeuten, die Dinge besser zu machen, die eigentlich falsch sind und ein Hindernis darstellen. Unnötige Schwachstellen entstehen da, wo sich Verantwortungsbereiche überschneiden und es deshalb immer wieder Diskussionsbedarf und Konflikte gibt. Ein Unternehmen, in dem die operativen Einheiten stark voneinander abhängig sind und viele Schnittstellen koordiniert werden müssen, sollte also nicht Arbeit in die Optimierung dieser Schnittstellen stecken, sondern es sollte sie eliminieren, selbst wenn das eine einschneidende Strukturveränderung erfordert. Wenn ein anderes Unternehmen sein Geschäft in Produktbereiche segmentiert, seine Führungsstrukturen faktisch aber an den juristischen Einheiten von Vertriebs- und Produktionsgesellschaften ausrichtet, wird man bestimmt keinen Erfolg damit haben, einfach nur die problematischen Schnittstellen zu verbessern. Sie müssen nicht verbessert, sondern vermieden werden, weil sich Führungsdimensionen überkreuzen, wo sie sich nicht überkreuzen dürften. Damit entstehen Fluchtwege vor der Verantwortung und Konflikte sind unvermeidbar. Das Unternehmen muss in diesem Fall die Entscheidung treffen, ob die Chefs der Produktbereiche oder die Chefs der Gesellschaften für den Erfolg verantwortlich sein sollen und dann seine Führungsstruktur an

3.4  Schwachstellen optimieren

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dieser Dimension ausrichten. Das Lösen von aktuellen Problemen bringt sie nicht weiter. Aus diesem Grund muss immer eine Diagnose der Gesamtorganisation erfolgen, bevor man einzelne Schwachstellen angeht. Nachdem hingegen Gewissheit über die primäre Führungsdimension gefunden wurde, wird es zwar immer noch eine Restmenge an Schnittstellen und Problemen geben, diese zu lösen ist dann aber nicht mehr unnötig, sondern jetzt Hausaufgabe. Erst wenn wir einen Diagnoseprozess durchlaufen haben, können wir die Gewissheit haben, dass die verbleibenden Probleme die richtigen Probleme sind. Einfach nur die aktuellen Probleme zu lösen führt zu viel Aufwand und wenig Ertrag. cc

Es kommt darauf an, die richtigen und nicht die falschen Probleme zu haben!

Nun ist es leider tatsächlich so, dass jede Organisation ihre Probleme hat: Die heutige und die zukünftige. Mit großer Wahrscheinlichkeit tauchen nach Reorganisationen wieder neue Probleme an neuen Stellen auf. Die konfliktfreie Organisation gibt es nicht, denn letztendlich hängen die Konflikte nicht nur davon ab, welche Menschen in welcher Angelegenheit zusammenkommen, sondern vor allem auch, was das konkret für Menschen sind: Verstehen sie sich? Können sie sich aufeinander verlassen? Arbeiten sie produktiv zusammen? Wir haben oben gesagt, dass die Kultur einen Einfluss auf die Struktur des Unternehmens hat. Noch stärker als die Unternehmenskultur wirkt aber die Persönlichkeit jedes einzelnen Menschen, wenn er mit anderen Persönlichkeiten zusammentrifft. Nun hat man in einem Unternehmen alle möglichen Arten von Persönlichkeiten: Man hat Choleriker, aber auch „stille Wasser“. Man hat disziplinierte und undisziplinierte Kollegen. Man hat solche, die gut kommunizieren und solche, die das nie lernen werden. Man hat ein paar Vorbilder, mit denen jedermann gerne zusammenarbeitet, wie auch ein paar sozialpathologische Fälle, mit denen wirklich niemand arbeiten kann. Was man aber vor allem hat, sind durchschnittliche Leute, mit durchschnittlichen Kommunikations- und Teamfähigkeiten. Man wird sich also damit abfinden müssen, dass es immer ein paar Reibungsflächen und Konfliktherde in der Organisation geben wird. Die Kunst liegt darin, das Unternehmen so zu strukturieren, dass es selbst dann noch gut funktioniert, wenn man eben nur durchschnittliche Leute hat und die Mitarbeiter keine Heiligen sind. In einer guten Organisation braucht man kein besonderes Maß an Sozialkompetenz, Teamfähigkeit, emotionaler Intelligenz und anderen Eigenschaften, die ebenfalls in Form von Modewellen immer wieder einmal gefordert werden. Es funktioniert mit den durchschnittlichen Leuten, die man eben hat. Das heißt nicht, dass man seine Leute nicht in solchen Fähigkeiten trainieren soll. Wir sollten es dem Mitarbeiter aber einfach machen, erfolgreich zu sein und deshalb die Organisationen kunden- und menschengerecht bauen. Das bedeutet im Grundsatz, die gegenseitigen Abhängigkeiten auf ein für das Unternehmen gesundes und förderliches Maß zu reduzieren. Das wiederum setzt einen Diagnose- und Gestaltungsprozess voraus, bevor man einfach nur Schwachstellen optimiert.

50

3.5

3  Die 10 Kardinalfehler des Organisierens

In die Matrix flüchten

Die Organisationsform, die am meisten Schnittstellen produziert, ist die Matrixorganisation. In einer Matrix kann keiner mehr alleine etwas tun, ohne zuerst fünf andere Leute gefragt zu haben. Sie ist deshalb diejenige Organisationsform, die ihren Mitarbeitern am meisten von dem abverlangt, was sie normalerweise nicht sehr gut können: Arbeitsmethodik, Disziplin, Konsensfähigkeit und Robustheit. Die Matrix maximiert die Anzahl Schnittstellen, und damit führt sie zu einem riesigen Koordinations- und Abstimmungsaufwand. In der Praxis werden dann diejenigen Schnittstellen, die aufgrund der Friktion von Persönlichkeiten nicht funktionieren, einfach abgeklemmt und es werden menschliche Bypässe gesetzt. Ich habe selten eine Matrix erlebt, die so funktioniert hat, wie sie gedacht gewesen wäre. Sie ist ein beliebter jedoch nur scheinbarer Ausweg aus der Komplexitätsfalle. Wenn ein Unternehmen beispielsweise im angestammten Heimmarkt erfolgreich war und dann ins Ausland expandiert, muss es neben den Produkten auf einmal auch Regionen optimieren. Die Komplexität steigt. Und eventuell müssen auch noch Kundengruppen unterschiedlich bedient werden. Und schon haben wir drei Führungsdimensionen, die alle für sich optimiert werden wollen, sich aber überkreuzen. In der Matrix haben wir für jede Dimension eine verantwortliche Person. Die Dimensionen überkreuzen sich deshalb, weil ein Produktmanager nur in Regionen und mit Kundengruppen erfolgreich sein kann, ein Regionalmanager umgekehrt die Produkte braucht und sich ebenfalls an die gleichen Kundengruppen wendet, und schließlich auch ein Kundengruppenmanager wiederum mit Produkten und in Regionen erfolgreich sein muss. Damit ist keiner mehr für das Geschäft als Ganzes verantwortlich. Jeder Manager ist von jedem anderen Manager erfolgsabhängig. Das produziert erstens vor allem Sitzungen und zweitens Reibungsflächen. Matrixorganisationen führen deshalb über kurz oder lang zu marktfeindlichen Verzögerungen im Entscheidungsprozess und zu einem Verlust an Produktivität. Sie führen zweitens auch zu einem Verlust an Transparenz, weil nun keiner mehr weiß, wer eigentlich genau wofür verantwortlich ist, und damit führen sie drittens zu einem Verlust an Verantwortung, weil jedermann Ausreden hat, wenn die Resultate nicht stimmen: Die Produktmanager sagen, die Regionalleiter hätten nicht gut gearbeitet. Die Regionalleiter beklagen sich darüber, dass sie nicht die richtigen Produkte erhalten. Und spätestens, wenn sich die beiden einig sind, sind die Kundengruppenmanager an der Misere schuld. Diese Intransparenz und die weit offenen Fluchtwege vor der Verantwortung sind tödlich für eine Organisation – spätestens dann, wenn die Komplexität des Geschäftes so weit gestiegen ist, dass sie die Schnittstellen überfordern. Komplexität wächst exponentiell, wie wir in Kap. 10 noch sehen werden, und deshalb werden die meisten Matrixorganisationen von diesem Moment überrascht. Eine Folge der überforderten Schnittstellen ist die Rückdelegation von Aufgaben an die Geschäftsleitung. Jeder Konflikt an den Schnittstellen, der nicht von den Managern selbstständig gelöst werden konnte, wird nun zum Geschäftsleitungsthema. Der Aufwand zur Koordination und Optimierung der operativen Einheiten wird plötzlich so riesig, dass das die Geschäftsleitung zwangsläufig ins operative Micromanagement hineingezogen

3.5  In die Matrix flüchten

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wird, und seine Zeit primär auf das Lösen von dringenden Problemen im heutigen Geschäft verwendet. Die Matrix löst die Komplexitätsprobleme nicht, sie bildet sie nur ab. cc

Minimiere die Anzahl notwendiger – nicht „möglicher“ – persönlicher Kontakte [4].

Nun gibt es aber verschiedene Vorstellungen davon, was eigentlich eine Matrix ist. Sobald sich Führungslinien überkreuzen spricht man normalerweise schon von einer Matrix. Eine echte Matrix überschneidet sich nicht nur in den Verantwortungsdimensionen der organisatorischen Einheiten, sondern sie lässt die Vorfahrtsregelung an den Schnittstellen offen. Jeder ist gleichermaßen verantwortlich, und man muss halt solange mitei­ nander diskutieren, bis eine Lösung da ist. Das funktioniert nur als Schönwettervariante. Genauso wenig wie wir Organisationen für Heilige bauen sollen, dürfen wir sie auch nicht alleine auf Schönwetter auslegen. Sie müssen vor allem dann funktionieren, wenn es schwierig wird. Vorher braucht man sie nicht unbedingt. Das ist die problematische – und häufigste – Form der Matrix. Es ist die eine echte Matrix, weil sie die Schnittstellen nicht wie die Schein-Matrix klärt, sondern gleichberechtigt lässt. Wenn hingegen die Vorfahrt an den Schnittstellen klar ist, haben wir zwar immer noch Schnittstellen, aber keine echte Matrix mehr. Die Schnittstellenprobleme sind zwar nicht aufgelöst, aber immerhin gelöst. Ein Unternehmen mag für sich entscheiden, dass es primär über die Kundengruppen führen will. Die Verantwortlichen für diese Kundengruppen müssen sich nun immer noch mit den Regionalleitern und den Produktverantwortlichen abstimmen, aber nun sind sie es, die entscheiden. Und nur sie tragen die Verantwortung für ihre Entscheidungen. Damit werden Kundengruppen zu operativen Einheiten, und Regionen und Produkte zu unterstützenden Funktionen – eine Unterscheidung, die für das Funktionieren wichtig ist und auf die wir in Abschn. 3.9 eingehen. Oftmals entstehen Matrix-Organisationen, nachdem ein Unternehmen funktional organisiert war. Eine funktionale Organisation hat selber auch bereits das Problem vieler Schnittstellen. Keine Funktion kann ohne die andere wirklich erfolgreich sein – und jede Funktion ist immer nur für ihr Teilgebiet verantwortlich, nie aber für die Optimierung des Ganzen. Bei steigender Komplexität des Geschäftes werden auch diese Schnittstellen typischerweise überfordert. Nachdem man groß genug dazu geworden ist, teilt man das Geschäft in mehrere Ganzheiten auf. Über die bestehenden Funktionen werden nun Geschäftsbereiche (Business Units, Strategische Geschäftsfelder) gelegt, die Verantwortung für diesen Teil des Geschäftes über alle Funktionen hinweg tragen sollen. Die Verantwortlichen der Geschäftsbereiche müssen deshalb an den Schnittstellen zu den funktionalen Verantwortlichen eine klare Vorfahrt haben, sonst können sie weder entscheiden noch für Resultate verantwortlich gemacht werden. Ich habe einige Male beobachtet, dass man die bisherigen Funktionalverantwortlichen aber in ihrer bisherigen Funktion belässt, und neue Führungskräfte zur Leitung der Geschäftsbereiche bestellt, ohne die Schnittstelle weiter zu thematisieren. Damit sind die Leiter der Geschäftsbereiche auf dem Papier zwar verantwortlich, in der Praxis wird jedoch weiterhin so gearbeitet, wie es bisher war, denn die

52

3  Die 10 Kardinalfehler des Organisierens

Mitarbeiter hören nicht auf das Papier, sondern auf die etablierten Leute im Unternehmen, die bisher den Erfolg gebracht haben, und auf ihren Chef. Das maximiert die Bürokratie im Unternehmen, aber nicht den Kundennutzen. Matrix Organisationen entstehen, wenn man sich nicht entscheiden kann, welche Dimension des Geschäftes strategisch richtungsweisend sein soll, und über welche Dimension man deshalb führen will, oder wenn Sy­ nergien höher gewichtet werden als die Autonomie der operativen Einheiten und deren Agilität und Selbststeuerung.

3.6

Mit den Menschen beginnen

Sehr schnell geht es bei Organisationsprojekten um Personen und Positionen. Sobald die ersten Diskussionen am Flipchart geführt sind, wird es persönlich und man stellt sich die Frage, was aus dem Franz, der Sonja und dem Walter im Einzelnen wird. Im Wissen, dass das alles wichtige Personen für die Zukunft des Unternehmens sind, überlegt man sich die Sozialverträglichkeit der verschiedenen organisatorischen Optionen. Dieser Frage muss man sich früher oder später auch stellen. Es geht um den Spagat zwischen dem, was für die Menschen richtig ist, und dem was für das Unternehmen richtig ist. Einen Fehler machen nun diejenigen Führungskräfte, die dem Impuls an konkrete Menschen zu denken, zu früh nachgeben. Der Zweck des Unternehmens besteht schließlich nicht darin, den Mitarbeiter, sondern den Kunden zufrieden zu stellen. Wem dies gelingt, der kann auch seine Mitarbeiter zufrieden stellen, weil sie dann in einem erfolgreichen Unternehmen mit gutem Image arbeiten, das sich seine Attraktivität für gute Mitarbeiter etwas kosten lassen kann und ihnen Perspektive bietet. Umgekehrt funktioniert das nicht: Nur weil die Mitarbeiter zufrieden sind, sind deswegen die Kunden nicht auch zufrieden. Der „Pursuit of Happiness“, wie er von der Human-Relations-Bewegung in den 1960er-Jahren propagiert wurde, hat sich in der Praxis nicht bewährt. Er funktioniert als akademisches Gedankenspiel, aber wer selber jemals ein Geschäft geführt hat, weiß, dass es mehr als zufriedene Mitarbeiter braucht, um Kunden zufriedenzustellen – so wichtig diese auch sind. cc

Den Kompromiss zugunsten der Menschen darf man erst machen, wenn man das Ideal kennt.

Die Logik der Reihenfolge ist deshalb klar: Wir dürfen nicht mit den Menschen beginnen, sondern müssen uns zuerst fragen, was für das Geschäft und für die Kunden das Richtige ist. Diese ideale Struktur für das Unternehmen ist nun der Orientierungspunkt für die Unterscheidung zwischen einem guten und einem schlechten Kompromiss: Der gute Kompromiss ist immer die Option, die näher beim Ideal liegt. Dazu muss man dieses aber erst kennen. Erst danach darf es um die Frage gehen, ob sich wichtige Schlüsselpersonen in einer neuen Organisationsstruktur eventuell als Verlierer sehen könnten, und ob man auch dann noch über genügend gute Leute verfügt, wenn man auf sie verzichten müsste. Selbstverständlich ist es nie so, dass man ausreichend gute Leute hat und alle Schlüsselpersonen

3.6  Mit den Menschen beginnen

53

einen persönlichen Vorteil in der neuen Lösung erkennen würden. Jetzt, wo man die ideale Struktur für das Geschäft und den Kunden kennt, können die richtigen Kompromisse gemacht werden, indem man die Struktur zwar in die nötige Richtung ändert, aufgrund der Menschen aber nur einen Zwischenschritt macht. Mit dem Kompromiss h­ ingegen zu beginnen, noch bevor man das Ideal kennt, wäre ein Fehler. Wir werden auf dieses Prinzip in Abschn. 17.2 genauer eingehen. Genauso wichtig ist es, historisch gewachsene Strukturen zu hinterfragen. Jede Organisation passt über die Zeit hinweg ihre Stellen an die Stärken der Stelleninhaber an. Mit dieser Personalisierung bringen sie Aufgaben und Stärken zusammen. Menschen kommen und gehen aber. Ein Nachfolger wird kaum erfolgreich sein können, wenn die Stelle dahin entwickelt wurde, die individuellen Stärken seines Vorgängers so gut wie möglich zum Tragen zu bringen. Nur weil eine Organisationsstruktur in der Vergangenheit mit den damaligen Leuten funktioniert hat, bedeutet das also noch nicht, dass sie richtig für das Geschäft ist. Die damaligen Führungskräfte haben mit dieser Struktur ihre Stärken ausspielen und deshalb vielleicht viele Schwächen und Fehler der Organisation kaschieren oder kompensieren können. Wie wir in der Einführung argumentiert haben, können wir es uns heute aber kaum mehr leisten, Führungskapazität auf das Kompensieren organisatorischer Fehler zu verschwenden. Auch deshalb dürfen wir nicht mit den Menschen beginnen, sondern wir brauchen immer zuerst eine Vorstellung davon, wie die richtige Organisation von der Sache her gesehen aussieht. In Abschn. 3.4 haben wir argumentiert, dass ein Unternehmen auch mit durchschnittlichen Mitarbeitern funktionieren muss. Es darf sich nicht von besonderen Talenten abhängig machen. Wirklich robuste Unternehmen gehen noch einen Schritt weiter. Sie bauen Organisationen, die einerseits mit normalen Menschen bestens funktionieren und andererseits selbst dann noch funktionieren, wenn deren Schwächen schlagend werden, wenn sie Fehler machen und versagen. „You have to allow room for mistakes“. So lautete eines der Erfolgsrezepte des amerikanischen Generals Norman Schwarzkopf im Golf-Krieg Anfang der 1990er-Jahre. Es ging ihm nicht darum, „ein Klima zu schaffen, in dem man aus Fehlern lernen kann“, wie er fälschlicherweise übersetzt wurde, sondern eine Organisation zu bauen, die trotz Fehlern funktioniert. Wir können die Fehler nicht aus unseren Unternehmen hinaus managen, aber wir können die Unternehmen so bauen, dass sich Fehler nicht kritisch auswirken. Das Prinzip wurde bereits in den 1950er-Jahren vom ungarisch-amerikanischen Mathematiker und Pionier der Informatik John von Neumann demonstriert, der ebenfalls Teilnehmer der Macy-Konferenzen war [5]. Er stellte sich die Frage, ob und wie man zuverlässige Systeme (oder Maschinen) aus unzuverlässigen Komponenten bauen kann. Seine Entdeckung war ein Meilenstein in der „Theory of Computing“: Fehler können durch die richtige Anordnung der Komponenten unter Kontrolle gehalten werden. Mit dem gleichen Prinzip hatte der Konsumentenschützer Ralph Nader in den 1970er-Jahren die amerikanische Automobilindustrie aufgerüttelt. Er zwang sie, vom Prinzip „safe if used correctly“ zum Prinzip „safe even if used incorrectly“ überzugehen. Eine gute Organisation tut das Gleiche. Sie nutzt die besonderen Talente und Fähigkeiten ihrer Mitarbeiter zwar so gut sie kann, aber sie hängt nicht von ihnen ab, und sie ist robust gegenüber ihren Unzulänglichkeiten und Fehlern, die jeden Tag vorkommen.

54

3.7

3  Die 10 Kardinalfehler des Organisierens

Verschachtelung übersehen

Organisationen können wachsen und dabei Größen und Komplexitäten erreichen, die das Management überfordern. Zum ersten Mal geschieht dies immer am Übergang von der kleinen Unternehmung, in der der Unternehmer noch alles selber gemacht hat, zur funktionalen Organisation, in der er einzelne Aufgaben delegieren muss, weil es einfach nicht mehr anders geht. Vorher hat er den Einkauf selber gemacht, jetzt hat er den besten Einkäufer eingestellt, den er finden kann. Gleiches gilt für die Werkstatt, die Buchhaltung oder den Vertrieb. Im Prinzip teilt er sein Unternehmen auf in Segmente, die alle eine bestimmte Funktion des Ganzen übernehmen. Oftmals kommt das Unternehmen dadurch in eine weitere Wachstumsphase, weil nun eben erfahrene Spezialisten auf jeder wichtigen Position spielen. Der Nachteil ist allerdings, dass jetzt niemand mehr für das Ganze verantwortlich ist. Alle optimieren primär die Funktion, für die sie verantwortlich sind. So entsteht die typische Silo-Problematik. Die Segmentbereiche werden zu Trennwänden der Verantwortung, aber auch der Zusammenarbeit. Neue Probleme entstehen. Die Alternative dazu ist eine andere Art der Segmentierung. Anstatt das Ganze in Funktionen aufzuteilen, kann es auch in kleinere Ganzheiten aufgeteilt werden. Wir beobachten dieses Prinzip in der Natur: Eine Zelle wächst, bis sie eine bestimmte Größe erreicht hat. Danach hört sie auf zu wachsen und teilt sich in mehrere, kleinere Zellen auf, die ihrerseits wieder als Ganzes zu wachsen beginnen. Jede Zelle ist dabei eine relativ autonome Ganzheit und nicht nur eine Funktion, die abhängig von anderen Funktionen ist. Eine gesunde Organisation nutzt dieses Prinzip. Sie segmentiert das ganze Geschäft in mehrere Geschäftsbereiche (strategische Geschäftsfelder), die ebenfalls nicht nur eine Funktion, sondern ein Geschäft als Ganzes umfassen. Damit wird der Unternehmer im Unternehmen kreiert. Die Aufteilung des Ganzen in mehrere, sich selbst organisierende Einheiten hat viele Vorteile. Sie ermöglicht zu wachsen, ohne an Komplexitätsgrenzen zu stoßen. Sie ermöglicht Agilität und Robustheit. Sie ermöglicht es, einzelne Geschäftsbereiche einfach zu integrieren oder abzustoßen. Deshalb wird dieses Prinzip der fraktalen Organisation von vielen Unternehmen in der Praxis auch genutzt. Der eine Fehler besteht nun darin, dass man das Prinzip der Zellteilung nur teilweise versteht, und es deshalb auch nur unvollständig anwendet. So gibt es viele Unternehmen, die zwar eine Segmentierung in einzelne Geschäftsbereiche vornehmen, diese jedoch nicht mit den lebenswichtigen Funktionen und Kompetenzen ausstatten, die diese brauchen, um sich wirklich selber organisieren und steuern zu können. Wenn beispielsweise zwischen den oben genannten funktionalen Silos das Schwarze-Peter-Spiel beginnt, entscheidet man sich oftmals für eine Segmentierung in Ganzheiten, ist aber noch zu klein, um diese mit jeweils eigenen Funktionen auszustatten. Man belässt deshalb die bisherigen Funktionen wie sie sind und legt die Geschäftssegmente darüber – womit man bei der ersten Form einer Matrix-Organisation angelangt ist, über die wir in Abschn.  3.5 gesprochen haben. Eine echte Verschachtelung hingegen setzt voraus, dass mindestens die Funktionen, Kompetenzen und Ressourcen in die Verantwortung der Geschäftssegmente g­ egeben werden, mit

3.7  Verschachtelung übersehen

55

denen Einfluss auf die kaufentscheidenden Kriterien des Kunden genommen wird. Die Zelle muss das, was erfolgsentscheidend ist, in der eigenen Hand haben. Andernfalls kann sie nicht für Resultate verantwortlich gemacht werden und diese auch gar nicht erzielen. Wir kennen das von Organisationen, die einfach funktionieren müssen, weil es dort um Leben und Tod geht, wie etwa lebensrettende Dienste oder militärische Operationen. Alle Ressourcen und Kompetenzen, die erfolgsentscheidend sind, liegen in der Hand des Einsatzleiters, der damit vor Ort und situativ die nötigen Entscheidungen treffen kann. Anders würde der Pilot der Rettungsflugwache nicht losfliegen oder der Infanteriekommandant nicht in den Krieg ziehen. Sie sind verantwortlich für die Menschen ihrer Operation, und ihre Zellen sind deshalb robust gebaut und weitgehend unabhängig von anderen Zellen oder Funktionen. Sie wollen sich möglichst wenig auf die Zuverlässigkeit von Anderen verlassen müssen. Aber sie wollen und können Verantwortung für sich selbst übernehmen. cc

Schaffe kleinstmögliche Einheiten, die aber groß genug sind, damit sie die erfolgsentscheidenden Kompetenzen in der eigenen Hand haben und sich weitgehend autonom selber steuern können.

Der andere Fehler liegt in der Ausstattung des Führungssystems jeder einzelnen Zelle. Ein richtig segmentiertes Unternehmen hat nicht nur eine Führung, sondern viele Führungen auf vielen Ebenen. Neben der Ausstattung mit den notwendigen Ressourcen und Kompetenzen braucht jede Zelle nämlich auch ein vollständiges Führungssystem, damit sie sich selber organisieren kann und handlungsfähig bleibt. Jede Zelle braucht dazu ihre eigene operative, strategische und normative Führung. Das heißt nicht, dass jede Zelle ein großes Büro mit vielen Führungskräften braucht, denn in Extremis kann die gleiche Person alle Führungsfunktionen selber wahrnehmen. Dennoch wird in der Praxis diese Verschachtelung oftmals korrumpiert oder übersehen, indem beispielsweise die Strategie auf der Gruppenebene festgelegt wird und die Divisionen (oder Geschäftsbereiche) nur für die Umsetzung verantwortlich sind. Oder umgekehrt: Die Divisionen entwickeln ihre eigenen Strategien, und die Gruppenstrategie ist nicht mehr und nicht weniger als die Summe der Divisionsstrategien. Das Prinzip der Zellteilung und der Selbstorganisation zu nutzen bedeutet aber, dass jede Zelle ihre eigene Strategie hat und diese selbstständig mit den Erfordernissen des Geschäftes in Übereinstimmung bringt. Jede Zelle wird auf jeder Ebene mit einer eigenen Führung ausgestattet, die das im Auge hat, was für diese Zelle die relevante Umwelt ist. Sie macht sie zukunftsfähig, indem sie selber merkt, wo sich die Umwelt ändert und deshalb Anpassung erforderlich ist. Die Divisionsstrategie soll auf Divisionsebene entstehen, wo die Führungskräfte über die relevante Information für die Umwelt genau dieser Division verfügen. Und auf der Gruppenebene braucht es genauso eine Gruppenstrategie, die mehr ist, als die Summe der Divisionsstrategien, weil die Umwelt der Gruppe immer über diejenige der Divisionen hinaus reicht. Die Ebenen von Gruppe, Division, Abteilung und so weiter sind wie russische (Matrjoschka-)Puppen ineinander verschachtelt und benötigen immer ihre jeweils eigene normative, strategische und operative Führung, wenn sie denn wirklich als Ganzheit funktionieren sollen (vgl. Kap. 6).

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3  Die 10 Kardinalfehler des Organisierens

Diese Verschachtelung im Auge zu behalten ist nicht immer einfach. Führungskräfte erfüllen oftmals verschiedene Aufgaben auf verschiedenen Ebenen der Verschachtelung. Sie tragen sozusagen verschiedene Hüte und sind sich selber nicht immer im Klaren, auf welcher Management-Ebene sie im Moment gerade operieren.

3.8

Das Neue im Alten organisieren

Jedes Unternehmen muss sich früher oder später fragen, wie es das Neue organisiert. Wo soll die Innovation in Form eines neuen Geschäftsfelds organisatorisch aufgehängt werden? Eine Firma hat beispielsweise vor, ins Ausland zu expandieren. Ihre Strategie ist es, neue regionale Märkte wie Südamerika oder China zu erobern. Aktuell besteht sie aus regionalen Geschäftsfeldern in Europa, wobei das größte davon natürlich der Heimmarkt Deutschland ist. Wer soll nun verantwortlich sein für die Entwicklung der neuen Märkte in Südamerika und China? Sollen für diese Regionen zwei neue Geschäftsfelder gebildet werden? Das würde aber bedeuten, dass wir in diesen Regionen Büros, eine legale Einheit und fähige Führungskräfte brauchen, die wir heute nicht haben, weil die bestehenden Führungskräfte nicht mit ihren Familien in diese Regionen umziehen wollen. Und außerdem kostet das alles viel Geld, bei gleichzeitig hohem Risiko. Man entscheidet sich dafür, das Neue im Alten zu organisieren. Das bedeutet, dass die beiden neuen Regionen dem Geschäftsfeldleiter Deutschland unterstellt werden. „Einem bewährten und erfahrenen Geschäftsfeldleiter kann man das zumuten“, sagt man sich, „das ist machbar.“ Man will die neuen Einheiten zuerst einmal mit kleinem Budget arbeiten lassen, beobachten, wie sich das entwickelt, und wenn sie sich dann bewähren, sie zu vollen und eigenständigen Geschäftsfeldern ausbauen. Damit schafft man die Voraussetzung zum Misserfolg. Wir müssen uns vor Augen halten, dass erfolgreiches Innovieren zu den schwierigsten Aufgaben einer Führungskraft gehört, weil alles neu und unsicher ist. Man hat noch keine Netzwerke, kennt weder die Kunden noch die juristischen Regelwerke, hat das Produkt in diesem Markt noch nicht getestet und muss es den Bedürfnissen entsprechend erst noch entwickeln und anpassen. Und gleichzeitig sind die Ausgaben und Investitionen von Anfang an sehr hoch. Einen Markt zu erobern ist nicht einfach. Es ist jedenfalls viel schwieriger, als in einem bestehenden, bekannten Markt mit einem bewährten Produkt erfolgreich zu sein. Nun gehört es zur Realität aller Führungskräfte, die ich in 25 Jahren kennen gelernt habe, dass sie immer zu wenig Zeit haben. Sie können sich nie um all die Dinge kümmern, die sie eigentlich tun müssten. Viele von ihnen leben gar mit einem permanent schlechten Gewissen, weil sie ständig entweder ihre Aufgaben im Job, ihre Frau und ihre Kinder oder ihre eigene Gesundheit vernachlässigen. Führungskräfte müssen Prioritäten setzen, wenn sie erfolgreich sein wollen. Sie tun „first things first – and second things not at all“, wie Peter Drucker gesagt hat. Die Wahrscheinlichkeit ist nun groß, dass sie diese Priorität nicht auf die Dinge legen, die neu, riskant und unsicher sind und vermutlich vor allem Probleme mit sich bringen. Sie legen sie auf das, was sie bisher erfolgreich gemacht hat  – nämlich auf den

3.9  Unterstützende und operative Einheiten nicht unterscheiden

57

a­ ngestammten Markt und das bekannte Produkt. Das Neue verhungert damit im Alten. Es erhält weder die Ressourcen noch die Aufmerksamkeit, noch die Umsetzungskraft, die es benötigen würde. cc

Trenne das neue vom bestehenden Geschäft und hänge es organisatorisch an höchster Stelle auf, weil es sonst im bestehenden Geschäft verhungert.

Auch hier ist der Blick in die Natur interessant: Wie organisiert sie das Neue? Ein Baby wird als eigenständige Organisationseinheit gestaltet, die grundsätzlich von Anfang an mit allem ausgestattet wird, was sie für ihre Lebensfähigkeit braucht. Bereits im embryonalen Zustand sind die Augen, Ohren und alle anderen Organe bereits angelegt und rudimentär oder sogar vollumfänglich vorhanden. Wir hingegen machen es in unseren Unternehmen üblicherweise anders: Wir entscheiden, dass das Baby seine Ohren erst mit vier Jahren bekommt (es soll ja am Anfang gar nicht alles hören) und dass es am Anfang auch noch keine eigenen Augen erhält (die Mama kann ja für das Baby schauen). Außerdem kümmert sich die Mutter am Anfang selbst um das Baby und gibt es erst dann allenfalls in die Obhut von jemand anderem, wenn es stabil und selbstständig genug ist. Die Innovation muss sinngemäß von den besten Führungskräften betreut werden, und man braucht sie dazu vollamtlich. Sie müssen sich solange voll und ganz auf die Innovation fokussieren können, bis diese stabil geworden ist. Das Neue muss auch nach ganz anderen Maßstäben beurteilt werden. Gewinne, Umsätze und Kosten sind am Anfang nicht gleich wichtig wie in den etablierten Geschäftsfeldern. In den ersten Jahren des Innovierens stehen eher der Kundennutzen und der Gewinn von Marktanteilen im Fokus. Und schließlich braucht es auch ganz andere Leute, um Marktanteile zu gewinnen und Kundennutzen zu steigern, als um Gewinne zu optimieren und Produktivität auszufahren. Erfolg im Neuen erfordert Leute, die innovieren wollen und das auch können, denn es braucht andere Stärken dazu. Sie müssen über eigene Ressourcen verfügen, wobei ihre Autonomie anfangs durchaus eigeschränkt werden kann, so wie wir auch die Autonomie unserer Kinder erst mit zunehmendem Alter wachsen lassen. Aber sie müssen direkten und ungehinderten Zugang zur obersten Führungsebene haben und dort genügend Aufmerksamkeit erhalten. Sie brauchen, bis sie sich etabliert haben, Sonderbehandlung und Priorität.

3.9

Unterstützende und operative Einheiten nicht unterscheiden

Wir haben das Kapitel mit der Feststellung begonnen, dass Organigramme nur über eine sehr beschränkte Aussagekraft verfügen. Was sie beispielsweise nicht unterscheiden, ist die Frage, ob eine organisatorische Einheit operativ tätig und damit zweckerfüllend ist, oder ob sie unterstützend wirkt. Operative und unterstützende Einheiten sind aber zwei ganz verschiedene Dinge. Operative Einheiten sind verantwortlich für den Erfolg des Geschäftes. Sie sind ergebnisverantwortlich. Ausgehend vom angestrebten Kundennutzen bestimmen sie, was im Unternehmen gemacht und nicht mehr gemacht werden soll. Sie

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3  Die 10 Kardinalfehler des Organisierens

sind die dominante Führungsdimension, indem sie die Geschäftsstrategien und operativen Pläne festlegen, mit denen das Unternehmen in Summe erfolgreich sein will. Die unterstützenden Einheiten hingegen stehen im Dienst der operativen Einheiten und erfüllen eine interne Funktion. Sie sind nicht für ein Ergebnis, aber für eine Leistung verantwortlich. Sie schaffen die Voraussetzungen, damit die operativen Einheiten arbeiten können, und sie helfen ihnen dabei, erfolgreich zu sein. Dieser Unterscheidung wird in der Praxis oftmals nicht genügend Rechnung getragen. Zu den unterstützenden Einheiten gehören normalerweise Abteilungen wie das Personalwesen, Marketing, Information-Technology, Finance, Compliance und so weiter. Sie sehen im Organigramm zwar gleich aus wie die operativen Einheiten, ihre Aufgabe ist aber eine ganz andere, und sie müssen wie die Innovationen ebenfalls an anderen Maßstäben gemessen und beurteilt werden. Während operative Einheiten wachsen und über möglichst viel Autonomie verfügen sollen, dürfen unterstützende Einheiten nur gerade so groß wie nötig sein, und sie sollen gerade nicht autonom, sondern im Dienst der operativen Einheiten arbeiten. Im ersten Fall ist Wachstum etwas Positives, im zweiten ist es pathologisch. cc

Trenne ergebnisverantwortliche operative Einheiten von leistungsverantwortlichen unterstützenden Einheiten, weil sie nach anderen Kriterien geführt und beurteilt werden müssen.

Nun kann in dem einen Unternehmen beispielsweise die IT eine unterstützende Einheit sein, die es den operativen Einheiten ermöglicht, Autos zu verkaufen. Im anderen Unternehmen ist die IT selbst eine operative Einheit, weil es sich hier um ein IT-Unternehmen handelt und der Zweck des Unternehmens darin besteht, IT in den Markt zu bringen. Die Unterscheidung zwischen operativ und unterstützend ist also nicht abhängig von der Art der Tätigkeit, sondern von der Frage, ob diese Tätigkeit etwas mit dem eigentlichen Zweck des Unternehmens zu tun hat. Im Fall des IT-Unternehmens werden die Chefs der IT Einheiten eigene Geschäftsstrategien, operative Ziele und Budgets entwickeln, mit denen sie glauben, im Markt erfolgreich zu sein. Im ersteren Fall des Automobilproduzenten, wo die IT eine unterstützende Funktion ist, soll sie das genau nicht tun. Wie bei der Unterscheidung von Neu versus Alt sind auch bei der Unterscheidung von Operativ versus Unterstützend die Anforderungen an die Führungskräfte ganz unterschiedlich. In einer Automotive-Firma hatte man im Zuge einer Reorganisation die Gebrauchtwagenabteilung mit der Abteilung zusammengelegt, die den eigenen Mitarbeitern den Firmenwagen zuteilt, der später als Jahreswagen verkauft werden soll. Der Gedanke dahinter war, dass es bei beiden Einheiten letztlich um Gebrauchtwagen geht und man so eine Schnittstelle eliminieren wollte. Man hatte übersehen, dass Gebrauchtwagen in einem Fall ein Geschäft sind, das man wachsen lassen und mit dem man Geld verdienen will, und im anderen Fall eine unterstützende Funktion, die ihre Aufgabe möglichst kostengünstig realisieren und deshalb gerade nicht wachsen soll. Die Kulturen der Mitarbeiter und die Qualitäten der Führungskräfte beider Abteilungen waren komplett verschieden: In einem Fall

3.9  Unterstützende und operative Einheiten nicht unterscheiden

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geschäftsorientiert-aktiv und im anderen Fall verwaltend-reaktiv. Es dauerte nicht lange, bis man erneut reorganisieren musste. In einem anderen Unternehmen aus der Finanzbranche hatte man eine große, unterstützende Einheit vom einen Tag auf den anderen zur operativen Einheit gemacht. Weil man über Jahre hinweg ein leistungsfähiges Facility-Management mit über 200 Personen für den Betrieb und Unterhalt der eigenen Büros aufgebaut hatte, beschloss man, diese Leistung nun nicht nur intern, sondern neu auch extern anzubieten. Facility-Management sollte auch zum Geschäft und damit auf einmal auch Teil des Unternehmenszwecks werden. Ob das richtig ist oder nicht, und ob man das will oder nicht, sind normative und strategische Fragen. Organisatorisch muss aber klar entschieden werden, ob etwas zweckerfüllend oder unterstützend sein soll. Mit dieser Entscheidung veränderten sich auch für das Facility-­Management sofort die Maßstäbe, nach denen man die Abteilung beurteilen musste, die Art der Belastung ihrer Rechnung und die Anforderungsprofile an ihre Führung. Die Unternehmensleitung hatte die nun operative Einheit allerdings weder mit den üblichen Gemeinkosten eines Geschäftsfeldes belastet, noch die Beurteilungsmaßstäbe, noch die Führungscrew angepasst. Und so erzielte man auch nach Jahren noch immer 80 % des Umsatzes mit internen Dienstleistungen und war damit zufrieden. Man sprach zwar jetzt vom „internen Kunden“. Ein Kunde ist aber dadurch definiert, dass er Nein sagen kann, und das können interne Kunden eben nicht. Das Facility-Management wurde auf dem Papier zur operativen Einheit, blieb im Kern und im Wesen aber eine unterstützende Funktion. Unterstützende Einheiten sind Cost-Centers, die kein Eigenleben entwickeln sollen. Das ist den entsprechenden Leitungen dieser Einheiten nicht immer klar. Ich habe Unternehmen erlebt, in denen man die IT als unterstützende Einheit ihr Eigenleben hat entwickeln lassen. Die Abteilung ist demzufolge immer größer und kostspieliger geworden. Gleichzeitig haben sich die operativen Einheiten immer öfter darüber beklagt, dass sie zwar sehr viel von der IT erhalten, aber nicht das, was sie brauchen. Man kann es einem IT-Chef auch nicht übel nehmen, dass er versucht, die seiner Meinung nach bestmögliche IT zu entwickeln. Seine Strategie muss jedoch immer im Dienst der Strategien der operativen Einheiten stehen und ihnen helfen, diese zu realisieren. Man muss darauf achten, dass seine IT-Funktionalstrategie wirklich die Geschäftsstrategien unterstützt, denn auch ein Entwicklungschef wird, wenn er leidenschaftlich arbeitet und man ihn einfach machen lässt, die bestmöglichen „Rolls-Royce-Technologien“ entwickeln. Man nennt dies „Happy Engineering“. Er ist stolz auf seine neuesten Technologien, aber entwickelt damit möglicherweise gerade an dem vorbei, was die operativen Einheiten in den Regionen benötigen, um ihre Kunden zufrieden zu stellen. Die operativen Einheiten hingegen haben den Charakter von Profit-Centers. Sie sind verantwortlich dafür, dass durch zufriedene Kunden so viel Gewinn gemacht wird, dass auch in die Entwicklung der Zukunft investiert und diese vorbereitet wird. Sie verdienen das Geld für die IT und sollten deshalb mindestens teilweise beeinflussen können, wie diese Gelder in der IT investiert werden. Soll eine Einheit also operativ oder unterstützend wirken? Soll sie weitgehend autonom und lebensfähig sein, oder soll sie mit möglichst wenig Aufwand ihre Funktion im Dienste

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3  Die 10 Kardinalfehler des Organisierens

des Ganzen erfüllen? Diese Unterscheidung gehört in unserer Metapher in den Bereich der Anatomie des Unternehmens. Sie muss klar sein, bevor das Unternehmen innerviert werden und die Neurologie aufgebaut werden kann, damit die richtigen Einheiten richtig gesteuert und die Entscheidungs- und Kommunikationsprozesse richtig gestaltet werden.

3.10 Die Neurologie vernachlässigen Damit kommen wir zum Kernthema dieses Buches und zur größten Baustelle in den meisten Organisationen: Der Frage nach den Steuerungs- und Kommunikationsstrukturen. Wenn wir über diese Art von Strukturen reden, reden wir auch über die Führungs- oder Management-Prozesse, die das Unternehmen optimieren, koordinieren, auditieren und in die Zukunft führen. Die Kernaufgabe von Management liegt schließlich im Entscheiden und damit im Steuern und Kommunizieren. Einer der größten deutschen Mittelständler, weltweit tätig im High-Tech-Bereich, hatte aufgrund eines Strategieentscheides seine Organisation angepasst. Während in der Vergangenheit die Regionen die wichtigste Rolle spielten, um überlegenen Kundennutzen zu schaffen, sah man neu das Produkt in der Verantwortung. Demzufolge wurde die Anatomie angepasst: Es wurden globale Business Units in Form von Produktbereichen geschaffen, die in Zukunft die Strategie und den operativen Erfolg des Geschäftes bestimmen sollten. Die Organigramme wurden angepasst, die neue Organisation kommuniziert und die neuen Produktbereichsleiter bestellt. Diese machten sich sofort an die Arbeit. Sie nahmen mit den bisherigen Chefs der einzelnen Regionen weltweit Kontakt auf, stimmten ihre Pläne mit ihnen ab und vereinbarten Ziele. Zwei Jahre später stellte man fest, dass sich nach wie vor die Regionen selber optimierten und die Business Units gescheitert waren. Was war passiert? Es stellte sich heraus, dass man zwar den Führungsprozess zwischen Produktbereich und Region soweit angepasst hatte, dass nun die Produktbereiche die Ziele vorgaben. Die „Regionalfürsten“ hatten aber nach wie vor direkten Zugang zum Gesamtvorstand und wurden von diesem auch nach gleichen Maßstäben wie in der Vergangenheit in ihrer Leistung beurteilt und honoriert. Auch die Mitarbeiter erkannten in den Regionen nach wie vor die „Machtzentren“. Nach dem neuen Organisationsmodell hätten sie unterstützende Einheiten werden sollen, also Cost-Centers. In Tat und Wahrheit waren sie aber immer noch Profit-Centers. Sie mussten sich selber optimieren, um ihre Ziele erreichen zu können, denn sie waren in legalen Einheiten organisiert, die eine Erfolgsrechnung und eine Bilanz aufzuweisen hatten. Auf diese Zahlen wurde – wie auch schon in der Vergangenheit – geschaut. Die Mitarbeiter in den Regionen taten genau das, was diejenigen Chefs von ihnen verlangten, die über ihr Gehalt und ihre Beförderung bestimmten – und auch das waren immer noch die Regionalleiter, denen sie vertraglich und disziplinarisch unterstellt waren. Die mit den Produktbereichsleitern vereinbarten Ziele wurden im Zweifel vernachlässigt, wenn sie den Interessen der Region entgegenstanden. Das konsolidierte Ergebnis pro Produktbereich wurde zwar ebenfalls vom Gesamtvorstand gesehen und beurteilt, aber

3.10  Die Neurologie vernachlässigen

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s­ olange die Zahlen der regionalen Gesellschaften in Ordnung waren, war man bereit, über vieles hinwegzusehen. Es dauerte nicht lange, bis die Produktbereichsleiter frustriert aufgaben, weil man organisatorische „Eunuchen“ geschaffen hatte. Sie standen von Anfang an auf verlorenem Posten. Nach dem strategischen Entscheid zur Umstellung auf Produktbereiche und der Schaffung der entsprechenden Business Units, hätte man auch die Führungsstruktur verändern müssen. Das fiel den Führungskräften schwer, weil sie primär in Organigrammen und legalen Einheiten dachten und die Interessen von einzelnen Mitarbeitern höher gewichteten als die der Firma und der Kunden. Wird die Anatomie geändert, muss die Neurologie angepasst werden. Andernfalls entwickelt das Unternehmen verschiedene Arten von „mentalen Störungen“, von denen wir einige am Schluss des Buches in Kap. 18 beleuchten werden. cc

Eine Anatomie kommt nur zum Leben, wenn sie auch richtig innerviert wird.

Das Problem mit der dritten Dimension des Organisierens liegt weniger darin, dass Fehler gemacht würden, sondern eher im Fehlen einer klaren Vorstellung, wie die Steuerungsund Kommunikationsprozesse in Summe denn aussehen sollen. Im Einzelnen werden viele Dinge richtig gemacht. Zum Beispiel haben die meisten Unternehmen schon lange funktionierende Zielvereinbarungs- oder Budgetierungsprozesse eingeführt. Die zur Optimierung des heutigen Geschäftes nötigen Steuerungs- und Kommunikationsprozesse scheinen in den meisten Unternehmen zu funktionieren. Sie sind oft auch an gesetzlichen Erfordernissen der Buchführung und der Corporate Governance ausgerichtet. Neurologie umfasst aber mehr als die Steuerung des heutigen Geschäftes. Es geht auch darum, zu erkennen, wann Anpassung nötig ist, damit man auf Dauer im Geschäft bleibt. Es geht darum, rechtzeitig Dinge abzuschaffen und neue Erfolgspotenziale aufzubauen. Es geht darum, Konflikten vorzubeugen, statt sie zu lösen, und um noch vieles mehr, wie wir sehen werden. Weil die Vorstellung eines kompletten und funktionierenden Steuerungs- und Kommunikationssystems des Ganzen fehlt, bleiben viele Teile davon unausgefüllt oder Stückwerk. Einzelne Managementprozesse erfüllen zwar ihre Aufgabe, sie werden aber nicht in ein zusammenwirkendes Management-System integriert. In Teil II werden wir aber sehen, dass es Bereiche in der Neurologie eines Unternehmens gibt, die einfach funktionieren müssen. Kurzfristig kann man wohl auf das Eine oder Andere verzichten. Auf Dauer werden sich die Lücken und Fehler aber bemerkbar machen, sei es in Form von frustrierten Mitarbeitern, unzufriedenen Kunden, fehlender Innovationskraft oder verschiedenen Symptomen von Trägheit und Überlastung. Das Ziel einer funktionierenden Neurologie ist das Absorbieren der Komplexität inund außerhalb des Unternehmens, der Komplexität des heutigen und des morgigen Geschäftes und der Komplexität von tieferen und höheren Unternehmensebenen. Wie wir in Teil III sehen werden, meint „absorbieren“ nicht das Zerstören oder Ausblenden von Komplexität – obwohl man zuweilen den Eindruck haben könnte, dass Ignoranz ausgezeichnet funktioniert – sondern es meint „coping with complexity“, wie es Stafford Beer nannte. Es geht darum, mit Komplexität zurecht zu kommen, sie zu nutzen und zu managen. Diese

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3  Die 10 Kardinalfehler des Organisierens

Fähigkeit wird in Zukunft zum entscheidenden Erfolgsfaktor. Mit dem Modell und der Vorgehensweise zur Diagnose und Gestaltung einer Organisation, die wir in Teil III vorstellen werden, wollen wir diese Komplexitätsfähigkeit erreichen und die in diesem Kapitel aufgeführten Fehler vermeiden.

Abends an der Bar Sandra: Marc: Sandra: Marc (lacht): Sanda: Rachel: Marc: Rachel:

Sandra:

Rachel: Marc: Rachel:

Marc: Rachel:

Das ist ja ganz was Neues! Dass wir jetzt auch noch von der Natur lernen sollen, wie man eine Firma führt? Nein, dass du deinen Whisky mit Eis verwässerst. Ach – ich mag das halt so. Du bist Puristin? Ja. Ich mag keine verwässerten Dinge. Und das mit der Natur halte ich übrigens für Quatsch. Störe ich? Gar nicht. Cheers Rachel! Wir reden gerade darüber, ob man von der Natur lernen soll. Was sagst du als Ingenieurin zum Kopieren der Natur? Ja, das habe ich mir auch überlegt: Können und wollen wir das überhaupt? Erstens zweifle ich am Können, solange wir nicht mal im Stande sind, einen einzigen Grashalm nachzubauen. Und zweitens meine ich, dass wir sie auch gar nicht kopieren sollten, weil es ja schließlich auch menschliche Errungenschaften gibt. Eben! Wie man ein Unternehmen führt, habe ich von meinem Vater gelernt und nicht von der Natur. Die Natur hätte unsere Mitarbeiter 2009 einfach verhungern lassen, als wir schwierige Zeiten hatten. Aber wenn ich das richtig verstanden habe, will die Bionik was anderes. Was denn? Sie benutzt die Natur nicht als Blaupause, sondern sie sucht nach Prinzipien und Gesetzen, die sie auf ihre technischen Anwendungsprobleme überträgt. Das finde ich auch okay. Gesetze lassen sich übertragen, weil sie immer gelten. Also auch auf technische Anwendungsgebiete, wie zum Beispiel Antennen. Wirklich? Antennen? Ja, die alten amerikanischen Funkgeräte, die in Vietnam zum Einsatz kamen. Die hatten solche Bionik-Antennen. Da haben die Ingenieure von den Fühlern von Insekten gelernt, wie man Stabilität bei gleichzeitiger Flexibilität hinkriegt. Vorher waren denen im Dschungel die Antennen dauernd an irgendwelchen Ästen abgeknickt. Das habe ich in einer Zeitschrift gelesen.

3.10  Die Neurologie vernachlässigen

Sandra:

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Aber wie wir gehört haben, geht es ja hier nicht um noch mehr Technik, sondern um mehr Intelligenz. Es braucht intelligentere Organisationen, um das Chaos in der Welt aufzuräumen. Rachel: Ja, die Digitalisierung scheint uns nicht weg von der Natur zu bringen, sondern zu ihr zurück – wenn das mit der Bionik stimmt. Sandra: Wäre schon toll, wenn es uns jetzt in der Informationsgesellschaft gelänge, unsere Intelligenz so massiv zu verstärken, wie wir das in der industriellen Revolution mit unserer Muskelkraft getan haben. Rachel: Die höchsten Wirkungsgrade, die wir mit unserer Ingenieurskunst erreicht haben, liegen bei etwa bei 50 %. Das kriegen unsere mächtigen Schiffsdieselmotoren raus. Der Rest ist heiße Luft und Abgas. Ein so simples Ding wie ein Glühwürmchen setzt hingegen 90 % der Energie in Licht um, und nur etwa 10 % in Wärme. An dem hat sich noch keiner die Finger verbrannt. Marc: Also, wenn ich nachrechne …. Wir haben unsere Muskelkraft von etwa 0,1 PS auf tausend PS verstärkt. Wenn wir im gleichen Faktor unsere Intelligenz verstärken, dann komme ich persönlich auf einen IQ von etwa – einer Million …. Rachel: Darauf trinke ich! Prost. (zu Sandra:) Spätestens dann wird er hoffentlich das Eis im Whisky weglassen. Dürfte nicht mehr lange dauern. Mit der Industrie 4.0 und der Digitalisierung wurde die vierte industrielle Revolution ja bereits ausgerufen. Sandra: … Und erstmals in der Geschichte, noch bevor sie überhaupt stattgefunden hat …. Also das ist ja alles schön und gut mit Bionik für Antennen und Maschinen und so. Aber im Unternehmen? Das klingt mir zu sehr nach Management-Büchern wie „Die Mäuse-Strategie“ oder „Miteinander Ernten“ oder „Sparen mit Hamstern“. Solches Zeug lese ich nicht. Rachel: Jetzt hör doch mal auf! Klar gibt es immer auch Leute, die eine Idee verwässern und das auch noch toll finden. Siehe Marc mit seinem Eis im Whisky. …. Da bewegen wir uns natürlich sofort auf dem Feld der Beliebigkeit …. Marc: Du bewegst dich jetzt grad selber auf sehr dünnem Eis, meine Liebe! Rachel (lacht): Aber wissenschaftlich gesehen ist es durchaus okay, wenn Prinzipien vom Einen aufs Andere übertragen werden. Das ist ja geradezu das Programm der Wissenschaft: Das Generelle im Spezifischen zu finden. Bionik ist eine anerkannte Wissenschaft. Da gibt es durchaus ernst zu nehmende Ansätze. Und der Ansatz hier scheint mir auf den ersten Blick nicht unplausibel zu sein. Marc: Der mit dem Viable System Model? Sandra: Eine Firma wie einen Organismus gestalten? Klingt für mich zu sehr nach Science-Fiction.

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Marc:

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Ich kann mir schon vorstellen, dass man vom Nervensystem etwas lernen kann. Wieso auch nicht? Schließlich hat der Mensch alles, was er kann, irgendwie von der Natur gelernt. Sandra: Pacioli! Marc: Bitte? Sandra: Luca Pacioli. Er hat im Mittelalter zu Beginn der Renaissance die doppelte Buchführung erfunden. Ich glaube nicht, dass er die der Natur abgeschaut hat. Rachel: Wer weiß. Aber eben, es geht ja nicht ums Abschauen. Das Viable System Model wurde auch nicht einfach abgeschaut. Sandra: Doch! Dem Nervensystem des Menschen. Rachel: Genau genommen nicht. Sonst wäre es ein Modell des Nervensystems. Es ist aber ein Modell der Lebensfähigkeit, die man zwar in der Struktur des Nervensystems gefunden hat. Im Nervensystem hat es aber noch viele andere Dinge drin, die nichts mit Lebensfähigkeit zu tun haben. Marc: Also ist das Nervensystem nur Studienort und Metapher. Ich habe mich schon gefragt, wie das mit den drei Dimensionen des Organisierens genau gemeint ist: Wenn ich mich nämlich richtig an meine Schulzeit erinnere, ist die Neurologie die Lehre vom gesamten Nervensystem, die Anatomie die Lehre vom inneren Bau der Organe und die Physiologie die Lehre von den Lebensvorgängen. Aber es gibt doch auch eine Neuroanatomie und eine Neurophysiologie? Und umgekehrt hat doch auch meine Verdauung eine Anatomie und eine Steuerung. Das ist verwirrend. Rachel: Hör auf zu klügeln, Marc. Es ist eine Metapher. Nicht alles, was hinkt ist ein Vergleich. Wichtig ist, dass jetzt der Fokus auf Neuro- liegt, also auf den Informationsflüssen und auf der Steuerung. Du bist doch der Informatiker unter uns! Aber du denkst eben mal wieder wie ein Mann. Es geht jetzt einmal nicht um die Steuerung deines Stoffwechsels oder deiner Verdauung, Marc, sondern um die Steuerung des Ganzen. Wenn du aufs Matterhorn klettern willst, hilft dir die Steuerung deiner Verdauung auch nicht dabei. Sandra: Du warst offensichtlich noch nie in den Bergen klettern. Rachel (lacht): Ja, okay, aber wenn du in der Wand hängst und du musst einmal, hast du eben insgesamt schlecht geplant. Da kann die Steuerung der Verdauung nichts dafür. Marc: Schon gut, ich sehe ja, was ihr meint. Die Rezeptur des Gelingens, wie es im Prolog heißt, liegt dann also in der Struktur dieser Gesamtsteuerung, wie Rachel sagt. Sandra: … So, dass ich voller Leistungsfähigkeit und Freude, trotz schwieriger Bedingungen, Zwischenfällen und kurzfristigen Planänderungen schließlich oben auf dem Matterhorn ankomme – und sicher wieder zurück.

3.10  Die Neurologie vernachlässigen

Rachel:

Sandra: Marc:

Sandra:

Marc:

Sandra: Marc: Sandra: Rachel: Marc:

Sandra: Rachel: Sandra:

Rachel: Marc:

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Genau. Weil man mit dieser Rezeptur etwas so gestalten kann, dass es in einem volatilen Umfeld solange funktioniert, bis es seinen Zweck erreicht hat. Wir Ingenieure nennen das auch eine ‚teleologische Maschine‘. Ich steig aus! Ganz einfach – das ist eine Maschine, die nicht einfach nur immer das Gleiche tut, sondern eine, die ein Ziel erreicht, wie zum Beispiel ein Roboter, der ein Tor schießt. Also eine viel komplexere Maschine. Ich kenne das vom IT Studium. Da ging es auch um Informationskreisläufe. Okay, das habe ich verstanden. Dann lautet die Frage also: Wie ist mein Nervensystem gebaut, so dass ich morgen spontan aufs Matterhorn steigen könnte, und wie muss ich mein Unternehmen gestalten, damit es auf Dauer Tore schießen kann. Das habe ich nämlich meinem Vater versprochen, als ich es von ihm übernommen habe. Klar, es soll lebensfähig sein, damit du es einmal gesund an die nächste Generation weitergeben kannst, selbst wenn das wirtschaftliche Umfeld noch schwieriger wird. Also ich bin ja gespannt, was da noch kommt. In diesem Buch meine ich. Skeptisch bin ich trotzdem. Warum denn? Wenn dieses Viable System Model tatsächlich so hilfreich ist, warum kennt es keiner? Ich jedenfalls habe noch nie davon gehört. Ihr etwa? Nein, ich auch nicht. Naja, wir brauchen die Neurologie jetzt, da die Welt so kompliziert und alles so schnell geworden ist. Das heißt, wir brauchen heute eine sehr gut funktionierende Neurologie. Früher hatten unsere Firmen wohl auch eine, aber die war halt noch nicht so leistungsfähig, hat aber ausgereicht. Das kann ich schon nachvollziehen. Also, wenn man den Zustand der Welt anschaut, könnte etwas mehr Neurologie jedenfalls nicht schaden. Die dritte Dimension des Organisierens. Du meinst also, das kennt noch keiner, weil sich bisher niemand damit befassen musste? Naja, es dauerte schließlich auch mehrere hundert Jahre, bis sich die doppelte Buchhaltung als Standard wirklich verbreitet hat. Obwohl sie schon lange vorher erfunden war. Übrigens nicht von Pacioli. Er hat sie nur beschrieben. Erfunden wurde sie um einiges früher, soviel ich weiß. Sage ich doch. Die Erfindung alleine reicht nicht. Es braucht auch einen echten Bedarf dafür am Markt. Sonst interessiert das keinen. Damals sind in Italien die ersten großen Banken der Medici und so entstanden. Lange Zeit genügte den meisten Unternehmen die Milchbüchlein-­ Rechnung. Dann ist auf einmal alles viel zu kompliziert geworden, so

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dass man eben eine doppelte Buchhaltung brauchte. Vorher ging es ohne und so hat sich am Anfang wohl auch jeder gefragt, ob das denn jetzt wirklich sein muss, mit der doppelten Buchhaltung – alles zweimal machen …. Man betreibt den Aufwand erst, wenn man muss. Mit dem Modell für Neurologie scheint es ähnlich zu sein. Rachel: Lebensfähigkeit. Sandra: Was? Rachel: Eben, es ist ein Modell für Lebensfähigkeit, nicht eins für ein Nervensystem! Aber mit dem Bedarf magst du recht haben. Große Würfe brauchen Zeit, bis sie bekannt werden. Es hat 80 Jahre gedauert, bis man Einsteins Relativitätstheorie an den Universitäten gelehrt hat. Über Stafford Beer habe ich gelesen, dass er einen Innovationspreis für sein Modell erhalten hat  – eine Medaille, auf der Prometheus abgebildet war. Bei der Übergabe hat man ihn gefragt, ob er denn wisse, warum da Prometheus drauf sei. Beer sagte: „Vielleicht weil Prometheus den Menschen das Feuer, also Wissen gebracht hat?“ „Nein, weil die Geier dir für den Rest deines Lebens die Leber rauspicken werden!“. Marc (lacht): Damit meinte er wohl die Kritiker, Nörgler und Skeptiker, die bei allem Neuen zuerst immer einmal nur die Probleme sehen und beweisen wollen, was alles nicht geht. Tja, Basisinnovationen haben es schwer. Rachel: Lange hatte man sich nicht mit Einstein befasst, weil man ja „wusste“, dass sich Parallelen nicht kreuzen können. Sandra: Ja, mit den Innovationen ist das so eine Sache. Der Status Quo ist immer der Feind des Neuen. Für mich ist eigentlich auch nicht die Frage, ob es alt oder neu ist, sondern ob es nützlich ist. Worauf ich aber keine Lust habe, ist ein neues Organisationsmodell in meinem Unternehmen einzuführen. Wir haben vor zwei Jahren reorganisiert – und man soll ja nicht ständig reorganisieren, wie gesagt wurde. Marc: So wie ich das verstanden habe, brauchst du nicht zu reorganisieren, sondern nur die dritte Dimension zu prüfen und allenfalls richtig zu gestalten. Das ist etwas anderes, als von einem Organisationsmodell auf ein anderes umzusteigen; zum Beispiel von der funktionalen Organisation auf die Matrix, wie wir das in unserer Versicherung gemacht haben. Und es stimmt übrigens: Die Kommunikationsprobleme haben seither zugenommen, und alles ist schwerfällig und kompliziert geworden  – schwer zu steuern. Vermutlich hat man bei uns eben die dritte Dimension vergessen und wundert sich jetzt. Sandra: Und du glaubst wirklich, dass ihr keine Probleme hättet, wenn ihr dieses Modell für Neuro- …. Für Lebensfähigkeit nutzen würdet? Marc: Grundsätzlich bin ich auch immer skeptisch, wenn es zu theoretisch und nach wissenschaftlich fundiert und so klingt. Was ich aber interessant finde, ist die Aussage, dass die Unplanbarkeit das Credo der Kybernetik

3.10  Die Neurologie vernachlässigen

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ist. Sie scheint zu akzeptieren, dass die Dinge immer wieder schieflaufen, dass es Störungen und Unvorhergesehenes gibt und dass sie meint, mit ihrer Rezeptur des Gelingens eben gerade damit besonders gut zurechtzukommen. Ich finde es spannend, dass sie echte Lebensbedingungen akzeptiert und nicht Laborverhältnisse. Sandra: Habt ihr auch gelesen, dass dieser Beer nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Captain bei Spezialeinheiten im Zweiten Weltkrieg war, und später ein erfolgreicher Manager in der Industrie? Da müsste er ja wissen, wie es einem geht, wenn man entscheiden muss und keine Zeit hat, um auf Studien und Untersuchungen zu warten. Rachel: … Und einen die Mitarbeiter nerven, das Telefon permanent klingelt und alle gleichzeitig etwas von einem wollen. Er soll einen Rolls Royce besessen und in feinen, englischen Gentlemen-Clubs verkehrt haben, bevor er sich für ein einfacheres und freieres Leben entschied. Ein interessanter Typ. Also ich bin gespannt auf sein Modell. Wenn einer die Realität von Managern kennt und gleichzeitig ein guter Wissenschaftler ist, was ja höchst selten vorkommt, könnte etwas Spannendes dabei herauskommen. Etwas Robustes. Marc: Eine robuste Organisation funktioniert auch dann zuverlässig, wenn einzelne Teile nicht funktionieren. Das fand ich interessant: John von Neumann soll ja gezeigt haben, wie man zuverlässige Maschinen aus unzuverlässigen Teilen baut. Sandra: Die Maschine brauche ich. Wir haben haufenweise unzuverlässige Kollegen in unserer Firma. Marc: Alan Turing und von Neumann sollen zusammen dann auch gezeigt haben, dass Maschinen selber andere Maschinen entwerfen und bauen können, die komplexer sind als sie selbst. Wer weiß, wo das alles hinführt. Sandra: Wir als biologische Maschinen können das jedenfalls schon, wenn ich meine Kinder betrachte. Rachel: Wir sind lebensfähig, aber trotzdem sterben wir. Marc: Na und? Willst du ewig leben? Rachel: Gute Frage. Was heißt denn eigentlich ‚lebensfähig?‘ Wie lange soll etwas lebensfähig sein? Marc: Vielleicht bis es seinen Zweck erfüllt hat? Rachel: Wenn ich sterbe, heißt das also, dass ich dann meinen Zweck erfüllt habe? Marc: Vermutlich. Rachel: Und umgekehrt, wenn ein Projekt seinen Zweck erfüllt hat, sollte es sterben. Marc: Genau. Bei uns in der Versicherung werden die allerdings meistens künstlich weiter beatmet.

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Sandra:

Rachel: Sandra: Marc:

Rachel:

3  Die 10 Kardinalfehler des Organisierens

Der Zweck unseres Unternehmens ist es, Maschinen oder besser gesagt Lösungen für die holzverarbeitende Industrie auf den Markt zu bringen. Unser Zweck ist also dann erfüllt, wenn niemand mehr solche Maschinen braucht. Weil es wegen des Klimawandels keine Wälder und damit auch kein Holz mehr gibt. Dann muss die Firma also hoffentlich noch ein Weilchen lebensfähig bleiben. Darum bedeutet im Englischen das Wort ‚viable‘ auch irgendwie ‚zweckerfüllend‘. ‚A viable idea‘ ist zum Beispiel eine Idee, die was bringt, die nützlich ist und funktioniert. Hab schließlich nicht umsonst in England studiert. Das wissen wir. Trink aus.

Literatur 1. Buzzel, Robert D., und Bradley T. Gale. 1989. Das PIMS-Programm. Strategien und Unternehmenserfolg, 91 ff. Wiesbaden: Gabler. 2. Henderson, Bruce D. 1974. Die Erfahrungskurve in der Unternehmensstrategie. Frankfurt/New York: Campus. 3. Malik, Fredmund. 2011. Unternehmenspolitik und Corporate Governance. Wie Organisationen sich selbst organisieren, 152 und 172 ff. Frankfurt/New York: Campus. 4. Malik, Fredmund. 2006. Führen, Leisten, Leben. Wirksames Management für eine neue Zeit, 199. Frankfurt/New York: Campus. 5. Von Neumann, John. 1952. Probabilistic logics and the synthesis of reliable organisms from unreliable components. In Automata Studies, Hrsg. J. McCarthy und C.E. Shannon (1956). Princeton: University Press.

Teil II Das Viable System Model

The purpose of a system is – what it does. (Stafford Beer)

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Ein Modell für Steuerung und Kommunikation

Organisation als „Enabling-Link“ zwischen Strategie und Kultur Für alle drei Dimensionen des Organisierens muss uns als Erstes das Modell interessieren, über das wir bereits in Abschn. 3.3 gesprochen haben, als es um die Frage ging, warum man die Struktur nicht einfach dem besten Konkurrenten abschauen kann. In Abb.  3.2 wurden dazu die Zusammenhänge zwischen der Strategie, der Struktur und der Kultur eines Unternehmens gezeigt und dabei betont, dass die drei Elemente in alle Richtungen miteinander verbunden sind und sich gegenseitig beeinflussen. Wenn wir über Organisation reden, muss uns bewusst sein, dass wir nicht im luftleeren Raum organisieren. Wir organisieren immer im Zusammenhang mit einer ganz bestimmten Strategie eines Unternehmens, mit dessen konkreten Menschen und deren eingeübten Verhaltensweisen, die wir üblicherweise im Sammelbegriff „Kultur“ zusammenfassen. Bevor wir uns in das Steuerungsmodell vertiefen, sollten wir uns die Abb. 3.2 nochmals vergegenwärtigen. Sie erinnert uns erstens daran, dass wir mit der Organisation eine bestimmte Leistung für einen bestimmten Kunden erzielen wollen und dass uns die Struktur auf diese Leistung fokussieren soll. Sie muss strategiegerecht sein, das heißt, sie muss uns helfen, die strategischen Stoßrichtungen umzusetzen. Sie soll es uns ermöglichen erfolgreich zu sein, indem sie unsere Stärken wirksam macht. Bevor wir uns ans Organisieren machen, brauchen wir deshalb eine klare Vorstellung davon, wer dieser Kunde ist, wofür er bezahlt und mit welchen Stärken wir in diesen Kriterien besser sein können als der Wettbewerb. Wir müssen zudem wissen, was wir mit unserem Unternehmen in Sachen Marktstellung, Innovation und Produktivität vorhaben, wie wir es attraktiv für gute Mitarbeiter machen und welche Liquiditäts- und Gewinnziele wir dazu erreichen müssen. Erst wenn diese Kernfragen geklärt sind, können wir von einer Strategie reden, und erst dann können wir die für uns richtige von der falschen Organisation unterscheiden.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Pfiffner, Die dritte Dimension des Organisierens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29247-8_4

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4  Ein Modell für Steuerung und Kommunikation

Soweit die Theorie. In der Praxis habe ich oft erlebt, dass sich der Vorstand zu Beginn des Organisationsprojektes über die Strategie nicht im Klaren ist. Es gibt zwar Strategie­ papiere, die sich bei näherer Betrachtung aber als operative Langfristplanungen herausstellen. Sie beschreiben, wie sich Umsatz und Gewinn in den nächsten Jahren entwickeln sollen. Diese operativen Größen sind aber für eine strategische Planung systematisch irreführend, weil wir mit ihnen entweder in den Rückspiegel schauen oder ihre Extrapolation in die Zukunft nicht mehr als Hoffnungen und Prognosen sind. Für eine Strategie sind sie unbrauchbar, weil unsere Welt zu komplex und zu dynamisch geworden ist, um wichtige Entscheidungen auf Prognosen abzustützen, und sie die wesentlichen Veränderungen im Geschäft nicht erfassen. Wenn man dann allerdings mit dem Vorstand zu arbeiten beginnt, stellt sich oft heraus, dass es durchaus gemeinsame Vorstellungen davon gibt, was das Unternehmen in strategischer Hinsicht tun muss – und damit beantworten sich die strategischen Fragen im Laufe der Gespräche von selbst. Das reicht aus für das Organisieren, denn wir benötigen keine ausgefüllten Strategieformulare, sondern strategische Inhalte. Manchmal werden diese erst während der Arbeit an der Organisation ausformuliert. Die Strategie beeinflusst sowohl die Struktur, als auch umgekehrt die Struktur die Strategie, weil sie bestimmt, für welche organisatorischen Gefäße überhaupt Strategien entwickelt werden, und weil manchmal legale Strukturen den Gestaltungsraum – mindestens scheinbar – einschränken. Während der Gestaltung von Strategie und Struktur fließen Informationen, Vorstellungen und Ideen aus beiden Elementen ineinander über, so dass Strategie und Struktur gemeinsam wachsen, bis sie beidseitig stimmig sind. Zudem hat die Struktur einen Einfluss auf die Kultur, also auf die Verhaltensweisen der Menschen. Auch darüber wurde bereits gesprochen. Ein Unternehmen, das aufgrund der zunehmenden Marktdynamik reaktionsschneller und anpassungsfähiger werden muss, wird möglicherweise dazu seine Struktur ändern. Es stattet die marktnahen Einheiten mit den nötigen Ressourcen und Kompetenzen aus, damit sie agil handeln und Verantwortung übernehmen können. Die Struktur beeinflusst das Verhalten der Menschen, indem sie Handlungsspielräume öffnet oder schließt. Sie bestimmt, wie viel Selbstorganisation und Selbstkontrolle möglich ist und hat einen Einfluss darauf, wie autoritär der Chef auftreten muss (vgl. Abschn. 18.3). Die Kultur wiederum beeinflusst umgekehrt auch die Struktur: Haben wir überhaupt die richtigen Leute und genügend Führungskräfte, um die gewollte Struktur umzusetzen? Verlieren wir erfolgskritische Mitarbeiter, wenn wir die Struktur ändern? Außerdem wirken die ungeschriebenen Gesetze, die informellen Netzwerke und die eingeübten Verhaltensweisen im Unternehmen viel stärker als das Organisationshandbuch. Sie haben einen enormen Einfluss auf das Funktionieren, werden aber durch die üblichen Organisationsmethoden eher ausgeblendet als wirklich zusammenhängend thematisiert. Die Or­ ganisation bleibt das Eine und die Kultur das Andere, und man kümmert sich um beides getrennt. Wenn wir Kultur hingegen aus dem Blickwinkel von Steuerung und Kommunikation betrachten, wird sie auf einmal zu einem relevanten Element des Or­ ganisierens, denn Verhalten und Kommunikation sind keine unterschiedlichen Dinge. Paul Watzlawick hat aufgezeigt, dass man nicht Nicht-Kommunizieren kann und dass

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jegliches Verhalten immer auch eine Form von (manchmal non-verbaler) Kommunikation ist [1]. Kulturfaktoren wie Symbole, Schattenstrukturen oder implizite Spielregeln und Traditionen müssen ebenso als Strukturen verstanden werden, die zwar nicht in Organigrammen und Prozessbeschreibungen auftauchen, aber sehr wohl ein Teil der dritten Dimension des Organisierens sind (vgl. Abschn. 5.3). Implizite Ordnungsstrukturen im Unternehmen werden über Symbole sichtbar. Sie regeln beispielsweise, wer einen Fensterplatz und wer welches Auto erhält. Als Berater lernt man jährlich zwanzig neue Firmen kennen, und man bekommt dadurch mit der Zeit ein Auge für diese kulturellen Symptome. Sie sind interessant, weil sie einem rasch aufzeigen, wie das Unternehmen tickt: Was sagt einem die Parkplatzordnung, zum Beispiel wenn der Parkplatz des Vorstandes direkt neben dem Haupteingang liegt, der Besucherparkplatz aber irgendwo hinter dem Haus? Welches Gefühl stellt sich beim Empfang ein? Flüchten die Leute, wenn der Chef mit einem Besucher vorbeikommt? Wie ist der Umgang der Leute untereinander? Wie sind sie gekleidet? Sind die Sitzungen vorbereitet? Zur Kultur gehören auch die Schattenstrukturen im Unternehmen, die bestimmen, wer wirklich etwas zu sagen hat. Es gibt in Südamerika Fußballvereine, bei denen beispielsweise der Fanclub und nicht die Vereinsleitung entscheidet, ob ein Spieler transferiert wird. In einer großen Firma fand man das eigentliche Machtzentrum des Unternehmens im Werks-Chor, weil dort die wichtigen Entscheidungen zwar nicht getroffen, aber doch ausdiskutiert und vorbereitet wurden. Manchmal spielt im Unternehmen auch der Lebenspartner des Eigentümers eine wichtige Rolle, oder Assistenten werden zu grauen Eminenzen mit großem Einfluss und kleiner Verantwortung, an denen kaum einer vorbeikommt. Diese Dinge sind strukturrelevant. Sie sagen viel mehr über die Kultur eines Unternehmens aus, als das, was wir in wohlformulierten Schlagworten im Unternehmensleitbild lesen. Dort stehen die Werte, die im Unternehmen hochgehalten werden, und zwar oftmals in Form einer Aufzählung der ganzen christlichen Moraltheologie. Beispiel: „Wir wollen ehrlich und offen miteinander umgehen“. Man fragt sich dann unwillkürlich, ob es wohl auch Unternehmen gibt, die von ihren Mitarbeitern erwarten, dass sie einander anlügen? Das soll nicht heißen, dass eine Unternehmenspolitik keine Normen und Werte enthalten soll. Die Kultur wird aber nicht durch Leitsätze geformt, sondern durch konkretes Handeln im täglichen Miteinander. Kulturen per se lassen sich kaum ändern. Was einen Deutschen oder einen Schweizer ausmacht, bleibt über die Jahrhunderte hinweg immer etwa gleich. Was sich aber dennoch in Deutschland oder in der Schweiz ändern kann, sind ganz konkrete Verhaltensweisen, die je nach Situation und Erfordernissen der sich wandelnden Umwelt nötig oder nützlich sind. Anstatt die Unternehmenskultur ändern zu wollen, sollte man sich also fragen, welche konkreten Verhaltensweisen geändert werden müssen und welche Strukturen, ob aufgeschrieben oder nicht, diese Verhaltensweisen begünstigen. Hier kann man viel von guten Schullehrern lernen. Sie sind Weltmeister im Etablieren von impliziten Strukturen und dem Herausbilden einer bestimmten Kultur in kürzester Zeit; nicht durch Leitbilder, sondern durch das repetitive Einfordern konkreter Verhaltensweisen. Mit dem Blick auf Verhaltensweisen ist man schneller bei den echten Organisations- und Führungsfragen, durch die Änderungen herbeigeführt werden können. An der

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Kultur selber kann man hingegen nicht drehen, und die Kultur-Slogans verpuffen auf der Appell-Ebene; sie werden von den Mitarbeitern nicht ernst genommen und schlimmstenfalls als Sarkasmus empfunden, wenn Wirklichkeit und Anspruch auseinander gehen. Was kann ein Modell? Das Modell in Abb. 3.2 gilt für alle drei Dimensionen des Organisierens: Für die Aufbau-, die Ablauf- und die Steuerungsorganisation. Jede dieser Dimensionen hat wiederum ihr eigenes Modell. Wir wissen, wie ein Organigramm als Modell einer Aufbauorganisation aussieht. Wir wissen auch, wie ein Flussdiagramm als Modell einer Prozessorganisation aussieht. Diese beiden Modelle haben ganz unterschiedliche Zwecke. Der Zweck des Organigramms ist die Abbildung der Führungshierarchie und der organisatorischen Gefäße. Der Zweck des Flussdiagrammes ist die Beschreibung eines relevanten Vorganges im Unternehmen. Wir sollten uns dessen bewusst sein: Jedes Modell verfolgt einen bestimmten Zweck. Es ist geeignet, gewisse Dinge zu zeigen – nämlich die, auf die es den Fokus legt – und andere nicht. Beispielsweise zeigt uns der U-Bahn-Plan von London nicht auf, wie die politische Landschaft der Stadt aussieht. Aber wer von der Paddington Station schnellstmöglich zum Tower of London gelangen will, für den ist der U-Bahn-Plan nützlich. Ein Modell kann immer nur eine Abstraktion der Realität für einen bestimmten Zweck sein. Umgekehrt gilt: „The map is not the territory“, wie es Alfred Korzybski ausdrückte [2]. Jemand vermisst das Gebiet mit seiner Retina oder mit einem Maßstab und präsentiert es auf Papier. Aber die Realität bleibt immer komplexer als das Modell. Jede „Map“ kann nur ein gefärbtes, gefiltertes Abbild und ein Ausschnitt aus der Realität sein, mit dem ein Beobachter ein gewisses Interesse und eine bestimmte Absicht verfolgt. Der Beobachter selbst ist dabei immer auch ein beeinflussender Teil der Erkenntnis. Das haben nicht nur die Kybernetiker Gregory Bateson im Buch „Steps to an Ecology of Mind [3]“ oder Heinz von Foerster mit den „Second-Order Cybernetics [4]“ beschrieben; es war eine generelle Erkenntnis der Geistes- und Naturwissenschaften im letzten Jahrhundert. Sie veränderte unser Verständnis von Objektivität. Wir finden diese Einsicht nicht nur in der modernen Erkenntnistheorie, Philosophie oder Soziologie, sondern auch in der Quantenphysik, etwa in der berühmten „Heisenbergschen Unschärferelation“ oder im Gedankenexperiment von „Schrödingers Katze“. Der Beobachter und seine Absicht muss immer auch als Faktor in die Gleichung mit einbezogen werden. Mit jedem Modell wird also ein bestimmter Zweck für einen bestimmten Beobachter verfolgt. Es enthält diejenigen Dinge, die für ihn relevant sind, damit er mit dem Modell erkennen, diagnostizieren, ausprobieren, simulieren und etwas zurück in die Realität nehmen kann. Dazu muss ein Modell alles weglassen, was für den Zweck nicht relevant ist und auf das fokussieren, was für die Erkenntnis zählt. Andernfalls würden wir uns im Flugsimulator verletzen, wenn wir abstürzen. Ein Modell kann die Wirklichkeit sehr stark abstrahieren und reduzieren, wie das zum Beispiel bei einer Kinderzeichnung eines Flugzeuges der Fall ist. Ein hölzernes Flugzeugmodell hingegen verfügt bereits über viel mehr Information als eine Zeichnung. Wir können es aus allen Blickpunkten betrachten, es

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fühlen und riechen. Und ein Modellflugzeug, das wirklich fliegen kann, ist nochmals ein besseres Abbild der Wirklichkeit. Das beste Modell wäre grundsätzlich die Wirklichkeit selbst („the territory“), oder wie es Norbert Wiener ausgedrückt hat: „Das beste Modell einer Katze – ist eine andere Katze, insbesondere wenn es dieselbe Katze ist [5].“ Gute Modelle helfen uns, komplexe Dinge so einfach wie möglich zu machen – aber auch nicht einfacher. Aus der Erkenntnistheorie wissen wir, dass diese Modelle wichtig sind, weil wir durch sie denken. Wie die Wirtschaft funktioniert, verstehen wir gemäß dem Modell vom Funktionieren einer Wirtschaft in unserem Kopf. Wie unser Partner oder unsere Kinder funktionieren, verstehen wir gemäß dem Bild, das wir von ihnen in unserem Kopf haben. Aber Achtung: The map is not the territory! Diese Modelle vereinfachen manchmal zu sehr. Dann sehen wir gewisse Dinge schwarz-weiß, oder wir werden Opfer unserer eigenen Vorurteile, indem wir die Realität in unser Modell hinein pressen. Deshalb steht im Handbuch des Dänischen Militärs: „If the map and the territory are not the same – follow the territory!“ Manchmal müssen wir unsere Modelle prüfen und aktualisieren. Und manchmal führen unterschiedliche Modelle zu Missverständnissen und Konflikten, weil sie uns daran hindern zu verstehen, warum der Andere die Welt anders sieht als wir selbst. Gerade in Managementfragen redet man oft aneinander vorbei – weil jeder ein anderes Modell von einer guten Strategie oder einer guten Organisation im Kopf hat. In den am besten geführten Unternehmen, die ich erlebt habe, gab es hingegen immer ein gemeinsames Management-Verständnis, wenigstens in den wesentlichen Themen von Strategie, Organisation, der Führung von Menschen und der angestrebten Kultur. Man legte Wert auf gemeinsame Führungsmodelle und sorgte dafür, dass neue Kollegen dieses Denken verstehen. Noch wichtiger, als gemeinsame Modelle zu haben, ist die Qualität dieser Modelle. Manchmal versuchen wir Lösungen herbeizuführen, die keine Wirkung zeigen, weil unser Modell nichts taugt, das dem Lösungsmechanismus zu Grunde liegt. Es fokussiert auf die falschen Variablen, die keine Hebelwirkung zeigen, oder es beurteilt Zusammenhänge falsch. Wie wir in Kap. 10 sehen werden, kann das Ergebnis jedweden Managements nicht besser sein als das ihm zugrunde liegende Modell  – es sei denn durch Zufall. Deshalb überlegte man sich in diesen Unternehmen sorgfältig, welche Modelle ins Führungskonzept aufgenommen werden sollen. Die Qualität dieser Modelle gehört zur Rezeptur des Gelingens, denn sie bestimmt die Qualität der Lösungen und Entscheidungen, die damit getroffen werden – und damit das Schicksal des Unternehmens. Der britische Neurophysiologe W.  Ross Ashby, der auch zum Klub der Wunderkinder der Macy-Konferenzen gehörte, befasste sich vertieft mit Fragen der Modellierung. Er nannte die Kybernetik auch „the science of simplification“ [6]. Als Wissenschaft der richtigen oder zulässigen Vereinfachung lehrt sie uns, dass das Erkennen der „essentiellen Variablen“ erfolgsentscheidend ist, sowie das Studium ihrer Verbindungen und ihres Zusammenspiels [7]. Die besten Modelle sind in diesem Sinne nicht die komplizierten, mit möglichst vielen Variablen, sondern die einfachen, mit wenigen, aber wesentlichen Variablen.

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Die invariante Struktur im Best Practice Control-Model Was wir mit einem Modell herausfinden und zeigen können, ist also von drei Dingen abhängig: Vom Zweck des Modells, von der Qualität des Modells und vom Beobachter, der es anwendet. Was uns nun in diesem Buch interessiert, ist ein Modell für Steuerung und Kommunikation. Wir wollen weder eine Firma modellieren noch ein Nervensystem, sondern wir wollen Steuerung und die dazu nötige Kommunikation modellieren. Stafford Beer entwickelte dieses Steuerungsmodell in den 1960er- und 70er-Jahren. Es sollte wissenschaftlichen Maßstäben standhalten und generelle Gültigkeit haben. Es sollte anwendbar sein auf alles, was eine Steuerungsstruktur braucht, im Tier, in der Maschine wie auch in sozialen Organisationen, und dort auf große wie auch auf kleine Unternehmen, auf Ministerien, auf Teams, Projekte oder auf ganze Staaten. Das Modell musste unabhängig davon sein, was die Organisation macht. Und es sollte alles beinhalten, was für eine leistungsfähige Steuerung nötig ist, aber doch so einfach sein, dass man die Übersicht behält. Gibt es eine solche Struktur eines Steuerungs- und Kommunikationssystems, das diesen hohen Anforderungen standhält – „a model of any viable system“, wie Beer es nannte? Was Beer fand, führte zur Entwicklung seines Organisationsmodells für die dritte Dimension des Organisierens und damit zu einem gefeierten Durchbruch, der ihm zahlreiche Ehrungen und Titel einbrachte. Als Kybernetiker suchte er im Bereich der belebten Welt nach Ideen für sein Control-Model. Das macht Sinn, weil Organismen über die Jahrtausende hinweg evolutiv gelernt haben, enorm komplexe Dinge zu tun – sei es ein Kolibri, der eine Blume umschwirrt, ein Fischschwarm, der seinem Jäger entweicht oder ein Mauersegler, der fast sein ganzes Leben in der Luft verbringt. Das leistungsfähigste und komplexeste dieser Steuerungssysteme aber fand er im menschlichen Nervensystem (Abb. 4.1). Unser Gehirn enthält ungefähr 110 Milliarden Neuronen, die wiederum bis ins Zehntausendfache miteinander verknüpft sind. Es ist ein anderthalb Kilogramm schwerer, elektrochemischer und mit 25 Watt durch Glucose betriebener Computer, der mit einem Rhythmus von zehn Zyklen pro Sekunde arbeitet und eine Speicherkapazität von ca. 1015 Bits aufweist [8]. Wir verfügen damit über eine unglaublich komplexe Steuerleistung, die uns dazu befähigt, sehr schnell mit unvorhergesehenen Dingen zurecht zu kommen, etwas im Voraus zu planen, elegant Ballett zu tanzen oder einen Berg trotz Unwetter hochzuklettern. Das menschliche Zentralnervensystem ist so komplex, dass es sogar Bewusstsein für sich selbst generieren kann – was keinem anderen Steuerungssystem bisher gelungen ist. Auf seiner Suche entdeckte Beer, dass sich die hochentwickelten Gehirne von Menschen und die weniger komplexen Tiergehirne in vielen Punkten gleichen. Die Frage, die er sich stellte war also: Welche Dinge sind in allen organismischen Steuerungssystemen immer gleich, und was können wir daraus lernen für die Steuerungsstrukturen eines Unternehmens? Er destillierte diejenigen Dinge aus den verschiedenen Nervensystemen verschiedener Organismen heraus, die für die Lebensfähigkeit essentiell sind. Übrig geblieben sind fünf Elemente, zwei Steuerungsachsen und ein Prinzip, die überall und immer vorkommen, wenn etwas lebt  – egal ob es sich um einen Alligator, eine Amöbe, einen Vogel, ein Pferd oder einen Menschen handelt (Abb. 4.2). Die Natur scheint in vier Milliarden Jahren Evolution tatsächlich eine universelle Struktur gefunden zu haben, die so

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Abb. 4.1  Das best-practice Control-Model

Abb. 4.2  Ingredienzen einer Steuerung

fantastische Eigenschaften wie Flexibilität, Effizienz und Leistung, Voraussicht und Anpassung, Reproduktion oder Erneuerung, Heilung, Bewusstsein und sogar Selbst-­Be­ wusstsein hervorbringt. Es gelang Beer zu zeigen, dass diese fünf Elemente, zwei Achsen und das Prinzip im mathematischen Sinne notwendig und hinreichend sind für Lebensfähigkeit. Notwendig, weil man auf Dauer nichts davon weglassen kann, ohne Schaden anzurichten, und hinreichend, weil es nicht noch mehr Dinge braucht, damit Steuerung

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funktioniert. Damit wird uns mit diesem Modell eine Sprache angeboten, die einerseits reichhaltig genug ist, um sinnvoll über die dritte Dimension des Organisierens zu reden, ohne dass man andererseits zuerst zehn Jahre lang studieren muss, um die Sprache zu verstehen. Diese Struktur ist in jedem Organismus vorhanden, so wie beispielsweise auch unser Skelett in jedem Menschen in gleicher Form vorhanden ist, egal ob es sich um einen dicken Mann, ein kleines Mädchen, eine Frau oder einen langen Lulatsch handelt. Sie wächst außerdem mit dem Organismus von der Wiege bis zur Bahre mit (Abb. 4.3). Die Verhältnisse der Knochenlängen ändern sich mit zunehmendem Alter ein wenig, und die Knochen werden brüchiger, aber die Struktur bleibt gleich. In unseren Unternehmen hingegen scheinen wir immer wieder reorganisieren zu müssen, nur weil das Unternehmen gewachsen ist. Der Organismus wächst, ohne dass er seine Struktur ändert. Wie wir sehen werden, können wir mit der entdeckten Steuerungsstruktur tatsächlich Unternehmen jeder Art, Größe und Komplexität abbilden und sie mit dem Unternehmen mitwachsen lassen. Beer selber wendete das Modell beispielsweise auf den gesamten chilenischen Staat an, als er von Präsident Allende Anfang der 1970er-Jahre um Hilfe gebeten wurde. Das Modell besteht aus zwei Dimensionen: Einer lateralen (oder horizontalen) und einer vertikalen Steuerungsachse. Die laterale Achse sorgt für relative Autonomie und Agilität. Sie erlaubt es einem Organ, seine Angelegenheiten selbstständig zu regeln und diese lokale Aktivität aber gleichzeitig auf der vertikalen Achse in eine organische Balance

Abb. 4.3  Invariante Strukturen

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zu bringen. Das vegetative Nervensystem mit Sympathikus und Gegenspieler Parasympathikus sorgt für das koordinierte Hoch- oder Herunterfahren von Herzschlag, Atmung, Verdauung und so weiter. Es gewährleistet die autonome, unwillkürliche Regulierung der Tätigkeit der inneren Organe, während wir zum Beispiel einem Vortrag zuhören. Wir können aber jederzeit intervenieren, indem wir aufstehen, Luft einsaugen und losrennen, um den Bus zu erreichen. Das ermöglicht unsere vertikale Achse mit dem somatischen Zentralnervensystem. Diese vertikale Steuerungsachse sorgt für die willkürliche Steuerung des Ganzen, damit es auf eine sinnvolle Art zusammenwirken kann. Sie besteht aus den Nervensträngen der Wirbelsäule und läuft an deren Ende in einem walnussartigen Gehirn mit zwei Hemisphären zusammen: Dem cerebralen Cortex. Dieser sitzt wie eine Perücke auf anderen Teilen des Gehirns. Vereinfacht gesagt, sind das der Hirnstamm (der älteste Teil des Gehirns, auch „Reptilienhirn“ genannt), das Kleinhirn und das Mittel- oder Zwischenhirn (auch Säugetiergehirn genannt). Kleinhirn, Zwischenhirn und Großhirn fungieren als „dreieiniges“ Gehirn und bilden zusammen mit dem Rückenmark das Zen­ tralnervensystem. Die Kommunikation zwischen den Steuerungselementen findet dabei auf elektrischem Weg, über die Nervenstränge und Synapsen statt, wie auch auf biochemischem Weg, indem Botenstoffe im Blut, sogenannte Neurotransmitter, Informationen übertragen. Inte­ ressant ist, dass der sensorische Teil unseres Organismus größtenteils digital funktioniert: Visuelle Stimuli reizen beispielsweise Millionen von Zellen in der Retina, die dadurch entweder aktiv oder inaktiv sind. Diese Wahrnehmungen werden dann von digital zu analog prozessiert, bis sie in den höheren Operationen des Gehirns teilnehmen. In der heutigen Industrie machen wir das Gegenteil: Wir verwenden meistens analoges Sensorequipment und prozessieren diese Informationen für die höheren Steuerungszentren in digitaler Form. Das Viable System Model (Modell lebensfähiger Systeme) Stafford Beer nannte seine gefundene Struktur das „Viable System Model“, wobei er mit dem Wort „System“ betont, dass es auf alles anwendbar ist, was eine Steuerungsorganisation braucht. Dass es ein „Model of any viable system“ sein soll, ist eine wissenschaftlich gesehen starke Behauptung. Wir sind alle frei, diese Behauptung zu widerlegen oder sie auch zu ignorieren. In der Praxis begegnet man als Berater oftmals dem sogenannten „AGABU“-Effekt: „Alles ganz anders bei uns …“. Es ist die Meinung, dass man selber anders ist, dass etwas in der eigenen Branche keine Gültigkeit oder mindestens eine ganz andere Gewichtung hat, und meistens ist es eher der Versuch, vielleicht unangenehmen Einsichten auszuweichen. Erinnern wir uns daran, dass das Modell nur diejenigen Elemente enthält, die invariant in allen lebensfähigen Strukturen vorkommen. In meiner praktischen Arbeit mit dem Modell habe ich in zwanzig Jahren keine Organisation erlebt, weder im Business- noch im Non-Business-Bereich, in der das Viable System Model nicht anwendbar gewesen wäre. Und nur eine einzige von etwa hundert Organisationen, hat sich nach der Diagnose als vollumfänglich richtig und lückenlos organisiert herausgestellt.

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Während Metaphern wie diejenige der drei Dimensionen des Organisierens immer etwas ambivalent bleiben, sind Modelle wie das Viable System Model etwas sehr Präzises. Was genau meint also eigentlich „Viability“ oder „Lebensfähigkeit?“ Zuerst müssen wir die „Lebensfähigkeit“ von der „Überlebensfähigkeit“ unterscheiden, weil diese zwei Dinge gerne verwechselt werden. Viele Menschen leben in Spitälern nur deshalb noch, weil sie künstlich am Leben gehalten werden – sie überleben, obwohl sie nicht lebensfähig sind. Das kennen wir auch in der Wirtschaft und in der Verwaltung: Es sind Organisationen, die ihren Zweck eigentlich überlebt haben oder so schlecht gestaltet sind, dass sie gar nicht funktionieren könnten, wenn sie nicht mittels Subventionen weiter am Leben gehalten würden; meistens um Arbeitsplätze zu schützen. Umgekehrt kann eine Organisation grundsätzlich lebensfähig sein und trotzdem nicht überleben. Alle strukturellen Voraussetzungen für Lebensfähigkeit sind in diesem Fall da, aber dann wird plötzlich ein Rechtsfall schlagend, eine Fabrik brennt ab oder Patente werden gestohlen, was eine Firma in die Insolvenz treiben kann. Auch als Mensch mit grundsätzlich lebensfähiger Struktur können wir über die Straße gehen und dummerweise doch nicht überleben, weil uns ein Auto überfährt oder uns ein Blumentopf auf den Kopf fällt. Geschäftsleute kennen vor allem die ökonomische Lebensfähigkeit, die sich dadurch definiert, dass jemand am Schluss immer eine Rechnung bezahlen muss. Wenn dafür keine Liquidität mehr da ist, überlebt das Unternehmen nicht. Viability umfasst diese ökonomische Lebensfähigkeit, geht aber darüber hinaus, denn Leben ist mehr als Überleben. Wir brauchen Geld, um Strategien umzusetzen, Innovationen zu ermöglichen und Mitarbeiter zu bezahlen. Geld ist in diesem Sinne eine Rahmenbedingung, eine „conditio sine qua non“. Zur Lebensfähigkeit gehört aber auch, dass wir eine Identität und einen Zweck haben, zu dem wir das Geld einsetzen, und die nötigen Adaptionsmechanismen, damit wir trotz Unwetter nicht vom Ziel abkommen. cc Viable [9]  Able to maintain a separate existence. Lebensfähigkeit beschreibt also eine Existenz, die sich unabhängig von ihrer Abstammung selber so lange in ihrer Umwelt erhalten kann, bis ihr Zweck erfüllt ist. Die dazu nötigen Grundlagen der Lebensfähigkeit befassen sich nicht mit der Energie, die es braucht, um ein System anzutreiben, sondern mit der dynamischen Struktur, die die adaptive Verbindung ihrer Teile bestimmt. Diese Struktur enthält die Prinzipien einer wirksamen Organisation, denen wir im Kap. 3 in ihrer negativen Ausprägung in Form von Pra­ xis-­Fehlern bereits begegnet sind. Das erlaubt uns, organisatorische Fehler in einem Unternehmen schnell und treffsicher zu diagnostizieren und zu heilen, beziehungsweise diese Fehler von Anfang an zu vermeiden. Mit den Axiomen, Theoremen, Prinzipien und Gesetzen der lebensfähigen Organisation, wie sie im Viable System Model enthalten sind, können wir das Unternehmen individuell, seiner Umwelt und Situation entsprechend richtig und vollständig gestalten. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass uns das Viable System Model ein flexibles und skalierbares Organisationsdesign an die Hand gibt, für alles was ein lebensfähiges System sein soll. Das Design ändert sich im Lebenszyklus nicht, sondern bleibt von der

Literatur

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Wiege bis zur Bahre gleich. Es nutzt das Prinzip der Zellteilung, indem es agile operative Einheiten schafft, die sich selber steuern, organisieren und koordinieren können. Es führt zu einer robusten und einfach zu führenden, aber dennoch komplexitätsfähigen Organisation. Es dient uns schließlich als Referenz für eine richtige Organisation, ohne in Ideologien und Paradigmen zu verfallen, und ist in diesem Sinne auch eine Alternative zu den Modewellen, Beliebigkeiten und Lücken bisherigen Organisierens.

Literatur 1. Watzlawick, Paul, Janet H. Beavin, und Don D. Jackson. 1969. Menschliche Kommunikation, 53. Bern/Stuttgart/Wien: Hogrefe. 2. Korzybski, Alfred. 1933. Science and sanity: An introduction to non-aristotelian systems and general semantics. New York: Institute of General Semantics. 3. Bateson, Gregory. 1972. Steps to an ecology of mind: Collected essays in anthropology, psychiatry, evolution, and epistemology. Chicago: University of Chicago Press. 4. Von Foerster, Heinz. 1995. Cybernetics of cybernetics, The control of control and the communication of communication, 2. Aufl. Minneapolis: Future Systems Inc. 5. Wiener, Norbert, und Arturo Rosenblueth. 1945. The role of models in science, University of Chicago Press. Philosophy of Science 12(4): 316–321. 6. Ashby, W.  Ross. 1970. Design for a brain  – The origin of adaptive behaviour, 41–42. New York: Wiley. 7. Ashby, W. Ross. 1981. Mechanisms of intelligence: Ashby’s writings on cybernetics, 142. Hrsg. Roger Conant. Seaside: Intersystems Publications. 8. Beer, Stafford. 1972. Brain of the firm. The managerial cybernetics of organization, 2. Aufl., 97. Chichester/New York/Brisbane/Toronto/Singapore: Wiley. 9. Beer, Stafford. 1985. Diagnosing the system for organizations. The managerial cybernetics of organization, 1. Chichester/New York/Brisbane/Toronto/Singapore: Wiley.

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Einführung in das Modell

Wir neigen dazu, in Objekten zu denken. Wir fragen uns, was es ist und wie es ist. Und erst später entdecken wir, dass die Schwierigkeiten meistens nicht in den Objekten selbst liegen, sondern in den Beziehungen zwischen ihnen. Auch im Viable System Model sind nicht nur die fünf Steuerungselemente wichtig, sondern auch die Verbindungen zwischen ihnen in Form von Kommunikationskanälen, denn Steuerung funktioniert nicht ohne Kommunikation. In unserer Einführung in das Modell beginnen wir ebenfalls mit den Objekten, also mit den Steuerungselementen und befassen uns erst während der Dia­ gnose- und Gestaltung im Teil III mit den Kommunikationslinien dazwischen. Auf die Bedeutung der beiden Steuerungsachsen und auf das erwähnte Prinzip gehen wir am Schluss der Einführung ein. Starten wir also mit den Elementen: Was braucht es für eine funktionierende Steuerung? Es sind nicht die naheliegenden organisatorischen Einheiten wie Marketing, Finance, Personal oder Vertrieb, denn das sind fachliche Funktionen. Wir finden diese im Organigramm, als Teil der Anatomie, und sie sind je nach Art des Unternehmens sehr unterschiedlich ausgeprägt: Finance in einer börsenkotierten Firma funktioniert anders als in einer Gemeindeverwaltung. Wir hingegen suchen nach den invarianten Elementen für die Steuerung einer Einheit. Dazu müssen wir einen anderen Blickwinkel auf die Organisation einnehmen und uns fragen, was die Steuerung einer komplexen Ganzheit denn eigentlich tun muss. Wir müssen in Steuerungsfunktionen statt in Fachfunktionen denken (Abb. 5.1). Es sind fünf Steuerungsfunktionen, die es für die Lebensfähigkeit braucht: 1. Operation (selbstgesteuert einen Zweck erfüllen) Das sind die operativen Einheiten, die das tun, wozu das Unternehmen da ist. Sie gehören zur Anatomie der Organisation und erscheinen im Steuerungsmodell, weil es die sich selbststeuernden Einheiten im Steuerungssystem sind. Sie sind die Bausteine der Organisation. Im menschlichen Körper sind es die Organe, die gemeinsam den Zweck © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Pfiffner, Die dritte Dimension des Organisierens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29247-8_5

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5  Einführung in das Modell

Abb. 5.1  Fünf Steuerungsfunktionen (Elemente des Steuerungssystems)

erfüllen, wie die Muskeln, das Herz, die Nieren oder die Haut. In sozialen Organisationen sind sie für die Leistungserstellung zuständig. Die operativen Einheiten liegen auf der lateralen Steuerungsachse, die autonomes Handeln ermöglicht. . (Selbst-)Koordination 2 An der Schnittstelle zwischen horizontaler und vertikaler Achse liegt die zweite Steuerungsfunktion. Sie ermöglicht die (Selbst-)Koordination der operativen, zweckerfüllenden Einheiten und sorgt für reibungslose Zusammenarbeit, wo diese nötig ist. Das übergeordnete Steuerungssystem, das wir in der Folge das „Senior-Management“ nennen werden, weil die operativen Einheiten ja ihr eigenes Management besitzen, sorgt dafür, dass diese gemeinsam mehr erreichen, als jede für sich alleine. Dafür ist die vertikale Steuerungsachse da, die alle weiteren Steuerungsfunktionen umfasst. 3. Optimierung und Auditierung Koordination alleine führt noch nicht zu einem Mehrwert in der Zusammenarbeit. „Gemeinsam mehr erreichen“ bedeutet meistens, dass die Autonomie der operativen Einheiten zum Wohle des Ganzen eingeschränkt werden muss. Das ist die dritte Steuerungsfunktion. Sie trifft Entscheidungen zur Optimierung des Ganzen. 4. Aufklärung und Anpassung Lebensfähigkeit setzt Anpassungsfähigkeit an eine sich verändernde Umwelt voraus. Die vierte Steuerungsfunktion sorgt dafür, dass man weiß, was auf einen zu kommt und wie man sich deshalb verhalten soll. Sie kommuniziert mit der Gesamtumwelt des Unternehmens.

5  Einführung in das Modell

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5. Identität (Werte setzen) Die fünfte und letzte Steuerungsfunktion sorgt dafür, dass das Ganze eine Identität hat und weiß, was es ist und was es sein will. Es ist eine normative Funktion, die den Rahmen für alles andere vorgibt, und sie ist die letzte Instanz für alle Entscheidungen, die nicht bereits vorher durch die Systeme 1 bis 4 getroffen werden konnten. Das Ganze findet in einer Umwelt statt, die wir in das Modell einbauen müssen Es ist die Umwelt, in der das System seinen Zweck erfüllt, in der es handelt und an die es sich ­anpassen muss. Diese Umwelt zeichnen wir in unserem Modell etwas wolkenartig ein, weil man nie genau weiß, wo sie beginnt und wo sie aufhört. Niemand kann genau sagen, wo heute Bosch aufhört und wo BMW beginnt. Wir zeichnen die Umwelt um das Steuerungssystem herum, weil dieses ein Teil der Umwelt ist. Jede Person, die in diesem Unternehmen arbeitet, sitzt in dieser Umwelt und ist mit ihr vertraut. Zur Umwelt gehören aber auch die Kunden beziehungsweise die Leistungsempfänger, die Nicht-Kunden, die Konkurrenten, die Behörden, die Medien und alles, was sonst für dieses Unternehmen relevant ist. In einem wirtschaftlichen Unternehmen bilden wir mit der Umwelt den adressierbaren Markt ab. Damit wir etwas mehr über die Informationsströme zwischen der Umwelt und dem Steuerungssystem sagen können, zeichnen wir die Umwelt links vom Steuerungssystem ein, anstatt drumherum (Abb. 5.2). Das ist eine Symbolkonvention, die das Arbeiten mit dem Modell einfacher und übersichtlicher macht.

Abb. 5.2  Die Umwelt ist ein Teil des Ganzen

5  Einführung in das Modell

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Abb. 5.3  Das Viable System Model im Nervensystem

Abb. 5.3 zeigt uns das Viable System Model als Ganzes, mit seinen fünf Steuerungsfunktionen und seiner lateralen und vertikalen Steuerungsachse. Die Linien zwischen den Kästchen sind die Kommunikationskanäle, die die Steuerungsfunktionen miteinander verbinden und verschränken. Im Laufe der praktischen Arbeit mit dem Modell stellt sich oft heraus, dass am Ende die Linien mehr Aufmerksamkeit erfordern als die Kästchen. Es kommt zwar vor, dass einzelne Steuerungselemente nicht oder zu schwach ausgeprägt sind. Noch viel häufiger fehlen aber adäquate Kommunikationskanäle, weil die Gestaltung dieser Kanäle in der Praxis eher dem Zufall überlassen wird – wohl auch deshalb, weil eine Orientierungsgrundlage fehlt. In der Folge sind sie oft überlastet, zu langsam, ambivalent, transportieren den Inhalt nicht oder sie fehlen gänzlich. Der Diagnose und dem Design dieser Kommunikationskanäle widmen wir uns in Kap. 15. Jede Steuerungsfunktion ist ein Subsystem der Gesamtsteuerung, das selber wieder aus mehreren Elementen besteht, weshalb wir die fünf Steuerungsfunktionen auch einfach „System 1, 2, 3, 4 und 5“ nennen.

5.1

Die Grundelemente: Umwelt, Operation und Management

Das Fundament der Organisation besteht aus Bausteinen, die wir die „operativen Einheiten“ nennen. Abb.  5.4 zeigt eine solche operative Einheit, die mit ihrer Außenwelt interagiert. Das kann eine Division eines Unternehmens sein, oder ein Team in einem großen Projekt, oder ein Bundesstaat in einem Land. Sie besteht aus drei Grundelementen:

5.1  Die Grundelemente: Umwelt, Operation und Management

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Abb. 5.4  Umwelt, Operation und Management einer operativen Einheit

Einem Management, das eine Operation steuert, die etwas in einer sich ständig verändernden Umwelt tut. Umwelt, Operation und Management formen zusammen jeweils einen Baustein des Fundaments. Die Umwelt stellen wir uns wieder wolkenartig um das Ganze herum vor. Sie steht beispielsweise für den relevanten Markt, in dem die Division tätig ist, oder sie definiert den Aufgabenumfang im Projekt, oder sie ist das geographische Gebiet des Bundesstaats mit all seinen Bürgern und Landschaften. Innerhalb der Umwelt befindet sich die Operation, also beispielsweise die Büros und Gebäude, die Maschinen und Werkstätten und die Mitarbeiter, die in dieser Operation arbeiten. Die Operation zeichnen wir jeweils kreisförmig ein. Schließlich finden wir innerhalb der Operation die ­Managementbox, die das Ganze steuert und die wir rechteckig einzeichnen. Wiederum ziehen wir für die bessere Darstellung der Verbindungen zwischen Umwelt, Operation und Management die Elemente horizontal auseinander. Wir erkennen damit, wie Umwelt und Operation in einem dynamischen Kreislauf interagieren. Die Operation dient ihren Kunden in der Umwelt, wie auch die Erwartungen der Kunden die Tätigkeiten des Betriebs beeinflussen. Auf gleiche Weise interagieren auch Operation und Management. Damit diese Interaktionen wirksam sein können, braucht die operative Einheit einen maximalen Grad an Flexibilität, Handlungsfreiheit und Autonomie. Für jedes der drei Grundelemente Umwelt, Operation und Management braucht das Unternehmen eine Vorstellung davon, wie es die Dinge anpacken will. Mit seiner Unternehmenspolitik bestimmt es diese grundsätzliche Ausrichtung des Unternehmens normativ und auf Dauer. Sie umfasst ein Konzept zu jedem der drei Grundelemente: Ein Umweltkonzept, ein Unternehmenskonzept und ein Führungskonzept. Letzteres muss eine Vorstellung davon enthalten, wie man das Unternehmen in den Grundzügen organisieren will. Ausgangspunkt sind die drei Grundfragen des Organisierens [1]: Wie müssen wir uns organisieren, damit … a) … das, wofür die Kunden bezahlen, im Zentrum der Aufmerksamkeit steht und von dort nicht wieder verschwinden kann (Umwelt)? Wer sind die Kunden und

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5  Einführung in das Modell

wofür bezahlen sie? Wie gut sind wir in diesen Kriterien, und welche Struktur unseres Unternehmens erlaubt uns, darin noch besser zu werden? Je besser wir diese Fragen beantworten, desto stärker verankern wir organisatorisch echte Verantwortung für Kundennutzen (vgl. Abschn. 3.2). b ) … unsere Mitarbeiter das tun können, wofür wir sie eigentlich bezahlen (Operation)? Man könnte meinen, es sei selbstverständlich, dass die Leute das tun, wofür sie bezahlt werden. In meinen Trainingsprogrammen für Führungskräfte und in den Diskussionen mit ihnen zeigt sich, dass sie zu 70 % mit anderen Dingen beschäftigt sind, nämlich mit Sitzungen, Telefonaten, E-Mails oder Administration. Im Spital, an dem mein Bruder als Oberarzt tätig war, verbrachten die Krankenschwestern nicht mehr als 30 % ihrer Zeit mit Patiententätigkeiten. Die restliche Zeit schrieben sie Berichte, nahmen an Besprechungen teil, transportierten Patienten oder wechselten Blumenvasen aus. Wenn man sich nun fragt, wofür man seine eigenen Leute eigentlich wirklich bezahlt, und dann zwischendurch einmal nachschaut, was sie tatsächlich tun, wird man vermutlich zu ähnlichen Ergebnissen kommen. c) … die Führungskräfte ihre eigentliche Aufgabe wahrnehmen können (Management)? Auch das ist nicht so selbstverständlich, wie es auf den ersten Blick scheint. Die Kernaufgabe von Führungskräften besteht darin, die Zukunft des Geschäftes zu gestalten, Chancen zu nutzen und sich mit dem Wichtigen auseinanderzusetzen. Wiederum etwa 70 % ihrer Zeit tun die meisten Führungskräfte aber das Gegenteil: Sie kümmern sich um Dringendes statt Wichtiges, lösen Probleme, anstatt Chancen zu nutzen, und sie befassen sich mit dem heutigen Geschäft statt mit der Zukunft. Oftmals ist das die Folge pathologischer Organisation. Die Strukturfehler zwingen die Führungskräfte in diese Aktivitäten hinein und halten sie von ihrer eigentlichen Aufgabe ab. Eine gut gestaltete Organisation spielt ihre Top-Führungskräfte frei für die Kernaufgaben der Corporate Governance, verschafft ihnen Zeit für die Umsetzung strategischer Projekte und das Erkennen und Nutzen von Chancen. Die drei Grundelemente Umwelt, Operation und Management bilden zusammen eine operative Einheit und mehrere operative Einheiten zusammen bilden die erste Steuerungsfunktion, die wir das System 1 nennen. Im Folgenden werden wir auf die fünf Steuerungsfunktionen im Einzelnen eingehen und für das bessere Verständnis der Systeme 1 bis 5 jeweils ein paar Beispiele machen. Da wir von einem Modell „of any viable system“ sprechen, können wir diese sehr unterschiedlich wählen. Um die Anwendungsbreite des Modells zu demonstrieren, wählen wir deshalb auf der einen Seite der Skala ein Beispiel mit relativ geringer, wenn auch manchmal dennoch überfordernder Komplexität: Die Familie. Auch Familien funktionieren wegen Strukturen – oder sie funktionieren eben nicht, weil keine Strukturen da sind – auch wenn diese nicht in Organisationshandbüchern, Organigrammen oder Flussdiagrammen niedergeschrieben sind. Unser zweites Beispiel mit bereits höherer Komplexität wird das Projekt sein. Wir reden hier von einem großen Projekt, wie beispielsweise von der Einführung einer neuen Software im Unternehmen unter Mitarbeit von hundert Personen über mehr als ein Jahr. Das dritte Beispiel auf noch

5.2  System 1: Die operativen Einheiten

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höherer Komplexitätsstufe ist die Firma. Und schließlich, am anderen Ende der Skala, ein System mit enormer Komplexität, das Millionen von Familien, Projekten und Firmen umfasst: Ein ganzer Staat.

5.2

System 1: Die operativen Einheiten

Wir beginnen mit der Vorstellung des Viable System Models ganz „unten“ in der Organisation, wo das Unternehmen seinen eigentlichen Zweck erfüllt: Bei eben diesen operativen Einheiten. In unserer Metapher vom Organismus ist es der primäre Teil des Steuerungssystems mit den anatomischen Organen, die innerviert werden müssen. Wir finden die operativen Einheiten deshalb immer auch als organisatorische Gefäße im Organigramm. Unterstützende Einheiten, die wir ebenfalls in den Organigrammen finden, sind hingegen nicht Teil von System 1, weil sie eben nicht selber zweckerfüllend arbeiten. Die Unterscheidung zwischen zweckerfüllender und unterstützender Funktion muss im Viable System Model zwingend gemacht werden, weil sonst falsch innerviert, kommuniziert und gesteuert wird (vgl. Abschn. 3.9 und Kap. 9). Jede operative Einheit im System 1 besteht aus ihrer eigenen Umwelt, ihrer eigenen Operation und ihrem eigenen Management. Alle operativen Einheiten zusammen bilden das Unternehmen als Ganzes. In Abb. 5.5 sind rein zufällig vier solche Einheiten eingezeichnet. Die Anzahl der Einheiten kann sehr verschieden sein. Mindestens zwei Einheiten müssen es jedoch sein, da es sonst nichts zu organisieren gäbe, denn wir erinnern uns: Die operativen Einheiten organisieren und steuern sich ja selbst. Wenn wir also nur eine einzelne Einheit betrachten, braucht es für ihre Steuerung nicht mehr als das, was sie schon hat: Ihre eigene Managementbox. Ab zwei Einheiten entsteht hingegen eine höhere Management-Ebene, auf der jetzt durch ein Senior-Management Dinge koordiniert und

Abb. 5.5  System 1: Zweckerfüllung durch die operativen Einheiten

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5  Einführung in das Modell

optimiert werden müssen. Jede andere Zahl von operativen Einheiten ist ebenfalls denkbar. Das größte System 1, das mir begegnet ist, umfasste 172 Einheiten. Es ist der Kanton Zürich mit seinen vielen, zum Teil sehr kleinen Gemeinden. Die übliche Faustregel für die größtmögliche Kontrollspanne scheint in diesem Fall keinen Sinn zu machen. Mit dieser Frage werden wir uns später in Kap. 11 „Führbar oder nicht?“ befassen. Die operativen Einheiten erfüllen den Zweck des Unternehmens, indem sie das tun, wofür die Kunden oder Leistungsempfänger bezahlen. Sie sollen die Komplexität und die Dynamik ihrer eigenen Umwelt selbständig bewältigen und müssen dazu mit hoher Autonomie und eigenen Ressourcen (Budgets) ausgestattet werden. Weil sie schließlich doch ein Teil des Ganzen sein wollen, halten sie sich an vereinbarte Spielregeln und akzeptieren, dass ihre Autonomie soweit eingeschränkt wird, wie es zum Wohle des Ganzen nötig ist. Im Idealfall soll die operative Einheit eine eigene, unabhängige Existenz mit einer eigenen Identität erhalten können. Sie soll mit anderen Worten selber lebensfähig sein. Aber woran erkennen wir eigentlich Leben? Wie die chilenischen Biologen und Kybernetiker Humberto Maturana und Francisco Varela gezeigt haben, ist es die Selbst-Produktion, die Leben definiert, und nicht die Selbst-Reproduktion, wie die meisten Leute meinen [2]. Unser eigener Körper produziert sich alle sieben Jahre von Neuem und hält dabei die Ordnung zwischen allen Organen und Puzzlebausteinen aufrecht, so dass wir doch Derselbe bleiben, auch wenn die Zellen andere sind. Wenn wir siebzig Jahre alt sind, haben wir uns also bereits zehn Mal neu produziert. Der Körper tut das in Eigenregie mit Hilfe seines Blueprints in der DNA. In wissenschaftlichen Begriffen ausgedrückt ist er ein autopoietisches, also ein sich selbst produzierendes und sich selbst steuerndes System. Über diese Form von Eigenständigkeit dürfen nur die operativen Einheiten im System 1 verfügen. Beer schreibt dazu „… any viable system developing autopoiesis in any of its Systems Two, Three or Five is pathologically autopoietic; and that entails a threat to its viability [3].“ In der Praxis sehen wir aber immer wieder organisatorische Einheiten, die nicht operativ und zweckerfüllend tätig sind, aber dennoch ein Eigenleben entwickeln. Sie koppeln sich von ihrer eigentlichen Unterstützungsaufgabe ab und tun das, was sie selber für richtig halten. Damit entstehen teure und unproduktive Wasserköpfe in Form von selbstständig gewordenen IT-, Marketing-, Personal-, Controlling- oder Entwicklungs-­Abteilungen. Das kann die Abteilungen aller Fachgebiete betreffen und ist ein Symptom dafür, dass etwas mit der Steuerungsorganisation nicht stimmt. Nur die operativen, zweckerfüllenden Einheiten sollen selber lebensfähige Systeme sein und mit hoher Autonomie ausgestattet werden. Sie benötigen diese Autonomie für die Bewältigung der Komplexität ihres Umfeldes, damit sie um den Kunden herum schnell, beweglich und zielsicher handeln können. Außerdem werden die operativen Einheiten durch ihre weitgehende Eigenständigkeit frei kombinierbar, wodurch sich die Flexibilität des Ganzen erhöht. Es lässt sich mit Leichtigkeit eine Einheit herauslösen oder eine neue Einheit integrieren. Mit einer Funktionalen- oder einer Matrix-Organisation, in der die operativen Einheiten starke Überschneidungen und gegenseitige Abhängigkeiten aufweisen, ist das nicht so einfach möglich.

5.2  System 1: Die operativen Einheiten

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Umgekehrt kann man die Testfrage stellen, ob man eine Einheit verkaufen könnte, und ob sie dann ohne große Unterstützung immer noch lebensfähig wäre. Bejaht man die Frage, hat man es mit einer operativen Einheit zu tun. Die Autonomie, die diese Einheiten genießen, ist immer relativ. Eine absolute Autonomie existiert grundsätzlich nicht, weil nichts total unabhängig ist. Jede Existenz hängt immer auch von anderen Existenzen ab. Wer sich selber für vollkommen unabhängig hält, der halte für ein paar Minuten lang den Atem an. Ebenso wie unsere Unternehmen sind auch wir alle Teil einer Umgebung, dank der und mit der wir leben. Wir sind autonom, aber nicht unabhängig. Wie groß diese relative Autonomie sein kann, werden wir in den Kap. 7 und 11 behandeln. Bereits ein Fötus, also eine Schwangerschaft, kann als neue operative Einheit gesehen werden. Die Autonomie ist in diesem Stadium zwar noch sehr klein, und doch beginnt die Lebensfähigkeit bereits hier. Sie nimmt vom Embryo, zum Baby, zum Kind, zum Jugendlichen bis hin zum jungen Erwachsenen kontinuierlich zu. Aus Liebe stärken wir unsere Kinder darin, eigenständig zu denken und zu handeln und Verantwortung für sich selbst zu übernehmen, bis sie schließlich fähig sind, eine eigene Existenz aufrecht zu erhalten. Und selbst dann müssen sie sich weiterhin an die Regeln ihrer Umwelt halten. In einem Kinderspital sind die Patienten zwar bereits relativ eigenständige und lebensfähige Wesen, aber ihre Abhängigkeit ist in diesem Moment sehr groß. Auch in unserem Körper finden wir das Prinzip relativer Autonomie: Wenn beispielsweise das Herz oder die Leber vollständig autonom wären, könnten sie sich dazu entscheiden, etwas anderes zu tun, und wir würden krank. Wenn sie auf der anderen Seite nicht einigermaßen autonom operieren könnten, müssten wir ständig daran denken, ihnen zu sagen, was sie zu tun haben – und wir wären innerhalb von wenigen Minuten tot. Gleichermaßen kann ein Unternehmen nicht funktionieren, wenn es seine operativen Einheiten nicht mit einer gewissen Autonomie ausstattet, weil sonst erstens die oberste Geschäftsleitung überfordert wäre, und zweitens die Leitungen der operativen Einheiten kündigen würden. Beginnen wir mit dem einfachsten Beispiel der Familie: Was sind die operativen Einheiten in einer Familie? Manche Leute würden vielleicht sagen, dass es das gemeinsame Haus mit den Zimmern sei. Andere würden eher die gemeinsamen Erlebnisse als operative Einheiten bezeichnen. Wir erinnern uns: Modelle sind immer durch das Interesse des Beobachters geprägt. Es kann durchaus sinnvoll sein, ein Haus oder gemeinsame Erlebnisse als operative Einheiten zu definieren, je nachdem, was wir damit modellieren wollen. Wenn uns das Funktionieren einer Familie als solches interessiert, macht es vermutlich Sinn, die einzelnen Familienmitglieder als operative Einheiten zu sehen. In einer traditionellen Kleinfamilie sind das beispielsweise die Mutter, der Vater, der Sohn und die Tochter. Jede operative Einheit verfügt über ihre eigene Umwelt. Die Tochter befindet sich tagsüber in der Schule und der Vater arbeitet vielleicht gerade im Ausland. Die Umwelten überschneiden sich da, wo man gemeinsame Freunde, Orte oder Erlebnisse teilt. Jede operative Einheit verfügt auch über ihre eigene Operation. Der Mutter verdaut ihr Essen unabhängig von ihrem Ehemann, und auch er braucht sie nicht, um atmen zu können (romantische Poesie einmal ausgenommen). Die Natur hat sie alle mit allem ausgestattet, was sie zum Leben brauchen. Dazu gehört auch das Selbst-Management jeder operativen

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5  Einführung in das Modell

Einheit: Die Mutter hat ihren Kopf, und die Tochter hat ihren eigenen Kopf. Das macht die Sache zwar nicht immer einfach, aber es ist die Voraussetzung dafür, dass Mutter, Tochter, Vater und Sohn sich alle selber steuern und ihre eigenen Angelegenheiten zu einem großen Teil selber regeln können. Die Familie als Ganzes wäre damit überfordert. Aber sie ist dazu da, sich gegenseitig zu stärken, damit das Ganze mehr sein kann als die Summe der Teile. Im Projekt haben wir ebenfalls mehrere Möglichkeiten, das Gesamtprojekt in operative Bausteine aufzuteilen. Typischerweise wird ein Projekt in Teilprojekte oder Projektmodule gegliedert, die jeweils eine eigene Aufgabe in einer eigenen Umgebung (Umwelt) zu erfüllen haben und dazu wiederum über eigene Ressourcen (Operation) und über eine eigene Teilprojektleitung (Management) verfügen. Die Umwelten der Teilprojekte überschneiden sich mehr oder weniger, je nachdem wie gut die Aufgaben voneinander abgegrenzt wurden. Zwischen den Operationen können Abhängigkeiten bestehen, beispielsweise wenn einzelne Mitarbeiter in mehreren Teilprojekten gleichzeitig mitarbeiten. In der Firma reden wir je nach Flughöhe von Abteilungen, strategischen Geschäftseinheiten oder Divisionen oder ganzen Geschäften in einem Konzern. 1er Systeme können, müssen aber nicht legale Einheiten sein. Ob etwas eine juristische Person ist oder nicht, ist für die Behörden und die Steuern relevant, für die Steuerung der Firma hingegen nicht. Alfred Sloan, der ehemalige Präsident der General Motors Company, dem wir bereits in Abschn. 2.1 begegnet sind, gilt als Erfinder der strategischen Geschäftsfeldgliederung. Ein strategisches Geschäftsfeld entsprach bei Sloan dem, was wir im Viable System Model unter einer operativen Einheit verstehen: Eine Einheit, die fähig ist, auf Dauer eine eigene Existenz aufrecht zu erhalten. Die Marke Buick hatte ihre eigene Umwelt, nämlich die Buick Kunden, Wettbewerber und Lieferanten, ihre eigene Operation in Form von Buick Werken, und sie verfügte über ein eigenes Buick Management, das sich um nichts anderes kümmern sollte, als um Buick. Gleiches galt für die anderen GM-Marken. Jede operative Einheit deckte einen Teil des Gesamtmarktes ab, so dass man als Kunde bei den preiswerten Marken wie Chevrolet einsteigen und sich zur Prestigemarke Cadillac im obersten Kundensegment hocharbeiten konnte. Auch hier überschneiden sich die Umwelten, weil es in den Grenzbereichen mehr oder weniger der gleiche Kunde ist, der den teuersten Chevrolet oder den günstigsten Pontiac kauft. Abhängigkeiten zwischen den Operationen gab es dann, wenn die Autonomie der Marken eingeschränkt wurde, um Synergien, beispielsweise in der Entwicklung oder im Einkauf, zu nutzen. Um unser letztes Beispiel mit dem Staat verständlich zu halten, schauen wir uns einen europäischen, demokratischen Staat an, wie wir ihn zum Beispiel in Deutschland oder in der Schweiz vorfinden. Er besteht normalerweise aus Bundesländern (in der Schweiz aus Kantonen), deren Umwelt durch geografische Grenzen definiert ist. Es ist klar, wo Bayern beginnt und wo es aufhört. Dennoch gibt es Umwelt-Überschneidungen, zum Beispiel wenn Firmen in mehreren Ländern tätig sind und somit zu mehreren Umwelten gehören. In der Umwelt sitzen auch die Menschen. Sie bewegen sich ebenfalls zwischen Ländern, agieren aber hauptsächlich in dem einen Land, wo sie zugleich in der einen oder anderen Form auch an der Operation teilhaben oder mitarbeiten. Zu den Operationen gehören die

5.3  System 2: Koordination

93

Städte, die Ent- und Versorgungswerke, die Flughäfen, die Schulen und Universitäten, die Polizei und vieles mehr, was auf Ebene Bundesland gesteuert wird. Und jedes Bundesland hat seine eigene Managementbox in Form einer Regierung und eines Parlamentes, die primär die Interessen dieses Landes nach innen und nach außen steuert. Jedes Bundesland genießt in einem föderalen Staatssystem einen relativ hohen Grad an Autonomie und wäre grundsätzlich auch ohne den Staat lebensfähig – wie das die Bayern zum Beispiel ja auch immer wieder zu Recht betonen. Dennoch akzeptieren auch sie die gemeinsamen Spielregeln des Staates und dessen Einschränkungen, weil sie Teil dieses Staates sein wollen. Diese Balance zwischen der Freiheit des Handelns auf der einen Seite und der Einschränkung dieser Freiheit durch ein höheres Ganzes ist ein uraltes Problem, das wir in Kap. 7 beleuchten werden, wenn es um die Fragen von Autonomie und Hierarchie geht.

5.3

System 2: Koordination

Wie sind nun diese operativen Einheiten miteinander verbunden? Je nachdem, wie das Gesamtunternehmen gestaltet wurde, sind die Umweltüberschneidungen und operationalen Abhängigkeiten größer oder kleiner. Eine Umweltüberschneidung bedeutet, genau wie in der Mengenlehre, dass beispielsweise derselbe Kunde in zwei Umwelten vorkommt. Sie kann auch durch gemeinsame Konkurrenten, Lieferanten, Anspruchs- oder Interessengruppen, Zugehörigkeiten oder Geographien entstehen. Auch die Operationen sind je nach Gestaltung des Unternehmens mehr oder weniger voneinander abhängig. Etwa dann, wenn sie auf gemeinsame Ressourcen zugreifen oder gemeinsame Strategien verfolgen müssen. Wir zeichnen die Umweltüberschneidungen schraffiert und die Abhängigkeiten zwischen den Operationen in Form von vertikalen Wellenlinien („Squiggly Lines“) in unser Diagramm ein (Abb. 5.6).

Abb. 5.6  System 2: Koordination und Schwankungsdämpfung

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5  Einführung in das Modell

Diese Überschneidungen und Abhängigkeiten sind problematisch, weil sie zu Konflikten führen können. Die Freiheit jeder operativen Einheit hört da auf, wo die Freiheit der Anderen beginnt. Wenn zwei Einheiten den gleichen Kunden bedienen, müssen sie sich absprechen, damit nicht zwei Verkäufer gleichzeitig auf der Matte des Kunden stehen und nichts voneinander wissen. Sie müssen sich nicht nur über Termine, sondern auch über Kundenentwicklungs-Strategien, Vorgehensweisen, Preise, Kommunikationswege und vieles mehr abstimmen. Und wenn zwei Operationen auf die gleichen Ressourcen zugreifen, wie das bei großen Projekten oftmals der Fall ist, muss es dafür Regeln geben, sonst profitiert der Eine immer auf Kosten des Anderen. Das ist die Kernaufgabe des nächsten Steuerungssystems, das im Modell als Dreieck dargestellt wird: System 2. Es sorgt für die reibungslose Zusammenarbeit der operativen Einheiten im System 1, da wo sie zusammenarbeiten müssen. Es regelt die Problemzonen und koordiniert die Aktivitäten wo immer es Überschneidungen und Abhängigkeiten gibt. In der Kybernetik spricht man vom „oscillation-damping“: Wenn zwei oder mehr Systeme über Rückkopplung miteinander verbunden sind, können sie sich gegenseitig hochschaukeln. In der Technik führt das zu praktischen Problemen wie beispielsweise zu pfeifenden Lautsprechern. Aber auch unter Menschen können sich Konflikte hochschaukeln und schließlich zu großem Schaden führen. Und selbst wenn es dabei nur um „viel Lärm um nichts“ geht, sind sie doch zeit- und nervenraubend. Man muss sich mit ihnen befassen, damit sie als Schwelbrände nicht irgendwann größeren Schaden anrichten, und sie halten einen unnötigerweise davon ab, sich mit dem Kunden und dem Geschäft zu befassen. Besser als Konflikte zu lösen, ist es, sie gar nicht erst entstehen zu lassen. Wir haben bereits im Abschn. 3.4 und 3.5 über die Problematik von Schnittstellen und Abhängigkeiten, unter anderem in der Matrix-Organisation gesprochen und dass man diese nicht optimieren, sondern soweit möglich vermeiden sollte. Das bedeutet, bei der Segmentierung des Unternehmens darauf zu achten, dass sich die operativen Einheiten in ihrer Umwelt möglichst wenig überschneiden und dass sie soweit möglich über ihre eigenen Ressourcen verfügen. In der heutigen Welt der Digitalisierung, in der alle nur noch über Vernetzung von allem mit allem sprechen, sollte deshalb auch vermehrt wieder darüber nachgedacht werden, wo Entnetzung richtig und wichtig ist, weil sie die Dinge robust macht. Das Wort „Entnetzung“ existiert noch nicht einmal in unserem Wörterbuch. Es wird aber wichtig für die Organisation der Zukunft sein, weil aus der Fähigkeit zur Entnetzung Agilität, Flexibilität und Geschwindigkeit, aber auch Faktoren wie Motivation und Antrieb entstehen. Je entnetzter die Dinge sind, desto mehr wird Selbststeuerung, Freiheit und letztlich auch Robustheit möglich. Der sogenannte Year 2000 Bug, also der prophezeite, weltweite Zusammenbruch aller IT-Systeme wegen des Jahrtausend-Datumswechsels, ist deshalb nicht eingetroffen, weil die Systeme viel entnetzter waren, als man gemeint hat. Vernetzung von Dingen, die nicht zusammengehören, oder falsche Vernetzung führt zu hohem Aufwand, Blockaden und ist gefährlich. Wir werden in Zukunft lernen müssen, die Dinge sauber zu vernetzen, die wirklich zusammengehören und die Übrigen soweit möglich zu entnetzen. Auch bei der besten Segmentierung

5.3  System 2: Koordination

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bleibt meistens ein Rest an unvermeidbaren Überschneidungen oder gewollten Abhängigkeiten bestehen, der nun vom System 2 gemanagt werden muss. Normalerweise ist das immer noch mehr, als einem lieb wäre. In der Praxis sind die Systeme 2 heute tendenziell zu schwach entwickelt, wodurch viele unnötige Konfliktherde entstehen. Die saubere Regulation aller Überschneidungen und Abhängigkeiten ist deshalb ein wichtiges Steuerungselement und eine wichtige Ingredienz in der Rezeptur des Gelingens. Regulation darf dabei nicht mit Reglementierung verwechselt werden, denn Regulation ist auch ohne Papier und Reglemente möglich. System 2 umfasst alle Funktionen, Dienste, Systeme und Mechanismen, die in diesem Sinne koordinativ, harmonisierend und schwankungsdämpfend wirken. Dazu gehört ein Stundenplan in einer Schule, der dafür sorgt, dass immer nur eine Klasse zur gleichen Zeit ein Schulzimmer besetzt. Es ist der Einsatzplan der Feuerwehrtruppe, der dafür sorgt, dass sich die Feuerwehrleute nicht erst darüber streiten müssen, wer heute den Schlauch hält, falls es brennt. Es ist die Regel der Rechtsvorfahrt im Straßenverkehr, die für Verkehrsfluss sorgt. Man könnte an der Kreuzung zwar auch mit einem Polizisten für Verkehrsfluss sorgen. Gut gestaltete 2er Systeme sorgen hingegen für weitgehende Selbst-Koordination: Es braucht niemanden, der koordiniert, sondern es koordiniert sich selbst. Sie schaffen die Voraussetzung, dass sich die Einheiten selber untereinander koordinieren können. Koordination muss nicht in Form von Regeln von oben erzwungen werden. Im Idealfall gestalten die Führungskräfte der operativen Einheiten ihre Mechanismen selber. Kommen wir auf unsere Beispiele zurück: Was sind die System 2-Funktionen in einer Familie? Wenn wir uns fragen, wo in einer vierköpfigen Familie Umweltüberschneidungen und Abhängigkeiten koordiniert werden müssen, kommt einem vielleicht nicht gerade als Erstes das Familienrecht in den Sinn, sondern das gemeinsame Bad und der Knatsch morgens um sieben, wenn alle gleichzeitig hineinwollen. Also braucht es dazu eine Regel. Es kommt einem vielleicht der Wochenplan am Kühlschrank in den Sinn, der die Aktivitäten der Familienmitglieder koordiniert und festhält, wer wann das Auto braucht, wann man dieses Wochenende gemeinsam zu Tante Emmi losfährt, oder wer abends wie lange weg ist. Es ist die Sozialisierung mit ihren Regeln des Zusammenlebens und die Erziehung der Kinder, die sie Rücksichtnahme und Toleranz lehrt. Es ist das gemeinsame Essen, das in vielen Familien ein geheiligtes Prinzip ist: Man isst zusammen anstatt jeder für sich vor dem Smartphone. Für die Koordination einer Familie ist das ein hervorragendes System 2, weil man sich dabei gegenseitig fragt und berichtet, was einen beschäftigt, was man vorhat, und man hört einander zu. In einem Projekt gibt es ebenfalls Umweltüberschneidungen und operationale Abhängigkeiten zwischen den Teilprojekten. Wir haben bereits über das Problem gesprochen, dass einzelne Kollegen gleichzeitig in mehreren Teilprojekten mitarbeiten und deshalb permanent entweder hier oder dort fehlen. Eine gute Ressourcen- und Einsatzplanung ist in einem Projekt deshalb ein wichtiges Element von System 2. Weitere Elemente sind der Projektplan mit seinen Meilensteinen, die Projektkoordinationssitzungen, möglicherweise eine zu benutzende Projekt-Software oder Verhaltens-Spielregeln, die der Gesamtprojektleiter  erlässt.

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5  Einführung in das Modell

Teilprojektleiter, die Abhängigkeiten mit anderen Teilprojekten erkennen, werden sich selbstständig mit deren Leitungen austauschen und absprechen und so ihr eigenes System 2 gestalten. In einer Firma gehören viele Dinge zum System 2: Es sind zuerst einmal formelle Dinge wie beispielsweise die koordinierenden Sitzungen, Gremien und Kommissionen, die Sekretariate, die Shared Service Centers, die Planungs- und Kontrollsysteme in den Computern, die Leit- und Richtlinien der Unternehmenspolitik, die Verträge der ­Mitarbeiter oder fachliche Standards. Koordination kann auch das Entstehen von Neuem ermöglichen, wie etwa auch erst das Notenblatt im Orchester Musik entstehen lässt. In der Firma können das Kompetenzzentren oder Konferenzen sein, die das gegenseitige Lernen ermöglichen oder innovative Ideen anstoßen. Daneben gibt es die informellen Dinge, die ebenso koordinierend wirken: Man kennt die Traditionen des Unternehmens, spricht eine gemeinsame Fachsprache und tauscht sich aus an Business-Lunchs. Auch Unerwartetes kommt vor: Ich habe ein mittelständisches Unternehmen im Rheintal in der Schweiz erlebt, bei dem der Geschäftsführer und die Divisionsleiter immer bestens gegenseitig informiert waren. In den 1990er-Jahren hatten damals die Divisionsleiter noch geraucht, wie auch der Assistent des Geschäftsführers. Die Probleme fingen an, als dieser aufgehört hat zu rauchen. Vorher hatten sie sich mehrmals pro Tag in der Raucherecke getroffen und miteinander geredet. Dabei hat man Informationen ausgetauscht, die andernfalls in Berichten oder in Memos untergegangen wären. Zudem wurden Missverständnisse ausgeräumt und Fragen geklärt. Selbst eine Raucherecke konnte also durchaus, wenn auch unbewusst, Teil einer funktionierenden Steuerungsorganisation sein. Außerdem haben wir die Unternehmenskultur bereits als einen Teil der Organisationsstruktur in der dritten Dimension des Organisierens bezeichnet. Hier wird sie wirksam, denn die Kultur koordiniert das Verhalten der Leute. Es sind die Dinge, die man tut oder besser lässt in diesem Unternehmen. Der österreichische Physiker, Philosoph und Kybernetiker Heinz von Foerster, ebenfalls Teilnehmer und Leiter der Macy-Konferenzen in den 1950er-Jahren und danach Direktor des Biological Computer Laboratory am MIT, formulierte 1960 mit dem Prinzip „Order from Noise“, dass unter gewissen Voraussetzungen Ordnung von selbst aus Unordnung entstehen kann [4]. Normalerweise ist es umgekehrt. In Unordnung befindliche Elemente formen sich jedoch selbstorganisierend zu einem Muster, wenn man etwa kristallinen Sand auf einer Glasplatte schüttelt und sich die Teile wegen ihrer eigenen Mikro-­Struktur wie von Geisterhand gesteuert zu einer erkennbaren Form zusammenfügen. Ein gutes System 2 versucht diesen Effekt zu nutzen, indem es dafür sorgt, dass alle Mitarbeiter das gleiche Verständnis davon haben, was zum Beispiel eine gute Sitzung ausmacht. Wenn nämlich jeder Mitarbeiter die gleiche Erwartung an eine Sitzung hat, beginnt Selbstregulation zu wirken, und Ordnung entsteht mit der Zeit wie von selbst. Das bedeutet, zu führen, ohne zu führen. Die Firmen schaffen solche kristallinen Strukturen, indem sie das gleiche Führungsverständnis bei jedem einzelnen Mitarbeiter wie einen genetischen Code verankern. Das genügt. Alles andere geschieht von selbst, damit Ordnung entsteht. Dazu gehört auch, dass man die impliziten Spielregeln, öffentlich macht. Sie werden einem selbst eventuell erst klar, wenn man sich überlegt, was man einem Freund raten würde, der in dieser Firma neu anfängt: Wie

5.4  System 3: Optimierung und Auditierung

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kommt man möglichst schnell zu Erfolg und was sind die größten Fettnäpfchen, die man vermeiden muss? Solange sie implizit bleiben, favorisieren sie die Personen im Unternehmen, die sie kennen. Wenn sie hingegen allen bekannt sind, ist jeder daran gebunden, selbst der CEO, und dann erzielen sie als Teil von System 2 eine große Selbstorganisationskraft. Im Staat teilen sich die Länder gewisse Aufgaben in Zweckverbänden und Kooperationen, und man koordiniert sich länderübergreifend in den Ministerien und Ämtern. Die dazu erforderlichen Gremien und juristischen Personen gehören zum System 2 des Staates. Und dann kommt einem auch hier wieder die gemeinsame Sprache in den Sinn. Selbstverständlich haben auch Gesetze und Verordnungen eine koordinative und schwankungsdämpfende Wirkung, wie auch die Sitten und die Kultur. Wer sich aber sprachlich nicht verständigen kann, wird sich kaum darin zurechtfinden. Die Sozialisierung der Kinder ist wichtig für das System 2 eines Staates, geprägt von ihren Eltern, aber auch von der Schule, den Vereinen und den ersten Lehrmeistern und Chefs. Früher stärker als heute wirkt die gemeinsame Religion schwankungsdämpfend. Angesichts der zunehmenden Diversität von Sprachen, Kulturen, Religionen und Traditionen  aufgrund von Globalisierung und Migration, ist ein funktionierendes System 2 eine der wohl größten Herausforderungen der Politik – gerade auch in Europa und in der EU mit seiner riesigen Diversität.

5.4

System 3: Optimierung und Auditierung

Inzwischen haben wir unser Modell soweit entwickelt, dass mehrere operative Einheiten sich selbst organisieren, steuern und optimieren (System 1) und dass sie überall da, wo sie miteinander verbunden sind, sich auch selbstständig koordinieren können (System 2). Diese zwei ersten Steuerungselemente sind notwendig für ein Viable System. Sind sie aber auch hinreichend? Neoliberale Grundhaltungen scheinen diese Frage zu bejahen: Wenn jeder für sich selber sorgt, ist für alle gesorgt. Für gewisse Ausnahmen, wie zum Beispiel im Fall einer reinen Finanz-Holdinggesellschaft, die nicht mehr als die Investition in inte­ ressante Geschäfte bezweckt, mag das auch so sein. Diesen Fall klammern wir hier aus, weil es in diesem Fall nicht viel zu steuern gibt, da die einzelnen Geschäfte nichts miteinander zu tun haben. Wenn wir jedoch statt von einer Finanz- von einer Management-­ Holding sprechen oder von jeder anderen Form sozialer Organisation, bei der das Zusammenwirken wichtig ist, braucht es mehr als die Systeme 1 und 2. Die alten liberalen Denker, die schottischen Aufklärer im 18. Jahrhundert, hatten einen anderen Liberalismus im Sinn. Jede Einheit soll sich selber optimieren und für sich selber sorgen, dem stimmten sie zu. Sie wussten aber auch, dass die Summe aller Teiloptima nie gleich groß ist wie das Gesamtoptimum, sondern immer entweder kleiner oder größer, je nachdem wie die Einheiten zusammenwirken. Also braucht es eine übergeordnete Funktion, die das Zusammenwirken steuert. In schlecht geführten Organisationen ist das Gesamtoptimum kleiner, und jede operative Einheit wäre eigentlich besser dran, wenn sie einfach nur für sich selbst kutschieren könnte. Oftmals zerfallen solche Organisationen am Ende wieder in ihre Einzelteile, wie beispielsweise im Fall Ex-Jugoslawiens, als der Staat sich wieder in mehrere Länder aufgelöst hatte, beim Ausverkauf eines Konzerns oder bei einer Familie nach der Scheidung.

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5  Einführung in das Modell

Das Ganze wird nicht von selbst mehr als die Summe seiner Teile. Es braucht die richtige Organisation und Steuerung dazu. Im Viable System Model sorgt das System 3 für die Optimierung des heutigen Geschäftes. Es ist eine nach Innen gerichtete Funktion, die sich mit den bestehenden Produkten, Kunden, Mitarbeitern, Technologien und Aktivitäten ­befasst. Beer nennt diese Funktion deshalb „Inside & Now“. Ihre Aufgabe ist es, für die Nutzung von Synergien zu sorgen, indem sie den Blick sozusagen „von oben herab“ auf das Ganze richtet und so erkennt, wo und wie man gemeinsam stärker sein könnte. Die operativen Einheiten können das nicht sehen, weil sie mit ihrer eigenen Optimierung und Erhaltung beschäftigt sind. Sie wollen diese Gesamtoptimierung vielleicht auch gar nicht, weil sie möglicherweise ihren eigenen Interessen widerspricht. Es braucht also die übergeordnete Steuerungsfunktion von System 3, die notfalls auch gegen die Interessen einzelner Einheiten Maßnahmen zum Wohle des Ganzen umsetzen kann. Dabei mischt sie sich nie in Themen ein, die durch die Managementbox einer operativen Einheit selber geklärt werden können und müssen. Sie betreibt kein Mikro-Management, sondern konzentriert sich auf die Aufgabe der Gesamtoptimierung. Zu diesem Zweck braucht das System 3, das wir auch als „operatives Management“ bezeichnen können, Informationen über den Zustand und die Pläne der operativen Einheiten. Es muss mit ihnen kommunizieren. Die Managementboxen von System 1 liegen alle auf der vertikalen Steuerungsachse, die sie mit System 3 verbindet. Die vertikalen Linien im Modell sind die Kommunikationskanäle, über die sie dem übergeordneten Management rapportieren und über die sie umgekehrt auch ihre Instruktionen erhalten. In Abb. 5.7 erkennen wir zwei solche vertikalen Kommunikationskanäle. Das bedeutet, dass es zwei Arten von Kommunikation zwischen System 3 und System 1 gibt:

Abb. 5.7  System 3: Optimierung des heutigen Geschäfts

5.4  System 3: Optimierung und Auditierung

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a) Einen „Ressource Bargain and Accountability“-Kommunikationskanal, über den Planungen abgestimmt und optimiert, Budgets oder Ziele diskutiert und vereinbart werden, und dann auch Verantwortung für die verteilten Ressourcen übergeben und eingefordert wird. b) Einen „Corporate Intervention“-Kommunikationskanal, über den die Autonomie der operativen Einheiten jederzeit aufgrund von Unternehmenserfordernissen eingeschränkt werden kann. Dieser Kanal muss als Ultima Ratio auch als Befehlskanal wirken können, wenn die Situation eine übergeordnete Entscheidung verlangt. In gut organisierten Unternehmen wird dieser Befehlskanal sparsam verwendet – aber er steht zur Verfügung, wenn man ihn braucht. Über diese beiden Kanäle optimiert das System 3 die Zusammenarbeit der operativen Einheiten im System 1. Es verwaltet und optimiert dazu das Portfolio seiner operativen Einheiten und kann entscheiden, dass eine Einheit reduziert oder verkauft und eine andere entwickelt oder zugekauft wird. Es teilt verfügbare Ressourcen im Sinne des Ganzen zu und setzt damit Prioritäten. Es identifiziert und realisiert Synergien und sorgt dafür, dass Erfahrung genutzt wird, und dass man voneinander lernt. Oder umfassend ausgedrückt: Es sorgt dafür, dass das Ganze mehr wird als die Summe seiner Teile. In einer Familie wird die System 3-Funktion normalerweise von den Eltern gemeinsam ausgeübt. Diese diskutieren, planen und entscheiden, was für die Familie als Ganzes gut und notwendig ist und setzen diese Entscheidungen um. Sie entscheiden über die Arbeitsteilung zwischen den Partnern, über die Erziehungsphilosophie der Kinder, über Gütertrennung oder gemeinsames Eigentum. Sie legen fest, wer wen in nächster Zeit unterstützen soll, und sie definieren die Spielregeln, die für das Ganze gelten sollen, und die dann, einmal definiert, im System 2 wirken. Da sie selber ja auch operative  Einheiten dieser Familie sind, müssen sie sich selber auch an diese Regeln halten. In einer anderen Familie wird die System 3-Funktion vielleicht auch alleine durch den Mann oder die Frau ausgeübt, und vielleicht werden auch die Kinder in gewisse Entscheidungen miteinbezogen. Aus Sicht der Lebensfähigkeit und des Funktionierens ist es nicht relevant, wer eine Funktion ausübt, sondern nur, dass sie ausgeübt wird. Welche und wie viele Personen eine Funktion ausüben, kann je nach Organisation und Situation unterschiedlich sein. Eine Funktion kann durch eine oder durch mehrere Personen zusammen ausgeübt werden. Umgekehrt kann auch eine einzelne Person mehrere Hüte aufhaben, also verschiedene Steuerungsaufgaben in verschiedenen Systemen übernehmen. Die Personen können wechseln, die Steuerungsaufgaben bleiben aber immer die gleichen. Deshalb macht es im Viable System Model Sinn, von einer System 3-Leitung und nicht von einem Leiter, also einer Person, zu sprechen. In einem großen Projekt werden die System 3-Aufgaben von der operativen Projektleitung übernommen. Das kann wiederum, je nach Größe des Projektes, nur eine einzelne Person in Form eines Gesamtprojektleiters sein, oder ein aus mehreren Personen bestehendes Organ. Auch hier trifft die Projektleitung Entscheidungen zur Optimierung des Ganzen. Sie legt die übergeordneten Spielregeln fest und definiert, mit welchen Metho-

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5  Einführung in das Modell

den und Mitteln gearbeitet wird, die sie dann auch über ihr System 2 zur Verfügung stellt. Sie vereinbart Ziele und Termine mit den Teilprojektleitungen im System 1 und teilt ihnen die benötigten Ressourcen zu. Sie kontrolliert den Fortschritt in der Zielerreichung und greift unterstützend ein, wenn es die Situation erfordert. Dabei kann es auch vorkommen, dass eine operative Einheit zu Gunsten einer anderen verzichten oder sich einschränken muss, weil zum Beispiel die Kompetenz eines ausgezeichneten Projektmitarbeiters derzeit im Teilprojekt B dringender benötigt wird als in Teilprojekt A. In einer Firma wird das operative Management durch einen Geschäftsführer oder ein Organ wie eine Geschäftsleitung oder einen Vorstand mit Unterstützung der Fachbereiche ausgeführt. Je nach Rechtsform sind auch andere organisatorische Gefäße möglich. Die Aufgabe eines COO (Chief Operating Officer) ist eine typische System 3-Aufgabe. Sie umfasst die operative Gesamtplanung, die Budgetplanung, die Festlegung der Jahresziele und die laufende Kontrolle der Zielerreichung, das Lösen akuter Probleme und die Sorge um die Gesamtproduktivität des heutigen Geschäftes. Auch Entscheidungen von Fachbereichen, zum Beispiel zu Personal- oder IT-Themen, gehören zum System 3, sofern sie die Gesamtoptimierung betreffen. Das System 3 ist dafür verantwortlich, dass bestehende Erfolgspotenziale der Firma, wie zum Beispiel ein großer Marktanteil, effektiv auch in wirtschaftlichen Erfolg umgesetzt werden. Im Falle des großen Marktanteils bedeutet das die Umsetzung von Größenvorteilen in Kostenvorteile. Dies erfolgt beispielsweise dadurch, dass das System 3 die Autonomie von System 1 dahingehend einschränkt, dass der Einkauf zentralisiert oder andere kostensenkende Synergien genutzt werden. Größe ist nur dann nützlich, wenn aus ihr auch tatsächlich Stärke wird. Das System 3 analysiert die Rentabilitätsfragen und steuert diese vor. Falls Egoismen einzelner operativer Einheiten schädlich für die Zusammenarbeit werden, greift es über den Interventionskanal ein. In einem Staat wird die System 3-Funktion hauptsächlich durch die Exekutive, also durch die Regierung und die öffentliche Verwaltung, ausgeführt. Die Exekutive ist die vollziehende Gewalt, die die Gesetze nicht erlässt, sondern sie allenfalls anfordert und vor allem aber umsetzt. Sie steuert den Staat durch die operativen Angelegenheiten hindurch, wofür ihr für verschiedene Themen verschiedene Ministerien und Bundesämter zur Verfügung stehen. Auch deren Funktionen gehören zum System 3, soweit sie zur Optimierung des „Inside & Now“ im Staat beitragen. System 3*: Real-Life Information und Auditierung System 3 optimiert also die interne Gesamtleistung des Unternehmens und trifft dazu Entscheidungen zum Wohle des Ganzen. Auf welcher Informationsbasis werden diese Entscheidungen getroffen? Wie informiert sich das System 3 und wie kann es wissen, was wirk­ lich passiert und was davon relevant ist? Wie eben erwähnt, stehen zuerst einmal die beiden vertikalen Berichtskanäle zwischen den Managementboxen der operativen Einheiten und System 3 zur Verfügung. Diese beiden Kanäle arbeiten normalerweise sehr zuverlässig, aber auch sehr selektiv, weil erstens nur das berichtet wird, was die Leitungen der operativen Einheiten selber sehen können und zweitens, weil sie nur das berichten, was sie berichten wollen. Ein weiterer Kommunikationskanal steht über das System 2 zur Verfü-

5.4  System 3: Optimierung und Auditierung

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gung. Dieser umfasst die automatisierten Berichte und Statistiken, die aus den Systemen und Computern abgerufen werden können. Weder die Reports der Führungskräfte der ­operativen Einheiten, noch der Blick in den Computer zeigen aber die Realität, sondern immer nur gefilterte und selektierte Inhalte. Das Bild bleibt unvollständig, und das kann gefährlich sein für übergeordnete Entscheidungen. Von natürlichen Systemen lernen wir, dass sich das System 3 für eine bessere Informationsbasis einen weiteren Kommunikationskanal öffnet: Das sogenannte System 3∗, das zum System 3 dazugehört, und das im Modell als ein auf dem Kopf stehendes Dreieck dargestellt wird. Es liefert ungefilterte Informationen aus den Operationen im System 1 direkt ins System 3 hinein, damit dort bessere Entscheidungen getroffen werden können (Abb. 5.8). „Hingehen und nachschauen“ ist das Arbeitsprinzip von System 3∗. In diesem Sinne ist es eine Art von internem Audit, allerdings nicht nur finanziell und administrativ, sondern auch durch spezifische Themen und Interessen getrieben. Das übergeordnete Management im System 3 kann damit beispielsweise Möglichkeiten für Synergieeffekte entdecken, an denen die Leitungen der operativen Einheiten selber gar kein Interesse hätten. Es sieht Dinge, die sonst niemand sehen würde, weil sie erst aus Sicht des Ganzen relevant werden. Die Anzahl unterschiedlicher Schrauben oder Elektromotoren, die im Konzern verbaut werden, ist für das einzelne Geschäftsfeld keine relevante Zahl. Die Reduktion dieser Komplexität kann aber zu erheblichen Kostenvorteilen für den Konzern als Ganzes führen. System 3∗ ist kein Interventionskanal, sondern ein reiner Informationskanal. Man macht sich selber ein persönliches Bild vor Ort, und wenn es Dinge zu korrigieren gibt, erfolgt das auf dem normalen Weg über den oben erwähnten „Corporate Intervention“-Kanal zwischen System 3 und System 1. Es ist für die Leitungen der operativen Einheiten tatsächlich auch von Vorteil, wenn ihr übergeordnetes Management etwas „Bodenhaftung“ aufweist und weiss, was draußen im Geschäft läuft. Keine Leitung einer operativen

Abb. 5.8  System 3∗: Real-Life Information, Auditierung

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5  Einführung in das Modell

Einheit will mit einem Management zu tun haben, das die eigenen Herausforderungen nicht versteht. Das würde als Elfenbeinturm-Verhalten missbilligt und vor allem zu falschen Entscheidungen und fehlerhafter Steuerung führen. Wenn das Management hingegen weiß, was vor sich geht, werden Mitteilungen auf der vertikalen Kommunikationsachse eher im richtigen Kontext interpretiert und verstanden. Über den 3∗-Kanal wird auch sichergestellt, dass Vereinbarungen und Anforderungen eingehalten werden, dass die Prozesse funktionieren und Leistungen und Qualität den Erwartungen entsprechen. In diesem Sinne baut das System 3∗ auch auf beiden Seiten Vertrauen auf. In einer Familie wird eine System 3∗-Funktion beispielsweise dadurch wahrgenommen, dass die Vertreter des Systems 3 sich ab und zu an Aktivitäten im Leben der anderen Familienmitglieder beteiligen, um zu erfahren, wie es ihnen dabei geht. Das ist etwas anderes, als das Kind oder den Partner in die eigenen Hobbies einzubinden, damit man zusammen sein kann. Es geht darum, ungefilterte Information aus der Operation des anderen Familienmitglieds zu erhalten, um sie besser verstehen zu können. Auch ein Lehrergespräch zum Verhalten der Kinder in der Schule, oder ein gelegentlicher Telefonanruf tagsüber ist ein 3∗-Kanal: Man will wissen, wie es dem Anderen geht, ob er Unterstützung braucht, und vielleicht auch ob er sich an Abmachungen hält. In einem Projekt ist es der Gesamtprojektleiter, oder es sind Vertreter der Gesamtprojektleitung, die in Aktivitäten der Teilprojekte eintauchen, vielleicht unangemeldet an Sitzungen teilnehmen und mit den Projektmitarbeitern reden. Auch hierbei darf es nie um Inter­vention gehen, sondern immer nur um Information. Worüber wird geredet? Wie werden Terminverschiebungen behandelt? Wo sehen die Mitarbeiter ungenutzte Chancen oder ungelöste Probleme? In einer Firma gehört der klassische Spaziergang des Unternehmers durch die Fabrik zum System 3∗, bevor er sich morgens um acht Uhr in sein Büro setzt. Er redet mit den Mitarbeitern und erfährt über den scheinbaren Zufall eine Menge von Dingen, die ihm sonst niemand erzählt hätte. Er sieht, ob alles aufgeräumt ist, welche Aufträge zum Versand bereitstehen und hört auch einzelnen Mitarbeitern zu, falls ihm diese etwas sagen wollen. Und da dieser Spaziergang zu einem täglichen Ritual gehört, sind manchmal gehaltvolle und wichtige Gespräche dabei. Am anderen Ende der Skala, auf der formellen Seite, gehören die regulären Auditierungsfunktionen wie die interne Revision zum System 3∗, die vor allem in größeren Unternehmen institutionalisiert sind. Dazwischen existiert eine große Vielfalt von Wegen, wie das Management zu ungefilterten Informationen kommt. Das ist der unangekündigte Besuch auf der Baustelle, der direkte Kundenkontakt, ebenso wie Umfragen oder Studien im Unternehmen. Nachdem in einem großen Schweizer Telekom-Unternehmen festgestellt wurde, dass die höheren Führungskräfte schon lange keinen Kunden mehr von nahem gesehen hatten, wurden diese für ein paar Tage in die Outlets geschickt. Sie sollten dort arbeiten, um wieder einmal zu erfahren, wie wirkliche Kunden ticken, die sie inzwischen nur noch aus den Marketingberichten kannten. Ein britischer Fernsehsender hat dem System 3∗ sogar eine eigene Reality-TV Show gewidmet: In „Undercover Boss“ arbeiten Vorstände verdeckt in der eigenen Firma mit ihren Mitarbeitern zusammen, um eine unverfälschte Sicht auf die Arbeitsabläufe zu erhalten.

5.5  System 4: Aufklärung und Erneuerung

103

Alfred Sloan, dem ehemaligen Präsidenten von GM, wird nachgesagt, dass er ein intimes Verständnis von seinem Geschäft besaß, mit dem er seine unmittelbaren Führungskräfte immer wieder erstaunte. Er baute sich mit System sogar mehrere System 3∗-Informationskanäle auf, um an oberster Stelle im Konzern gut informiert zu bleiben. Dazu gehörte, dass er sich einmal jährlich und ohne das Wissen seiner Mitarbeiter, von seinem Chauffeur in ein Autohaus irgendwo im Land fahren ließ, um dort für einige Tage in der Werkstatt und im Verkauf mitzuarbeiten – nicht etwa um Autos zu verkaufen, sondern um von den Kunden direkt zu erfahren, was ihnen wirklich wichtig ist und was nicht, und worauf sie achten und worauf nicht. Zurück in Detroit führte er mit diesem Wissen seine Gespräche mit den Ingenieuren, Entwicklern und Marketingleitern. Er war berüchtigt dafür, dass er sich nicht von Berichten und empirischen Studien von Stabsabteilungen blenden ließ. Er ging selber hin und schaute nach. Im Staat schließlich hat eine unzensierte Medienlandschaft eine enorme System 3∗-Wirkung. Das ist wohl der systemische Grund dafür, warum die Medienfreiheit in Demokratien so stark hochgehalten wird. In einem Staat arbeiten sehr viele Menschen in verschiedenen Funktionen und mit verschiedenen Perspektiven im System 3 mit. Sie alle informieren sich über die Medien darüber, was das Volk beschäftigt und welche Unstimmigkeiten aufgedeckt wurden. Gerade auch die kritische Prüfung der Arbeit von Regierung und Behörden auf allen Ebenen des Staates, der Länder und der Gemeinden gehört zu den Grundaufgaben der Medien. Je wichtiger die Ämter werden, desto größer ist die Gefahr, dass ihnen Information gefärbt und gefiltert zugetragen wird. Wie weiß also ein Bundeskanzler, was das Volk wirklich beschäftigt? Er ist zwar selber Bürger, aber sein Leben unterscheidet sich doch sehr von dem der anderen Bürger. Er hat zwar Freunde, Mitarbeiter und Stabsabteilungen, aber in seiner Position werden Informationen ambivalent, weil sie durch Partikularinteressen gefärbt sind. Gerade auch ein Bundeskanzler muss sich deshalb seinen eigenen System 3∗-Kanal bauen. Konrad Adenauer soll das beispielsweise so gemacht haben, dass er in Bonn viel mit dem Taxi unterwegs war – nicht um von A nach B zu fahren, sondern um von den Taxifahrern zu hören, worüber die Leute reden. Worüber machen sie sich Sorgen? Wie argumentieren sie? So hat Adenauer möglicherweise Dinge erfahren, die ihm sonst niemand erzählt hätte. Auch der Rechnungshof, der Geheimdienst, Bürgerbefragungen und viele weiteren Dinge haben System 3∗-Funktion in einem Staat.

5.5

System 4: Aufklärung und Erneuerung

Auch jetzt stellt sich wieder die Frage, ob wir das Steuerungssystem inzwischen hinreichend entwickelt haben. Dass die einzelnen Systeme 1 bis 3 notwendig sind, haben wir begründet. Warum aber braucht es ein System 4 in unserem Modell? Der Blick auf die Abb. 5.9 zeigt uns eine Umwelt, die größer ist als alle Umwelten von System 1 zusammen. Diese sind eingebettet in die Gesamtumwelt des Unternehmens, die weitaus mehr umfasst, als das bestehende Geschäft. In dieser Gesamtumwelt liegen alle heutigen und zukünftigen Chancen und Gefahren der bekannten und der noch unbekannten Welt.

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5  Einführung in das Modell

Abb. 5.9  System 4: Außen Kommunikation, Aufklärung und Adaption

Das umfasst beispielsweise bisher noch unerschlossene Märkte, die Akquisitionsmöglichkeit, die sich unerwartet eröffnet, das Entstehen neuer Technologien und Applikationen oder die Veränderung von Gesetzen. Wir benötigen eine Steuerungsfunktion, welche diese Veränderungen auf dem Radar hat und uns hilft, das Unternehmen auf die Zukunft in dieser Umwelt vorzubereiten. Es ist die Aufklärungs- und Adaptionsfunktion im Steuerungssystem des Unternehmens, die wir auch als „strategisches Management“ bezeichnen können. Ein Mensch, der nur mit einem funktionierenden System 1 bis 3 ausgestattet wäre, ginge zwar elegant über die Straße, sähe aber ohne System 4 das herannahende Auto nicht. Die strukturelle Unterteilung in ein System 3 für das heutige Geschäft und in ein System 4 für das zukünftige Geschäft ist eine bewährte Lösung der Natur und eine bedenkenswerte Alternative zur üblichen Geschäftsverteilung in der Managementbox in beispielsweise eine kaufmännische und eine fachliche Leitung. Diese Praxis ergibt sich nämlich weniger aus der Logik des Funktionierens, sondern mehr aus der Logik professioneller Spezialisierung zur Nutzung von Fachkenntnis oder aus organisationshistorischen Entwicklungen wie zum Beispiel aus Akquisitionen. Sie führt tendenziell zu reduktionistischem Verhalten, weil man sich leicht in seinen Silos verliert. Letztlich braucht es beides: Die Fachkompetenz, wie auch die Gesamtbetrachtung des heutigen und des zukünftigen Geschäftes. Auch die klassische Unterteilung in Stab und Linie macht heute nicht mehr viel Sinn. Stabsleute sind inzwischen so stark spezialisiert, dass sie als Experten faktisch bereits die Entscheidung vorwegnehmen, wenn sie Option A vorlegen, mit der man vermutlich gewinnen wird, oder Option B, die eher in den Ruin führt. Diese Art von Empfehlungen erwartet heute eine Geschäftsleitung von ihnen – also sollten sie dafür ebenso geradestehen, wie die Linienleute.

5.5  System 4: Aufklärung und Erneuerung

105

Die Natur hat für die Arbeitsteilung in der Managementbox einen besseren Weg als Fachfunktionen oder Stab und Linie gefunden. Sie zieht eine Gesamtbetrachtung vor, denn das ist die Aufgabe der Steuerung: Das Ganze in all seinen Dimensionen und Zusammenhängen zu steuern. Sie gliedert deshalb das Ganze in ein autonomes Nervensystem (System 3), das sich mit dem „Inside & Now“ befasst, und in ein System von Sensoren, die mit dem Mittelhirn und dem limbischen System verknüpft sind (System 4) und das sich mit dem „Outside & Then“ befasst. Beim Menschen ist dieses System 4 stark ausgeprägt. Es gibt uns ein höheres Maß an Voraussicht und Fähigkeit zur Planung, als es Tieren möglich ist. Diese biologische Art der Unterteilung ist ein raffinierter, vernünftiger und nachvollziehbarer Trick der Natur, den wir in unseren Unternehmen noch nicht wirklich systematisch nutzen. Sie fokussiert die Steuerung auf das, worauf es für die Lebensfähigkeit ankommt, nämlich auf die Integration des Außen mit dem Innen und der Gegenwart mit der Zukunft. Das System 4 funktioniert wie ein „Krähennest“ auf einem Segelschiff. Wenn der Ausguck am Horizont Dinge entdeckt, die nicht in sein Muster des Normalfalls hineinpassen, meldet er das. So auch in unserem Organismus: Selbst wenn wir schlafen, sind doch alle Steuerungssysteme noch ein wenig aktiv, und wenn wir ein Geräusch hören, das nicht in unsere bekannten Muster hinein passt, weckt uns das System 4 auf. Die Gestaltung eines funktionierenden Steuerungssystems für Aufklärung und Anpassung im Unternehmen, dessen Aufmerksamkeit nach Außen und in die Zukunft gerichtet ist, ist gerade dann am wichtigsten, wenn sich diese Umwelt rapide ändert – also heute! Jack Welch, der erfolgreiche, ehemalige Konzernchef von General Electric, war ein System 4-Talent. Eines seiner bekanntesten Zitate zeigt, woran er wirklich glaubte: „If the rate of change outside exceeds the rate of change inside – the end is in sight“. Er war ein erfolgreicher, wenn auch umstrittener Veränderer. Je mehr sich draußen bewegt, desto stärker muss das System 4 sein. Andernfalls kollabiert das normative System 5 (über das wir gleich noch sprechen werden) ins System 3 hinein und identifiziert sich mit diesem. Anstatt im Modus selbstbestimmter Anpassung operiert das Unternehmen dann früher oder später mit nur noch im Modus permanenten Krisenmanagements. Wie das System 3 erfüllt auch das System 4 seine Aufgaben auf der vertikalen Steuerungsachse und wird nicht wie im Organigramm irgendwo seitlich eingezeichnet. Wenn ihm nicht die gleiche Bedeutung und Verantwortung wie dem operativen Management beigemessen wird, wird sich im Unternehmen nichts verändern. Man denke beispielsweise an gesellschaftliche und politische Organisationen. Wenn Veränderungen nicht auch auf der vertikalen Befehlslinie und über gemeinsam gefundene Gesetze herbeigeführt werden können, ändert sich wenig. Die Diskussion über die Nachteile demokratischer Staaten gegenüber Diktaturen bezieht sich genau auf diesen Punkt. Obwohl sich auch unsere europäischen Staaten permanent über Gesetze auf der vertikalen Achse verändern, geschieht dies viel träger als beispielsweise im China zu Beginn des neuen Jahrtausends, das mit einer stärkeren vertikalen Steuerungsachse agiert. Viele Staaten scheinen jedenfalls notwendige Anpassungen zu verschlafen, obwohl man deren Notwendigkeit beispielsweise aufgrund demografischer Entwicklungen schon lange hätte erkennen können

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5  Einführung in das Modell

und mit Sicherheit auch erkannt hat. Die heutige Überalterungsproblematik konnte man beispielsweise schon vor 50 Jahren vorhersehen. Trotzdem ist nicht viel passiert. Auch auf globaler Ebene scheint die vertikale Achse der Vereinten Nationen vergleichsweise schwach zu funktionieren, wie im Prolog argumentiert wurde. Die ungelösten Probleme im eigenen Land ziehen die Staaten aus der Multilateralität zurück, womit übergeordnete Herausforderungen ungelöst bleiben. Auch Firmen haben oftmals mit zu schwachen vertikalen Achsen zu kämpfen. Das ist der Hauptgrund dafür, dass viele sich gerade mit der Digitalisierung schwertun. Sie kennen zwar die Potenziale und sind entschlossen, diese zu nutzen, werden aber von den bescheidenen praktischen Erfolgen bald ernüchtert. Wie untersucht wurde, liegt es an der Führung, nicht an den Ideen und Möglichkeiten [5]. Ihnen fehlt das Reduziergetriebe, um die PS auch auf die Straße zu bringen. Während System 3 auf die Nutzung der bestehenden Erfolgspotenziale fokussiert, und an operativer Performance interessiert ist, sorgt System 4 also für den rechtzeitigen Aufbau neuer, zukünftiger Erfolgspotenziale. Bestehende Märkte können verschwinden, wenn sie in neue Technologien oder Geschäftsmodelle abwandern, die das gleiche Kundenproblem besser lösen. Dann verlieren selbst 70 % Marktanteil auf einmal ihren Wert, denn es nützt nichts, einen großen Marktanteil an etwas verschwindend Kleinem zu haben. Der letzte Anbieter von Enzyklopädien, deren Buchrücken früher einmal in jedem Wohnzimmer ein Bücherregal geschmückt haben, hat irgendwann einen Marktanteil von 100 % – aber fast keinen Markt mehr. Und die großen Hersteller von Fotokameras wie Leica, Minolta, Pentax, Canon oder Nikon verloren den größten Teil ihres Marktes an einen Wettbewerber, der auf einmal aus einer ganz anderen Branche auftauchte: Mit der Integration von Kamera und Telefon eroberte Nokia Anfang des Jahrtausends als Telekom-­ Unternehmen den weltweiten Kameramarkt des Normalverbrauchers. Die komfortabelste Größe nützt einem nichts, wenn die Situation Veränderung erfordert. Daran sind ganze Konzerne zu Grunde gegangen. Sie haben die Veränderung vom alten ins neue Geschäft nicht rechtzeitig geschafft. Wie wir an den horizontalen Kommunikationskanälen zwischen System 4 und der Gesamtumwelt des Unternehmens erkennen, kommuniziert das System 4 mit dieser Umwelt. Es informiert seine Anspruchsgruppen über sich selbst, es unterhält die wichtigen Netzwerke, es betreibt Aufklärung und erkennt frühzeitig die relevanten Chancen und Gefahren für das Unternehmen. Es entwickelt ein Verständnis für die Organisation in ihrer zukünftigen Umwelt. Dazu denkt es im Konjunktiv: Wir könnten, müssten oder sollten. Das bedeutet, dass es den Horizont der Möglichkeiten öffnet und sie mit Wahrscheinlichkeiten ausleuchtet. Es unterbreitet Vorschläge für die Entwicklung des Unternehmens und stimmt diese mit dem System 3 ab. Dabei geht es um die Balance des heutigen, mit dem zukünftigen Geschäft. Auch das heutige Geschäft, mit dem schließlich das Geld verdient wird und aus dem heraus man alle Abenteuer finanzieren muss, hat seine Bedürfnisse: Kunden mögen Berechenbarkeit und Verlässlichkeit, die sich die operativen Einheiten auch durch Kontinuität verdienen müssen. Auch in bestehende Technologien, Werke oder Märkte muss investiert werden, die Mitarbeiter sollen am Erfolg beteiligt werden, die Abschreibungen müssen erhöht oder die Eigentümer bedient werden. Die Konkurrenz um die

5.5  System 4: Aufklärung und Erneuerung

107

Ressourcen für die Optimierung des heutigen und den Aufbau des zukünftigen Geschäftes ist deshalb immer ein zähes, aber notwendiges Ringen um die richtige Balance. Für dieses permanente Ringen nach den richtigen Antworten stehen die zwei dicken, kreisförmigen Pfeile links und rechts von System 3 und 4, die sie in einem Balancekreislauf miteinander verbinden (Abb. 5.9). Dieser Steuerungsmechanismus ist wichtig, weil er für die Adaptionsfähigkeit des Unternehmens sorgt. Wir werden uns im Abschn. 14.4 genauer damit beschäftigen und uns im Kap. 19 die Instrumente und Methoden dazu anschauen. In einer Familie geht es in der System 4-Funktion um die zentralen Fragen der zukünftigen Entwicklung: Möchte man noch ein zusätzliches Kind? Zieht man des Berufes wegen nach Amerika um? Wo und wie will man in Zukunft wohnen? Soll ein Hund angeschafft werden? Funktioniert das mit der Altersvorsorge? Für die Diskussion einiger Themen wird man möglicherweise einen Familienrat halten. Das System 4 der Familie kommuniziert außerdem mit seiner Gesamtumwelt, pflegt das Netzwerk und die sozialen Kontakte der Familie und den Kontakt zu den Behörden. In einem Projekt übernimmt normalerweise ein Steuerungs- oder Lenkungsausschuss die System 4-Funktionen. Er erkennt die Veränderungen in der Umwelt gegenüber dem ursprünglichen Projektplan und berät über nötige und tolerierbare Abweichungen. Gemeinsam mit der Projektleitung (System 3) werden Entscheidungen abgewägt und getroffen, die das Projekt ins Ziel führen. Auch die fortlaufende Kommunikation über den aktuellen Zustand des Projektes nach außen an die Anspruchsgruppen gehört zu den System 4-Aufgaben im Projekt. In einer Firma kümmert sich möglicherweise eine Corporate Communications-Abteilung zusammen mit dem Vorstand um die Kommunikation zu den Anspruchsgruppen. Es gibt Entwicklungsabteilungen, die sich mit der technologischen Zukunft befassen, und es gibt Strategieprojekte. Es wird geforscht, Technologien werden entwickelt, Patente registriert und Konkurrenten beobachtet. Das strategische Marketing entwirft Konzepte für die zukünftige Ausrichtung des Unternehmens auf seinen Markt. Die IT entwirft ihre Funktionalstrategie, und die Personalentwicklung, zusammen mit dem Recruiting, kümmern sich um den rechtzeitigen Aufbau der richtigen Leute, die man für die Organisationsentwicklung braucht. Komplexe Umwelten werden modelliert und simuliert, um die Megatrends verstehen zu lernen. Es wird entschieden, ob man eine Akquisition tätigt, eine Allianz schmiedet, ein bestehendes Geschäft aufgibt oder ein neues eröffnet. Wie gut die 4er-Systeme ausgebaut sind, und ob sie stark genug sind, dass sie vom System 3 auch ernst genommen werden, ist je nach Unternehmen sehr unterschiedlich. In der Tendenz sind sie zu schwach. Sie funktionieren in sich zwar oftmals recht gut, finden spätestens im Balanceakt gegenüber System 3 aber zu wenig Gehör. Es sind oftmals formalistische und nicht sehr wirksame Systeme, über deren Gestaltung man sich auch weniger Gedanken gemacht hat, als über die Gestaltung des Systems 3. Insbesondere fehlt es oft an einem Entscheidungsmechanismus zwischen System 4 und 3, über den die Ressourcen rechtzeitig vom alten auf das neue Geschäft umgesteuert werden. In einem demokratischen Staat haben wir von der Exekutive als wesentliche (aber lange nicht einzige) System 3-Funktion gesprochen. Seit Baron de Montesquieu im 18.

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5  Einführung in das Modell

Jahrhundert die Gewaltenteilung eingeführt hat, ist es demzufolge die zweite Gewalt, die Legislative oder gesetzgebende Instanz, die wesentliche System 4-Funktionen wahrnimmt. In den Parlamenten wird über die Zukunft beraten, und es werden nötige Gesetzesanpassungen vorgeschlagen. Es werden im In- und Ausland Lobbys geschaffen und Beziehungen geknüpft. Ganze Abteilungen befassen sich nur mit der richtigen Kommunikation des Staates an seine Anspruchsgruppen über die Medien und die offiziellen Kanäle. Die Interaktion zwischen der Regierung (System 3) und dem Parlament (System 4) ist ein Wechselspiel zwischen dem, was heute möglich ist und dem was zukünftig erforderlich ist. Auch Parteien und einzelne Bürger beteiligen sich an System 4-Funktionen, indem sie an den Wahlen die Ausrichtung ihres Staates mitbestimmen. Im Fall der direkten Demokratie entscheiden sie sogar in Sachfragen, wie zum Beispiel über den Kauf neuer Militärjets, der Anpassung von Steuergesetzen, oder sie entscheiden, ob Kühe in Zukunft Hörner tragen sollen oder nicht. Und schließlich kommt den Medien nicht nur eine wichtige System 3∗-Funktion im Staat zu, wie oben argumentiert wurde, sondern auch eine maßgebliche System 4-Funktion. Sie sind ein Meinungsverstärker, der die Sichtweise eines Volkes und seiner Politiker in eine Richtung lenken können – mit den Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz in Zukunft noch viel stärker als in der Vergangenheit, was wiederum mit Chancen und Gefahren verbunden ist.

5.6

System 5: Identität

Unser Modell umfasst inzwischen vier verschiedene Steuerungsfunktionen. Das System 5 schließt als letzte Funktion das Steuerungssystem und macht dieses selbstreferenziell. Es ist die normative Steuerung, die Grundsatzaussagen über sich selbst trifft: Wer will ich sein? Wie will ich funktionieren? Was ist mir wichtig und was nicht? Dadurch gewinnt das Unternehmen einen Sinn, der es zusammenhält, Beständigkeit und Identität. Mit diesen grundsätzlichen Aussagen legt das System 5 die Leitplanken für die Arbeit im System 4 und im System 3 fest. Sie können niedergeschrieben sein oder einfach auch nur unbewusst wirken, so wie auch wir als Mensch eine Vorstellung von uns selbst haben, die uns eine von anderen Menschen abgrenzbare Identität verleiht. Die Summe solcher Grundsatzentscheidungen werden als Politik und die einzelnen Themenbereiche als „Policies“ bezeichnet. Eine Policy ist eine Grundsatzentscheidung, die auf unbeschränkte Zeit gilt. Abb. 5.10 zeigt, dass das System 5 neben den zwei Kommunikationskanälen auf der vertikalen Steuerungsachse zum Festlegen der Leitplanken für System 4 und 3 auch noch über einen weiteren Kommunikationskanal verfügt. Dieser verbindet es mit dem Balancekreislauf zwischen System 3 und 4. Das System 5 soll damit dafür sorgen, dass die Balance funktioniert und es soll eingreifen, wenn sie instabil wird. Das kann beispielsweise nötig sein, wenn eine Entscheidung argumentativ nicht gefunden werden kann, weil es zu viel Ungewissheit gibt, aber dennoch entschieden werden muss. In diesem Fall springt das System 5 ein und entscheidet ohne weitere Begründungen normativ, bezieht sich dazu aber

5.6  System 5: Identität

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Abb. 5.10  System 5: Identität und normative Politik

auf seine Identität und Mission als Leitstern. Diese Entscheidungen haben den Charakter von einem „Basta!“, weshalb sie oft auch von der obersten Instanz, den Eigentümern im Unternehmen oder dem Volk im Staat selber getroffen werden. Das System 5 absorbiert als oberste Instanz wie ein Schwamm den letzten Rest an Komplexität, der von allen anderen, vorgelagerten Systemen nicht absorbiert wurde und entscheidet alle Fragen im Unternehmen, die jetzt noch offen bleiben, als letzte Instanz final. In einer gut funktionierenden Familie werden solche Grundsatzentscheide zwischen den Partnern ausdiskutiert: Was für eine Familie wollen wir sein? Woran glauben wir? Wie stellen wir uns unser gemeinsames Leben vor? Worin finden wir Sinn? Wie wichtig sind Kinder und wie wichtig ist Karriere? Durch die Auseinandersetzung mit solchen Fragen wird eine neue Identität, nämlich die der Partnerschaft und der Familie, geschaffen. Alle nachfolgenden Entscheidungen orientieren sich an dieser Identität. Sie ist die Referenz für alles, was gemeinsam passieren soll. Dabei spielen Werthaltungen, Vorbilder und Traditionen eine große Rolle. Sie sind die Ideale, die dem Steuerungssystem als Orientierungspunkt dienen, wenn das Steuern und das Ringen um die richtigen Kompromisse schwierig wird. Auch in einem Projekt werden normative Grundsatzentscheide gefällt, wenn das Projekt aufgesetzt wird: Zweck und Ziel werden im Projektauftrag beschrieben, die Projektleitung und der Lenkungsausschuss werden besetzt, es wird festgelegt, mit welcher Projektmethodik und mit welchen IT-Systemen man arbeitet, nach welchen Regeln kommuniziert oder wie bei Konflikten vorgegangen wird. Typischerweise ist es entweder der Sponsor des Projektes, der solche Entscheide vielleicht gemeinsam mit dem designierten Projektleiter trifft, oder es gibt eine Policy dafür, die für jedes Projekt zur Anwendung kommt. Das System 5 umfasst aber auch eine Aufsichtsfunktion und eine letzte Entscheidungsinstanz, falls sich Fragen nicht durch die Projektleitung und den Lenkungsausschuss

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5  Einführung in das Modell

selbst klären lassen, weil beispielsweise Unregelmäßigkeiten vorgekommen sind oder sich Basisannahmen grundlegend verändert haben. In einer Firma wird die Identität durch die Business Mission und die Unternehmenspolitik definiert. Diese enthält ein Umweltkonzept, das festlegt, wo das Unternehmen tätig sein soll, ein Unternehmenskonzept mit Aussagen zum Geschäftsmodell, und ein Führungskonzept mit Aussagen zum Modus Operandi, also zum Funktionieren der Firma als Ganzes [6]. Das System 5 einer Firma sorgt nicht nur für die Existenz dieser normativen Leitplanken, sondern auch für die Aufsicht über deren Einhaltung. Dazu gehört auch, dass es notfalls intervenieren oder die Systeme 3 und 4 aktiv unterstützen kann. Die entsprechenden Aufsichtsorgane und ihre Aufgaben sind in den verschiedenen Formen des Gesellschaftsrechts mit unterschiedlichen Befugnissen und Verantwortungen ausgestattet. Wenn wir unseren Blick aber auf die Funktion richten, spielt es wiederum keine Rolle, wer eine Entscheidung getroffen hat, nur dass sie getroffen werden konnte. Die wichtigsten Grundsatzentscheidungen bleiben schließlich den Eigentümern vorbehalten, je nach Rechtsform also zum Beispiel den Aktionären oder den Gesellschaftern. Der Staat hält seine Grundsätze in der Verfassung fest, und die oberste Judikative, das Verfassungsgericht, prüft deren Einhaltung. Getroffen werden die Grundsatzentscheidungen von der obersten Instanz des Staates, in einer Demokratie also vom Volk oder von den gewählten Volksvertretern. Wie weit die Rechte eines Staatsoberhaupts gehen, ist abhängig von der Staatsform und – wie die Praxis immer wieder zeigt – auch von dessen Selbstverständnis. Stafford Beer erzählte mir die Anekdote, wie er dem neu gewählten Präsidenten Salvador Allende Anfang der 1970er-Jahre das Viable System Model erklärte. Allende hatte ihn gerufen, weil er eine Alternative zum unhaltbar gewordenen feudalistischen System Chiles suchte und dem ebenso schlecht funktionierenden kommunistischen System mit seiner damaligen Planwirtschaft. Als ausgebildeter Mediziner verstand er die Ausführungen zum Nervensystem und die Relation zum Steuerungssystem in einem funktionierenden Staat sehr gut. Als sie zum System 5 kamen, und gerade als Beer dem Präsidenten erklären wollte, dass dieser selbst das System 5 sei, soll dieser erleichtert gerufen haben: „Ah, finalmente – el pueblo!“. Obwohl ihm die Staatsverfassung als gewähltem Präsidenten weitgehende Rechte einräumte, sah er sich selbst ausschließlich als Vertreter des Volkes. Interessant an diesem Beispiel ist, dass die unterste Instanz der Organisation, der Bürger, an den sich der ganze Staat richtet, gleichzeitig die höchste Instanz ist. Das muss nicht in jedem Staat so sein, weist aber interessante, selbstregulierende Wirkungen auf. So werden in der direkten, unmittelbarsten Form der Demokratie vom Bürger oftmals Entscheidungen getroffen, von denen man meinen könnte, dass sie seinen eigenen Interessen entgegenstehen. Beispielsweise hat das Schweizer Stimmvolk vor ein paar Jahren eine Verlängerung des obligatorischen Mindesturlaubs von vier auf sechs Wochen abgelehnt. Mit dem System 5 sind nun schließlich alle notwendigen und hinreichenden Funktionen des Steuerungssystems vorhanden. Eine weitere Funktion braucht es nicht, um Lebensfähigkeit zu ermöglichen. Das Ganze ist jetzt zu einem großen, permanent arbeitenden Steuerungskreislauf geworden, der mit Hilfe seiner Kommunikationslinien verschiedene Aufgaben in verschiedenen Steuerungselementen und auf verschiedenen

Literatur

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Abb. 5.11  Das Viable System Model (VSM)

Ebenen löst (Abb.  5.11). System 3 bis 5 bilden zusammen das Senior-Management, das metasystemisch zum System 1 und 2 wirkt, indem es diejenigen Steuerungsfragen löst, die die operativen Einheiten nicht selber lösen können. Es löst die übergeordneten Fragen. Der Ausdruck „Senior“ meint hier also nicht die persönliche Seniorität einer Führungskraft, sondern die übergeordnete Verantwortung für ein System 1 als Ganzes. Auch eine junge oder eine unerfahrene Führungskraft kann in diesem Sinn Senior-Management Funktionen übernehmen, und sie wird es mit anfangs kleinen 1er-Systemen tun, um Erfahrung zu sammeln. Aufgabe

Versuchen Sie das Viable System Model aus dem Kopf heraus aufzuzeichnen. Üben Sie das so lange, bis Sie alle Elemente und vor allem die Linien dazwischen richtig einzeichnen. Um mit dem Modell arbeiten zu können, muss man es im Kopf haben. Die Gebrauchsanleitung des Autos auf dem Beifahrersitz zu haben genügt nicht.

Literatur 1. Malik, Fredmund. 2006. Führen, Leisten, Leben. Wirksames Management für eine neue Zeit, 195–196. Frankfurt/New York: Campus. 2. Maturana, Humberto, und Francisco J. Varela. 1987. Der Baum der Erkenntnis. Wie wir die Welt durch unsre Wahrnehmung erschaffen – die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens, 3. Aufl. Bern/München/Wien: Scherz.

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5  Einführung in das Modell

3. Beer, Stafford. 1972. Brain of the firm. The managerial cybernetics of organization, 2. Aufl., 338 ff. Chichester/New York/Brisbane/Toronto/Singapore: Wiley. 4. Von Foerster, Heinz. 1960. On self-organizing systems and their environments. In Self-organizing systems, Hrsg. M. C. Yovits und S. Cameron, 31 ff. London: Pergamon. 5. Stöger, Roman. 2017. Umsetzung der Digitalisierung. Fazit 1.0 in der Neuen Welt. Organisationsentwicklung 1:58–84. 6. Malik, Fredmund. 2008. Unternehmenspolitik und Corporate Governance. Wie Organisationen sich selbst organisieren, 141–258. Frankfurt/New York: Campus.

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Russische Puppen

Nach dem System 5 kommt im Viable System Model nicht ein System 6, sondern etwas anderes. Wir haben im Kap. 4 das Viable System Model damit eingeleitet, dass eine lebensfähige Struktur aus fünf Steuerungselementen auf zwei Achsen und aus einem Prinzip besteht. Nachdem wir die Elemente und die Achsen eingeführt haben, stellt sich also die Frage, was es mit diesem Prinzip auf sich hat. Es handelt sich dabei um das Prinzip der Rekursivität, dem in der Mathematik, Logik, Grammatik, Informatik oder in der Kunst eine zentrale Bedeutung zukommt. Abb. 6.1 veranschaulicht das Prinzip in Form von russischen Puppen, den Matrjoschkas. Sie sind so ineinander verschachtelt, dass auf jeder Ebene die gleiche, homomorphe Struktur erscheint. In unserem Zusammenhang bedeutet Rekursivität, dass es immer wieder die gleiche Steuerungsstruktur ist, die auf mehreren, unendlich ineinander verschachtelten Ebenen vorkommt. Rekursivität ist eine Problemlösungsstrategie für den Umgang mit Komplexität. Sie ist eine geeignete Rahmenbedingung, um im Chaos Ordnung zu schaffen, oder umgekehrt ein Trick, um aus etwas an sich Einfachem eine komplexe Struktur zu bauen. In der Kunst finden wir sie beispielsweise in Kompositionen von Wolfgang Amadeus Mozart oder generell in Fugen, wo die gleiche Melodie sich auf verschiedenen Ebenen immer und immer wiederholt, und durch diese fraktale Verschachtelung eine komplexe Form von Schönheit entsteht. Die Kybernetik hat diesen Trick der Theorie der formalen Logik entnommen und in der Praxis von der Genetik gelernt. Der genetische Blueprint für das Ganze kommt in jeder einzelnen Zelle vor, und in jedem Samen ist der ganze spätere Baum bereits informativ enthalten und angelegt. cc

Das Ganze kommt wieder in seinen Teilen vor.

Diese Idee, dass die Welt ein System ist und aus kleineren Systemen besteht, war laut Norbert Wiener die wichtigste technologische Idee des 20. Jahrhunderts [1]. Ohne diese Einsicht wäre unsere Technik heute immer noch auf dem Stand primitiver Automaten mit © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Pfiffner, Die dritte Dimension des Organisierens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29247-8_6

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6  Russische Puppen

Abb. 6.1  Das Prinzip der Rekursivität

bescheidener Leistungsfähigkeit. In der Anwendung auf die Struktur sozialer Organisationen hat das Prinzip der Rekursivität hingegen noch lange nicht die Wirkung entfaltet, die es entfalten könnte. Für das Funktionieren der wirklich großen und komplexen Unternehmen ist es aber unerlässlich. Wir kennen das Prinzip in verschiedenen Erscheinungsformen, wie zum Beispiel der strategischen Geschäftsfeldgliederung, also der Aufteilung des Unternehmens in sich selbststeuernde Einheiten, der fraktalen Organisation, der Selbstorganisations- oder der Chaostheorie, und es kommt auch in den modernen und aktuellsten Organisationsansätzen wie Agility, Holocracy oder Scrum vor. Selbstorganisierende Einheiten, die rekursiv ineinander verschachtelt sind, ergeben allerdings noch kein Funktionieren, denn man kann Systeme auch so ineinander verschachteln, dass sie unkontrollierbar werden. Die Selbstorganisationskraft dezentraler Einheiten kann sogar zum Problem werden, wenn diese zu viel Selbstständigkeit erlangen oder wenn die falschen Einheiten Selbstorganisationstendenzen entwickeln. Im Unternehmen kann das zum pathologischen Organisationsmuster der „Schizophrenie“ führen (vgl. Abschn. 18.2). Das Prinzip sich selbststeuernder, rekursiver Einheiten reicht alleine also nicht aus. Folgen wir der Rezeptur des Gelingens, müssen wir erstens die fünf Steuerungselemente richtig ausgestalten, zweitens die Kommunikationskanäle zwischen den Elementen zum Funktionieren bringen und drittens diese Steuerungsstruktur auf alle operativen Einheiten in allen Rekursionsebenen übertragen. Erst wenn diese drei Bedingungen erfüllt sind, können wir von einem lebensfähigen System sprechen. Wie bei den russischen Puppen findet sich im Viable System Model deshalb die gleiche Steuerungsstruktur mit den gleichen 5 Elementen und den gleichen Kommunikationskanälen in jeder operativen Einheit wieder. Dieselbe invariante Steuerungsstruktur kommt in jeder operativen Einheit auf jeder Führungsebene des Unternehmens immer wieder vor. Deshalb kann jede operative Einheit auf jeder Führungsebene auch mit dem gleichen Modell diagnostiziert und gestaltet werden. Die Organisation trägt damit den genetischen Code für wirksame Steuerung in jeder Zelle des Unternehmens in sich.

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cc The Recursive System Theorem [2]  In a recursive organizational structure, any viable system contains, and is contained in, a viable system. Im Modell in Abb. 6.2 ist die Rekursivität der Struktur gut ersichtlich. Betrachten wir zuerst einmal die Managementbox der untersten, operativen Einheit im System 1: Sie steu­ ert ihre Operation in ihrer Umwelt. Aus Sicht des Senior-Managements im System 3 bis 5 ist dieses Management eine Blackbox: Es interessiert das Senior-Management nicht, was im Detail in dieser Blackbox geschieht. Es interessiert sich nur für den Input und den Output. Wenn wir hingegen wissen wollen, was in dieser Managementbox passiert, steigen wir eine Rekursionsebene hinunter. Jetzt erkennen wir in der Managementbox ­wiederum die Struktur von System 3 bis 5 und in der Operation wiederum ein System 1, bestehend aus mehreren operativen Einheiten. Wir erkennen also, wie das Management mit seinen Operationen in seiner Umwelt funktioniert. Wenn wir dann wieder eine Rekursionsebene höher steigen, verlieren wir diese Details und sehen Umwelt, Operation und Management nur noch als Blackboxes mit Inputs und Outputs. Wir haben wieder den ursprünglichen Fokus eingenommen, in dem diese Details unwichtig sind, respektive nicht zur Steuerungsaufgabe dieser Rekursionsebene gehören. cc First Regulatory Aphorism [3]  It is not necessary to enter the black box to understand the nature of the function it performs. Man muss nicht im Detail verstehen, warum ein Auto fährt, aber man muss wissen, wie es reagiert. Für den Fahrer ist das Auto eine Blackbox, genauso wie die operative Einheit

Abb. 6.2  Rekursivität im Viable System Model

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für das Senior-Management eine Blackbox ist. Das Blackbox-Prinzip erlaubt es dem Senior-­Management, sich auf seine eigene Aufgabe zu konzentrieren. Das Steuern der übergeordneten Rekursionsebene gibt nämlich genug zu tun, denn sie ist mehr als die Summe der tieferen Rekursionsebenen. Sie hat eine eigene, größere Umwelt und braucht deshalb beispielsweise ihr eigenes System 4, um sich darin zurechtzufinden. Die Forschung und Entwicklung in den 4er-Systemen auf der tieferen Ebene genügt nicht, denn dort ist der inhaltliche Fokus ein anderer. Wie viele und welche Rekursionsebenen wir betrachten wollen, ist abhängig von unserem Interesse. In einer Familie würde man wohl mit den einzelnen Familienmitgliedern als unterste Rekursionsebene beginnen. Darüber kommt zweitens die Familie. Diese ist wiederum in eine dritte Rekursionsebene eingebettet, die man als Teil eines Stammbaumes, oder als Teil einer Nachbarschaft mit anderen Familien, oder auch als Teil einer Gemeinde sehen kann. Wir alle sind Teil ganz verschiedener Dimensionen von Rekursionsebenen. Auch ein Unternehmen ist immer ein Teil von mehreren höheren Rekursionsebenen. Eine Firma in der Schweiz kann zum Beispiel ein Teil eines deutschen Konzerns sein und gleichzeitig ein Teil ihres schweizerischen Branchenverbandes. Welche dieser vielen Dimensionen wir gestalten oder diagnostizieren wollen, ist uns überlassen und hängt von unserem Interesse ab. In einem Projekt beginnen wir möglicherweise mit dem Teilprojekt als unterste Rekursionsebene. Mehrere Teilprojekte zusammen ergeben das Projekt, das wiederum auf einer noch höheren Rekursionsebene eines von mehreren Projekten in der Firma sein kann. Wir könnten nochmals eine Rekursionsebene höher steigen und den Konzern betrachten, von dem die Firma dann eine operative Einheit von vielen ist. Hier hört aber spätestens unser Interesse auf. Wir wollen das Funktionieren eines Projektes betrachten, und dafür ist schon die Konzernebene kaum mehr relevant. Sofern der Konzern aber Richtlinien für den Umgang mit Projekten festgelegt hat und in Projekte hineinsteuert, kann selbst diese Rekursionsebene relevant sein. Wie weit wir nach unten oder nach oben gehen, hängt also wieder von der Situation und von unserem Interesse ab. In einer Firma richtet sich die Verschachtelung der Rekursionsebenen nach der Strategie. Es kann beispielsweise auf der obersten Rekursionsebene in Regionen gegliedert sein, weil eine regionale Verantwortung vorteilhaft ist für die Umsetzung der Strategie. Eine Region wiederum kann nach Kundengruppen gegliedert sein, und eine Kundengruppe dann beispielsweise nach Produkten. Damit wird die Aufmerksamkeit des Managements auf den verschiedenen Ebenen auf unterschiedliche Dinge gelegt. Mit der richtigen Kaskadierung leistet jede Ebene mit ihrem spezifischen Fokusihren Beitrag, so dass am Ende für alles gesorgt ist, was dem Kunden wichtig ist. Es gibt hier eine riesige Zahl von Kombinationsmöglichkeiten, aus denen das Unternehmen die bestmögliche für seine Situation auswählt. Wie man zur richtigen Wahl kommt, werden wir in Kap. 9 „Die Grundstruktur (Anatomie)“ anschauen, wenn wir in Teil III mit der Arbeit mit dem Viable System Model begonnen haben. Im Staat sind die Gemeinden die untersten Rekursionsebenen, die sich normalerweise zu Bezirken zusammenschließen, diese wiederum zu Ländern und Länder schließlich zu

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einem Staat. Aber auch der Staat ist wieder Teil einer höheren Rekursionsebene, nämlich im Fall von Deutschland und der Schweiz von Europa – wenn auch in unterschiedlicher Form. Ob sich Gemeinden zuerst zu Bezirken zusammenschließen oder gleich zu Ländern (in der Schweiz zu Kantonen) ist unerheblich, denn das sind letztlich nur verschiedene Namen für eine Rekursionsebene. Die praktische Frage ist also nicht, wie diese Rekursionsebenen heißen, sondern wie viele Ebenen es braucht, damit ein Unternehmen führbar ist. Damit werden wir uns in Kap. 11 befassen. Wir haben das Rekursivitätsprinzip oben einen Trick zur Komplexitätsbewältigung genannt. Worin besteht nun dieser Trick? Weil jede operative Einheit auf jeder Rekursions­ ebene selber lebensfähig sein soll und dazu ihr eigenes Steuerungssystem hat, entsteht im Grundsatz eine riesige Steuerungskraft (Abb.  6.3). So groß diese Kapazität auch ist, wäre sie von der Komplexität des Ganzen dennoch rasch überfordert, wenn sie alles von einer zentralen Stelle aus steuern müsste. Dass diese Art zentraler Steuerung nicht funktionieren kann, sehen wir in den gescheiterten Versuchen mit der Planwirtschaft. In der glutheißen Wüste im afrikanischen Guinea bin ich Anfang der 1980er-Jahre auf einem Flughafen tatsächlich Schneepflügen begegnet, weil die damalige, planwirtschaftliche UdSSR Entwicklungsländer mit ganzen Flughafenausrüstungen unterstützt hatte  – und dazu gehörten in der UdSSR eben auch Schneepflüge. Ebenso wenig können wir mit unserem Gehirn die Komplexität der Vorgänge in und zwischen unseren Organen in den Peripherien steuern, wie zum Beispiel den Zitronenzyklus in der Leber, nachdem wir ausnahmsweise einmal etwas viel getrunken haben. Auch in unserem Körper wird der Großteil der Komplexität durch die einzelnen Organe selbst absorbiert. Was im Gehirn ankommt, ist nur noch die Residualgröße. Selbst das ist neben allen anderen Aufgaben des Gehirns „Outside & Then“ aber immer noch viel Futter. Auch in unseren technischen Systemen

Abb. 6.3  Beispiel einer rekursiven Steuerungsstruktur

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gibt es meistens mehr als den einen zentralen Computer, der alles steuert. In einem modernen Auto erfüllen beispielsweise bis zu einhundert periphere Computer und Steuergeräte selbstständig ihre Aufgaben. Der Trick besteht also in der Verteilung von Steuerung. Wenn die Zellen auf allen Ebenen des Unternehmens über ihre eigene Steuerung verfügen, wird Komplexität da absorbiert, wo sie anfällt. Jede operative Einheit im System 1 absorbiert den größten Teil der Komplexität in ihrem Umfeld und aus ihren Interaktionen mit den anderen operativen Einheiten selber. Das bedeutet, dass sich das übergeordnete Senior-Management im System 3 bis 5 nur noch mit der verbleibenden Komplexität befassen muss. Die Steuerung wird dadurch schneller, besser und robuster. Sie wird schneller, weil alle Einheiten auf allen Ebenen selbstständig reagieren können. Wenn sich etwas Relevantes in ihrer Umwelt verändert, passen sie sich sofort an, ohne zuerst auf andere Einheiten oder auf Entscheide von oben warten zu müssen. Die Entscheidungen werden inhaltlich besser, weil die sachnahe Einheit eine bessere Informationsbasis und damit ein besseres Verständnis für die Entscheidung und ihre Folgen hat. Und außerdem wird die Steuerung robuster, denn das Verteilen von Steuerung ist mehr als das Delegieren von Verantwortung. Delegieren bedeutet, jemanden zu seinem Repräsentanten zu machen. Im Zweifelsfall behält der Delegierende aber immer das letzte Wort. Sein Argument sticht, obwohl er die Verantwortung delegiert hat. In Wahrheit wird aber nur ein Teil der Verantwortung wirklich weitergegeben, und wo die Entscheidungen getroffen werden ist am Ende nicht mehr klar. Echte Verteilung von Steuerung bedeutet hingegen, dass mehr Entscheidungen dezentral in den operativen Einheiten getroffen werden als durch das Senior-Management. Erst wenn Aufgabe, Kompetenz und Verantwortung auf einer Rekursionsebene zusammenkommen, reden wir von verteilter Steuerung. Dann entsteht echte Steuerungsverantwortung, ohne Fluchtwege und Ausreden. Ganz gleich, ob diese Steuerung erfolgreich ist oder nicht – es bleibt klar, wo die Entscheidung getroffen wurde und wo die Verantwortung liegt. Die Wirkung ist eine ganz andere. Man kann darin eine Form von Selbst-­ Disziplinierung sehen. Aus kybernetischer Sicht ist es nicht mehr und nicht weniger als ein richtig gestalteter Feedback-Loop: Die Folgen einer Entscheidung werden klar und eindeutig auf den Entscheider zurückgeführt. Er trägt die Konsequenzen seiner Entscheidung im positiven wie im negativen Sinne. Und wie wir im Prolog zum Thema Rezeptur des Gelingens gesehen haben, führt erst diese Rückführung des Fehler-Signals in den Input der Steuerung zu Stabilisierung. Es ist der Mechanismus, mit dem dynamische Ziele erreicht werden, weil nur dadurch aus Fehlern wirklich gelernt wird. In der Technik sind Feedback-Loops selbstverständliche Elemente einer Steuerung. In der Wirtschaft und Gesellschaft hätten wir leistungsfähigere Organisationen, wenn dieses Prinzip ernster genommen würde. Stattdessen lernen unsere Organisationen tendenziell nur sehr langsam, vor allem wenn sie eine gewisse Größe oder Komplexität erreicht haben. Wir sehen das in den spätestens seit der Wirtschaftskrise 2008 instabil gewordenen und kaum reformierbaren Verwaltungen einzelner Länder in Europa, denen diese Feedback-Loops fehlen. Das

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eindrücklichste Beispiel habe ich im Zuge der Eurokrise in einem Griechischen Ministerium erlebt, in dem das Gegenteil verteilter Steuerung gelebt wurde und scheinbar niemand für irgendetwas verantwortlich war. Die Verteilung von Steuerung ist gerade im Zeitalter des Kopf- oder Wissensarbeiters wichtig, der inzwischen den Großteil einer modernen Wirtschaft ausmacht [4]. Unternehmen bezahlen heute sehr viel für die Kompetenz und das Wissen ihrer Führungskräfte. Sie müssen dieses Wissen deshalb nutzen, auch wenn es weiter weg von den Unternehmenszentralen liegt. Die Produktivität des Wissens ist in der Informationsgesellschaft zu einer relevanten Größe geworden, weil Wissen als Ressource ebenso wertlos ist wie Öl, solange es nicht genutzt wird. Durch die verteilte Steuerung wird es zum Vorteil des Unternehmens genutzt. Die Führungskräfte können ihr ganzes Knowhow fokussiert auf ihre operative Einheit nutzen. Sie sind näher beim Geschäft, kennen die lokalen Zusammenhänge und können deshalb zu schnelleren und besseren Entscheidungen kommen. Neben den Vorteilen der verteilten Steuerung in einer rekursiven Organisationsstruktur braucht das Unternehmen aber auch ein ausgleichendes Maß an Kohäsion des Ganzen. Das bedeutet, dass den Zentrifugalkräften einer fraktalen, selbstorganisierenden Organisation auch Zentripetalkräfte entgegenwirken müssen, die das Ganze zusammenhalten. Je verteilter die Steuerung ist, desto stärker muss das Zentrum sein. Es gibt Fälle, wo eine operative Einheit nicht selber entscheiden kann, weil auch andere Einheiten betroffen sind und es deshalb eine übergeordnete Entscheidung braucht. Und es gibt Fälle, in denen die Pläne einer Einheit beschnitten werden, weil aus Sicht des Gesamtunternehmens die Prioritären anderswo liegen. Hier beginnt die Frage von Autonomie versus Hierarchie, auf die wir in Kap. 7 vertieft eingehen werden, weil sie ein uraltes, scheinbar ungelöstes Problem der Menschheit darstellt. Wie weit darf die Autonomie gehen und wo braucht es den Zusammenhalt? Das Gesetz der Kohäsion formuliert dieses Verhältnis für das Viable System Model. cc The Law of Cohesion (for multiple recursions of the viable system) [5]  The System 1 variety accessible to System 3 of Recursion x equals the variety disposed by the sum of the metasystems of Recursion y (for every recursive pair). Es fällt uns manchmal schwer, rekursive Verschachtelungen auseinander zu halten. Die Rekursionsebenen entsprechen eigentlich den Führungs- oder Managementebenen im Unternehmen. Aus den Organigrammen kann man sie aber nur schwer herauslesen, weil es schwierig ist, Rekursivität zweidimensional darzustellen. Abb. 6.4 zeigt das Viable System Model mathematisch korrekt auf drei Rekursionsebenen. The Law of Cohesion wird etwas verständlicher, wenn wir es in dieser Abbildung durchdenken: Es gilt auf allen Rekursionsebenen, weil es alle Ebenen miteinander verbindet (immer eine Rekursionsebene x mit einer Rekursionsebene y). Und es bedeutet, dass das Senior-Management in System 3 nur die Dinge regeln darf (accessible variety), die die Managementboxen im System 1 nicht

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Abb. 6.4  VSM auf drei Rekursionsebenen (RX bis RZ). (Quelle: Beer [6])

selber regeln konnten und die deshalb übrigbleiben (disposed). Anders ausgedrückt: Die Autonomie der operativen Einheiten wird so weit beschränkt, wie es für die Aufrechterhaltung der Identität des Ganzen nötig ist  – und nur so weit. Das bedeutet wiederum auch, dass Entscheidungen soweit möglich auf der unteren Ebene getroffen werden müssen, die näher bei der Sache ist. Das entspricht dem Prinzip des Föderalismus, also dem Zusammenschluss von operativen Einheiten (zum Beispiel Ländern) zu einer übergreifenden Gesamtheit (zum Beispiel dem Staat), bei dem die operativen Einheiten eine relativ hohe eigene Autonomie und Eigenständigkeit behalten. Es entspricht auch dem Prinzip der Subsidiarität, gemäß dem Aufgaben erst dann von einer übergeordneten Ebene wahrgenommen werden, wenn sie von der untergeordneten, sachnahen Ebene nicht mehr selber wahrgenommen werden können. Die übergeordnete Ebene greift nur subsidiär  ein, also nur unterstützend oder

Literatur

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ersatzweise eintretend. In der Sprache des Viable System Models übernimmt das Senior-­ Management im System 3 bis 5 nur diejenigen Aufgaben, die die operativen Einheiten im System 1 selber nicht wahrnehmen können. Mit der Erfüllung dieser Steuerungsaufgaben generiert es aber den Kohäsionsleim, der das Ganze im Innersten zusammenhält.

Literatur 1. Wiener, Norbert. 2016. Remaining human. Norbert Wiener and the lost science of cybernetics. Film by J. Mitchell Johnson and Robert M. Elfstrom. Abamedia. http://norbertwiener.org/remaining-human. Zugegriffen am 07.10.2019. 2. Beer, Stafford. 1979. The heart of enterprise. The managerial cybernetics of organization, 118. Chichester/New York/Brisbane/Toronto/Singapore: Wiley. 3. Beer, Stafford. 1979. The heart of enterprise. The managerial cybernetics of organization, 40. Chichester/New York/Brisbane/Toronto/Singapore: Wiley. 4. Pfiffner, Martin, und Peter Stadelmann. 2012. Wissen wirksam machen. Wie Kopfarbeiter produktiv werden, 3. Aufl., 39 ff. Frankfurt/New York: Campus/Malik Edition. 5. Beer, Stafford. 1979. The heart of enterprise. The managerial cybernetics of organization, 355. Chichester/New York/Brisbane/Toronto/Singapore: Wiley. 6. Beer, Stafford. 1985. Diagnosing the system for organizations. Chichester/New York: Wiley.

7

Hierarchie und Redundanz potenzieller Führung

Über das richtige Verhältnis zwischen Autonomie und Freiheit auf der einen Seite und Hierarchie und Autorität auf der anderen Seite wurden Kriege geführt. Auch im Management ist das eine der verzwicktesten und scheinbar unlösbaren Fragen. Jedes lebensfähige System braucht, wie wir in Kap. 4 gesehen haben, eine horizontale wie auch eine vertikale Steuerungsachse für ihr Funktionieren. Auch das Unternehmen braucht auf der einen Seite Agilität und Flexibilität, auf der anderen Seite aber auch Kontinuität und Zusammenhalt, welche sich mehr oder weniger einschränkend auf die Freiheit des Einzelnen auswirken. Wo liegt nun das richtige Verhältnis oder der richtige Kompromiss? Typischerweise werden in dieser Frage hauptsächlich ideologische Meinungen vertreten. Die einen sagen, dass die Menschen eine starke Führung wollen und brauchen, und dass man am Beispiel China sehe, wie erfolgreich eine hierarchische Struktur gegenüber unseren langsamen, westlichen Demokratien sei. Die anderen wehren sich vehement gegen das Beschneiden von Freiheit, weil sie diese als das höchste Gut in einer Gesellschaft betrachten. Sie erinnern an die geschichtlichen Katastrophen, die auf Diktaturen zurückzuführen sind. Tatsächlich finden wir für beide Steuerungsformen erfolgreiche Beispiele. Ob etwas funktioniert hängt nicht davon ab, ob es hierarchisch oder autonom gesteuert ist, sondern ob das Steuerungssystem per se funktioniert. Wenn es das tut, findet es die für seine Situation richtige Balance zwischen Hierarchie und Autonomie, weil das zu den Funktionen eines Steuerungssystems dazugehört. Tendenziell scheint man heute dennoch davon auszugehen, dass im Zeitalter des Wissens Hierarchie grundsätzlich eher hinderlich ist, da sie zwar zum Steuern von Kanonen und Panzern brauchbar war, die Steuerung von Intelligenz und Information aber anders funktioniere als die von Energie und Materie. Ist das wirklich so? Müssen wir uns von der Hierarchie befreien? Zweifelsfrei wurde und wird Freiheit und Autonomie immer wieder unnötigerweise, und oftmals auch aus unlauteren Gründen, beschnitten. Und selbstverständlich erfolgt das immer in einer Form von hierarchischem Druck, von der sanften Autorität bis hin zur

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Pfiffner, Die dritte Dimension des Organisierens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29247-8_7

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harten Repression. Der Widerstand gegen diese Unterdrückung von Freiheit ist ein uraltes Thema der Menschheit. Das Wort Hierarchie ist deshalb grundsätzlich in Verruf geraten, auch weil es mit dem Elfenbeinturm-Syndrom delegierter (statt verteilter) Verantwortung in Verbindung gebracht wird, und mit Bürokratie und Langsamkeit. Das Unternehmen ohne Chef ist deshalb eine immer wieder neu aufflackernde, faszinierende Idee. Auch die aktuellen hierarchiefreien Organisationsmodelle versprechen Agilität, Innovationskraft und motivierte Mitarbeiter. Sie fokussieren auf die horizontale Steuerungsachse und sie befördern die Idee von Selbststeuerung als Alternative zur ungeliebten, hierarchischen Steuerung. Das ist falsch, denn die beiden Steuerungsformen sind keine Kontradiktionen. Sie ergänzen sich zu einem funktionierenden Ganzen. Warum also hat auch diese vertikale Steuerungsachse ihre Berechtigung? Hierarchien sind aus Gründen der Logik nötig, wenn große Systeme organisiert werden. In den Naturwissenschaften und in der Philosophie ist das unbestritten. Wenn Hierarchie aber in menschliche Bereiche übersetzt wird, scheint es plötzlich nur noch um Macht und Dominanz zu gehen. Das führt dazu, dass man die echte Natur und Bedeutung von Hierarchien in einem System aus den Augen verliert [1]. Wenn man den Grund für Hierarchie an Stelle von Status und Macht in der Relevanz von Information sucht, betrachtet man die Situation auf einmal mit anderen Augen. In natürlichen Systemen werden Entscheidungen da gefällt, wo die relevante Information ist, nämlich in ganz vielen im Organismus verteilten Stellen. Das leuchtet ein, denn eine gute Entscheidung setzt eine gute Informationsbasis voraus. Auf einem Flug hat beispielsweise der Pilot die Entscheidungshoheit, obwohl er dem Chef der Fluggesellschaft hierarchisch unterstellt ist. Nur er kennt die Situation vor Ort und in der Luft gut genug, und nur er verfügt über relevante Information, damit in einer kritischen Situation die richtige Entscheidung getroffen werden kann. Wenn sich der Flug dem Flughafen nähert, folgt der Pilot hingegen den Anweisungen des Towers, obwohl der Fluglotse dem Piloten in Sachen Status und Gehalt klar nachsteht. Denn in diesem Moment verfügt der Tower über die relevante Information, wie der Pilot in das Gefüge der anderen, an- und abfliegenden Flugzeuge hineinpasst. Er entscheidet, und der Pilot folgt dieser Entscheidung. Das Kommandozentrum verlagert sich immer an die Stelle, wo am meisten Information ist. cc

In einem lebensfähigen System ergibt sich Hierarchie aus der Relevanz von Information (nicht aus Status und Macht).

Wenn sich Hierarchie also aus der Relevanz von Information und nicht aus Status und Macht ergibt, erhält sie einen anderen Charakter. Man erkennt, dass sie notwendig ist, damit etwas funktionieren kann. Wir müssen diese zwei Arten von logischer und physischer Hierarchie klar auseinanderhalten. In der Organisationsliteratur gerät die Hierarchie immer wieder einmal in Verruf, wobei dann auf die physische, soziale Hierarchie gezielt wird. Wir sollten aber das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Hierarchie ist nicht a priori etwas Bösartiges, solange sie aus dem richtigen Grund und im richtigen Maß installiert ist. Die Frage ist nicht, ob wir Hierarchie brauchen, sondern wozu und in welchem Maß wir sie brauchen.

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In der Kybernetik spricht man vom Meta-System, das im logischen Sinne hierarchisch über anderen Systemen steht, weil diese manche Dinge nicht selber tun oder gewisse Fragen nicht selber beantworten können. So verfügt im Viable System Model das jeweilige Senior-Management in seinem System 3 bis 5 über relevante Information für das Treffen übergeordneter Entscheidungen, die die Autonomie seiner operativen Einheiten im System 1 hierarchisch einschränken. Eine System 3-Entscheidung kann beispielsweise die Priorität von einer operativen Einheit auf eine andere verlagern und dazu Ressourcen umverteilen, weil es aus Sicht des Ganzen richtig ist. Eine Information aus dem System 4 kann verhindern, dass das Unternehmen in Schwierigkeiten gerät, weil es auf einen größeren Zeithorizont blickt als die operativen Einheiten. Oder sie bewirkt, dass eine Chance genutzt wird, welche die operativen Einheiten selber nicht erkannt hätten, weil das System 4 eine größere Umwelt im Auge hat. Hierarchie kann Leben retten, wenn eine schnelle Entscheidung zur Kehrtwendung des Ganzen nötig ist. Das Senior-Management handelt in diesem Sinne immer als meta-systemischer Dienstleister für das Unternehmen, um Adaption, Synergie und Kohäsion aller Einheiten zu gewährleisten. Das ist etwas anderes als das klassische Verständnis von Top-Down-Hierarchie. Der oberste Manager ist nicht die wichtigste Person, sondern der höchste Diener im Unternehmen – im Dienst an der Sache und an der gemeinsamen Mission. Der klassische, traditionelle Unternehmer hat sich selbst schon immer so verstanden. Der Zusammenhalt des Ganzen, die Kohäsion, entsteht primär durch den Planungsprozess mit rekursiver Logik. Wenn ein System auf einer übergeordneten Rekursionsebene einem anderen System auf der untergeordneten Ebene einen Rahmen vorgibt, innerhalb dem es frei operieren kann, handelt es im logischen Sinne der Hierarchie relevanter Information. Es ist der logische Zweck dieses Systems, diesen Rahmen vorzugeben. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn die Verfassung des Bundesstaates den Ländern den Rahmen vorgibt, in dem sie sich bewegen dürfen. In der Praxis sind das meistens Planungsprozesse, in denen Entscheidungen zwischen den Rekursionsebenen ausgehandelt werden. Die Konzernstrategie gibt beispielsweise den Rahmen vor, innerhalb welchem die Divisionen ihre Divisionsstrategie entwickeln können, oder umgekehrt, die Divisionen reichen ihre Strategien auf Konzernebene ein, wo man sie allenfalls anpasst, wenn sie sich nicht sinnvoll zu einer Konzernstrategie ergänzen. Das Gleiche gilt für operative Planungsprozesse wie die Budgetierung oder die Zielvereinbarungen zwischen allen Rekursionsebenen. Aus Sicht entgegenstehender Interessen ist Hierarchie immer ein zweischneidiges Schwert und die Diskussion darüber meistens nicht mehr als ein ideologisch geführter Disput. Aus Sicht des Funktionierens von einem größeren Ganzen ist sie hingegen einleuchtend. In einem lebensfähigen System ist Hierarchie eingebettet und verteilt über die Architektur des ganzen Systems und über alle Managementebenen hinweg, statt an einer Stelle konzentriert. Sie erfüllt eine logische und notwendige Funktion. Das Gesetz der Kohäsion hat uns oben gezeigt, dass die Autonomie nur soweit eingeschränkt werden darf, wie es zur Aufrechterhaltung der Identität des Ganzen nötig ist. Identität und damit auch Zweck des Ganzen sind deshalb der erste, legitime Grund zur Einschränkung von Autonomie. Im System 5 wird dieser Zweck festgelegt: Warum arbeiten wir zusammen

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und warum gibt es uns überhaupt? Welchen Bedarf wollen wir am Markt abdecken? Mit welchen Stärken und Überzeugungen tun wir dies? Worin erkennen wir einen Nutzen und Sinn in unserer Tätigkeit, und woraus gewinnen wir unseren Selbstrespekt und mobilisieren unsere Leistungsreserven, wenn es nötig ist [2]? Dieser Zweck, die Mission des Unternehmens, ist die normative Leitplanke für alles, was getan wird. Wenn es im tatsächlichen Handeln Abweichungen davon gibt, sollte das System 5 das merken und im hierarchischen Sinne handeln können. cc

Autonomy is a computable function of the purpose of a viable system [3].

Der andere Grund für die Einschränkung von Autonomie ist die Aussicht darauf, gemeinsam stärker zu sein. Dafür ist das System 3 zuständig, welches das Ganze optimiert und Synergien nutzt. Gerade das Verfolgen gemeinsamer Markt-, Produkt- oder Konstruktionsstrategien und die Nutzung von Synergien kann die Autonomie aber empfindlich einschränken. In der Stadt Zürich hatte nach der Jahrtausendwende jede der 80 Dienstabteilungen in den neun Stadt-Departementen seine eigene IT. Die 80 IT-Landschaften waren größtenteils inkompatibel, und so hatte die Stadt viel Informationstechnologie, aber keine Information, mit der sie ihre System 3-Aufgabe hätte wahrnehmen könnten. Also musste sie die Autonomie der Dienstabteilungen in Sachen IT einschränken, was ohne eine gewisse hierarchische Durchsetzungskraft nie gelungen wäre; die Stadt hätte noch heute keine Zahlen. Auch Volkswagen hätte seine berühmte Plattformstrategie bei ihren Marken Audi, Seat und Skoda ohne Hierarchie kaum durchsetzen können. Das übergeordnete Ziel waren Kosteneinsparungen, aber für die Marken und ihre Konstrukteure war es primär ein unangenehmer Eingriff in ihre unternehmerische und gestalterische Freiheit. Das Viable System Model ist in diesem Sinne ein logisch-hierarchisches System. Unabhängig von ideologischen Vorstellungen oder persönlichen Interessen hilft es herauszufinden, wo und in welchem Maß die Autonomie des Einzelnen zum Wohle des Ganzen eingeschränkt werden darf. Es hilft zu erkennen, wie viel Kraft auf der vertikalen Steuerungssachse in der aktuellen Situation nötig ist, und wieviel Kraft der horizontalen Steuerungsachse übertragen werden kann. Dabei gibt es kein eindeutiges „je mehr desto besser“ und keine ideologische Lösung, sondern nur eine passende Balance für die aktuelle Situation. Wir werden diese Sichtweise in Kap. 11 „Führbar oder nicht?“ aus der Frage heraus vertiefen, wieviel Autonomie im Unternehmen maximal verkraftbar ist. Komplexitätsbetrachtungen werden uns helfen, eine Situation unabhängig von Paradigmen nüchtern und präzise zu beurteilen und mit Komplexitätsüberlegungen werden wir auch die maximal mögliche Verflachung der Organisation messen können und die Frage beantworten, welche Aufgaben dezentral und welche zentral organisiert werden müssen. Wie bei der Frage von Autonomie versus Hierarchie geht es auch da um das Bestimmen des richtigen Maßes in der aktuellen Situation. Glaubenskämpfe, Modewellen und Paradigmen sind unnötig. Zur Hierarchie aus der Relevanz von Information gehört auch, dass nie ein System über die Angelegenheiten eines anderen Systems entscheidet. Ein System 5 entscheidet zum Beispiel nicht für Angelegenheiten der Systeme 3 oder 4. Akteure können hingegen in

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mehreren Systemen tägig sein und dort Entscheidungen treffen. Eine Führungskraft kann beispielsweise gleichzeitig Verantwortung für eine operative Einheit im System 1 tragen und auf Gruppenebene in der erweiterten Geschäftsleitung im System 3 tätig sein. Auch der Schreiner in meinem Dorf erfüllt mehrere Systemaufgaben gleichzeitig. Er hat ein kleines Unternehmen mit etwa fünfzehn Mitarbeitern aufgebaut. Seine operativen Einheiten sind die Kundenprojekte, in denen er zum Teil selber mitarbeitet. Er ist also im System 1 tätig. Zudem erfüllt er alle System 3- bis 5-Aufgaben im Senior-Management in Personalunion. Es gibt niemanden, der das sonst für ihn machen würde. Wenn nun ­Führungskräfte verschiedene Steuerungsaufgaben in verschiedenen Systemen auf verschiedenen Rekursionsebenen wahrnehmen, führt das leicht zu Konfusion. Wir haben über dieses Problem bereits in Abschn.  3.7 „Verschachtelung übersehen“ gesprochen. Es ist ihnen nicht immer klar, welchen Hut sie jetzt gerade aufhaben und welchen sie aufhaben sollten: Auf welcher Rekursionsebene befinde ich mich, wenn ich das sage? Beurteile ich die Situation so, wie ich sie als Leiter der operativen Einheit sehe, oder wie ich sie als Vertreter der erweiterten Geschäftsleitung sehen sollte? Wenn ich eine strategische Meinung vertrete, sehe ich das dann aus Sicht der Gesamtgruppe, oder will ich es so sehen, weil es der Strategie meiner eigenen operativen Einheit dienlich ist? Und schließlich: Treffe ich meine Entscheidungen wirklich auf der richtigen Rekursionsebene, oder verliere ich mich irrtümlicherweise im Micro-Management? Wir kennen diese Problematik auch vom sogenannten „Peter-Prinzip“ demzufolge erfolgreiche Leute so lange befördert werden, bis sie keinen Erfolg mehr haben. Dort tun sie das, was ihnen zuletzt Erfolg gebracht hat, nämlich das, was auf der tieferen Rekursionsebene zu tun war [4]. Die Steuerungsfunktionen sind zwar auf allen Rekursionsebenen die gleichen, aber die Aufgaben und Inhalte sind ganz andere. Der Umgang mit verschiedenen Hüten, und die Fähigkeit, Rekursionsebenen auseinander zu halten, sind eine Herausforderung für Führungskräfte, der sie sich stellen müssen. Gerade in komplexeren Organisationen ist es der Kohäsion dienlich, wenn die Führungskräfte aus der Froschperspektive ihrer operativen Einheit herausgehoben werden, indem sie auch Aufgaben auf der übergeordneten Ebene übernehmen. Das gibt ihnen ein besseres Verständnis für das Ganze. Es hilft ihnen einzusehen, warum gewisse Einschränkungen aus der Vogelperspektive heraus gesehen richtig sind. Außerdem haben wir ge­ sehen, dass Systeme, die wie Gehirne funktionieren, nicht als pyramidenförmige Kommandostrukturen aufgebaut sind, die wie Stammbäume aussehen. Eine rekursive Hierarchie mit verteilter Steuerung kann bei Bedarf das Kommandozentrum sofort dahin verlagern, wo momentan die meiste Information ist. In unserem Gehirn werden diese Informationsknotenpunkte „a centre of potential command“ genannt [5]. Der Informationsfluss bestimmt, welche Verknüpfung gerade relevant ist und deshalb das aktuelle Kommandozentrum stellt. Der Helikopterpilot der schweizerischen Rettungsflugwache REGA ist beispielsweise ein solches potenzielles Kommandozentrum. Er verfügt über die hierarchische Entscheidungsgewalt, ein Rettungsmanöver am Matterhorn wegen Sturm abzublasen. Nur er verfügt in einer kritischen Situation über relevante Information für eine solche Entscheidung. Im Notfall übernimmt er deshalb das Kommando von der Einsatz-

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zentrale. Einmal mehr ist es der Besitz von Information und nicht die verliehene Autorität, die zum Handeln berechtigt. cc The Principle of Potential Command [6]  Power resides where Information resides. Die Redundanz solcher Zentren potenzieller Führung ist ein weiterer massiver Schutz der Organisation und ein Mechanismus für ihre Funktionssicherheit. Fällt ein Zentrum aus, übernimmt sofort ein anderes Zentrum die Aufgabe. Redundanz besteht, damit Systeme robust gegen Fehler werden und aus ihnen lernen können (vgl. Abschn. 3.6). Unser Organismus verfügt deshalb über jeweils zwei Gehirnhälften, Augen, Ohren, Lungen, Atemeingänge, Nieren, Beine und Hände. Fällt ein Element aus, kann das System eingeschränkt weiterarbeiten. In der Technik sorgen redundante Systeme für Funktionssicherheit. Die Ingenieure des Eurofighters erklärten mir, dass sie in den Militärflugzeugen eine sechsfache Redundanz bei den Avionik Computern vorhalten, damit sich das Flugzeug selbst bei gleichzeitigem Ausfall von mehreren Systemen in der Luft halten kann. Nicht nur im Gehirn und in der Technik, sondern auch in den sozialen Systemen kommt das Prinzip der Redundanz potenzieller Führung zur Anwendung. Beispielsweise soll  der Britische Admiral Lord Nelson, der bei der Schlacht von Trafalgar 1805 der Französisch-­Spanischen Flotte eine verheerende Niederlage beibrachte, das Prinzip folgendermaßen genutzt haben: Da man im Kanal zwischen den britischen Inseln und Frankreich immer wieder wegen dichtem Nebel die Sicht verlor, konnte das Kommandoschiff der Royal Navy für längere Zeit ausfallen. In diesem Fall musste das Kommando automatisch an dasjenige Schiff übergehen, welches gerade nicht im Nebel steckte. Denn nur es verfügte über Information und so wurde das Kommandozentrum sofort verlagert. Das wiederum bedeutete, dass jeder Kapitän eines Schiffes auch in den Steuerungsfunktionen eines Admirals ausgebildet sein musste, denn er übernahm in diesem Fall sofort das Kommando über die ganze Flotte, und nicht nur über ein einzelnes Schiff. Umgekehrt musste auch jeder Offizier auf einem Schiff zusätzlich in den Steuerungsfunktionen eines Kapitäns ausgebildet sein, damit sofort alles nachrücken kann. Diese Doppelausbildungen in verschiedenen Funktionen auf verschiedenen Rekursionsebenen sorgten erstens dafür, dass das Kommandozentrum der Flotte bei Bedarf sofort verlagert werden konnte und dass auch ein gefallener Kapitän oder Admiral sofort ersetzt werden konnte, ohne das Funktionieren des Ganzen dadurch zu gefährden. In unseren Unternehmen nutzen wir das Prinzip der Redundanz potenzieller Führung, indem wir Führungskräfte frühzeitig in die Aufgaben der nächsthöheren Rekursionsebene einbeziehen, damit sie auch mit den Steuerungsfragen dieser Ebene vertraut werden. Die Führungskräfte werden so daran gewöhnt, verschiedene Hüte zu tragen, und der Kadernachwuchs wird rechtzeitig aufgebaut. Es kann sein, dass dieses Potenzial redundanter Führung plötzlich gebraucht wird, wenn das Unternehmen in den Krisenmodus schaltet. Schon im Normalmodus scheint es nie genügend Führungskräfte im Unternehmen zu geben, denn die meisten Pläne, die niemals umgesetzt wurden, scheiterten nicht am Geld, sondern an der fehlenden Manpower. Mit dem Aufbau von potenzieller Führung kann man deshalb nicht früh genug beginnen.

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Abends an der Bar Rachel: Marc: Sandra:

Ich glaube, dein Viable System funktioniert nicht so richtig, Marc. Ach ja? Und warum? Auch heute wieder Eis im Whisky? Trotz des klaren Widerspruchs gestern Abend? Da scheint etwas Sand in deinem System 4-Getriebe zu sein. Rachel: Genau. Man nennt es einfach auch: Nicht lernfähig! Marc: Mein System 4 funktioniert wunderbar, denn erstens rede ich mit euch und das ist System 4-Kommunikation nach außen, und zweitens hat mein System 5 entschieden, dass ich grundsätzlich nicht auf euch zwei höre. Ihr wisst ja: Leitplanken für das System 4 und so …. Sandra: Richtig. Man soll in strategischen Fragen nie auf andere hören. Und schon gar nicht auf Mehrheiten. Wenn der zitierte Henry Ford auf Mehrheiten gehört hätte, hätte er schnellere Pferde gezüchtet. Rachel: (Lacht) Stimmt. Damals war nicht nur Organisation, sondern auch Strategie noch eine Frage von Talent. Strategie wurde erst in den 80er-Jahren so richtig zum Thema. Heutzutage finde ich es aber schon wichtig, andere Meinungen zu hören, bevor man sich für etwas Geschmackloses entscheidet, Marc. Marc: Ihr kommt mir vor, wie die heilige Inquisition: Mischt euch in Dinge ein, die euch gar nichts angehen. Wie dieses System 3*. Rachel: Warum 3*? Das ist doch ein Informations- und nicht ein Interventionskanal? Niemandem werden Daumenschrauben angelegt. Und außerdem operiert 3* mit dem Einverständnis der operativen Einheit. Marc: Hm? Rachel: Wenn Sandra als Chefin zum Beispiel eine Projektbaustelle bei einem Kunden in Spanien besucht und dort mit den Leuten redet und ihnen zuhört, sieht sie, was läuft. Sie sieht Dinge, die korrigiert werden müssen. Das heißt aber nicht, dass sie am Vorgesetzten vorbei interveniert und selber Korrekturen vornimmt. Denn das ist ja der Job des Vorgesetzten. Sandra: Genau. Das käme mir nie in den Sinn. José, mein Geschäftsleiter in Spanien würde das Gesicht verlieren. Einmal habe ich das gemacht – und lag am Ende sogar falsch. Das gab Ärger. Heute merke ich mir, was ich sehe, verschaffe mir vielleicht ein vollständigeres Bild, und dann bespreche ich das mit José. Und wenn dann eine Aktion nötig ist, macht das José. Er freut sich immer, wenn ich ihn besuche. Marc: Jeder „freut“ sich, wenn ihn der Chef besucht. Okay, das heißt dann, du bist System 3 und dein Geschäftsleiter José ist das System 1? Rachel: Hallo? Hast du auch ein wenig aufgepasst? Du kannst nicht sagen: „Du bist System 3“. Das Viable System Model ist kein Organigramm. Also kannst du auch nicht einen Namen in eine Box hineinschreiben.

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Marc: Rachel:

7  Hierarchie und Redundanz potenzieller Führung

Was denn sonst? Das Modell ist nicht auf Menschen zentriert, sondern auf Steuerungsfunktionen. Dazu gehören halt alle Dinge, durch die optimiert wird. Es kann sein, dass nur eine Person System 3 macht, oder dass Hunderte das zusammen machen. In unserer Firma gibt es zum Beispiel neben den zwei Geschäftsleitern auch noch eine erweiterte Geschäftsleitung, ein Gremium mit sieben Personen. Marc: Ist das nicht eher ein Organ? Rachel: Wenn es entscheidet, ist es ein Organ, wenn es nur berät, ist es ein Gremium. Marc: Das heißt, die erweiterte Geschäftsleitung entscheidet bei euch nicht, sondern nur die Geschäftsleitung? Rachel: Das ist richtig. Aber erst, nachdem sie sich unsere Meinungen angehört hat. Sandra: Du bist Mitglied der erweiterten Geschäftsleitung? Ich dachte, du bist Business Unit Leiterin? Rachel: Ja, und seit ein paar Wochen auch Mitglied der erweiterten Geschäftsleitung. Marc: Gratuliere! Rachel: Danke. … und zweitens kannst du auch nicht sagen: José ist System 1. Sandra: Du meinst, er ist nur die Managementbox von System 1? Rachel: Er ist verantwortlich für die Managementbox in einer der operativen Einheiten im System 1. So muss man das sagen. Marc: Richtig, weil ein System 1 immer aus mehreren operativen Einheiten besteht. Sandra: Naja, aber der Getränkehändler in meinem Dorf hat nur einen Laden. Da scheint es nur eine operative Einheit zu geben? Marc: Das geht nicht. Rachel: Stimmt, es braucht immer mindestens zwei operative Einheiten, sonst müsste ja nichts zwischen denen koordiniert oder optimiert werden. Marc: Genau. Die operativen Einheiten steuern sich selbst. Also braucht es erst dann eine höhere Steuerung, wenn sie mindestens zu zweit sind. Sandra: Sobald man zu zweit ist, fängt der Ärger an. Dann heißt es Rücksicht nehmen, tolerant sein, sich abstimmen und Konflikte austragen. Marc: Weiß Gott! Aber es heißt auch, Dinge zusammen zu erleben, die man alleine nicht erleben könnte. Das Meta-System hat seinen eigenen Zauber. Rachel: Jetzt wird’s mir zu romantisch. Das nennt man Synergie. Sandra: Uuuhhh! Zurück zum Getränkehändler: Dann sind seine operativen Einheiten also was? Rachel: Kommt darauf an. Vielleicht Softdrinks, Sprudel und Spirituosen? Marc: Genau, zurück zum Thema: Ihr seht also, meine Selbststeuerung funktioniert wunderprächtig. Die Leber macht ihren Job und mein System 4 hat in weiser Voraussicht entschieden, dass es auch heute wieder Whisky on the rocks sein soll. Rachel: Da hast du recht, das Viable System kann nichts für Fehlentscheidungen. Marc: … Jaja, wirklich witzig! Sandra: Warum?

7  Hierarchie und Redundanz potenzieller Führung

Rachel:

Marc: Sandra:

Rachel:

Sandra: Rachel:

Marc:

Sandra:

Rachel:

Sandra:

Marc:

Sandra:

David: Marc:

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Weil es ein Steuerungssystem ist. Es muss vollständig ausgebildet sein und es muss funktionieren. Aber was damit entschieden wird, hängt von den Leuten ab, die es benutzen. Also, dann nehme ich jetzt noch ein Bier. Das hat was. Ein Flugzeug kann ein perfekt funktionierendes Steuerungssystem haben, und der Pilot kann dennoch falsche Entscheidungen treffen – oder sich sogar entscheiden, es abstürzen zu lassen. Genau. Ein funktionierendes Steuerungssystem kann man erstens gut oder schlecht und zweitens zum Guten oder zum Schlechten einsetzen. Man kann es für die Heilung von Kindern einsetzen, ebenso wie für eine Terroraktion. Was vermutlich auch schon gemacht wurde. Meinst du, die Mafia benutzt das Viable System Model? Keine Ahnung. Aber wenn ich an die 9/11-Attacken denke, scheint viel Kybernetik dahinter zu stecken: Sich selbststeuernde Einheiten, die sich zu einem höheren Zweck verbinden, Nutzung feindlicher Kräfte und so weiter. Stimmt eigentlich. Eine solche Aktion zu planen und durchzuziehen ist eine große Steuerungsaufgabe in einem sehr komplexen Umfeld. Hinter einer Aktion, die ihr Ziel erreicht, muss offensichtlich ein funktionierendes Steuerungssystem stehen – ob man es kennt oder nicht. Also das irritiert mich noch immer: Warum gibt es in der Geschichte und auch heute so viele erfolgreiche Organisationen, wenn keiner das Viable System Model gekannt hat? Wenn das Modell so wichtig ist, müssten die es ja gekannt haben. Oder heutige Organisationen dürften nicht ohne es funktionieren. Sie funktionieren ja auch nicht, wenn ich mir die ganzen Miseren anschaue. Aber das ist nicht der Punkt. Ich glaube nicht, dass man dieses Modell kennen muss, um etwas richtig zu machen – in diesem Fall eine funktionierende Steuerung zu bauen. Man kann Dinge auch richtig tun, ohne erst darüber ein Buch gelesen zu haben. Oder hast du etwa ein Buch lesen müssen, damit du eine gute Mutter sein konntest? Naja, für einige Mütter wäre so ein Buch vielleicht nicht schlecht. Ich habe halt mein Bestes gegeben, was neben dem Familienunternehmen sicher nicht immer einfach war. Ich glaube, ich weiß jetzt, was du meinst. Viele Organisationen waren in der Vergangenheit erfolgreich, ohne dass sie dieses Modell gekannt haben, weil sie von Leuten mit viel Talent und Erfahrung für das Organisieren gebaut wurden. Sie haben einfach so die Dinge richtig gemacht. Aber wir haben nicht genug Erfahrung und Talent in der Gesellschaft verfügbar, um jede einzelne Organisation damit versorgen zu können. Deshalb sind Modelle hilfreich, weil sie gelehrt und gelernt werden können. Um den Bedarf abzudecken. Darf ich stören? Hey David, alles klar bei dir?

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David: Rachel: David: Rachel: Sandra: Rachel: David:

Rachel:

Sandra: Rachel: Marc: Sandra:

David:

Rachel: David: Marc:

7  Hierarchie und Redundanz potenzieller Führung

Prima. Hab nur gehört, dass ihr von „Modellen“ und „Bedarf“ redet? Das klang irgendwie interessant …. Haha, witzig (verdreht die Augen). Du kommst als Pilot gerade recht. Wir haben von Flugzeugabstürzen und von Mutterschaft gesprochen. Ach so … Ach, ich glaube, ich muss gleich nochmal weg …. … Und davon, dass man Modelle, Theorien, Prinzipien und Gesetze nicht kennen muss, solange man sie befolgt. Ich habe jedenfalls noch keine Vorstellung davon, wie mir dieses Modell etwas nützen soll. Es ist ja interessant, aber auch verwirrend. So ist das mit guten Modellen: Am Anfang ist man verwirrt, und danach hat man Klarheit. Mit schlechten Modellen ist es umgekehrt. Also das mit den Modellen finde ich auch immer etwas schwierig. Wir benutzen für die Luftstraßen zwar die besten elektronischen Karten, die es wohl auf der Welt gibt, aber selbst die müssen immer wieder aktualisiert werden. The map is not the territory – stimmt schon. Picasso hatte mal Besuch von einem Kunsthändler der ihn fragte, warum er denn die Welt eigentlich nicht so male, wie sie wirklich ist. Picasso fragte ihn zurück, was er damit meine. „Naja, so wie sie objektiv aussieht“, sagte der Kunsthändler. „Schauen sie hier. Ich habe hier ein Foto von meiner Frau, so wie sie wirklich ist.“ Picasso schaut drauf: „Hübsch ist sie. Aber ein bisschen klein, und auch ein bisschen flach …“. (lacht) … Aber überlegt doch mal: Die Menschen sind mit Gravitation umgegangen, bevor sie das Gesetz dahinter verstanden. Und Lord Nelson hat sein Prinzip von der Redundanz potenzieller Führung sicher auch nicht dem Gehirn abgeschaut. Er wusste aus Erfahrung, was er tat. Umso imponierender ist es, dass das, was bei Nelson funktioniert, auch in unserem Gehirn genau gleich funktioniert. Weil es eben ein Prinzip ist, und Prinzipien gelten überall. Du Prinzipienreiterin. Also David: Dann interessiert mich einmal, wie das bei Euch mit der Verantwortung auf einem Flug geregelt ist? Bist du als Pilot nicht am Ende alleine für alles verantwortlich? Klar, das bin ich. Aber für die Vorgänge in der Kabine ist der Kabinenchef verantwortlich. Da kenne ich mich ja nicht aus. Und für die Reinigung, das Laden und Entladen gibt es auch eigene Verantwortliche. Ich und mein Kopilot fliegen und steuern alles um den Flug herum. Also leitest du in VSM-Sprache die operative Einheit Fliegen und gleichzeitig im Senior-Management den Flug als Ganzes. Könnte man so sehen. Die meiste Arbeit mit dem Fliegen übernimmt allerdings mein Kopilot. Damit ich mich auf alles andere konzentrieren kann. Und wir haben Redundancy of Potential Command! Der Kopilot könnte das Flugzeug auch alleine fliegen.

7  Hierarchie und Redundanz potenzieller Führung

David:

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Richtig, und er könnte auch alle meine anderen Aufgaben übernehmen, wenn es sein müsste. Und manchmal wechseln wir uns auch mit den Aufgaben ab, zu Trainingszwecken. Marc: Das Kommandozentrum kann je nach Bedarf also wechseln. Das ist auch ein Aspekt der Sicherheit. Es macht die Steuerung robust. Sandra: Wohl dem, der sich’s leisten kann! Die Redundanz potenzieller Führung klingt für mich vor allem einmal nach hohem Aufwand. Marc: Ja sicher. Das ist der Preis für die Funktionssicherheit. Ihn nicht zu bezahlen, wäre am Ende teurer. Was meinst du, wie viel Geld unsere Versicherung in die Cybersecurity investiert, damit die Technik sicher funktioniert? Wie schön wäre es, wenn auch die Führung so sicher funktionieren würde. Sandra: Aber hast du deine Gesamtverantwortung jetzt delegiert oder verteilt, David? Rachel: Verantwortung kann man nicht delegieren. Nur die Aufgabe und die Kompetenzen dazu. Aber wofür man verantwortlich ist, bleibt man mindestens teilweise verantwortlich. Es ist also ein Verteilen von Verantwortung. Schließlich muss ja nicht jeder für alles verantwortlich sein. David: Das macht Sinn. Ich könnte die Arbeit in der Kabine oder beim Beladen nicht selber machen, und wenn es delegierte Verantwortung wäre, müsste ich ja selbst etwas davon verstehen. Wenn ich denen in die Arbeit reinreden würde, gäbe das eine Adhokratie, die keiner Hierarchie vorzuziehen wäre. Die Prozesse sind ja auch je nach Flughafen immer etwas anders. Sandra: So langsam kapiere ich den Unterschied. Marc: Ich sehe das auch als verteilte Verantwortung. Wenn ich das richtig verstanden habe, bist du aber auch für die nächsthöhere Rekursionsebene, also den Flug als Ganzes, verantwortlich und hast dort das letzte Wort. Du arbeitest einerseits mit deinem Kopiloten in der Managementbox der operativen Einheit „Fliegen“ und zugleich machst du System 2, 3 und 4 für den „Flug“ als Ganzes, inklusive Kontrolle,  dass am Boden alles sauber  erledigt ist. Und wenn es eine letzte Entscheidung braucht, triffst du sie als System 5. David: Genau. Das mit den Rekursionsebenen macht schon Sinn. Aber ich habe mir das für die Familie nochmals überlegt. Sandra: Du bist doch geschieden? David: Eben. Ich sehe drei Rekursionsebenen: Das Familienmitglied, die Familie, und die Familie darum herum. Und alle drei Ebenen haben Einfluss darauf, ob die Familie funktioniert. Marc: Klar: Ein vernetztes System, in dem jeder auch für sich selbst verantwortlich ist. David: Ich glaube, das ist das Kernproblem. Sandra: Was? David: Dass man diese Rekursionsebenen schlecht auseinanderhält: Was ist wichtig, damit ich als David funktionieren kann? Was ist wichtig, damit die Familie funktionieren kann? Und was braucht es, damit es auch noch mit den Eltern und Geschwistern klappt, also mit der Familie drumherum?

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Sandra:

7  Hierarchie und Redundanz potenzieller Führung

Aber ja, wir alle sehen vor allem unsere eigene, aktuelle Rekursionsebene. Es braucht Reife, um höhere Rekursionen zu erkennen. Kennt ihr die Geschichte von den Zwillingen in der Gebärmutter? Marc: Lass hören. Sandra: Sie unterhalten sich darüber, ob es wohl ein Leben nach der Geburt gibt, in dem alles anders sein wird. Der eine sagt, dass sie dann wohl endlich „Mutter“ sähen, die permanent um einen herum sei, einen liebe und ernähre und deren Herzschlag man höre, wenn es ganz still sei. Der andere: „Siehst du hier vielleicht irgendwo eine Mutter?“ Rachel: Ja, zum Erwachsenwerden gehört die Entdeckung immer höherer Rekursionsebenen. Und im Alter geht’s dann wieder zurück, dann wird die Welt wieder kleiner. David: Und jede Rekursionsebene will gepflegt werden und verlangt einen Beitrag von uns. Das kann anstrengend werden. Rachel: Menschen sind nun mal anstrengend. Wenn man eine Messgröße für Liebe finden müsste, wäre es das Maß, wie sehr man den Anderen stärkt. Das war mir lange nicht klar. Darum wollen Eltern ja, dass ihre Kinder selbstständig werden. Marc: Als ich mit sechzehn meinem Vater erklärt hatte, dass ich ab jetzt selbstständig bin, war der aber nicht begeistert. Ich glaube, er dachte wohl eher an delegierte Verantwortung, die er eigentlich lieber wieder zurückhaben wollte. Rachel: Die Autonomie wird schrittweise größer. Da müssen sich alle erst daran gewöhnen. Sandra: Und kaum ist die Nabelschnur zerschnitten, geht es schnell. Zuerst entdecken sie das „Nein“, dann sind sie anfangs nur tagsüber und dann auch abends aus dem Haus, und am Schluss meinen sie, sie seien erwachsen, weil sie inzwischen über das Zivilrecht Bescheid wissen. David: Und dann wollen sie plötzlich deine Autoschlüssel. Das ist relative Autonomie. Und wo die aufhört ist eben die Frage: Was brauche ich, was braucht die Familie und was brauchen die Familien darüber. Wenn die Familie funktionieren soll, muss auch die Rekursionsebene darunter und darüber funktionieren. Sandra: Und da muss ab und zu eben in beide Richtungen aktiv nachgesteuert werden. David: Bei den Erwachsenen ist das heikel. Rachel: Du meinst deine Ex-Frau? Offenbar fandet ihr nicht die richtige Balance zwischen Freiheit und Kohäsion? David: Das klingt jetzt sehr theoretisch. Aber ja, vielleicht haben wir uns in unserem Familien-System 5 nie wirklich darüber unterhalten, was wir eigentlich zusammen wollen. Und unser System 4 nicht darauf ausgerichtet. Marc: Alles Steuerungsfragen. David: Und Kommunikationsfragen. Marc: Noch ein Bier? It keeps your system viable!

Literatur

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Literatur 1. Beer, Stafford. 1972. Brain of the firm. The managerial cybernetics of organization, 2. Aufl., 4. Chichester/New York/Brisbane/Toronto/Singapore: Wiley. 2. Malik, Fredmund. 2007. Management. Das A und O des Handwerks, 166  ff. Frankfurt/New York: Campus. 3. Beer, Stafford. 1979. The heart of enterprise. The managerial cybernetics of organization, 158. Chichester/New York/Brisbane/Toronto/Singapore: Wiley, and Beer, Stafford. 1985. Diagnosing the system for organizations. The managerial cybernetics of organization, 103. Chichester/New York/Brisbane/Toronto/Singapore: Wiley. 4. Peter, J. Laurence, und Raimond Hull. 1969. The Peter principle. New York: William Morrow. 5. Beer, Stafford. 1972. Brain of the firm. The managerial cybernetics of organization, 2. Aufl., 232. Chichester/New York/Brisbane/Toronto/Singapore: Wiley. 6. McCulloch, Warren. 1965. Embodiments of mind. Cambridge, MA: MIT Press.

Teil III Diagnostizieren und Gestalten

Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich. (Leo Tolstoi, Anna Karenina)

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Übersicht über den Diagnoseprozess

Nachdem wir das Viable System Model kennen gelernt haben, beginnen wir nun mit der Arbeit. Den Startpunkt unserer Diagnose setzen wir wiederum da, wo das Unternehmen seinen Zweck erfüllt: Beim Kunden (oder Leistungsempfänger) und in der operativen Einheit. Auf diesen Ort fokussiert sich letztlich die ganze Organisation und hier muss sie ihre Leistungskraft unter Beweis stellen. Es ist der „Ort der Wahrheit“ und der Angelpunkt, um den sich das Organisieren dreht. Wir beginnen den Diagnoseprozess also „Outside-In“ und „Bottom-up“. Wir achten außerdem darauf, dass wir uns in der Untersuchung nicht in Details verlieren, sondern primär die Zusammenhänge, Querverbindungen und Nebenwirkungen im Auge behalten. Wir sprechen deshalb bewusst nicht von einer „Analyse“ der Steuerungsorganisation, die diese in ihre Elemente zerlegt und sie dann primär in der Tiefe untersucht. Wie wir in Abschn. 2.4 argumentiert haben, entsteht Leistung durch die Verbindung und das Zusammenwirken der Elemente. Für uns ist letztlich diese Gesamtschau und das Funktionieren als Ganzes wichtig, denn wir untersuchen ein Steuerungsund Kommunikations-System. Das Wort „Diagnose“ eignet sich deshalb besser für unsere Zwecke. Es legt den Fokus auf die zusammenfassende Gesamtschau, und es passt zu unserer Metapher des Organismus, dessen Gesundheit und Leistungsfähigkeit wir prüfen wollen. Im Laufe der Diagnose eines Unternehmens werden wir mit großer Wahrscheinlichkeit viele bestätigende, aber noch mehr pathologische Befunde erhalten. Ein pathologischer Befund sagt uns, dass an einer gewissen Stelle mit der Organisation etwas nicht stimmt, und wir erkennen in den meisten Fällen gleichzeitig, was wir daran ändern müssen. Während wir diagnostizieren, sind wir deshalb unweigerlich auch gleichzeitig schon im Gestalten der Organisation. Diagnose und Gestaltung finden in unserem Kopf und im praktischen Arbeiten gleichzeitig statt, denn wir machen die Diagnose für „Action“. Abb. 8.1 zeigt den Diagnose- und Gestaltungsprozess der dritten Dimension des Organisierens in sieben Schritten. Leo Tolstoi beginnt sein Buch Anna Karenina mit der

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Pfiffner, Die dritte Dimension des Organisierens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29247-8_8

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Abb. 8.1  Diagnose- und Gestaltungsprozess

140 8  Übersicht über den Diagnoseprozess

8  Übersicht über den Diagnoseprozess

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Feststellung, dass alle glücklichen Familien einander gleichen, doch die unglücklichen alle auf ihre eigene Weise unglücklich sind. Es gibt meistens nicht viele Möglichkeiten, etwas richtig zu machen, aber sehr viele Möglichkeiten mehr, etwas falsch zu machen. Ich betrachte den hier vorgeschlagenen Diagnoseprozess als eine Möglichkeit, es richtig zu machen. Sie hat sich in der Praxis bewährt, umschifft die Gefahren von Trivial- und Falschanwendungen und schützt vor den klassischen Fehlern und Mängeln des Organisierens. Je nach Situation durchläuft man alle Schritte, lässt einige weg oder betont den einen Schritt mehr als den anderen. Das ist in Ordnung. Die Reihenfolge der Schritte sollte aber mehr oder weniger beibehalten werden, da sie einer Logik folgt: Jeder Schritt ist auf Resultaten des vorhergehenden Schrittes aufgebaut. Die Diagnose kann die Organisation als Ganzes umfassen, oder nur eine Rekursionsebene davon, oder sie kann sich auf eine einzelne organisatorische Teilfrage konzentrieren. Sie kann während fünf Minuten im eigenen Kopf stattfinden, während eines Abendessens zu zweit auf einer Serviette entwickelt werden, oder sie kann einige Klausuren mit einigen Führungskräften erfordern und sich über mehrere Monate erstrecken. Wir werden im Abschn. 17.3 „Vier Umsetzungsphasen“ darüber sprechen, welche Personen idealerweise wann, wozu und in welcher Form einbezogen werden, wenn es um die Diagnose und Gestaltung eines größeren Unternehmens geht. Grundsätzlich ist es von Vorteil, wenn man zu Beginn zwar nicht alleine, aber auch nicht mit mehr als zwei bis maximal fünf Personen arbeitet. Das ist ein Kompromiss zwischen der nötigen Produktivität und genügend Varietät für gute Diskussionen. Bevor wir beginnen, müssen wir einige Dinge zusammentragen, die uns den Arbeitsrahmen vorgeben. Wir wollen Folgendes wissen: a. Mission und Leitplanken: Sind Zweck und Mission des Unternehmens definiert? Ist klar, welche organisatorischen Optionen allenfalls aus normativen, unternehmenspolitischen Gründen a priori ausgeschlossen sind? b. Strategie: Enthält sie wirklich strategische Aussagen zu Markt und Kunde, Innovation, Produktivität und Attraktivität des Unternehmens für gute Leute, oder enthält sie nur operative Langfristpläne zur Entwicklung von Umsatz und Gewinn? Ist die Strategie irgendwo aufgeschrieben? Wem ist sie bekannt und wem nicht? c. Kultur und Mitarbeiter: Wie tickt das Unternehmen? Wo liegen seine Stärken? Wie wird geführt? Wo sehen die Führungskräfte und die Mitarbeiter den Handlungsbedarf? Wer sind die kritischen Schlüsselpersonen? d. Organisationshistorie: Welche Phasen hat das Unternehmen durchlaufen und wann wurde die Organisation warum geändert? Mit welchem Erfolg? Wie ist das Unternehmen heute organisiert? Falls man zu wenig über diese Punkte weiß, sollten sie durch Gespräche mit Führungskräften und durch das Studium bestehender Unterlagen in Erfahrung gebracht werden. Je mehr wir darüber wissen, desto einfacher und klarer wird die Diagnose. Die zu gestaltende Einheit wird das „System in Focus“ (SIF) genannt und ihre Rekursionsebene nennen wir R0. Im Laufe der Diagnose werden wir mindestens die beiden Rekursionsebenen über und unter dem SIF betrachten, die in der Abb. 8.1 als Zeilen dargestellt und mit R+1, R0 und R-1 bezeichnet sind. Um Irrtümern und Missverständnissen

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8  Übersicht über den Diagnoseprozess

in der Diskussion vorzubeugen, muss immer klar festgehalten werden, auf welcher Rekursionsebene man sich in der gegenwärtigen Betrachtung gerade befindet. Unter den Kardinalfehlern des Organisierens in Abschn. 3.7 haben wir das Problem der Vermischung von Rekursionsebenen bereits diskutiert und in Kap. 7 festgehalten, dass sich je nach Ebene zwar nicht die Steuerungsfunktionen, aber die Steuerungsinhalte ändern. I. Die Grundstruktur prüfen und gestalten (Anatomie, siehe Kap. 9) Als Erstes verschaffen wir uns einen Überblick über die operativen Einheiten auf allen relevanten Rekursionsebenen. Dabei prüfen wir, ob eine Einheit tatsächlich zweckerfüllend tätig ist. Unterstützende Einheiten betrachten wir noch nicht. Wir beginnen beim IST-Zustand der Organisation, befassen uns also sozusagen mit der aktuellen Anatomie des Unternehmens. Grundsätzlich kann jede Anatomie innerviert werden, aber es gibt solche, die es uns einfach machen, erfolgreich zu sein, und solche, die uns das erschweren. Im ersten Schritt wollen wir uns Gewissheit darüber verschaffen, dass wir es mit der bestmöglichen Anatomie des Unternehmens für seine Zukunft zu tun haben. Wenn das Unternehmen heute beispielsweise in Produkte gegliedert ist, prüfen wir, ob auch eine Gliederung nach Regionen, Kundengruppen, Technologien etc. sinnvoll sein könnte. Dazu starten wir auf der Rekursionsebene, die wir tatsächlich auch gestalten können, weil wir für sie verantwortlich sind. Wir legen sie als unser SIF fest und bezeichnen sie mit „Rekursionsebene 0“ (R0). Für diese Ebene prüfen wir dann, ob die operativen Einheiten lebensfähig sind, also weitgehend autonom arbeiten können, und ob sie diejenigen Dinge ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellen, für die Kunden bezahlen. Wir prüfen ihre Strategiegerechtigkeit und eruieren weitere Segmentierungsvarianten. Am Ende entscheiden wir uns für eine Variante und legen damit die primäre Steuerungsdimension für das Unternehmen auf dieser Rekursionsebene fest. II. Führbar oder nicht? (siehe Kap. 11) Im zweiten Schritt prüfen wir die Kontrollspanne auf jeder Rekursionsebene, die wir in unsere Diagnose einschließen. Damit prüfen wir gleichzeitig die maximal mögliche Verflachung der Organisation: Können wir eine oder mehrere Rekursionsebenen weglassen, ohne damit das Management zu überfordern? Zur Beurteilung werden wir nicht die übliche Faustformel für die Führungsspanne verwenden, sondern die Situation aufgrund von Komplexitätsmessungen beurteilen, die wir in Kap. 10 kennen lernen. Nach diesem Schritt haben wir die Grundstruktur über alle relevanten Rekursionsebenen hinweg festgelegt. Wir wissen also jetzt für die SOLL-Organisation genau, welche Rekursionsebene welche operativen Einheiten umfasst. III. Fokus auf erfolgskritische Aufgaben (siehe Kap. 12) Wir kehren auf die Ebene unseres SIF zurück. Falls wir in den ersten beiden Schritten zum Schluss gekommen sind, dass wir unser System 1 (die operativen Einheiten) ändern müssen, weil wir es zum Beispiel anstatt nach Regionen neu nach Kundengruppen segmentieren wollen, betrachten wir ab jetzt nur noch diese SOLL-Organisation. Für jede operative Einheit untersuchen wir, welches ihre erfolgskritischen Aufgaben sind. Wir tun dies wiederum aufgrund von Komplexitätsbetrachtungen, in die uns Kap. 10 einweist. Wir sind uns bewusst, dass wir nicht alles organisieren können, und wir wissen, dass das auch gar nicht nötig ist. Wir fokussieren deshalb auf die 20 Prozent aller Aufgaben, von denen 80

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Prozent des Erfolges abhängen. Erfolgskritische Aufgaben können sich auch aus Umweltüberschneidungen und Abhängigkeiten zwischen den Operationen ergeben. Wenn es uns gelingt, diese Aufgaben sauber zu organisieren, erledigt sich vieles andere von selbst oder ist zumindest nicht mehr schwierig zu organisieren. IV. Zentral oder dezentral? (siehe Kap. 13) Nachdem wir in Schritt III die erfolgskritischen Aufgaben im SIF herausgearbeitet haben, betrachten wir im Schritt IV wieder mehrere Rekursionsebenen. Wir stellen uns die Frage, welche Aufgabe auf welcher Rekursionsebene erfüllt werden soll. Was soll zentral erledigt werden und was dezentral? Wir prüfen, welche Kompetenzen die operativen Einheiten in der eigenen Hand behalten müssen, damit sie ihre relative Autonomie erhalten und ihre Kunden zufriedenstellen können. Erst danach prüfen wir, welche Aufgaben zentralisiert werden können, um daraus Synergien zu gewinnen. Als Resultat dieses Schrittes wissen wir für unser SIF, wie auch für die anderen Rekursionsebenen, welche erfolgskritischen Aufgaben auf welcher Ebene erfüllt werden sollen. Diese Aufgaben sind sozusagen unser Rohmaterial für die Gestaltung der Steuerungsfunktionen im nächsten Schritt. V. Die Steuerungsfunktionen prüfen und gestalten (siehe Kap. 14) Inzwischen wissen wir, welche operativen Einheiten wir in unserem SIF haben, wie groß diese sind, wie stark ihre Umweltüberschneidungen und Abhängigkeiten sind, und wir kennen die erfolgskritischen Aufgaben, die auf dieser Rekursionsebene zu erfüllen sind. Wir fragen uns nun, welchen konkreten Beitrag die einzelnen Steuerungssysteme 2 bis 5 an das Funktionieren des Ganzen leisten, indem wir diese Aufgaben auf sie verteilen. Welche Aufgaben muss zum Beispiel das System 2 ganz konkret für dieses Unternehmen auf dieser Rekursionsebene erfüllen, damit die operativen Einheiten koordiniert arbeiten können und die Unterstützung erhalten, die sie brauchen? Wir fragen uns, worauf sich das System 3 für die Optimierung des Ganzen fokussieren muss und was dort die erfolgskritischen Aufgaben sind. Diese Fragen stellen wir uns auch für das System 3*, 4 und 5. In Summe kommen so üblicherweise 20 bis 40 erfolgskritische Aufgaben zusammen, die sich auf die fünf Steuerungsfunktionen verteilen. Wir überlegen uns das einmal für das Senior-Management der operativen Einheiten als Ganzes. Jeder Fachbereich überlegt danach in der Tiefe, worin seine zusätzlichen, fachspezifischen Steuerungsaufgaben im Senior-­Management bestehen. Für das operative Management haben wir normalerweise eine verantwortliche Person bestimmt, die sich um das System 3 als Ganzes kümmert. In einer Firma ist das üblicherweise der Vorstandsvorsitzende, der auch die Jahresrechnungen und Bilanzen verantwortet. Oftmals ist auch für die System 5-Funktion eine verantwortliche Person bestimmt, zum Beispiel der Vorsitzende des Aufsichtsrates oder der Präsident des Verwaltungsrates. Sie tragen alle Anliegen und Perspektiven der Fachbereiche und beteiligten Personen zusammen und integrieren sie in Entscheidungen im Steuerungssystem, für das sie verantwortlich sind. Sie tun das in Form von Sitzungen, Workshops, Klausuren oder Projekten. Für die Steuerungssysteme 2, *3 und 4 hingegen sind normalerweise keine Verantwortlichen bestimmt – weshalb diese Systeme in der Praxis oft verwahrlost sind und zu Steuerungsproblemen führen. Wir etablieren deshalb für jede Steuerungsfunktion eine Verantwortung, die für ihr Funktionieren und für ihre Kommunikationsverbindungen sorgt.

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8  Übersicht über den Diagnoseprozess

VI. Die Kommunikationskanäle prüfen und gestalten (siehe Kap. 15) Wie bereits erwähnt sind die Steuerungsfunktionen wichtig, aber noch wichtiger sind die Kommunikationskanäle zwischen ihnen. Das Viable System Model zeigt uns, wie die Steuerungselemente miteinander verbunden werden müssen, und es prüft die Wirksamkeit der Kommunikationskanäle zwischen ihnen. Dabei nutzen wir Prinzipien aus der Kybernetik und aus der Informationstheorie, mit denen wir Verständlichkeit, Zeitgerechtigkeit, Robustheit und Sicherheit in der Kommunikation herstellen. Das Steuerungssystem ist am Ende ein großer, in sich geschlossener Kommunikationskreislauf. Am Ende von Schritt VI gehen wir wieder über die Rekursionsebene unseres SIF hi­ naus und betrachten die kommunikative Verknüpfung mit dem Management der Rekursionsebene darunter und darüber aus. Wir haben in Kap. 6 über das „Law of Cohesion“ gesprochen und betrachten nun im Detail, wie es wirkt. Zum Schluss prüfen wir die Funktionsweise des „Algedonic Signal“. Das ist das Signal, das uns über alle Rekursionsebenen hinweg aufweckt, wenn etwas vorgefallen ist, das im negativen oder im positiven Sinne unsere Aufmerksamkeit erfordert. VII. Die Organisation verständlich machen (siehe Kap. 16) Bis hierher haben wir darüber gesprochen, was in der Steuerung wie getan werden muss, aber noch nicht, durch wen und wo es getan werden soll. Am Ende des Organisierens müssen wir nun auch in der dritten Dimension des Organisierens die Steuerungsaufgaben mit konkreten Stellen und Menschen zusammenführen. Damit wird die Organisation umsetzbar und verständlich. Wir benutzen das Funktionendiagramm, um die erfolgskritischen Aufgaben in den Systemen 2 bis 5 mit den organisatorischen Gefäßen und ihren Verantwortlichen zu verbinden. In unserem Steuerungsfunktionen-Diagramm legen wir die Eckwerte der einzelnen Steuerungsprozesse fest (wer ist wie woran beteiligt?). So stellen wir das gesamte Steuerungssystem unseres SIF auf einer A4-Seite dar und können nun nach Bedarf Organigramme und Stellenbeschreibungen daraus ableiten. Mit dem Organigramm, dem Funktionendiagramm und den Stellenbeschreibungen wird letztlich die Organisation kommuniziert. Im Teil III folgen wir nun diesen einzelnen Diagnose- und Gestaltungsschritten. Wir erläutern sie in der Tiefe und mit praktischen Beispielen. Damit wird das Verständnis des Viable System Models wachsen. Meine Erfahrung mit Führungskräften hat mir gezeigt, dass diese dann am meisten lernen, wenn sie das Modell auf ihre eigene Situation anwenden. Das ist für jeden Leser möglich, weil wir ja von einem „Model of any System“ sprechen. Am Ende jedes Kapitels steht deshalb ein „Call for Action“ für denjenigen Leser, der aktiv werden will. Mit den dort beschriebenen Aufgaben diagnostiziert er die Organisation, die für ihn relevant ist – sein eigenes „System in Focus“. Wir wollen dabei keine langen Listen und Texte produzieren, sondern streben eine systemische Betrachtung an, indem wir stattdessen das Modell als Diagramm aufmalen und dabei mit seiner Darstellung (nicht aber mit seiner Präzision und Logik) kreativ umgehen. Das schafft Übersicht und Fokus auf das Wesentliche, und es spart Zeit und unnötige Arbeit. Wir wollen schliesslich nicht Papier produzieren, sondern relevante Einsichten gewinnen. Und am Ende kommt es nicht nur darauf an, zu verstehen, sondern dann für einen Moment die Luft anzuhalten – und die Medizin zu schlucken.

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Die Grundstruktur prüfen und gestalten (Anatomie, Schritt I)

Wir beginnen unsere Diagnose mit einem leeren Blatt Papier und malen zuerst alle operativen Einheiten des Unternehmens auf allen Rekursionsebenen auf (Abb. 9.1). Das verschafft uns einen ersten, wichtigen Überblick über die Organisation als Ganzes. Am Ende dieses ersten Schrittes wollen wir wissen, welche Rekursionsebenen wir in unsere Dia­ gnose einschließen, auf welche Ebene wir uns fokussieren und wie die operativen Einheiten (System 1) auf dieser Ebene richtigerweise gestaltet sein sollten. Wir beginnen also mit dem Wichtigsten des Unternehmens, nämlich mit seinen Bausteinen, die das Fundament des Hauses bilden. Alles andere steht im Dienste dieser operativen Einheiten. Wenn wir bei ihrer Gestaltung Fehler machen, können diese durch das beste Steuerungssystem nicht egalisiert werden. Umgekehrt können wir – mindestens eine Zeit lang – mit einem lückenhaften Steuerungssystem leben, solange diese Bausteine richtig gesetzt sind. Mit dem Fundament des Hauses gestalten wir auch seinen Zweck, denn das Unternehmen erfüllt seinen Zweck durch das System 1. Das System 5 denkt nur darüber nach, was der Zweck sein sollte. Erfüllt wird er durch die operativen Einheiten, indem sie das tun, wofür Kunden oder Leistungsempfänger bezahlen. Sie produzieren das Unternehmen in diesem Sinne jeden Tag von Neuem. Erfolgreiche Firmen kaufen oftmals Geschäfte dazu, die nichts mit ihrem ursprünglichen Zweck zu tun haben. Sie führen diese Geschäfte so, wie sie auch ihre angestammten Divisionen führen, als Teil der Gruppe. So gibt es Modeketten mit Seminarhotels, Bauunternehmen mit Skiliftbetrieben, Automotive-Zulieferer mit Weingütern oder Banken, die Facility Management als Geschäft betreiben. Normalerweise ist das unproblematisch, da es keine Schnittstellen zum bestehenden Geschäft gibt und dieses dadurch nicht komplexer wird. Selbst wenn diese Geschäfte nur aus Gelegenheit oder als Steckenpferd betrieben werden, absorbieren sie doch Managementkapazität, vor allem weil man sich darin nicht wirklich auskennt. Da mit solchen Akquisitionen unwillkürlich auch der Unternehmenszweck erweitert wird  – unabhängig davon und im

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Pfiffner, Die dritte Dimension des Organisierens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29247-8_9

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9  Die Grundstruktur prüfen und gestalten (Anatomie, Schritt I)

Abb. 9.1  Rekursionsebenen am Beispiel eines Automotive-Konzerns

­ ontrast zu dem, was in der Business Mission oder im Unternehmensleitbild steht – kann K man sich die Frage stellen, ob das richtig ist. cc

The purpose of a system is – what it does! [1]

In diesem Diktum von Stafford Beer steckt nüchterne Wahrheit: Nicht das, was in unse­ rer Business Mission steht, ist der Zweck des Unternehmens, sondern das, was das Unternehmen in seinen Bausteinen wirklich tut. Genau dazu ist es perfekt gestaltet. Falls das nicht mit dem übereinstimmt, was die Unternehmenspolitik eigentlich möchte, muss das Unternehmen anders gestaltet werden. Was also sollen die Bausteine des Unternehmens sein? Ein Ganzes kann man auf verschiedene Arten zerlegen, aber welche davon ist die Richtige? Das ist die erste Kernfrage, die wir beantworten müssen. Wir müssen so zerlegen, dass der Fokus auf die richtigen Dinge gelegt wird, und dass sich die Teile auch wieder zu einem Ganzen zusammenfügen lassen. Die richtige Gestaltung der operativen Einheiten ist auch deshalb wichtig, weil sie die Innervierung des Unternehmens einfach oder schwierig macht. Sie bestimmt die Anforderungen an das Steuerungssystem. Je nachdem, wie wir das Unternehmen als Ganzes segmentieren, ergeben sich kleinere oder größere Überschneidungen zwischen den Umwelten der operativen Einheiten und kleinere oder größere Abhängigkeiten zwischen ihren Operationen.

9.1  Rekursionsebenen aufnehmen

147

Zwei Anatomien mit großen Überschneidungen und Abhängigkeiten haben wir in Abschn.  3.5 und 3.7 bereits erwähnt. Die Bausteine einer funktionalen Segmentierung, welche die Firma in fachliche Funktionen wie Produktion, Entwicklung und Vertrieb aufteilt, verfügen über wenig Autonomie, weil sich jede operative Einheit die gleiche Umwelt mit allen anderen operativen Einheiten teilt, da sie sich alle an denselben Kunden wenden. Keine Einheit kann ohne die andere erfolgreich sein, denn die Produktion braucht den Vertrieb und die Entwicklung für ihren Erfolg, ebenso wie diese die Produktion brauchen. Eine Segmentierung in Funktionen ist möglich und sie kommt sogar recht häufig vor. In einer gewissen Wachstumsphase hat sie auch ihre Berechtigung, da sie dem Unternehmen hilft, Fachkompetenz zu nutzen. Es ist jedoch wegen der Überschneidungen und Abhängigkeiten eine anspruchsvolle Anatomie. Deshalb wird das Organigramm in einer nächsten Phase normalerweise um neunzig Grad gedreht, und über die Funktionen werden Geschäfte gelegt, die aber noch zu klein sind, um sich ihre eigene Infrastruktur leisten zu können. Trotzdem werden sie jetzt genauso wie die bisherigen funktionalen Einheiten am eigenen Erfolg gemessen. Die Überschneidungen und Abhängigkeiten der funktionalen Organisation sind dadurch nicht weg, sondern sie werden aufgrund der Wirkungsweise von Komplexität nicht nur multipliziert, sondern potenziert. Deshalb gehen auch bei der Matrix-Organisation die Vorteile schon bald wieder verloren, weil die Unternehmenssteuerung durch die vielen Überschneidungen und Abhängigkeiten spätestens in der nächsten Wachstumsphase wieder überfordert sein wird. Dann wird von Neuem reorganisiert … Wir werden auf diese zwei speziellen Anatomien und ihre Auswirkungen auf die Neurologie im Kap. 18 genauer eingehen. Dort werden wir untersuchen, warum gewisse Anatomien (Grundstrukturen) systematisch zu Steuerungsproblemen führen und wie man diese mit dem Viable System Model vermeidet oder erkennt und heilt. Für den Moment genügt es, wenn wir uns bewusst sind, dass wir mit der Gestaltung der operativen Einheiten (System 1) darüber entscheiden, welcher Unternehmenszweck erfüllt wird und wie einfach oder wie schwierig das zu steuern sein wird. Wie also finden wir die geeignete Segmentierung für unser System 1 und von welchem System 1 reden wir überhaupt? Die Diagnose folgt einem einfachen und klaren Vorgehen, verlangt aber die Einhaltung von ein paar Regeln.

9.1

Rekursionsebenen aufnehmen

Als Erstes zeichnen wir alle Rekursionsebenen der IST-Organisation auf. Das sind die ergebnisverantwortlichen Einheiten auf allen Management-Ebenen, über die heute faktisch geführt wird. Wir beachten dabei das Prinzip der Russischen Puppen in unserer Darstellung (Kap.  6), damit wir erkennen, wie die Rekursionsebenen ineinander verschachtelt sind. In Abb. 9.1 wurde dies für einen Automotive-Konzern gemacht. Auf der obersten Ebene finden wir fünf operative Einheiten, die nach Produkten gegliedert sind: Autos, Busse, Lastwagen, Ersatzteile und Finanzdienstleistungen. Wenn wir uns nun für die Autos interessieren und eine Rekursionsebene heruntersteigen, finden wir als nächstes

148

9  Die Grundstruktur prüfen und gestalten (Anatomie, Schritt I)

Marken als operative Einheiten. Die Marke A wiederum ist in Vertriebsregionen gegliedert, diese in Länder, diese in Autohäuser und diese schließlich in Standorte. Wenn wir nochmals eine Rekursionsebene weiter heruntersteigen wollten, fänden wir pro Standort dann möglicherweise den Verkauf, die Werkstatt und die Gebrauchtwagen als operative Einheiten. Spätestens hier hört unser Interesse auf, weil die Organisation auf dieser Ebene keine Probleme mehr bereitet. Abb. 9.1 zeigt nur eine von vielen Möglichkeiten auf. Ob sich das Unternehmen so oder anders organisieren soll, wollen wir im Schritt I he­ rausfinden. Beim eigenen Unternehmen, das wir diagnostizieren, beginnen wir ebenfalls auf der obersten Ebene, die uns relevant scheint, und malen alle Rekursionsebenen darunter auf, bis zu der Ebene, die uns als letzte noch interessiert. Dabei dürfen wir nicht der Versuchung verfallen, einfach das Organigramm abzuzeichnen. Die operativen Einheiten finden wir zwar auch im Organigramm wieder, sie machen aber nur einen Teil der Anatomie des Unternehmens aus, denn wir finden im Organigramm auch die unterstützenden Einheiten. In unserer eigenen Darstellung dürfen aber nur die Bausteine der Organisation, also die operativen, zweckerfüllenden Einheiten erscheinen. In der Praxis ist das eine einfache Übung – aber nur in etwa der Hälfte aller Fälle. In diesen Fällen ist sofort klar, welches die operativen Einheiten auf den verschiedenen Rekursionsebenen sind. In der anderen Hälfte tauchen jedoch bereits hier die ersten Fragenzeichen auf. Oftmals treffen wir auf ein Sammelsurium von beliebig ineinander verschachtelten Organisationseinheiten, Gesellschaften, Beteiligungen oder Akquisitionen, die historisch durcheinander gewachsen sind und keinem willentlichen Organisationsdesign folgen. Diese Unternehmen überleben, solange es die Wirtschaftssituation zulässt, und solange sie über genügend Talent und Erfahrung in der Führung verfügen, denn ihre Steuerung ist grundsätzlich ein „impossible job“. In dieser zweiten Kategorie von unklaren Fällen helfen uns folgende Überlegungen auf der Suche nach den heutigen, operativen Einheiten: a) Über welche Einheiten wird das Unternehmen heute mit Strategien, Zielen, Budgets und Erfolgsrechnungen geplant und gesteuert? Operative Einheiten sind normalerweise ergebnisverantwortlich. Für unsere Betrachtung ist es allerdings nicht relevant, ob eine Einheit eine juristische Person ist oder nicht. Für das Funktionieren sind die legalen Grenzen zwar manchmal hinderlich, aber nicht entscheidend. Relevant ist die Management-Sicht, nicht die juristische Sicht. Es gibt beispielsweise oftmals juristische Personen in Form von AGs, GmbHs oder Inc.s, deren Zweck nur darin besteht, dass man in einem Land Steuern bezahlen, Personal einstellen oder Technik einkaufen kann. Ein weltweit tätiges Logistikunternehmen war beispielsweise in fünf Regionen gegliedert. Die Region Afrika bestand aus mehreren, gut ausgestatteten und gut geführten Market Units. Sie wickelten das Geschäft mit Büros ab, die in den verschiedenen Ländern angesiedelt waren. Nur weil es das Gesetz verlangte, gründete man in jedem Land Gesellschaften, denen die Büros dann angehörten. Den Geschäftsführern dieser Landesgesellschaften war aber nicht klar, dass sie eigentlich gar keine operative, sondern nur eine Hausmeisterfunktion ausüben sollten. Also begannen sie

9.1  Rekursionsebenen aufnehmen

149

zwischen den Ebenen der Market Units und den lokalen Büros zu managen. Sie entwickelten ihre eigenen Ideen und Strategien und machten damit die Umsetzung jeder Market Unit-Strategie schwierig. Man hatte eine unnötige Lehmschicht zwischen den Market Units und den Büros geschaffen, die man nach der Organisationsdiagnose dadurch eliminierte, dass man den Geschäftsführern ihre wirkliche Funktion klar machte. Sie durften ihre Visitenkarten, Gehälter, Büros und Geschäftswagen behalten, aber sie durften nicht mehr managen. Das Unternehmen wurde dadurch verflacht und beschleunigt. Wir sind also primär interessiert am Funktionieren des Unternehmens und nur sekundär an juristischen Erfordernissen oder an Eigentumsverhältnissen. Aus diesem Grund sind auch Beteiligungen an Unternehmen nur dann für unsere Darstellung relevant, wenn diese wirklich von der Gruppe gesteuert werden, wenn es sich also um Mehrheitsbeteiligungen handelt. b ) Haben wir wirklich operative, zweckerfüllende und keine unterstützenden Einheiten aufgemalt? Unterstützende Funktionen sind nicht zweckerfüllend und nicht ergebnis-, sondern leistungsverantwortlich. Der Vertrieb eines Pharmaunternehmens ist zum Beispiel normalerweise keine operative, sondern eine unterstützende Einheit, der Vertriebspartner eines Elektrogroßhändlers hingegen schon, denn es ist der Zweck dieses Unternehmens, Vertriebsleistungen anzubieten. Dazu wurde es gegründet. In bei­ den Fällen reden wir von Vertrieb, aber einmal hat der Vertrieb eine unterstützende und einmal eine operative Funktion. Die F&E-Abteilung eines Herstellers von Messgeräten ist eine unterstützende Einheit, aber der F&E-Dienstleister in der Chemiebranche ist eine operative Einheit. Ebenso ist die IT-Abteilung in einer Gemeinde im Gegensatz zum IT-Unternehmen in derselben Gemeinde keine operative Einheit. Wir haben bereits in Abschn. 5.2 darüber gesprochen, dass es oftmals unterstützende Einheiten gibt, die versuchen, eine operative Einheit zu sein, um Einfluss und Macht zu gewinnen. Sie folgen der natürlichen Selbsterhaltungstendenz. Wir haben das einen pathologischen Fall von Autopoiese genannt, weil sich eine unterstützende Funktion in einem gesunden System nicht um ihrer selbst willen erneuert und ausbreitet. Diese Form von „Krebs“ kennen wir sowohl im Business- als auch im Non-Business-­Bereich. Es ist eine typische Eigenschaft von eher formell und bürokratisch geführten Unternehmen, die früher oder später zu aufgeblähten Wasserköpfen führt. Unterstützende Einheiten sollten im Gegenteil eher eine Selbstauflösungstendenz aufweisen als einen Selbstzweck auf Dauer erhalten – und doch geschieht in der Praxis genau das sehr oft. Sie entwickeln ein Eigenleben, wenn man sie machen lässt. Es spielt dabei für die Steuerung keine Rolle, ob eine Einheit produktiv unterstützend (zum Beispiel Vertrieb oder Produktion) oder nicht-produktiv unterstützend ist (zum Beispiel Personal oder Marketing). Wir unterscheiden aber klar nach operativen und unterstützenden Einheiten. c) Wo sind die Einheiten, die mit relativer Autonomie operieren können? Da wir von relativer Autonomie sprechen, ist die Frage nicht, ob sie unabhängig sind, sondern wie intensiv ihre Abhängigkeit ist: Welche Einheiten könnten ohne großen Zusatzaufwand weiterhin eine eigene Existenz erhalten, selbst wenn wir sie zum Beispiel verkaufen würden? Einheiten, die das können, sind faktisch operative, lebensfähige Einheiten.

150

9  Die Grundstruktur prüfen und gestalten (Anatomie, Schritt I)

Wir dürfen uns nicht gedrängt fühlen, Einheiten in unsere Darstellung der Rekursionsebenen aufzunehmen, nur weil sie im Organigramm erscheinen, weil es die heutige Praxis ist, weil es legale Einheiten sind oder aus anderen, möglicherweise auch machtpolitischen Gründen. Wenn uns das bestmögliche Funktionieren des Unternehmens interessiert, dürfen wir uns von den herkömmlichen Kategorien nicht behindern lassen. Aufgaben

a. Nehmen Sie ein leeres Blatt Papier und zeichnen Sie die Rekursionsebenen des Unternehmens auf, das Sie diagnostizieren wollen. Verwenden Sie die gleiche Art der Darstellung wie in Abb. 9.1. b. Stellen Sie den IST-Zustand dar und prüfen Sie, ob Sie wirklich nur die operativen, zweckerfüllenden Einheiten mit relativer Autonomie aufgemalt haben. Wenn nein, streichen Sie diese bitte wieder aus ihrer Zeichnung heraus.

9.2

Das System in Focus (SIF) festlegen

Nachdem wir die Rekursionsebenen aufgemalt haben, legen wir unser System in Focus (SIF) fest. Es ist diejenige Ebene, der unser besonderes Interesse gilt. Normalerweise diagnostiziert man die Ebene, für die man selber verantwortlich ist und die man deshalb auch selber gestalten kann. Jede Ebene ist grundsätzlich als SIF wählbar. Im Zweifel macht es Sinn, die Ebene zu wählen, auf der die Kunden die Leistung des Unternehmens empfangen, wo also der tatsächliche Kundennutzen entsteht, denn diese Ebene ist die einzige Wirklichkeit, auf die man robust bauen kann. Alles Weitere ist ein Konstrukt, das wir so oder anders gestalten können. Das System in Focus bezeichnen wir dann als Rekursionsebene 0 (R0). Die Rekursionsebenen darüber bezeichnen wir mit R+1, R+2, R+3, … und die Rekursionsebenen darunter mit R-1, R-2, R-3, … (Abb.  9.2). Diese eindeutige Nummerierung wird uns später helfen, wenn wir in die Arbeit und in die Diskussionen eintauchen. Es ist manchmal schwieriger als man denkt, den richtigen Fokus zu behalten, gerade wenn man mit Berufskollegen diskutiert. Es gibt nun den Spezialfall, dass beispielsweise der Leiter des Personalbereichs eines großen Unternehmens eine Organisationsdiagnose machen will, weil sein Bereich mit 200 Personen an 20 Standorten so groß und unübersichtlich geworden ist, dass Steuerungs- und Kommunikationsprobleme auftreten. Der Personalbereich ist aber eine unterstützende Funktion im Unternehmen und soll damit auch gar keine lebensfähige Einheit sein. Können wir dennoch das Viable System Model zu seiner Diagnose anwenden? Die Antwort ist: Ja, aber … Wir müssen uns bewusst sein, dass der Personalbereich eben gerade keine eigene Existenz erhalten, sondern nur die verlangten Aufgaben erledigen soll – und dies zu möglichst geringen Kosten. Auch der Personalbereich braucht aber für sein Funktionieren eine Steuerungsstruktur. Er braucht zum Beispiel ein System 4 zur Entwicklung der Personalstrategie des Unternehmens. Er muss wissen, wie viele Führungskräfte mit welchen

9.2  Das System in Focus (SIF) festlegen

151

Kompetenzen dem Unternehmen bis wann zur Verfügung stehen sollen, und er soll erarbeiten, wie man zu diesen Leuten intern oder extern kommen will. Diese Personalstrategie ist nichts Selbständiges, sondern eine Funktional-Strategie, also ein Beitrag an die Geschäftsstrategie des Unternehmens, die den Bedarf an Personal vorgibt. Ebenso braucht der Personalbereich operative Einheiten, die sich normalerweise nach den internen „Kunden“ gliedern und damit ein Abbild der echten operativen Einheiten des Unternehmens sind. Er braucht ein System 2 zu deren Koordination und ein System 3, damit er seine Aufgaben mit größtmöglicher Wirksamkeit erfüllen kann. Nach innen können wir also auch einen Fachbereich mit dem Viable System Model diagnostizieren, obwohl er nach außen seinen Beitrag als unterstützende Einheit leistet. Wenn wir am Schluss den Bereich nach innen fertig gestaltet haben, müssen wir uns für alle System 2- bis 5-­Funktionen fragen, wie sie sich als Teil des Senior-Managements im SIF ins Ganze einfügen und einbringen. Aufgabe

Wählen Sie Ihr System in Focus und bezeichnen Sie es mit R0. Bezeichnen Sie die anderen Rekursionsebenen mit auf- oder absteigender Nummerierung, wie in Abb. 9.2 gezeigt.

Abb. 9.2  Bestimmung der Rekursionsebenen und des System in Focus (SIF)

152

9.3

9  Die Grundstruktur prüfen und gestalten (Anatomie, Schritt I)

Die Segmentierung prüfen

Wenn wir uns also über die Rekursionsebenen im Klaren sind und unser SIF gewählt haben, stellt sich die nächste Frage. Wir haben den IST-Zustand aufgenommen, und dabei vielleicht schon einige Unklarheiten beseitigt oder Mängel entdeckt. Wir sind aber immer noch beim IST. Die Frage lautet jetzt: Ist die heutige Segmentierung der operativen Einheiten auch richtig für die Zukunft? Verankern wir mit dieser Organisation tatsächlich Verantwortung für Kundennutzen? Wird sie unsere Stärken wirksam machen und uns helfen, unsere strategischen Stoßrichtungen umzusetzen? Ich habe festgestellt, dass in den meisten Unternehmen diese Segmentierung nicht aktiv gestaltet wurde. Sie ist im Laufe der Zeit einfach entstanden und gibt deshalb eher einen Einblick in die Geschichte des Unternehmens als in seine Funktionsweise. Man kommt in vielen Fällen dennoch erstaunlich lange mehr oder weniger damit zurecht. In Wirklichkeit fangen diese Strukturen aber irgendwann an, das Unternehmen in seiner Wettbewerbsfähigkeit und Entwicklung zu bremsen, weil sie den Fokus auf die falschen Dinge legen. Die Symptome werden sichtbar in größeren oder kleineren Krisenherden, die vielleicht sogar durch die problematische Steuerung selbst hervorgerufen wurden. Wenn dann der Leidensdruck groß genug ist und die Struktur wieder passgenau zum Unternehmen gemacht wird, ist es manchmal, als wenn Schleusen geöffnet würden. Das Geschäft blüht auf und die Strategie setzt sich tatsächlich fast von selbst um. Die Prüfung der richtigen Segmentierung des SIF ist deshalb enorm wichtig. Es lohnt sich, sie mit einer Handvoll vertrauter Personen gründlich zu diskutieren, denn man kommt zu besseren Lösungen, wenn man sich ein wenig um sie streiten kann. Wir fragen uns also, mit welcher Segmentierung wir unseren Zweck am besten erfüllen können. Der Zweck entsteht beim Kunden oder beim Leistungsempfänger, und deshalb müssen seine Bedürfnisse entscheiden. Jede Segmentierung entfaltet eine andere Wirkung bei ihm. Wir müssen uns deshalb darüber klar werden, welche Wirkung wir erzielen wollen. Eine Armee ist in Friedenszeiten beispielsweise in Truppengattungen wie Infanterie, Artillerie, Luftwaffe oder Marine gegliedert, weil in dieser Phase die bestmögliche Fachausbildung im Vordergrund steht. Im Kriegsfall kann die Segmentierung plötzlich von Truppengattungen auf Frontabschnitte ändern, weil man jetzt eine andere Wirkung benötigt, nämlich die des Kampfes der verbundenen Waffen. In einem Wirtschaftsunternehmen wollen wir mit der richtigen Segmentierung erstens sicherstellen, dass wir Verantwortung im Unternehmen verankern für das, wofür Kunden bezahlen. Wir verankern Verantwortung für Kundennutzen und schaffen so die Voraussetzung für den Gewinn von Marktanteilen. Im Falle von Non-Business-­ Unternehmen gilt das sinngemäß: Wir verankern Verantwortung für die erwünschte Wirkung beim Leistungsempfänger und schaffen damit die Voraussetzung für die bestmögliche Erfüllung des Unternehmenszwecks. Wir wollen zweitens sicherstellen, dass die Struktur kompatibel zur Strategie des Unternehmens ist. Eine global tätige Schiffsklassifikationsgesellschaft, sozusagen der TÜV der Hochseeschifffahrt, hatte Strategien für seine verschiedenen Produktgruppen

9.3  Die Segmentierung prüfen

153

entwickelt. Es gab eine Strategie für Personenschiffe, für Cargo-Schiffe, für Bulk-Carrier und für Tanker. Während die Strategien also nach Produkten vorlagen, waren die operativen Einheiten aber in Regionen gegliedert. Jede Region vertrat alle Produkte. Ein Regionalleiter musste in der Konsequenz vier Produktstrategien plus dazu seine eigene Re­ gionalstrategie umsetzen. Wenn nun also die strategische Steuerung (System 4) nach Produkten steuert, die operative Steuerung (System 3) aber nach Regionen, ist damit sichergestellt, dass in Wirklichkeit nie eine Strategie umgesetzt wird und jeder einfach das macht, was ihm am besten passt. Genau das ist in vielen Unternehmen der Fall. Man hat zwar ganze Bundesordner mit Strategiepapieren gefüllt, und damit vielleicht den Anforderungen von Stakeholdern Genüge getan, aber es passiert damit wenig. Und drittens wollen wir mit diesem Diagnoseschritt sicherstellen, dass wir am Ende selbststeuernde Einheiten geschaffen haben, denen wir alles, was sie für ihren Erfolg brauchen, an die Hand geben können. Wir wollen damit Autonomie verankern und den Unternehmer im Unternehmen schaffen. Wir wollen Selbstorganisation organisieren, indem wir lebensfähige, eigenverantwortliche Einheiten gestalten. Dazu fragen wir uns als Erstes, welche anderen Segmentierungsmöglichkeiten es neben der heutigen auch noch gäbe. Jedes Geschäft lässt sich auf verschiedene Arten segmentieren, wie Abb. 9.3 zeigt. Jedes Geschäft • • • • •

erreicht verschiedene Kundengruppen die verschiedene Kundenbedürfnisse haben die durch verschiedene Lösungstechnologien bedient werden die verschiedene Produkte oder Dienstleistungen erzeugen die durch verschiedene Absatzwege zu den Kundengruppen fließen

Abb. 9.3  Möglichkeiten der Segmentierung

154

9  Die Grundstruktur prüfen und gestalten (Anatomie, Schritt I)

Über jede einzelne dieser Dimensionen könnte das Geschäft gesteuert werden. Auch weitere Dimensionen wie Werkstoffe, Verwendungssituation oder eben Regionen sind denkbar. Es geht bei der Segmentierung darum, die primäre, dominante Steuerungsdimension zu finden, über die das Unternehmen geführt werden soll. Ein paar Beispiele: • Ein führendes High-Tech-Unternehmen wird eher nach Technologien gegliedert sein, weil es den Wettbewerb mit seinen innovativen Technologien gewinnen will. Diese stehen im Zentrum der Aufmerksamkeit beim Kunden und deshalb auch beim Unternehmen. • Ein Reisebüro hingegen ist vielleicht eher nach Produkten gegliedert, weil ein Kunde hier vor allem beste Produktkenntnis erwartet. Das Reisebüro braucht zwar auch Technologie, zum Beispiel um einen Flug zu buchen, aber dazu benötigt heute niemand mehr ein Reisebüro. Wenn der Kunde Tauchferien machen will, erwartet er aber einen Berater, der sich im Tauchen auskennt und ihm die neuesten Tipps gibt. Und wenn er eine Städtereise oder eine Abenteuerreise machen will, erwartet er einen Berater, der sich damit auskennt. • Ein Handelsunternehmen kann nach Absatzkanälen gegliedert sein, weil es mit seiner Multi-Channel-Fähigkeit, also der Kombination verschiedener stationärer und Online-­ Kanäle, den Wettbewerb gewinnen will. • Banken und Versicherungen sind oftmals nach Kundengruppen gegliedert. Auch sie verfügen über Technologien, Produkte und Absatzkanäle, aber die bestmögliche Kenntnis des Kunden, seiner finanziellen Situation und seiner Bedürfnisse ist für sie noch wichtiger. • Eine ehemalige Schulfreundin von mir hat das von ihrem Vater übernommene Fahrradgeschäft nach Kundenbedürfnissen wie Transport, Sport oder Lifestyle gegliedert. Das Produkt ist zwar immer ein Fahrrad, aber für ein Fahrrad als Lifestyle-Produkt bezahlt man für andere Dinge, und man bezahlt zehnmal mehr, als für ein Fahrrad als Transport-Produkt. • Eine Firma die Kopfhörer herstellt, wird möglicherweise nach unterschiedlichen Verwendungssituationen wie Bühne, Studio, Home und Mobil segmentieren. • Firmen schließlich, die Lebensmittel oder weiße Ware wie zum Beispiel Backöfen herstellen, sind tendenziell nach Regionen gegliedert. Warum wohl? Das Unternehmen sagt mit der Segmentierung seines Geschäftes, mit welchen Stärken es den Wettbewerb gewinnen und die Bedürfnisse seiner Kunden bestmöglich erfüllen will. Es gibt also grundsätzlich eine große Zahl von Segmentierungsmöglichkeiten. Wenn man sich diese für das eigene Unternehmen überlegt, kommen aber normalerweise dennoch nur drei bis vier Möglichkeiten wirklich in Frage. Diese Varianten tragen wir in die Spalten in unserem Segmentierungsdiagramm ein, das wir gemäß Abb. 9.4 erstellen. Wir beschreiben dabei für jede Variante, wie viele und welche operativen Einheiten wir damit hätten, damit wir sie uns in den folgenden Überlegungen so gut wie möglich vorstellen können. Unsere erste Variante ist immer die Segmentierung, die wir heute schon haben. Es

9.3  Die Segmentierung prüfen

155

Abb. 9.4  Über welche Dimension soll primär geführt werden?

kann sein, dass unsere Prüfung diese Variante bestätigen wird, oder dass keine der anderen Varianten ihr gegenüber einen wesentlichen Vorteil aufweist. Für eine ausreichend breite Prüfung sollte man mindestens drei, aber auch nicht mehr als fünf Varianten, inklusive des IST-Zustands, diskutieren. In die Zeilen des Segmentierungsdiagramms schreiben wir dann die Kriterien, nach denen wir die Varianten beurteilen wollen. Sie bestehen aus zwei Gruppen. Die erste Gruppe orientiert sich an der ersten Grundfrage des Organisierens, von der wir in Abschn. 5.1 gesprochen haben: cc

Wie müssen wir uns organisieren, damit das, wofür unsere Kunden bezahlen, im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, und von dort nicht wieder verschwinden kann?

Wir überlegen uns also, wofür unsere Kunden (wirklich?) bezahlen. Als ich in einer großen Versicherung diese Frage stellte, legte man mir drei mit Marketingstudien gefüllte Ordner vor. Sie drehten sich alle um die Frage, wie zufrieden die Kunden mit der Firma im Vergleich zum Wettbewerb sind. Das ist aber nicht die Frage, die uns interessiert. Wir wollen wissen, welches die kaufentscheidenden Kriterien unserer Kunden sind. Wofür sind sie bereit, Geld auszugeben? Alle anderen Faktoren interessieren uns nicht, egal wie zufrieden der Kunde damit ist. Er nimmt deren Vorteile sicher gerne mit, vielleicht erwartet er sie sogar, aber er würde dafür nicht bezahlen. Schließlich wägt der Kunde den Preis gegen die Leistung ab, für die er zu zahlen bereit ist. Er wählt den Wettbewerber, der ihm das beste Preis-Leistungs-Verhältnis, also den größten Kunden-

156

9  Die Grundstruktur prüfen und gestalten (Anatomie, Schritt I)

nutzen, bietet. Kaufentscheidende Kriterien können sich auf das Produkt beziehen, aber auch auf den Service oder das Unternehmen selbst. Es sind diejenigen Dinge, auf die der Kunde in dem Moment achtet, wo er sich überlegt, ob er bei diesem oder beim anderen Anbieter kaufen soll. Wie George A. Miller in den 1960er-Jahren in einem der meistzitierten Artikel der Psychologie gezeigt hatte, begrenzt die Aufmerksamkeitsspanne des Menschen diese Auswahl normalerweise auf die „magische Zahl von sieben plus/minus zwei“ Kriterien [2]. Normalerweise achtet niemand auf mehr als fünf bis neun verschiedene Dinge, bevor er sich entschließt, ein Auto, ein Smartphone oder etwas anderes zu kaufen. Es ist wichtig, wirklich vom Kunden und seiner Sichtweise auszugehen – also von der Person, die über den Kauf entscheidet. Das muss nicht immer der Empfänger der Leistung sein. Das Katzenfutter kauft schließlich auch nicht die Katze. Deshalb wird es vom Marketing so gestaltet, dass wir es am liebsten gleich selber essen würden. Es übersetzt die Bedürfnisse der Katze auf den Kaufentscheider. Auch bei Hilfsorganisationen gibt es zwei Arten von Kunden: Den Bedürftigen und den Spender. Die Wirkung soll beim Bedürftigen erreicht werden, also muss das Marketing dessen wirkliche Bedürfnisse erkennen und dem Spender kommunizieren. Die Kundensicht ist außerdem oftmals eine ganz andere als die Innensicht der Mitarbeiter auf ihre eigenen Produkte und Dienstleistungen. Wenn man die Mitarbeiter fragt, nennen sie einem zwanzig Attribute, die ihrer Meinung nach fantastisch und unerlässlich für den Kunden sind. Wenn man hingegen dann den Kunden selbst fragt, sind es erstens viel weniger Dinge, auf die er wirklich achtet, und es sind oftmals ganz andere Dinge. In einem Unternehmen in Berlin, das Waschmaschinen und Trockner produzierte, hatte ich die Ingenieure in die Einkaufshäuser geschickt – nicht damit sie Waschmaschinen kaufen, aber damit sie wieder einmal erleben, was Kunden interessiert und was nicht, und was die Verkäufer an den Geräten ausloben. Die Ingenieure sind mit Tränen in den Augen zurückgekommen. Kein Kunde hatte sich für ihre jahrelang, aufwändig entwickelte „Fuzzylogic“ mit den vielen Lämpchen und Optionen interessiert. Sie wollten eine Maschine, die robust, ökologisch und einfach zu bedienen ist. Keine Kundenzufriedenheitsstudie hatte aber Hinweise in diese Richtung gegeben. Man sollte sich mit der Antwort also nicht zu leicht zufriedengeben und sie regelmäßig auch wieder hinterfragen. Es ist die wichtigste Frage für ein Unternehmen und der Kern jeder Strategie. Wir haben im Abschn.  3.2 bereits über die kaufentscheidenden Kriterien gesprochen. Es lohnt sich, diesen Abschnitt jetzt nochmals durchzulesen. Zur Erinnerung: Kein Kunde bezahlt für einen Preis. Der Preis gehört also nicht in die Liste unserer Kriterien. Er ergibt sich aus der Marktsituation, dem Wettbewerb und vor allem aus der Kostenposition des Unternehmens. Diese wird durch andere, strategische ­Faktorenvorgesteuert, die wir in der zweiten Kriteriengruppe berücksichtigen: Dem Marktanteil, der Innovationsleistung und der Produktivität des Unternehmens. Die zweite Kriteriengruppe betrifft die Strategie als Ganzes. Wir wollen damit diejenige Segmentierung finden, die es uns am einfachsten macht, unsere strategischen

9.3  Die Segmentierung prüfen

157

Stoßrichtungen umzusetzen. Aufgrund empirischer Langzeitstudien über die Korrelation von strategischen Erfolgsfaktoren mit dem tatsächlichen Erfolg von Unternehmen wissen wir, auf welche Faktoren wir dabei achten müssen. Sie bestimmen zusammen etwa 70 % des Unternehmenserfolges [3]. Für diese Faktoren müssen strategische Stoßrichtungen entwickelt werden, damit wir überhaupt von einer Strategie reden können. Denn eine Strategie besteht aus einem kongruenten Dreieck von Zielen, Mitteln und Maßnahmen: Welche Ziele wollen wir mit welchen strategischen Stoßrichtungen erreichen, und welche Ressourcen benötigten wir dazu? Erst wenn wir wissen, was zu tun ist und die Menschen und das Geld dazu haben, können wir von einer konsistenten Strategie sprechen. Insgesamt sind es sechs Faktoren, über die eine Strategie eine solche Aussage treffen muss: 1. Marktstellung, bestehend aus Marktanteil und Kundennutzen (relativ zum Wett-bewerb): Wo wollen wir Marktanteile halten oder gewinnen? Mit welchen Argumenten wollen wir welchem Wettbewerber wieviel Marktanteil wegnehmen? Womit stärken wir unsere Position im Kundennutzen gegenüber dem Wettbewerb? 2. Innovationsleistung: Mit welchen Produkten, Dienstleistungen oder Geschäftsmodellen wollen wir in Zukunft erfolgreich sein? Wie stark muss unsere Innovationsleistung in welchen Bereichen konkret sein? Was müssen wir heute dafür tun und wie müssen wir unser Unternehmen dazu anpassen? 3. Produktivität: Wie produktiv müssen wir arbeiten, damit wir eine Kostenposition erreichen, die es uns erlaubt, unsere Leistungen zu attraktiven Preisen im Vergleich zum Wettbewerb anzubieten? Wie produktiv müssen wir arbeiten, damit wir schnell genug sind, beispielsweise von der Entwicklung bis zur Vermarktung? Und wie produktiv gehen wir mit unseren Investitionen um? Mit welchen Investitionen können wir umgekehrt unsere Produktivität am besten erhöhen? 4. Attraktivität für gute Leute: Wie wollen wir unser Unternehmen attraktiv genug machen für die Leute, die wir in Zukunft benötigen? Welche und wie viele Leute benötigen wir bis wann, und wie wollen wir sie halten oder gewinnen? 5. Liquidität und Cashflow: Wie kommen wir zu den finanziellen Mitteln, die wir zur Strategieumsetzung benötigen? Wie groß müssen diese Mittel aufgrund von Investitionen oder allfälligen Durststrecken sein? 6. Gewinn: Welche Profitabilität ist nötig, um auf Dauer diese finanziellen Mittel zu erwirtschaften? Welchen Gewinn brauchen wir mindestens, um uns das alles leisten zu können, und wie erzielen wir ihn?

158

9  Die Grundstruktur prüfen und gestalten (Anatomie, Schritt I)

Unabhängig davon, ob das zu diagnostizierende Unternehmen in seiner Strategie auch tatsächlich Stoßrichtungen zu diesen Faktoren formuliert hat, müssen wir seine Absicht darin kennen. Die Reihenfolge dieser sechs Faktoren, die Malik das „Sixpack of Control“ nennt, entspricht ihrer Bedeutung [4]. Je nach Situation des Unternehmens können wir deshalb die letzten beiden Faktoren für unsere Zwecke vernachlässigen. Die Segmentierung des Unternehmens kann zwar die Umsetzung strategischer Stoßrichtungen im Bereich von Liquidität, Cashflow und Gewinn erleichtern oder erschweren, langfristig resultieren sie aber aus den ersten vier Faktoren, die den Gewinn und die Liquidität vorsteuern. Je nach Art und Charakter des Unternehmens müssen wir außerdem die inhaltlichen Fragen zu den sechs Faktoren anpassen. Nachdem wir die Segmentierungsvarianten in unserer Tabelle in die Spalten und die Kriterien in die Zeilen eingetragen haben, beginnen wir mit der Beurteilung (Abb. 9.5). Wir fragen uns für jedes Kriterium, welche der Segmentierungsvarianten uns am meisten hilft, darin erfolgreich zu sein. Wir bewerten die Varianten und bringen sie in eine Reihenfolge, die wir in der Tabelle eintragen. Es empfiehlt sich, jeder Variante eine Punktzahl zu geben, wobei die schlechteste Zahl die 1 und die höchste Zahl bei beispielsweise drei Varianten die 4 sein sollte, damit man eine Variante auch eindeutig besser oder schlechter als andere bewerten kann. Man muss sich zwingen, so lange zu

Variante 0 (IST)

Variante I

Variante II

Nr.

Evaluationskriterien

Region

Applikation

Kundengruppe

K1

Technische Qualität

1

4

3

K2

Geschwindigkeit

4

2

1

K3

Leistung der Logistik

4

1

3

K4

Persönliche Beziehungen

4

2

1

K5

Aussendienst Qualität

1

4

3

1

Marktstellung

4

2

3

2

Innovationsleistung

1

4

3

3

Produktivität

3

1

4

4

Attraktivität für gute Leute

4

3

1

5

Liquidität und Cash-Flow / Profitabilität

4

3

1

30

26

23

Total

Abb. 9.5  Beurteilung der Segmentierungsvarianten

9.3  Die Segmentierung prüfen

159

diskutieren, bis die Reihenfolge klar ist und darf nicht der Versuchung erliegen, Varianten einfach gleich zu bewerten. Wenn dennoch alle Varianten wirklich gleich bewertet werden, wie das im Fall von Liquidität/Cashflow oder Gewinn manchmal geschieht, kann das Kriterium gestrichen werden. Wir müssen uns bewusst sein, dass wir hier eine Beurteilung vornehmen und keine wissenschaftliche Studie erstellen. Wenn wir fertig beurteilt haben, wird sich ein Gesamtbild ergeben. Wir können zwar Punkte zusammenzählen, und wir können im Zweifel gewisse Kriterien höher als andere gewichten oder gewisse Faktoren auch ausblenden, wir dürfen aber nicht mathematisch entscheiden. Normalerweise ist das auch gar nicht nötig, weil das Bild am Ende der Beurteilung klar genug ist. Jede Organisationsvariante kann nur eine gewisse Anzahl von Kriterien wirklich gut erfüllen. Wie die Erfahrung aus hunderten von Fällen zeigt, lösen sich durch diese Vorgehensweise die meisten Fragen und Unsicherheiten auf. In einem europaweit tätigen Unternehmen für individualisierte Fotoprodukte hatte man im Verwaltungsrat über mehrere Jahre hinweg diskutiert, ob man das Unternehmen nach Regionen oder nicht doch eher nach Produktgruppen segmentieren und führen sollte. Nachdem man die beiden Optionen anhand der genannten Kriterien in einer zweistündigen Sitzung beurteilt hatte, war der Fall sonnenklar. Es gibt aber auch den Fall, in dem zwei Varianten sehr ähnlich beurteilt werden und man auch nach einer anderen Gewichtung der Kriterien zu keinem eindeutigen Bild kommt. In diesem Fall wählt man die Variante, bei der man weniger an der heutigen Organisation ändern muss. Sofern die IST-Variante selber dazu gehört, bleibt man einfach bei der heutigen Organisation. Eine andere Variante müsste schließlich einen eindeutigen Vorteil haben, sonst kann man sich die Reorganisation sparen. Es kommt vor, dass man sich nicht auf gemeinsame, kaufentscheidende Kriterien einigen kann. Selbstverständlich sind diese bei jedem Kunden etwas verschieden. Normalerweise kann man sich aber auf die Kriterien des typischen Kunden einigen. Falls das wirklich nicht möglich sein sollte, ist das ein Hinweis darauf, dass man es mit a priori verschiedenen Geschäften zu tun hat. Verschiedene Geschäfte sprechen andere Kunden mit anderen Produkten und Services an und haben einen anderen Wettbewerb. Sie müssen ohnehin als eigenständige, operative Einheiten betrachtet werden, so dass die Segmentierungsfrage für sie hinfällig wird. Auch Innovationen, also neue Geschäfte, sollen grundsätzlich als eigenständige, operative Einheiten angelegt werden, sobald das möglich ist. Wir haben das in Abschn. 3.8 begründet. Innerhalb eines bestehenden Geschäftes jedoch sollte man sich auf den typischen Kunden und seine Kriterien einigen können. Im Zweifel macht es Sinn, die Kunden selbst und auch Nicht-Kunden zu befragen. Wenn wir uns auf die Segmentierungsvariante geeinigt haben, die die kaufentscheidenden Kriterien am besten fördert und mit der wir unsere strategischen Stoßrichtungen am einfachsten realisieren werden, haben wir uns für die primäre Steuerungsdimension des Unternehmens entschieden. Das bedeutet, dass diese Dimension Vorfahrt hat, wenn Kompromisse gemacht werden müssen zwischen Technologie, Produkt, Vertriebsweg, Kundengruppe oder Region. Es ist die führende Dimension, die wir im SIF als Erstes

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9  Die Grundstruktur prüfen und gestalten (Anatomie, Schritt I)

optimieren. Dafür ist im Steuerungssystem das System 1 zuständig. Die anderen Dimensionen werden über die Systeme 2 bis 5 optimiert und dienen dem System 1 zu. Auch mit der besten Segmentierung bleiben meistens noch Überschneidungen und Abhängigkeiten zwischen den operativen Einheiten bestehen, die Koordinationsbedarf und Probleme verursachen. Das sind jetzt aber die richtigen Probleme und nicht mehr die falschen (wie in Abschn. 3.4 argumentiert wurde). Es sind die Hausaufgaben, die das System 2 bis 5 bewältigen muss. Dazu ist das Steuerungssystem da. Verschiedene Rekursionsebenen können unterschiedlich segmentiert sein. Ein Unternehmen kann auf der obersten Ebene nach Produkten gegliedert sein und darunter in Vertriebsregionen, die sich dann in Kundengruppen aufteilen. Es kommt aber auch vor, dass ein Unternehmen über alle Rekursionsebenen hinweg beispielsweise nach Regionen gegliedert ist. Beides ist möglich. Sofern wir hingegen auf der gleichen Rekursionsebene unterschiedlichen Segmentierungsvarianten begegnen (sozusagen eine Hybrid Struktur), kann zwar auch das innerviert werden. Die Konsequenzen daraus sind aber aller Wahrscheinlichkeit nach große Umweltüberschneidungen und operative Abhängigkeiten, die den Spielraum und die Agilität der operativen Einheiten einschränken. Das ist nicht das, was wir wollen. In etwa der Hälfte aller Fälle, in denen ich diesen Diagnoseschritt mit Führungskräften aller Arten von Unternehmen in allen Arten von Branchen, Bundesämtern oder NGOs gemacht habe, wurde die bestehende Segmentierung der operativen Einheiten grundsätzlich bestätigt oder allenfalls nur kosmetisch verändert. Das Resultat der Diagnose war am Ende die Verbesserung der Steuerungsorganisation der bestehenden Einheiten, die danach relativ einfach und ohne Einbezug einer größeren Anzahl von Mitarbeitern zu implementieren war. In der anderen Hälfte der Fälle begann hier die Reorganisation. Das bedeutet, dass die operativen Einheiten geändert werden müssen, und das hat zwingenderweise den Einbezug einer Vielzahl von Mitarbeitern zur Folge. Wir werden im Kap.  17 auf diese zwei Möglichkeiten genauer eingehen und dort auch diskutieren, welche Personen wann in den Gestaltungsprozess einbezogen werden sollten. Für den Moment genügt es zu wissen, dass wir die primäre Steuerungsdimension für unser Geschäft gefunden haben. Wir wissen jetzt, wie die operativen Einheiten im SIF aussehen, auf die wir im nächsten Dia­ gnoseschritt aufbauen. Wir haben mit dem IST angefangen, aber wir definieren hier bereits das SOLL für die Zukunft des Unternehmens. Aufgaben

a. Überlegen Sie, welche alternativen Segmentierungsmöglichkeiten für Ihr SIF in Frage kommen, und beurteilen Sie diese anhand der Kriterien, wie oben beschrieben. b. Entscheiden Sie sich für die Segmentierung, die in Summe die Kriterien am besten erfüllt. c. Diskutieren Sie diese Punkte mit ein paar Kollegen, um auf bessere Lösungen zu kommen.

Literatur

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Literatur 1. Beer, Stafford. 1985. Diagnosing the system for organizations. The managerial cybernetics of organization, 99. Chichester/New York/Brisbane/Toronto/Singapore: Wiley. 2. Miller, George A. 1956. The magical number seven, plus or minus two: Some limits on our capacity for processing information. The Psychological Review 63: 81–97. 3. Buzzell, Robert D., und T. Gale Bradley. 1987. Das PIMS-Programm: Strategien und Unternehmenserfolg. Wiesbaden: Springer. 4. Malik, Fredmund. 2011. Strategie. Navigieren in der Komplexität der neuen Welt, 96–100. Frankfurt/New York: Campus.

Komplexität beherrschen (Exkurs)

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Bevor wir mit unserer Diagnose fortfahren, müssen wir uns mit ein paar Grundlagen zum richtigen Umgang mit Komplexität vertraut machen. Komplexität ist der Rohstoff der Steuerung. Wir müssen deshalb wissen, wie sich dieser Rohstoff verhält, wie er entsteht, wirkt und wie man ihn managen kann. Unser Nervensystem steuert in einer hochkomplexen und dynamischen Umwelt. Dazu bedient es sich einiger Tricks und Gesetze, die wir auch im Viable System Model anwenden werden. Was genau ist also Komplexität? Wir machen dazu in diesem Kapitel einen kleinen Exkurs in so viel Theorie, wie für unser Verständnis dieser Grundlagen erforderlich ist. Zuerst werden einige Leute sagen, dass man Komplexität nicht beherrschen könne. Das mag richtig sein, je nachdem was man unter „beherrschen“ versteht. Gemeint ist hier der richtige Umgang mit Komplexität, was man im Englischen mit „coping with complexity“ bezeichnen würde. Auf Deutsch könnte man stattdessen auch „managen“ oder „meistern“ sagen. „Beherrschen“ ist also in dem Sinn zu verstehen, wie man ein Instrument „beherrscht“: Man weiß, wie man richtig damit umgeht. Für den Praktiker sind diese Wortbedeutungen nicht so wichtig. Er ist mit Komplexität konfrontiert, muss mit ihr zurechtkommen und will sie deshalb aber irgendwie fassen und messen können. So wie wir Gewicht in Kilogramm oder Länge in Metern ausdrücken, hat auch Komplexität eine messbare Ausdrucksform. Diese Maßeinheit von Komplexität heißt „Varietät“. cc Varietät  Die Anzahl unterscheidbarer Zustände in einem System. Varietät ist also die Anzahl der durch einen Beobachter unterscheidbaren Zustände. Das Wort „unterscheidbar“ liegt nahe beim Wort „Information“, denn Information ist laut Gregory Bateson „ein Unterschied, der einen Unterschied macht“ [1]. Oder wie Stafford Beer es ausdrückte: „Information is, what changes us“. Da Varietät die Unterscheidung von Zuständen betrifft und diese Unterschiede Informationen sind, hängen Varietät und Infor-

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Pfiffner, Die dritte Dimension des Organisierens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29247-8_10

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10  Komplexität beherrschen (Exkurs)

mation offensichtlich irgendwie zusammen. Sie sind verwandt, und doch nicht dasselbe. Varietät wird entlang aller Kommunikationskanäle im Viable System Model mit Hilfe von Information unter Kontrolle gehalten. In der Informations- und mathematischen Kommunikationstheorie spricht man deshalb vom „Flow of Bits“ als „Flow of Variety“. Die Informationstheorie befasst sich aber nicht mit dem Fluss semantischer Bedeutung, also der Frage, was die Bits für den Empfänger bedeuten [2]. Für den Manager und für das Funktionieren in sozialen Organisationen ist das hingegen genauso wichtig, denn aus dem „Flow of Bits“ und den Fakten werden erst dann Informationen, wenn sie etwas bedeuten und wenn sie etwas verändern können. Auf diese Betrachtung von gelungener K ­ ommunikation und Kommunikationssicherheit werden wir im Kap. 15 „Die Kommunikationskanäle prüfen und gestalten“ eingehen. Wir werden uns also mit beidem befassen: Mit dem technischen Aspekt von Information als Varietätsträger wie auch mit seinem sozialen Aspekt als Bedeutungsträger. Komplexität messen Wenn wir nun Komplexität messen wollen, müssen wir die Anzahl unterscheidbarer Zustände im System untersuchen. Das einfachste Beispiel dazu ist die Glühbirne (Abb. 10.1) [3]. Sie kann zwei unterscheidbare Zustände aufweisen, indem sie „an“ oder „aus“ ist. Aber stimmt das? „Aus“ kann neben „ausgeschaltet“ auch „kaputt“ oder „nicht unter Strom“ bedeuten, weil vielleicht ein Transistor in der Stadt durchgebrannt ist. Und wenn wir einen Dimmer benutzen, sind es zwar nicht unendlich viele Zustände, sondern wieder die sieben plus/minus zwei Zustände, die ein Mensch normalerweise unterscheiden kann. Auch hier spielt der Beobachter eine Rolle.

Abb. 10.1  Komplexität wird durch Varietät gemessen und ausgedrückt

10  Komplexität beherrschen (Exkurs)

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Wenn wir das System für den Moment einfach halten und nur „an“ und „aus“ berücksichtigen, sind das pro Glühbirne zwei mögliche Zustände. Wenn fünf Glühbirnen als Disco-Beleuchtung miteinander verbunden werden, sind das schon 32 mögliche Zustände, die dieses System annehmen kann. Interessant ist, dass sich die Anzahl der Elemente verfünffacht, während die Anzahl der Zustände um den Faktor sechzehn ansteigt. Die Formel für die Berechnung der Varietät lautet „Anzahl Zustände hoch Anzahl Elemente“ – und damit haben wir es mit exponentiellem Wachstum zu tun. Das ist heikel. 32 Zustände zu managen ist zwar kein Problem für eine Führungskraft. Wenn wir das System aber nun etwas anspruchsvoller anlegen und beispielsweise 25 solche Glühbirnen ­zusammenschalten, erkennen wir die explosive Wirkung von Komplexität: Sie steigt sofort auf 32 Millionen mögliche Zustände, die unter Kontrolle gehalten werden müssen (Abb. 10.2). Wenn wir ab jetzt nur eine einzelne weitere Glühbirne dazu schalten, verdoppelt sich die Komplexität unversehens um zusätzliche 32  Millionen Zustände. Diese wuchernde Wirkung von Komplexität überlastet jedes Steuerungssystem früher oder später, wenn es nicht richtig gestaltet ist. Da wir uns dieser Eigenschaft von Komplexität im Alltag nicht bewusst sind, neigen wir dazu, dem System immer mehr Elemente beizufügen, ganz gleich, ob es sich dabei um Produkte, Varianten, Sitzungen, Menschen, Projekte oder um was auch immer handelt. Aufgrund des exponentiellen Wachstums geschieht lange Zeit nichts, und wir fügen

Abb. 10.2  Komplexität wuchert exponentiell

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nochmals neue Elemente dazu, ohne gleichzeitig alte aufzugeben. Irgendwann fügen wir dann nur noch ein einzelnes, weiteres Element dazu, und mit einem Mal fliegt uns das ganze um die Ohren – wir sind nur noch mit Feuerlöschen beschäftigt, leisten noch mehr Überstunden und treten dennoch auf der Stelle. Wir haben keine Ahnung, was eigentlich passiert ist, denn wir haben nur das getan, was wir schon seit langem tun: Wir haben nur ein einzelnes, weiteres Element hinzugefügt. Die Welt des Möglichen übersteigt die Welt des Erwünschten mit einem Mal massiv und die Dinge können unversehens auf doppelt so viele Arten schieflaufen. Mit solchen Situationen ist beispielsweise das Sicherheitsengineering an Flughäfen, in Atomkraftwerken oder von großen Sport- und Musikveranstaltungen konfrontiert. Nicht ohne Grund haben wir deshalb in Abschn. 5.3 über die Notwendigkeit der Entnetzung von Dingen gesprochen. Komplexität entsteht, weil die Elemente miteinander in Verbindung stehen. Erst dann reden wir überhaupt von einem System. Komplexe Systeme verhalten sich wie ein Schachbrett, bei dem die Figuren mit Gummizügen miteinander verbunden sind. Bewegt man eine Figur, bewegen sich alle anderen Figuren gleichzeitig auch. Es ist deshalb kaum möglich, einzelne Symptome auf einzelne Ursachen zurückzuführen. Die Kausalbeziehungen verschwinden in einer Zirkularität des Ganzen und es entstehen Systemeigenschaften, die vorher nicht da waren. Die Pferdestärken des Autos und die „Freude am Fahren“, wie BWM sagt, lassen sich nicht auf einzelne Elemente und Ursachen zurückführen, sondern es ist das Zusammenwirken von 20.000 Teilen, das sie entstehen lässt. Wenn wir das Ganze entnetzen, kappen wir also auch die Verbindungen, die solche emergenten Eigenschaften wie PS oder Freude hervorrufen. Das ist das Problem des Reduktionismus. In der Wissenschaft neigt man dazu, die Komplexität der Welt zu reduzieren, indem man die Universitäten in Fachbereiche aufteilt und mit Hilfe der „Ceteris-Paribus-Klausel“ einfach nur einen Teil des Ganzen betrachtet. In der Volkswirtschaftslehre werden so beispielsweise mathematische Modelle für Teilfragen entwickelt. Die Volkswirtschaft als Ganzes kann man damit aber nicht erklären. Sie ist zu komplex. Auch unsere Schulen und unsere Ministerien funktionieren nach dem reduktionistischen Prinzip. So haben wir ein Ministerium für Gesundheit, eines für Erziehung und eines für Arbeit und Soziales. Die praktischen Probleme richten sich aber nicht nach unseren Kategorien. Sie sind vernetzte Probleme, denn es ist der gleiche Bürger, der krank ist, oder schlecht ausgebildet, oder arbeitslos und arm. Und vielleicht ist er krank, weil er arbeitslos oder schlecht ausgebildet ist. Der ehemalige Bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber brachte es auf den Punkt, als er über die Schwierigkeiten seines Amtes sprach: „Ois hangt mit oim zamm“.1 Im Gegensatz zum Wissenschaftler kann der Politiker wie auch der Manager nicht mit dem reduktionistischen Ansatz arbeiten. Er ist für das Ganze verantwortlich und muss mit der vollen Komplexität zurande kommen. Wie er entnetzt, ist also entscheidend. Im letzten Kapitel haben wir mit der Segmentierung die richtige Entnetzung für unser Unternehmen im SIF gefunden.

1

 „Alles hängt mit allem zusammen“.

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Außerdem müssen wir Komplexität von Kompliziertheit unterscheiden. Komplexität ist eine objektiv messbare Eigenschaft, wie wir am Beispiel der Glühlampen gesehen haben. Ob etwas kompliziert ist oder nicht, ist hingegen eine subjektive Frage. Ein hundertteiliges Puzzle kann für ein Kind kompliziert sein und für einen Erwachsenen einfach. Es ist aber nicht komplex, weil es nur einen Zustand gibt, in dem das Puzzle Sinn macht. Eine Gebrauchsanleitung ist nicht komplex, denn sie nimmt keine unterschiedlichen Zustände an. Sie kann aber durchaus kompliziert zu verstehen sein. Auch eine mechanische Uhr ist nicht komplex, denn sie soll immer das Gleiche tun. Für ihre Kompliziertheit (die Komplikationen) geben Uhrenliebhaber aber viel Geld aus. Die Kunst liegt darin, Komplexität durch Einfachheit zu erzeugen. Die schwarzen und weißen Tasten der Tastatur eines Klaviers sind etwas höchst Einfaches. Und doch lässt sich die ganze Welt der Musik damit erzeugen, ob Jazz, Klassik, Pop oder Volksmusik. Auch das Cockpit eines Militärflugzeuges ist nicht kompliziert. Dieses „Man Machine Interface“ wird sorgfältig gestaltet, so dass man damit sehr komplexe Manöver ausführen kann, und es trotzdem die Aufmerksamkeitspanne des Piloten nicht überfordert. Im Kern geht es dabei wie bei der Modularisierung in Baukastensystemen um die Konzentration auf wenige Elemente, deren Kombinationsmöglichkeit eine hohe Komplexität erzeugt, so wie auch unendlich viele Musikstücke durch unterschiedliche Kombinationen von nur gerade sieben Tönen einer Tonleiter erzeugt oder ein ganzes Buch mit denselben 26 Buchstaben des deutschen Alphabets geschrieben werden kann. Der Fokus auf wenige, aber wichtige Elemente und ihre zirkulären Verbindungen untereinander ist ein Muster, das wir in der in der „science of simplification“, wie wir die Kybernetik im Kap. 4 genannt haben, immer wieder finden. cc

„There is more to quantification than numeration“ (Stafford Beer)

Zurück zur Frage, wie wir Komplexität messen. Wir können selbstverständlich nicht herumgehen und Zustände zählen. Das ist auch gar nicht nötig, weil das Messen keine exakte Wissenschaft ist. Im Gegenteil, die meisten Dinge im Leben messen wir auf ganz natürliche Art im Sinne einer Beurteilung. Wenn wir zum Beispiel Kleider anprobieren oder Möbel im Raum verschieben, schätzen wir ab, ob es ungefähr passt, ohne vorher nachgemessen zu haben. Das bereitet uns keine Mühe. Und wenn wir auf der Autobahn ein anderes Auto überholen wollen, können wir aus Erfahrung beurteilen, wie stark wir auf das Gaspedal treten müssen, ohne dass wir die dazu nötigen kg/cm2 kennen. Je einfacher die Dinge sind, desto eher können wir im klassischen Sinne messen und eine konkrete Zahl dazuschreiben. Je komplexer und je wichtiger sie für das Unternehmen sind, desto weniger können wir messen und desto mehr müssen wir Quantitäten beurteilen. Schließlich ist nicht die einzelne Varietätszahl relevant, sondern das „Matching“ von Varietäten, also die vergleichende Evaluation: Was ist größer als was? Das reicht aus, um zu entscheiden. Wer noch eine alte Waage besitzt und ein paar Kartoffeln in die eine Schale legt und ein Gewicht in die Andere, sieht schnell, ob die Sache in Balance ist – er braucht weder die Kartoffeln zu zählen noch das Gewicht zu kennen. Varietäten werden gemessen, ohne sie zu zählen.

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cc Second Regulatory Aphorism [4]  It is not necessary to enter the blackbox to calculate the variety that it potentially may generate. „Coping with complexity“ Für den richtigen Umgang mit Komplexität muss man wissen, dass Komplexität nicht nur eine negative und bedrohliche Seite hat. Sie ist weder gut noch schlecht. Sie ist nicht grundsätzlich unerwünscht, denn Komplexität erzeugt auch Leistungsfähigkeit. Im Abschn. 2.3 haben wir dazu bereits den Evolutionsbiologen Carsten Bresch zitiert: „Höhere Fähigkeiten erwachsen nur aus mehr Komplexität“ [5]. Sie ist das Problem und die Lösung zugleich. Auf der einen Seite macht sie alles schwierig, auf der anderen Seite aber auch erst alles möglich. Dem unter Führungskräften immer noch beliebten KISS-Prinzip aus den 1950er-Jahren: „Keep it simple, stupid“, kann deshalb nur beschränkt zugestimmt werden. In den 1990er-Jahren haben beispielsweise viele Unternehmen Sparprogramme nach dem Rasenmäher-Prinzip aufgesetzt: Alle Bereiche mussten unabhängig von ihrer speziellen Situation ihre Kosten um zehn Prozent senken. Damit wurde da zu wenig Fett weggeschnitten, wo man hätte schneiden können und dort zu viel, wo effektive Leistung hinter den Kosten stand. Weil man sich die Sache einfach machen wollte, hat man sich so die eigenen Stärken gekappt. Wir müssen Komplexität einerseits eliminieren, wo sie überflüssig ist, aber andererseits dort aufbauen, wo sie zu Leistung führt. Die neue Schlüsselkompetenz von Unternehmen ist deshalb nicht das Vermeiden, sondern das Beherrschen von Komplexität. Reduktion von Komplexität durch Aufgabe von Altem und Unwichtigem, durch die Entnetzung von Dingen, die nicht notwendigerweise zusammengehören, oder beispielsweise durch die bewusste Auswahl des Marktes, in dem man (nicht) tätig sein will, ist also eine Seite der Medaille. Die Strategie des deutschen Discounters Aldi bestand beispielsweise darin, nur die Produkte anzubieten, die die Hausfrau einmal pro Woche kauft. Der bewusste Aufbau von Komplexität für mehr Leistung ist die andere Seite. Je mehr Leistungsfähigkeit wir aufbauen, desto weniger müssen wir die Komplexität der Umwelt reduzieren, weil wir dadurch beispielsweise mehr oder andere Kunden erreichen und bedienen können. Komplexität wird je nachdem gedämpft oder verstärkt, um uns der Begriffe der Nachrichtentechnik zu bedienen. Dabei ist am Ende nur das Matching von Varietäten entscheidend – die Balance. Das Ziel jeder Steuerung ist es, das Ganze in eine angestrebte Balance, in ein Fließgleichgewicht zu bringen und diesen Gleichgewichtszustand auf Dauer zu halten. So finden in unserem Köper sogenannt homöostatische Prozesse statt, die unsere Körpertemperatur konstant zwischen 36,3 und 37,4 Grad Celsius halten. Das ist ein selbstregulierender Mechanismus, der nicht davon abhängt, Ursachen von Störungen zu kennen, sondern der zuverlässig mit ihren Wirkungen umgeht. Auch für die Steuerung des Unternehmens legen wir Zielgrößen fest, die es erreichen und auf Dauer halten soll. Ein solches Fließgleichgewicht ist in Abb. 10.3 dargestellt. Wir erkennen die Varietät der Umwelt auf der linken Seite und die Varietät der Operation auf der rechten Seite. Letztere ist kleiner, weil es immer mehr Zustände in der Umwelt gibt, als die Operation jemals

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Abb. 10.3 Varietätsmanagement

abbilden kann. Das Management dieses Unternehmens kann nun aktiv werden und die Varietät der Umwelt bewusst dämpfen oder sie kann die Varietät ihrer Operation verstärken. Sie tut das in einem permanenten Kreislauf, bis das angestrebte Ziel im Sinne des Fließgleichgewichtes erreicht ist. In einer Firma mag das zum Beispiel ein bestimmter Marktanteil oder eine bestimmte Profitabilität sein. Was aber geschieht, wenn das Unternehmen nichts tut? cc Ashby’s Law of requisite Variety [6]  Only Variety can absorb Variety. Dieses Komplexitätsgesetz ist eines der wichtigsten Gesetze der Kybernetik und es wirkt wie ein Naturgesetz, ob man es kennt oder nicht. Für die Führungskraft ist es von enormer Bedeutung, denn die meisten Führungsprobleme stammen daher, dass man es ignoriert. Man wendet „low variety solutions“ auf „high variety problems“ an. Ashbys Gesetz der erforderlichen Varietät bedeutet, dass Komplexität nur durch gleichviel Komplexität absorbiert werden kann. Etwas Komplexes unter Kontrolle zu halten, setzt also voraus, dass mindestens gleichviel Komplexität entgegengesetzt wird. 11 Fußballspieler werden durch 11 andere Fußballspieler unter Kontrolle gehalten. Wenn einer die rote Karte erhält, stimmt die Varietätsgleichung nicht mehr und beide Teams stellen sofort ihre Taktik um. Die Varietäten gleichen sich auf Dauer immer aus. Die Varietät der Umwelt kann nur so groß sein, wie es die Varietät der Operation erlaubt. Wenn beispielsweise zehn Kunden (Umwelt) in der Mittagspause ein Schuhgeschäft betreten, aber nur ein Verkäufer da ist (Operation), dann werden neun Kunden das Geschäft wieder verlassen, weil sie nicht bedient werden. Also muss der Geschäftsleiter etwas unternehmen. Er versucht, die Varietät seiner Operation in der hochfrequentierten Zeit über Mittag beispielsweise mit einem zweiten Verkäufer zu verstärken. Seine Möglichkeiten sind aber beschränkt. Deshalb muss

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er auch die Varietät seiner Umwelt so dämpfen, so wie er das möchte. Er legt fest, auf welche Art von Kunden er sich konzentrieren will und wie sie angesprochen werden sollen. Ein ähnliches Problem hat der Trainer der deutschen Fußballnationalmannschaft. Sie soll die spanische Mannschaft unter Kontrolle halten, die für ihr komplexes Spiel bekannt ist. Der Trainer kann nur entweder die Varietät seiner eigenen Mannschaft erhöhen oder die der gegnerischen Mannschaft dämpfen. Wie aber macht er das? Er setzt dazu ­zahlreiche Techniken ein, die entweder verstärkend, dämpfend oder manchmal auch als beides zugleich wirken (Abb. 10.4). Auch der Chef der Stadtpolizei hat ein Komplexitätsproblem zu lösen, denn die Komplexität seiner relevanten Umwelt – die verdeckte und offene Kriminalität – ist riesig und übersteigt bei weitem die personellen und finanziellen Ressourcen, die ihm das Departement zur Verfügung stellt. Also muss auch er überlegen, welche Dämpfer und Verstärker er nutzen kann. In den 1970er-Jahren entstand so beispielsweise die Idee, das inzwischen verbreitete Fernsehen als Varietätsverstärker einzusetzen. Dazu wurde die Sendung „Aktenzeichen XY“ ins Leben gerufen, mit jahrzehntelangem Erfolg. Daneben gibt es viele weitere Techniken und Taktiken der Polizei, mit denen sie aktiv Ashbys Gesetz der erforderlichen Varietät erfüllt. In den Abb. 10.4 und 10.5 ist genügend Platz frei, so dass jeder seine eigenen, zusätzlichen Tipps zur Verstärkung oder Dämpfung von Varietät für den Polizeichef oder den Fußballtrainer hineinschreiben kann …

Abb. 10.4  Varietätsmanagement im Fußball

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Abb. 10.5  Varietätsmanagement bei der Polizei

Ashbys Gesetz der erforderlichen Varietät bezieht sich auch auf unser Steuerungsmodell: Hat es genügend Varietät, damit es wirksam steuern kann? In Kap. 4 haben wir darüber gesprochen, dass die Qualität von Managemententscheidungen nicht besser sein kann als die Qualität der Modelle, die ihnen zugrunde liegen, es sei denn durch Zufall. Jetzt wo wir Ashbys Gesetz kennen, können wir auch das Conant-Ashby-Theorem besser einordnen: cc Conant-Ashby Theorem [7]  Every good regulator of a system must be a model of that system. That model must have requisite variety. Wenn unser Modell weniger Varietät als das zu steuernde System hätte, könnte dieses Dinge tun, die das Steuerungssystem nicht verstehen würde. Ein gutes Steuerungsmodell muss die erforderliche Steuerungskraft für ein komplexes Unternehmen entwickeln, und dazu fokussiert es auf die essenziellen Variablen und ihre Verbindungen untereinander, so wie wir sie im Viable System Model mit den Systemen 1 bis 5 und den Kommunikationskanälen dazwischen kennen gelernt haben. Wir erinnern uns an das Prinzip der russischen Puppen, an das Prinzip verteilter Steuerung und an die relative Autonomie der operativen Einheiten im System 1. Durch diese Struktur zerschneidet das Viable System Model die Gesamtkomplexität der Umwelt in verdaubare, aber doch ganzheitliche Portionen, stattet diese mit einer eigenen Steuerung aus und verbindet sie wieder zu höherer Leistung. Es gehört nachgerade zum Zweck einer Organisationsstruktur, dass sie die Komplexität der Umwelt reduziert und Ashbys Gesetz implementiert. Schlecht strukturierte Unternehmen sind allerdings manchmal komplexer als es der Markt eigentlich verlangt,

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und komplizierter als es nötig ist. So bestand ein mittelständisches Bauunternehmen aus über 30 unterschiedlichen Firmen, die nach der Diagnose auf die Hälfte konsolidiert werden konnten. Negative Feedback and Self-Control Das wohl wirksamste Prinzip des Viable System Models, um die riesige Steuerungskomplexität unter Kontrolle zu bringen, ist die Nutzung verteilter Steuerkapazität durch die Etablierung von Selbststeuerung. Nicht nur, weil es das Unternehmen robust macht (vgl. das Prinzip der Redundanz potentieller Führung in Kap. 7), sondern weil Selbststeuerung ein großer Varietätsverstärker ist, der die Zahl der Steuereinheiten vervielfacht. Selbststeuerung entsteht durch das Etablieren von Regelkreisen. Im Prolog haben wir bereits von der Entdeckung des Feedback-Prinzips und seiner Bedeutung gesprochen. Genau gesagt benötigen wir „Error-Controlled Feedback“ oder „Negative Feedback“ für die Selbststeuerung. Negative Feedback gehört wie Ashbys Varietätsgesetz zu den wichtigsten Zutaten in der Rezeptur des Gelingens. Der Trick besteht darin, das Signal des Fehlens wieder in den Input des Steuerungssystems zurückzuführen (Abb. 1.1). Im Prolog haben wir darüber gesprochen, wie dieses Prinzip mit großem Erfolg in der Technik angewandt wird. In unseren Unternehmen bedeutet es, dass die Folgen einer Entscheidung auf den Entscheider zurückgeführt werden. Wer eine Entscheidung trifft, muss die Wirkungen daraus – im Positiven wie im Negativen – spüren. Dazu gehört auch, dass jemand eine Funktion lange genug ausübt, damit die Ergebnisse seiner Entscheidungen überhaupt sichtbar werden. Das können manchmal mehrere Jahre sein, weshalb das „job hopping“ in einem Unternehmen grundsätzlich vermieden werden sollte. Aus dem gleichen Grund sollte eine neue Entscheidung immer erst dann getroffen werden, wenn die Wirkung der vorherigen Entscheidung bekannt ist. Dieser Impuls des negativen Feedbacks ist notwendig, damit eine Steuerung lernt, ihren Irrtum erkennt und ihn korrigiert. Je besser wir diese Feedback-­ Schlaufe gestalten, desto mehr Selbststeuerung schaffen wir. Entdeckt und beschrieben wurde das Negative Feedback-Prinzip erstmals von James Watt in Form des Fliehkraftreglers einer Dampfmaschine (Abb. 10.6). Wenn die Drehzahl der Maschine zunimmt, ziehen die Gewichte durch die Fliehkraft einen Hebel hoch, der über einen Gelenkmechanismus die Dampfzufuhr mit einer Drosselklappe verringert. Damit wird mechanisch ein Regelkreis mit negativer Rückkoppelung gebildet, der dafür sorgt, dass das System nie außer Kontrolle geraten kann. Es steuert sich selbst. In unseren Unternehmen geht es nicht um mechanische oder elektronische Regelkreise, aber es geht auch um Regekreise. Das Negative Feedback-Prinzip funktioniert genau gleich, ob es sich um einen Organismus, eine Dampfmaschine, einen Computer oder ein Unternehmen handelt. „Negative“ meint damit nicht, dass mit dem Feedback immer eine Bestrafung oder eine sonstige negative Konsequenz verbunden sein muss. Es meint nur, dass das Maß der Abweichung von einem Zielwert zurück (deshalb „negative“) in den Input gefüttert wird. Während positives Feedback in diesem Sinne in Form eines Teufelskreises selbstverstärkend und damit aufschaukelnd wirkt, wirkt negatives Feedback stabilisierend.

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Abb. 10.6  Selbststeuerung: Das System kann nicht außer Kontrolle geraten

Die Etablierung von Negative Feedback-Strukturen bedeutet, dass Kontrolle nicht mehr dem System entgegenwirkt, sondern in das System eingebaut wird. Niemand kontrolliert, sondern es kontrolliert sich selbst. Es gibt viele Möglichkeiten, dieses Prinzip zu nutzen. Ein paar Beispiele: • Eine der ersten Adaptionen war die Erfindung des „Management by Objectives and Self-Control“ durch Peter Drucker, das sich weltweit in fast allen Unternehmen durchgesetzt hat (wenn auch nicht immer im Sinne des Erfinders) [8]. • Professionelle Fallschirmpacker in der israelischen Armee müssen auf Stichproben hin mit selber gepackten Fallschirmen springen. Sie packen deshalb jeden einzelnen Fallschirm gewissenhaft. Weitere Kontrollen erübrigen sich. • Nach einer Gefängnisrevolte in Italien wegen schlechten Essens kochte die Küche bei gleichem Budget auf einmal viel besser. Man hatte entschieden, dass der Direktor und die Angestellten ab sofort das gleiche Essen erhalten wie die Gefangenen. • Ein Manager der Lufthansa erzählte mir, wie er eine chinesische Mannschaft in der Wartung von Triebwerken ausgebildet hat. Am Tag der praktischen Prüfung gab er nach Abschluss der Wartungsprozesse den Teams zwei Möglichkeiten: Entweder ins Flugzeug einzusteigen und eine Runde damit zu fliegen, oder die Triebwerke nochmals aus- und wieder einzubauen. „… und keiner wollte fliegen …“. • Wenn wir an einer Straßenkreuzung nur eine leichte Strukturänderung vornehmen und einen Kreisverkehr bauen, regelt sich der Verkehr von selbst – zu tieferen Kosten, weil man keine Polizisten oder Ampelsysteme mehr braucht, und mit besserer Leistung, weil man morgens um drei Uhr auf leeren Straßen keine roten Ampeln mehr antrifft.

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• Das Beispiel in Abb. 10.7 stammt meines Wissens von Edward de Bono. Wir sehen eine Papierfabrik an einem Fluss, der nach rechts fließt. Die Fabrik entnimmt auf der linken Seite dem Fluss sauberes Wasser und gibt es danach verschmutzt wieder an ihn zurück. Das verursacht ein Steuerungsproblem, weil die Gemeinde keine Wasserverschmutzung duldet. Es werden tolerierbare Grenzwerte festgelegt, die durch einen Kontrolleur regelmäßig überprüft werden. Bei Überschreitung der Grenzwerte muss die Fabrik eine Strafe bezahlen. Das ist das übliche Verfahren expliziter oder extrinsischer Kontrolle, bei dem diese dem System (der Fabrik) entgegenwirkt. Es ist ein teures, lästiges und aufwändiges Kontrollsystem. Deshalb verändern wir nun die Struktur. Wir bauen einen Negative Feedback-Loop ein, indem wir die Fabrik verpflichten, das verschmutzte Wasser an einer Stelle in den Fluss abzugeben, bevor sie es selber dem Fluss wieder entnimmt. Damit hat die Fabrik von heute auf morgen ein Eigeninteresse daran, das Wasser sauber an den Fluss abzugeben. Kontrolle ist damit in Form von intrinsischer Regulation in das System eingebaut – es kontrolliert beziehungsweise steuert sich selbst. • Negative Feedback-Loops sind mit dafür verantwortlich, dass die öffentlichen Finanzhaushalte der Schweiz vergleichsweise gesund sind, obwohl das Land außer Steinen und Wasser keine nennenswerten Rohstoffe besitzt. Jede Gemeinde verfügt in der direkten Demokratie gemäß Subsidiaritätsprinzip über sehr hohe Autonomie. Ihre Bürger stimmen auch über Sachvorlagen ab. Sie entscheiden zum Beispiel, ob im Dorf ein Hallenbad gebaut werden soll. Zudem verfügt jede Gemeinde auch über Steuerhoheit und muss ihre Ausgaben selber bezahlen. Die Bürger wissen also, wenn sie Ja zum Hallenbad sagen, steigen die Steuern in ihrer Gemeinde. Nicht die Schweizerischen Tugenden, sondern diese Kombination von Autonomie und stabilisierendem Feedback-­Loop, die gleichermaßen auch auf Ebene der Kantone und des Bundes gilt, hält das Land gesund.

Abb. 10.7  Selbststeuerung statt expliziter Kontrolle

Literatur

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Je mehr intrinsische Regulation wir in unseren sozialen Systemen etablieren, desto weniger extrinsische, auferlegte Kontrolle brauchen wir. Change wird umso einfacher, je besser es gelingt, nicht nur Betroffene zu Beteiligten sondern auch umgekehrt Beteiligte zu Betroffenen zu machen. Change auf diese Art zeigt sofort Wirkung, von heute auf morgen. Stattdessen wird Change in den Unternehmen oftmals unnötig psychologisiert und in den Staaten werden die Gesetzesbücher immer voller und kommen doch immer zu spät. Ganze Berufsgruppen von Anwälten, Steuerberatern und Buchhaltern suchen nach Lücken in den Gesetzen, und der Aufwand expliziter Kontrolle steigt exponentiell. Selbststeuerung entsteht im Viable System Model dann, wenn wir die operativen Einheiten mit dem ausstatten, was sie brauchen, um in ihrer Umwelt erfolgreich zu sein, und wenn wir sie auch für diese Autonomie verantwortlich halten. In den meisten Unternehmen ist es schwierig geworden, jemanden für etwas verantwortlich zu machen, weil ihre Organisationen so viele Vernetzungen und Abhängigkeiten erzeugen, dass jede Führungskraft am Ende eine Ausrede hat. Es geht in einer robusten Organisation darum, diese Fluchtwege abzuschneiden und echte Autonomie mit echter Verantwortung zu etablieren. Nur so kann ein komplexes Unternehmen wirklich Leistungskraft entfalten und in einem komplexen Umfeld auf Dauer bestehen. Und nur das ist attraktiv für gute Leute. Erfolgreiche Führungskräfte nehmen sich deshalb Zeit, am System statt im System zu arbeiten. Sie gestalten das Unternehmen in ihrem Verantwortungsbereich aktiv und etablieren soweit möglich Selbststeuerung, um sich den praktischen Alltag zu erleichtern und selber wirksamer zu werden. Sie steuern, was steuert. Sie wenden systematisch die Rezeptur des Gelingens an und berücksichtigen dabei Ashbys Gesetz wo immer sie können. Sie entscheiden beispielsweise erst dann, wenn sie entscheiden müssen, und wenden dabei den kybernetischen Imperativ von Heinz von Foerster an, der mit Ashbys Gesetz in Verbindung steht: Sie entscheiden so, dass wenn immer möglich die Handlungsoptionen dadurch größer werden. cc Kybernetischer oder ethischer Imperativ [9]  Handle stets so, dass die Anzahl der Wahlmöglichkeiten größer wird.

Literatur 1. Bateson, Gregory. 2001. Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven, 8. Aufl., 582. Frankfurt: Suhrkamp. 2. Beer, Stafford. 1972. Brain of the firm. The managerial cybernetics of organization, 2. Aufl., 359. Chichester/New York/Brisbane/Toronto/Singapore: Wiley. 3. Beer, Stafford. 1972. Brain of the firm. The managerial cybernetics of organization, 2. Aufl., 45 ff. Chichester/New York/Brisbane/Toronto/Singapore: Wiley. 4. Beer, Stafford. 1979. The heart of enterprise. The managerial cybernetics of organization, 47. Chichester/New York/Brisbane/Toronto/Singapore: Wiley.

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10  Komplexität beherrschen (Exkurs)

5. Bresch, Carsten. 1977. Zwischenstufe Leben. Evolution ohne Ziel? München: Piper. 6. Ashby, W. Ross. 1956. An introduction to cybernetics. London: Chapman & Hall. 7. Ashby, W. Ross, und Roger C. Conant. 1970. Every good regulator of a system must be a model of that system. International Journal of Systems Science 1(2): 89–97. 8. Drucker, Peter F. 1954. The practice of management. New York: Harper & Row. 9. Von Foerster, Heinz. 2003. Understanding understanding. Essays on cybernetics and cognition, 303. New York: Springer.

Führbar oder nicht? (Schritt II)

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Im ersten Diagnoseschritt haben wir die Rekursionsebenen aufgenommen, daraus das System in Focus (SIF) bestimmt und darin schliesslich die System 1-Segmentierung geprüft und festgelegt. Aus dieser Segmentierung heraus ergibt sich eine bestimmte Anzahl operativer Einheiten. Im zweiten Diagnoseschritt wollen wir prüfen, ob diese Einheiten führbar sind. Kann das Senior-Management sie steuern und unter Kontrolle halten? Und wenn wir eine Rekursionsebene eliminieren würden, wäre das SIF dann immer noch führbar? Unter welchen Bedingungen? Jede Rekursionsebene, die wir eliminieren können, macht das Unternehmen agiler, robuster und produktiver. Wir wollen in diesem Schritt deshalb diejenigen Rekursionsebenen finden, die es eigentlich gar nicht braucht, um das Unternehmen so flach wie möglich zu gestalten. In Abschn. 5.2 haben wir bei den Überlegungen zur Grundstruktur gesagt, dass es mindestens zwei operative Einheiten für eine Rekursionsebene braucht und dass wir die Begrenzung nach oben in diesem Kapitel diskutieren werden. Wir haben auch gesagt, dass wir uns nicht auf die übliche Faustformel für die Kontroll- oder Führungsspanne von sieben plus/minus zwei Direktunterstellungen verlassen können. In vielen Fällen wird man zwar mit maximal neun Direktunterstellungen auskommen. Für die Berechnung der maximal möglichen Verflachung reicht die Faustformel aber nicht aus. Schließlich gibt es in der Praxis viele Organisationen, die wesentlich mehr operative Einheiten auf einer Rekursionsebene steuern. Die katholische Kirche beispielsweise besteht trotz ihrer weltumspannenden Größe aus lediglich drei Rekursionsebenen: Der Kirche als Ganzes mit dem Papst, den Diözesen oder Bistümern mit den Bischöfen und den Pfarreien mit den Priestern. Die Kardinäle besetzen keine eigene Rekursionsebene, sondern können als Varietätsverstärker auf der Ebene des Papstes verstanden werden. Wie ist es also möglich, dass ein so großes Unternehmen seit zweitausend Jahren mit so wenig Rekursionsebenen auskommt? Wie kann es die Komplexität von so vielen operativen Einheiten auf einer Ebene unter Kontrolle halten?

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Pfiffner, Die dritte Dimension des Organisierens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29247-8_11

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Da wir es mit einer Komplexitätsfrage zu tun haben, müssen wir zu ihrer Beurteilung Ashbys Gesetz der erforderlichen Varietät heranziehen. Es besagt, dass nur Varietät Varietät absorbieren kann. Wenn wir uns also fragen, wie viele Mitarbeiter ein Chef führen kann, dürfen wir nicht nur auf die Mitarbeiter schauen, sondern wir müssen auch auf den Chef in die Gleichung miteinbeziehen. Wie groß ist seine Varietät und wie verstärkt er sie? Vermutlich bezieht er beispielsweise mehrere Personen in Leitungsaufgaben mit ein, so dass sein Senior-Management eine erheblich höhere Kapazität aufweist. Wir müssen die Leistungskraft des Senior-Managements in Summe beurteilen, und da hilft uns die Millersche Zahl nicht weiter. Unser Steuerungsmodell besteht aus zwei Achsen: Einer lateralen beziehungsweise horizontalen Steuerung, die dem autonomen Nervensystem entspricht und einer vertikalen Steuerung, die dem somatischen, willentlich steuerbaren Nervensystem entspricht. Beide Achsen weisen ihre eigene Komplexität auf, wobei die horizontale Achse für Autonomie und die vertikale Achse für Kohäsion sorgt. Das Senior-Management steuert auf der vertikalen Achse die operativen Einheiten im System 1, da wo sie nicht selber steuern können. Die Autonomie und der erlaubte Verhaltensreichtum von System 1 kann deshalb nur so groß sein, wie er vom Senior-Management kompensiert werden kann. Oder anders gesagt: Je größer die Autonomie und Dezentralität der operativen Einheiten ist, desto stärker muss das Senior-Management sein. Die Varietät der vertikalen Achse muss gleich groß sein, wie die Varietät der horizontalen Achse, damit Ashbys Gesetz erfüllt ist (Abb. 11.1). Wie aber messen, respektive beurteilen wir die horizontale und die vertikale Varietät? Wie im letzten Kapitel erläutert, geht es auch bei dieser Evaluation nicht um das Zählen,

Abb. 11.1  Führbar oder nicht? Was ist die maximale Verflachung?

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sondern um das Passen: Wir müssen nicht wissen wie groß die Varietäten sind, sondern es genügt zu wissen, dass sie etwa gleich groß sind. Zuerst schauen wir dazu auf die Varietät der horizontale Steuerungsachse (Abb. 11.2). Wir beurteilen sie auf Basis der drei folgenden Aspekte: a. Die Anzahl der operativen Einheiten Es ist einfacher, drei Einheiten zu führen, als dreißig Einheiten zu führen. Je mehr operative Elemente, desto höher ist die Varietät des Systems 1. b. Ihre Unterschiedlichkeit Wenn sich alle operativen Einheiten gleichen, ergibt sich daraus in Summe weniger Varietät im System 1, als wenn sie unterschiedlich sind. Wenn ein Meister beispielsweise zehn Mitarbeiter hat, die alle schon lange in der Firma arbeiten, deutsch sprechen und die gleiche Ausbildung haben, sind sie einfacher zu führen, als wenn drei Mitarbeiter neu sind, die anderen vor der Pensionierung stehen, jeder eine andere Sprache spricht und alle unterschiedlich ausgebildet sind. Aus dem gleichen Grund sind Diversifikationsstrategien von Unternehmen problematisch: Sie können die horizontale Varietät massiv erhöhen. c. Ihre Fähigkeit, sich selber zu steuern Operative Einheiten, die die Varietät ihrer Umwelt selber bewältigen können, sind einfacher zu führen als solche, die immer wieder nach Unterstützung und Hilfe rufen. Zehn erfahrene Mitarbeiter zu führen ist nicht schwierig. Zehn unerfahrene Mitarbeiter können hingegen so viel Varietät erzeugen, dass sie den Chef an seine Grenzen bringen, wenn sie permanent etwas von ihm wollen und dauernd Fehler machen. Es spielt nun keine Rolle, wie hoch diese horizontale Varietät ist, solange sie durch genügend vertikale Varietät absorbiert werden kann. Das Senior-Management muss dazu

Abb. 11.2  Die Varietät der horizontalen Steuerungsachse

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Abb. 11.3  Die Varietät der vertikalen Steuerungsachse

laut Ashbys Gesetz über mindestens gleichviel Varietät verfügen. Wie also messen wir die Varietät der vertikalen Steuerungsachse? Dem Senior-Management stehen sechs Wege offen, um Varietät zu absorbieren. In Summe müssen sie stark genug sein, um die Komplexität im System 1 unter Kontrolle zu halten. Die Kanäle absorbieren Varietät auf unterschiedliche Weise (Abb. 11.3): a. Umweltüberschneidungen … absorbieren Varietät auf der vertikalen Achse, weil man beispielsweise nicht die Reputation eines Rolls Royce in einem Teil der Welt haben kann, und eine andere Reputation in einem anderen Teil der Welt. Reputationen schwappen über und absorbieren Varietät. Und wenn sich Einheiten gewisse Kunden teilen, sind das insgesamt weniger Kunden für das Unternehmen, als wenn jede Einheit ihre eigenen Kunden hat. Gleiches gilt für alle anderen Anspruchsgruppen in der Umwelt. Je größer die Überschneidungen, desto größer die absorbierte Varietät, desto weniger Handlungsspielraum im System 1 (den wir grundsätzlich erhalten wollen). b. System 3* … macht aus Ungewissheiten Gewissheiten. Der direkte Kanal in die Operationen hinein absorbiert Varietät, weil er die Welt der Möglichkeiten auf die Welt der Wirklichkeit reduziert. Er sagt einem, was in den Operationen vor sich geht, wo etwas nicht in Ordnung ist oder verbessert werden könnte und eliminiert dadurch Unsicherheiten. In diesem Sinne ist er nicht nur ein „Audit-Kanal“, sondern auch ein Mittel zur Balancie-

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rung des Zwecks (was das System tut). Es merkt, wenn die Operationen Dinge tun, die nicht dem beabsichtigten Zweck entsprechen. c. Operative Abhängigkeiten (Squiggly Lines) … schränken gegenseitig ihren Handlungsspielraum ein. In einem Stahlwerk beispielsweise, in dem die operativen Einheiten einzelne Wertschöpfungsstufen sind, hängen diese sehr stark voneinander ab. Wenn ein Prozessschritt stockt, beeinflusst das die nachfolgenden Schritte. Die „Squiggly Lines“ zwischen den Operationen absorbieren dadurch Verhaltensfreiraum beziehungsweise Varietät. In einem Konzern wie Unilever andererseits, bei dem die Geschäftsbereiche praktisch nur um Geld konkurrieren, sind die Squiggly Lines schwach ausgeprägt. Je größer die Abhängigkeiten, desto größer die absorbierte Varietät. d. Resource Bargain and Accountability … ist der erste Kommunikationskanal zwischen den Managementboxen von System 1 und 3 und einer der wichtigsten Kanäle auf der vertikalen Steuerungsachse. Hier geht es um das Aushandeln von Ressourcen und um die Übernahme von Verantwortung dafür. Die operative Einheit sagt, was sie braucht und das Senior-Management entscheidet aufgrund seiner Gesamtsicht, was zugeteilt werden kann und worin der Deal besteht. Ressourcen und Ziele werden vereinbart. Die operative Einheit meldet zurück, was sie mit den Ressourcen gemacht und erreicht hat. Ihre Handlungsfreiheit wird über diesen Kanal mehr oder weniger stark eingeschränkt. e. Corporate Intervention … ist der zweite Kanal zwischen den Managementboxen von System 1 und 3. Er operiert im Sinne eines Befehlskanals. Über ihn kann die Varietät der operativen Einheiten stark eingeschränkt werden. Statutarische, rechtliche oder ethische Verpflichtungen müssen eingehalten werden, und die Unternehmenspolitik gibt verbindliche Leitplanken vor. Das Unternehmen muss sich fragen, wie viel Varietät es über diesen Kanal absorbieren will, um die richtige Balance zwischen Autonomie und Kohäsion zu finden. Im Zweifel ist es der Kanal, über den ein Chef auch einmal etwas einfach durchsetzen kann. Der Kanal darf aber immer nur soweit nötig verwendet werden. f. Koordination Über keinen anderen Kanal wird so viel Varietät absorbiert, wie über das System 2. Es umfasst alle Regeln, Richtlinien, Standards, Koordinationsmechanismen und die Kultur des SIF, damit die operativen Einheiten möglichst reibungslos und ohne Intervention von System 3 ihre Aufgaben selbstständig erledigen können. Gleichzeitig ist es der Kanal, der in den meisten Unternehmen am meisten vernachlässigt wird – man überlässt ihn eher dem Zufall, als dass man ihn aktiv gestaltet. Je stärker das System 2 ist, desto mehr Varietät absorbiert es. In der Wahrnehmung der meisten Leute erfolgt die Steuerung nur über den Corporate Intervention Channel, also den Befehlskanal. In Wirklichkeit absorbiert die vertikale Steuerungsachse die Varietät ihrer operativen Einheiten über alle sechs Kanäle. Drei davon, nämlich die Umweltüberscheidungen, die Abhängigkeiten und der Resource Bargain and

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Accountability-Kanal, sind davon abhängig, wie wir das System 1 im ersten Diagnoseschritt segmentiert und gestaltet haben. Die Stärke dieser Kanäle und damit ihre varietätsabsorbierende Wirkung ist dadurch mehr oder weniger gegeben. Die anderen drei Kanäle, das System 3*, die Corporate Intervention und das System 2 sind flexibler und können aktiv gestaltet werden. Damit werden wir uns im Kap. 14 befassen. Es spielt nun keine Rolle, ob einzelne dieser sechs Kanäle schwach oder stark ausgeprägt sind. Sie können sich gegenseitig kompensieren und müssen nur in Summe stark genug sein. Sehr autoritäre Systeme mit einem stark genutzten Befehlskanal (Corporate Intervention) können ebenso in Balance sein wie eine „Society of Love“, die die Varietät über ein starkes System 2 mit Regeln, Prinzipien, gemeinsamer Kultur und Ethos managt. Beide Systeme können auf ihre eigene Art, wie sie mit der Varietät der operativen Einheiten umgehen, funktionieren. Was richtig ist, hängt vom Zweck und von der aktuellen Situation des Unternehmens ab. Wir evaluieren also die horizontale Varietät unseres SIF und entwickeln eine Vorstellung davon, wie komplex dieses System 1 ist. Danach machen wir das Gleiche für die vertikale Steuerungsachse. Die erforderliche Balance der Varietäten beider Steuerungsachsen wird mit dem „First Axiom of Management“ beschrieben: cc First Axiom of Management [1]  The sum of horizontal variety disposed by all the operational elements equals the sum of vertical variety disposed on the six vertical components of corporate cohesion. Schauen wir uns dies anhand von zwei Beispielen an. Wir haben bereits vom Kanton Zürich mit seinen 172 Gemeinden gesprochen. Auf den ersten Blick sind das unheimlich viele operative Einheiten auf einer Ebene. Aus diesem Grund gab es vor etwa zwanzig Jahren eine Verfassungsdiskussion darüber, ob zwischen den Gemeinden und dem Kanton nicht eine Steuerungsebene eingezogen werden müsste. Schauen wir also, was unsere eigene Beurteilung dieser Frage ergibt. Auf der horizontalen Achse haben wir 172 operative Einheiten. Sie sind nicht sehr unterschiedlich, denn eine Gemeinde funktioniert wie die andere. Ihre Aufgaben und Pro­ bleme gleichen sich. Nur die drei größeren Städte im Kanton unterscheiden sich maß­ geblich von den anderen Gemeinden. Es bleibt der dritte Aspekt: Wie gut können die Gemeinden sich selbst steuern? Lösen sie ihre eigenen Probleme weitgehend autonom? Weiter oben haben wir bereits festgestellt, dass aufgrund der Kombination von direkter Demokratie, Subsidiarität und Steuerhoheit ein stabilisierender Negative Feedback-Loop wirkt. Die Gemeinden lösen den größten Teil ihrer Aufgaben tatsächlich selbstständig und steuern sich selbst. Was auf den ersten Blick aufgrund der 172 Einheiten als riesige horizontale Varietät erscheint, relativiert sich mit den beiden anderen Aspekten. Schauen wir also auf die sechs vertikalen Kanäle des Kantons. Die Umweltüberschneidungen sind einerseits gering, weil es klare regionale Grenzen gibt. Andererseits sind sie nicht unerheblich, weil die meisten Einwohner und Unternehmen nicht nur innerhalb einer Gemeinde aktiv sind. Das System 3* ist dank einer breiten Medienlandschaft mit vielen

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öffentlich-rechtlichen und privaten Sendern und Verlagen sehr gut ausgestattet. Das System 3 des Kantons informiert sich aus diesen Medien. Die operativen Abhängigkeiten sind stark ausgeprägt, da sich die Gemeinden auf Bezirksebene vieles teilen, wie zum Beispiel Ver- und Entsorgungswerke, Gerichte, Spitäler oder Schulen. Der Resource Bargain and Accountability-Kanal funktioniert gut, da es neben einem Finanzausgleich auch die gesetzliche Verpflichtung zur Abstimmung von Plänen in etlichen Bereichen mit dem Kanton gibt. Der Corporate Intervention Channel ist wirksam, weil der Kanton die Möglichkeit hat, seine Interventionsrechte notfalls durchzusetzen. Und schließlich stellen wir fest, dass auch das System 2 des Kantons mit der unterstützenden Funktion der Bezirke, den Gesetzen und Verordnungen und der gemeinsamen Sprache, Kultur und Religion in ­diesem doch relativ kleinen Gebiet stark ausgeprägt ist. In Summe entsteht der Eindruck, dass man es mit einer äußerst starken vertikalen Steuerungsachse zu tun hat, und dass diese durchaus in der Lage sein kann, die auf den ersten Eindruck sehr große, dann aber stark relativierte Komplexität des Systems 1 zu absorbieren. Zum gleichen Schluss ist man nach drei Jahren Verfassungsdiskussion auch gekommen. Werfen wir nun den Blick auf ein viel größeres politisches System: Die Europäische Union. Ist sie führbar? Wir beginnen wieder mit der Beurteilung der horizontalen Achse. Die EU umfasst nach dem Brexit 27 Mitgliedstaaten. Das sind deutlich weniger Einheiten als im Beispiel Kanton Zürich, aber doch viel mehr als das, was wir in unseren Unternehmen als Kontrollspanne akzeptieren würden. Die Einheiten sind zudem alle sehr unterschiedlich: Polen ist ein ganz anderes Land als Frankreich, und Bulgarien nicht vergleichbar mit Schweden. Und schließlich sind sie alle kaum in der Lage, ihre eigenen, nationalen Probleme zu bewältigen. Die Verschuldung, die Altersvorsorge, die Gesundheitskosten, die Umweltprobleme oder die Migrationsthemen stellen sie vor Herausforderungen, für die keine Lösungen in Sichtweite sind. Was auf den ersten Blick wegen der 27 Einheiten schon als viel Varietät erscheint, wird durch die beiden anderen Aspekte potenziert. Das ist aber kein Problem, solange die vertikale Steuerungsachse stark genug ist. Wir erinnern uns, es geht schließlich nur um das „Matching“ von Varietäten. Die Umwelten sind durch die Staatsgrenzen voneinander getrennt aber die Überschneidungen doch in vielen Punkten groß. Das System 3* ist auf europäischer Ebene schwach ausgeprägt. Die Medien fokussieren auf nationale Themen und sind durch die politischen Befindlichkeiten im eigenen Land gefärbt. Operative Abhängigkeiten bestehen beispielsweise in der gemeinsamen Währung oder in wirtschaftlichen Abhängigkeiten wie der Stromproduktion oder im Außenhandel. Dennoch könnten viele Staaten auch weitgehend autark operieren, wenn es sein muss. Wir kommen zu den beiden Kanälen, die die Managementbox der EU mit derjenigen der Staaten verbindet. Der Resource Bargain and Accountability-Kanal funktioniert, solange wie einzelne Staaten willens und in der Lage sind, die anderen mitzufinanzieren. Allerdings scheint es keine wirksamen Prozesse zu geben, die die Pläne der Staaten mit denen der EU in Übereinstimmung bringen. So gibt es beispielsweise keine gemeinsame Fiskalpolitik, die über den Fiskalpakt von 2012 hi­ naus geht, der auf den ebenso wirkungslosen Maastrichter Konvergenzkriterien basiert. Die unterschiedlichen Interessen der vielen unterschiedlichen Staaten machen die Arbeit

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im gemeinsamen System 3 schwierig. Der Corporate Intervention Channel ist bei den wichtigen Themen deshalb kaum vorhanden. Die Staaten ratifizieren Einschränkungen ihrer Autonomie freiwillig, weshalb es bis heute noch keine europäische Verfassung gibt. Hingegen nimmt die Anzahl europäischer Gesetze in den weniger wichtigen Themen zu und die Anzahl gemeinsamer europäischer Institutionen wächst. Insofern wird das System 2 zunehmend ausgebaut und teilweise sogar überreguliert. Abgesehen von Gesetzen und Institutionen bleibt es aber schwach: Ein gesamteuropäischer Kulturraum, eine europä­ ische Sprache oder Religion fehlt: Im Balkan gelten weitgehend andere Regeln als im Rheinland. Jeder mag in diesen Punkten andere Überlegungen anstellen und zu anderen Resultaten kommen. Es ist deshalb wichtig, die Überlegungen in einer Diskussion zusammenzutragen. Am Ende kommt es wiederum nicht auf die einzelne Überlegung an, sondern auf das Gesamtbild. Und im Fall der EU kann man durchaus zum Schluss kommen, dass Ashbys Gesetz nicht erfüllt ist. Die horizontale Varietät scheint von der vertikalen Varietät spätestens nach der Osterweiterung nicht mehr absorbiert werden zu können. Da Ashbys Gesetz dafür sorgt, dass die beiden Varietäten früher oder später in Balance kommen, gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder gelingt es der EU rechtzeitig, ihre vertikalen Kanäle auszubauen (Varietätsverstärkung), oder das System 1 wird seine Varietät reduzieren, indem sich einzelne Einheiten wieder verabschieden (siehe Brexit), oder sich die EU in mehrere Europas aufteilt, die für sich selbst genommen wieder weniger komplex und deshalb erheblich leichter zu managen sind. Das käme dem Einzug einer neuen Rekursionsebene zwischen den Staaten und der EU gleich. Komplexität wuchert exponentiell und schwindet aber auch gleich schnell. Der erste Blick auf eine Rekursionsebene prüft immer, ob die horizontale und die vertikale Achse in Balance sind. Ein global tätiger Zulieferer in der Baubranche stand vor der Frage, ob seine 40 Landesgesellschaften in Zukunft weiterhin direkt von der Unternehmensleitung geführt werden können, oder ob man eine Rekursionsebene einziehen muss. Nach gründlicher Diskussion der beiden Steuerungsachsen kam man zum Schluss, dass es die zusätzliche Rekursionsebene braucht und die 40 Landesgesellschaften in acht Market Units zusammengefasst werden müssen. Für die Beurteilung ging man von etwa 60 zukünftigen Gesellschaften aus, die allerdings einander sehr gleichen und von einem jeweils starken lokalen Management geführt werden. Nach der Diskussion der sechs vertikalen Kanäle kam man dennoch zum Schluss, dass mit dem Ausbau des Systems 2 in Form von Kompetenzzentren, Koordinationsgremien, Schulung und IT-Systemen Ashbys Gesetz zwar erfüllt werden könnte, dass dieser Aufbau aber zu lange dauern würde. Wenn man die Rekursionsebene nicht rechtzeitig eingezogen hätte, wäre das Unternehmen aufgrund seiner wachsenden, inneren Komplexität implodiert. Wenn die Achsen in Balance sind, prüfen wir umgekehrt, ob wir die Organisation um eine Rekursionsebene verflachen können: Wäre unser SIF immer noch führbar, wenn die nächste Ebene darunter wegfällt? In einem international tätigen Bauunternehmen bestand die Division Schlüsselfertigbau aus fünf Niederlassungen, die zusammen jeweils ca. zwanzig simultan laufende Kundenprojekte durchführten. Die Frage war also, ob die zwan-

Literatur

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zig Projekte auch direkt auf der Divisionsebene geführt werden könnten. Die Divisionsleitung kam mit diesen Überlegungen zum Schluss, dass die Niederlassung keine Rekursionsebene, sondern nur ein Sitzplatz mit Hausmeister für die Mitarbeitenden sein soll. Die Division wurde um eine Führungsebene verflacht. Ein global tätiger Logistikkonzern hat mit der gleichen Methode seine Organisation von fünf auf drei Rekursionsebenen verflacht und damit gleichzeitig Kosten in Millionenhöhe gesenkt und Agilität gewonnen. Unsere Welt krankt daran, dass das First Axiom of Management nicht erfüllt wird. Die vertikalen Achsen agieren entweder übertrieben autoritär, behäbig und teuer, oder sie sind zu schwach, um ihren Zweck zu tun. Wachsende Einheiten brauchen aber ein Gerüst, an dem sie sich festhalten können. Ohne Struktur kollabieren sie früher oder später wieder. Und etablierte Einheiten, wie viele unserer supra-/nationalen Institutionen, brauchen besser designete Steuerungssysteme, wenn sie mit der schnell wachsenden Komplexität mithalten wollen. Sie merken das oft, wissen aber nicht, woran es liegt und was zu tun ist. Viele Organisationen tun sich deshalb schwer, ihren angestrebten Zweck auch durch turbulente Phasen hindurch zu erfüllen und kommen schnell an ihr Limit. Aufgaben

a. Gehen Sie von der Segmentierung aus, die Sie im letzten Diagnoseschritt gefunden haben. Aus ihr ergibt sich eine bestimmte Anzahl operativer Einheiten mit größeren oder kleineren Überschneidungen und Abhängigkeiten. Worin bestehen diese? Schreiben Sie es auf und machen Sie eine möglichst realitätsnahe Zeichnung von Ihrem System 1. b. Evaluieren Sie die horizontale Komplexität Ihres SIF: die Anzahl der Einheiten, ihre Unterschiedlichkeit und ihre Fähigkeit, sich selbst zu steuern. c. Evaluieren Sie die vertikale Komplexität Ihres SIF: die Stärke der sechs Kanäle. Ergänzen Sie diese auf Ihrer Zeichnung. Wir wollen so etwas wie ein „quantified flow chart“ erstellen, indem Kanäle, die stärker sind, auch dicker gezeichnet werden und umgekehrt. d. Sind die beiden Steuerungsachsen in Balance und wird Ashbys Gesetz erfüllt? Wenn nein, was kann getan werden, um die vertikale Varietät zu erhöhen? Wenn uns das nicht in ausreichendem Maße gelingt, können wir dann die horizontale Varietät dämpfen, indem wir eine zusätzliche Rekursionsebene einziehen? e. Wenn die Achsen hingegen in Balance sind: Was wäre, wenn Sie die Rekursionsebene unter Ihrem SIF, also die Ebene R-1, eliminieren würden? Wäre Ihr SIF dann immer noch führbar? Wenn ja, was hindert uns daran, es zu tun?

Literatur 1. Beer, Stafford. 1985. Diagnosing the system for organizations. The managerial cybernetics of organization, 89. Chichester/New York/Brisbane/Toronto/Singapore: Wiley.

Fokus auf erfolgskritische Aufgaben (Schritt III)

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Im ersten Diagnoseschritt haben wir die Grundstruktur und ihre Rekursionsebenen eruiert, unser System in Focus festgelegt und für dieses die Segmentierung geprüft. Im zweiten Diagnoseschritt haben wir geprüft, ob wir die Organisation verflachen können, und wir haben mit dem Gesetz von Ashby ihre Führbarkeit geprüft. Somit wissen wir inzwischen, wie viele operativen Einheiten wir in unserem SIF haben und welche das sind. Im dritten Diagnoseschritt geht es nun darum, diese operativen Einheiten besser zu verstehen. Wir studieren dazu ihre spezifischen Erfolgsfaktoren, um herauszufinden, was wir überhaupt organisieren müssen. Dazu betrachten wir die operativen Einheiten einmal einzeln und dann auch noch in ihrem Zusammenwirken. Wir werden Komplexitätsüberlegungen anstellen, wie wir sie im Kap. 10 kennengelernt haben, und daraus ableiten, welche Aufgaben für das Funktionieren erfolgskritisch sind. Mit diesem Wissen können wir in den folgenden Schritten maßgeschneidert und zielgerichtet das übergeordnete Steuerungssystem des Senior-Managements entwickeln. Wir untersuchen jetzt also das Funktionieren der operativen Einheiten im SIF. Dabei dürfen wir nicht den klassischen Fehler machen und in die einzelnen Abläufe eintauchen, weil wir uns sonst in den Details verlieren. Wir müssen auf unserer Rekursionsebene bleiben. Aus deren Sicht ist das, was im Management und in der Operation einer operativen Einheit vor sich geht, eine Blackbox (vgl. Kap. 6). Es interessiert uns nicht, was das Management der operativen Einheit genau tut oder was in der Operation im Detail geschieht, sondern es geht wiederum nur um die Frage, wie die operative Einheit mit Komplexität umgeht, also um das Matching der Varietäten. Wenn wir wissen, wie die Operation mit der Komplexität ihrer Umwelt umgeht, und das Management mit der Komplexität seiner Operation, nähern wir uns den Erfolgsfaktoren der operativen Einheiten. In den meisten Fällen haben wir es mit einer homogenen Segmentierung des Systems 1 zu tun. Das bedeutet, dass alle operativen Einheiten derselben Segmentierungskategorie

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Pfiffner, Die dritte Dimension des Organisierens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29247-8_12

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angehören und beispielsweise Regionen, Produktbereiche oder Kundengruppen sind. Wenn wir eine dieser operativen Einheiten verstehen, verstehen wir alle Einheiten, weil sie mehr oder weniger gleich funktionieren. Sofern wir es hingegen mit einer Hybrid-Struktur zu tun haben, in der eine Rekursionsebene verschiedene Arten von operativen Einheiten umfasst, müssen alle Arten einzeln untersucht werden. Manche Einheiten sind in diesem Fall beispielsweise Regionen und andere sind Produktbereiche. Dann genügt es nicht, nur die Region zu kennen, sondern wir müssen auch den Produktbereich verstehen lernen. Dasselbe gilt für artfremde Geschäfte oder für Innovationen, die auf der gleichen Rekursionsebene geführt werden. Wir entwickeln zuerst ein Verständnis von der Umwelt der operativen Einheit. Was ist in dieser Umwelt eigentlich drin, und was macht sie komplex und anspruchsvoll? Wir suchen in allen relevanten Umweltsphären und Einflussgruppen wie Staat, Kunden, Konkurrenten, Lieferanten, Arbeitnehmern, Kapitalgebern, Medien, Technologie, Demografie oder Ökologie die Komplexitätstreiber. Bei diesen Überlegungen versuchen wir alles, was uns in den Sinn kommt, zu konkretisieren und soweit möglich auch zu quantifizieren. Es geht darum, die wahrgenommene, gefühlte Komplexität sichtbar zu machen und die Dinge aufzuschreiben: Wie groß ist das Marktpotenzial? Wie groß das Marktvolumen und der bediente Markt? Welche und wie viele Kunden, Wettbewerber, Behörden, Vertriebspartner, Kooperationspartner, Sprachen und so weiter gehören dazu? Wie viele und welche Kundengruppen bedienen wir? Üblicherweise kommt eine Handvoll mit dem Geschäft vertrauter Führungskräfte innerhalb einer Viertelstunde auf eine gute Antwort. Die gleichen Überlegungen stellen wir daraufhin für die Operation und für das Management an, und wiederum versuchen wir so weit wie möglich zu konkretisieren und zu quantifizieren: Was ist alles in der Operation beziehungsweise im Management drin und was macht sie komplex? So gewinnen wir eine Vorstellung und ein Gefühl von der Mächtigkeit der Varietäten von Umwelt, Operation und Management, die wir nun einander gegenüberstellen: Um wie viel größer ist die Varietät der Umwelt als die der Operation und um wie viel die der Operation gegenüber dem Management? Wir entwickeln damit ein Bewusstsein für die Größe der Steuerungsaufgabe. Nach Ashbys Gesetz werden sich diese Varietäten irgendwie ausgleichen, also müssen die Pfeile in Abb. 12.1 zu arbeiten beginnen, damit sie sich so ausgleichen, wie wir uns das wünschen. Die Pfeile sind Kanäle für Varietätsverstärkung oder -dämpfung, wie wir sie in Kap. 10 am Beispiel Fußball oder Polizei kennen gelernt haben. Verstärkende Faktoren erhöhen die Freiräume und Möglichkeiten und führen deshalb zu Instabilität. Und dennoch müssen wir Varietät verstärken. Dämpfende Faktoren machen die Welt des Möglichen kleiner, reduzieren ipso facto Information und sind daher gefährlich. Auch dieses Risiko muss eingegangen werden. Also sollten wir besser wissen, was wir tun und dieses Variety Engineering bewusst vornehmen. cc The First Principle of Organization [1]  Managerial, operational and environmental varieties, diffusing through an institutional system, tend to equate; they should be designed to do so with minimum damage to people and to cost.

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Abb. 12.1  Komplexitätstreiber in Umwelt, Operation und Management

Es geht nun also darum, die Verstärker und Dämpfer zu finden, mit denen die operative Einheit die Komplexität aktiv unter Kontrolle hält, so dass wir nicht wie im Schuhladen-­Beispiel in Kap. 10 am Ende die Kunden verlieren. Wir wollen die Komplexität so balancieren, dass wir eine bestimmte Zielgröße erreichen und halten können. Diese schreiben wir in unser Diagramm zwischen die Varietätsblöcke hinein. Hinter den dazu benötigten Verstärkern und Dämpfern stehen erfolgskritische Aufgaben, die organisiert werden müssen (Abb. 12.2). Jemand muss sich um sie kümmern und für sie verantwortlich sein. Auf diese Aufgaben müssen wir uns fokussieren, wenn wir organisieren, denn schließlich können wir weder alles sich selbst überlassen, noch alles organisieren. Zum Glück ist das auch nicht nötig. Die meisten Dinge funktionieren von selbst, wenn man sie gewähren lässt, oder sie ergeben sich aus Reflex, Routine oder durch Zuruf, und viele Entscheidungen müssen nicht getroffen werden, sondern sie treffen sich von selbst. Wir müssen nicht alles managen und organisieren. Selbstverständlich muss auch noch jemand den Pflanzen im Büro Wasser geben, aber es geschieht nichts wirklich Kritisches, wenn das nicht organisiert ist – außer für die Pflanzen. Wie man sich hingegen vor Hacker-Angriffen schützt, kann für ein Unternehmen heute eine erfolgskritische Aufgabe sein. Am Ende wollen wir für unser SIF gemäß dem Pareto-Prinzip diejenigen 20 % der Aufgaben herausgearbeitet haben, die für 80 % des Erfolges verantwortlich sind. Wir wollen uns im Sinne der „science of simplification“ auf Weniges, aber Wesentliches konzentrieren. Die Herausforderung liegt darin, genügend Varietät in der Leistungserstellung aufzubauen. Wir erinnern uns: Die Varietät der Umwelt kann nur so groß sein, wie es die Varietät der Operation erlaubt. Deshalb muss auch die zu absorbierende Varietät der Umwelt so gut wie möglich aktiv reduziert werden. Wie soll das alles geschehen? Wir verwenden dazu verschiedene Management-Techniken, die wir üblicherweise nicht unbedingt in den

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Abb. 12.2  Erarbeiten der wichtigsten Verstärker und Dämpfer von Komplexität

Kontext von Komplexitätsmanagement stellen. Just-In-Time, Total Quality Management, Marktuntersuchungen, Werbung, Baukastensysteme oder Training, um nur einige zu nennen, wirken aber letztlich als Dämpfer oder Verstärker von Varietät. Alles was wir tun, kann auf die Frage reduziert werden, ob es Varietät verstärkt oder dämpft. Der Vorteil dieser Betrachtung ist, dass wir alle Techniken nach ihrer Wirkung in der Komplexitätsgleichung zuordnen können. Dadurch wird uns erstens bewusst, was wir damit eigentlich erreichen wollen, und wir erhalten zweitens die Wahl zwischen Alternativen mit dem gleichen Effekt. Falls sich eine Technik nicht bewährt, kann sie durch eine andere ausgetauscht werden. So können wir Optionen gegeneinander abwägen. Ein beliebter ­Varietätsverstärker der Operation ist beispielsweise der Einsatz von Baukastensystemen: durch die Kombinatorik von wenigen, an sich einfachen Modulen, wird eine große Vielfalt und damit große Leistungskraft erreicht. Weitere Beispiele sind in der Tab. 12.1 aufgeführt. Einige Faktoren wirken auf beiden Seiten der Gleichung, sozusagen als zwei Seiten einer Medaille. Management by Objectives wirkt einerseits varietätsverstärkend, indem es den Handlungsrahmen des Mitarbeiters öffnet und damit dessen Kompetenzen besser nutzt, und es wirkt gleichzeitig varietätsdämpfend, weil damit ein jährliches Ziel vorgegeben wird, das alle anderen möglichen Ziele ausschließt. Werbung wirkt varietätsverstärkend, indem durch kommunikative Maßnahmen mehr potenzielle Kunden erreicht werden, und sie wirkt zugleich dämpfend, indem sie das Angebot fixiert. „You can have a Ford

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Tab. 12.1  Beispiele für Verstärker und Dämpfer von Varietät Umwelt – Operation Verstärker: Baukastensysteme Variantenzahl Kooperationen/Akquisitionen Customizing/Individualisierung Werbung und Kommunikation Lobbyismus Key Accounting Dämpfer: Werbung Market Intelligence/Marktforschung Öffnungszeiten Patente Pricing ABC-Kundensegmentierung Servicelevel-Agreements

Operation – Management Verstärker: Management by Objectives Empowering und Weiterbildung Consultants oder Assistenten Netzwerke Technische Ausrüstung Multiplikation von Erfahrung (Expertgroups) Managementkonferenzen Dämpfer: Training/Ausbildung/Kultur Standardisierung/Richtlinien/Regeln Investmentpolitik und Prioritätensetzung Schlüsselgrößen des Erfolges Auditing/Compliance Job Design und Beförderungen MIS Management Informationssysteme

Achtung: Derselbe Faktor kann manchmal auf beiden Seiten wirken.

T in any colour as long as it’s black“. Der Spruch stand für die Einführung der Einheitslackierung in der Fließbandfertigung durch Henry Ford und wirkte als starker Varietätsdämpfer, weil gar niemand mehr nach einem roten Modell fragte. Ein Investment kann verstärkend wirken, indem es Kapazität entwickelt, es kann aber auch dämpfend wirken, weil es festlegt, in was man investiert und in was nicht. Die Wirkung von Market Intelligence ist hingegen eindeutig darauf ausgerichtet, die unbekannte Umwelt kleiner zu machen, indem man mehr darüber in Erfahrung bringt und damit Varietät reduziert. Denn wenn man weiß, was auf einen zu kommt, muss man sich nicht mehr auf alles Mögliche einstellen. Deswegen studieren auch Sportler ihre Gegner minutiös, bevor sie mit ihnen boxen oder Tennis spielen. Ob die neuen Möglichkeiten der Digitalisierung dazu genutzt werden sollen, Varietät zu verstärken oder zu dämpfen, oder beides gleichzeitig zu tun, ist eine Frage, die sich jede operative Einheit für sich selbst stellen muss. Wir schreiben also alle wichtigen Verstärker und Dämpfer auf, die uns für die betrachtete, operative Einheit in den Sinn kommen. Es ist durchaus sinnvoll, diese Dinge in Form eines Brainstormings mit zwei bis drei Kennern der operativen Einheit eine Stunde lang zu diskutieren. Es geht hier nicht um Vollständigkeit, aber am Ende wollen wir eine Art Quantifizierung zwischen den Varietätsblöcken vornehmen. Auch hier geht es um die Proportionen: Haben wir genügend starke Verstärker und Dämpfer in Arbeit, um das Varietätsdefizit auszubalancieren und das angestrebte Ziel zu erreichen? Die Unterscheidung zwischen Verstärkung und Dämpfung ist für die Quantifizierung der Varietätsblöcke wichtig, wie auch für die Vollständigkeit der Faktoren (wurde an beide Seiten gedacht?) und für das Bewusstsein, was man damit erreichen will. Hingegen spielt sie für die weitere Diagnosearbeit keine Rolle mehr. Wir fragen uns jetzt nämlich, welche Aufgabe hinter jedem Verstärker oder Dämpfer steht, die erfüllt und organisiert

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werden muss, und halten diese schriftlich fest. Welche dieser Aufgaben am Ende die operative Einheit selber übernimmt, damit sie autonom walten kann, welche Aufgaben das Senior-­Management im SIF übernehmen soll und welche anderen Rekursionsebenen allenfalls auch noch an einer erfolgskritischen Aufgabe beteiligt sind, werden wir im nächsten Diagnoseschritt im Kap. 13 behandeln. Bevor wir dazu übergehen, müssen wir uns noch eine weitere Sache überlegen. Bisher haben wir nur auf die einzelne operative Einheit geschaut. Erfolgskritische Aufgaben ergeben sich aber auch aus dem Zusammenwirken aller Einheiten im System 1, nämlich da, wo sie Überscheidungen zwischen den Umwelten und Abhängigkeiten zwischen den Operationen aufweisen. Wir müssen diese ebenfalls eruieren, denn auch daraus ergeben sich erfolgskritische Aufgaben (Abb. 12.3). Die Regelung des Zugriffs auf gemeinsame Kunden oder Lieferanten in der Umwelt muss beispielsweise sauber organisiert werden, andernfalls entstehen Irritationen und Konflikte. Worin genau bestehen also die Überschneidungen zwischen welchen Umwelten in unserem SIF? Und welche Steuerungsaufgaben ergeben sich daraus? Wo sind die Operationen voneinander abhängig, weil sie sich zum Beispiel gewisse Infrastrukturen teilen müssen, und welche Steuerungsaufgaben ergeben sich daraus? Das betrifft zum Beispiel die Steuerung der Produktion auf gemeinsamen Fertigungsanlagen, die Steuerung des gemeinsamen Vertriebs oder des gemeinsamen Einkaufs. Tab. 12.2 enthält einige Beispiele mit den daraus abgeleiteten erfolgskritischen Aufgaben. Erst wenn wir alle erfolgskritischen Aufgaben aus der Betrachtung der operativen Einheiten alleine und in ihrem Zusammenwirken zusammengetragen haben, haben wir das

Abb. 12.3  Organisationsbedarf – wer kümmert sich darum?

12  Fokus auf erfolgskritische Aufgaben (Schritt III)

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Rohmaterial für die weiteren Diagnose- und Gestaltungsschritte zusammen. Die langsam entstehende Liste dieser Aufgaben wird im Laufe der weiteren Diagnose der Systeme 2 bis 5 ergänzt werden. Es ist eine lebende Liste, die immer wieder auch angepasst werden kann. Am Ende sind es typischerweise etwa zwanzig bis vierzig erfolgskritische Aufgaben, die unser SIF zu erfüllen hat. Aufgeteilt auf die Systeme 1 bis 5 sind das also wieder unsere inzwischen bekannten sieben plus/minus zwei erfolgskritischen Aufgaben pro Steuerungssystem. Aufgaben

Wir befassen uns nur mit dem System 1 unseres SIF und stellen die Komplexitätsüberlegungen an, die in Kap. 10 behandelt wurden. Was sind die erfolgskritischen Aufgaben in unserem Geschäft, die wir organisieren müssen? a. Überlegen Sie sich für eine operative Einheit in Ihrem SIF (pars pro toto) oder für mehrere Einheiten, falls diese unterschiedlich funktionieren, woraus Umwelt, Operation und Management bestehen und was die wichtigen Komplexitätstreiber darin sind. Machen Sie eine Zeichnung wie in Abb. 12.1 und schreiben Sie die Faktoren auf. Wie stark sind die Ungleichgewichte der Varietäten? b. Schreiben Sie die Zielgrößen zwischen die Varietätsblöcke Umwelt-­Operation und Operation-Management hinein, die Sie anstreben. c. Überlegen Sie, mit welchen Techniken die operative Einheit die Varietäten dementsprechend verstärkt und dämpft, um die Zielgrößen zu erreichen, und schreiben Sie diese in Ihre Zeichnung hinein (Abb. 12.2). Wenn Sie der Meinung sind, dass Sie die nötigen Verstärker und Dämpfer gefunden haben, formulieren Sie diese in Aufgaben um. d. Machen Sie eine Liste der Umweltüberschneidungen und operativen Abhängigkeiten in Ihrem System 1 und überlegen Sie, welche Aufgaben sich daraus ergeben. Ergänzen Sie die Liste der erfolgskritischen Aufgaben aus (c). Tab. 12.2  Beispiele für erfolgskritische Aufgaben aus dem Zusammenwirken im System 1 Umweltüberschneidung … Überregionale Kunden Überregionales Mitarbeiterpotenzial Gemeinsame Wettbewerber Gemeinsame Lieferanten Kooperationspartner Messeauftritte Operative Abhängigkeiten … Gemeinsame Fertigung Zentraler Vertrieb Gemeinsame Büros Gepoolte Technik-Experten Zentraler Einkauf Zentrale IT Gemeinsame Entwicklung

… und erfolgskritische Aufgaben dazu Key Account Management Zentrales Recruiting Wettbewerbsbeobachtung Rahmenverträge Partnermanagement Messeplanung und Koordination … und erfolgskritische Aufgaben dazu Produktionsplanung und -steuerung Vertriebsplanung und -steuerung Lokaler „Hausmeister“ Mechanismus für Zugriff und int. Verrechnung Globale Einkaufsprozesse IT-Support und gemeinsame IT-Strategie Koordination/Priorisierung Entwicklungsbedarf

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12  Fokus auf erfolgskritische Aufgaben (Schritt III)

Tipp: Bereits jetzt kann es zu Verwechslungen von Rekursionsebenen kommen. Achten Sie darauf, dass Sie immer auf der Ebene Ihres SIF bleiben, und wenn Sie eine Zeichnung machen, beschriften Sie diese eindeutig (z. B. SIF R0: Division Grün).

Literatur 1. Beer, Stafford. 1985. Diagnosing the system for organizations. The managerial cybernetics of organization, 30. Chichester/New York/Brisbane/Toronto/Singapore: Wiley.

Zentral oder dezentral? (Schritt IV)

13

Die nach dem letzten Diagnoseschritt vorliegenden zwanzig bis vierzig erfolgskritischen Aufgaben sollten gemäß Pareto-Prinzip die zwanzig Prozent aller Steuerungsaufgaben im Unternehmen umfassen, die achtzig Prozent seines Erfolges ausmachen. Mit anderen Worten: Wenn wir diese Aufgaben sauber steuern, kann nicht mehr viel Kritisches schief gehen, weil der wichtigste Teil des Unternehmens funktioniert. Es sind also diejenigen Aufgaben, auf deren Steuerung wir uns in der folgenden Diagnose konzentrieren werden. Für jede Aufgabe stellt sich am Ende die Frage: Wer steuert das, in Abstimmung mit wem, auf Basis von welcher Information, und wer muss über Entscheidungen informiert werden? Wir werden die vorliegenden, erfolgskritischen Aufgaben deshalb in unser Steuerungsmodell einbauen und dieses so  dem Unternehmen entsprechend individualisieren und maßschneidern. Damit wir herausfinden, für welche Aufgaben unser System in Focus zuständig ist, schauen wir zuerst nochmals auf die Rekursionsebenen: Was sollen die operativen Einheiten selber tun? Was soll auf der Rekursionsebene unseres SIF getan werden? Und was sollen weitere Rekursionsebenen übernehmen? Wir ordnen im Diagnoseschritt IV nun also die Aufgaben aus Schritt III auf Rekursionsebenen zu. Das bedeutet gleichzeitig immer auch eine Zuordnung von Kompetenz und Verantwortung: Wer darf über was entscheiden? Steuerung ist schließlich das fortwährende Treffen von vielen kleinen und größeren Entscheidungen. Das bringt uns zurück zur alten Frage von Autonomie versus Kohäsion, die wir in Kap. 7 diskutiert haben. Wir sind damit wieder in einem Gebiet, in dem Glaubenskämpfe ausgetragen werden und in dem eine Mode die andere ablöst. Es wird über die Dauerbrennerfrage „Zentral oder Dezentral“ diskutiert, und damit wieder über Freiheit, Hierarchie und Macht. Faktisch argumentiert und streitet man darüber, ob die horizontale oder die vertikale Steuerungsachse wichtiger ist. Das gleicht der Frage, ob wir im Straßenverkehr eher nach rechts oder nach links steuern sollten. Stattdessen braucht es beides

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Pfiffner, Die dritte Dimension des Organisierens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29247-8_13

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13  Zentral oder dezentral? (Schritt IV)

im richtigen Maß und im richtigen Moment, und es kommt darauf an, wo man ist und wohin man will. Wir fragen uns deshalb nicht auf eine generische Art, ob wir Aufgaben eher zentral oder eher dezentral zuordnen sollen, sondern welche Aufgabe konkret von welcher Rekursionsebene erfüllt werden muss. Für jede Aufgabe mag die Zuordnung anders aussehen  – glücklicherweise haben wir uns auf erfolgskritische Aufgaben beschränkt. Die Zuordnung darf weder eine Frage des Glaubens noch der aktuellen Mode sein, sondern sie soll einem klaren Prinzip und einer Logik folgen. Die Vorgehensweise muss die Besonderheiten dieses Unternehmens in seiner aktuellen Situation berücksichtigen, so wie wir in Kap. 11 auch die Führungsspanne nicht generisch festgelegt, sondern situativ dem Unternehmen angepasst haben. Wie kommen wir also zu einer maßgeschneiderten Lösung und welche Grundsätze leiten uns dabei? Das Viable System Model sagt uns, dass wir die operativen Einheiten so gestalten sollen, dass sie sich selber autopoietisch entwickeln können. Das heißt, sie sollen sich mit Absicht und Entschiedenheit immer wieder von Neuem erfinden, sich den Umständen anpassen, sich stärken, wachsen und einen eigenen Zweck erfüllen. Und sie sollen das aus eigener Kraft tun, möglichst unabhängig von anderen Einheiten, damit wir eine robuste und flexible Organisation bauen. Sie sollen dazu vom Grundsatz her so viele Aufgaben wie möglich selber erfüllen. Tragen wir die Gründe dafür nochmals zusammen: a) Das Prinzip der relativen Autonomie sagt uns, dass die operativen Einheiten möglichst viele Aufgaben selber bewältigen sollen, damit sie in der Lage sind, auf Dauer eine eigene Existenz zu erhalten (vgl. Abschn. 5.2). b) Der Aphorismus „Hierarchie aus der Relevanz von Information“ und das Prinzip der „Redundanz potentieller Führung“ sagen uns, dass da entschieden werden soll, wo die relevante Information ist und dass Steuerung verteilt werden muss (vgl. Kap. 7). c) Wir etablieren damit Eigenverantwortung, Selbststeuerung und einen stabilisierenden Negative Feedback-Loop (vgl. Kap. 10). d) Das Gesetz von Ashby (vgl. Kap. 10) und The First Axiom of Management (vgl. Kap. 11) zeigen uns, dass der größte Teil der Komplexität da absorbiert werden muss, wo sie anfällt und nur die Residualgröße von der übergeordneten Rekursionsebene absorbiert werden kann. Diese vier Punkte werden im bereits erwähnten Subsidiaritätsprinzip zusammengefasst, wie es in politischen Systemen mit föderalen Strukturen je nach Staat mehr oder weniger konsequent angewandt wird. cc Subsidiarität  Aufgaben werden nur dann von der übergeordneten Ebene übernommen, wenn sie von der untergeordneten, sachnahen Ebene nicht mehr erfüllt werden können.

13  Zentral oder dezentral? (Schritt IV)

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Die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips ist eine „conditio sine qua non“ für implizite Steuerung und „self-control“ im Unternehmen und damit auch eine Voraussetzung für Komplexitätsfähigkeit. Operative Einheiten steuern sich selbst, wenn sie diejenigen Aufgaben selber bewältigen, die für sie wichtig sind. Soweit wir ihnen diese Aufgaben und die dazugehörigen Kompetenzen an die Hand geben, können wir sie auch für Resultate verantwortlich machen, denn Ergebnisverantwortung setzt voraus, dass man über Ergebnisbeeinflussendes entscheiden kann. Damit schneiden wir dem Management für den Fall, dass die Einheit nicht funktioniert, alle Fluchtwege ab und gestalten so den notwendigen Negative Feedback-Loop, der zu Selbstkontrolle und Stabilisierung führt. Zur Erinnerung: „Negative“ Feedback bedeutet nicht, dass diese Rückkopplung unangenehme Folgen für den Verursacher haben muss, sondern nur dass diese Folgen „zurück“ und deshalb eben im Flussdiagramm in negativer Richtung gekoppelt werden. Die Folgen können angenehm oder unangenehm sein. Wichtig ist nur, dass ein Steuerungskreislauf entsteht, in dem das Management im eigenen Interesse Abweichungen erkennt und selber auch gleich korrigieren kann. Für das Funktionieren dieser Feedbackschlaufe muss die Verantwortung klar lokalisiert werden können: Aufgabe, Kompetenz und Verantwortung müssen dazu an einer Stelle zusammengeführt werden. Damit wir das Management einer operativen Einheit für seine Resultate verantwortlich machen können und Selbststeuerung ermöglichen, müssen wir ihm also diejenigen Aufgaben und Kompetenzen an die Hand geben, die für seinen Erfolg entscheidend sind. Wir haben oben gesagt, dass eine operative Einheit vom Grundsatz her so viele Aufgaben wie möglich selber erfüllen soll. Es nützt ihr aber nichts, viele Aufgaben zugeordnet zu erhalten, wenn die erfolgsentscheidenden nicht dabei sind. Kein Kompaniekommandant würde in die Schlacht ziehen wollen, wenn er nicht selber über die Ressourcen verfügte, die er für seinen Erfolg benötigt, kein Jurist in einen Rechtsstreit, wenn er nicht Kontrolle über die wichtigsten Argumente hätte, und kein Chirurg würde operieren, wenn er für jede wichtige Entscheidung zuerst eine zentrale Stelle anfragen müsste, die dann womöglich aber gerade nicht erreichbar oder mit anderen Dingen beschäftigt ist und deshalb entweder keine Zeit oder andere Sorgen hat. So funktioniert keine Organisation, die funktionieren muss. So funktionieren aber viele Organisationen, mit denen wir täglich zu tun haben. Erfolgskritisch und erfolgsentscheidend sind dabei zwei verschiedene Dinge. Wir haben im letzten Kapitel die erfolgskritischen Aufgaben herausgearbeitet, die in unserem Steuerungssystem organisiert werden müssen. Das sind die Aufgaben, die den Großteil des Erfolges bestimmen, aber nicht alle davon sind auch erfolgsentscheidend. Die erfolgsentscheidenden Aufgaben sind diejenigen, ohne die Erfolg nicht oder nur schwer möglich ist, weil sie direkten Einfluss auf das haben, wofür der Kunde bezahlt. Wir haben dazu bereits in Kap. 9 die kaufentscheidenden Kriterien des Kunden zusammengetragen. cc Erfolgskritisch versus erfolgsentscheidend  Erfolgskritische Aufgaben sind erfolgsentscheidend, wenn sie relevanten Einfluss auf kaufentscheidende Kriterien des Kunden haben.

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13  Zentral oder dezentral? (Schritt IV)

Wenn es für den Kunden beispielsweise wichtig ist, dass der Service in lokaler Sprache schnell und kompetent reagiert, ist die Steuerung der lokalen Servicetechniker nicht nur eine erfolgskritische, sondern auch eine erfolgsentscheidende Aufgabe. Sie sollte von der operativen Einheit selber wahrgenommen werden, die dazu die nötigen Kompetenzen braucht. In die Logik von Non-Business-Organisationen übersetzt sind es die Aufgaben, die direkte, relevante Wirkung beim Leistungsempfänger erzeugen. Je mehr erfolgsentscheidende Aufgaben wir den operativen Einheiten direkt zuordnen können, desto größer wird ihr Einfluss auf den Kundennutzen und desto besser können sie sich selbstständig in ihrer Umwelt bewegen, sich auf neue Bedürfnisse „einschießen“ und sich flexibel anpassen. Das macht sie agil und lebensfähig. Wir verankern Verantwortung für den Kunden, indem wir die Möglichkeit schaffen, seine Varietät zu absorbieren. Es gibt zwei Gründe, warum eine erfolgsentscheidende Aufgabe dennoch zentralisiert, das heißt von einer höheren Rekursionsebene ausgeübt werden muss. Der erste Grund kann darin liegen, dass man es sich schlichtweg nicht leisten kann, der operativen Einheit gewisse Ressourcen zur alleinigen Verfügung zuzuteilen. Häufig teilt man sich Büros, IT-Abteilungen oder Fertigungsanlagen, weil es einfach nicht möglich ist, dass jede Einheit ihre eigene Infrastruktur unterhalten und auslasten kann. Dieser Grund ergibt sich also alleine aus ökonomischen Rahmenbedingungen. Der andere Grund liegt darin, dass man Kohäsion oder Synergien im Zusammenwirken von mehreren operativen Einheiten anstrebt, damit das Ganze mehr sein kann, als die Summe seiner Teile. Synergien können sich in tieferen Kosten oder auch in höheren Fähigkeiten auswirken. Dazu muss die entsprechende Aufgabe ebenfalls übergeordnet, also zentral gesteuert werden. Synergie ist die Energie, die aus dem Zusammenwirken entsteht und damit faktisch immer auch die Autonomie des Einzelnen reduziert. Wir sollten deshalb vorsichtig mit Synergien umgehen. Wenn wir unserer bisherigen Logik weiter folgen, dürfen wir den Einfluss operativer Einheiten auf kaufentscheidende Kriterien selbst dann nicht beschneiden, wenn wir daraus Synergien gewinnen könnten. Das Primat hat die Autonomie und Lebensfähigkeit des Systems 1, denn was unten nicht robust und lebensfähig ist, kann oben nie stabil sein. Für unsere Beurteilung unterziehen wir deshalb alle erfolgskritischen Aufgaben aus dem Schritt III einzeln den in Tab. 13.1 dargestellten drei Fragen, die der Logik eines Entscheidungsbaumes folgen. Sofern wir die erste Frage mit Nein beantworten, leben wir möglicherweise mit einem Kompromiss, den wir besser kennen sollten: Eine Aufgabe kann nicht den operativen Einheiten zugeordnet werden, weil man es sich nicht leisten kann. Falls sie aber Einfluss auf ein kaufentscheidendes Kriterium des Kunden hat, muss man das wissen, weil man diesen Kompromiss auflösen muss, sobald sich die Situation ändert und das Unternehmen stark genug geworden ist. Ein städtischer Verbund von Hausärzten kann es sich zum Beispiel momentan nicht leisten, dass jede Praxis über ein eigenes Labor, eigene Ultraschall- und eigene Röntgenkompetenz verfügt, aber sobald man es sich leisten kann, wird man einen Teil  dieser Kompetenzen dezentralisieren, weil sie für den bestmöglichen  Dienst am Patienten erfolgsentscheidend sind. Wenn in einem anderen Unternehmen die Produktbe-

13  Zentral oder dezentral? (Schritt IV)

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Tab. 13.1  Drei sequentielle Fragen zur Beurteilung von „Zentral oder Dezentral“ 1 Können wir es uns überhaupt leisten, diese Aufgabe den operativen Einheiten zu übergeben? 2 Hat die Aufgabe relevanten Einfluss auf ein kaufentscheidendes Kriterium des Kunden? 3 Können wir mit dieser Aufgabe relevante Synergien erzielen?

Wenn ja, gehen wir zur zweiten Frage. Wenn nein, erübrigt sich jede weitere Diskussion. Die Aufgabe wird zentral einer höheren Rekursionsebene zugeordnet. Wenn ja, haben wir ebenfalls eine Lösung gefunden. Die Aufgabe wird dezentral der operativen Einheit zugeordnet, weil sie erfolgsentscheidend ist und wir es uns leisten können. Wenn nein, gehen wir zur dritten Frage. Wenn ja, wird die Aufgabe zentral zugeordnet. Wir könnten sie zwar von den operativen Einheiten selber steuern lassen, aber wir erreichen damit gemeinsam mehr, ohne dass die Autonomie relevant eingeschränkt würde. Wenn nein, spielt es eigentlich keine Rolle, wo wir zuordnen. Die Aufgabe ist weder erfolgsentscheidend noch können wir damit Synergien nutzen. Wir ordnen sie in diesem Fall wegen des Subsidiaritätsprinzips der operativen Einheit zu.

reiche heute noch keinen eigenen Vertrieb und Service haben können, müssen wir wohl mit diesem Kompromiss leben. Aber sobald es die Situation erlaubt, werden wir ihnen diese Ressourcen direkt zuteilen – sofern sie für den Kunden Kaufentscheidendes beeinflusst. Aus diesem Grund muss man sich die zweite Frage immer auch stellen. Der Einkauf ist ein typisches Beispiel dafür, dass eine Aufgabe aus Synergiegründen zentralisiert, das heißt einer höheren Rekursionsebene zugeordnet wird. Man könnte es sich vermutlich in vielen Unternehmen leisten, jede operative Einheit mit ihrem eigenen Einkauf auszustatten. Er hat aber in den wenigsten Unternehmen relevanten Einfluss auf kaufentscheidende Kriterien. Wer beispielsweise ein Auto kauft, dem ist es egal, wo und wie der Hersteller die Autobatterie eingekauft hat. Er schaut auf andere Dinge. Der Einkauf muss also nicht den operativen Einheiten zugeordnet werden. Wir können aber mit seiner Zentralisierung durchaus  Synergien nutzen, indem wir unsere gemeinsame Einkaufsmacht vergrößern und so die Kosten reduzieren. Möglicherweise wird die Aufgabe mehreren Rekursionsebenen im Sinne von Teilaufgaben zugeteilt, so dass untere Rekursionsebenen beispielsweise alles selber einkaufen dürfen, was nicht gebündelt werden soll, mittlere Rekursionsebenen vielleicht Lead-Einkaufsfunktionen wahrnehmen, weil sie Nähe zu den besten Lieferanten besitzen, und die oberste Ebene nur die Einkaufsstrategie und -politik bestimmt. Andere erfolgskritische Aufgaben, wie beispielsweise das Key Account Management können oft direkt und als Ganzes einer einzelnen Rekursionsebene zugeordnet werden. Im Diagnoseschritt IV überlegen wir nun also zuerst, welche Rekursionsebenen wir neben unserem eigenen SIF (R0) in Betracht ziehen wollen. Es sind mindestens die beiden Rekursionsebenen über (R+1) und unter (R−1) unserem SIF. Wir ordnen diese in einer Beurteilungstabelle als Spalten an (Abb. 13.1). Die erfolgskritischen Aufgaben aus Dia­

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13  Zentral oder dezentral? (Schritt IV) Mission-Critical Task

Sales Tools (IT) technical design (offer creation, order processing, accounting.) Sales Support Packages -> Products (Handbooks, Videos, documentation)

Lead

R+1 (Group)

R0 (Market Units)

R-1 (Subsidiary)

Com ExC

Initial concept and development, programming, training, rollouts, cont. improvement, support

Annual request and planning of rollouts together with Excellence Functions; participant in final rollout presentations

Local adaptation, usage, key user assistance, local conceptional input within guidelines

PM

Initial concept and development, design, training, cont. improvement, support;  Internal Sales

-

Adapt support packages to the local / regional needs; usage

Standardized Contracts, Terms and Conditions

Com ExC/ Legal

Provide corporate templates

-

Adapt to local demands, local government requirements

Guidelines for International Cooperation

Sales

Definition and control of central guidelines, policies, strategies (Clearing)

Coordination of the execution, coordinate between the MU`s (Clearing)

Local adherence

Key Account Management for International Customers

Sales

-

-

Key Account Management only on local level

Define Product and Service Range

PM

Central Portfolio Management giving generic guidelines (i.e. menu for services and framework of what we generally and at least offer)

Define Regional Product Range together with R0

Local decision on the portfolio within the guidelines

Market Intelligence (project, competitors)

CD

Consolidation, interpretation, everything what is important for the group needs to be done centrally

Consolidation, interpretation, everythingwhat is important for the MU needs to be done centrally

Largely decentralized

Central guideline, central tools, support on list price definitions for neighboring countries

Regional harmonization of the price levels

Autonomous decisions on list prices and net price

Pricing Policy

Com ExC/ Pricing

Abb. 13.1  Beispiel Zuteilung von Aufgaben auf Rekursionsebenen

noseschritt III schreiben wir in die Zeilen. Danach gehen wir jede Aufgabe einzeln durch und beantworten die in Tab. 13.1 genannten drei Fragen. Je nachdem teilen wir die gesamte Aufgabe einer einzelnen Rekursionsebene zu, oder wir unterteilen sie in Teilaufgaben, die wir zwei oder mehr Rekursionsebenen zuordnen. Dadurch entsteht ein neues, und schon konkreteres Bild unserer Steuerungsorganisation. Wenn wir die Rekursionsebenen am Ende einzeln mit ihren zugeordneten Aufgaben betrachten, wird der Beitrag jeder Rekursionsebene an das Steuerungssystem des Unternehmens sichtbar. Das Steuerungssystem des Ganzen muss insgesamt die sechs Schlüsselgrößen des Erfolges unter Kontrolle halten, denen wir bereits im Kap. 9 begegnet sind, als es um die Beurteilungskriterien zur Segmentierung der Grundstruktur ging. Welche Ebene ist also primär für die Marktstellung, welche für die Innovationsleistung, Produktivität, Attraktivität für gute Leute, Liquidität/Cash Flow oder die Profitabilität verantwortlich? Der Blick auf unser eigenes SIF in der Tabelle und auf die darin gesammelten, erfolgskritischen Aufgaben und Teilaufgaben zeigt uns, worin der primäre Steuerungsbeitrag unserer eigenen Rekursionsebene an das Ganze besteht. Und wenn wir die gesamte Tabelle betrachten, können wir beurteilen, ob insgesamt alle sechs Schlüsselgrößen abgedeckt sind und welche Rekursionsebene welchen Beitrag dazu leistet. Es kann beispielsweise sein, dass in einem Unternehmen der primäre Beitrag der Gruppenebene in der Steuerung von Liquidität und Cash Flow sowie der Innovationsleistung besteht, während die Divisionsebene sich auf Produktivität und Profitabilität fokussiert und innerhalb dieser einzelne Market Units schließlich den Kundennutzen und die Attraktivität für gute Leute

13  Zentral oder dezentral? (Schritt IV)

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sicherstellen. Diese abschließende Gesamtsicht ist einerseits nützlich, weil wir so allenfalls vorhandene „lose Enden“ aufspüren: Gibt es Schlüsselgrößen, zu deren Steuerung keine Rekursionsebene relevante Beiträge leistet? Wer soll sich in diesem Fall um sie kümmern? Oder gibt es umgekehrt einzelne Rekursionsebenen, die keinen relevanten Beitrag zu mindestens einer der sechs Schlüsselgrößen leisten, und können wir diese Eben dann vielleicht eliminieren (was uns zurück zu den Fragen im Kap. 11 bringen würde)? Andererseits müssen wir von jeder Rekursionsebene auch wissen, worauf sie sich fokussieren soll und woran sie primär gemessen werden muss, wenn es um die Zielvereinbarung, Leistungsbeurteilung und Incentivierung der Verantwortlichen geht. Mit der Gestaltung des Steuerungssystems des Unternehmens verändern wir auch das Führungssystem des Unternehmens. Aufgaben

a. Erstellen Sie eine Tabelle und fügen Sie in die Zeilen alle erfolgskritischen Aufgaben aus Kap. 12 ein (Abb. 13.1). b. Fügen Sie in die Spalten alle relevanten Rekursionsebenen Ihrer Diagnose ein. Ziehen Sie mindestens Ihr System in Focus (R0) sowie eine Rekursionsebene darüber (R+1) und darunter (R−1) in Betracht. c. Prüfen Sie für jede erfolgskritische Aufgabe die in Tab. 13.1 enthaltenen drei Fragen und ordnen Sie auf Basis Ihrer Antwort die ganze Aufgabe oder nur Teile da­ raus auf die einzelnen Rekursionsebenen zu. d. In der abschließenden Betrachtung: Was fällt Ihnen auf, wenn Sie den jeweiligen Beitrag der Rekursionsebenen an das Steuerungssystem des Ganzen betrachten? Stimmt das mit Ihrem heutigen Führungs- und Incentivierungssystem überein? Seien Sie nicht erstaunt, wenn es das nicht tut. Tipp: Schreiben Sie die Rekursionsebenen in Ihrer Diagnose durchgängig mit den gleichen Bezeichnungen (R0), (R−1), (R−2), … an, auch in der Tabelle. Es ist nützlich, die erfolgskritischen Aufgaben vorher nicht nur stichwortartig zu erfassen, sondern sie etwas auszuführen, damit man genau weiß, wovon man spricht.

Die Steuerungsfunktionen prüfen und gestalten (Schritt V)

14

Mit dem Diagnoseschritt V wenden wir uns nun der vertikalen Steuerungsachse zu. Es ist die Steuerungsachse des Senior-Managements in unserem System in Focus. Auf dieser Achse liegen und wirken die Systeme 2 bis 5 (Abb. 14.1). In der Organisation, die wir gerade gestalten, haben die operativen Einheiten inzwischen schon selbst den größten Teil der Komplexität des Geschäftes absorbiert. Das Senior-Management muss sich nur noch um die verbleibende Komplexität, respektive um die bisher noch nicht gelösten Themen und offenen Fragen kümmern. Damit es diese Wolke verbleibender Komplexität absorbieren kann, setzt es seine vertikalen Steuerungskanäle ein. Mit seinen Steuerungssystemen 2 bis 5 koordiniert, optimiert und auditiert es das Ganze, es legt die Grobrichtung fest und es definiert die Policies. Mit dem System 2, 3 und 3∗ steuert es das „Inside & Now“ des Unternehmens und mit den Systemen 4 und 5 das „Outside & Then“. Das System 3, das im Sandwich zwischen System 1 und System 4 steckt, balanciert Gegenwart und Zukunft in einem speziellen Prozess, der vom System 5 beaufsichtigt wird. Da wir ab jetzt die Nomenklatur des Viable System Models häufiger verwenden werden, lohnt sich an dieser Stelle nochmals ein Blick zurück ins Kap. 5, um sich die fünf Steuerungsfunktionen des Modells in Erinnerung zu rufen. Wir wissen aus den Überlegungen in Diagnoseschritt II (Kap. 11), wie groß diese verbleibende Komplexitätswolke ist und wie stark deshalb die vertikalen Kanäle sein müssen. Aus den Überlegungen in den Diagnoseschritten III und IV (Kap. 12 und 13) wissen wir auch, welche Aufgaben in unserem SIF gesteuert werden müssen. Vom Viable System Model wissen wir schließlich, welche Steuerungsfunktionen wir um unser System 1 herum gestalten müssen und wie diese integrierte Steuerung kommuniziert. Wir haben damit jetzt alle Zutaten für die Gestaltung der dritten Dimension des Organisierens zusammen. In der folgenden Diskussion werden wir die Sicht des Senior-Managements als Ganzes mit all seinen unterstützenden Funktionen, Fachbereichen und Abteilungen einnehmen, und nicht die Sicht eines einzelnen Fachbereichs wie zum Beispiel der Personalabteilung,

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Pfiffner, Die dritte Dimension des Organisierens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29247-8_14

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14  Die Steuerungsfunktionen prüfen und gestalten (Schritt V)

Abb. 14.1  Das Senior-Management kümmert sich um die verbleibende Komplexität

denn wir wollen ein Steuerungssystem für das Ganze entwickeln. Wie aber bereits in Abschn. 9.2 erläutert, kann der Personalbereichsleiter die weitere Diagnose auch nur für seinen eigenen Bereich machen. Er interessiert sich in diesem Fall nicht für das Senior-­ Management als Ganzes, sondern nur für das System 2 bis 5 des Personalbereichs. Er studiert das Zusammenwirken von Personalpolitik, Personalstrategie und allen weiteren Aufgaben zur Optimierung, Koordination oder Auditierung von Personalfragen. Für das alles ist er verantwortlich und dafür braucht er ein Steuerungssystem. Da er für eine unterstützende Funktion verantwortlich ist, muss er auch überlegen, wie sich seine Personalpolitik in die Unternehmenspolitik fügt, was seine Personalstrategie zur Geschäftsstrategie beiträgt und wie die operativen Pläne und koordinierenden Funktionen des Personals mit denen der anderen Fachbereiche zusammenpassen. Seine eigenen, fachspezifischen Steuerungsfunktionen muss er nach seiner Diagnose ins Steuerungssystem des Senior-­ Management integrieren. Ob eine unterstützende Funktion direkt oder indirekt wertschöpfend wirkt, spielt für unsere Zwecke keine Rolle. Für die Steuerung ist nur die Unterscheidung in operative und unterstützende Funktionen relevant. Die Produktion kann zum Beispiel als operative oder als unterstützende Funktion organisiert werden. Im Diagnoseschritt I haben wir uns für eine primäre Steuerungsdimension des Unternehmens entscheiden müssen. Wir haben also beispielsweise die Region als Segmentierungskriterium für unser System 1 gewählt, obwohl vielleicht auch das Produkt denkbar gewesen wäre. Unsere operativen Einheiten sind deshalb in diesem Beispiel nun Regionen. Sofern wir die Produktion der Produkte im Schritt IV nicht auf die operativen Einheiten selbst verteilt und dezentralisiert haben, wird sie als unterstützende Funktion von einem Fachbereich im Senior-Management verantwortet und durch ihn gesteuert. Wie beim Personalbereich hat in diesem Fall auch die

14.1  S2: Koordination und Unterstützung

205

Produktion ein eigenes, zweckbezogenes Steuerungssystem, also sozusagen ihr eigenes Viable System Model im Steuerungssystem des Ganzen. Wie der Personalbereich steht auch die Produktion in den Diensten der Regionen, ist ebenso verwoben ins Steuerungssystem des Gesamtunternehmens und muss sich deshalb wie alle anderen Fachbereiche ins Senior-Management einfügen. Diese Abstimmungsprozesse werden in der heutigen Praxis hauptsächlich im System 3 vorgenommen, das dafür sorgt, dass die Fachbereiche zusammenarbeiten und ihre Pläne, Ziele und Budgets für das Zusammenwirken abstimmen. Eventuell kennen wir Abstimmungsprozesse auch im System 4, wenn in Form von Projekten unter Mitwirkung aller Fachbereiche beispielsweise die gemeinsame Strategie entwickelt wird. Je nach Unternehmen ist neben dem System 3 auch für das System 4 eine Gesamtverantwortung mehr oder weniger klar organisiert, die sich um die Integration aller Bereiche in den System 4-Fragen kümmert. Für das System 2 und das System 3∗ scheint hingegen normalerweise niemand zuständig zu sein. Sie sind in der Praxis deshalb auch diejenigen Systeme, die am schlechtesten integriert sind und am schlechtesten funktionieren. Es lohnt sich also, für jede der fünf Steuerungsfunktionen, die wir im Folgenden diagnostizieren und gestalten werden, eine verantwortliche Person zu etablieren. Ein System 2-„Directorate“ würde beispielsweise dafür sorgen, dass die operativen Einheiten nicht mit Unmengen von Anfragen und Bürokratie aus allen Fachbereichen gleichzeitig überflutet werden, sondern dass die Kommunikation in verdaubaren Stücken erfolgt und tatsächlich funktioniert. Es würde das System 2 regelmäßig ausmisten, verschlanken und seinen Nutzen überprüfen. Für das System 3 gibt es normalerweise einen klaren Verantwortlichen, zum Beispiel den COO (Chief Operating Officer) oder den Geschäftsleiter. Die Namensgebung für diese Positionen kann verwirrend sein, denn sie variiert je nach Art des Unternehmens, seiner Rechtsform, angelsächsischem oder deutschem Recht und vor allem je nach Rekursionsebene. Einen CEO mag man als Verantwortlichen für das System 4 verstehen, der aber auch System 3 mit verantwortet. Und ein Aufsichtsrat, Beirat oder ein Verwaltungsrat nehmen sicherlich System 5-Aufgaben, teilweise aber auch System 4-Aufgaben wahr. Es macht deshalb Sinn, sich nicht auf Namen von Organen und Gremien abzustützen, weil deren tatsächliche Funktion sehr unterschiedlich sein kann, sondern von der Steuerungsfunktion auszugehen und beispielsweise von einem System 3-Verantwortlichen zu sprechen, weil das alle Nomenklaturen umfasst. Wir wissen, wovon wir sprechen, wenn wir vom System 3 reden. Wir wissen, welche Funktion damit gemeint ist, welche Art von Entscheidungen damit getroffen werden und welche Verantwortung damit einhergeht. Wie die Position heißt, ist nebensächlich.

14.1 S2: Koordination und Unterstützung Beginnen wir also mit der Gestaltung des Systems 2 in unserem System in Focus. Es liegt an der Schnittstelle zwischen der horizontalen und der vertikalen Steuerungsachse und kann somit dem System 1 wie auch dem Senior-Management zugeordnet

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14  Die Steuerungsfunktionen prüfen und gestalten (Schritt V)

werden. Das System 2 umfasst alle koordinierenden, schwankungsdämpfenden und unterstützenden Funktionen, die dafür sorgen, dass die operativen Einheiten im System 1 reibungslos arbeiten und sich auf ihr Geschäft konzentrieren können. Es umfasst also viel mehr, als nur die „Office“- oder „Shared Service“-Funktion, als die es manchmal bezeichnet wird. In Abschn. 5.3 haben wir davon gesprochen, dass auch eingeübte Verhaltensweisen, also kulturelle Elemente, zum System 2 gehören und deshalb ebenso in die Diagnose eingeschlossen und soweit möglich gestaltet und gefördert werden müssen. Auch andere Dinge mit koordinierender oder schwankungsdämpfender Wirkung, wie das gemeinsame Führungsverständnis oder das Unternehmensethos, Riten, Symbole und Traditionen, beeinflussen das Unternehmen und entfalten große Steuerungskraft, ohne dass wir sie normalerweise als Teil des Steuerungssystems erkennen würden. So wurde die Luxuslimousine Maybach im Daimler Konzern Anfang des neuen Jahrtausends nicht auf die Straße gebracht, um damit Geschäft zu machen, sondern primär um den Kunden, sich selbst und den Mitarbeitern zu beweisen, dass man solche Autos bauen kann, und um damit im System 2 Stolz, Überzeugung und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu fördern. Das System 2 ist das stärkste Gateway von Komplexität, das dem Senior-Management zur Verfügung steht. Ein gut designtes System 2 erledigt seine Aufgaben zu 70 % über Selbstkoordination und nochmals zu 20 % über aktive Koordination in Form von Sitzungen, Gremien, Projekten oder Einzelabsprachen. Nur für die restlichen 10 % sollte am Ende noch die Definition einer neuen Spielregel oder ein Einzelfallentscheid im System 3 erforderlich sein. Im Kontrast zu ihrer Bedeutung für die Absorption von Komplexität sind die 2er Systeme in den meisten Unternehmen massiv unterentwickelt. Man überlässt ihre Gestaltung dem Zufall. Sie werden in ihrer wirklichen Bedeutung entweder gar nicht erkannt (weil sie in der ersten oder zweiten Dimension des Organisierens nicht vorkommen) oder sie werden unterschätzt und ihr Potenzial bleibt ungenutzt. Schlecht designte 2er Systeme sind ein Fluch unserer Zeit. Sie bremsen statt zu beschleunigen, verursachen Konflikte statt sie zu vermeiden, absorbieren das Management mit Unwichtigem, verursachen unnötige Kosten und nagen an der Motivation der Leute. Wenn die Koordination und Abstimmung an den Schnittstellen nicht reibungslos funktioniert, beginnt sich das System hochzuschaukeln. Ein gemeinsamer Kunde der operativen Einheiten A und B verlangt beispielsweise von der Operation A einen Rabatt, den diese zähneknirschend gewährt. Das verursacht jedoch einen Konflikt mit der Operation B, so dass diese bei ihrem Management interveniert und dieses wiederum Kontakt mit dem Management A aufnehmen muss. Diese Kommunikationen sind anfällig für Verzögerungen, Missverständnisse und andere Irritationen, die neue Schwankungen auslösen. Jedes Element versucht sich in der Folge kontinuierlich an jedes andere Element anzupassen und nichts kommt zur Ruhe. Das System beginnt zu schwingen, wobei sachliche Probleme bald mit unangenehmen, menschlichen Attitüden angereichert werden, woraus noch größere Spannungen entstehen. Diese Schwankungen zu dämpfen, oder noch besser, sie gar nicht erst entstehen zu lassen, ist die Kernaufgabe von System 2. Je besser es diese Schwankungen dämpft, desto mehr entlastet es das Senior-Management von Themen

14.1  S2: Koordination und Unterstützung

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und Problemen, um die es sich sowieso nicht kümmern sollte und für die es eigentlich keine Zeit hat. Ein gut funktionierendes System 2 arbeitet wie die Reflexe in unserem Körper. Wenn wir beispielsweise die Hand auf eine heiße Herdplatte legen, ziehen wir sie zurück, bevor uns überhaupt bewusst wird, was eben geschehen ist. Und wenn wir auf der Treppe stolpern, fangen wir uns reflexartig auf, bevor das übergeordnete Management die entsprechende Nachricht erhält. Müssten wir auf eine bewusste Reaktion von unserem Kopf warten, würden wir uns die Hände verbrennen und die Beine brechen. Im Idealfall haben wir die operativen Einheiten so gestaltet, dass sie überhaupt keine Umweltüberschneidungen und operativen Abhängigkeiten aufweisen. Das kommt in der Praxis etwa in Unternehmen vor, bei denen es um Leben und Tod geht. Bei der Schweizerischen Rettungsflugwacht (REGA) sind die operativen Einheiten auf der untersten Rekursionsebene die einzelnen Rettungseinsätze. Es sind Projekte, die solange eine lebensfähige Einheit bilden, bis sie ihren Zweck erfüllt haben; etwa einen Bergsteiger aus der Eigernordwand zu retten und ins Spital zu bringen. Danach verschwindet diese operative Einheit wieder im System 1, und eine neue entsteht. Der Einsatz weist im Normalfall wenig oder keine Umweltüberschneidungen mit anderen Rettungseinsätzen auf, und er ist auch operativ vollkommen unabhängig von allen anderen Einsätzen. Er ist mit allen Ressourcen und Kompetenzen ausgestattet, die erfolgsentscheidend sind. Sofern es Umweltüberscheidungen gibt, weil mehrere Helikopter zur gleichen Unfallstelle fliegen, entsteht hingegen sofort ein umfangreiches und gut geregeltes System 2 zwischen den Piloten, der Einsatzleitstelle und den Verantwortlichen vor Ort. Ähnliches gilt für militärische Einsätze. Auch sie sind so gestaltet, dass die operativen Einheiten ihren Job weitgehend selbstständig erledigen können. Und da, wo sich Überschneidungen und Abhängigkeiten trotzdem nicht vermeiden lassen, verfügen auch sie über ein stark ausgeprägtes System 2. Ein schönes Beispiel zeigt der Spielfilm „Die Kanonen von Navarone“ aus dem Jahr 1961: Im zweiten Weltkrieg soll ein alliiertes Geheimkommando auf einer Insel im ägäischen Meer zwei gigantische Kanonen der deutschen Wehrmacht in die Luft sprengen. Die fünf Hauptakteure des internationalen Kommandotrupps haben unterschiedliche Aufgaben, denn sie alle sind Experten in einer missionskritischen Disziplin: Der eine im Klettern, der andere im Sprengen, der dritte im Navigieren und so weiter. Zusammen verfügen sie über alle erfolgsentscheidenden Kompetenzen, und sie sind unabhängig von anderen Operationen. Innerhalb des Teams sind sie hingegen voneinander abhängig. Im System 3 schmieden sie gemeinsam ihren taktischen Plan, der zu einer verbindlichen, koordinierenden System 2-Funktion wird, sobald der Plan beschlossen und festgelegt ist. Da die Kommunikationsmittel beschränkt sind und der Feind mithört, kann er nicht mehr geändert werden, sobald die Aktion läuft. Alle Experten haben in dieser Phase ihre Autonomie an den Plan verloren. Auf der horizontalen Steuerungsachse sind nur noch ganz minime Freiheitsgrade vorhanden, und die vertikale Steuerungsachse wirkt sehr stark. Da der Plan natürlich nicht aufgeht und improvisiert werden muss, sind es letztlich der gemeinsame Wille für die übergeordnete Mission, aber auch ihre Erfahrung und das militärische Ethos in ihrem System 2, die das Ganze zusammenhalten und schließlich zum Erfolg führen.

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14  Die Steuerungsfunktionen prüfen und gestalten (Schritt V)

Das System 2 unterstützt die operativen Einheiten und ermöglicht ihre Selbstkoordination durch Plattformen wie Gremien oder Foren, durch Computersysteme mit Datenbanken und Archiven, und durch Übersichten, Hotlines und Informationen aller Art. Es ermöglicht ihnen den Zugriff auf Ressourcen, über die sie nicht selber verfügen, beispielsweise über Shared Service Centers. Es unterhält gemeinsame Infrastrukturen. Es stellt Angebote zur Aus- und Weiterbildung zur Verfügung und ermöglicht, dass sich die Mitarbeiter austauschen und voneinander lernen können. Es enthält alle geltenden ­Regelwerke und Pläne, ob sie aufgeschrieben sind oder nicht. Wenn die Umweltüberschneidung in gemeinsamen Kunden besteht, stellt es das entsprechende Regelwerk zur Verfügung oder etabliert ein Key Account Management für einen gesteuerten Ablauf. Wenn die Überschneidung in gemeinsamen, technischen Problemen besteht, etabliert es vielleicht ein Kompetenzzentrum oder eine Expertengruppe, die voneinander lernt und gemeinsam Probleme löst. Zum größten Teil wird das System 2 dabei vom Management der operativen Einheiten selber gestaltet. Diese Leute wissen am besten wo der Schuh drückt, und solange sie eine gemeinsame Lösung finden, braucht es kein Senior-Management dazu; dieses tritt nur subsidiär in Aktion, wenn beispielsweise Policies umgesetzt werden sollen, das gemeinsame Lernen organisiert, wegen eines neuen Konflikts eine neue Regel aufgestellt oder generell der 2er Kanal gestärkt werden muss. Das System 2 wird also einerseits vom System 1 selber und andererseits vom System 3 gestaltet. Vom System 2 gehen zwei Kommunikationskanäle aus, die es einerseits gegen unten mit den operativen Einheiten verbindet (genauer gesagt, mit deren System 2) und andererseits gegen oben mit dem System 3 (Abb. 14.2). In einer solchen Linie fließt die Kommunikation immer in beide Richtungen. Von unten nach oben kommunizieren die operativen Einheiten ihren Koordinations- und Unterstützungsbedarf und sie liefern

Abb. 14.2  System 2: Koordinieren und unterstützen

14.1  S2: Koordination und Unterstützung

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Informationen über sich selbst an das System 2. Von oben nach unten kommuniziert das System 2 die verbindlichen Pläne und Regeln und seine Unterstützungsleistungen. Auch zwischen System 3 und System 2 fließt die Kommunikation in beide Richtungen: Das operative Management definiert seinen Informationsbedarf für das übergeordnete Con­ trolling und es definiert seine System 2-Elemente, die es für die Optimierung des Ganzen und die Nutzung von Synergien benötigt. Das System 2 berichtet umgekehrt über den Zustand des Systems 1 und die laufenden Aktivitäten in einer verdaubaren und verständlichen Übersicht. Jeder Fachbereich hat dazu, wie oben erwähnt, sein eigenes System 2. Das Marketing stellt über das System 2 seine Mittel zur Vertriebsunterstützung zur Verfügung. Die IT bietet in seinem System 2 den IT-Support an und sie kommuniziert die geltenden IT-­ Richtlinien. Das Personal bündelt die Personaladministration in einem Shared Service Center, und vielleicht gibt es eine zentrale Produktion oder einen zentralen Vertrieb, die ihre Pläne über das System 2 kommunizieren. Jeder Fachbereich will von den operativen Einheiten in Form von Erhebungen informiert werden, lädt zu Sitzungen ein und kommuniziert seine Inhalte. Ein gutes Steuerungssystem bündelt diese Aktivitäten und bereitet sie in einem homogenen Paket auf, mit dem die operativen Einheiten und das Senior-­Management trotz der inhomogenen Inhalte zurechtkommen. Das weit verbreitete Gefühl, dass man von zehn verschiedenen Fachbereichen gleichzeitig hoffnungslos mit verschiedenen Informationen oder Reportanfragen überflutet und von der Arbeit abgehalten wird, rührt meistens eher von der wuchernden Diversität der Kommunikationskanäle und -formate her, als von der unvermeidlichen Diversität ihrer Inhalte. Das System 2 muss immer wieder aktualisiert, systematisch entrümpelt und ausgemistet werden, damit es nicht zur erstickenden Bürokratie mutiert. Andernfalls wird Zeit mit unnützen Formalismen verloren, die operativen Einheiten werden mit E-Mails, Berichten, Telefonaten und Sitzungen überschwemmt, die sie kaum verdauen können, und das Management bleibt trotzdem schlecht informiert. Im Design eines guten System 2 liegen daher in den meisten Unternehmen riesige Leistungsreserven. Die wenigsten Unternehmen können aber beurteilen, ob ihr System 2 zu schwach ausgeprägt oder im Gegenteil bürokratisch aufgebläht ist. Sie erkennen nicht, an welchen Stellen man es entwickeln und stärken muss, und wo man es umgekehrt abbauen und so die operativen Einheiten und die Kosten entlasten kann. Was ist also zu tun? Wir sammeln zuerst alle bisher bekannten Aufgaben aus dem Diagnoseschritt IV, die eine System 2-Funktion erfordern. Es sind einerseits Aufgaben aus dem Varietätsengineering der operativen Einheiten (Verstärker/Dämpfer) und andererseits solchen, die aus dem Koordinationsbedarf von Umweltüberschneidungen und Abhängigkeiten entstanden sind (vgl. Abb. 12.3). Wir ergänzen diese allenfalls mit weiteren System 2-Aufgaben, die in der bisherigen Diagnose noch nicht aufgetaucht sind oder vergessen wurden. Am Ende wollen wir die sieben plus/minus zwei wichtigsten System 2-Aufgaben zusammengetragen haben, auf die besonders zu achten ist. Da jeder Fachbereich seine eigene System 2-Diagnose macht und dazu in seinem Bereich in die Tiefe geht, genügt uns dieser Detaillierungsgrad für das Unternehmen als Ganzes.

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14  Die Steuerungsfunktionen prüfen und gestalten (Schritt V)

Als nächstes überlegen wir, welche Kanäle für die Kommunikation mit System 1 und System 3 verwendet werden und wie gut diese aktuell funktionieren. Vorläufig machen wir nur ein grobes Assessment der genutzten Kanäle, damit wir merken, worauf wir später in der Diagnose genauer achten müssen. Wir werden uns im Kap. 15 eingehender mit ihnen befassen. Für den Moment genügt es uns, in der Tendenz zu erkennen, ob unser System 2 stark genug ausgeprägt ist und gut gemanagt wird und wo die Kommunikation allenfalls verbessert werden muss. Wo wir konkreten Handlungsbedarf erkannt haben, notieren wir uns entsprechende Maßnahmen. Aufgaben

a. Malen Sie nun das Steuerungssystem Ihres SIF auf und beginnen Sie dazu mit dem System 1. Gehen Sie kreativ mit dem Viable System Model um, aber behalten Sie unbedingt dessen Logik bei. Zeichnen Sie größere operative Einheiten größer und kleinere kleiner. Zeichnen Sie operative Einheiten, die erst in Planung sind, gestrichelt ein. Zeichnen Sie Umweltüberscheidungen schraffiert und so groß ein, wie sie tatsächlich sind. Zeichnen Sie die Abhängigkeiten in Form von Wellenlinien zwischen den Operationen ein, so dass das Diagramm ebenfalls einen Eindruck von der Stärke dieser Abhängigkeiten vermittelt. Wir wollen das Steuerungssystem am Ende im Sinne einer „iconic quantification“ auch sehen können und neben dem rationalen auch ein visuelles Verständnis schaffen. Unser Diagramm soll ein möglichst realitätsgerechtes Abbild der Wirklichkeit schaffen, damit wir für unsere Diagnose beide Gehirnhälften nutzen. b. Schauen Sie auf die erfolgskritischen Aufgaben, die Sie Ihrem SIF im letzten Diagnoseschritt zugeordnet haben, und prüfen Sie, welche davon System 2-­Aufgaben sind. Ergänzen Sie diese allenfalls mit weiteren System 2-Aufgaben, die in der bisherigen Diagnose vergessen wurden. c. Schreiben Sie für jede Aufgabe auf, welche Kommunikationskanäle dazu hauptsächlich verwendet werden und welche davon genauer betrachtet werden müssen. d. Machen Sie sich ein Bild von Ihrem System 2 insgesamt: Ist es stark genug, gut gestaltet und gepflegt? Müssen wir es ausmisten? Werden die Anforderungen der Fachbereiche integriert oder arbeitet jeder für sich? Funktioniert die Kommunikation oder überfrachtet sie die operativen Einheiten? Liefert das System 2 handlungsrelevante Information? Welche Aufgaben sind heute noch gar nicht abgedeckt oder müssen ausgebaut werden? e. Können wir eine Gesamtverantwortung für das System 2 im Sinne eines „Coordination Directorate“ erkennen oder etablieren? Wie würden Sie seine Aufgaben und Verantwortung beschreiben? Tipp: Beschriften Sie Ihr Diagramm wiederum mit: SIF, R0: Name. Wir müssen in der weiteren Diskussion jederzeit klar erkennen können, auf welcher Rekursionsebene wir uns gerade befinden. Gerade wenn mehrere Kollegen mitdiskutieren, entstehen sonst schnell Missverständnisse und Irrtümer.

14.2  S3: Optimierung des heutigen Geschäfts

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14.2 S3: Optimierung des heutigen Geschäfts Führung entsteht in einem funktionierenden Steuerungssystem nicht durch die Ausübung von Autorität und auch nicht durch die Überflutung der vertikalen Steuerungsachse mit varietätsdämpfenden Regulierungen. Sie verteilt Kompetenz und Verantwortung auf die operativen Einheiten und nutzt Synergien, die im synoptischen Blick auf das Ganze erkannt werden. Wie wir in Kap. 11 gesehen haben, interveniert sie nur da und nur gerade so stark, wie es zur Optimierung des Ganzen nötig ist. Das System 3 ist für die Nutzung bestehender Erfolgspotenziale verantwortlich. Ein hoher Marktanteil ist beispielsweise ein solches Erfolgspotenzial. Er erhöht die Möglichkeiten, Kosten zu senken, bleibt aber vorerst nur ein Potenzial, bis tatsächlich an den Kosten gearbeitet wird. Wir haben in Abschn.  3.2 bereits vom Erfahrungskurveneffekt gesprochen, der sowohl in der Theorie als auch in der Praxis unbestritten ist. Jeder Markt ist früher oder später gesättigt. Dann beginnt die Endspielphase, in der sich die Leistung der Anbieter nicht mehr stark voneinander unterscheidet, der Wettbewerb hauptsächlich über den Preis ausgetragen und die Anzahl der Anbieter damit reduziert wird. Um in dieser Phase fallender Preise überleben zu können, muss das Unternehmen seine Kosten rechtzeitig im Griff haben. Unternehmen mit höheren Marktanteilen haben wegen des Erfahrungskurveneffekts größere Möglichkeiten, ihre Kosten zu senken [1]. Ihre langfristig günstigstenfalls erreichbare Kostenuntergrenze liegt also tiefer als diejenige von Konkurrenten mit kleineren Marktanteilen, so dass man selbst bei tiefen Preisen immer noch Marge erzielt. Das Problem ist, dass sich die Kosten nicht von selbst senken und sich auch nicht von heute auf morgen senken lassen. In der Praxis finden sich nämlich tausend Gründe dafür, warum man die Kosten gar nicht oder nicht hier oder nicht jetzt anfassen soll. Die Nutzung von Marktanteilen hat nämlich einen Preis, und der heißt Einschränkung von Autonomie und Reduktion von Varietät. Hinter Kosten können Stärken eines Unternehmens stehen. Sie zu kappen wäre dumm. Kosten gibt es aber auch in Form angesammelter „Fettreserven“. Und drittens gibt es vermeidbare Kosten und ungenutzte Leistungspotenziale, weil Synergien nicht genutzt wurden. Also muss das System 3 herausfinden, wo Kosten eigentlich Muskeln sind, wo unnötiges Fett, und wo die Möglichkeiten für Synergien verborgen liegen. Aus unseren Überlegungen im Diagnoseschritt IV (Kap. 13) haben wir bereits Hinweise darauf erhalten, worin diese bestehen könnten. Unser Kriterium für die zentrale Zuordnung einer sy­ nergetischen Aufgabe war, dass die operative Einheit nicht in ihrer Fähigkeit gebremst wird, Kunden zufriedenzustellen. Die Wirkung von Synergien kann darin bestehen, dass Kosten gesenkt werden, dass man den operativen Einheiten unkritische Aufgaben abnimmt, um ihnen mehr Fokus auf den Kunden zu ermöglichen, oder auch durch die zen­ trale Bündelung von Kompetenz und Expertise, so dass dadurch mehr Leistung an der Front entsteht. Bestehende Erfolgspotenziale können also nicht nur in Form von tieferen Kosten dank höherer Marktanteile genutzt werden, sondern auch in Form von überlegenem Kundennutzen, höherer Innovationskraft, besserer Produktivität oder höherer Attraktivität für gute Leute dank der optimierten Zusammenarbeit aller Einheiten.

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14  Die Steuerungsfunktionen prüfen und gestalten (Schritt V)

Das System 3 trifft seine Entscheidungen immer zum Wohle des Ganzen. Es nutzt Synergien, setzt Prioritäten, wo sich diese kurzfristig zwischen den operativen Einheiten verschieben müssen, und es sorgt für die Integration der operativen Pläne aller Einheiten und Fachbereiche in ein logisches Ganzes. Es sorgt dafür, dass Veränderungsprozesse, die in Abstimmung mit System 4 als notwendig erkannt wurden, umsetzt werden, und dass sich das System 1 an die vom System 5 verabschiedeten Policies hält. Damit es gut informierte Entscheidungen treffen und diese auch wirksam umsetzen kann, stehen ihm insgesamt vier vertikale Kommunikationskanäle zur Verfügung. Über das System 3∗ kann es versteckte Synergien entdecken und die Compliance prüfen. Über das System 2 kann es seine Entscheidungen zu Koordinationsthemen umsetzen und eine Übersicht über das System 1 insgesamt gewinnen. Dann bleiben ihm noch die zwei Kommunikationskanäle, die das System 3 direkt mit dem System 1 verbinden (Abb. 14.3). Man beachte, dass die Managementbox jeder operativen Einheit direkt mit dem System 3 verbunden ist, was in einem zweidimensionalen Diagramm natürlich schwer darstellbar ist. Sie kommuniziert mit jeder operativen Einheit direkt und unabhängig von den anderen Einheiten. Diese zwei vertikalen Kommunikationskanäle haben einen unterschiedlichen Charakter. Den Kanal links nennen wir „Ressource Bargain and Accountability“-Kanal. Er wird genutzt für das Aushandeln von Ressourcen und die Übernahme von Verantwortung dafür. Diese Kommunikation erfolgt durch Vereinbarungen zwischen den operativen Einheiten und dem System 3. Es ist hauptsächlich der operative Planungsprozess, der die Absichten der operativen Einheiten verbindet und mit den Absichten des Senior-­ Managements in Einklang bringt. Dazu gehören die Jahresziele und ihr finanzieller Nie-

Abb. 14.3  Optimieren des heutigen Geschäfts

14.2  S3: Optimierung des heutigen Geschäfts

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derschlag in Budgets. Die operativen Einheiten beantragen dem System 3 ihre Pläne inklusive beabsichtigter Investitionen und benötigter Mittel, die sie im Idealfall aus den selbst erwirtschafteten Profiten bezahlen, für die sie aber auch Unterstützung beantragen können. Das System 3 trägt diese Pläne zusammen und priorisiert, korrigiert oder ergänzt sie aus der synoptischen Sicht des Ganzen. Am Ende trifft es eine Entscheidung, welche die Pläne auch für das System 1 verbindlich fixiert. Damit verankert es Verantwortung für allokierte Ressourcen. Die Kommunikation läuft in diesem Aushandlungsprozess in beiden Richtungen des Kanals. Die operativen Einheiten berichten danach regelmäßig über den Grad ihrer Zielerreichung, über die Chancen, die sich zwischenzeitlich eröffnen, und über die Hindernisse, mit denen sie zu kämpfen haben. Zum System 3 gehört aber auch die unterjährige Planung. Es sind die kurzfristigen Steuerungszyklen, die entsprechend den definierten Prozessen permanent zwischen Fachbereichen und operativen Einheiten ablaufen. Dazu gehören unter anderem die Vertriebssteuerung oder die Produktionssteuerung. Wenn ein Unternehmen in Vertriebsregionen gegliedert ist (System 1), muss es möglicherweise eine zentrale Produktion steuern, die vielleicht aus einigen Werken in verschiedenen Ländern besteht. Die Regionen planen dazu zuerst ihre eigenen Jahresvertriebsziele, die in Summe die Produktionsziele vorsteuern. Das wird im System 3 mit den Zielen des Produktionschefs abgestimmt: Haben wird Unter- oder Überkapazitäten? Wie soll sich die Produktion und die Produktivität entwickeln? Wollen wir Werkstandorte verlagern? Wo investieren und desinvestieren wir? Und müssen die Ziele der Regionen deshalb nach unten oder nach oben hin angepasst werden? Der Produktionsplan wird im System 3 entschieden und danach erfolgt ein kontinuierlicher Kommunikationskreislauf zwischen den Systemen 1, 2 und 3. System 2 ermöglicht den operativen Einheiten den Zugriff auf diese Ressourcen, die operativen Einheiten passen ihre Ziele aufgrund der tatsächlichen Ereignisse und Ergebnisse an und das System 3 trägt diese Anpassungen wiederum zusammen und entscheidet über die aktuellen Prioritäten. Diese fließen wiederum ins System 2 der Produktion ein und so weiter. Neben dem Aushandeln von Ressourcen und Verantwortung gibt es in einem funktionierenden Steuerungssystem aber auch die Möglichkeit, etwas verbindlich vorzugeben. Der „Corporate Intervention“-Kanal schränkt die Autonomie der operativen Einheiten durch harte Leitplanken ein, die sogenannten „legal and corporate requirements and constraints“. Auf dem zweiten Kanal wird damit die Zweckerfüllung gesteuert. Wie immer fließt die Kommunikation auch hier in beide Richtungen. Das System 3 kommuniziert dem System 1 die verbindlichen Leitplanken und dieses berichtet umgekehrt über deren Einhaltung zurück. Derselbe Kanal kann aber auch als Befehlskanal genutzt werden. Es ist der Kanal, über den notfalls mit der Faust auf den Tisch gehauen und das Ganze verbindlich auf eine Entscheidung verpflichtet werden kann. Es gibt Situationen, in denen das erforderlich ist, wenn beispielsweise in einer Notsituation ein rasches Wendemanöver eingeleitet werden muss, oder wenn die Leitungen der operativen Einheiten in einem Konfliktfall selber keine Lösung finden. Die explizite Ausübung von Autorität steht jedem funktionierenden System als Ultima Ratio zur Verfügung, wenn es nicht mehr anders geht.

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14  Die Steuerungsfunktionen prüfen und gestalten (Schritt V)

Es vermeidet sie aber soweit möglich aus den inzwischen bereits mehrfach genannten Gründen der relativen Autonomie und Lebensfähigkeit der Organisation. Die Autonomie wird immer nur da und nur soweit eingeschränkt, wie es zum Wohle des Ganzen unvermeidbar ist (vgl. das First Axiom of Management in Kap. 11). Wir erinnern uns dazu an die Beispiele der REGA und des Geheimkommandos in Navarone. Die Handlungsfreiheit der operativen Einheiten und damit ihre Varietät müssen in jedem Fall möglichst groß gehalten werden. Was ist zu tun? Wir sammeln zuerst wieder die Aufgaben aus dem Diagnoseschritt IV, die unserem System in Focus zugeteilt wurden und einen System 3-Charakter haben. Es sind diejenigen Aufgaben, durch die etwas zum Wohle des Ganzen entschieden wird und die eine Optimierung des heutigen Geschäftes bezwecken. Wir ergänzen sie mit weiteren System 3-Aufgaben, die wir bisher noch nicht diskutiert haben, aber aus unserer Sicht ebenfalls erfolgskritisch sind. Insbesondere werfen wir jetzt einen Blick zurück auf unsere Segmentierungstabelle aus dem Schritt I in Kap. 9. Die Segmentierungsvariante, für die wir uns im Beispiel in Abb. 9.5 entschieden haben, hat klare Vorteile, aber auch einige Schwächen. Die Regionen können in diesem Beispiel ihre Stärken in der Reaktionsgeschwindigkeit und Logistikleistung ausspielen. Sie nutzen auch die persönlichen Netzwerke optimal, sind attraktiv für gute Leute und haben ihre Vorteile in den finanziellen Größen. Wir sehen in dieser Tabelle aber auch, was die operativen Einheiten nicht können. Sie sind in diesem Beispiel schlecht in der Sicherstellung der Engineering- und Außendienst-Qualität und in der Innovationsleistung. Wenn die operativen Einheiten diese erfolgsentscheidenden Faktoren selber nicht gut steuern können, dann muss das System 3 diese Aufgaben nach dem Subsidiaritätsprinzip übernehmen. Es sind die Aufgaben, auf  die sich das System 3 konzentrieren muss. Wir fügen sie also unserem System 3-Aufgabenkatalog hinzu. Am Ende sollten wir gemäß dem Pareto-Prinzip wiederum die wichtigsten sieben plus/minus zwei Aufgaben des Systems 3 erkannt haben. Da auch hier jeder Fachbereich für sich die gleiche Diagnose macht, und darin seine eigenen, spezifischen Aufgaben nochmals ausdividiert, brauchen wir wiederum nicht in die Details zu gehen. Wir prüfen dann die beiden vertikalen Kommunikationskanäle und fragen uns, wie gut sie heute funktionieren im Vergleich zur Kraft, die sie gemäß unserer Diagnose im Schritt II (Kap. 11) entfalten müssten. Wir fragen uns, welche Kanäle genau für die Kommunikation der System 3-Aufgaben verwendet werden, und welche von ihnen im nächsten Dia­ gnoseschritt besondere Aufmerksamkeit erfordern. Früher oder später stellt sich immer auch die Frage, wer diese Aufgaben wahrnimmt. Aus den in Abschn.  3.6 genannten Gründen stellen wir uns diese Frage aber erst am Schluss, im Diagnoseschritt VII. Es lässt sich aber gar nicht vermeiden und ist durchaus auch gewollt, dass wir mit der Diagnose des Systems 3 automatisch auch eine Übersicht über seine Akteure in Form von Personen, Organen und Gremien gewinnen. In fast jedem System 3, dem ich begegnet bin, gab es eine Form von „Operations Directorate“, das Entscheidungen für das Ganze verbindlich treffen konnte. Wie erfolgt das also in unserem SIF und wer ist sonst noch alles an unserem System 3 beteiligt?

14.3  S3*: Real-Life Information und Auditierung

215

Aufgaben

a. Sammeln Sie die Aufgaben aus Diagnoseschritt IV (Zentral oder Dezentral), die Ihrem SIF zugeteilt wurden, und wählen Sie daraus diejenigen, die das System 3 betreffen, weil durch sie Entscheidungen zur Optimierung des Ganzen getroffen werden. b. Ergänzen Sie diese mit weiteren Aufgaben, insbesondere mit denen, die sich in der Segmentierungsbeurteilung in Diagnoseschritt I als Schwächen der primären Steuerungsdimension herausgestellt haben. c. Prüfen Sie für jede Aufgabe, welchen der beiden Kommunikationskanäle zum System 1 sie betrifft, wie die Kommunikation erfolgt und ob die beiden Kanäle leistungsfähig genug sind. Machen Sie dazu nur ein grobes Assessment. d. Prüfen Sie für jede Aufgabe, welcher Informations- oder Unterstützungsbedarf sich daraus gegenüber dem System 2 ergibt. Ergänzen Sie wenn nötig Ihre Notizen zum System 2. e. Entwickeln Sie Ihr Diagramm des SIF weiter, indem Sie nun Ihr System 3 und die entsprechenden Kommunikationskanäle ihrer tatsächlichen Größe und Stärke entsprechend einzeichnen. f. Haben wir eine klare Gesamtverantwortung für das System 3 im Sinne eines „Operations Directorate“ etabliert? Tipp: Machen Sie weiterhin Notizen zum Handlungsbedarf, den Sie für Ihr SIF feststellen.

14.3 S3*: Real-Life Information und Auditierung Der vierte Kanal, der dem Senior-Management für die Steuerung des operativen Geschäftes zur Verfügung steht, ist das System 3∗. Es hat die Aufgabe, das System 3 mit ungefilterter Information direkt aus den Operationen anzureichern, damit bessere Entscheidungen getroffen werden können, und um die Compliance sicher zu stellen. Dazu verbindet es das System 3 direkt mit jeder Operation im System 1 (Abb. 14.4). Über diesen Kanal weiß das Senior-Management, was draußen wirklich läuft. Es kann auf der Suche nach Synergiepotenzialen Studien anstoßen, über die man zum Beispiel herausfindet, wie viele Varianten von Elektromotoren in den Produkten des Konzerns verbaut werden, um sie dann zu reduzieren und Kosten zu senken, oder um den Benchmark in irgendeinem Bereich im eigenen Unternehmen zu finden, von dem andere lernen sollen. Sofern es Handlungsbedarf entdeckt, setzt es ein entsprechendes System 3-Projekt auf, das über den Corporate Intervention Kanal kommuniziert und in Zusammenarbeit mit den Leitungen der operativen Einheiten umgesetzt wird. Es könnte auch Kandidaten für den Führungsnachwuchs in den Operationen entdecken wollen, die zu ihrer Entwicklung auch außerhalb ihrer angestammten operativen Einheit gefördert werden

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14  Die Steuerungsfunktionen prüfen und gestalten (Schritt V)

Abb. 14.4  Auditieren und Real-Life Informationen gewinnen

müssen. Es führt laufende Gesundheitschecks und Audits im Sinne der Compliance durch und findet dabei systematisch die Baustellen, die zusammen mit dem zuständigen Management der operativen Einheit angegangen werden müssen. Es ordnet Untersuchungen an, wo es Hinweise findet, dass etwas nicht funktioniert oder nicht stimmt. Und es hält sich immer wieder in den Operationen auf, um auch durch Zufall herauszufinden, wo etwas noch besser gemacht werden kann. Das Senior-Management bewahrt sich mit Hilfe des Systems 3∗ die sogenannte „Bodenhaftung“ – das Gefühl für die Wirklichkeit des Geschäftes, das Führungskräften umso eher  abhandenkommt, je größer die Unternehmen sind, in denen sie arbeiten. Auch hier fließt die Kommunikation in Form von Kreisläufen von den Operationen im System 1 ins System 3∗, von dort ins System 3, dann ins Management der operativen Einheiten und von dort zurück in die Operationen. Und auch hier fließt die Information in jedem Kanal in beide Richtungen. Das System 3 formuliert gegenüber dem System 3∗ seinen Informationsbedarf, der sich aus der Ausübung seiner erfolgskritischen Aufgaben ergibt. Dieses liefert dann diesbezüglich Berichte, Auswertungen und Erkenntnisse zurück an das System 3 und normalerweise auch gleich zurück in die Operationen. Aus jeder Aufgabe im System 3 ergibt sich Informationsbedarf, und für jeden Informationsbedarf muss schließlich überlegt werden, welche Kanäle dazu am geeignetsten sind. Diese sind je nach Unternehmenstyp, Größe und Situation sehr unterschiedlich. Ein paar Beispiele: • Ein Grund, warum die katholische Kirche Ordensgemeinschaften wie die Jesuiten, Dominikaner oder Franziskaner immer  neben sich duldete, liegt vermutlich darin, dass diese ein hervorragendes System 3∗ für sie bilden, weil sie geografisch in den Diözesen der Kirche angesiedelt sind, sehen, was dort läuft, und als unabhängige Institution an den Bischöfen vorbei direkt die oberste Rekursionsebene der Kirche erreichen.

14.3  S3*: Real-Life Information und Auditierung

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• In sehr großen Unternehmen sind die 3∗ Systeme meistens institutionalisiert. So nimmt in einem Staat eine unabhängige Judikative eine 3∗ Funktion ein, indem sie Ereignisse in den Operationen an deren Leitungen vorbei in Bezug auf den Willen des Gesetzgebers beurteilt. • Große Firmen tun ähnliches durch Compliance-, Audit-, und Revisionsabteilungen, deren systematische Prüfungen sich allerdings meistens auf finanzielle Größen beschränken, und auf Stichproben, die im Sinne der Compliance und Qualitätssicherung durchgeführt werden. Das System 3∗ arbeitet hier weder nach dem Prinzip „Vertrauen ist der Anfang von Allem“ noch nach dem Prinzip „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“, sondern es unterscheidet, wo es vertrauen kann und wo Kontrolle nötig ist. Über Stichproben etabliert es Selbstregulierung, denn oftmals genügt schon das Wissen, dass eine Probe möglich ist, damit etwas im gewünschten Rahmen bleibt. Wir kennen das beispielsweise von den Geschwindigkeitskontrollen im Straßenverkehr. Und über systematische Checks stellt es sicher, dass keine kritischen Dinge schiefgehen können. • In Zeiten des Umbruchs in einem Unternehmen können Mitarbeiter aus den Operationen als sogenannte „Change Agents“ über den tatsächlichen Umsetzungsstand der Veränderungsprojekte berichten. Es ist der vermutlich wichtigere Teil ihrer Aufgabe, als die Bekehrung von Kollegen. Denn gerade in Veränderungsprojekten ist es besonders wichtig, die Zielabweichung am Ort der Wahrheit zu erkennen, um nachkorrigieren zu können. • Als das Innovationsprojekt Smart im Daimler Konzern um die Jahrtausendwende in Schwierigkeiten steckte, hat der damalige Smart-Chef Andreas Renschler in den Werken von Smartville sogenannte „Offen Gesagt“-Abende durchgeführt, in denen er persönlich und vor Ort den Mitarbeitern zuhörte. Er wollte an diesen Abenden weder erklären noch rechtfertigen, sondern lernen, wie die Basis die Situation sieht. Er wollte Information gewinnen. • Wir haben bereits in Abschn. 5.4 von Mystery Shopping, Kundenbesuchen und angekündigten oder unangekündigten Besuchen des Senior-Managements in den Operationen der operativen Einheiten als System 3∗-Kanäle gesprochen. • Auch Mitarbeiter-Austrittsgespräche sind ein wirksamer System 3∗-Kanal. Über diese Gespräche erhält das Senior-Management Information direkt, ungefiltert und ungeschönt aus der Operation, weil diese Mitarbeiter ja nichts mehr zu verlieren haben. Ich habe einige Top-Manager kennengelernt, die diesen Kanal, wie übrigens auch die Information aus Kunden-Reklamationen, systematisch nutzen. • Immer häufiger nutzen derzeit Unternehmen außerdem die sozialen Medien nicht nur für ihre 4er und 2er Systeme, sondern auch als starken System 3∗-Kanal. Sie schaffen dazu interne Firmen-Facebooks, auf denen die Mitarbeiter aus der ganzen Welt selber und ungefiltert Fotos, Videos und Berichte über besondere Ereignisse posten. Über solche Kanäle gleicht das System 3∗ in einem Negative Feedback-Loop die laufenden Aktivitäten und Geschehnisse mit den anvisierten Zielen ab. Es kann dadurch nachsteuern, um auf Kurs zu bleiben, und es kann lernen. Es merkt, wenn die horizontale und

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14  Die Steuerungsfunktionen prüfen und gestalten (Schritt V)

die vertikale Steuerungsachse außer Balance geraten, und letztlich gleicht es den beabsichtigten Zweck (System 5) mit dem tatsächlichen Zweck (System 1) ab: Tun wir (immer noch) das Richtige? Wie beim System 2 stellt sich auch hier die Frage, wer das System 3∗ im Sinne eines „Auditing Directorate“ verantwortet, die Fachbereiche in ihren Informationsbedürfnissen integriert und bündelt, und dafür sorgt, dass nicht nur „Papier produziert“, sondern Erkenntnisse gewonnen werden. Wie das System 2 wird auch das System 3∗ in seiner Bedeutung für die Komplexitätsbewältigung tendenziell unterschätzt oder erst gar nicht erkannt, weil es in den Modellen der ersten beiden Dimensionen des Organisierens nicht vorkommt. Aufgaben

a. Überlegen Sie für jede erfolgskritische Aufgabe im System 3, welcher Informationsbedarf sich daraus für das System 3∗ ableitet. b. Notieren Sie sich die Kanäle, über die das System 3 diesen Informationsbedarf befriedigt, und nehmen Sie ein grobes Assessment dieser Kanäle vor. c. Ist das System 3∗ damit in der Lage, die relevanten, möglichen Abweichungen zu erkennen? Ist es in der Lage, Synergiepotenziale zu entdecken? Wie stark ist das System 3∗ insgesamt? d. Können wir mit dem, was wir inzwischen über die sechs Kanäle auf der vertikalen Steuerungsachse wissen, die horizontale Komplexität aktiv absorbieren? Wenn nein, was ist zu tun? e. Entwickeln Sie das Diagramm Ihres SIF weiter, indem Sie nun Ihr System 3∗ und die entsprechenden Kommunikationskanäle ihrer tatsächlichen Größe und Stärke entsprechend einzeichnen. f. Lässt sich eine Gesamtverantwortung für das System 3∗ im Sinne eines „Auditing Directorate“ erkennen oder etablieren?

14.4 S4: Außenkommunikation, Aufklärung und Erneuerung Die Umwelten, mit denen wir uns bisher befasst haben, waren die Umwelten der operativen Einheiten in unserem System in Focus. Diese haben ihr eigenes System 4, mit dem sie sich in ihrer spezifischen Umwelt orientieren und anpassen. Das SIF selbst hat gemäß Rekursivitätsprinzip auch eine eigene Umwelt, die diese Umwelten umfasst, die aber größer ist als sie. Höhere Rekursionsebenen umfassen immer mehr als die Summe der Rekursionsebenen, die sie enthalten. Mit dieser Gesamtumwelt befasst sich das System 4. Es verbindet das Unternehmen mit ihr, um mit ihr zu kommunizieren, sie verstehen zu lernen, und um sich ihr evolutiv anpassen zu können. Die Gesamtumwelt besteht genau genommen aus zwei verschiedenen Umwelten: Einer bekannten Umwelt, die wir als solche akzeptiert haben und in der wir uns auskennen, und

14.4  S4: Außenkommunikation, Aufklärung und Erneuerung

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Abb. 14.5  System 4: Außenkommunikation, Aufklärung und Erneuerung

einer unbekannten Umwelt, die Chancen und Gefahren für das Unternehmen birgt (Abb. 14.5). Diese zweite, problematische Umwelt ist in der ersten enthalten und ein Teil derselben. Jede dieser beiden Umwelten hat ihren eigenen Steuerungs- und Kommunikationskreislauf in Verbindung mit dem System 4 des Unternehmens. Wir erinnern uns an das Zitat von Jack Welch: „If the rate of change outside exceeds the rate of change inside, the end is in sight.“ Und wir verstehen es inzwischen auch vor dem Hintergrund von Ashbys Gesetz der erforderlichen Varietät: Je größer die Varietät der Umwelt ist, desto größer muss die Varietät unseres Systems 4 sein. Mit anderen Worten: Je turbulenter, dynamischer und komplexer die Umwelt ist, desto leistungsfähiger muss das System 4 sein, um alles mitzukriegen und managen zu können. Die 4er Systeme haben in unserer Multioptions- und Miniobligationsgesellschaft, wie sie der Soziologe Peter Gross nennt [2], und in der globalen und multilateralen VUCA-Welt (Akronym für Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity) eine neue Bedeutung erhalten. Wir müssen sie heute mit besonderem Augenmerk gestalten. Wie schon im Diagnoseschritt III (Kap. 12), als wir die gewünschte Komplexitätsbalance in der operativen Einheit mittels Varietätsverstärkern und -dämpfern hergestellt und so die erfolgskritischen Aufgaben für das bestehende Geschäft gefunden haben, müssen wir diese nun auch für das zukünftige Geschäft finden, damit wir schließlich eine Balance zwischen dem Heute und der Zukunft herstellen können. Beide Welten haben ihre Bedürfnisse und benötigen Ressourcen des Unternehmens. Wir überlegen wie im Schritt III, worin die relevante Gesamtumwelt besteht, arbeiten die wichtigsten Komplexitätstreiber heraus, und wir versuchen wieder möglichst viel zu quantifizieren. Dann tragen wir die Elemente unseres System 4, wie es heute ist, zusammen: Woraus besteht es? Wie groß und wie stark ist es heute? Die Varietät der Umwelt ist

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14  Die Steuerungsfunktionen prüfen und gestalten (Schritt V)

auch hier zwangsläufig immer größer als die Varietät unseres Systems 4, also müssen wir auch hier die richtige Balance mit unseren Komplexitätstools finden. Wir machen das einmal für die bekannte Umwelt. Sie enthält den Staat, in dem das Unternehmen tätig ist, die Kapitalgeber, die Medien, die Lieferanten und Konkurrenten, die potenziellen Kunden und Arbeitnehmer und vieles mehr. Was davon relevant ist, hängt vom Unternehmen und von der Rekursionsebene ab. Das System 4 stellt die Kommunikation mit dieser bekannten, vertrauten Umwelt her. Die angestrebte Komplexitätsbalance liegt darin, dass wir alles von diesen Stakeholdern erfahren, was für uns wichtig ist, und umgekehrt diese alles über uns wissen, was unserer Meinung nach für sie wichtig ist. Für diese Umwelt müssen wir die geeigneten Verstärker und Dämpfer und damit erfolgskritischen Aufgaben für unser System 4 finden. Dazu können die Aufgaben der Corporate Communication mit PR, Sponsoring, Social Media und Webseiten gehören, aber auch die Mitarbeit in Verbänden, der Lobbyismus, das Stake- und Shareholder-Management, das Management von Kooperationen, die Zusammenarbeit mit Gewerkschaften, die Marktund Wettbewerbsbeobachtung, das Recruiting, wie auch die Pflege der persönlichen Netzwerke und vielleicht sogar der Golf-Klub. Dann machen wir das ein zweites Mal für die unbekannte Umwelt, und das ist der schwierigere Teil, weil diese nur im Konjunktiv besteht. Wenn wir sie studieren, bestehen die Schlussfolgerungen auch nur aus Konjunktiven: Das Unternehmen müsste ..., könnte ..., sollte ..., hätte ... und würde ... Neben der Kommunikation mit der bekannten Umwelt liegt in dieser Aufklärung der zweite Zweck von System 4. Es soll erforschen, welche Chancen und Gefahren in dieser unbekannten Umwelt liegen und wie das Unternehmen darauf reagieren soll. Sie können in neuen Technologien, neuen Geschäftsmodellen, Änderungen in der Rechtsordnung oder in der Politik, in der Wirtschaftsentwicklung, den potenziellen neuen Geschäften oder den möglichen Akquisitionen verborgen sein. Um mit den beschränkten Mitteln eines System 4 möglichst viel über diese Chancen und Gefahren zu lernen, müssen wir auch hier geeignete Verstärker und Dämpfer finden. Da der Varietätsüberschuss der unbekannten Umwelt riesig ist, kommt es insbesondere auf die die richtige Dämpfung der Komplexität an. Sie erfolgt immer über Modelle von dieser Umwelt, die wir im Kopf haben, wenn wir darüber nachdenken. Die Herausforderung liegt also darin, sich gemeinsame und qualitativ gute Modelle von dieser Umwelt zu erarbeiten (vgl. Conant-Ashby Theorem Kap. 10). Solche Modelle enthalten die essenziellen Variablen und ihr zirkuläres Zusammenwirken, so dass man Teufelskreise und Hebelwirkungen darin erkennen kann, auf die man seine eigenen Aktionen konzentriert. Wir werden uns im Kap.  19 genauer damit befassen. Ein gutes Modell von der unbekannten Umwelt herzustellen, ist also ein wichtiger Varietätsdämpfer und damit einer der erfolgskritischen Aufgaben im System 4. Es bestimmt, auf welche Signale wir achten und worauf wir nicht achten. Die Mehrheit der Unternehmen, die in finanzielle Probleme geraten, erkennen die Ernsthaftigkeit ihrer Lage viel zu spät, weil sie nur auf finanzielle Indikatoren des Systems 3 achten [3]. Diese sagen einem, dass man ein Problem hat, aber sie sagen nicht, woher es kommt und was zu tun ist. Und vor allem lässt sich damit nicht in die Zukunft schauen.

14.4  S4: Außenkommunikation, Aufklärung und Erneuerung

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Wenn wir alle erfolgskritischen Aufgaben aus der Beschäftigung mit der bekannten und mit der unbekannten Umwelt zusammengetragen haben, und sie um die System 4-­Aufgaben ergänzen, die wir für unser SIF aus Schritt IV (Kap. 13) mitgenommen haben, sollten wir nun eine gute Übersicht haben und in der Lage sein, die sieben plus/minus zwei wichtigsten Aufgaben daraus festzulegen. Eine System 4-Aufgabe lässt sich nie über einen Zeithorizont finden, weil ihre Zeithorizonte je nach Rekursionsebene sehr kurz sein können oder Jahrzehnte umfassen. In unserem Beispiel der Helikopterrettung der REGA liegt der Zeithorizont für das System 4 im einzelnen Rettungseinsatz bei fünfzehn Minuten. Die erfolgskritischen Aufgaben liegen im Aufklären der Wetterbedingungen an der Eigernordwand und der Situation und Verletzungen vor Ort. Wenn wir in der REGA jedoch eine Rekursionsebene höher steigen, reden wir vom System 4 der Division „Helikoptereinsätze“ und damit besteht die Aufklärung in der Frage, wie sich die Unfallstatistiken, die Konkurrenz, die Spitäler und die (Helikopter-)Technologie in den nächsten Jahren entwickeln werden. Wir haben bereits früher darüber gesprochen, dass es nicht der Zeithorizont ist, der ein Thema strategisch und das andere operativ macht, sondern die Frage, ob es um die heutigen oder um die zukünftigen Erfolgspotenziale des Unternehmens geht. So ist die Planung der Umsatzentwicklung mit heutigen Produkten zwar vielleicht langfristig, aber deswegen noch nicht strategisch. Für diese Planung ist System 3 zuständig und nicht System 4. Der Zeithorizont von System 4 hingegen ergibt sich aus der Frage, wie lange es dauert, bis man einen strategischen Fehler wieder korrigieren kann: Wenn wir auf die falsche Technologie setzen, wie lange dauert es dann, bis wir das korrigiert haben? Falls unser nächstes Produkt ein Flop wird, wie lange dauert es, bis wir das übernächste Modell in den Markt gebracht haben? Bereits in einem mittelgroßen Unternehmen tragen viele Akteure zum System 4 bei. Jeder Fachbereich hat auch hier seine eigenen System 4-Aufgaben. Das Marketing erhebt beispielsweise Marktinformationen, befragt Kunden und beobachtet den Wettbewerb. Die Forschung und Entwicklung macht Technologiestudien und tüftelt an neuen Produkten oder Services, und der Personalbereich sucht draußen nach neuen Führungskräften. Jeder Fachbereich macht zudem seine eigene strategische Planung als Beitrag an die strategische Gesamtplanung. Diese Funktionalstrategien werden dann im System 4 durch Projekte, Workshops oder Sitzungen zusammengeführt, denn wenn die Gesamtplanung Wachstum vorsieht, muss der Personalchef für zusätzliche Führungskräfte, der Finanzchef für genügend Liquidität, der IT-Chef für die Erweiterung der Infrastruktur und der Produktionschef für den Bau eines neuen Werkes oder einer neuen Fertigungsstraße sorgen. Und wenn der Produktionschef die Steuerung seiner Werke digitalisieren will, muss das auch der IT-Chef wissen und in seine Strategie einbauen. Die Integration aller strategischen Pläne in ein logisches Ganzes sollte wiederum von jemandem verantwortet werden. Neben dem Operations Directorate, dem Coordination Directorate und dem Auditing Directorate braucht unser Senior-Management also auch ein „Development Directorate“, das sich um die Integration und die Wirksamkeit dieser Pläne kümmert. Ein solches Development Directorate kümmert sich nicht nur um die Entwicklung von

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neuen Produkten und Dienstleistungen, sondern um die Entwicklung des Unternehmens als Ganzes mit Berücksichtigung aller Querverbindungen zu Themen und Fachgebieten. Es ist unter anderem auch für die Gestaltung der dritten Dimension des Organisierens verantwortlich. In Abb. 14.6 erkennen wir neben den Kommunikationskanälen, die das Unternehmen mit seiner bekannten und unbekannten Umwelt verbinden, einen vertikalen Kanal, der das System 4 mit dem System 3 verbindet. Über diesen Kanal wird die strategische Planung zum Rahmen für die operative Planung. In der Praxis finden wir hier oftmals eine Baustelle im Steuerungssystem, weil wir zwar einerseits über strategische und andererseits auch über operative Pläne verfügen, diese aber fast nichts miteinander zu tun haben. Das darf nicht sein, weil die operative Planung die Zwischenschritte zum Erreichen der strategischen Ziele enthalten muss. Das System 3 soll schließlich die Strategie umsetzen. Es berichtet über diesen Kanal deshalb regelmäßig den entsprechenden Fortschritt ins System 4. Wie bei jedem Kommunikationskanal fließt die Information also auch hier in beide Richtungen. Das System 4 soll aufklären und strategisch steuern. Es soll zukünftige Erfolgspotenziale für das Unternehmen aufbauen, denn wenn man nicht nur Geschäfte machen, sondern auf Dauer im Geschäft bleiben will, muss man sich permanent erneuern. Mit neuen Demografien, neuen Bedürfnissen, neuen Technologien oder neuen Geschäftsmodellen entstehen neue Geschäfte, die die alten Geschäfte verdrängen. Es nützt uns deshalb irgendwann nichts mehr, operativ gut zu sein, wenn das bestehende Geschäft von neuen und besseren Lösungen verdrängt wird. Die letzten Anbieter von Straßenverkehrskarten und Schreibmaschinen hatten einen komfortablen Marktanteil, aber dann sind die Navigationsgeräte und die Computer auf den Markt gekommen. Und diegrösste Videothek in der Stadt ist vermutlich hervorragend gelaufen, bevor die Leute angefangen haben, ihre Filme zu streamen. Solche Substitutionsgefahren müssen rechtzeitig erkannt werden.

Abb. 14.6  Evolutive Anpassung durch die Balance von System 4 und System 3

14.4  S4: Außenkommunikation, Aufklärung und Erneuerung

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Das Erkennen neuer Lösungen und ihrer Substitutionsverläufe alleine genügt aber noch nicht. Wir benötigen einen Mechanismus im Unternehmen, der für eine Art evolutiver Anpassung sorgt, und wir müssen diese Fähigkeit zur Anpassung organisatorisch in unserem Steuerungssystem verankern. Dieser Adaptionsmechanismus ist in unserem Diagramm in Abb. 14.6 in Form eines Kreislaufs mit zwei dicken Pfeilen links und rechts vom System 3 und 4 eingezeichnet. Er verbindet das „Outside & Then“ mit dem „Inside & Now“ des Unternehmens. Worin besteht der Mechanismus nun konkret in unserem SIF? Was genau tun wir, um die richtigen Entscheidungen zwischen dem heutigen und dem zukünftigen Geschäft zu treffen? Im Diagnoseschritt II sind wir auf der vertikalen Steuerungsachse dem First Axiom of Management begegnet (Kap. 11). Es sagt uns, dass die vertikale Komplexität des Senior-­ Managements gleich stark sein muss wie die horizontale Komplexität des operativen Geschäftes, das es steuern soll. Nun begegnen wir dem Second Axiom of Management, das ebenfalls auf der vertikalen Steuerungsachse und in Ashbys Gesetz begründet liegt. Es besagt, dass die Systeme 3 und 4 gleich stark sein müssen. cc Second Axiom of Management [4]  The variety disposed by System 3 resulting from the operation of the First Axiom equals the variety disposed by System 4. Im Normalfall sind unsere 4er Systeme weniger stark ausgeprägt als die 3er Systeme. Gerade wenn wir im bestehenden Geschäft sehr erfolgreich sind, neigen wir dazu, arrogant zu werden. Da Arroganz eine mit Stolz verbundene Art von Ignoranz ist, wirkt sie als starker und gefährlicher Varietätsdämpfer. Man neigt dazu, weiterhin das zu tun, was einem in der Vergangenheit Erfolg gebracht hat. Abb. 14.7 zeigt eine doppelte Substitutionszeitkurve (S-Kurve). Auf der unteren Kurve ist die Ausbreitung des heutigen Geschäftes dargestellt, für welches das System 3 zuständig ist. Die obere Kurve zeigt die Ausbreitung des zukünftigen und damit die Substitution des alten Geschäftes. Für sie ist

Abb. 14.7  Anpassungsfähigkeit: Wann steigen wir um?

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14  Die Steuerungsfunktionen prüfen und gestalten (Schritt V)

das System 4 zuständig. Es studiert die Konsequenzen für das eigene Unternehmen, wenn bereits heute erkennbare Trends weiter in die Zukunft gedacht werden. Die Firma Kodak war im Zenit ihres Erfolges Weltmarktführer in der Ausrüstung für analoge Fotografie und auf der unteren Kurve also hervorragend positioniert. Ihr System 4 hat frühzeitig erkannt, dass die Digitaltechnologie alles verändern wird. Kodak war sogar Vorreiter in der Entwicklung dieser nächsten S-Kurve, indem sie die erste Digitalkamera weltweit in den Handel gebracht hatte. Zwanzig Jahre später ging das über hundert Jahre alte Unternehmen dennoch zugrunde. Sein System 4 war zwar vorhanden und hat auch gut gearbeitet, es war aber zu schwach, um vom System 3 wirklich gehört zu werden und sich durchsetzen zu können. Die Geschäftsleitung (vorwiegend Chemiker) wusste um die Digitalisierung, hat sie aber völlig unterschätzt. Am Ende haben Anbieter den Markt übernommen, die aus einem ganz anderen Geschäft kamen, nämlich aus der Telekom-Branche. Kodak hatte das Second Axiom of Management nicht erfüllt. Das rechtzeitige Umsteuern von personellen und finanziellen Ressourcen vom alten auf das neue Geschäft, also von der unteren auf die obere Kurve, ist die wohl schwierigste und zugleich wichtigste Aufgabe des Senior-Managements. Es kann sich ihr nur dann ausreichend widmen, wenn es so organisiert ist, dass das operative Geschäft nicht seine ganze Aufmerksamkeit absorbiert. Diese Fragen sind heikel. Wenn man zu früh umsteuert, hat man noch zu wenig Information, die Unsicherheit ist noch zu groß, und man läuft Gefahr, einen Flop zu landen. Erst wenn Tendenzen zur Durchsetzung einer neuen Lösung am Markt erkennbar werden, reduziert sich die Varietät und die Entscheidungssicherheit nimmt zu. Wenn man aber zu lange wartet, haben andere Anbieter bereits Marktanteile gewonnen; und man muss gute Argumente haben, um einem Konkurrenten Marktanteile wieder abzunehmen. Die Gestaltung dieser eingebauten und hilfreichen Schizophrenie zwischen dem Heute und dem Morgen ist für das Funktionieren des Unternehmens auf Dauer entscheidend. Wenn dieser Mechanismus der Selbsthinterfragung und -erneuerung im Steuerungssystem nicht funktioniert, dauert die Lebensfähigkeit nicht bis zur Zweckerfüllung, sondern nur solange, bis sich die Spielregeln in der Umwelt geändert haben. Wir müssen für unser SIF also gut überlegen, wie bei uns dieser Mechanismus funktioniert. Im Kap. 19 werden wir Methoden kennenlernen, die auch den komplexesten Anforderungen genügen. Erst wenn der System 3–4-Mechanismus instabil wird, und Umsteuerungsentscheide nicht rechtzeitig getroffen werden können, greift subsidiär das System 5 ein, das den Mechanismus auch beaufsichtigt. Aufgaben

a. Woraus besteht die bekannte Gesamtumwelt Ihres SIF? Was sind darin die Komplexitätstreiber? Woraus besteht Ihr aktuelles System 4, das mit dieser Umwelt kommuniziert, und wie stark ist es? Finden Sie die wichtigsten Varietätsverstärker und -dämpfer, damit die Kommunikation mit der bekannten Umwelt funktioniert. b. Woraus besteht die unbekannte Umwelt und wo liegen hier die Komplexitätstreiber? Was steht uns im System 4 zur Verfügung, um sie aufzuspüren und die rele-

14.5  S5: Identität, Normatives und S5-S3/4-Interaktion

c.

d.

e. f.

g.

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vanten Chancen und Gefahren rechtzeitig zu erkennen? Finden Sie die wichtigsten Verstärker und Dämpfer. Welche weiteren erfolgskritischen Aufgaben übernehmen wir ins System 4 aus dem Diagnoseschritt IV (Kap. 13)? Stellen Sie die insgesamt wichtigsten sieben plus/minus zwei System 4-Aufgaben zusammen. Funktioniert der vertikale Kommunikationskanal zwischen System 3 und System 4? Gibt die strategische Planung die Eckwerte für die operative Planung vor, und existiert neben dem operativen auch ein strategisches Controlling? Worin besteht der kreisförmige Kommunikationskanal zur Balance von System 3 und 4? Ist das Second Axiom of Management erfüllt? Wenn nein, was ist zu tun? Machen Sie Notizen zum Handlungsbedarf und erweitern Sie Ihr Diagramm um die Gesamtumwelt und das System 4. Zeichnen Sie es so groß ein, wie Sie es im Verhältnis zum System 3 sehen. Zeichnen Sie starke Kanäle stark und schwache schwach ein. Wer ist für die Bündelung der System 4-Aktivitäten zuständig? Können wir ein „Development Directorate“ erkennen oder etablieren?

14.5 S5: Identität, Normatives und S5-S3/4-Interaktion Während das System 3 die operativen und das System 4 die strategischen Themen steuert, kümmert sich das System 5 um das Normative. Es schafft Identität, indem es klärt, wozu das Ganze da ist, und es eicht das Steuerungssystem, indem es die grundsätzliche Richtung festlegt. Neben der kontinuierlichen Selbst-Hinterfragung braucht ein Unternehmen auch Kontinuität und Stabilität. Diese wird durch das System 5 gegeben. Es fällt selber keine Entscheidungen im System 3 oder 4, aber es gibt ihnen den Rahmen für ihre Tätigkeit vor und beaufsichtigt das Fließgleichgewicht zwischen ihnen. Das System 5 ist also übergeordnet tätig. In unserem Modell finden wir es zuoberst von allen Steuerungselementen. Das könnte implizieren, dass es das wichtigste Steuerungselement sei. In einem gewissen Sinne ist das richtig, weil von ihm eine hohe Steuerungskraft ausgeht: Es steuert was steuert. Andererseits erinnern wir uns daran, dass alle Systeme 2 bis 5 als Dienstleister für das System 1 arbeiten, weil nur dort der Zweck erfüllt wird. Wir können uns das Viable System Model wie in Abb. 5.4 auch dreidimensional vorstellen, mit dem System 5 im Zentrum und dem System 1 und der Umwelt drumherum: Die Steuerungselemente und die Kommunikationskanäle bleiben die gleichen, und die Logik des Modells bleibt erhalten. In der zweidimensionalen Darstellung fällt auf, dass das System 5 über keine direkte Kommunikationslinie in die Umwelt verfügt. Darüber könnte man sich wundern, weil das System 5 doch auch wissen muss, was draußen läuft. Wir vergessen dabei aber, dass wir nicht von einem Organigramm, sondern von einem Steuerungsmodell sprechen. Das System 5 soll nichts in der Umwelt steuern, denn das machen die Systeme 1 und 4. Es soll die Systeme 3 und 4 vorsteuern und beaufsichtigen, und dazu braucht es Kommunikationskanäle in diese Systeme hinein, und nicht in die Umwelt. Die Menschen selbst hingegen,

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14  Die Steuerungsfunktionen prüfen und gestalten (Schritt V)

die im System 5 Entscheidungen treffen, leben in dieser Umwelt und sind Teil derselben. Das kommt im dreidimensionalen Modell besser zum Ausdruck. Eine erste erfolgskritische Aufgabe ist die Erarbeitung und regelmäßige Über­ prüfung der Business Mission. Dort wird festgelegt, wozu das Unternehmen da ist (vgl. Abschn. 5.6). Wir dämpfen damit einerseits Varietät, indem wir festlegen, was wir wollen und was wir nicht wollen. Andererseits wissen wir nicht, was die Zukunft bereithält und müssen uns deshalb die Optionen offenhalten (vgl. kybernetischer Imperativ in Kap. 10). Wie wir im letzten Abschnitt gesehen haben, können heutige Lösungen schnell von neuen Lösungstechniken oder -technologien für das gleiche Kundenproblem verdrängt werden. Wenn wir den Zweck festlegen, gehen wir deshalb nicht von bestehenden Lösungen aus, sondern vom originären Kundenproblem, weil wir sonst die Substitutionsgefahr aus den Augen verlieren. Wir würden zu viel Varietät vernichten, wenn wir unser Blickfeld auf eine heutige Lösung fokussieren. In einer guten Business Mission steht weder etwas von heutigen Lösungen und Technologien, noch von Shareholdern und Renditeerwartungen, weil wir uns genauso wenig auf Geldgrößen beschränken dürfen; weder in der Ergebnismessung, noch in der Festlegung von Verantwortlichkeit, noch in der in Festlegung des Zwecks. Kein Unternehmen ist dazu da, Geld zu verdienen, sondern Geld ist umgekehrt der Gradmesser dafür, wie gut es seinen wirklichen Zweck erfüllt und eine Rahmenbedingung für seine Lebensfähigkeit. Oder wie es Peter Drucker ausgedrückt hat: „The essential thing about profit is there is no such thing. There are only costs ... costs of doing business and costs of staying in business ...“ [5]. Nicht der Shareholder-Value, sondern der Customer-­Value und nicht der Wert des Unternehmens, sondern seine Wettbewerbsfähigkeit müssen im Zentrum des Systems 5 stehen. Wer zufriedene Kunden oder Leistungsempfänger hat, wird auch genügend Rendite verdienen und zufriedene Shareholder haben. Umgekehrt funktioniert das nicht, wie die Wirtschaftsgeschichte in den letzten dreißig Jahren gezeigt hat. Eine gute Business Mission richtet sich auf das Kundenproblem, beschreibt dieses lösungsinvariant und setzt damit den Fixstern des Unternehmens [6]. Die zweite erfolgskritische Aufgabe ist die Unternehmenspolitik, mit der die Grundsatzfragen zur Umwelt, zum Unternehmen und dessen Führung geklärt und seine Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit vorgesteuert wird. Sie gibt die Leitplanken für die Arbeit im System 3 und im System 4 vor, und sie gilt wie die Verfassung eines Staates für alle tieferen Rekursionsebenen. Der kybernetische Weg zur Festlegung von Leitplanken ist nicht das Festlegen möglichst vieler Bestimmungen für möglichst viele Fälle, sondern das Festlegen von Grundsatzaussagen (Policies) mit einem hohen Geltungsbereich und damit hoher Komplexität. Die Varietät des Problems wird so am Anfang hochgehalten und dann werden die Unschärfen mit Hilfe weniger Grundsätze scheibchenweise weggeschnitten, bis Klarheit entsteht. Eine Policy ist also eine Grundsatzaussage, die auf viele Situationen anwendbar ist (varietätsverstärkend) und für alle Rekursionsebenen gleichermaßen gilt (varietätsdämpfend). Im Straßenverkehr ist die Rechtsvorfahrt eine solche Policy, die mit einem einfachen Statement eine enorme regulative Kraft entfaltet. In einer Firma hat ein Kunde von mir in seinem Führungskonzept den Grundsatz verankert, dass auf allen

14.5  S5: Identität, Normatives und S5-S3/4-Interaktion

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Abb. 14.8  System 5: Identität schaffen und Grundsätzliches vorgeben

Rekursionsebenen das Viable System Model für die Gestaltung der Steuerungs- und Kommunikationsstrukturen verwendet wird, woraus ein starker Effekt der Selbstorganisation und Selbststeuerung entstand. Die Festlegung der Policies ist das eine. Damit sie wirksam werden, müssen sie aber auch kommuniziert werden. Wir sehen in Abb. 14.8 dazu einen vertikalen Kanal, der das System 5 mit dem System 4 verbindet, und einen vertikalen Kanal, der es direkt mit dem System 3 verbindet. Die normative Steuerung hat damit eine Verbindung mit der strategischen und der operativen Steuerung, über die es seine Mission und Unternehmenspolitik umsetzt. Zu oft wirken diese Kanäle in der Praxis nicht wie sie sollten. Man hat dann zwar eine Business Mission, oder eine Unternehmenspolitik in Form von Dokumenten und Broschüren, aber keiner kennt sie. Ich habe als noch unerfahrener Consultant selber einmal den Fehler gemacht, dass ich die normativen Leitplanken vor dem Start eines Strategieprojektes nicht abgefragt hatte. Am Ende des Projektes hatte die Geschäftsleitung mit mir zusammen drei Strategievarianten ausgearbeitet, die von den Eigentümern aber alle abgelehnt wurden. Die Strategien hätten Sinn gemacht und sie waren vielversprechend, aber man wollte sie einfach grundsätzlich nicht ... Den Aufwand hätten wir uns sparen können. Wir müssen uns in der Diagnose an dieser Stelle also fragen, wie klar und verständlich die Business Mission und die Unternehmenspolitik definiert sind, und ob sie tatsächlich auch bis in die Kapillaren des Unternehmens wirken. Außerdem erkennen wir in Abb. 14.8 einen zweiten Kanal, der vom System 5 aus links und rechts ins Fließgleichgewicht zwischen System 3 und 4 eingreift. Das System 5 erfüllt über diesen Kanal seine Aufsichtspflicht und stellt sicher, dass dieser Homöostat, der die Zukunft mit dem Heute balanciert, tatsächlich funktioniert. Diese Aufsicht ist die dritte erfolgskritische Aufgabe im System 5. Tatsächlich gehen die meisten großen Geschäftsversagen zurück auf das Versagen dieses Homöostaten, wie etwa die Krise der Schweizer Uhrenindustrie in den 1970er-Jahren, als man den Trend zur Quarztechnologie verpasste, der Kollaps von Rolls Royce, nachdem man zu viel Geld in die Entwicklung von Flugzeugmotoren steckte, das Grounding der Swissair oder das bereits erwähnte Beispiel von Kodak.

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14  Die Steuerungsfunktionen prüfen und gestalten (Schritt V)

Und dann ist das System 5 im ganzen Steuerungssystem auch noch der Schwamm, der den letzten Rest an Komplexität absorbiert, der bisher nicht bereits durch die anderen Steuerungselemente absorbiert wurde. Jede Frage, die jetzt noch offen ist, wird normativ beantwortet und entschieden. Das kommt im Third Axiom of Management zum Ausdruck: cc Third Axiom of Management [4]  The variety disposed by System 5 equals the residual variety generated by the operation of the Second Axiom. Das bedeutet, dass unser System stark genug sein muss, damit es die Balance von System 3 und 4 beaufsichtigen und wenn nötig eine zeitgerechte und endgültige Entscheidung treffen kann. Wir finden in Abb. 14.7 zwischen den beiden S-Kurven des alten und des neuen Geschäftes eine senkrechte Linie eingezeichnet, die für eine solche Entscheidung steht. Weil man in dieser Balance nie genügend Information hat, kann es zu Pattsituationen kommen, wenn eine Frage noch nicht entscheidungsfähig ist, aber trotzdem jetzt entschieden werden muss. In diesem Fall muss das System 5 normativ entscheiden. Das Treffen einer endgültigen Entscheidung am Ende aller Überlegungen und Diskussionen ist eine lebenswichtige Fähigkeit, damit ein Organismus nicht durch offen gebliebene Varietät und Unsicherheit gelähmt wird. Wenn der Eigentümer eines Unternehmens irgendwann auch einmal „Basta“ sagen kann, ist das ein starker Varietätsdämpfer. Manchmal ist das nötig, um dem Unternehmen Richtung und Sicherheit zu geben. Das Unfehlbarkeitsprinzip des Papstes in der Katholischen Kirche oder eine Volksabstimmung in einem demokratischen Staat absorbieren ebenfalls den letzten Rest an Varietät. In vielen Unternehmen sind die 5er Systeme jedoch zu schwach. Ihre Vertreter schaffen es nicht wirklich, das Gleichgewicht zwischen System 3 und 4 zu beaufsichtigen und wenn nötig letztgültige Entscheidungen zu treffen. Sie kennen sich in den Sachfragen zu wenig aus, haben zu wenig Zeit, und falls sie über Durchsetzungskraft verfügen, wird deshalb einmal mehr Ignoranz zum großen Absorber. Wie ist das in unserem SIF? Wie leistungsfähig ist das System 5? Welche Organe, Gremien und Personen sind darin aktiv? Neben Aufsichtsräten, Verwaltungsräten, Gesellschaftern oder Aktionären kann beispielsweise auch ein Beirat, ein Ältestenrat oder eine Mitarbeitervertretung im System 5 mitarbeiten. Wie arbeiten sie zusammen? Gibt es eine Verantwortung für das System 5 als Ganzes im Sinne eines „Identity Directorate“, das diese Einheiten integriert und das entscheiden kann? Und können sie gemeinsam das Third Axiom of Management erfüllen? Aufgaben

a. Überlegen Sie, was Ihr System 5 heute tut und welche Organe, Gremien und Personen dort mitarbeiten. Gewinnen Sie einen Eindruck über die Stärke des Systems 5. b. Sammeln Sie die erfolgskritischen Aufgaben für System 5 in Ihrem SIF aus dem Diagnoseschritt IV. Ergänzen Sie sie mit weiteren erfolgskritischen Aufgaben, die Sie für wichtig erachten, und bestimmen Sie daraus wiederum die sieben plus/minus zwei wichtigsten Aufgaben.

Literatur

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c. Nehmen Sie eine Einschätzung der vertikalen Kommunikationskanäle zwischen System 5, 4 und 3 vor: Was wird über welche Kanäle kommuniziert? Wie gut funktioniert das? d. Wie beaufsichtigt das System 5 das Fließgleichgewicht zwischen System 3 und 4? Merkt es, wenn es außer Balance gerät, und kann es dann agieren? e. Ist das Third Axiom of Management in Summe erfüllt? Ist das System 5 stark genug? Hat es genügend Varietät, um alle bisher nicht geklärten Fragen und offenen Themen endgültig klären und entscheiden zu können? Was wäre zu tun, damit es das kann? f. Können wir eine klare Verantwortlichkeit für eine Form von „Identity Directorate“ erkennen oder verankern? Tipp: Falls Sie es mit einem eher kleinen SIF zu tun haben, und die Senior-­ Management-­Funktionen mehr oder weniger in Personalunion erfüllt werden, sollten Sie sich fragen, wie viel Zeit Sie auf die einzelnen Funktionen verwenden, und wie Sie das steuern. In einem großen Unternehmen kann man ebenfalls eruieren, wie viel Zeit die Führungskräfte insgesamt auf die einzelnen Steuerungsfunktionen 1 bis 5 verwenden. Es kommt normalerweise Erstaunliches dabei heraus.

Literatur 1. Henderson, Bruce D. 1974. Die Erfahrungskurve in der Unternehmensstrategie. Frankfurt/New York: Campus. 2. Gross, Peter. 1994. Die Multioptionsgesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 3. Vgl. Observa/Eco’Diagnostic, Studie 2001c. 4. Beer, Stafford. 1985. Diagnosing the system for organizations. The managerial cybernetics of organization, 118, 130. Chichester/New York/Brisbane/Toronto/Singapore: Wiley. 5. Drucker, Peter F. 1974. Management: Tasks, responsibilities, practices. Oxford: Butterworth-­ Heinemann. 6. Gälweiler, Aloys. 1987. Strategische Unternehmensführung. Frankfurt/New York: Campus.

Die Kommunikationskanäle prüfen und gestalten (Schritt VI)

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Inzwischen haben wir alle Kästchen in unserem Viable System Model definiert. Wenn wir sie nun für einen Augenblick ausblenden, bleiben nur die Linien übrig, die die Steuerungselemente miteinander verbinden. Es sind die Kommunikationskanäle, die sich zu einem einzigen, großen Informationskreislauf zusammenfügen. Sie verbinden das Ganze erst zu einem „Total Integrated Control and Communication System“. Bereits früher haben wir betont, dass die Linien wichtiger sind als die Kästchen, weil es entscheidend ist, wie man die Steuerungselemente miteinander verbindet. Das ist in allen Systemen so. Je nachdem, was man wie verbindet, ergibt sich ein ganz anderes Verhalten, tauchen ganz andere Eigenschaften auf, und es entstehen Dinge, die vorher nicht da waren. Am eindrücklichsten wird diese sogenannte Emergenz in der Musik erfahrbar. Wenn wir die Instrumente im Orchester einzeln nacheinander spielen lassen, entsteht eine andere Musik, als wenn wir sie miteinander verbinden, also gleichzeitig spielen lassen. Welches In­ strument wann mit welchem verbunden wird, bestimmt die Partitur, und das Gefühl der Musiker bestimmt, wie sie aufeinander im System reagieren. Emergent ist in diesem Fall die Schönheit in der Musik, die durch das richtige Zusammenwirken entsteht. Wir erinnern uns auch, dass die Kommunikationslinien im Modell immer als Regelkreise zu denken sind. Die meisten Prozesse im Unternehmen folgen nicht den linearen Wirkungsbeziehungen, wie wir sie so gerne in Form von einfachen Wertschöpfungsketten zeichnen, sondern einer zirkulären Kausalität. Alle Steuerungsprozesse sind Informationskreisläufe und keine linearen Informationsflüsse. Unser Steuerungsmodell besteht aus vielen solchen interaktiven Regelkreisen, die sich einerseits im Kleinen zwischen zwei Steuerungselementen abspielen können (beispielsweise zwischen System 3 und dem Management einer operativen Einheit), oder andererseits mehrere Systeme in einem großen Kreislauf verbinden, wie am Beispiel einer Produktionssteuerung in Abschn. 14.2 gezeigt wurde.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Pfiffner, Die dritte Dimension des Organisierens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29247-8_15

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15  Die Kommunikationskanäle prüfen und gestalten (Schritt VI)

Nun gibt es aber viel mehr solche Regelkreisläufe im Unternehmen, als wir diagnostizieren könnten. Wir müssen auch nicht alle diagnostizieren. Es genügt, wenn wir uns auf die Essenziellen fokussieren und daraus auch nur die Problematischen genauer untersuchen. Dazu haben wir Hinweise aus dem Diagnoseschritt V erhalten, wo wir in jedem der Systeme 2 bis 5 auch deren Kommunikationskanäle einem kurzen Assessment unterzogen haben. Wo wir den Verdacht hatten, dass ein Kanal nicht richtig funktioniert, isolieren wir ihn im Folgenden und prüfen seine Kommunikationsleistung.

15.1 Kommunikationsleistung In Diagnoseschritt III haben wir uns gefragt, ob die Verstärker und Dämpfer zwischen den Varietätsblöcken Umwelt, Operation und Management zusammen stark genug sind, um eine angestrebte Balance herzustellen. Aus den wichtigsten Verstärkern und Dämpfern haben wir erfolgskritische Aufgaben abgeleitet, diese priorisiert, ergänzt und auf die Steuerungselemente verteilt. In Schritt VI fragen wir uns nun für solche Aufgaben im Einzelnen, über welchen Kommunikationskanal sie ausgeübt werden. Ob ein Kanal seinen Job tut, hängt von seiner Kommunikationsleistung ab, und diese besteht aus drei Elementen: Der Kanalkapazität, also der Frage, wie viel Information dadurch transportiert werden kann, der Verständlichkeit und der Zeitgerechtigkeit der Inhalte. Unser Maß für die Beurteilung der Leistungsfähigkeit ist dabei wieder die Varietät und unser Maßstab ist Ashbys Gesetz: „Nur Varietät kann Varietät absorbieren“. Kanalkapazität Seit den bahnbrechenden Arbeiten von Shannon in der Informationstheorie hat man sich an den Gedanken gewöhnt, dass Kommunikationskanäle nur eine bestimmte Menge an Information pro Zeiteinheit transportieren können, und dass diese in Bits pro Sekunde gemessen werden kann. Sein zehntes Theorem besagt, dass die Kanalkapazität die erforderliche Bit-Handling-Fähigkeit übersteigen muss, damit Mehrdeutigkeiten aufgrund von „Noise“ im Kanal geklärt werden können. Was bedeutet das? Verschiedene Kanäle haben verschiedene Kapazitäten. Wenn wir den Kunden über die Produkteigenschaften informieren wollen, können wir das über einen Text, eine Broschüre, ein Video, ein persönliches Gespräch oder über eine Demonstration tun. Ein Text hat dabei klar weniger Kapazität, Information zu transportieren, als ein persönliches Gespräch oder eine Demonstration. Die Frage ist also: Wie stark muss dieser Kanal sein, damit er die Nachricht wirklich übermitteln kann? Verfügt er über die erforderliche Varietät? cc The Second Principle of Organization [1]  The four directional channels carrying information between the management unit, the operation, and the environment must each have a higher capacity to transmit a given amount of information relevant to variety selection in a given time than the originating subsystem has to generate it in that time.

15.1 Kommunikationsleistung

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Manche Aufgaben lassen sich über eine Textmessage oder eine E-Mail erledigen, für andere braucht es ein Telefonat oder eine Sitzung. Und für noch komplexere Themen braucht es vielleicht eine Klausur, einen Workshop oder ein IT-System. Für die Festlegung eines Produktionsziels für den laufenden Monat im Ressource Bargain and Accountability-­ Kanal (System 3 und 1) genügt eine Sitzung. Aber für die Überführung des Ziels in einen Produktionsplan (System 3 und 2) braucht es ein komplexes Produktionssteuerungssystem, das für jede Schicht genau festlegt, was welche Maschine zu tun hat. In jedem Fall muss der Kanal über etwas mehr Varietät verfügen, als das was zu kommunizieren ist, damit keine Unklarheiten in Form von Lücken, Missverständnissen, Fehlern oder Mehrdeutigkeiten entstehen. Wir sollten also mit der Kanalkapazität eher klotzen als kleckern und im Zweifelsfall eher Kanäle mit zu großer als zu kleiner Kapazität wählen. In einem Reorganisationsprojekt ging es um die Frage, wie die neue Organisationsstruktur den tausenden in der Welt verteilten Mitarbeitern kommuniziert werden soll. Viele Kommunikationskanäle wie E-Mail, Newsletter oder PowerPoint eigenen sich a priori nicht für die Komplexität und Bedeutung einer solchen Botschaft. Sie verfügen über zu wenig Varietät und sind deshalb als Kanal zu schwach. Man entschied sich schließlich unter anderem für die professionelle Produktion eines halbstündigen Videos mit Animationen und Grafiken, in dem die Geschäftsleitung persönlich alles ausführlich erklärte und zeigte, und das weltweit zum selben Zeitpunkt ausgestrahlt wurde. Das lokale Management beantwortete danach die Fragen der Mitarbeiter. Verständlichkeit Kommunikationsinhalte müssen vom Sender codiert und vom Empfänger wieder decodiert werden (Abb. 15.1). Je nach Kanal sind das verschiedene Vorgänge. Wenn der Kanal eine Broschüre ist, um den Kunden über das Produkt zu informieren, besteht der Codierungsvorgang darin, dass man das, was man sagen will, auch in die Broschüre hineinbringt. Kann man sich klar ausdrücken und wird am Ende das ausgesagt, was beabsichtigt war? Auf der Decodierungsseite geht es um die Frage, ob der Empfänger die Inhalte auch verstehen kann. Wenn sie in Deutsch geschrieben sind, werden sie in China nicht verstanden werden. Und wenn sie in „Fachchinesisch“ mit Fremdworten, Abkürzungen oder Fachausdrücken geschrieben sind, wird sie vielleicht auch der deutsche Kunde nicht verstehen. Diese Überführung von Inhalten in eine transportierbare Form und die Rückführung in eine Information für den Empfänger nennen sich „Transduction“ (lateinisch: transducere – hinübergehen, überführen). Transduction ist auch, aber nicht nur „Translation“. Im Wesentlichen geht es darum, dass Inhalte in Form von Fakten oder Daten eine semantische Bedeutung erhalten, die etwas bewirkt. Wir erinnern uns: „Information is, what changes us“ (vgl. Kap. 10). Die Transduction muss dazu, wie auch der Kanal selbst, über die erforderliche Varietät verfügen. Wenn Kommunikation funktionieren soll, muss nicht nur der Kanal stark genug sein, um die Nachricht übermitteln zu können, sondern die Nachricht muss auch auf beiden Seiten verständlich ausgedrückt oder gelesen, also umgewandelt werden können.

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15  Die Kommunikationskanäle prüfen und gestalten (Schritt VI)

Abb. 15.1  Die Kommunikationsleistung prüfen

cc The Third Principle of Organization [1]  Wherever the information carried on a channel capable of distinguishing a given variety crosses a boundary, it undergoes transduction; the variety of the transducer must be at least equivalent to the variety of the channel. Wir fragen uns also für die Kommunikationslinien, die wir unter der Lupe haben, über welche Kanäle die Inhalte erfolgskritischer Aufgaben kommuniziert werden, ob diese genügend Kapazität haben und ob die Transducers auf der Seite der Sender und der Empfänger funktionieren. Zu oft wird in der Kommunikation hier grob gefehlt. Es werden ­Datenfriedhöfe produziert, die den Empfänger nicht wirklich informieren. Es werden Berichte geschrieben, die vieles beinhalten, aber nicht das, was von Interesse ist. Es wird geredet und geschrieben, ohne vorher nachzudenken, oder es werden gedankenlos E-Mails aufgesetzt, die wegen ihrer schlechten Transduction zu Rückfragen oder Irrtümern führen. Wir müssen uns also fragen, ob es uns normalerweise gelingt, die wichtigen Inhalte in verdaubaren Portionen zu transportieren, und ob diese am anderen Ende verstanden werden und nützlich sind. Andernfalls werden sie schlichtweg ignoriert. Ein Seminarteilnehmer erzählte mir, dass er irgendwann angefangen habe, in seine wöchentlichen Reports irgendwo den Satz „Wer das liest, erhält von mir eine erstklassige Flasche Rotwein geschenkt“ einzufügen. Jede Woche fügte er einen zusätzlichen solchen Satz hinzu. Am Ende habe er die Flasche selber getrunken. Er sah dies als einen Beweis dafür an, dass das Senior-Management seine Zeit mit unnützen Reports verschwendete. Dass das Problem aber nicht nur bei den Empfängern, sondern dass es

15.1 Kommunikationsleistung

235

auch am falsch gewählten Kommunikationskanal oder am schlechten Design des Reports liegen könnte, kam ihm nicht in den Sinn. Viele Kommunikationslinien funktionieren schlecht, nicht weil ihre Botschaften im Grunde genommen unwichtig sind und deshalb auch vernachlässigt oder ignoriert werden könnten, sondern weil die Kommunikation einfach unüberlegt und schlecht gestaltet ist. Bei erfolgskritischen Aufgaben mit zweifelhafter Kommunikationswirksamkeit haben wir wichtigen Handlungsbedarf gefunden. Zeitgerechtigkeit Drittens prüfen wir die Zeitgerechtigkeit der Kommunikation. Alle Kommunikationslinien sollten eigentlich in Echtzeit arbeiten, aber sie tun es normalerweise nicht. Wir sind üblicherweise mit Verzögerungen konfrontiert, die das Steuern manchmal schwierig machen. Selbst in den am höchsten entwickelten Ländern unserer Welt kommen Wirtschaftsdaten immer noch sehr spät an, und so werden ökonomische Entscheidungen phasenverschoben zur ökonomischen Realität getroffen – und damit die vielleicht richtige Entscheidung zum falschen Zeitpunkt. So können sich Systeme zerstörerisch hochschaukeln. Wir müssen unser Steuerungssystem so gestalten, dass es synchron zu den Ereignissen arbeitet, wie sie in der Umwelt und in der Operation tatsächlich entstehen. Jede operative Einheit hat ihre eigene Dynamik und deshalb genießt ihr Management auch relative Autonomie. Die generelle Dynamik im System in Focus ergibt sich indessen aus der Taktung der vertikalen Achse. Über sie kann ein Unternehmen beschleunigt oder abgebremst werden. Wenn wir Kommunikationskanäle beurteilen, müssen wir also auch auf ihre Arbeitsgeschwindigkeit achten: Erfolgt sie in Echtzeit oder führen Verzögerungen zu Problemen? Wie schnell tickt unsere Organisation? cc The Fourth Principle of Organization [1]  The operation of the first three principles must be cyclically maintained through time without hiatus or lags. Wegen Mängeln im Steuerungssystem, manchmal aber auch wegen zu starker Orientierung an gesetzlich fixierten Zeithorizonten, sind die Time-Lags auf der vertikalen Steuerungsachse des Senior-Managements oftmals zu groß. Die Zeitachse ist einer der wichtigsten Parameter im Management, und sie ist in vielen Managementfragen vital. Ob etwas jetzt oder erst in sechs Monaten geschieht, kann einen großen Unterschied ausmachen und über Erfolg und Misserfolg entscheiden. Wenn das System 4 eine Akquisitionschance entdeckt, aber das System 3 nicht rechtzeitig darauf reagieren kann, verpasst man sie. Und ob das Kostensenkungsprojekt jetzt oder erst in sechs Monaten Wirkung zeigt, kann ein Unternehmen retten oder eben nicht. Neurologisch ist das nachvollziehbar: Wenn wir entscheiden, dass wir jetzt losrennen müssen, damit wir den Bus nicht verpassen, können wir auch nicht zuerst einmal den Blutdruck messen, den Adrenalinspiegel überprüfen und Herz und Lungen konsultieren. Es nützt dem Management nichts, wenn das Steuerungssystem Monate braucht, um Informationen in Form von Studien, Statistiken und Diskussionsrunden zu produzieren, wenn es jetzt entscheiden muss. Das Steuerungssys-

236

15  Die Kommunikationskanäle prüfen und gestalten (Schritt VI)

tem muss sich der Realität des Managements anpassen und nicht umgekehrt. Und mit den heutigen technologischen Möglichkeiten im Zuge der Digitalisierung ist Echtzeit-­ Steuerung auch weitgehend möglich. Trotzdem planen die meisten Unternehmen nach wie vor mit fixen Zeithorizonten. In einem High-Tech-Konzern hatte die Führungscrew im Laufe ihrer Diagnose des Steuerungssystems die Hypothese aufgestellt, dass der vertikale Kanal zwischen System 4 und 3 nicht richtig funktioniert. Bei näherem Hinschauen zeigte sich, dass weder der Kommunikationskanal noch die Transduction das Problem war, sondern die Zeitgerechtigkeit. Die operativen Einheiten mussten aufgrund von Konzernvorgaben ihre Budgetplanungen für das nächste Jahr jeweils im September einreichen. Zudem waren auch jedes Jahr strategische Überlegungen anzustellen und Strategieformulare auszufüllen. Abgabetermin dafür war jeweils Ende November, also zwei Monate nach dem Abgabetermin für die operativen Planung. Damit stellte man faktisch sicher, dass niemals ein strategischer Gedanke in die operative Planung einfloss, und deshalb auch niemals eine Strategie umgesetzt wurde. Der vertikale Kanal zwischen System 3 und 4 arbeitete inhaltlich tadellos, aber wegen seiner Asynchronität absolut nutzlos. Man hatte mit der strategischen Planung jahrelang nur Papier produziert. Andere Unternehmen setzen alle fünf Jahre eine große Strategieübung auf, mit der in einem zähflüssigen Umsetzungsprojekt der Tanker in eine andere Richtung gebracht werden soll. Bis die Resultate sichtbar sind, hat sich die Umwelt jedoch schon wieder soweit verändert, dass es inzwischen die falschen Resultate sind. Diese fixen Planungszyklen sind asynchron mit den tatsächlichen Veränderungen in der Umwelt und in der Operation. Steuerung ist ein kontinuierlicher und adaptiver Prozess, der erfordert, dass man dann reagiert, wenn etwas Relevantes passiert. Die Reaktion muss nicht so schnell wie möglich sein, aber sie darf nicht zu Verzögerungen führen. Dazu braucht das Steuerungssystem Echtzeit-Information. Aufgabe

Schauen Sie zurück auf Ihre Resultate im Diagnoseschritt IV. Sie haben alle Kommunikationskanäle im SIF einem kurzen Assessment unterzogen und sollten ein Gefühl dafür bekommen haben, welche davon problematisch sind und genauer untersucht werden müssen. Diagnostizieren Sie nur diese Kanäle. Schreiben Sie dazu die erfolgskritischen Aufgaben auf, und überlegen Sie für jede Aufgabe, was zu tun ist, falls … a. der verwendete Kommunikationskanal nicht über ausreichend Kapazität verfügt, damit er Nachrichten eindeutig übermitteln kann. b. die Transduction an einem oder an beiden Enden nicht funktioniert, und die Nachrichten deshalb keine Wirkung und keinen Nutzen erzielen. c. der Kanal nicht synchron zu den Ereignissen arbeitet und schädliche Verzögerungen produziert. Tipp: Nutzen Sie Abb. 15.2 für Ihre Diagnose der Kommunikationskanäle.

15.2 Kommunikationssicherheit

237

Beobachtungen Varietäts Check

SIF: ........................... erfolgskritische Aufgaben / Verantwortung

ZWEI-EINS

Koordination/Schwankungsdämpfung/Unterstützung/Policies • … • …

DREI-EINS

«Corporate Requirements and Constraints / Intervention» • … • …

Kanalkapazität

Verständlichkeit

Synchronität

Kommunikationskanäle

«Resource Bargain and Accountability» • … • …

DREI-ZWEI

Informationsbedarf/Koordinationsanweisungen • … • …

DREI*-EINS

Real Life Information/Audits • … • …

VIER-UMWELT

Bekannte Umwelt (Kommunikation/PR, Netzwerke, Stakeholdermgmt.) • … • … Unbekannte Umwelt (Chancen/Gefahren, F&E, Intelligence, Recruiting) • … • …

VIER-DREI

Strategische Leitplanken • … • …

¾ HOMÖOSTAT

Balance (Fliessgleichgewicht) HEUTE versus ZUKUNFT • … • …

FÜNF-VIER/DREI

Normative Leitplanken für System 4 (Outside & Then) • … • … Normative Leitplanken für System 3 (Inside & Now) • … • …

FÜNF- ¾ HOMÖOSTAT

Aufsicht über den ¾ Homöostaten (HEUTE versus ZUKUNFT) • … • …

ALGEDONIC SIGNAL

Abb. 15.2  Übersicht Kommunikationskanäle

15.2 Kommunikationssicherheit Da wir in diesem Buch nicht über Kommunikation im Allgemeinen, sondern über Steuerung sprechen, ist die Sicherheit der Kommunikation ein wichtiger Punkt. Wir meinen damit nicht den Schutz vor Abhörung, Hacking oder den Missbrauch von Informationen, denn das sind Themen, die über das normale und legale Funktionieren eines Unternehmens hinausgehen. Wir meinen auch nicht die normale, alltägliche Kommunikation über dieses und jenes, sondern das Gelingen von Kommunikation da, wo sie gelingen muss, weil es sich um erfolgskritische Aufgaben handelt. Wer in einem Unternehmen gearbeitet hat, weiß, wie oft die Kommunikation auch im Normalbetrieb mäßig, schlecht oder gar nicht funktioniert, und welche Mühen und Kosten daraus entstehen. Die häufigste kommunikative Störung ist das Missverständnis, denn eine Information besteht nie aus einer Botschaft, sondern immer aus einer Menge an möglichen Botschaften. Ein Freund erzählte mir, dass er in seiner Hotelfachschule am Genfersee einem Lehrling die monatlichen Bestellungen diktiert hatte. Unter anderem

238

15  Die Kommunikationskanäle prüfen und gestalten (Schritt VI)

sollte „Hüslipapier“ bestellt werden, also karierte Schreibblöcke für die Studenten. Das Schweizerdeutsche Wort hat aber auch eine zweite Bedeutung, nämlich Toilettenpapier. Zwei Wochen später sei ein Sattelschlepper bis zum Rand gefüllt mit Toilettenpapier vor dem Hotel gestanden. Das ist nun ein einigermaßen charmantes Beispiel. Andere Beispiele führen zu schwerwiegenderen, manchmal tragischen Situationen. Wenn es sogar um Leben und Tod geht, bleibt kein Platz mehr für fehlerhafte Kommunikation. Unternehmen, die einfach funktionieren müssen, etablieren das Prinzip „Zero Defects Communication“, genauso wie andere Unternehmen das „Zero Defects“-Prinzip im Qualitätsmanagement einführen. Sie machen die Dinge beim ersten Mal richtig, und sie verankern die Verantwortung dafür beim Sender. Eine Nachricht kann falsch ausgedrückt, falsch verstanden aber auch falsch übersetzt, verzerrt, verkürzt oder gestoppt werden, zu spät kommen, oder einfach gar nicht abgesendet worden sein. Der Interpretationsspielraum ist groß und die Varietät auf der Seite des Empfängers riesig. Seit den Arbeiten von Claude Shannon und Warren Weaver wissen wir, dass Kommunikation beim Empfänger entsteht [2]. Nicht das, was ich gesagt habe ist Kommunikation, sondern das, was der Andere verstanden hat. Als Konsequenz da­ raus ist der Sender dafür verantwortlich, sich beim Empfänger verständlich zu machen. Nur er kennt die Bedeutung von dem, was er sagen will, und deshalb kann nur er beurteilen, ob die Kommunikation gelungen ist. Er bleibt deshalb für die Kommunikation verantwortlich, bis er sich davon überzeugt hat. cc

Kommunikation entsteht beim Empfänger  Der Sender ist für das Gelingen von

Kommunikation verantwortlich: Er wählt den richtigen Kanal, sorgt für Zeitgerechtigkeit, Verständlichkeit und Nützlichkeit und schließt den Kommunikationskreislauf, um zu prüfen, ob er richtig verstanden wurde. Der Sender ist als Erstes dafür verantwortlich, den richtigen Kommunikationskanal zu wählen. Ist das ein Thema, das sich mit einer E-Mail kommunizieren lässt, oder braucht es ein Gespräch dazu? Reicht das Telefon, oder braucht es eine Sitzung? Müssen weitere Personen involviert oder informiert werden? Kann über diesen Kanal zeitgerecht kommuniziert werden? Zweitens ist er für die Verständlichkeit, also für die Transduction verantwortlich. Er muss die Nachricht empfängergerecht gestalten. Ist der Empfänger ein Ingenieur, versteht er vermutlich leichter über Grafiken. Ist es ein Jurist, kann er mit Bildern eher nichts anfangen, sondern braucht Text. Und wenn es ein Mathematiker ist, braucht er Zahlen und Prozentangaben, damit er versteht. Es kommt auch inhaltlich darauf an, in der Sprache des Empfängers zu sprechen: Wie muss etwas ausgedrückt werden, und welchen Kontext braucht es, damit er verstehen kann? Die Gestaltung der Nachricht selbst muss ergonomisch erfolgen. Eine E-Mail beispielsweise muss dem Empfänger schon im Betreff sagen, ob eine „Aktion: …“ erforderlich ist, oder ob es sich nur um eine „Information: …“ handelt. Sie darf nur ein Thema umfassen, damit er sie geordnet bearbeiten und speichern kann, und sie muss klar geglie-

15.2 Kommunikationssicherheit

239

dert und eindeutig nummeriert sein, damit sich seine Antwort auf Teile daraus beziehen kann. Und am Ende muss der Empfänger wissen, was bis wann von ihm erwartet wird. Schon mit diesen ersten Punkten gehen wir oftmals leichtfertig um, wenn wir uns selbst an der Nase nehmen. Als es vor hundert Jahren noch Monate dauerte, bis man auf einen Brief wieder eine Antwort erhalten hatte, konnte man sich Missverständnisse schlichtweg nicht leisten. Man musste sich zwangsläufig viele Gedanken zur Ergonomie und Verständlichkeit eines Briefes machen. Vor diesem Hintergrund ist das Zitat zu verstehen, das man Blaise Pascal, Voltaire, Goethe, Churchill oder auch Mark Twain zuschreibt: „Wenn ich mehr Zeit gehabt hätte, hätte ich Ihnen einen kürzeren Brief geschrieben“. Diese Kommunikationskompetenz muss zurückgewonnen werden. Sie ist noch viel wichtiger geworden, seit sich Botschaften so leicht, so schnell und so massiv multiplizieren lassen. Heute kommunizieren wir oftmals zu leichtfertig mit den falschen Mitteln, die über zu wenig Varietät für die Botschaft verfügen, und wir tun es unüberlegt. Drittens muss sich der Sender davon überzeugen, dass die Kommunikation gelungen ist. Dazu muss er die Kommunikation in einem Kreislauf wieder schließen. In der Technik wenden wir diese kybernetischen Feedback-Loops reflexartig an, in unserer zwischenmenschlichen Kommunikation aber zu selten. Zu oft kommunizieren wir linear im Sinne von „fire and forget“: Wir sagen oder schreiben einfach etwas und vergessen es danach. Da Kommunikation beim Empfänger entsteht, haben wir auf diese Art aber noch nicht kommuniziert. Erst wenn wir die Antwort unseres Gegenübers gehört haben, wissen wir, was wir gesagt haben. Erst durch Feedback wird wirksam kommuniziert. In Operationen, die funktionieren müssen, gelten deshalb zwei Prinzipien, um die Kreisläufe zu schließen: Die Auftragsquittung und die Vollzugsmeldung. Wir kennen das vom Militär, der Feuerwehr, dem Spital oder von der Luftfahrt. Sie stellen sicher, dass Missverständnisse entdeckt und sofort korrigiert werden können. Das Prinzip der Auftragsquittung lässt sich im eigenen SIF beispielsweise umsetzen, indem man die Person, der man einen mündlichen Auftrag gegeben hat, selber diesen Auftrag schriftlich festhalten lässt. Erstens spart man sich damit Zeit, und zweitens erkennt man an der Zusammenfassung des Empfängers, was dieser verstanden hat. Auch die Vollzugsmeldung ist wichtig. Es sollte für jeden Mitarbeiter selbstverständlich sein, die Erledigung eines Auftrages von sich aus sofort in einer kurzen Mitteilung zurückzumelden. Erst dann ist der zweite Kreislauf geschlossen und der Auftraggeber weiß, dass er die Sache aus seinem Kopf löschen und ad acta legen kann. Solange er hingegen keine Rückmeldung hat, bleibt er in der Verantwortung, denn keine Nachricht zu erhalten kann vieles bedeuten: Der Auftrag ist erledigt, oder er ist zwar noch nicht erledigt, aber gut unterwegs, oder er steckt in Problemen, oder der Empfänger ist inzwischen gestorben. Eine automatische Vollzugsmeldung killt diese Varietät, die sonst beim Auftraggeber Stress verursachen kann. Wenn sich die Umwelt maßgeblich verändert, muss sich auch die Kommunikation im Unternehmen anpassen: Welche Kanäle genutzt werden, wie sie getaktet sind, welche Regeln für die Ergonomie und welche Sicherheitsstufe für das Gelingen von Kommunikation gelten, hängt auch mit dem aktuellen Zustand des Unternehmens zusammen. Wir erinnern uns an Ashbys Gesetz: Wenn die Umwelt dynamischer wird, muss auch das Steuerungssystem

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15  Die Kommunikationskanäle prüfen und gestalten (Schritt VI)

dynamischer werden. Es lohnt sich deshalb darüber nachzudenken, wie lange es dauert, bis das Unternehmen von einem Operationsmodus in einen anderen gebracht werden kann. In unseren Unternehmen genügen normalerweise drei verschiedene Operationszustände: Normal, erhöhte Aktivität und Krise. Im Normalzustand dauerhafter Aktivität wird wie gewohnt kommuniziert und gesteuert. Im Operationsmodus erhöhter Aktivität muss die Erreichbarkeit von gewissen Personen verkürzt werden, und die Taktung wird schneller. E-Mails müssen jetzt beispielsweise innert 24 Stunden beantwortet werden und die einen oder anderen Kommunikationskanäle müssen ausgewechselt werden, damit die Nachrichtendichte zunehmen kann. Im Krisenmodus gelten nochmals verschärfte Regeln: Die ganze Mannschaft ist an Deck, jedermann ist unmittelbar erreichbar, die Kommunikationswege und Rhythmen sind so kurz wie möglich, und die vertikale Steuerungsachse schränkt die Autonomie der operativen Einheiten über den Corporate Intervention-Kanal, zusammen mit dem System 3∗-Kanal ein, damit das Ganze schnell und kompakt reagieren kann. Das Sicherstellen der Kommunikation über geschlossene Kreisläufe wird zur Pflicht. In der Praxis können weitere Operationsmodi von Steuerungssystemen beobachtet werden, wie beispielsweise „Wachstum“ oder „Rückzug“ oder gar „Moribund“, also sterbend und auslaufend, beispielsweise wenn ein Markt verschwindet und eine technische Lösung veraltet ist. Je nach Modus erhalten einzelne der Steuerungselemente 2 bis 5 ein anderes Gewicht und einzelne Kommunikationskanäle werden stärker oder schwächer. Das Diagnostizieren und Gestalten der dritten Dimension des Organisierens umfasst also nicht nur das Funktionieren im Status quo, sondern bereitet das Unternehmen darauf vor, notfalls sofort in einen höheren Modus des Funktionierens wechseln zu können. Aufgaben

a. Die Prinzipien wirksamer und sicherer Kommunikation gelten grundsätzlich für jede Art von Kommunikation und auf jeder Rekursionsebene im Unternehmen. Haben wir sie in unserem SIF als Teil unseres System 2 etabliert? b. Für jede erfolgskritische Aufgabe kann gesagt werden, über welchen Kanal und in welchem Rhythmus kommuniziert wird, wer dafür verantwortlich ist, sich um die Verständlichkeit kümmert und am Schluss den Kreislauf schließt. Bei welchen Aufgaben müssen wir diese Verantwortung noch klären? Nutzen Sie Abb. 15.2 für eine bessere Übersicht. c. In welchem Operationsmodus arbeitet unser SIF aktuell? Sind wir darauf vorbereitet, es notfalls schnell in einen höheren Modus zu bringen?

15.3 Verknüpfung in mehreren Ebenen Neben der Kommunikationsleistung und der Kommunikationssicherheit ist die Verbindung von verschiedenen Ebenen wichtig. Wir schauen zuerst auf die Verbindung der verschiedenen Fachbereiche in unserem System in Focus und auf die Integration

15.3 Verknüpfung in mehreren Ebenen

241

ihrer Steuerungselemente in die Gesamtsteuerung im Senior-Management. Jeder Fachbereich steuert sich im SIF über die gleichen Systeme 2 bis 5. Das Marketing kümmert sich im System 5 beispielsweise um die Markenpolitik, im System 4 steuert es den Marketing-­Mix und betreibt Marktforschung, im System 3 legt es Marketing-Zielwerte fest und steuert Marketing-Projekte, im System 2 koordiniert es die Marketingaktivitäten der operativen Einheiten und unterstützt diese mit Material und Schulungen und im System 3∗ prüft es die Einhaltung der Corporate Identity. Das Steuerungssystem des Marketings ist dennoch ein anderes als das des Personalbereiches oder der IT. Es umfasst andere Aufgaben, nutzt andere Kanäle und ist anders getaktet. Wie wir in Kap. 14 bereits diskutiert haben, müssen sie in jedem der Systeme 2 bis 5 in ein logisches Ganzes integriert werden, und für diese Verschränkung sind die vorgeschlagenen „Directorates“ in jedem System verantwortlich (Abb. 15.3). Danach verlassen wir im Diagnoseschritt VI erstmals die Rekursionsebene unseres SIF und verknüpfen die höhere und tiefere Rekursionsebene mit ihm. Das bedeutet, dass unser System 3 mit demjenigen System 3 reden muss, von dem es selber das Management einer operativen Einheit ist (R + 1), und mit den Systemen 3 in der Managementbox seiner eigenen operativen Einheiten (R − 1). Abb. 15.4 zeigt das Viable System Model auf drei erkennbaren Rekursionsebenen, und jede davon verfügt über ihr eigenes System 3. In der Kommunikation zwischen ihnen geht es um die Frage, wie sich die operativen Pläne jeder Ebene zu einem sinnvollen Ganzen auf der nächsthöheren Ebene integrieren lassen und umgekehrt, wo die operative Planung der höheren Einheit diejenige der tieferen Einheiten einschränkt. Diese Planung über die Rekursionsebenen hinweg ist der Klebestoff der Organisation, der für Kohäsion sorgt.

Abb. 15.3  Integration von Fachbereichen im Steuerungssystem

242

15  Die Kommunikationskanäle prüfen und gestalten (Schritt VI)

Abb. 15.4  Verknüpfung von System 3 über drei Rekursionsebenen. (Quelle: Beer [3])

Planung wird von den meisten Leuten als eine professionelle Aktivität verstanden, die in Produkten endet, die sich Pläne nennen. Wir müssen Planung jedoch als einen permanenten Entscheidungsprozess sehen, durch den heute Investitionen allokiert werden, damit die Zukunft anders werden möge. Weil in jedem Moment neuere Information verfügbar ist als im Moment davor, ist es eigentlich verrückt, Pläne – die professionellen Produkte – später umzusetzen als dann, wann sie gemacht wurden. Produziere einen Plan mit einem bestimmten Datum, der dann in jedem Detail umgesetzt wird, und du wirst dumme Aktion sehen. Oder wie es der preußische Generalfeldmarschall Graf von Moltke der Ältere ausgedrückt hat: Kein Plan überlebt den Feindkontakt. Moltke hatte durch die Einführung der Auftragstaktik seinen Unterführern große Autonomie verschafft und dadurch Vorteile gewonnen gegenüber den damals noch stark auf der vertikalen Befehlsachse geführten Armeen. Planung bedeutet also, den aktuellen Plan kontinuierlich zu modifizieren oder abzubrechen, sobald sich die Umwelt relevant verändert hat. Es ist genau das Gegenteil vom Festhalten an fixen Plänen, egal ob sie operativ oder strategisch sind. Sobald sich relevante Faktoren verändert haben – und das tun sie kontinuierlich – muss der Plan auf der zentralen Befehlsachse aktualisiert werden. Andernfalls dient er nicht mehr den Bedürfnissen der Organisation als Ganzes. Wenn die aktuelle Lage nicht in Echtzeit

15.3 Verknüpfung in mehreren Ebenen

243

erkannt wird, treten Time-Lags auf, die die Organisation in eine unkontrollierbare Oszillation schicken können. Deshalb muss von allen Rekursionsebenen verlangt werden, dass sie ihre Pläne kontinuierlich aktualisieren, integrieren und gegenseitig kommunizieren. In den meisten Unternehmen funktioniert die Verknüpfung der operativen Planung im System 3 mit der über- und untergeordneten Rekursionsebene gut. Es sind die ­eingespielten, jährlichen Zielvereinbarungs- und Budgetierungsprozesse, sowie die schneller getakteten Prozesse zur Aktualisierung und zum Abgleich der operativen Pläne wie Auftragseingang oder Umsatzerwartung. Wie sieht es aber mit dem System 4 aus (Abb. 15.5)? Hier finden wir in vielen Unternehmen eine Baustelle. Oftmals gibt es zwar eine strategische Planung auf einer oder sogar einigen Ebenen, aber sie werden nicht wirksam miteinander verschränkt. Wenn das Unternehmen nicht nur heute, sondern auf Dauer funktionieren soll, ist das aber nötig, weil die Strategie der höheren Rekursionsebene über die Teilstrategien der tieferen Rekursionsebenen umgesetzt werden und auf diesen Ebenen Sinn machen müssen. Von der operativen Planung her wissen wir also, wie diese Verschränkung über Rekursionsebenen funktioniert. Was hindert uns eigentlich daran, das auch auf die strategische Planung anzuwenden?

Abb. 15.5  Verknüpfung von System 4 über drei Rekursionsebenen. (Quelle: Beer [3])

244

15  Die Kommunikationskanäle prüfen und gestalten (Schritt VI)

Und letztlich muss auch das System 5 über die Rekursionsebenen hinweg zu einem logischen Ganzen verschränkt werden (Abb. 15.6). Auch die 5er Systeme müssen mitei­ nander kommunizieren. Das System 5 der übergeordneten Rekursionsebene gibt den Rahmen vor für die Systeme 5 der unteren Rekursionsebenen. In der Praxis werden wir feststellen, dass es meistens nur auf den obersten Rekursionsebenen des Unternehmens sichtbare System 5-Aktivitäten gibt, vor allem dann, wenn diese durch rechtliche Vorschriften erzwungen werden. Das genügt nicht, weil sich tiefere Rekursionsebenen zwar an die Leitplanken der höheren Ebene halten müssen, aber einen feineren Körnungsgrad für sich selbst brauchen. Die Staatsverfassung ist viel zu grobkörnig für eine Familie, und sie ist in vielen Punkten für sie irrelevant. Die Familie muss sich auch an die Staatsverfassung halten, aber sie muss diesen Rahmen für sich selber ausgestalten. Tiefere Rekursionsebenen müssen sich die Frage stellen, was die übergeordnete Business Mission und Unternehmenspolitik auf ihrer Ebene genau bedeutet, und welche zusätzlichen normativen Leitplanken für ihr eigenes SIF gelten sollen. Jede Einheit braucht ihre eigene Identität und damit ihr eigenes System 5. In der Praxis funktioniert die Verbindung von Systemen über Rekursionsebenen manchmal nicht über schriftliche Kommunikation, sondern über die Wahrnehmung von mehreren Funktionen in Personalunion. So sitzen oftmals Mitglieder der Geschäftsleitung auf der höheren Rekursionsebene in Organen der operativen Einheiten auf der tieferen Rekursionsebene und verknüpfen diese faktisch ad personam über sich selbst. Die Herausforderung liegt dann darin, die verschiedenen Hüte, die sie tragen, auch auseinanderhalten zu können. Dabei hilft ihnen ein gemeinsames Verständnis des Organisationsmodells. Aufgaben

a. Wie funktioniert in unserem SIF die Verschränkung der Fachbereiche pro Systemfunktion 2 bis 5? Wer ist dafür jeweils verantwortlich? b. Wie ist unser System 3 mit dem System 3 der höheren und tieferen Rekursionsebene verbunden? Ist der genutzte Kommunikationskanal leistungsstark und sicher genug? Stellen Sie die gleichen Überlegungen auch für das System 4 und das System 5 an. c. Beurteilen Sie abschließend, wie gut jedes der Systeme 2 bis 5 beides, die Fachbereiche und die Rekursionsebenen, zu einem logischen Steuerungssubsystem verschränkt. d. Falls Sie den letzten Punkt kritisch beurteilen, sollten Sie sich nochmals fragen, ob es nicht nötig ist, eine Form von „Directorate“ pro Systemfunktion zu etablieren, das sich darum kümmert. (Abb. 15.6)

15.4 Funktioniert das „algedonische Signal“? Das algedonische Signal (Abb. 15.7) hat den Zweck, das Bewusstsein aufzuwecken, wenn etwas Bedeutsames passiert. Das Wort setzt sich aus den beiden altgriechischen Wörtern „Algos - Schmerz“ und „Hedone - Freude“ zusammen. Es ist also ein Schmerz-oder-Freude-­

15.4 Funktioniert das „algedonische Signal“?

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Abb. 15.6  Verknüpfung von System 5 über drei Rekursionsebenen. (Quelle: Beer [3])

Signal, das an die oberste Bewusstseinsebene transportiert wird, wenn dessen Aufmerksamkeit erforderlich ist. In unserem eigenen Organismus wecken uns solche Signale beispielsweise nachts auf, wenn wir Fieber bekommen, oder wenn der Bauch schmerzt. Sie können auf der vertikalen Steuerungsachse als einziges Signal alle Rekursionsebenen durchstoßen, bis hin zur obersten Ebene. Diese muss wissen, dass etwas Relevantes passiert, um allenfalls agieren zu können. Ohne algedonisches Signal würden wir Gefahr laufen, beispielsweise zu verdursten oder uns zu vergiften, weil uns erst viel zu spät bewusst würde, dass wir uns mit unserem aktuellen Verhalten schaden. Wenn wir die Information mit Schmerzmitteln herausfiltern, merken wir nicht, dass wir damit aufhören sollten. Umgekehrt ist es für den Organismus wichtig, Freude zu empfinden, wenn etwas Lebensdienliches geschieht. Genauso ist es in unseren Unternehmungen. Es gibt positive oder negative Ereignisse, die das oberste Organ des Unternehmens kennen muss, um darauf reagieren zu können. Gerade im Außergewöhnlichen und Unerwarteten steckt oftmals die wichtigste Information: Gibt es Dinge, die viel besser oder ganz anders verlaufen, als wir das erwartet haben, und wenn ja, was sagt uns das? Nun geht man aber gerade in größeren Unternehmungen mit den Vertretern der obersten Organe sehr vorsichtig und behutsam um. Wer wem was sagen darf, wird aktiv gesteuert, und somit werden Informationen, die tatsäch-

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15  Die Kommunikationskanäle prüfen und gestalten (Schritt VI)

lich von Interesse wären, herausgefiltert. Das sind sich diese Leute bewusst, und deshalb müssen sie überlegen, wie sie dennoch an die relevante Information herankommen. Wie soll es einem Mitarbeiter auf der untersten Rekursionsebene des Unternehmens möglich sein, das oberste Aufsichtsorgan über eine Sache zu informieren? Und wie sorgen wir dafür, dass dieser algedonische Kanal nicht missbraucht wird? Grundsätzlich gelten die gleichen Regeln und Gesetze für den algedonischen Kanal wie für alle anderen Kommunikationskanäle auch: Seine Kapazität, Verständlichkeit und Synchronität müssen überprüft und der Situation im SIF entsprechend angepasst werden. Die schwierigste Frage ist wohl die nach dem geeigneten Kommunikationskanal. Es soll ein Kanal sein, der über alle Rekursionsebenen hinweg von jedermann genutzt werden kann. Er soll genügend Varietät haben, damit er eine wichtige Botschaft klar übermitteln kann und er soll kurzfristig funktionieren. Es kann sein, dass ein Unternehmen dazu eine Mitarbeitervertretung im Aufsichtsrat etabliert. Deren Mitglieder sind als Vertrauenspersonen der Belegschaft bekannt, und sie wissen, dass sie über diese bei Bedarf den Aufsichtsrat informieren können. Es kann auch umgekehrt eine Person im Aufsichtsrat zur Vertrauensperson und Ansprechpartner für alle Mitarbeiter gemacht oder eine unabhängige OmAbb. 15.7  Das algedonische Signal. (Quelle: Beer [3])

15.4 Funktioniert das „algedonische Signal“?

247

budsstelle installiert werden. Das Unternehmen kann diese Information sporadisch aktiv über Mitarbeiterbefragungen oder Stimmungsbarometer einholen. Die IT bietet dazu heute viele Möglichkeiten, die zum Beispiel auf Staatsebene noch viel zu wenig genutzt werden, um den Willen des Volkes zu erfahren. Das Unternehmen kann sogenannte „Corporate Identity Tests“ durchführen, durch die es die Wirksamkeit seiner Arbeit im System 5 beurteilt, oder es stellt vielleicht einen physischen oder virtuellen Briefkasten für Nachrichten an den Verwaltungsrat oder an die Eigentümer auf, oder es nutzt das Intranet (moderiert oder unmoderiert), Apps oder Social Media Plattformen dafür. Wir sind nun am Ende des eigentlichen Diagnose- und Gestaltungsprozesses angelangt. Im Schritt VII wird es darum gehen, wie wir die Resultate der Neugestaltung wirksam kommunizieren und umsetzen. Von der kleinsten Operation auf der untersten Rekursionsebene bis zum obersten Organ auf der höchsten Rekursionsebenesind die Unternehmen von den gleichen Steuerungsthemen und -problemen durchdrungen. Die Symptome manifestieren sich auf verschiedene Arten, aber die Rezeptur des Gelingens, nämlich die Grundsätze, Prinzipien und Gesetze wirksamer Steuerung und Kommunikation, wie wir sie bisher kennengelernt haben, bleibt gleich. Die Prinzipien des Funktionierens gelten auf jeder Rekursionsebene, nur die konkreten Inhalte ändern sich. Insbesondere über die stabilisierende Wirkung von Negative Feedback-Loops in komplexen Systemen sollten wir öfters nachdenken. Dabei wird uns bewusst, dass Fehler, solange sie in einem vernünftigen Rahmen unter Kontrolle gehalten werden können, nicht der Feind sind, für den wir sie lange gehalten haben. Sie sind im Gegenteil die Voraussetzung für das Überleben, sofern  – und nur wenn  – wir mit den entsprechenden Feedback-Loops tatsächlich daraus lernen und uns kontinuierlich anpassen und verbessern. Das bedeutet nicht, dass Fehler im Unternehmen akzeptiert werden sollen und sogar gerne gesehen sind, wie uns das gewisse Unternehmensleitbilder glauben machen, sondern dass man dafür sorgt, dass sie sich nicht kritisch auswirken können. Das entspricht dem Motto, mit dem dieses Buch im Prolog begonnen hat. Aufgabe

Prüfen Sie, ob ein algedonisches Signal in Ihrem Unternehmen bis zur obersten Ebene gelangen kann, um diese bei Bedarf aufzuwecken. Wenn nein, wie könnten Sie einen entsprechenden Kommunikationskanal – mindestens für Ihr System in Focus – bauen?

Abends an der Bar Sandra: Marc: Sandra: Marc:

Ganz schön kompliziert. Was meinst du? Eine Firma zu steuern. Irgendwie scheint es mir auch ohne das alles zu gehen. Klar, sonst gäbe es viele Unternehmen schon lange nicht mehr. Ich habe in der Diagnose meiner Versicherung gleich mehrere ernste Baustellen gefunden. Und die die Firma funktioniert trotzdem.

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15  Die Kommunikationskanäle prüfen und gestalten (Schritt VI)

Rachel: Die größte Gefahr in Zeiten des Umbruchs ist nicht der Umbruch selbst, es ist das Handeln mit der Logik von gestern. Peter Drucker. Sandra: Das heißt? Rachel: Selbst die funktionierenden Unternehmen funktionieren im Modus der alten Welt, und die geht langsam unter. Alles wird schneller, vernetzter und komplexer. Die Unternehmen spielen mit ihren heutigen Steuerungssystemen noch nicht in der Liga, in der sie spielen sollten. Wer den Aufstieg nicht rechtzeitig schafft, steigt ab. David: Wie im Fußball … Mich erinnert das an einen Spruch, der bei meiner Großmutter in der Küche hängt: Wie sturen kan zeilt bij elke wind. Marc: Ach, und was heißt das? David: Wer steuern kann, segelt bei jedem Wind! Wir Holländer müssen es ja wissen. Wir sind zwar einfach, aber komplex. Marc: Einfach aber komplex – das sind wir Versicherer auch. Wir erzeugen mit unseren Versicherungsmodulen Vielfalt durch Einfachheit. Jeder kann sich das Paket zusammenstellen, das er braucht. Die Firma selber scheint mir aber eher kompliziert zu sein. Nur schon in unserem modernen Bürogebäude kann man sich endlos verirren. Rachel: Im Unterschied zu Notre-Dame de Paris oder dem Kölner Dom. Die sehen zwar komplex aus, aber verirren tut man sich da drin nicht. David: Oder Poesie: Ihr kennt doch die japanischen Haikus? Ein Gedicht aus wenigen Worten, höchst einfach, aber es weckt sehr viele Gedanken, Gefühle und Assoziationen beim Leser. Rachel: Vorsicht, David wird wieder romantisch. Aber du hast recht: Die Dinge sollten komplex, aber einfach sein. Auch die Steuerungssysteme in den Firmen. Ich glaube Selbststeuerung macht die Dinge einfach aber komplex. Sandra: Du meinst also, wenn ich das in meinem Unternehmen alles so machen würde, wird nachher alles einfacher für mich? Rachel: Genau. Und vor allem hättest du dann Zeit für das, was wirklich wichtig ist. Was vermutest du: Wie viel Prozent deiner Zeit verbringst du als Vorstandsvorsitzende in den einzelnen Systemen zwei bis fünf? Sandra: Neunzig Prozent im operativen Geschäft. Und dann noch ab und zu eine Aufsichtsratssitzung. Marc: Jetzt übertreibst du aber. Sandra: Ich bin permanent am Aufräumen – wie zu Hause mit den Kindern. Rachel: Wenigstens kannst du denen jetzt erklären, warum sie ihr Zimmer immer aufräumen müssen. Sandra: Und warum? Rachel: Kybernetik: Es gibt unzählige Zustände, in dem das Zimmer in Unordnung sein kann, aber nur einen einzigen, in dem es aufgeräumt ist. Wie bei den Familien im Tolstoi-Zitat. Also muss im Zimmer meistens Chaos sein. Reine Wahr-

15.4 Funktioniert das „algedonische Signal“?

Sandra: David:

Sandra:

Rachel: Sandra:

Marc:

Sandra: Rachel: David:

Rachel:

Marc:

David:

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scheinlichkeitsrechnung, da können deine Kinder nichts dafür. Du brauchst einen Negative Feedback-Loop, der das Ganze stabilisiert. Den suche ich schon lange. Eine komplizierte Sache … Also nochmals: Komplex ist etwas, wenn es verschiedene Zustände annehmen kann. Und wir messen das in Varietät. Aber beim Quantifizieren hört’s bei mir dann auf. Also mir leuchtet das ein. Quantifizieren heißt nicht zählen, sondern nur vergleichen. Anstatt die fünf Finger an der Hand zu zählen, brauche ich nur die Finger der anderen Hand dagegenhalten. Es passt und damit ist die Sache erledigt. Du meinst, Ashbys Gesetz ist erfüllt. Genau. Das gefällt mir an der Sache. Und ich finde, es entspricht der Realität, wie wir im Unternehmen führen. Ihr kennt doch den Satz: You can only manage, what you can measure? Mich nervt das schon lange. Solange man etwas messen kann, und eine Zahl halt größer ist als die andere, kann auch meine Sekretärin entscheiden. Dazu braucht es nicht mich. Viele Dinge kann ich nicht messen, aber ich kann sie beurteilen. Und je wichtiger sie sind, desto mehr bin ich auf Erfahrung und Urteilsvermögen angewiesen. Zum Beispiel bei einer Personal- oder Investitionsentscheidung. Messen kann man da nichts mehr. Da gehe ich mit. Aber noch besser leuchtet mir das mit dem Fußball ein: Wenn ein Forscher die Aufgabe kriegt, zu verhindern, dass elf Spieler einen Ball ins Tor kriegen, startet er entweder ein großes Forschungsprogramm zum Studium des Verhaltens der Spieler, erstellt tausend elektroenzephalographische Diagramme von ihnen und errechnet statistische Prognosen – oder er stellt einfach auch elf Spieler auf den Platz. Genial! So machen’s die Praktiker. Und die Kybernetiker. Aber meistens werden eher Forschungsprogramme gestartet. Vor allem, wenn die Unternehmen zu viel Geld haben. Das ist für mich das sympathische an der Sache. Der Bezug zum Praktischen. Als ich noch verheiratet und die Kinder klein waren, haben wir vorzugsweise Freunde zum Essen eingeladen, die auch Kinder hatten, und sie gebeten, diese mitzunehmen. Jetzt weiß ich warum: Varietät absorbiert Varietät und wir konnten beim Essen reden. Danke, Ashby! Das gleiche, einfache Gesetz in verschiedenen Erscheinungsformen, und doch entscheidend für Erfolg oder Misserfolg – man sieht es plötzlich überall in Aktion, wenn man es kennt. Amen. Das habe ich mir heute beim Mittagessen gedacht: Ein Buffet hat viel höhere Varietät als ein gesetztes Essen à la Carte. Ich glaube, ich bin nun auch schon infiziert … Ich habe mich eher bei den geschlossenen Kommunikationskreisläufen wiedergefunden. Im Luftverkehr sind die wichtig. Ohne die geht es nicht. Wir Piloten

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Sandra: David:

Marc:

Rachel:

David: Sandra: David:

Sandra:

David: Sandra:

David: Rachel:

David:

15  Die Kommunikationskanäle prüfen und gestalten (Schritt VI)

hatten im Gegensatz zu euch Managern schon immer eine ergonomische Fachsprache und klare Regeln. In euren Flugzeugcomputern? Stimmt, das meiste machen heute die elektronischen Systeme, aber wir müssen auch ohne sie fliegen können. Und dann braucht es auch Auftragsbestätigungen und Vollzugsmeldungen. Der Tower gibt eine Anweisung, die ich quittiere, und erst wenn er „richtig“ sagt, ist der Loop geschlossen. Und wenn ich das erledigt habe, melde ich den Vollzug. Ich kenne das vom Militär. In der Artillerie wird ohne Zielquittung nicht geschossen – mit guten Gründen. Und die Rückmeldung von erledigten Aufträgen ist ein Reflex. Sonst gibt’s Ärger. Ich bin zwar nicht so ein Militärkopf wie du, aber ich wundere mich schon, warum wir in den Firmen nicht besser kommunizieren. Vermutlich, weil es hier scheinbar weniger darauf ankommt. Man kann sich halt viele Fehler leisten. Da wird sich einiges ändern müssen. Bei uns ist das kein Thema. Du machst wohl Witze? Die Swissair ist Konkurs gegangen! Ach so, ich meinte im Flugverkehr. Ja, vielleicht hätten die im Management besser von der Steuerung des Flugverkehrs lernen sollen, wie man mit Komplexität umgeht. Da darf nichts schiefgehen. Mit Bestimmtheit. Und das System 5 der Swissair hat wohl auch nicht über die Varietät verfügt, um die 3–4 Balance zu beaufsichtigen. Strategische Fehlentscheidungen und dann auch noch ein Liquiditätspool aller Gesellschaften. Keine Entnetzung – keine Robustheit, nur Profitdenken. Im Verwaltungsrat saßen ja nur Politiker drin, wegen ihren Netzwerken und Beziehungen. Du scheinst dieses Viable System Model inzwischen ja richtig inhaliert zu haben. Nur etwas gefällt mir nicht. Als ich mir das Viable System Steuerungssystem für mein Unternehmen aufgemalt habe, ist mir aufgefallen, dass ich unsere beiden Werke nirgends darin finde. Ich habe die operativen Einheiten, also bei uns die Regionen, aufgemalt, aber unsere zentrale Produktion kann ich nirgends reinschreiben. Im Organigramm ist sie das größte Kästchen. Ist die nicht im System 2? Stop! Wir reden doch hier von einem Steuerungssystem. Also musst du die Steuerung der Produktion darin finden, aber nicht das Werk selber. Und die Steuerung der zentralen Produktion macht nicht nur System 2. Sie muss zum Beispiel ja auch im System 4 eine Produktionsstrategie schreiben oder im Auftrag der Regionen neue Produkte entwickeln. Ja richtig. Unterstützende Funktionen haben ihre eigenen Systeme 2 bis 5 und müssen sich mit den anderen unterstützenden Funktionen absprechen. Die operativen Einheiten können hingegen machen, was sie wollen. Ich bin froh, dass ein Flug eine operative Einheit ist.

15.4 Funktioniert das „algedonische Signal“?

Marc:

David: Sandra:

Rachel: Marc:

David: Sandra:

Rachel: Marc:

David: Marc: Rachel: David: Rachel:

Marc:

Rachel:

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Stimmt, ihr könnt zwar auch nicht grad machen was ihr wollt, aber ihr habt doch relativ viel Autonomie. Dürft ihr nicht sogar Leute auf einem Flug verheiraten? Ja. Oder einen betrunkenen Randalierer per ungeplanten Zwischenstopp ausladen. Also gut, dann heißt das also, dass ich das Werk im Organigramm finde, weil es dort um Organisationseinheiten, Personen und Organe geht, und in der dritten Dimension des Organisierens nicht mehr, weil es dort um Steuerung statt um Objekte geht? Richtig? Genau. Im Steuerungssystem sind die Kommunikationslinien wichtig. Wenn man den Draht kappt, geht nichts mehr. Tausende von Regelkreisen. Bei uns in der Cybersecurity unserer Versicherung sind die ganz entscheidend. Die Systemdiagramme sehen bei uns aus wie ein Haufen Nematomorpha – ihr wisst schon, diese dünnen Saitenwürmer. Aber in der Steuerung des Unternehmens scheinen wir sie nicht im Griff zu haben. Das scheint ein unlösbarer Knäuel zu sein. Nemawas …? Nicht für den Praktiker. Es geht ja nicht darum, alle Regelkreise zu finden und zu steuern, sondern nur die wichtigsten davon. Und ich glaube, ich habe in der Diagnose meiner Firma die drei wichtigsten bereits gefunden. Ich werde mir die jedenfalls nochmals anschauen. Da ist sie wieder, die Pareto-Regel: Nicht alles steuern, sondern steuern, was steuert. Verrückt, dass wir in der Technik bereits tun, was auch im Unternehmen selbst getan werden müsste: Die Regelkreise sauber definieren. Sie sind es, was die Welt im Innersten zusammenhält. Du meinst, Dr. Faust hat in Wahrheit nach Regelkreisen gesucht? Und sie nicht gefunden, weil man sie nicht sehen kann. Jetzt verstehe ich endlich die Bedeutung des Drachens, der sich in den eigenen Schwanz beißt. Den Oroborus? Klar, er ist das Symbol für einen geschlossenen Regelkreislauf oder eben Kommunikationskreislauf. Also für etwas, das sich selber steuert und ausbalanciert. Für einen Homöostaten. In der Technik ist das beispielsweise ein Thermostat, der die Raumtemperatur regelt. Das Gerät kann man sehen, aber was man nicht sieht, ist der Oroborus dahinter – der geschlossene Steuerungskreislauf. Temperatur einstellen, messen, Abweichung feststellen, korrigieren. Darum hat auch noch kein Chirurg einen Thermostaten im Körper eines Menschen gefunden. Der Regelkreis selbst ist der Thermostat. Er hält uns in Balance, wenn wir ins Kühlhaus gehen. Im Militär haben wir dazu übrigens „Kommandieren, Kontrollieren, Korrigieren“ gesagt – der Führungskreislauf. Du mit deinem Militär. Ok, auch das ist ein geschlossener Kreislauf. Aber das Interessante am Ansatz mit dem Viable System Model ist für mich, dass es jetzt

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Sandra:

Marc:

Rachel: David: Rachel:

Marc:

Rachel: Sandra:

David:

Sandra: Rachel:

Marc:

15  Die Kommunikationskanäle prüfen und gestalten (Schritt VI)

einmal nicht um die Führung von Menschen geht, sondern um die Steuerung des gesamten Unternehmens mit seiner riesigen Komplexität. Richtig. Ich habe hunderte von Führungskräfteseminaren mitgemacht und Bücher über Kommunikation gelesen. Aber darin ging es immer um Kommunikation zwischen Menschen in Führungsbeziehungen oder im Team. Und um die ideale Führungskraft. Wie Menschen sein sollen und wie sie miteinander umgehen sollen. Nur findet man dann in den Firmen nie diese tollen Führungskräfte, sondern einen impertinenten Boss, der nur sein eigenes Scherflein hütet und seine Macht erhalten will. Und die einzigen Vorgaben, die man erhält, sind Umsatz und Rendite. Und was nützt euch dann so ein Viable System Model, wenn ihr einen solchen Boss habt? Moment, das ist jetzt unfair. Das Modell ist nicht das Modell einer idealen Führungskraft, die es nur in Büchern aber nie im wirklichen Leben gibt, sondern das Modell einer idealen Steuerung. Es sagt nichts darüber aus, wie Menschen sein sollen, sondern was sie tun sollen, damit sie Erfolg haben. Das ist etwas anderes. Und manchmal habe ich zumindest bei uns den Eindruck, dass sie gar nicht glauben können, dass es möglich ist, erfolgreicher und gleichzeitig freier zu werden, indem man loslässt. Darum klammern sie sich an alles was sie haben. Sie glauben, dass sie alles selber machen müssen, und dann tun sie es auch. Eine selbsterfüllende Prophezeiung. Gepaart mit einem ordentlichen Schuss Narzissmus! So ist das Leben. Aber das Leben ist auch Evolution und Verbesserung. Ich finde den Gedanken spannend, dass in der Organisation das Potenzial für den nächsten großen Entwicklungssprung steckt. Alle scheinen danach zu suchen, aber bisher ist man noch nicht wirklich fündig geworden. Weil immer noch alle nach den neuen Leadern suchen oder in den alten Denkkategorien des Organisierens stecken geblieben sind. Dabei geht es nur um die Frage, wie das Unternehmen verkabelt werden muss, damit die Steuerung funktioniert. Klingt etwas technokratisch für mich. Aber auch biologisch. Mich interessiert mehr, wie das Unternehmen verkabelt werden muss, als ob der Heiner mit der Kati auskommt oder nicht, und ob der Chef vergesslich oder ein Egoist ist. Deshalb gibt es doch eine Verkabelung. Heiner, Kati und der Chef gehen irgendwann, die Organisation bleibt. Mir dämmert langsam, dass Organisieren zwar die Bausteine umfasst, dass es aber vor allem die Beziehungen zwischen ihnen sind, auf die es ankommt. Wir erneuern unsere Zellen im Körper alle sieben Jahre, aber die Beziehungen zwischen ihnen bleiben die gleichen. Darum können wir trotzdem einen alten Freund erkennen.

Literatur

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David:

Sehe ich auch so. Ein Spital kann hundert Jahre alt werden, und die Leute, die darin arbeiten sind immer wieder andere. Die Elemente ändern sich, die Relationen bleiben dieselben. Organisieren ist Aufteilen und Zusammenfügen. Sandra: Das hast du jetzt aber schön gesagt … David: (lacht) Danke. Und ich teile uns jetzt auch mal auf und ziehe mich zurück. Marc: Ja, Freunde, ich schalte auch in den Operationsmodus „Rückzug“. Muss früh raus … Rachel: Vorsicht: Der frühe Wurm wird vom Vogel gefressen. Oder so ähnlich …

Literatur 1. Beer, Stafford. 1985. Diagnosing the system for organizations. The managerial cybernetics of organization, 45, 47, 55. Chichester/New York/Brisbane/Toronto/Singapore: Wiley. 2. Shannon, Claude E., und Warren Weaver. 1949. The mathematical theory of communication. Urbana: University of Illinois Press. 3. Beer, Stafford. 1985. Diagnosing the system for organizations. Chichester/New York: Wiley.

Teil IV Vom Wissen zum Nutzen

The amount of control is proportional to the amount of information the system has  – about itself. (Stafford Beer)

Die Organisation verständlich machen (Schritt VII)

16

Inzwischen haben wir in unserer Diagnose die Rekursionsebenen und Verflachungsmöglichkeiten, die Segmentierung in kundengerechte operative Einheiten, die Steuerungsfunktionen und die entsprechenden Kommunikationskanäle in unserem System in Focus sowie zur unter- und übergeordneten Rekursionsebene geprüft. Wir wissen inzwischen präzise, wo unser Steuerungssystem funktioniert, wo es nicht funktioniert und was zu tun ist. Wissen ist aber so wertlos wie Rohöl, solange es nicht genutzt wird. Im vierten Teil geht es deshalb um die Frage, wie wir vom Wissen zum Nutzen kommen. Nach einer kurzen oder auch ausführlichen Diagnose des Steuerungssystems liegen viele Erkenntnisse vor, die wir sofort und unabhängig von anderen Dingen umsetzen können. Wir verbessern zum Beispiel unser System 3∗, verbessern den Kommunikationskanal von unserem System 4 ins übergeordnete System 4, schaffen ein Meeting im System 2 ab und rufen ein anderes ins Leben. Solche Einzelmaßnahmen umzusetzen bereitet niemandem Mühe. Wenn wir hingegen erkennen, dass es größere Baustellen gibt – und das ist fast immer so  – müssen wir das, was wir selber erkannt haben, anderen mitteilen, und ihnen die Steuerungsorganisation verständlich machen, so wie wir sie sehen. Der wirksamste Weg dazu wäre eine Erläuterung anhand des Viable System Models, das die eigenen Chefs, Kollegen und Mitarbeiter normalerweise jedoch nicht kennen und deshalb vorgängig ausgebildet werden müsste. Viele Unternehmen nehmen nach einer Diagnose das Modell in ihr Ausbildungsprogramm für Führungskräfte auf. Dadurch werden mit der Zeit immer mehr Mitarbeiter mit dem Modell vertraut gemacht. Durch eine Kombination von Ausbildung und gleichzeitiger Anwendung im eigenen Verantwortungsbereich verfeinern die eigenen Leute die Steuerungsorganisation immer weiter und bauen sie kontinuierlich aus. Es wird am praktischen Beispiel gelernt und gleichzeitig entsteht mit etwas Unterstützung der Experten konkreter Nutzen im Unternehmen. Und sie entwickeln eine gemeinsame Sprache, so dass sie das heute wichtigste

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Pfiffner, Die dritte Dimension des Organisierens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29247-8_16

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16  Die Organisation verständlich machen (Schritt VII)

Führungsmodell im Unternehmen wirksam miteinander diskutieren können. Wir haben bereits in Kap. 4 über die große Bedeutung und Wirkung von aussagestarken, gemeinsamen Modellen gesprochen. Erfahrungsgemäß nehmen die Führungskräfte das Viable System Model sehr schnell auf und behalten seine Sprache bei, wenn sie sich über Organisationsthemen unterhalten. Das liegt möglicherweise daran, dass das Modell intuitiv verständlich ist, weil wir als Mensch selber so organisiert sind, und nach meiner Beobachtung auch daran, dass die Sprache von den Praktikern als nützlich empfunden wird [1]. Andere Unternehmen wollen nur die gewonnenen Erkenntnisse umsetzen. Und manchmal kann man einfach nicht so lange warten, bis genügend Mitarbeiter die Sprache des Viable System Models verstehen. Da es dazu keinen „One Minute Manager“ gibt, und aufgrund des Conant-Ashby-Theorems auch niemals einen geben wird, verwenden wir in diesem Fall die üblichen Bordmittel für die Kommunikation der Organisation: Organigramm, Funktionendiagramm und Stellenbeschreibung. Das genügt für die Umsetzung. Letztlich müssen die Mitarbeiter nicht primär das Modell verstehen, sondern zuerst einmal wissen, was ihr Job ist. Im letzten Schritt unseres Diagnose- und Gestaltungsprozesses befassen wir uns also mit der Frage, wie wir die Erkenntnisse über unser Steuerungssystem so darstellen können, dass jedermann sie versteht. Es gelten dabei die gleichen Anforderungen an die Kommunikation, wie wir sie in Abschn. 15.1 kennengelernt haben. Wir gestalten sozusagen das User-Interface oder die Benutzeroberfläche des Steuerungssystems.

16.1 Darstellung der Steuerungsorganisation Organisationsbeschreibungen sind grundsätzlich problematisch, denn sie verfügen normalerweise über wenig Aussagekraft, sind schwer zu verstehen und schnell veraltet. Außerdem sind sie so langweilig, dass niemand sie liest, wenn es nicht unbedingt sein muss. Die meisten Menschen vermeiden Gebrauchsanleitungen und ziehen das Ausprobieren vor. Weder Organisationshandbücher noch Reglemente oder Prozessbeschreibungen erfüllen unsere Anforderungen an die Kanalkapazität, Transduction und Synchronität guter Kommunikation. In der Praxis müssen wir dennoch die Mittel nutzen, die uns zur Verfügung stehen, um die Organisation verständlich zu machen. Wenn man sie etwas anders als üblich nutzt, tun sie trotzdem ihren Zweck. Für eine einfache, aber doch aussagekräftige (komplexe) Darstellung unserer Steuerungsorganisation im System in Focus hat sich das Funktionen-Diagramm bewährt. Damit lässt sich die gesamte Steuerungsorganisation einer operativen Einheit auf einer einzigen A4-Seite übersichtlich darstellen. Seine Anpassung oder Aktualisierung ist schnell gemacht. In einem Funktionen-Diagramm werden Aufgaben mit Organisationseinheiten verknüpft und festgelegt, welche Einheit an welcher Aufgabe wie beteiligt ist, also welche Funktion sie in der Aufgabe übernimmt (Abb. 16.1).

16.1  Darstellung der Steuerungsorganisation

259

Abb. 16.1  Das Steuerungsfunktionen-Diagramm

In Schritt VII erstellen wir deshalb zuerst ein Steuerungsfunktionen-Diagramm für unser SIF. In die Spalten dieses Diagramms tragen wir alle Organisationseinheiten ein. Das sind die Organe, Abteilungen, Bereiche oder Gremien, die wir heute haben. Aber Achtung: Die operativen Einheiten in unserem SIF dürfen wir nicht einzeichnen. Warum wohl nicht? (… Antwort am Ende des Kapitels) Je nach Rekursionsebene tragen wir Organisationseinheiten ein, für die jeweils jemand verantwortlich ist und die normalerweise auch im Organigramm erscheinen, oder wir tragen gleich einzelne Personen ein, die auf tieferen Rekursionsebenen vielleicht keine Bereiche oder Abteilungen mehr führen, aber relevante Aufgaben erledigen. Organisationseinheiten können aber auch die Form von Ausschüssen, großen Projekten, regelmäßigen Sitzungen oder Konferenzen haben. Es sind die organisatorischen Gefäße, in denen fachliche oder generelle Aufgaben gebündelt werden. In die Zeilen des Diagramms schreiben wir die Steuerungsaufgaben für jedes der Systeme 2 bis 5 in unserem SIF hinein, die wir im Diagnoseschritt V festgelegt haben. Wenn wir bisher gut gearbeitet haben, sollten es in Summe nicht mehr als zwanzig bis vierzig Aufgaben sein. Jetzt müssen wir nur noch festlegen, wer was macht. Dazu überlegen wir uns für jede einzelne Steuerungsaufgabe, welche Organisationseinheit (oder Person) in unserem SIF wie daran beteiligt sein soll: Wer soll diese Aufgabe planen, wer soll sie entscheiden, wer ausführen und wer kontrollieren? Das tragen wir in die Mitte des Diagramms ein. Damit wir die Steuerungsorganisation auf einer Seite abbilden können, verwenden wir

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16  Die Organisation verständlich machen (Schritt VII)

Abkürzungen für die Funktionen, und damit es übersichtlich bleibt, sollten es nicht mehr als drei bis vier verschiedene Abkürzungen sein. Bewährt hat sich beispielsweise: P

Planung: Ist für diese Steuerungsaufgabe prozessverantwortlich. Stößt den Prozess an und entwickelt die Prozessqualität. Bereitet Entscheidungen vor. E Entscheidung: Hat die Entscheidungsbefugnis und trägt die Gesamtverantwortung für die Aufgabe. A Ausführung: Wird in die Aufgabe involviert und über die Resultate informiert, allenfalls auch vor einer Entscheidung um Meinung gefragt. Setzt die Entscheidung um. K Kontrolle: Prüft das Ergebnis und ob die Aufgabe erledigt ist. Normalerweise ist das die prozessverantwortliche Stelle. Es gibt aber Situationen, in denen die Kontrolle beim Entscheider oder beim Ausführenden selbst liegen soll. Wenn wir das Diagramm in der Horizontalen lesen, erkennen wir für jede Steuerungsaufgabe die Eckpunkte des Prozesses, der dahintersteht, und die wesentlichen Schnittstellen: Wer muss mit wem zusammenarbeiten? Wer stößt an, wer bereitet vor, wer entscheidet, wer führt aus und wer kontrolliert? Am Ende gehen wir jede Steuerungsaufgabe nochmals Zeile für Zeile durch und prüfen, ob sie hinreichend organisiert ist. Es sollte jetzt klar sein, wer welchen Beitrag an welche Steuerungsaufgabe leistet und wer sicherstellt, dass das auch funktioniert. Danach gehen wir alle Spalten durch und betrachten die Organisationseinheiten. Eine Organisationseinheit oder eine Person kann keine, eine, mehrere oder sogar alle Funktionen pro Aufgabe übernehmen. Die vertikale Betrachtung des Diagramms ist besonders interessant. Es wird darin sichtbar, wo die einzelnen Einheiten ihren Hauptbeitrag leisten, und was für einen Beitrag sie überhaupt leisten. Das Aufsichtsorgan beispielsweise übernimmt hauptsächlich System 5-Aufgaben, ist aber vermutlich auch an einigen System 4-Aufgaben beteiligt. Es gestaltet die Grundsätze und Inhalte der Corporate Governance wie auch die Beziehungen zu den Anspruchsgruppen. Es macht eine Rück- und Vorschau auf das Geschäft, es wählt und führt die Personen des obersten Exekutivorgans und bestimmt dessen Geschäftsordnung. Es sollte keine aktiven oder ehemaligen Exekutivmitglieder oder Personen mit aktiven Geschäftsbeziehungen beinhalten, weil niemand sich selber kontrollieren kann oder sollte. Damit es Kraft entfalten und wirksam arbeiten kann, müssen seine Mitglieder genügend und unter Umständen auch kurzfristig Zeit dafür aufbringen können. Große Organe eignen sich deshalb nicht, weil sie ineffektiv werden. Nur schon die Abstimmung von Agenden kann länger dauern, als die Sache selbst erfordert. Das oberste Exekutivorgan im SIF erfüllt hauptsächlich System 3- und 4-Aufgaben. Es fokussiert auf die Umsetzung und auf Resultate. Es kommuniziert nach außen und legt die personelle Besetzung der Schlüsselpositionen fest. Es sorgt für die strategische und operative Planung und dafür, dass die Ressourcen im Sinne der Balance von System 3–4 richtig allokiert werden. Es gestaltet vielleicht aber auch die Business Mission im System 5 mit und die Konzepte der Unternehmenspolitik.

16.1  Darstellung der Steuerungsorganisation

261

Die Aufgaben der Fachbereiche oder Abteilungen wie Personal, Marketing, IT und so weiter sind normalerweise über alle Systeme 2 bis 5 etwa gleichermaßen verteilt. Manchmal erfüllen sie auch ganz spezifische Aufgaben, wie beispielsweise eine Compliance Abteilung nur Funktionen im System 3∗ haben wird. Im Steuerungsfunktionen-Diagramm unseres SIF werden nicht alle Aufgaben einer Abteilung oder eines Fachbereichs erscheinen, weil sie nicht alle zu den zwanzig Prozent der erfolgskritischen Aufgaben für das SIF gehören. Jeder Fachbereich oder jede Abteilung kann zur detaillierteren Darstellung ihrer eigenen, erfolgskritischen Aufgaben ihr eigenes Steuerungsfunktionen-Diagramm erstellen. Wenn mehr Vielfalt, Perspektive, Erfahrung oder Netzwerk notwendig ist, sollte mit Ausschüssen, Gremien oder Komitees gearbeitet werden. Sie erfüllen spezifische Aufgaben, bereiten Entscheidungen vor, oder bündeln fachliche Expertise für Aufgaben wie Lernen, Ausbilden oder für die Nutzung von Erfahrung. Der Beitrag des Momo-­Gremiums in einer Bank bestand zum Beispiel in der Koordination der Bereichsleiter mit dem Vorstand am Montagmorgen – deshalb das „Montagmorgen“-Gremium. Sie sind Varietätsverstärker für die Organe, die die Verantwortung tragen und Entscheidungen treffen. Diese Art von Organisationseinheiten taucht im Organigramm üblicherweise ebenso wenig auf wie Konferenzen, große Projekte oder Sitzungen. Wenn aber beispielsweise eine Sitzung regelmäßig stattfindet, soll sie in unserem Steuerungsfunktionen-Diagramm erscheinen. So können wir auch prüfen, ob sie einen relevanten Beitrag an unser SIF erfüllt. Eine Prüfung lohnt sich meistens, weil viel Zeit und Energie in solchen historisch gewachsenen, kleinen Organisationseinheiten vertan wird. Manchmal, weil sie schlecht vorbereitet, geleitet und vor allem kaum nachbereitet werden, und manchmal, weil es die Sitzung, das Komitee oder das Gremium eigentlich gar nicht mehr brauchen würde, wenn man es nicht schon hätte. Oftmals sitzen zu viele oder die falschen Leute drin (diejenigen, die Zeit haben) und es gibt niemanden, der sie wirklich zum Funktionieren bringt, weil niemand so richtig dafür verantwortlich ist. Gerade weil es in der Praxis viele unproduktive oder unnötige Gefäße gibt, deren Zweck zum intellektuellen Kaffeetrinken verkommt, wollen wir sie im Steuerungsfunktionen-Diagramm sichtbar machen und sie einer Prüfung unterziehen. So kommen wir auch im letzten Diagnose- und Gestaltungsschritt immer noch zu weiteren Erkenntnissen. Schließlich können wir für jede Organisationseinheit oder Person in der Vertikalen des Diagramms einzeln prüfen, wie wichtig ihr Beitrag an das Ganze ist und worin er besteht. Ein Blick in die entsprechende Spalte und die darin enthaltenen Funktionen genügt. Sofern wir Spalten finden, die leer bleiben, sollten wir uns fragen, ob es diese Einheiten wirklich braucht, oder ob hier die Organisation allenfalls vereinfacht werden kann: Können wir die Einheit auflösen und ihre verbleibenden, offensichtlich weniger wichtigen Aufgaben, einer anderen Organisationseinheit zuteilen? Einer der großen Vorteile des Steuerungsfunktionen-Diagramms ist seine Übersichtlichkeit und Flexibilität. Bei Änderungen in der Steuerungsorganisation kann es ganz einfach aktualisiert werden, denn die Steuerungsaufgaben selbst ändern sich normalerweise nicht, und eventuelle Änderungen bei den Organisationseinheiten oder den Verantwortlichkeiten

262

16  Die Organisation verständlich machen (Schritt VII)

können schnell angepasst werden. Die Funktionen im Diagramm (PEAK) lassen sich sofort und ohne Aufwand ändern. Es kann in jedem Büro neben dem Schreibtisch aufgehängt werden, und jeder der drauf schaut, sieht auf einen Blick, wer an welcher Aufgabe wie beteiligt ist. Aufgaben

a. Erstellen Sie das Steuerungsfunktionen-Diagramm für Ihr SIF.  Tragen Sie dazu alle heute bestehenden Organisationseinheiten (oder je nach Rekursionsebene Personen) in die Spalten ein. b. Tragen Sie die Steuerungsaufgaben, die Sie in Schritt V für die Systeme 2 bis 5 in Ihrem SIF festgelegt haben, in die Zeilen des Diagramms ein. Achten Sie darauf, dass die Zuordnung zu den Systemen 2 bis 5 erhalten bleibt. c. Überlegen Sie für jede Steuerungsaufgabe, welche Einheit (oder welche Person) wie daran beteiligt sein soll, und tragen Sie das entsprechende Kürzel (siehe oben) ins Diagramm ein. d. Prüfen Sie für jede Steuerungsaufgabe am Ende, ob sie hinreichend organisiert und die Verantwortlichkeit geregelt ist. e. Prüfen Sie für jede Organisationseinheit, worin ihr Beitrag besteht, und versuchen Sie Organisationseinheiten zu reduzieren, die keine wesentlichen Beiträge leisten. f. Prüfen Sie, ob die Verantwortung für die Systeme 2 bis 5 festgelegt ist. Mögliche Inhalte einer Stellenbeschreibung für solche „Directorates“ finden Sie im nächsten Abschnitt. Tipp: Achten Sie darauf, dass Sie in Ihrem Steuerungsfunktionendiagramm auf Ihrer Rekursionsebene bleiben. Schreiben Sie keine Organisationseinheiten oder Personen ins Diagramm, die nicht wirklich zu dieser Ebene gehören und auf dieser Ebene geführt werden. Lassen Sie das System 1 weg.

16.2 Stellenbeschreibung Was wir ebenfalls in den Spalten erkennen, das sind die Eckwerte für die Stellenbeschreibungen für die betreffende Organisationseinheit oder Person. Wir erkennen, an welchen der erfolgskritischen Aufgaben sie in welcher Form beteiligt ist, und bei welchen Aufgaben sie über Verantwortung und Entscheidungskompetenz verfügt. Es sind nur die Eckwerte einer Stellenbeschreibung, aber sie sind konkret und präzise da gesetzt, wo sie für das Funktionieren am wichtigsten sind. Stellenbeschreibungen haben den Vorteil, dass sie dem einzelnen Mitarbeiter klar und übersichtlich zeigen, worin seine Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortungen liegen. Da Stellen teilweise und über die Zeit hinweg auch an die Stärken des Stelleninhabers angepasst werden, macht es Sinn, sie mit dem Steuerungsfunktionen-­Diagramm abzugleichen und einer Prüfung und Aktualisierung zu unterziehen [2]: Ist die Stelle gut gestaltet? Passt sie zu den Stärken des Stelleninhabers? Ist sie nicht zu groß oder zu klein? Kann man darin wirksam werden und hat man damit

16.2 Stellenbeschreibung

263

eine Chance auf Erfolg? Gerade in großen Unternehmen gibt es oftmals Stellen, deren Existenzberechtigung durchaus hinterfragt werden kann. Wofür genau ist beispielsweise der „Chief Assistant to the Assistant-Chief“ verantwortlich, dem ich in einer EU-­Institution begegnet bin? Was machen ein „Umsetzungsbeauftragter“ oder ein „Kosten- und Produktivitätsverfolger“? Braucht man wirklich alle „Referenten“? Oder können wir für diese Leute echte Jobs schaffen, in denen sie ihre Stärken ausspielen, aber auch Verantwortung für einen eigenen Beitrag übernehmen können? Die Eckpunkte der Stellenbeschreibung werden also der entsprechenden Spalte im Steuerungsfunktionen-Diagramm entnommen und nach einer Prüfung mit allen weiteren Aufgaben der Stelle ergänzt, die über die erfolgskritischen hinaus gehen. Die Stellenbeschreibungen, die wir üblicherweise verwenden, sind primär für einzelne Personen gedacht. Es macht Sinn, sie auch für Organisationseinheiten zu formulieren. Zu oft bleibt nämlich der beabsichtigte Zweck, zu dem eine Organisationseinheit einmal ins Leben gerufen wurde, undurchsichtig, weil sich die Aufgaben wie auch die Einheit selbst im Laufe der Zeit gewandelt haben. Wenn ich in einem Unternehmen nach dem Zweck eines Gremiums oder einer regelmäßig stattfindenden Sitzung frage, zählt man mir meistens die Standard-Tagesordnung und die Mitglieder auf. The purpose of a system is – what it does. Das ist richtig. Aber man hat Schwierigkeiten, den beabsichtigten Zweck zu nennen, weil man ihn nicht kennt. Es macht deshalb durchaus Sinn, diesen tatsächlichen Zweck hin und wieder zu hinterfragen und klarzustellen. Man darf sich dabei im Einzelnen auch einmal grundsätzlich fragen, ob die Sitzung, das Komitee oder das Gremium in der heutigen Form nach wie vor das richtige Medium für die Erfüllung der Aufgabe ist. Der Fortschritt in der Kommunikationstechnologie verändert momentan so viel, dass es vielleicht inzwischen geeignetere Kanäle mit besserer Kapazität, Verständlichkeit und Zeitgerechtigkeit gibt. Und vielleicht kommt man grundsätzlich zum Schluss, dass eine Organisationseinheit inzwischen ihren Zweck erfüllt hat und nicht mehr benötigt wird. Wir erinnern uns, dass Komplexität exponentiell wirkt, und wir uns normalerweise schwertun, die Organisation auszumisten und Platz für Neues zu schaffen. Eine Stellenbeschreibung, auch für ein Gremium, ein Komitee oder eine Sitzung, sollte mit dem Zweck beginnen: Welchen Beitrag an das Ganze leistet diese Organisationseinheit? Neben den Mitgliedern, und den Anforderungen an diese, müssen dann auch die Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortungen dieses Gefäßes genannt werden. Eine gute Stellenbeschreibung regelt zudem den Informationsfluss, indem sie beschreibt, von welchen Stellen die Organisationseinheit Informationen bezieht und wen sie selbst informieren muss. Der Rhythmus muss festgelegt werden, in dem die Organisationseinheit tagt und zu Resultaten kommt. Und vor allem muss am Ende für jede Organisationseinheit jemand verantwortlich sein. Negative Feedback-Loops können nur dann wirken, wenn die Verantwortung für eine Sache gemeinsam mit der Aufgabe und der Kompetenz dafür, an einer einzigen Stelle verankert wird. Nur dann ist klar, wer aktiv werden muss, wer entscheidet und wo die Verantwortung liegt. Zu oft verzichtet man auf diese Art von stabilisierendem Feedback, indem die Verantwortung aufgeteilt wird: „Wir

264

16  Die Organisation verständlich machen (Schritt VII)

machen das zusammen“. Ebenso wenig kann ein Mitarbeiter zwei Chefs gleichzeitig haben; wie schon das Sprichwort sagt: „Wer zwei Chefs hat, ist ein freier Mann“. Selbststeuerung funktioniert nur dann, wenn der Regelkreis geschlossen wird und es einen klaren Punkt der Verantwortung gibt. Wie bereits in Kap. 14 und in Abschn. 15.3 argumentiert wurde, ist es sinnvoll, nicht nur für die Organisationseinheiten, sondern auch für alle Steuerungssysteme 2 bis 5 die Verantwortung klar festzulegen: Wer sorgt dafür, dass das einzelne Steuerungssystem und seine Kommunikation richtig funktioniert? Auch wenn in den meisten Steuerungssystemen mehrere Organisationseinheiten verschiedene Aufgaben erfüllen, kann die Verantwortlichkeit beispielsweise der Stelle übertragen werden, die daran am aktivsten beteiligt ist. Hier kann durchaus auch gestalterisch eingegriffen werden, soweit das Gesetz keine Einschränkungen vorsieht. Gerade zwischen Aufsichtsorgan und Exekutivorgan muss geklärt werden, wer beispielsweise für das System 4 verantwortlich sein soll. Verschiedene Gesellschaftsformen haben dazu in verschiedenen Ländern verschiedene Regelungen, die zu berücksichtigen sind. Wo man den Gestaltungsfreiraum hat, zum Beispiel in der Verankerung von Verantwortung für das System 2 oder 3∗, sollten vorhandene Stärken genutzt werden: Im System 4 braucht es tendenziell andere Stärken und einen anderen Menschenschlag als im System 3, und dort wieder andere Menschen als im System 2. Die Aufgaben eines solchen „Directorate“ können wir ebenfalls in einer Stellenbeschreibung zusammenfassen: Aufgaben eines System x Directorate (pro Steuerungssystem 2–5)

1. Prüft und sorgt dafür, dass alle im Steuerungsfunktionen-Diagramm enthaltenen Aufgaben für das betroffene Steuerungssystem wahrgenommen werden und wirken. 2. Prüft und sorgt dafür, dass die Kommunikation zu den verbundenen Steuerungssystemen (gemäß Viable System Model) funktioniert 3. Integriert die Fachbereiche innerhalb des eigenen Steuerungssystems, bezogen auf die erfolgskritischen Aufgaben 4. Integriert die Planungsprozesse zwischen der höheren und tieferen Rekursionsebene und prüft und sorgt dafür, dass die Kommunikation funktioniert 5. Hält die Systemfunktion schlank, transparent und befreit sie von Altlasten 6. Pflegt die Daten auf den Ablagesystemen und hält diese aktuell und schlank 7. Hält das Steuerungsfunktionen-Diagramm innerhalb des eigenen Steuerungssystems aktuell und gleicht es mit den Stellenbeschreibungen der beteiligten Organisationseinheiten oder Personen ab 8. … weitere Spezifika der Systemfunktion Nachdem wir also für alle Organisationseinheiten in unserem Steuerungsfunktionen-­ Diagramm die Stellenbeschreibung erstellt oder geprüft haben, und dort auch etwas über ihren Arbeitsrhythmus gesagt wird, können wir eine weitere, interessante Betrachtung anstellen. Wenn wir alle größeren, regelmäßig stattfindenden Sitzungen eines Jahres in einem

16.3 Organigramm

265

einzigen Sitzungsdiagramm nebeneinanderstellen, erkennen wir darin so etwas wie ein Kardiogramm des Unternehmens. In diesen Sitzungen wird ein großer Teil der Entscheidungen getroffen, so dass wir also erkennen können, wie das Unternehmen getaktet ist, und wie schnell oder wie langsam es arbeitet und reagiert. Der Sitzungskalender eines Unternehmens ist so etwas wie sein Schrittmacher, mit dem man es beschleunigen oder abbremsen kann. Außerdem erkennt man, wie sich die Sitzungen informativ gegenseitig beeinflussen. Die Entscheidungen aus einer Sitzung heraus sind Inputs für andere Entscheidungen in anderen Sitzungen. Normalerweise sind diese Sitzungsdiagramme sehr unergonomisch gestaltet, weil niemand diese Gesamtsteuerung vornimmt und die Sitzungen deshalb nach Verfügbarkeit ihrer Mitglieder mehr oder weniger zufällig in die Kalender geschrieben werden. Aufgaben

a. Prüfen oder erstellen Sie für jede Organisationseinheit in Ihrem SIF (oder für jede Person) die Stellenbeschreibung. Beginnen Sie mit den Funktionen, die Sie in der entsprechenden Spalte im Steuerungsfunktionen-Diagramm finden. Ergänzen Sie diese gegebenenfalls um weitere Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortungen. b. Halten Sie für jede Organisationseinheit fest, wer dafür verantwortlich ist, und stellen Sie sicher, dass das nur eine Person ist. Beschreiben Sie ihren Zweck und Beitrag ans Unternehmen, den Arbeitsmodus, eventuelle Standard-­Tagesordnungen, die Mitglieder, die Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortungen, den Informationsfluss und den Arbeitsrhythmus. c. Passen Sie die Einheiten an, wenn Sie zum Schluss kommen, dass sie ihren eigentlichen Zweck nicht erfüllen, es geeignetere Formen zur Aufgabenerfüllung oder mit der aktuellen Gestaltung keine Aussicht auf Erfolg gibt. d. Erstellen Sie einen konzertierten Sitzungskalender für Ihr SIF. Prüfen Sie, ob der Rhythmus, in dem das Unternehmen arbeitet, synchron zu seinen relevanten Umweltveränderungen getaktet ist.

16.3 Organigramm Schließlich sind wir beim Organigramm angelangt, von dem wir am Anfang des Buches in Abschn. 3.1 gesagt haben, dass man nicht mit ihm beginnen, sondern mit ihm aufhören soll. Das tun wir jetzt, indem wir das Organigramm anpassen, wo sich aus den Diagnoseschritten I und II, aus den Prüfungen des Steuerungsfunktionen-Diagramms und den Überlegungen zu den Stellen heraus Änderungen ergeben haben. Das Organigramm ist am Ende wichtig, weil es dem Mitarbeiter sagt, wo sein organisatorisches Zuhause ist, wer sein Chef ist, und wer seine Kollegen und Mitarbeiter sind. Es ist die erste Dimension des Organisierens, die im metaphorischen Sinne die anatomischen Einheiten des Organismus beschreibt.

266

16  Die Organisation verständlich machen (Schritt VII)

Abb. 16.2 Organigramme

Ihre Aussagekraft ist beschränkt, aber es gibt Möglichkeiten, ein Organigramm mit etwas mehr Information anzureichern (Abb. 16.2). Wir können beispielsweise die fünf Steuerungsfunktionen verwenden, um die Anatomie etwas zu klassifizieren. Nur schon die optische Unterscheidung zwischen operativen und unterstützenden Funktionen verdoppelt den Informationsgehalt jedes Organigramms sofort. Außerdem kann mit Leichtigkeit der Kunde oder der Leistungsempfänger in jedes Organigramm eingezeichnet werden, etwa so, wie wir bei unserem Steuerungsmodell die Umwelt einzeichnen. Mit etwas Kreativität werden nicht wertschöpfende Unterstützungsfunktionen logischerweise unterhalb der operativen Einheiten eingezeichnet, so dass sie auch optisch von unten her stützen, und wertschöpfende Unterstützungsfunktionen, die fachlich führen, seitlich oder darüber. Wir müssen uns aber im Klaren sein, dass wir nicht ein Steuerungssystem aufzeichnen, sondern ein mit Information angereichertes Organigramm. Namen können in die einzelnen Boxen hineingeschrieben werden, so dass die Ansprechpartner klar sind. Sofern wir Verantwortliche für die Systeme 2 bis 5 definiert haben, macht es Sinn, auch diese im ­Organigramm sichtbar zu machen, was zeichnerisch einfach ist. Selbst Organisationseinheiten wie Gremien, Ausschüsse, Komitees oder wichtige Sitzungen können ins Organigramm aufgenommen werden, wenn sie nach dem Abgleich mit dem Steuerungsfunktionen-­Diagramm und nach der Prüfung der einzelnen Stellen als relevant genug erachtet werden. Die Steuerung eines Unternehmens wird umso einfacher, je besser die Führungskräfte und Mitarbeiter über die eigene Organisation Bescheid wissen. Oder wie Stafford Beer zu Beginn dieses Teils zitiert wurde: „The amount of control is proportional to the amount of information the system has – about itself“. Die Digitalisierung eröffnet uns hier neue Möglichkeiten. Wir können das Viable System Model nicht nur als Denkwerkzeug verwenden, sondern auch als Navigationsoberfläche durch steuerungsrelevante Information hindurch. Die meisten Unternehmen besitzen heute keine guten Klassifikationssysteme für

16.3 Organigramm

267

Information. Das ist ein Problem, denn es ist einfacher etwas abzulegen, als es wiederzufinden. Wie oft kommt man nicht zeitgerecht an eigentlich verfügbare Information heran, weil man nicht weiß, wo sie zu finden ist, oder weil nur eine andere Organisationseinheit Zugang hat, oder weil die Information doppelt, falsch, veraltet oder in verschiedenen Versionen verfügbar ist. In keinem Werksbetrieb wird so unordentlich mit dem Rohstoff umgegangen, wie mit Information in den Wissensorganisationen. Ein Navigationssystem für Information muss den Komplexitätsgesetzen folgen, mit denen wir uns in Kap. 10 auseinandergesetzt haben. Es dämpft die Komplexität erstens durch das Rekursivitätsprinzip. Man weiß, auf welcher Rekursionsebene des Gesamtunternehmens etwas zu suchen ist. Ein zweites Mal dämpft es die Komplexität durch die fünf Steuerungs-Subsysteme auf überschaubare Größen herunter. Per Mausklick wählt also der Suchende zuerst die richtige Rekursionsebene aus, und dann darin das richtige Steuerungssubsystem entsprechend der Klassifikation in koordinative, optimierende, auditierende, aufklärende und identitätsstiftende Funktionen. Wir bleiben damit auch auf der Ebene der sieben plus/minus zwei überschaubaren Elemente und damit auf einem schnellen Suchpfad. Andererseits erhöht so ein Navigationssystem die Varietät des Suchenden. Es ist einfach, aber doch komplex. Ein weiterer Mausklick bringt ihn nämlich bereits zur tagesaktuellen Information über alles, was in diesem System an erfolgskritischen Aufgaben erfüllt wird. In einem System 3 werden beispielsweise Sitzungsprotokolle und Präsentationen abgelegt, im System 2 die koordinativen Informationen wie Regelungen, Listen, Pläne, Übersichten, im System 4 Kommunikationsunterlagen, strategische Pläne und Studien und im System 5 die Business Mission, die Policies, und so weiter. Dabei ist es wichtig, dass nicht eine Schattenablage von Information für dieses Navigationssystem aufgebaut wird, sondern dass dieses direkt mit den Daten verlinkt wird, wo immer sie abgelegt werden. Andere Systeme müssten nachgepflegt werden, wofür niemand Zeit hat. Sie veralten sofort. Wir stehen hier erst am Anfang der technischen Möglichkeiten. Die beste Technik nützt aber nichts, wenn das Navigationsmodell nichts taugt. Mit der Darstellung der Steuerungsorganisation haben wir nun alle sieben Schritte des Diagnose- und Gestaltungsprozesses durchlaufen. Wir haben Rekursionsebenen unterschieden, die Verflachung und Führbarkeit geprüft, die operativen Einheiten segmentiert und gestaltet, die Steuerungselemente mit Inhalt gefüllt, und die Kommunikationskanäle zwischen ihnen und zwischen höheren und tieferen Rekursionsebene geprüft. Zuletzt haben wir die Ergebnisse in Form eines Steuerungsfunktionen-Diagramms sowie mit Stellenbeschreibungen, einem Sitzungs-Kardiogramm und mit einem kampfwertgesteigerten Organigramm dargestellt. Wir sind bereit für die Umsetzung. Aufgaben

a. Gleichen Sie die aktualisierten Organisationseinheiten in Ihrem Steuerungsfunkti­ onen-­Diagramm mit den Organisationseinheiten ab, die Sie in Ihrem Organigramm finden. Passen Sie dieses an und ergänzen Sie es wo nötig. b. Nutzen Sie Gestaltungselemente in Anlehnung an das Viable System Model wie oben beschrieben, um Ihr Organigramm aussagekräftiger zu machen.

268

16  Die Organisation verständlich machen (Schritt VII)

Antwort auf die Frage in Abschn. 16.1: Was wir darstellen wollen, ist das Steuerungssystem unseres SIF mit seinen Systemen 2 bis 5. Das System 1 mit den operativen Einheiten ist das Objekt, nicht das Subjekt dieser Steuerung. Die operativen Einheiten im System 1 steuern sich selbst. Sie haben gemäß Rekursionsprinzip ihre eigenen Systeme 2 bis 5 und werden somit ihr eigenes Steuerungsfunktionen-Diagramm auf der tieferen Rekursionsebene erstellen. Deshalb werden die operativen Einheiten im Steue­ rungsfunktionen-­Diagramm des SIF nicht eingezeichnet.

Literatur 1. Pfiffner, Martin. 2010. Five experiences with the viable system model. Kybernetes 39(9/10, Emerald): 1615–1626. 2. Malik, Fredmund. 2006. Führen, Leisten, Leben. Wirksames Management für eine neue Zeit, 298–303. Frankfurt/New York: Campus.

Erfolgreich umsetzen

17

Das Umsetzen ist eine Disziplin, die nicht alle Unternehmen gleich gut beherrschen. Diejenigen, die es nicht gut können, verwenden meistens sehr viel Zeit auf die Analysephase. Sie machen Studien, starten Befragungen, erheben Statistiken und führen Workshops mit vielen Personen durch, weil sie ihre Entscheidungen selbstverständlich auf Fakten basieren und breit abstützen wollen. Etwas weniger Aufwand wird dann in der Optionenphase betrieben, in der die Gestaltungsmöglichkeiten ausgelotet werden. Und am wenigsten Aufwand investieren sie in die Planung und Gestaltung der Umsetzungsphase. Erst wenn die Pläne verabschiedet sind, beginnen sie über die Umsetzung nachzudenken und setzen nach den üblichen Maßstäben ein Projekt auf. Weil sie erst jetzt an das Umsetzen denken, haben sie bis hierher schon so viele Fehler gemacht, dass das Umsetzen harzig wird. Am Ende wird viel Papier produziert, aber es ändert sich wenig im Unternehmen. Es lohnt sich also, dem Umsetzen ein eigenes Kapitel zu widmen. Vor allem auch deshalb, weil es einige Spezifika gibt, die für die Umsetzung von Organisationsprojekten besonders wichtig sind. Grundsätzlich empfiehlt es sich, den Trichter umzukehren und am meisten Zeit und Aufwand in die Umsetzungsphase zu stecken. Empirische Evidenz ist wichtig, aber es sind die Denkmodelle in unseren Köpfen, die unsere Faktensuche lenken und eingrenzen, und die Empirie schließlich deuten und interpretieren. Wichtiger als eine breite und detaillierte Faktenlage ist deshalb die Arbeit mit den richtigen Diagnosemodellen. Sie grenzen den Suchradius für entscheidungsrelevante Information ein und lenken die Aufmerksamkeit auf die entscheidenden Fragen. Sofern man sich am Anfang eines Projektes mit Hilfe des Viable System Models auf die essenziellen Variablen konzentriert und somit gezielt vorgeht, können die oftmals sehr langen und ausführlichen Analysephasen wesentlich verkürzt werden. Abgesehen davon, dass ihr Nutzen im Endeffekt gering ist, weil noch detailliertere Fakten in den wirklich schwierigen Fragen keinen deutlichen Sicherheitsgewinn bringen, sind sie aufgrund der heutigen Dynamik umso schneller veraltet, je länger ihre

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Pfiffner, Die dritte Dimension des Organisierens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29247-8_17

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270

17  Erfolgreich umsetzen

Erstellung dauert. Wie auch der Steuermann auf dem Schiff im Nebel ohne genaue Fakten zu Position, Strömung und Azimut auskommen muss, kann auch unser Reorganisationsprozess weitgehend unabhängig von präzisen Fakten funktionieren. Es geht um die Richtung, nicht um die Präzision. Vieles kann und muss zu Beginn der Umsetzung noch offenbleiben. Das Ziel muss klar und die Eckwerte verbindlich sein, aber für den Ausbau darf kontinuierlich nachgesteuert werden. Wenn die Richtung stimmt, ergibt sich die Präzision mit der Zeit von selbst. Die Umsetzungsphase selbst braucht am meisten Zeit und Aufmerksamkeit. Die einzelnen Schritte in einem Reorganisationsprojekt müssen von Anfang an gut durchdacht und gestaltet und wirklich zu Ende geplant werden. Die erkennbaren Schwierigkeiten, Hürden und Hindernisse sollen nicht später gelöst, sondern vorweggenommen werden, damit sie gar nicht erst auftreten. Was ist also wann zu tun und an was muss man denken? Die folgenden Punkte haben sich in der Praxis bewährt.

17.1 Inkrementelle Veränderung oder Reorganisation? Am Ende einer Diagnose können zwei Arten von Resultaten vorliegen. Im ersten Fall haben die ersten beiden Diagnoseschritte ergeben, dass die Bausteine der Organisation grundsätzlich in Ordnung sind. Die Anzahl der Rekursionsebenen und die Segmentierung bleiben unverändert, und somit bleiben die operativen Einheiten dieselben. Dieser erste Fall ist unproblematisch, weil an der Organisation nur inkrementell, also in kleinen Schritten, und nur hier und dort etwas angepasst wird. Man kommt vielleicht zum Schluss, dass die Unternehmensaufsicht im aktuellen Modus die System 3–4 Balance nicht ausreichend beurteilen kann und ergreift eine Maßnahme zur Verbesserung. Man merkt vielleicht, dass ein Koordinationsmechanismus für das gemeinsame Lernen fehlt, oder man beschließt, dass ein altes Gremium nutzlos geworden ist und abgeschafft werden soll. Diese Maßnahmen sind einfach zu realisieren, und es braucht weder ein Projekt noch eine umfassende Kommunikation dazu. Dennoch müssen auch sie konsequent nachgehalten werden. Gerade die Abschaffung von organisatorischen Gefäßen, die eigentlich einfach erscheint, kann manchmal länger dauern und sich als schwieriger erweisen, als man erwarten würde. Der zweite Fall ist problematisch. Die Diagnoseschritte I und II haben ergeben, dass sich die Segmentierung ändern muss, oder dass gewisse Rekursionsebenen eliminiert oder aufgebaut werden müssen. In diesem Fall bleiben die Bausteine der Organisation nicht unverändert. Wir passen die Anatomie des Unternehmens an, und haben es nun mit einer Reorganisation zu tun. Dieser Fall ist problematisch, weil er die Funktionsweise des ganzen Unternehmens betrifft. Eine Vielzahl von Personen und Meinungen müssen unter einen Hut gebracht werden. Die Interessen einzelner Personen dürfen jetzt nicht mehr ignoriert werden, und für manches muss man Lösungen finden. Eine Reorganisation ist deshalb mit einem chirurgischen Eingriff in die Anatomie des Organismus vergleichbar – bei vollem Bewusstsein und ohne Betäubung. Im Unterschied zur Chirurgie ist bei der Reorganisation der Patient also hellwach, sieht, was auf ihn zukommt, und reagiert ­dementsprechend.

17.1  Inkrementelle Veränderung oder Reorganisation?

271

Da ein Umbau nicht wie bei einem Flugzeug in der Wartungshalle vorgenommen werden kann, sondern bei voller Flughöhe und Fluggeschwindigkeit, ist das eine anspruchsvolle Aufgabe, mit der die wenigsten Führungskräfte wirklich nutzbare Erfahrung haben. Sie haben im Laufe ihrer Karriere vielleicht zwei oder drei größere Reorganisationen miterlebt, vielleicht eine davon selber verantwortet, und die letzte Erfahrung liegt bestimmt schon Jahre zurück. Es ist damit zu rechnen, dass die Produktivität des Unternehmens während der gesamten Reorganisationsphase und etwas darüber hinaus sinken wird. Reorganisationen erhalten sofort von allen Mitarbeitern höchste Aufmerksamkeit, weil fast jeder davon in der einen oder anderen Form betroffen ist. Sie führen zu massiver Verunsicherung aufgrund von Ängsten, Missverständnissen und Falschinterpretationen. Nur schon das Wort „Reorganisation“ kann Tumult im Unternehmen verursachen, etwa weil man im angelsächsischen Sprachraum darunter üblicherweise die Entlassung einer größeren Zahl von Mitarbeitern versteht, und nicht unbedingt die Anpassung der Organisationsstruktur. Sobald die Mitarbeiter also über den „Flurfunk“ vernehmen, dass im Unternehmen reorganisiert wird, befassen sie sich nur noch mit sich selbst, anstatt mit dem Markt und mit den Kunden. Sie gehen alle Szenarien durch, die sie persönlich betreffen könnten, und sammeln alle verfügbaren und vermeintlichen Informationen, um Licht ins Dunkel zu bringen. Die Angst vor Veränderung bewirkt, dass Informationen im Zweifel eher negativ als positiv ausgelegt werden, und so beginnt die Gerüchteküche zu brodeln. Außerdem wächst die Gefahr von Intrigen mit der Dauer der Reorganisation. Je länger an den grundsätzlichen Entscheidungen gezweifelt wird, oder Unsicherheiten im Willen zur Implementierung sichtbar werden, desto mehr Gelegenheit gibt es für die Mitarbeiter, die Resultate vielleicht zu ihren eigenen Gunsten kippen oder mindestens beeinflussen zu können. Für die Stimmung im Unternehmen und die Motivation der Mannschaft ist so eine Phase tödlich. Die Erfolgschancen einer Reorganisation sind deshalb höher, wenn es uns gelingt, ihre Dauer zu verkürzen. Von den ersten Diskussionen bis zur Scharfstellung einer neuen Organisation darf auch in großen Unternehmen nicht viel mehr als ein halbes Jahr vergehen. Stattdessen hat wohl jeder Praktiker schon Reorganisationen erlebt, die sich über Jahre hinziehen. In einem großen Unternehmen der europäischen Luft- und Raumfahrtindustrie haben die Mitarbeiter ihr Reorganisationsprojekt inoffiziell „Dolores“ – die Schmerzensreiche – getauft, als auch nach zwei Jahren immer noch kein Ende in Sicht war. Wir haben bereits im Kap. 4 darüber gesprochen, dass die Struktur und die Kultur eng zusammenhängen. Jede Strukturveränderung hat ihre eigenen Auswirkungen auf die Kultur des Unternehmens, die sich aber insgesamt nur schwer bewegen oder verändern lässt. Zum Glück ist das auch gar nicht nötig, weil wir nicht die Kultur als Ganzes verändern müssen, sondern nur einzelne, konkrete Verhaltensweisen. Das ist möglich, indem sie über eine längere Zeit hinweg eingeübt und immer wieder nachgehalten werden. Das braucht Zeit und Geduld. Im Zusammenhang zwischen der Struktur und der Kultur geht es aber noch viel mehr um die Frage, ob man grundsätzlich die für diese Struktur benötigten Leute hat und welche Leute man möglicherweise verlieren könnte, wenn man sie umsetzt.

272

17  Erfolgreich umsetzen

Nicht jeder Mensch macht alles mit. Die kritische Frage, die wir uns am Ende von Dia­ gnoseschritt II deshalb stellen müssen, ist die nach den Menschen: Haben wir genügend und haben wir die richtigen Führungskräfte, um die neue Organisation zu implementieren? Die beste Struktur nützt uns nichts, wenn wir dadurch zu viele Schlüsselpersonen und Kompetenz verlieren oder am Ende gar nicht genügend Führungskräfte haben, um die Struktur zum Leben zu erwecken. Wenn wir es also nicht mit einer inkrementellen Veränderung, sondern einer echten Reorganisation zu tun haben, müssen wir irgendwie die richtige Balance finden zwischen der Struktur, die das Geschäft erfordert, und dem, was die Menschen können und wollen.

17.2 Person versus Sache Mit etwas Glück hat man die Führungskräfte zur Verfügung, die man für die neue Struktur braucht. Normalerweise hat man sie nicht. Soll man in diesem Fall die Organisation um die verfügbaren Leute herum bauen, oder soll man auf der richtigen Organisation beharren, selbst wenn man dadurch Schlüsselpersonen verliert oder Stellen nicht besetzen kann? Es geht um den Konflikt zwischen Person und Sache, beziehungsweise um die Frage, was richtig für das Unternehmen und was richtig für den einzelnen Mitarbeiter ist. Beide Seiten sind wichtig und die Gleichung ist schwierig zu lösen. Im Abschn. 3.6 wurde argumentiert, warum es ein Fehler ist, mit den Menschen zu beginnen. Wir haben deshalb zum Start unserer Organisationsdiagnose den Blick nur nach außen gerichtet und uns mit dem Zweck und den Kunden beziehungsweise den Leistungsempfängern des Unternehmens befasst. Wir haben uns als Erstes die Frage gestellt, was richtig ist für das Unternehmen und seine Kunden. Gleichzeitig wissen wir, dass es ohne die richtigen Leute nicht gehen wird. Wie kommen wir also zum richtigen Kompromiss? Die Abb. 17.1 geht auf Walter Krieg zurück, einen der Urväter des St. Galler Management Modells. Sie zeigt, dass der Weg von der IST-Organi­

Abb. 17.1  Person oder Sache? Die richtige Reihenfolge!

17.2  Person versus Sache

273

sation zur ZIEL-Organisation, die am Ende realisiert wird, nicht direkt verläuft, sondern über eine SOLL-Organisation. Das ist die Organisation, die „ad rem“ (lateinisch: von der Sache her gesehen) als richtig beurteilt wird. Das Unternehmen erfüllt seinen Zweck beim Kunden und nicht beim Mitarbeiter. Deshalb ist grundsätzlich die Organisation vorzuziehen, die den Kunden bestmöglich bedient. Seine Bedürfnisse und nicht die des Mitarbeiters stehen im Vordergrund und deshalb bestimmen sie die SOLL-­Organisation. Diese SOLL-Organisation haben wir in den Diagnoseschritten I und II herausgearbeitet. Damit setzen wir einen Orientierungspunkt. Erst wenn wir ihn gefunden haben, fragen wir uns, ob diese Organisation auch „ad personam“, also unter Berücksichtigung der Menschen, als richtig beurteilt werden kann. In den meisten Fällen kann sie das nicht, und es müssen Kompromisse gemacht werden. Genau dazu müssen wir das Ideal der SOLL-Organisaiton kennen: Um aus allen möglichen Kompromissen denjenigen auszuwählen, der uns dem Ideal am nächsten bringt. Das ist der gute Kompromiss im Unterschied zu vielen schlechten Kompromissen, die vielleicht auch möglich wären, aber uns weiter weg vom Ideal bringen. Dieser Kompromiss ist schliesslich die ZIEL-Organisation, die wir implementieren werden. Wir zwingen uns deshalb in den Diagnoseschritten I und II, zuerst einmal nicht an konkrete Personen zu denken und auch unsere persönlichen Interessen soweit möglich für einen Moment außer Acht zu lassen, im Wissen, dass wir uns um diese Fragen früher oder später gründlich kümmern werden. Am Ende von Schritt II zeichnen wir unsere von der Sache her entwickelte SOLL-Organisation auf und fragen uns, mit welchen Personen wir die Schlüsselpositionen besetzen. Die erste Frage ist nun, ob wir überhaupt genügend Führungskräfte haben, um alle benötigten Schlüsselpositionen zu besetzen, respektive wie lange es dauern kann, um sie aufzubauen oder zu finden. Gewisse Positionen können für eine beschränkte Zeit in Personalunion von anderen Führungskräften ausgeübt werden. Mittelfristig müssen aber alle Schlüsselpositionen besetzt werden können, weil sich das Unternehmen sonst stranguliert. Die zweite Frage dreht sich um die einzelnen Personen und ihre individuelle Situation. Jede namhafte Änderung produziert Gewinner und Verlierer. Mit den Gewinnern hat man normalerweise keine Probleme, also stellt sich die Frage, welche Führungskräfte durch die Änderung etwas verlieren, oder zumindest sich selber als Verlierer sehen könnten? Unter diesen Personen gibt es einige, die unproblematisch sind, entweder weil sich herausstellt, dass sie sich selber tatsächlich gar nicht als Verlierer sehen, wenn man mit ihnen spricht. Oder sie sind unproblematisch, weil das Unternehmen den Verlust ihrer Kompetenzen verkraften könnte. Die Verbleibenden sind kritische Schlüsselpersonen, mit denen im persönlichen Gespräch Lösungen gefunden werden müssen. Wo man letztlich keine Lösungen für kritische Schlüsselpersonen findet, oder andererseits Schlüsselpositionen nicht besetzen kann, lässt sich die SOLL-Organisation nicht oder noch nicht umsetzen. Eine ZIEL-Organisation ist meistens ein Zwischenschritt, dem weitere Annäherungen an die SOLL-Organisation folgen, sobald gewisse Kompromisse nicht mehr nötig sind oder Problemfälle sich von selbst gelöst haben. Diese weiteren Zwischenschritte stellen dann keine eigene Reorganisation mehr dar, sondern nur mehr inkrementelle Veränderungen, die unkritisch zu implementieren sind. ZIEL- und SOLL-Organisation dürfen aber

274

17  Erfolgreich umsetzen

nicht zu weit auseinanderliegen. Wenn sie es täten, hätte man zu viele Kompromisse eingehen müssen und der Aufwand einer Reorganisation würde sich erübrigen, weil man damit die Vorteile der Änderung nicht wirklich nutzen kann. Diese Überlegungen finden also nach dem Diagnoseschritt II statt, bevor wir mit den zukünftigen Bausteinen der ZIEL-Organisation im Schritt III weiterarbeiten. Es ist gut möglich, dass man an dieser Stelle zum Schluss kommt, dass die IST-Organisation passt oder dass man mit einer Reorganisation vor dem Hintergrund der nötigen Kompromisse keine wesentlichen Verbesserungen erzielen könnte. In diesem Fall diagnostizieren wir das Steuerungssystem mit den heutigen Bausteinen weiter und konzentrieren uns auf den Ausbau und die Verbesserung desselben. Wie eingangs erwähnt, haben wir es dann mit inkrementellen und unproblematischen Änderungen an der Organisation zu tun, die auch ohne die folgenden Umsetzungsphasen und Erfolgsfaktoren umgesetzt werden können.

17.3 Vier Umsetzungsphasen Wenn wir aber wirklich reorganisieren müssen, ist die richtige Gestaltung der Umsetzungsphasen und der Kommunikation in diesen Phasen entscheidend. In der Praxis hat sich eine Vorgehensweise in vier Phasen bewährt, wie sie in Tab. 17.1 gezeigt wird. Die Dauer der einzelnen Phasen und die Anzahl einbezogener Personen kann je nach Größe des Unternehmens von diesem Standard abweichen. Aber selbst in großen Unternehmen muss die Reorganisation in der Wahrnehmung der Mitarbeiter nicht länger als neun ­Monate dauern, von der ersten Mitteilung bis zum Abschluss des Umsetzungsprojektes. Und neun Monate „Schwangerschaftszeit“ werden natürlicherweise auch von jedermann akzeptiert, wenn etwas mit Hand und Fuß dabei herauskommen soll. Tab. 17.1  Vier Umsetzungsphasen was

mit wem

Kommunikation

0RQDWH

(UDUEHLWXQJGHU62// XQGGHU=,(/ 2UJDQLVDWLRQELVXQGPLW 'LDJQRVHVFKULWW,9

.HUQWHDP ದ 3HUVRQHQ

.HLQH

7DJH

'LVNXVVLRQXQG9HUIHLQHUXQJGHU =,(/2UJDQLVDWLRQXQGGHU9HUWHLOXQJ HUIROJVNULWLVFKHU$XIJDEHQ ]HQWUDO YVGH]HQWUDO

.HUQWHDPSOXV 6FKO¾VVHO SHUVRQHQ

.XU]PLWWHLOXQJDQ GDVJHVDPWH 8QWHUQHKPHQ

'LDJQRVHVFKULWWH9ELV9,,XQG 9RUEHUHLWXQJGHU,PSOHPHQWLHUXQJ

.HUQWHDP

Phase

Dauer

A

B

C

0RQDWH

ದ 3HUVRQHQ 8SGDWHVI¾U 6FKO¾VVHOSHUVRQHQ

Scharfstellung der ZIEL-Organisation D

0RQDWH

,PSOHPHQWLHUXQJXQG)HLQMXVWLHUXQJ

.HUQWHDPSOXV /LQLHQYHUDQW ZRUWOLFKH

$XVI¾KUOLFKI¾UGDV JHVDPWH 8QWHUQHKPHQ

17.3  Vier Umsetzungsphasen

275

In der Phase A gibt es noch kein Reorganisationsprojekt. Es wurde eine Organisationsdiagnose gestartet um herauszufinden, ob ein solches überhaupt nötig ist. Diese Diagnose sollte man nicht nur alleine für sich selbst machen, sondern in einem kleinen Team von drei bis fünf vertrauten Personen, die zusammen das Geschäft ausreichend gut kennen und das Projekt, sofern es eines geben wird, bis zum Ende als Kernteam und später als Lenkungsausschuss zum Abschluss bringen können. Wir brauchen diese verschiedenen Blickwinkel und die unterschiedlichen Meinungen, um Gehalt und Tiefe in die Überlegungen hineinzubringen. Dieses Kernteam durchläuft gemeinsam die Diagnoseschritte I und II und erarbeitet die SOLL-Organisation (vgl. Abb. 17.1). Anschließend wird diese Organisation „ad personam“ geprüft: Gibt es kritische Schlüsselpersonen und können wir alle Stellen in angemessener Zeit besetzen? Was sonst könnte diese SOLL-Organisation grundsätzlich gefährden oder in Frage stellen? Wenn dieser Punkt nach etwa ein bis zwei Monaten erreicht ist, muss und kann entschieden werden, ob man a. die Diskussion um die Organisationsstruktur wieder stoppt. Man hat inzwischen herausgefunden, dass mit einer Veränderung keine wesentliche Verbesserung zu erzielen ist, dass man die zur Veränderung nötigen Leute nicht hat, oder dass man damit zu viele kritische Schlüsselpersonen verlieren würde. Es darf deshalb bis zu diesem Punkt auch noch nichts kommuniziert werden, weil eine Kommunikation das Unternehmen nur unnötigerweise verunsichern würde. Drei bis fünf vertraute Personen können sich während zwei bis drei Monaten ein paar Mal zu einem halbtätigen Meeting treffen, ohne dass das im Unternehmen bereits zum Thema wird. b. bei der IST-Organisation bleibt, aber die Diagnose für die Verbesserung der Steuerungsorganisation zu Ende führt. In diesem Fall haben wir es mit unproblematischen, inkrementellen Veränderungen zu tun, die das Kernteam in Eigenregie diagnostizieren, gestalten und umsetzen kann. Das Kernteam erarbeitet auf Basis der IST-Organisation gemeinsam alle weiteren Diagnoseschritte III bis VII. Die Phase B wird übersprungen, da in diesem Fall weder das Committment noch das Wissen einer größeren Anzahl von Kollegen für die restlichen Diagnoseschritte nötig sind. Es empfiehlt sich, die Mitarbeiter in einer knapp gehaltenen Mitteilung darüber zu informieren, dass man die Steuerungsorganisation für ein besseres Funktionieren des Unternehmens an einzelnen, ­gezielten Stellen verbessern und Lücken schließen will. Man beugt damit der Gerüchteküche vor, die sich ab diesem Zeitpunkt trotz aller Geheimhaltung nicht mehr vermeiden lässt. Die ersten Informationen sind durchgesickert und wurden mit Sicherheit falsch und negativ interpretiert. Es ist deshalb wichtig, die Kommunikation in der eigenen Hand zu behalten und aktiv zu steuern. c. die IST-Organisation anpassen muss und die erwarteten Verbesserungen den Aufwand und die Mühen einer Reorganisation rechtfertigen. Falls reorganisiert wird, muss entschieden werden, welche Kompromisse man „ad personam“ eingeht und wie deshalb die ZIEL-Organisation aussieht. Das Kernteam erarbeitet auf dieser Basis die Diagnoseschritte III und IV. Nur in diesem Fall geht es weiter mit der Phase B.

276

17  Erfolgreich umsetzen

Ab jetzt haben wir es mit einer Reorganisation zu tun. Wir müssen uns überlegen, wen wir wozu, wie und zu welchem Zeitpunkt in die Diskussion mit einbeziehen. Bisher wurde erst das Kernteam involviert. Zum Start der Phase B wissen wir, wie viele Rekursionsebenen das Unternehmen in Zukunft haben wird und wie diese segmentiert sein werden. Das entspricht dem Rohbau des Hauses. Wir kennen das Fundament, die Anzahl Stockwerke und die Zimmer pro Stockwerk. Was wir als nächstes benötigen, ist der Feinausbau und das Committment der Personen, die diese Zimmer dereinst bewohnen werden. Wir müssen deshalb jetzt diejenigen Personen im Unternehmen einbeziehen, die wir für diese zukünftigen Schlüsselpositionen vorsehen, und wir müssen zusätzliches Wissen in die Lösung einbinden, um möglichst viele weiße Flecken und möglichst viele Konsequenzen der neuen Organisation aufzudecken, an die man selber bisher noch nicht gedacht hat. Wir suchen in der Phase B eine relativ breit abgestützte „High Variety“-Diskussion und wir suchen gezielt den Dissens, weil nachhaltige Lösungen nur über ausgetragenen Dissens und nicht über den vorschnellen Konsens entstehen. Wenn man eine Liste dieser Schlüsselpersonen erstellt, kommt man in den meisten Fällen auf zwanzig bis dreißig Personen aus allen unterschiedlichen Funktionen und Rekursionsebenen des Unternehmens. Gemeinsam mit dem Kernteam ist das die Gruppe von Personen im Unternehmen, die wir für die neue Lösung gewinnen müssen und die wir die Lösung deshalb mitgestalten lassen. Die Umsetzung einer Änderung kann nur dann gelingen, wenn eine kritische Anzahl von Schlüsselpersonen und Meinungsmachern im Unternehmen dahinterstehen und sie wirklich wollen. Wir müssen eine tragfähige Führungskoalition schaffen und sicherstellen, dass die betroffenen Schlüsselpersonen die Notwendigkeit und den Sinn der Reorganisation verstehen, weil sie es sind, die entweder die Umsetzung voranbringen, oder später nur beweisen wollen, warum es nicht geht. Die Eckwerte der neuen Organisation, die wir mit den Schritten I und II gestaltet haben, wollen wir hingegen nicht diskutieren lassen. Sie werden verbindlich vorgegeben. Wir haben in diesen beiden Schritten unter Kenntnis der normativen Leitplanken die Kundengerechtigkeit und die Strategiegerechtigkeit der Organisation gezielt gestaltet, mit der Methode des Varietätsengineerings die Verflachung und Führbarkeit geprüft, und wir wissen, dass wir über die nötigen Leute für die Umsetzung verfügen. Wir kommunizieren und begründen den definierten Schlüsselpersonen die Notwendigkeit zur Veränderung der IST-Organisation mit eben diesen Punkten. Wir zeigen ihnen auch die Resultate unserer Schritte III und IV und schlagen ihnen damit vor, welche erfolgskritischen Aufgaben in Zukunft von welcher Rekursionsebene (Zentral vs Dezentral) erfüllt werden sollen. Auf dieser Basis sollen die Schlüsselpersonen mit dem Kernteam zusammen diskutieren, wo sie die schwierigsten Hindernisse und die größten Barrieren sehen – und dann sollen sie auch gleich die Lösungen dazu gemeinsam erarbeiten – denn dafür werden Führungskräfte schließlich bezahlt. Abgesehen von den vorgegebenen Eckwerten darf in diesem Stadium und von diesen Leuten alles in Frage gestellt werden, sofern es dazu bessere Ideen gibt. In welcher Form man diese Schlüsselpersonen einbezieht ist grundsätzlich offen. Sie muss aber geeignet sein, innerhalb von wenigen Tagen in einem konzentrierten Event konkrete Lösungen und Commitment zu erzeugen. Die meisten konventionellen

17.3  Vier Umsetzungsphasen

277

Methoden tun das nicht. Sie dauern zu lange und produzieren zu wenig Resultate. Ein möglicher und bewährter Weg ist die in Abschn. 19.1 vorgestellte Methode, die Stafford Beer für den Balanceakt zwischen System 3 und 4 entwickelt hat. Eine gute Protokollierung der Diskussionen ist in der Phase B auf jedem Fall wichtig, damit man die wesentlichen Argumente und die guten Ideen, die während den Diskussionen ungeplant aufblitzen, nicht wieder verliert und sie für die spätere, umfangreiche Kommunikation zur neuen Struktur an alle Mitarbeiter nutzen kann. Da wir inzwischen mehr als nur eine Handvoll Personen einbezogen und eingeweiht haben, ist davon auszugehen, dass die Information über eine Reorganisation im Unternehmen angekommen ist, selbst wenn um vorläufige Diskretion gebeten wurde. Es ist eine alte Erfahrung von Journalisten und Geheimdiensten, dass spätestens ab fünf Personen nichts mehr geheim bleiben kann. Deshalb ist es jetzt wichtig, aus erster Hand alle Mitarbeiter direkt zu informieren, woran gearbeitet wird, wer dazu einbezogen wurde, und wann weitere Informationen zu erwarten sind. Inhalte oder Lösungen werden in dieser Phase noch nicht kommuniziert, weil sie zwar im Grundsatz vorliegen, aber noch nicht in ihrer definitiven Form beschlossen wurden. Diese Kommunikation wird in der Phase C vor der Scharfstellung der Organisation als Teil der Umsetzungsvorbereitungen erarbeitet. Die in Phase B entwickelten Verfeinerungen der Eckwerte und erarbeiteten Problemlösungen werden jetzt weiter detailliert und zur Entscheidung geführt. Diese Arbeiten können nun wieder durch das Kernteam selbst erledigt werden, wo nötig mit Verstärkung von einzelnen Schlüsselpersonen aus der Phase B. Phase C dauert normalerweise auch etwa drei Monate, weil die Implementierungsphase gründlich vorbereitet sein will. Es werden Maßnahmen-Pakete geschnürt, Prioritäten gesetzt, die Umsetzungsorganisation gestaltet und das Kommunikationskonzept für die Implementierung vorbereitet. Üblicherweise werden auch jetzt noch Gespräche mit einzelnen Personen geführt, um die noch offen gebliebenen Stellen zu besetzen. Die Kommunikation in Phase C beschränkt sich im Übrigen auf gelegentliche Updates für die Schüsselpersonen aus der Phase B. So gut die Implementierung auch vorbereitet wird, gibt es immer noch viele Themen, die man vorläufig offenlassen muss, weil es noch keine Lösung oder Antwort dazu gibt, oder weil man sie zuerst einmal in einem Pilot ausprobieren muss. Daneben gibt es Themen, die man überhaupt erst dann erkennen und erfassen kann, wenn man für einige Zeit in der neuen Organisation gearbeitet hat. An den in Phase A gesetzten Eckwerten müssen wir aber festhalten, weil Unsicherheiten in den Eckwerten das Tor zu Verzögerungen, Einflüsterungsversuchen und Intrigen öffnen, und damit die Reorganisation gefährden. Erfahrene Mitarbeiter können solche Unsicherheiten sofort riechen. Schließlich kommt der Tag, an dem Phase D beginnt und man den Hebel umlegen muss. Wir haben lange nachgedacht, und müssen jetzt schnell handeln. An diesem Tag wird die alte Organisation abgeschafft und die neue ins Leben gerufen. Die Einführung sollte schlagartig und nicht scheibchenweise, sozusagen mit Schleifkupplung erfolgen, wie man das zu oft beobachtet. Für die Mitarbeiter muss verbindlich und klar sein, was gilt. Wenn sie hingegen teilweise noch in der alten und teilweise schon in der neuen Organisation arbeiten sollen, schafft das Verwirrung, und sie werden sich

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17  Erfolgreich umsetzen

bei jeder Verunsicherung in das Alte zurück flüchten. Wer Neues einführen will, muss dazu das Alte definitiv aus der Welt schaffen. Auch wenn zum Zeitpunkt der Scharfstellung der neuen Organisation noch vieles offen bleiben muss, kann sie doch gestartet werden. Die neuen Verantwortlichen sollen dadurch in den Fahrersitz gehoben werden, damit sie die verbleibenden Lücken während der folgenden sechsmonatigen Implementierungsphase schließen. Es ist die Zeit, in der detailliert ausprobiert, gelernt, feinjustiert und korrigiert wird. Nach diesen sechs Monaten sollte das Umsetzungsprojekt abgeschlossen werden. Für alle noch offenen Punkte gelten ab dann die normalen Entscheidungswege in der neuen Organisation. Andernfalls werden aus Reorganisationsprojekten endlose Exkursionen. Die Kommunikation in der Phase D ist entscheidend. Mit ihrem Start muss den Mitarbeitern möglichst gleichzeitig und alle Hierarchien überspringend aus erster Hand klar gemacht werden, warum man die Organisation ändert, welche Ziele man damit verfolgt, und wie die neue Organisation vom Grundsatz her funktionieren soll. Am Ende der Phase D und ab Schritt VII stehen dazu die Organigramme, die Steuerungsfunktionen-­Diagramme und die Stellenbeschreibungen zur Verfügung. Die Anforderungen an gute Kommunikation, wie sie in Kap. 15 beschrieben wurden, gelten auch hier. Die beliebte wasserfallartige Kommunikation, bei der die Geschäftsleitung die Divisionsleitungen, diese die Abteilungsleitungen, diese die Teamleitungen und diese am Ende die Mitarbeiter informieren, muss vermieden werden. Sie dauert zu lange und am Schluss kommt etwas anderes an, als das was gemeint war. Die guten Kommunikatoren kommunizieren direkt, und sie achten genau auf die Wahl des geeigneten Kommunikationskanals. Sie überlegen lange, wie sie sich beim Empfänger am besten verständlich machen können, und studieren die möglichen Missverständnisse, die auftreten könnten, um sie von Anfang an zu vermeiden. Sie beginnen mit den unbestrittenen Dingen, rechtfertigen nicht und schauen nicht zurück, sondern sie betonen die Ziele und den neuen Modus. Sie legen die Kommunikation auf die gesamte Dauer der Implementierungsphase an und kommunizieren kontinuierlich in wöchentlichen, kleinen und verdaubaren Tranchen immer wieder das Gesamtbild. Sie machen sobald wie möglich erste Erfolge sichtbar, um der Umsetzung Rückenwind zu geben. Und schließlich achten sie darauf, dass auch hier die Kommunikation in beide Richtungen erfolgt. Der Lenkungsausschuss (üblicherweise der Vorstand selbst) muss erfahren, was noch nicht funktioniert, wo es Missverständnisse oder Fehlentwicklungen gibt, und er muss Vertrauen schaffen, indem er zuhört. Er schafft sich neben einem wirksamen Umsetzungscontrolling dazu ein geeignetes System 3* und einen algedonischen Kanal im Umsetzungsprojekt.

17.4 Vier Erfolgsfaktoren Es sind vier Erfolgsfaktoren, auf die umsetzungsstarke Führungskräfte besonders achten. Neben der Berücksichtigung dieser Punkte braucht es für den Erfolg nicht mehr, aber auch nicht weniger, als das übliche Handwerkszeug für gutes Projektmanagement.

17.4  Vier Erfolgsfaktoren

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Das Führungs- und Incentivierungssystem anpassen Gerade in der Umsetzungsphase ist der Grundsatz „Steuern was steuert“ wichtig. Das Verhalten der Führungskräfte und Mitarbeiter wird neben dem Kunden am meisten durch die Person gesteuert, die am Ende des Jahres über ihr Gehalt, ihren Bonus und ihre Weiterentwicklung entscheidet. Wer mit wem seine Leistung bespricht und wer über wessen Karriere entscheidet, ist für die meisten Menschen in den meisten Unternehmen eine relevante Frage. Sie tun normalerweise das, was ihr Chef von ihnen erwartet. Das ist der Steuerungsmechanismus, den wir also steuern müssen. Wir haben die Anatomie an eine neue, dominante Steuerungsdimension angepasst. Jetzt müssen wir über diese Dimension tatsächlich auch steuern und die Neurologie darauf ausrichten. Wenn wir beispielsweise von einem funktional gegliederten System 1 auf eine regionale Gliederung übergegangen sind, müssen der strategische und der operative Planungsprozess in der gleichen Dimension erfolgen, also ebenfalls in den Regionen. Es sind dann die Regionalleitungen und nicht mehr die Funktionalbereiche, die mit den Mitarbeitern in den Operationen die Ziele vereinbaren und deren Leistung beurteilen. Über die Anpassung der Führungsprozesse etablieren wir die im Steuerungssystem vorgesehenen Negative Feedback-Loops. Die Verantwortlichen sollen die Folgen ihres Handelns in ihren neuen Freiräumen und Verantwortungsgebieten im positiven wie auch im negativen Sinne spüren. Je stärker wir sie an ihrem eigenen Erfolg beteiligen können (und damit ist auch, aber nicht nur, Geld gemeint) desto mehr schaffen wir neben schnellem Change auch die Kultur des Unternehmertums, die unsere Zeit erfordert, und Motivation für gute Leute. Der schnellste und wirksamste Weg zur Umsetzung von Organisationsänderungen ist deshalb die sofortige Anpassung des Führungs- und Incentivierungssystems an die neue, dominante Steuerungsdimension. Eine neue Anatomie kommt nur dann zum Leben, wenn sie richtig innerviert wird. Wir finden die Vernachlässigung der Neurologie in Abschn. 3.10 deshalb unter den Kardinalfehlern des Organisierens. Ziehen statt stoßen: Das Prinzip „Powers Reserved“ [1] Umsetzungsstarke Führungskräfte verlangen, dass der Handlungsspielraum, den die neuen Verantwortlichen mit der Reorganisation erhalten, tatsächlich auch ausgenutzt wird. Sie wissen, dass es einfacher ist, ihre Leute wo nötig etwas zu zügeln, als sie stoßen zu müssen. Wenn jemand seine Kompetenzen überschreitet, merkt man das normalerweise relativ schnell, und man kann handeln. Wenn jemand seinen Handlungsspielraum hingegen nicht nutzt und untätig bleibt, merkt man das unter Umständen erst, nachdem viel wertvolle Zeit verloren wurde. Deshalb etablieren sie ab dem ersten Umsetzungstag das Prinzip „Powers Reserved“: Erlaubt ist, was nicht verboten ist. Die Entscheidungsvorbehalte werden in den Stellenbeschreibungen für jede Rekursionsebene und für jede Organisationseinheit definiert. Alles andere soll subsidiär entschieden werden. Es gibt Unternehmen, in denen das umgekehrte Prinzip gelebt wird: Erlaubt ist nur das, was auch explizit erlaubt wurde. Wer die wesentlichen Prinzipien des richtigen Umgangs mit Komplexität verstanden hat, erkennt sofort den Fehler. Es ist eine Idee, die in den alten, deterministischen, trivialen Organisationen funktioniert hat, aber in unseren komplexen Organisationen der neuen

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17  Erfolgreich umsetzen

Welt fehl am Platz ist. Gerade in Unternehmen, in denen die Führungskräfte bisher nur auf Anweisungen des Vorstandes gewartet haben, muss deshalb umso klarer kommuniziert werden: Was nicht verboten ist, ist erlaubt. Andernfalls passiert gar nichts. Vertrauen schaffen [2] Drittens achten sie besonders auf die Qualität der Kommunikation in allen Dimensionen. Sie achten darauf, dass ihre Botschaften auf genügend starken Kommunikationskanälen gesendet werden, dass sie gehaltvoll und verständlich sind, und sie achten beim Kommunizieren auf die Zeitachse. Sie vergewissern sich, ob sie richtig verstanden wurden. Und vor allem achten sie darauf, dass sie nicht nur reden, sondern auch zuhören. Sie schaffen einen algedonischen Kanal, über den sie einen Kontakt zu jedem Mitarbeiter herstellen und über den sie Signale empfangen können. Sie schaffen Vertrauen in ihrer Mannschaft, indem sie ansprechbar sind und zuhören, aber auch indem sie meinen, was sie sagen und damit Integrität zeigen. Sie sind fair und spielen keine Verliererspiele mit ihren Mitarbeitern. Sie verzichten auf Mechanismen, bei denen die Mitarbeiter gar keine Chance haben zu gewinnen. Und sie argumentieren hart in der Sache, aber weich in der Beziehung. Langer Atem und positives Denken Schließlich legen umsetzungsstarke Führungskräfte die richtige Einstellung an den Tag und verlangen das auch von ihren Mitarbeitern. Sie denken nicht optimistisch, sondern realistisch, aber sie versuchen, positiv zu denken. Im Laufe ihrer Karriere haben sie gelernt, aus den zehnt Prozent Erfolgserlebnissen, die sie jeden Tag haben, genügend Kraft zu schöpfen, um die neunzig Prozent Ärger ertragen zu können, die sie ebenfalls jeden Tag haben. Sie konzentrieren sich auf die positiven Dinge und zwingen sich dazu, in allen Problemen und Schwierigkeiten immer auch die unerwartete Chance zu finden. Sie verstärken die Dinge, die besser laufen als erwartet. Sie akzeptieren, dass es keine Veränderung ohne Widerstand gibt, und sie wissen, dass es immer eine kleine Zahl von klaren Befürwortern der neuen Lösung geben wird, eine ebenso kleine Zahl von klaren Gegnern, und eine große Zahl von Mitarbeitern, die das so sehen, wie es der sechzigjährige, bärtige, bayrische Ingenieur in seinem Reorganisationsprojekt ausdrückte: „Schaungmer mal, dann wermer scho sehn“. Diese Mitarbeiter sind mehr oder weniger indifferent und warten ab, was passiert. Umsetzungserfahrene Führungskräfte schenken deshalb der kleinen Zahl von expliziten Gegnern nicht zu viel Aufmerksamkeit, weil sie nicht das Signal aussenden wollen, dass es sich lohnt, dagegen zu sein. Sie wissen, dass sie selbst, ihre Führungsmannschaft und ihre Mitarbeiter die psychologischen Phasen des Widerstandes, der ­Verunsicherung, der Neuorientierung und der Festigung im Neuen durchlaufen werden. Und gerade, weil sie das wissen, haben sie einen genügend langen Atem, um alle Phasen auch aushalten zu können. Sie stellen sich darauf ein, dass sich konkrete, jahrelang eingeübte Verhaltensweisen nicht von heute auf morgen ändern und sie sehen in der Tatsache, dass viele im Unternehmen noch Mühe mit der neuen Situation bekunden, einen Beweis dafür, dass sie einen „Change“ erleben, der eine wirkliche Veränderung bringt. Schließlich versuchen sie so schnell wie möglich das Beispiel zu finden, das beweist, dass es geht.

Literatur

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Wirksamer als Präsentationen sind Menschen, die es vormachen, denn was einer kann, können andere auch. Die Briten Alcock und Brown zeigten 1919, dass man nonstop über den Atlantik fliegen kann, ein paar Jahre später tat es auch der „Flying Fool“ Charles Lindbergh und nochmals ein paar Jahre später startete die Pan Am bereits die erste transatlantische Fluglinie. Und kurz nachdem Reinhold Messner und Peter Habeler den Mount Everest zum ersten Mal ohne Sauerstoff bestiegen haben, gab es viele andere Bergsteiger, die das auf einmal auch konnten.

Literatur 1. Bleicher, Knut. 1981. Organisation – Formen und Modelle, 361. Wiesbaden: Gabler. 2. Malik, Fredmund. 2006. Führen, Leisten, Leben. Wirksames Management für eine neue Zeit, 147–156. Frankfurt/New York: Campus.

Schnelldiagnosen

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Das Erkennen von Mustern ist eine Schlüsselfähigkeit wirksamer Führungskräfte. In alltäglichen Gesprächen, Meetings und Beobachtungen schätzen sie eine Situation nicht auf Basis von Analysen ein, sondern sie erkennen Muster aufgrund ihrer Erfahrung, ohne lange darüber nachdenken zu müssen. Wenn sie über genügend Erfahrung verfügen, sind diese Einschätzungen meistens richtig, oder sie treffen wenigstens den wesentlichen Punkt. Erfahrung bedeutet, dass sich erlebte und gelernte Muster über die Zeit hinweg im Kopf zu einem Modell verdichten, mit dem wir uns die Welt erklären. Wann immer wir eine Sache beobachten, verstehen und erklären, tun wir das mit Hilfe des Modells, das wir von dieser Sache im Kopf haben. Darin liegt auch eine Gefahr, denn lieber zweifeln wir an unseren Beobachtungen, die nicht in unser Modell hineinpassen, als dass wir das Modell hinterfragen. Wie oft pressen wir beispielsweise einen Menschen ins Modell hinein, das wir von ihm haben: Wenn unser Kind etwas tut, das nicht unserem Modell von ihm entspricht, sagen wir uns, dass es offensichtlich momentan nicht ganz bei sich selbst ist, oder wir ignorieren unsere Beobachtung. In Abschn. 2.5 haben wir von Kopernikus gesprochen, der nicht das Gleiche sah wie die erfahrensten Astronomen vor ihm, obwohl sie den gleichen Himmel beobachteten. Das Modell bestimmt, was wir sehen und was wir übersehen, und es verleiht der Wahrnehmung eine Bedeutung. Mit einem verbesserten Modell der Astronomie ist Kopernikus zu ganz anderen Schlüssen gekommen als seine Vorgänger. Auch Einstein eröffnete uns eine neue Sicht auf die Welt, indem er Axiome verschoben hatte, so dass sich parallele Linien auf einmal kreuzen konnten. Die meisten Menschen neigen jedoch eher dazu, die Fakten ihrem Modell anzupassen. Wenn dieses zu einfach ist, entstehen blinde Flecken, die man logischerweise nicht einmal kennt, solange man sein Modell nicht verändert. Das führt zu schlechten Lagebeurteilungen und falschen Entscheidungen.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Pfiffner, Die dritte Dimension des Organisierens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29247-8_18

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18 Schnelldiagnosen

Erfahrung alleine genügt deshalb auch beim Organisieren nicht. Gemäß dem Conant-­Ashby-Theorem müssen wir bereit sein, unser Modell einer guten Organisation aufgrund der höheren Komplexität und Dynamik der Welt, und aufgrund all der ungelösten Probleme, zu erweitern – auch weil man gemäß Einstein die Probleme niemals mit derselben Denkweise lösen kann, durch die sie entstanden sind. In der aktuellen Transformationsphase von der alten in eine neue Welt, wie sie im Prolog beschrieben wurde, ist die Wahl der richtigen Modelle entscheidend. In gut geführten Unternehmen wird deshalb, wie bereits besprochen, penibel darauf geachtet, welche Führungsmodelle verwendet werden, und dass alle Führungskräfte das gleiche Modell verwenden. Nur so können harmonische und leistungsfähige Führungsteams entstehen, die nicht nur an einem Strick, sondern auch noch in die gleiche Richtung ziehen. Diese Unternehmen schützen sich bewusst vor geistiger Schadstoffbelastung durch Modewellen und Irrlehren im Management. Auch in der Medizin wird bei der Ausbildung von Ärzten großer Wert auf die Qualität der Modelle gelegt. Diese werden als Teil des wissenschaftlichen Diskurses immer wieder hinterfragt und aufgrund neuer Erkenntnisse verbessert. So kann ein Hausarzt heutzutage in seiner Anamnese aufgrund der Symptome und des Krankheitsbildes des Patienten in kurzer Zeit eine relativ treffsichere Diagnose stellen. Er erkennt das pathologische Muster, das ihn zu den wesentlichen Ursachen führt und ihn auf die Stellen hinweist, wo er genauer hinschauen muss. Auf eine ähnliche Weise können wir mit dem Viable System Model eine organisatorische Situation ausführlich lesen und anhand wiederkehrender Muster rasch einschätzen. Wir machen die gleichen Beobachtungen, kommen aber zu anderen Schlüssen als mit den Modellen der ersten beiden Dimensionen des Organisierens. Praktische Erfahrung und ein leistungsfähiges Modell ergänzen sich so zu einer punktgenauen Diagnose. In meiner Arbeit bin ich einigen Organisationsmustern immer wieder begegnet, die im Folgenden beispielhaft beschrieben werden. Ich will damit zeigen, wie man mit dem Viable System Model Dinge erkennt, die man sonst übersehen hätte und dass man damit erstaunlich treffsichere Schnelldiagnosen erstellen kann, wann immer man eine Organisationsstruktur betrachtet – sei es im eigenen Unternehmen, beim Kunden, Lieferanten oder im Freizeitverein. Wie ein Simultan-Schachspieler, der gleichzeitig gegen zwanzig Gegner kämpft, erfasst man damit in kurzer Zeit die Situation, erkennt die zugrunde liegenden Muster und die entsprechenden Optionen. Die folgenden sieben Muster bezeichne ich in einem metaphorischen Sinne als physische oder mentale Pathologien. Damit will ich das Augenmerk auf den neuralgischen Punkt in der jeweiligen Struktur legen. Das heißt nicht, dass es dem betroffenen Unternehmen deshalb schlecht gehen oder dass es deswegen krank sein muss. Unternehmen sind oftmals erstaunlich robust, weil sie organisatorische Schwächen mit Managementleistung oder durch günstige Umstände kompensieren. Es bedeutet aber, dass das Unternehmen in seiner Steuerungsorganisation relevante Schwächen oder Lücken hat, die sich mit großer Wahrscheinlichkeit früher oder später bemerkbar machen werden. Wenn dann die ersten Symptome in Form von Steuerungs- und Kommunikationsproblemen sichtbar werden, kann man sie verorten und weiß, was zu tun ist.

18.1 Dissoziation

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Für jedes pathologische Muster wird kurz beleuchtet, wie es zu dieser Situation kommt, welche Symptome zu erwarten sind und wie der Weg zur Besserung aussieht. Wer sich und sein Unternehmen in einem dieser Muster wiederfindet, sollte nicht beunruhigt sein: Die Mehrheit unserer heutigen Organisationen passt in eines oder gar in mehrere dieser Muster hinein. In unseren öffentlich-rechtlichen Unternehmen haben wir uns damit abgefunden, dass wir es uns oftmals schwerer als nötig machen, und in einer Marktwirtschaft muss man bekanntlich nicht gut sein, sondern nur besser als der Wettbewerb.

18.1 Dissoziation Die Situation Das Muster der Dissoziation hängt mit der funktionalen Organisation zusammen. Es entsteht oftmals in einer frühen Phase des Unternehmens, wenn dieses zum ersten Mal überhaupt bewusst gestaltet wird. Das Ganze wird nach dem Grundsatz „Fasse zusammen, was zusammengehört“ in Fachdisziplinen oder eben Funktionen unterteilt, damit die Spezialisten unter sich sind. Die Organisation wird damit übersichtlich, die Verantwortungen sind klar und das Spezialistenwissen wird gebündelt. Gerade im Anfangsstadium eines Unternehmens kann das nötig sein, um Kraft in den einzelnen Funktionen zu entfalten. So hatte beispielsweise Leo Fender, der berühmte Pionier der elektrischen Gitarre, zu Beginn die meisten Funktionen in seiner Firma in Personalunion selber ausgeführt. Er war Werkstattchef, Einkäufer, Verkäufer, Buchhalter und vor allem Entwickler zugleich. Nachdem das Geschäft wuchs und sich der weitere Erfolg abzeichnete, sah er sich gezwungen, Funktionen abzugeben. Dafür stellte er die besten Spezialisten auf ihren Fachgebieten ein, die er finden konnte. Sie verpassten dem Erfolg in dieser Phase einen Schub, indem sie fachliche Kompetenz und Erfahrung ins Unternehmen hineinbrachten. Der Werkstattchef optimierte die Produktionsabläufe, der Einkäufer sorgte für gute Einkaufspreise und der Buchhalter optimierte die Steuern und Kapitalkosten. In einer funktionalen Organisation kann auf jeder Position die fachliche Expertise bestmöglich genutzt und entwickelt werden. Was ist also das Problem? Die zweckerfüllenden, operativen Einheiten werden zu Funktionen wie Produktion, Vertrieb, Entwicklung, Logistik, Service und so weiter. Beim Blick auf die Darstellung dieser Organisation in Abb. 18.1 fallen einem zuerst die großen Umweltüberschneidungen auf. Die operativen Einheiten sind gegenseitige „interne Kunden“, die sich alle denselben externen Kunden in derselben Umwelt mit denselben Wettbewerbern teilen. In Wirklichkeit gibt es aber nur diesen einen, externen Kunden, auf den sich alle Funktionen ausrichten, denn ein Kunde ist dadurch definiert, dass er gelegentlich auch Nein sagen kann. Das können die internen Kunden nicht. Alle möglichen Umweltüberscheidungen zwischen den Funktionen müssen nun präzise gesteuert werden, weil sonst Irritationen entstehen. Dann ruft beispielsweise der Kunde im Vertrieb an, um sich nach der Lieferung seines Produktes zu erkundigen. Weil dieses noch in der Qualitätskontrolle ist, wird er dorthin verbunden, von dort zu den Ersatzteilen, dann in die Logistik und irgendwann legt

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18 Schnelldiagnosen

Abb. 18.1 Dissoziation (funktionale Organisation)

er frustriert auf. Obwohl jeder von uns schon solche Situationen erlebt hat, müssen und können viele Umweltüberschneidungen eigentlich gut gesteuert werden. Gerade die ­Digitalisierung stellt den 2er Systemen starke neue Hilfsmittel für diese Koordination zur Verfügung. Dennoch bleiben die Überschneidungen eine Schwachstelle in der Organisation. Je komplexer das Unternehmen wird, desto schwieriger wird der Job – bis zu dem Punkt, wo mit dem Wachstum des Geschäftes die Komplexität so stark wuchert, dass sie die Steuerung überfordert. Es sind aber nicht nur die großen Umweltüberschneidungen, sondern auch die starken gegenseitigen Abhängigkeiten zwischen den Operationen (die Squiggly-Lines), die höchste Anforderungen an die Steuerung stellen. Sie sind so stark, dass wir nicht mehr von lebensfähigen Einheiten sprechen können, denn keine Einheit kann ohne die andere erfolgreich sein. Die funktionale Organisation funktioniert diesbezüglich wie eine Rudermannschaft, bei der alle Ruderer im Gleichtakt auf das gleiche Ziel losrudern, oder wie ein Ballett, bei dem die Tänzer ebenso im Takt und ihrer Rolle entsprechend der gemeinsamen Choreografie folgen. Das Stück ist gegeben und das Drehbuch fixiert. Es bleibt wenig Spielraum für Interpretation und Spontanität. Diese Organisation wird stark über die vertikale Achse gesteuert. Das ist in Ordnung, solange wir es mit einem stabilen Ziel, beziehungsweise mit einer klaren Erwartung des Publikums an das Stück, zu tun haben. In einem volatileren Umfeld haben die operativen Einheiten indessen zu wenig Handlungsspielraum und vor allem können sie keine echte Verantwortung übernehmen. Die Negative Feedback-Loops werden durch Abteilungsgrenzen durchbrochen. Selbststabilisierung ist schwierig und das System neigt dazu, sich aufzuschaukeln.

18.1 Dissoziation

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Die Symptome Wegen diesen großen Abhängigkeiten und Umweltüberschneidungen ist das Einsetzen des „Schwarzer Peter“-Spiels eines der ersten Symptome dafür, dass die funktionale Organisation an die Grenze ihrer Steuerbarkeit gekommen ist. Keiner will in dieser Phase mehr für irgendetwas Verantwortung übernehmen und die Probleme werden grundsätzlich externalisiert, das heißt, vorzugsweise bei den Anderen gesucht. Die Dissoziation im Unternehmen beginnt. Die Produktion zeigt mit dem Finger auf den Vertrieb, dieser auf die Entwicklung, diese auf die Qualitätskontrolle und diese auf die Produktion. Ein weiteres Symptom ist die zunehmende Bürokratisierung, mit der sich die unterstützenden, indirekt produktiven Funktionen wie Personal, Marketing, Auditing oder IT die Aufgabe einfacher machen wollen. Die Formalisierung vieler Abläufe wird in den operativen Einheiten aber entweder nicht ernst genommen, oder sie führt zu steigenden Kosten bei sinkender Produktivität und Motivation. Systeme, Gremien und Meetings schießen wie Pilze aus dem Boden, und es entstehen Wasserköpfe, welche die exponenziell wachsende Komplexität des Unternehmens zu absorbieren versuchen, es aber trotzdem je länger je schlechter können. Sie schränken die Selbstorganisationskraft der operativen Einheiten ein und ziehen den Fokus weg vom Kunden auf die interne Koordination. Das System 3 muss einen großen Teil des operativen Geschäftes selber steuern. Überall da, wo das System 2 überfordert ist, muss es Brände löschen, Konflikte lösen und Entscheidungen treffen. Oftmals verliert sich das Senior-Management in solchen Strukturen im Micro-Management. Es übernimmt zwangsläufig Funktionen, die eigentlich die operativen Einheiten erfüllen sollten. Das wird dadurch verschlimmert, dass viele Führungskräfte genau das lieben. Sie sind dank ihres Erfolges in einer operativen Einheit ins Senior-­ Management gehoben worden und tun dort am liebsten das weiter, was sie bisher erfolgreich gemacht hat: In der operativen Einheit managen. Da kennen sie sich aus, und da fühlen sie sich wohl. Es fällt weiter auf, dass die vertikalen Kommunikationskanäle sehr dick gezeichnet sind. Varietät wird zum großen Teil über diese Kanäle absorbiert, da sie durch das System 1 selbst nicht absorbiert werden kann. Die funktionale Organisation stellt damit auch große Anforderungen an das Funktionieren dieser Kommunikationskanäle. Das kann lange gut gehen, aber es bleibt ein Schwachpunkt in der Organisation, der wiederum dann sofort schlagend werden kann, wenn eine gewisse Komplexitätsschwelle erreicht ist. Weil das operative Geschäft die Kapazität des Senior-Managements weitgehend absorbiert, bleibt wenig Zeit für die Arbeit in den Systemen 4 und 5. Der Fokus des Unternehmens ist tendenziell konservativ nach innen gerichtet. Man betrachtet den Markt aus einer „inside-out“ Perspektive heraus. Das bedeutet, dass man Produkte und Dienstleistungen entwickelt, und sich danach fragt, wer diese brauchen könnte und wie man sie am besten vertreibt. Man ist – wohl zurecht – stolz, auf das was man tut und kann. Im Fall der dissoziativen Störung leidet aber die Anpassungsfähigkeit. Orientierung auf das Produkt statt auf den Kunden und zu viel Fokus nach innen kann das Unternehmen in Schwierigkeiten bringen, wenn sich das Ziel zu bewegen beginnt und sich die Erwartungen des Publikums geändert haben.

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18 Schnelldiagnosen

Der Weg zur Besserung An dieser Stelle beginnt die erste Maßnahme zur Abhilfe. Die erfolgreichen, funktionalen Organisationen, die ich kennen gelernt habe, haben sich die Fokussierung auf den Kunden zur obersten Leitlinie gemacht. Sie haben sich im gesamten Unternehmen, vom Senior-Management bis zum Mitarbeiter in der Operation gezwungen, sich immer wieder zu fragen, wie sie dem Kunden das Leben noch leichter machen könnten. Der Kundennutzen war ihre oberste Maxime, der sie alles andere unterordneten. Sie haben außerdem ihr System 4 mit starken Leuten besetzt, die nichts anderes zu tun hatten, als die Trends und Veränderungen auf den Märkten, im Wettbewerb, und in den Technologien im Auge zu behalten, und das Geschäft mit neuen Produkten und Dienstleistungen darauf vorzubereiten. Und sie haben sich, solange sie funktional gegliedert waren, auf eine Sache konzentriert, die sie besonders gut konnten. Sobald das Geschäft groß genug geworden ist, muss die Autonomie der operativen Einheiten gestärkt werden, damit sie Verantwortung übernehmen und Komplexität absorbieren können. Der Weg dazu ist die Prüfung der Segmentierung, so wie wir das in Kap. 9 gemacht haben. Sollte eine Segmentierungsvariante klare Vorteile gegenüber der IST-Organisation haben (was zu erwarten ist), muss geprüft werden, ob eine Reorganisation möglich ist. Ebenso wichtig ist dann der Diagnoseschritt IV, also die Prüfung der Zuordnung erfolgskritischer Aufgaben auf zentrale oder dezentrale Einheiten. Die bisher zentral erfüllten Funktionen müssen gemäß den in Kap. 13 genannten Kriterien soweit möglich auf die operativen Einheiten verteilt werden. Das erfordert eine gewisse Größe. Von der funktionalen Organisation zu unterscheiden ist die funktionale Geschäftsverteilung eines Vorstandes innerhalb des Organs. Das Senior-Management kann sich pro­ blemlos nach Funktionen aufteilen, und das tut es normalerweise auch. Erst wenn die operativen, zweckerfüllenden Einheiten nach Funktionen gegliedert sind, die erst zusammen ein Geschäft ergeben, diagnostizieren wir die Möglichkeit einer dissoziativen ­Störung. Sie gehört trotz ihrer Ernsthaftigkeit in den Bereich der Kinderkrankheiten von ­Unternehmen. Die meisten größeren Unternehmen haben einmal eine solche Störung durchlebt, und vielen hat sie sogar einen Entwicklungsschub verpasst.

18.2 Schizophrenie Die Situation Die Schizophrenie ist eine Dysfunktionalität, die eher in einer späteren Phase der Unternehmensentwicklung auftritt. Sie kommt primär in der Adoleszenz von Unternehmen vor, wenn diese in ihrer stärksten Wachstumsphase stecken und herausfinden müssen, wer sie eigentlich sein wollen. Im Beispiel in Abb. 18.2 war das Unternehmen in der Vergangenheit in Vertriebsregionen gegliedert, um das nachgefragte Produkt möglichst effizient und passgenau in die regionalen Märkte zu bringen. In schnell wachsenden Märkten kann das wichtig sein, um durch Kundennähe und besseren Service schnell Terrain zu besetzen. In

18.2 Schizophrenie

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Abb. 18.2 Schizophrenie (Matrix-Organisation)

einer späteren Phase drehte sich der strategische Fokus hin zu Innovation, Marke und ­Produkt, weil die Märkte inzwischen gesättigt waren. Sortimentsbreite, Marketing, Rabattierung, neue Produkte und neue Geschäftsmodelle wurden damit wichtiger als die kurze Distanz zum Kunden. Deshalb wurden Produktbereiche ins Leben gerufen, die wieder zu mehr Produktinnovation, Kohäsion und Kostenbewusstsein führen sollten. An dieser Stelle beginnt die Pathologie. Weil in solchen Situationen die „Länderfürsten“ in den Regionen inzwischen zu den starken Leuten im Unternehmen herangewachsen sind, kann man ihnen keine Produktchefs vor die Nase setzen. Die Regionalleiter sind schließlich Schlüsselpersonen, auf deren Kompetenz man weiter zählen will. Also drückt man sich vor der nun notwendig gewordenen Entscheidung, ob das Produkt oder die Region die Führung übernehmen soll. Man etabliert produktorientierte, weltumspannende Business-Units, die man mit den gleichen Rechten und Pflichten ausstattet wie die Regionen. So nimmt man niemandem etwas weg und alle können – vermeintlich – nur gewinnen. Sofern weitere Dimensionen optimiert werden müssen, zum Beispiel die auseinanderdriftenden Bedürfnisse verschiedener Kundengruppen, werden auch diese zu operativen Einheiten gemacht. Die anspruchsvollste Anatomie, der ich je begegnet bin, fand ich bei einem großen Zulieferer

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18 Schnelldiagnosen

der Automobilindustrie. Das Unternehmen versuchte, vier verschiedene Steuerungsdimensionen gleichzeitig zu optimieren. Sein System 1 bestand also aus vier verschiedenen Typen von operativen Einheiten, die sich alle die gleiche Umwelt teilten. Über diese beliebte Flucht in die Matrix haben bereits wir in Abschn. 3.5 gesprochen. Die Symptome Die Probleme der Matrix-Organisation sind denjenigen der dissoziativen Störung ähnlich: Große Umweltüberschneidungen, starke operative Abhängigkeiten und damit sehr wenig Agilität in den operativen Einheiten. Das Krankheitsbild ist aber noch stärker ausgeprägt, weil wir mit der Einführung der zusätzlichen, gleichwertigen Steuerungsdimension die Anzahl ergebnisverantwortlicher Einheiten verdoppeln. Die Matrix-Organisation weist also nicht nur sehr unterschiedliche, sondern auch sehr viele operative Einheiten auf, die wegen der gegenseitigen Abhängigkeiten allesamt nicht in der Lage sind, ihre Pro­ bleme selbstständig zu bewältigen. Damit wird die Führbarkeit des Unternehmens früher oder später zwangsläufig auf die Probe gestellt, weil die Varietät der horizontalen Steuerungsachse enorm zunimmt und diejenige der vertikalen Achse übersteigt. The First Axiom of Management wird verletzt (vgl. Kap. 11). Der Koordinationsaufwand steigt exponentiell, weil die Anzahl der Schnittstellen maximiert wurde. Er absorbiert die Führungskräfte in Unmengen von größeren und kleineren Meetings, in denen sie sich absprechen müssen, und verlangt von ihnen damit eine enorme Disziplin und emotionale Robustheit. Die Symptome der Schizophrenie im Unternehmen sind neben der steigenden Anzahl von Sitzungen, der gleichzeitige Verlust an Produktivität, Verlust an Transparenz und Verlust an Verantwortung, denn auch hier sind die Negative Feedback-Loops durch die Abteilungsgrenzen durchbrochen. Der Unternehmer im Unternehmen wird dadurch frustriert und demotiviert, und gute Leute verlassen die Organisation. Selbstorganisation ist kaum möglich, und darum kollabiert das Unternehmen bei weiterem Wachstum früher oder später, oder es läuft wegen seiner strategischen Kurzsichtigkeit gegen die Wand, weil für die System 4-Arbeit und für die Unternehmensentwicklung keine Zeit bleibt. Die Kapazität des Senior-Managements wird auch hier vom operativen Geschäft absorbiert. Wie bei der Dissoziation sind auch hier die vertikalen Steuerungskanäle notgedrungen stark ausgeprägt. Insbesondere der Corporate Intervention- oder Befehlskanal wird mit großer Wahrscheinlichkeit stark genutzt, um ab und zu durchgreifen und Ordnung schaffen zu können. Es ist aber schwierig, die operativen Einheiten für irgendetwas verantwortlich zu machen, weil die Verantwortung irgendwo zwischen den Abhängigkeiten verschwunden ist. Umso vehementer wird dann manchmal der Befehlskanal genutzt. Nachhaltig sind diese Interventionen meistens nicht. Im Gegenteil, in größeren Unternehmen führt das bei den Mitarbeitern zum Eindruck von Autokratie und Elfenbeinturm-­ Verhalten, da das Senior-Management die vielen operativen Einheiten gar nicht mehr ausreichend gut kennen kann, um in konkreten Fragen kompetent intervenieren zu können – es sei denn, es hätte bewusst und rechtzeitig ein ausreichend starkes System 3∗ aufgebaut. Das ist oftmals nicht der Fall.

18.3  Der Flaschenhals

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Der Weg zur Besserung Zur Abhilfe gegen die Schizophrenie des Unternehmens muss entschieden werden, nach welcher Steuerungsdimension das Unternehmen primär geführt werden soll. Lassen wir die Regionalleitungen, die Produktleitungen oder die Kundengruppenleitungen ans Steuerruder? Das Unternehmen muss herausfinden, wer es sein will: Ein Service-Weltmeister, ein Produkt- oder Technologieführer, ein Vertriebskanal-Spezialist oder was auch immer an weiteren Segmentierungsmöglichkeiten für dieses Unternehmen in Frage kommt. In Kap. 9 haben wir darüber gesprochen, wie man das herausfindet. Erst mit dieser Entscheidung wird der Fokus wieder auf die Optimierung von Kundennutzen und auf die Strategieumsetzung gelegt. Die primäre Steuerungsdimension, für die man sich entscheidet, stellt dann die operativen Einheiten im System 1, die ihre Strategien entwickeln, operative Pläne machen und für Ergebnisse geradestehen. Alle anderen Einheiten werden zu unterstützenden Funktionen, die selber nicht autonom wachsen, sondern einen effizienten Dienst leisten sollen. Die He­ rausforderung dabei ist primär menschlicher Natur. Die bisherigen Länderfürsten müssen in unserem Beispiel zu weltweit verantwortlichen Produktchefs gemacht werden. Wollen und können sie das? Auch das umgekehrte Beispiel ist denkbar, bei dem zuerst Produktbereiche etabliert wurden, die später ihre strategische Bedeutung an Regionen verloren haben. In diesem Fall müssen Schlüsselpersonen am Hauptsitz der Firma dazu bereit sein, mit ihren Familien ins Ausland zu ziehen. Andernfalls werden Führungskräfte, die bisher verantwortlich für ein Geschäft waren, neu zu Bereichs- oder Abteilungsleitern zen­ traler Funktionen. Für einige von ihnen kann das ein Problem sein. Man muss deshalb prüfen, welche Schlüsselpersonen man durch die Reorganisation gegebenenfalls verlieren könnte, und was das für das Unternehmen bedeutet. Einige wird man kompensieren können, da wir es hier ja normalerweise bereits mit größeren, adoleszenten Unternehmen zu tun haben. Die guten Leute werden sich jedoch freuen, dass die Verantwortungen wieder geklärt sind, der Fokus wieder nach außen gekehrt wird und der Handlungsspielraum zurückkommt. Alle weiteren Änderungen sind grundsätzlich einfach zu vollziehen, da sie das Unternehmen vereinfachen. Wie bei der dissoziativen Störung werden das System 2 und die unterstützenden Abteilungen, die sich inzwischen vermutlich aufgebläht haben, wieder entschlackt. Freigewordene Ressourcen werden zur Verstärkung des Systems 4 verwendet, das vermutlich vernachlässigt wurde, die Führungssysteme und die internen Verrechnungsmodi werden angepasst. Die Physiologie des Unternehmens, also die zweite Dimension des Organisierens, bleibt davon weitgehend unangetastet, weil die Kernprozesse des Geschäftes im Grunde genommen dieselben bleiben, auch wenn sich die Verantwortlichkeiten in eine neue Steuerungsdimension verschoben haben.

18.3 Der Flaschenhals Die Situation Ein weiteres Muster, dem man in der Praxis oftmals in Märkten in ihrem Anfangs- oder Endstadium begegnet, ist die Flaschenhalsorganisation. Sie ist durch ein besonders

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18 Schnelldiagnosen

starkes, autoritär auftretendes System 3 geprägt, das hauptsächlich über den Befehlskanal steuert. In einem schnell wachsenden, dynamischen Markt kann das wichtig sein, um das Unternehmen als Ganzes schnell auf einen anderen Kurs zu bringen und die Prioritäten zu verlagern. In einem gesättigten Endspielmarkt, in dem die Konkurrenz hauptsächlich über den Preis verdrängt wird, kann es wichtig sein, um Kosten zu senken. Dem Flaschenhals bin ich aber auch schon aus ganz anderen Gründen begegnet, wie im Fall eines weltweit tätigen Mittelstandsunternehmens aus der Investitionsgüterindustrie. Das in zweiter Generation geführte Familienunternehmen erlebte in den letzten zehn Jahren seine Blüte. Es entwickelte sich schnell vom europäischen Marktführer zum Weltmarktführer. Gleichzeitig wurde während der letzten zehn Jahre zweimal das operative Management in allen Divisionen ausgetauscht. Der Sohn des Eigentümers war Inhaber und seit dem Tod des Vaters vor etwa fünfzehn Jahren alleiniger Geschäftsführer. Er kannte das Geschäft von Grund auf und war Treiber des bisherigen Erfolges. Die Symptome Mit ihm hatte ich mein erstes Gespräch geführt. Er erzählte mir von den Erfolgen seiner Firma und von seinem Stolz, das Werk seines Vaters in die Zukunft führen zu dürfen. Er erzählte mir dann aber auch, dass er die Belastung nicht mehr lange werde aushalten können. Die langen Arbeitszeiten und Abwesenheiten von zu Hause hatten stark an der Gesundheit genagt und das Privatleben zerstört. Er sei stolz auf die Firma und deren Erfolge, sagte er, nur eines störe ihn: Dass er immer alles selber machen müsse. Die Divisionsleiter ständen die ganze Zeit bei ihm auf der Matte und er müsse ihnen alles vorkauen. Nichts funktioniere ohne ihn. Bei den Divisionsleitern müsse sich deshalb dringend etwas ändern, denn er selber sei zum Flaschenhals der Unternehmensentwicklung geworden. Anschließend sprach ich mit den Divisionsleitern, die mir zuerst ebenfalls von den großen Erfolgen und von ihrem Stolz auf die Firma und auf die Produkte erzählten. Nur eines störe sie: Der Chef. Sein autoritäres Verhalten sei zuweilen sehr unangenehm, und sie hätten in ihren letzten Führungspositionen über wesentlich mehr unternehmerischen Freiraum verfügt. Er träfe eigenmächtig Entscheidungen in ihren Verantwortungsbereichen, dabei sei er inzwischen so weit weg vom operativen Geschäft, dass die meisten dieser Entscheidungen mindestens zweifelhaft seien. Drei von vier Divisionsleitern dachten deswegen bereits an die Kündigung. Am folgenden Tag haben die Divisionsleiter und der Geschäftsführer gemeinsam eine Schnelldiagnose des Unternehmens mit Hilfe des Viable System Models durchgeführt. Das Diagramm, das dabei am Flipchart entstanden ist, entspricht ungefähr der Abb. 18.3. Nach zwei Stunden Diskussion war die Situation klar. Die Ursache wurde an einem ­vollkommen anderen Ort lokalisiert, als alle vorher gemeint hatten. Es zeigte sich, dass die Divisionen maßgebliche Umweltüberschneidungen hatten und in der Produktion und Entwicklung sehr voneinander abhängig waren. Viele Funktionen waren zudem aus rein historischen Gründen in der Zentrale angesiedelt. Man hatte das auch trotz des zunehmenden Reifegrades der Divisionen, die als Geschäft stark gewachsen sind, nie geändert. Auch das

18.3  Der Flaschenhals

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Abb. 18.3  Der Flaschenhals

Unternehmen als Ganzes hatte sich in den letzten Jahren stark entwickelt. Neue Geschäftsfelder sind dazu gekommen und der Service wurde professionalisiert. Das System 2 des Unternehmens hatte mit dieser schnellen Entwicklung nicht mithalten können. Es war stark unterentwickelt und teilweise gar nicht vorhanden. Die IT-Systeme waren veraltet und in den Divisionen inhaltlich auseinandergedriftet, so dass es schwierig war, Übersicht zu gewinnen. Die Personalentwicklung versuchte Individualwünsche zu befriedigen und tat im Übrigen nur das Nötigste. Die Regelwerke waren veraltet oder gar nicht vorhanden und es waren praktisch keine systematisch stattfindenden Gremien oder Meetings zu Koordinations- oder Lernzwecken vorhanden. Die Struktur der Divisionen und die Zentralisierung vieler sehr formell arbeitender Dienste schränkte also den Handlungsspielraum der Divisionsleiter schon a priori ein. Ein unterentwickeltes System 2 bedeutet, dass Konflikte entstehen und das System zu oszillieren beginnt. Da das System 2 seine Dämpfungsaufgabe nicht wahrnehmen kann, muss es das nächste System versuchen. Das ist das System 3, also in diesem Unternehmen der Eigentümer selbst, in seiner Funktion als alleiniger Geschäftsführer. Und hier begann ein Teufelskreislauf. Er musste immer mehr Zeit auf das „Troubleshooting“ im Betrieb und auf das Löschen vieler kleiner, aber heikler Brände verwenden. Dadurch hatte er immer weniger Zeit für sein System 3∗, also für die Besuche auf dem Shopfloor, bei den Kunden und den Lieferanten, so wie er das von seinem Vater gelernt und in der Vergangenheit oft und gern getan hatte. Sein Gespür für das Geschäft ist ihm dadurch mit der Zeit etwas abhandengekommen. Er hatte sich schon länger auch aus allen Verbänden und Gremien außerhalb seines eigenen Unternehmens zurückgezogen, in denen er früher aktiv mitgearbei-

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18 Schnelldiagnosen

tet hatte. Da auch sonst keine Zeit für System 4-Arbeit blieb, entstand Unklarheit über die strategischen Ziele, die der Unternehmer zwar in seinem Kopf skizziert, aber nie klar ausformuliert und kommuniziert hatte. Und zuweilen war er sich selber nicht sicher, ob die Entwicklung in die richtige Richtung ging. Das Unternehmen agierte eigentlich nur noch opportunitätsgetrieben. Bei den Divisionsleitern entstand der Eindruck, dass der Chef willkürlich, ohne erkennbare Linie entscheiden würde, und sie sahen deshalb große He­ rausforderungen auf die Firma zukommen. Alles das, gepaart mit dem autokratischen Verhalten des Chefs, hatte zunehmend zu Konflikten auf dem System 1–3-Kanal geführt. Der Weg zur Besserung Interessant an diesem Beispiel ist, dass beide Seiten, der Chef und die Divisionsleiter, das Problem beim Menschen gesucht hatten, statt in der Struktur. Der Chef hatte den Eindruck, dass seine Divisionsleiter nichts taugen, und die Divisionsleiter hatten den Eindruck, dass der Chef ein Monster und die Ursache allen Übels sei. Erst der Blick auf das gemeinsam erarbeitete Diagramm ließ sie erkennen, worin das wirkliche Problem lag. Weder mit ihren Organigrammen noch mit ihren Prozessbeschreibungen hatten sie die Situation in den vergangenen Jahren ausreichend erfassen können. Die Stimmung im Führungskreis änderte sich sofort, nachdem sie das Viable System Diagramm ihres Unternehmens gezeichnet hatten und die Situation diagnostiziert war. Solange sie das Problem bei den Menschen verortet hatten, schien ihnen eine Veränderung oder gar Lösung der Situation unmöglich. Sobald sie hingegen die strukturelle Ursache erkannt hatten, war die Lösung bereits in Sicht. Die folgende, gemeinsame Prüfung der Segmentierung des Geschäfts gemäß Schritt I hatte ergeben, dass die Überschneidungen und Abhängigkeiten zwar unangenehm, aber unvermeidbar waren. Das Geschäft war kompromisslos auf den Kunden ausgerichtet  – was vielleicht die Erfolge trotz interner Querelen erklären kann. Die Lösung bestand also darin, das System 2 systematisch um die Felder gegenseitiger Abhängigkeiten herum zu entwickeln. Es wurden gemeinsam die Spielregeln definiert, koordinierende Meetings geschaffen und die IT auf eine neue Basis gestellt, so dass sie die operative Steuerung viel besser unterstützen konnte. Soweit möglich hat man erfolgsentscheidende Aufgaben in die Kompetenz der Divisionen verlagert und damit die Zentrale entschlackt. Die Autonomie der operativen Einheiten wurden damit gestärkt, so dass sie besser und schneller auf wichtige Ereignisse reagieren konnten. Zur Stärkung des Systems 4 hat man einen gemeinsamen Prozess zur strategischen Planung erarbeitet und eine übergreifende System 4-­Verantwortung etabliert. Die Divisionsleiter wurden in eine erweiterte Geschäftsleitung eingebunden, in der sie die Sicht auf das Unternehmen als Ganzes einnehmen muss­ ten.  Aus dieser Vogelperspektive heraus gewannen sie Verständnis für unangenehme ­Maßnahmen, die ihre Division betrafen, und die sie aus der Froschperspektive des Divisionsleiters sonst eher nicht mitgetragen hätten. Und zu guter Letzt konnte der Eigentümer auch wieder vermehrt das tun, was er eigentlich am liebsten tat, nämlich Kunden und Mitarbeiter besuchen, um von ihnen zu erfahren, was am Unternehmen weiter verbessert werden könnte, und auf dem Golfplatz darüber aktiv zu meditieren.

18.4  Unkontrolliertes Wachstum

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18.4 Unkontrolliertes Wachstum Die Situation Der Blick auf Abb. 18.4 zeigt ein Unternehmen, das über starke Operationen verfügt. Hier stimmt das Fundament des Hauses, und damit stimmt das Wichtigste an der ganzen Organisation überhaupt. Die operativen Einheiten verfügen über sehr viel Autonomie. Sie bewältigen die Komplexität ihrer Umwelt selbständig und die Überschneidungen und Abhängigkeiten von anderen operativen Einheiten sind überschaubar. Das System 2 funktioniert und ist ausreichend entwickelt. Die übrigen Steuerungsfunktionen des Senior-­ Managements sind allerdings nur sehr schwach ausgeprägt. Die Umwelt des Gesamtunternehmens ist in Wirklichkeit nicht größer als die Summe der Umwelten aller operativer Einheiten. Das bedeutet, dass die operativen Einheiten hauptsächlich sich selbst optimieren, das Unternehmen sich nur mit dem heutigen Geschäft befasst, und dem Senior-­ Management ein eigener, übergeordneter Blick nach außen und in die Zukunft fehlt. Diesem Muster bin ich oft in Unternehmen aus der High-Tech-Branche oder aus der Konsumgüterindustrie begegnet. Es sind oftmals dynamische, kurzlebige oder schnell wachsende Märkte, die es verursachen. Sie erfordern autonome Einheiten, die sich schnell auf unterschiedlichen Kundennutzen einschießen und sich agil an Veränderungen in ihrer Umwelt anpassen können. In dynamischen Märkten ergeben sich Akquisitionschancen durch direkte Kontakte aus den operativen Einheiten heraus. Diese entdecken so Geschäfte, die zu ihnen passen, und kaufen diese dazu, oder sie teilen sich selber in mehrere Geschäfte auf, weil sie so schnell gewachsen sind. Das System 1 arbeitet in diesem Sinne nach dem Prinzip der Zellteilung, wie wir das von einer gesunden Organisation erwarten, aber es wächst unkontrolliert und opportunitätsgetrieben. Innovationen entstehen nur aus

Abb. 18.4  Unkontrolliertes Wachstum

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18 Schnelldiagnosen

den heutigen Geschäften heraus. Die Strategie des Gesamtunternehmens ist die Summe der Strategien aller operativen Einheiten. Das Ganze ist nicht mehr – wenn auch nicht weniger – als die Summe seiner Teile. Die Symptome Das Problem ist die Kohäsion des Ganzen, da eine übergeordnete Steuerung fehlt. Das Senior-Management ist fast nicht spürbar. Den starken Zentrifugalkräften der Organisation im dynamischen Markt ist keine ausreichend starke Zentripetalkraft entgegengesetzt, die sie in einem sinnvollen Ganzen zusammenhalten würde. Das Geschäft wächst sozusagen von unten in unterschiedliche Richtungen und verliert dadurch zunehmend an Kraft und Identität – es verzettelt sich. Unser Blick auf die horizontale Steuerungsachse zeigt, dass die Anzahl der Geschäfte zunimmt, dass es sich dabei um zunehmend unterschiedliche Geschäfte handelt, die aber immerhin sich selber ausreichend gut steuern können. Da ist eine hohe horizontale Varietät, die absorbiert werden will, und dazu braucht es ein leistungsfähiges Senior-Management, sonst wird sich dieses Unternehmen früher oder später selbst zerstören. Seine operativen Einheiten unterstützen sich heute nicht gegenseitig; später werden sie sich bekämpfen, weil sich aus allen Überscheidungen in der Umwelt früher oder später Konflikte ergeben. Das Unternehmen weist in allen Funktionsbereichen zudem große Doppelspurigkeiten auf. Synergien werden nicht genutzt, weil sich niemand darum kümmern will. In einem jungen, wachsenden Markt lässt sich mit diesen Symptomen leben. Auf Dauer wird das Unternehmen aber so nicht überleben können. Lange bevor die Märkte in ihre Sättigungsphase kommen, muss es lernen, wie es gemeinsam stärker sein kann, um dann stark genug zu sein, wenn es in die Endspielphase geht. In diesen gesättigten Märkten gibt es zu viele Anbieter, und der Markt konzentriert sich wieder auf üblicherweise sieben plus/minus zwei verbleibende Anbieter mit einem jeweils ausreichend großen Marktanteil, um die Kosten auf das erforderliche Niveau zu senken. Zur Nutzung dieses Marktanteils wird es ein starkes System 3 benötigen. Das Unternehmen als Ganzes (wenn auch nicht die Divisionen) ist außerdem strategisch kurzsichtig und erneuert sich nur aus sich selbst heraus. Basisinnovationen wird es vielleicht sogar wahrnehmen, aber nicht ernst nehmen, wenn diese eine Anpassung des Geschäftsportfolios verlangen. Sein Blick ist auf das heutige Produkt und die heutige Dienstleistung gerichtet, und Innovationen entstehen nach dem Muster „mehr desselben“. Das Unternehmen nutzt sein eigenes Potenzial nicht und riskiert, früher oder später an den Egoismen seiner operativen Einheiten ausei­ nanderzubrechen. Der Weg zur Besserung Der Aufbau von Steuerungssystemen braucht Zeit. Man beginnt deshalb lieber früher als später damit. In einigen Unternehmen, die ich begleiten durfte, hat man sich auf den Weg gemacht und mit dem Ausbau der Senior-Management-Funktionen begonnen. Man war sich in den operativen Einheiten bewusst, dass jede Einheit Ressourcen in diesen Aufbau investieren muss, obwohl schließlich die eigene Autonomie mit dieser Entwicklung ­unter

18.4  Unkontrolliertes Wachstum

297

Druck gerät. Da das Geschäft hauptsächlich durch die Führungskräfte der operativen Einheiten gesteuert wird, sind sie die starken Leute im Unternehmen. Normalerweise geben sie ihre Autonomie nicht gerne her, wenn ihre Einheit nicht selber davon profitieren kann. In den Unternehmen, die erfolgreich aus diesem Muster herausgekommen sind, hat man deshalb die Leiter der operativen Einheiten in die Senior-Management-­Funktionen eingebunden und Feedback-Loops etabliert, die ihr Eigeninteresse an Zusammenarbeit förderten. Man hat die bisherigen Unternehmer im Unternehmen zusätzlich zu ihrem Job als Leiter der operativen Einheiten auf die nächst höhere Rekursionsebene gehoben und sie anfangs in Gremien, später in Organen mitarbeiten lassen. In dieser System 3-Funktion haben sie sich primär um Synergien gekümmert, die unter anderem auch ihrem eigenen Geschäft zugutekamen. Man hat Foren für die Selbstkoordination von dezentralen Funktionen wie Forschung und Entwicklung, Produktion, Vertrieb oder Qualität entwickelt, über die sie voneinander lernen konnten, da wo es zu lernen gab. Die Funktionen selbst blieben in der Kompetenz der operativen Einheiten, um diese nicht zu schwächen. Nur gerade da, wo Funktionen weder erfolgsentscheidend noch -kritisch waren, wurden sie zusammengelegt und professionalisiert. Schließlich wurden zuerst Projekte, später dauerhafte zentrale Funktionen ins Leben gerufen, welche die gemeinsamen Zukunftsfragen im System 4 zu bearbeiten begannen. Die Personalentwicklungen fingen anfangs zögerlich, später systematisch an, Chancen für die Entwicklung von Mitarbeitern in anderen operativen Einheiten zu entdecken und zu ermöglichen. Damit haben sich diese Unternehmen ihre Führungskräfte für die Zukunft erhalten und frühzeitig Redundanz in der potenziellen Führung aufgebaut (vgl. Kap.  7). Sie haben ihre Führungskräfte außerdem systematisch in einem gemeinsamen Führungsverständnis ausgebildet. Das Muster zeigt ein heute lebensfähiges Unternehmen, das seine Leistung an der Front erbringt. Die Herstellung der richtigen Balance zwischen Autonomie der einzelnen Einheit und Kohäsion des Ganzen kann jedoch schwierig sein und Aufruhr verursachen. Man darf deshalb nicht zu lange damit warten, auch damit man inkrementell vorgehen kann, bevor unter Umständen schmerzhafte Eingriffe nötig werden. Insbesondere muss man darauf achten, dass die Entwicklung nicht beim System 3 stehen bleibt. Die System 4-Funktion steht nicht grundsätzlich im Interesse der operativen Einheiten, denn diese haben ihr eigenes System 4. Auf der Gesamtunternehmensebene wird aus ihrer Sicht sowieso nur Geld und Personal für Dinge verbraucht, die höchst fraglich sind. Entscheide aus dieser System 4-Gesamtsicht heraus können schließlich ihre eigene Existenz bedrohen. Gerade deshalb ist es auch wichtig, die Führungskräfte in einem gemeinsamen Verständnis dieser Mechanismen zu schulen, und damit eine Sprache im Unternehmen zu entwickeln, mit der über diese Fragen sinnvoll diskutiert werden kann. Ich habe einige Unternehmen erlebt, auch im Bereich von Ministerien oder NGOs, die aus ähnlichen Gründen über kein nennenswertes System 4 verfügten. Das System 5 kollabiert in diesen Fällen in das System 3 hinein. Die Führungskräfte im System 5 mischen sich in rein operative Fragen ein, weil sie früher selber in diesen Bereichen tätig waren und noch immer

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18 Schnelldiagnosen

gerne damit herumkämpfen. Ein Unternehmen ohne System 4 verhält sich am Ende wie eine gehirnamputierte Katze, die zwar lebt, aber nur noch um auf Stimuli zu reagieren.

18.5 Dominanz Die Situation Das nächste Muster entsteht oft in Unternehmen, die in ihrem Heimmarkt groß geworden und über die regionalen Grenzen hinaus ins Ausland gewachsen sind. In einer gewissen Phase weisen sie große Unterschiede in den regionalen Marktpositionen auf, und auch die regionalen Märkte selbst sind auf einmal so unterschiedlich, dass sie zur Herausforderung für die Steuerung des Unternehmens werden können. Wir sehen in Abb. 18.5 eine dominante, operative Einheit. Sie ist viel größer und viel stärker als die anderen operativen Einheiten. Es ist der angestammte Heimmarkt, neben dem eine Reihe von relativ kleinen operativen Einheiten existieren, die andere Regionen bedienen. Die dominante Einheit ist mit allen Funktionen ausgestattet, die eine lebensfähige Einheit braucht, denn in der Vergangenheit gab es ja nur diese Einheit. Die anderen Regionen sind hingegen als reine Vertriebsorganisationen gestartet. Sie verfügen über wenig Ressourcen und über wenig Autonomie. Außer dem Vertrieb müssen sie alles, was sie zum Funktionieren brauchen, in der dominanten Einheit beantragen. Dort werden die Entscheidung aus der Sicht des Heimmarktes heraus getroffen. Abb. 18.5 Dominanz

18.5 Dominanz

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Was mit der Entscheidung, ins Ausland zu wachsen, eigentlich passiert ist, war die Geburt einer neuen Rekursionsebene. Mit dem Entscheid, operative Einheiten auch in anderen Regionen aufzubauen, war der Heimmarkt auf einmal nur noch eine operative Einheit unter anderen, wenn auch die wichtigste und größte. An dieser Stelle kommen oftmals einige Dinge durcheinander. Anstatt eine neue Rekursionsebene zu gestalten, tut man so, als ob der Heimmarkt gleichzeitig diese neue Ebene sei. Juristisch und politisch ist das der einfachste Weg, aber es bleibt ein falscher Weg. Das hat auf Dauer in keinem Unternehmen funktioniert, dem ich begegnet bin. Typischerweise bleibt das Management des Heimmarktes das, was es in der Vergangenheit war: Das Management dieser operativen Einheit. Die Führungskräfte ziehen weder physisch noch mental in die nächste Rekursionsebene um. Die Grenzen zwischen Hauptquartier und Heimmarkt sind fließend, und die Verantwortungen unklar. Die Symptome Die Folge sind dominante Entscheide zu Gunsten des Heimmarktes, wo immer es Überschneidungen und Abhängigkeiten gibt, die als unfair und willkürlich ­wahrgenommen werden. Achtzig Prozent seiner Zeit verbringt das Senior-Management in der dominanten Einheit. Hier wird das Geld verdient, während die anderen operativen Einheiten immer noch mehr Sorgen als Freude bereiten. Im Streit um interne Ressourcen gewinnt deshalb regelmäßig der Heimmarkt. Das ist verständlich, aber auch gefährlich. Im Fall eines Unternehmens aus der Medizinalindustrie ging es um die Frage nach der richtigen Farbe für medizinische Stützstrümpfe. Aus Kostengründen wollte man nur eine Farbe zulassen, obwohl die regionalen Geschmäcker verschieden waren. Das Marketing des Heimmarktes verlangte, dass die Strümpfe weiß sein müssen. Das Marketing in Südeuropa verlangte hingegen schwarze Strümpfe, weil man Weiß in südlichen Ländern nicht verkaufen kann. Solche Konflikte lähmen und belasten eine Organisation, oder sie führen im besten Fall zu einer Tendenz zum kleinsten gemeinsamen Nenner. Im Fall der Stützstrümpfe war man kurz davor, sich dem Frieden zuliebe auf graue Strümpfe zu einigen, die man am Ende vermutlich weder im einen noch im anderen Markt hätte verkaufen können. Auch in anderen Branchen, die aufgrund unterschiedlicher Kulturen und Geschmäcker regional gegliedert sind, kennt man diese Probleme. Ein Backofen in Spanien muss einen Bratspieß enthalten, weil dieser zur spanischen Kochkultur gehört. Ein Bratspieß ist aber kein typisches Merkmal eines deutschen Backofens. Und das Salzgebäck in Italien muss nach einer anderen Rezeptur gewürzt werden als das Salzgebäck in England, weil es sonst in Italien niemand essen will. Das Preis-Leistungs-Verhältnis muss möglicherweise dem lokalen Markt angepasst werden, aber mit dem Heimmarkt eine strategische Diskussion über Preise und Qualität zu führen, ist schwierig. Für ihn sind diese Unterschiede nebulös. Schließlich meint man das Geschäft ausreichend gut zu kennen. Die Autonomie der kleineren, operativen Einheiten wird durch die Ignoranz der dominanten Einheit stark eingeschränkt, und sie erhalten tendenziell zu wenig Aufmerksamkeit vom Senior-­Management, das ja immer noch primär seinen Heimmarkt steuert und seinen Erfolg dort sucht.

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18 Schnelldiagnosen

Der Aufbau der neuen Märkte dauert deshalb sehr lange und er ist von vielen internen Unstimmigkeiten und Schwierigkeiten geprägt. Man neigt dazu, gute Leute in den Regionen zu verlieren, weil sie keine Lust haben, dauernd gegen die Bollwerke der dominanten Einheit anzurennen. Umgekehrt ist es schwierig, gute Leute im Heimmarkt dazu zu bringen, Führungsaufgaben im Ausland zu übernehmen, insbesondere wenn sie fürchten müssen, den für sie vorgesehenen Platz im Unternehmen plötzlich besetzt zu sehen, wenn sie irgendwann zurückkommen. Der Weg zur Besserung Das Unternehmen muss sich zuerst Gewissheit darüber verschaffen, was es wirklich will. Es braucht eine gründliche System 3–4-Entscheidung zur Balancierung des heutigen mit dem zukünftigen Geschäft, die vom System 5 beaufsichtigt und begleitet werden muss. Es ist wichtig, dass auch die Eigentümer hinter der Entscheidung stehen: Sollen die Regionen den Charakter von Exkursionen in neue Gebiete haben, um diese zu sondieren und allfällige Chancen zu nutzen, oder ist es ein notwendiger und damit gezielter Einstieg in eine neue Phase der Unternehmensentwicklung, die relevante Potenziale, aber auch Umstellungsaufwand und Investitionen mit sich bringt? Im letzteren Fall muss zuerst das Senior-Management so besetzt werden, dass es seine Zeit und seine Aufmerksamkeit weg vom Heimmarkt auf das neue Ganze legen kann. Hier liegt jetzt die anspruchsvollste Aufgabe in der nächsten Phase des Unternehmens, die damit angestoßen wird. Normalerweise erfordert das eine Nachbesetzung der entsprechenden Funktionen im Heimmarkt, was dann möglich ist, wenn man rechtzeitig für Re­ dundanz potenzieller Führung gesorgt hat. Außerdem ist oftmals auch ein physischer Umzug erforderlich, damit der mentale Umzug wirklich erfolgt. Zu leicht wird sonst die Verschachtelung übersehen und Rekursionsebenen werden miteinander vermischt. Wir haben über diesen Kardinalfehler des Organisierens in Abschn. 3.7 gesprochen. Bisher war die Unterscheidung zwischen dezentralen und zentralen Funktionen und Aufgaben kein großes Thema. Jetzt muss hingegen entschieden werden, welche Funktionen und Aufgaben auf der neu geschaffene Rekursionsebene erfüllt werden sollen. Erfolgsentscheidende Aufgaben, die man zentralisieren muss, weil man es sich anders nicht leisten kann, müssen unbedingt auf die neue Rekursionsebene gehoben werden. Andernfalls blockieren die unvermeidlichen Egoismen der dominanten Einheit die Entwicklung des Ganzen. Eine zentrale Produktion, die für alle Regionen produziert, kann man beispielsweise nicht mehr von der dominanten, operativen Einheit steuern lassen, wo sie bisher organisatorisch und vielleicht auch juristisch angesiedelt war. Was wäre anderes zu erwarten, als dass diese Einheit, die wie alle anderen auch unter Leistungsdruck steht, nicht zuerst ihre eigenen Probleme mit allen zur Verfügung stehenden Ressourcen löst, bevor sie and das Ganze denkt? Erfolgsentscheidende Aufgaben, deren Dezentralisierung man sich grundsätzlich leisten kann, müssen an die operativen Einheiten übergeben werden. Diese müssen die nötigen Kompetenzen in der eigenen Hand haben, die sie für den Aufbau ihrer Region benötigen. Nur so haben sie genügend Handlungsspielraum, um der Komplexität ihres Marktes

18.6  Multiple Persönlichkeit

301

entgegentreten zu können. Sie müssen nach anderen Maßstäben gemessen und beurteilt werden als der Heimmarkt. Und sie brauchen volle Aufmerksamkeit und volle Unterstützung vom Senior-Management, wenn es die Situation erfordert. An der Organisation erkennt man also, ob es einem Unternehmen ernst war mit der Expansion in neue Märkte, oder ob man eine zweifelhafte „Man probiert es einmal“-Strategie fährt, indem man etwas kleckert, wo klotzen nötig wäre. Die Dominanz kommt als Organisationsmuster nicht nur aus diesen Gründen und in dieser Form vor. Sinngemäß sind es die gleichen Mechanismen, die auch in anderen Segmentierungen und anderen Unternehmenstypen vorkommen, und die zu den gleichen Steuerungsproblemen führen. In der Geschichte kann beispielsweise beobachtet werden, dass keine Republik, kein Staatenbund und keine Konföderation für eine längere Zeit überleben konnte, wenn eines der Länder viel größer und stärker war als die anderen.

18.6 Multiple Persönlichkeit Die Situation Die multiple Persönlichkeitsstörung des Unternehmens kommt ebenso häufig im Non-­ Business wie im Business Bereich vor. Sie entsteht da, wo sich ein Unternehmen mit einem oder mehreren anderen Unternehmen zusammentut, um beispielsweise ihre gemeinsame Wertschöpfungskette zu optimieren, ein großes Projekt gemeinsam zu stemmen oder um andere, übergeordnete Ziele zu erreichen. Dabei übernimmt das Unternehmen die Führung, das den größten Beitrag an diese Wertschöpfung leistet oder das am nächsten beim Kunden oder Leistungsempfänger liegt. Faktisch schafft man sich damit eine neue Rekursionsebene mit einer eigenen Identität, in der die zusammenarbeitenden Unternehmen jeweils eine operative Einheit im gemeinsamen System 1 bilden. Das hat zur Folge, dass die Systeme 2 bis 5 gemeinsam entwickelt werden müssen, damit das Vorhaben gelingt und steuerungs- und lebensfähig wird. Um die Sache zu vereinfachen und Aufwand zu sparen, verzichtet man aber auf den Aufbau einer eigenen Rekursionsebene, und versucht stattdessen, alles von demjenigen Unternehmen aus zu steuern, das die Führung des Konsortiums oder des Syndikats übernommen hat. Das griechische Wort „syndikos“ bezeichnet den Verwalter einer Angelegenheit. Dieses Unternehmen übernimmt also die Verwaltung für alle anderen Mitglieder – und integriert deren Leistung in ihr eigenes, bestehendes Steuerungssystem. In Abb. 18.6 erkennt man die faktisch neue geschaffene Rekursionsebene, mit ihren operativen Einheiten. System 1a und 1b sind die beiden bestehenden operativen Einheiten des führenden Unternehmens. System 1c und 1d sind zwei weitere Unternehmen, die im Konsortium mitarbeiten. Das Senior-Management unterscheidet sich nicht vom Senior-­ Management des führenden Unternehmens. Es hat keine Durchgriffsrechte und damit keinen vertikalen Befehlskanal und kein System 3∗, das bis in die Systeme 1c und d reichen würden. Diese werden einzig über ein schwaches System 2 (Sitzungen und Projektverträge)

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18 Schnelldiagnosen

Abb. 18.6 Multiple Persönlichkeit

und ein wenig über einen schwachen Ressource Bargain and Accountability-Kanal inte­ griert. Im Übrigen hängen sie freischwebend in der Steuerungsorganisation. Die Symptome Die Komplexität des eigenen Geschäftes auf der horizontalen Achse steigt, weil fremde operative Einheiten dazu kommen. Jede operative Einheit leistet jetzt einen anderen Wertschöpfungsbeitrag. Damit steigt also die Anzahl der Einheiten wie auch ihre Unterschiedlichkeit. Da gleichzeitig wesentliche Steuerungsfunktionen auf der vertikalen Achse fehlen oder stark beschnitten sind, wird das Ganze labil (vgl. Kap. 11). Die Integration der verschiedenen Beiträge der Partner findet auf der Ebene des einzelnen Deals statt, hat dort aber großes Konfliktpotenzial: Wird der Partner seine Leistung wirklich erbringen, und hält er sich an die Spielregeln – soweit diese überhaupt existieren? Die System 2- bis 5-Funktionen werden vom Management des steuernden Unternehmens übernommen, welches aber über zu wenig Varietät verfügt, weil es die anderen Unternehmen im Konsortium nicht gut genug versteht und ihre Interessen und Möglichkeiten deshalb auch zu wenig berücksichtigt. Der Corporate Intervention Kanal vom System 3 zum System 1 fehlt. Es kann die Autonomie der beteiligten Einheiten kaum einschränken, wo es für die Optimierung des Ganzen (beispielsweise eben der Wertschöpfungskette) nötig wäre. Und letztlich ist diesem Management das Wohlergehen der eigenen zwei operativen Einheiten wichtiger als das Konsortium. Das Ganze wird eigentlich nur über ein

18.7 Kopflosigkeit

303

ebenfalls schwach ausgeprägtes System 2 zusammengehalten. Die ersten Erschütterungen überlasten diese Struktur, und dann fehlen die weiteren Strukturelemente, damit das Unternehmen wieder zur Ruhe kommen kann. Der Weg zur Besserung Wie bereits angesprochen, besteht das Problem darin, dass eine eigene Rekursionsebene mit einer eigenen Identität gewollt ist, aber faktisch fehlt. Wenn das Konsortium von einem der Unternehmen geführt wird, gerät dieses in eine schwierige Lage. Es soll die eigene Identität aufrechterhalten, und gleichzeitig die gemeinsame Identität für alle anderen Persönlichkeiten sein, die jetzt sozusagen auf Kopfhöhe dazukommen. Identitäten konkurrenzieren einander und es beginnt ein Kampf um Hierarchie aus Interesse und Macht statt aus der Relevanz von Information (vgl. Kap.  7). Davor schützt sich das steuernde Unternehmen in der Folge mit Hilfe des bekannten Varietätsdämpfers Ignoranz, indem es die anderen Persönlichkeiten einfach ausblendet, wann immer das möglich ist. Die Konflikte werden dadurch aber nicht gelöst, sondern nur nach unten auf die Ebene des Deals, also beispielsweise ins Projekt, verdrängt. Die Identität des Konsortiums ist eine andere, als die Identität ihrer Mitglieder. Das muss respektiert werden, indem Organe und Gremien außerhalb eines führenden Unternehmens aufgebaut werden, in die alle Partner gleichermaßen eingebunden werden. Für die Berücksichtigung und Balancierung aller Interessen muss ein gemeinsames System 3 aufgebaut werden, wie auch ein gemeinsames System 2, in dem die Mechanismen für die Zusammenarbeit verbindlich geregelt sind, ein System 3∗, das allen Mitgliedern gegenseitig einen definierten Einblick in die gemeinsamen Operationen gibt. Ebenso braucht es ein gemeinsames System 4 und System 5, das alle Charakteristiken, Perspektiven und Interessen der beteiligten Unternehmen berücksichtigt und damit die erforderliche Varietät aufbringt. Ein Weg dazu wird in Abschn. 19.1 vorgestellt. In all diesen Steuerungsfunktionen darf das führende Unternehmen auch in der Wahrnehmung nicht mehr als ein Primus inter Pares sein.

18.7 Kopflosigkeit Die Situation Das Muster der Kopflosigkeit tritt häufig nach missglückten Reorganisationen auf. Aufgrund einer neuen Strategie oder Änderungen in den Kundenbedürfnissen wird die Anatomie verändert, aber man passt die Neurologie nicht an die neue Anatomie an. Eine vorerst national tätige Nichtregierungsorganisation (NGO) wurde ursprünglich gegründet, um das Land im Bereich der Arbeitslosigkeit zu einem besseren Ort zu machen und Leid zu lindern. Der Enthusiasmus und die Zielstrebigkeit der Mitarbeiter ließen das Unternehmen über mehrere Jahrzehnte wachsen. Es vervielfachte seine Spendeneinnahmen und lancierte immer umfangreichere und anspruchsvollere Projekte, die positive Aufmerksamkeit gewannen. Dann wurden internationale Ableger gegründet, die in verschiedenen Ländern

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18 Schnelldiagnosen

i­nternationale Projekte koordinieren sollten. Auch diese Ableger arbeiteten erfolgreich. Es stellte sich sogar heraus, dass sie für den Projekterfolg die entscheidende Rolle spielten, weil sie die lokalen Gegebenheiten besser kannten und wussten, wie mit den Menschen und den Behörden vor Ort umzugehen ist. Auf die Frage, wie sich das Unternehmen organisieren muss, damit das im Vordergrund steht, was für den Leistungsempfänger wichtig ist, gab es eine klare Antwort: Die Region statt des Themas musste zur dominierenden Steuerungsdimension werden. Man entschied sich deshalb, die internationalen Ableger nicht nur zur Projektkoordination einzusetzen, sondern zu operativen, lebensfähigen Einheiten zu machen, die in ihrer eigenen Umwelt zunehmend auch eigene Projekte mit eigenen Spendengeldern durchführen sollten. In einer anderen NGO, die im Wissenschaftsbereich tätig war, wurden in der Vergangenheit Fördergelder an regionale Forschungszentren und Institute zur Förderung und Finanzierung der Forschung verteilt. Auch dieses Unternehmen war erfolgreich tätig und konnte seine Budgets und den Rahmen seiner Aktivitäten kontinuierlich ausweiten. Die einzelnen regionalen Zentren blühten auf, und man gewann zahlreiche Wissenschaftsauszeichnungen und Nobelpreise. Mit der zunehmenden Komplexität der Forschungsprojekte einerseits, und der zunehmenden Konkurrenz um knapper werdende Fördermittel andererseits, wurde es immer wichtiger, wenige aber wesentliche Themen zu besetzen, die in der Wahrnehmung des Steuerzahlers und damit des Ministeriums für Bildung und Forschung von hoher Priorität waren. Diese Art von Projekten ist fast immer interdisziplinär, und so wurde die Steuerung eines Themenfeldes oder eines Projektes, in dem nun viele Vertreter vieler Forschungszentren mitarbeiten, zur anspruchsvollen Aufgabe. Es wurde klar, dass die primäre Steuerungsdimension deshalb weg von der Region, beziehungsweise weg vom einzelnen Forschungszentrum gehen musste. Das Management des einzelnen Themenfeldes, in welchem man Wirkung erzielen wollte, stand im Vordergrund und wurde als primäre Steuerungsorganisation erkannt. Man entschied sich deshalb, pro Themenfeld ein organisatorisches Gefäß in Form einer Programmleitung zu schaffen, das die Vertreter aus den Zentren und Instituten steuern sollte. In beiden Beispielen drehte man die primäre Steuerungsdimension aus strategisch richtigen Gründen um und legte die Verantwortung und Kompetenz auf neue organisatorische Gefäße. Und in beiden Beispielen arbeiteten die bisherigen organisatorischen Gefäße genau gleich weiter wie bisher. Sie berichteten weiterhin direkt an das Senior-­Management des Unternehmens, wie sie es schon immer getan hatten, und dieses führte mit ihnen die gleichen Diskussionen auf dem Ressource Bargain and Accountability Kanal wie zuvor. Das Gleiche taten jetzt zusätzlich auch die neu geschaffenen operativen Einheiten. Die Symptome Abb. 18.7 zeigt die Situation aus der Sicht der neu geschaffenen Programmleitung eines Themenfeldes in der Wissenschaftsorganisation. Ein Themenfeld muss als primäre Steuerungsdimension eine operative Einheit und als solche selber lebensfähig sein. Es wirbt seine Fördergelder selber ein und sorgt für attraktive Programme, deren Resultate

18.7 Kopflosigkeit

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Abb. 18.7  Kopflosigkeit (Struktur schlägt Strategie)

etwas Gesellschaftsrelevantes bewirken. Es ist ergebnisverantwortlich und entwickelt seine eigenen, strategischen und operativen Pläne innerhalb der Leitplanken des Unternehmens. Die im Themenfeld aktiven Einheiten in den beteiligten Forschungszentren und Instituten werden dadurch zu den operativen Einheiten in seinem System 1. Da das Führungssystem nur erweitert, aber nicht revidiert und angepasst wurde, blieben die Zentren faktisch wie bisher als operative Einheiten auf derselben Rekursionsebene bestehen, auf der die neu geschaffenen Programmleitungen dazu kamen. Für die Programmleitung bedeutet das, dass sie über keinen wirksamen Zugriff auf die Ressourcen in den beteiligten Zentren und Instituten verfügt. Wenn auch die Situation im Unternehmen als Ganzes dem oben besprochenen Muster der Schizophrenie gleicht, ist die Dysfunktionalität aus Sicht der Programmleitung eine Rekursionsebene tiefer doch eine ganz andere. Der fehlende Durchgriff in die Zentren, also in ihre eigenen, operativen Einheiten in den Regionen, macht sie faktisch zum Führungs-­Eunuchen. Sie ist auf den Goodwill der Zentren angewiesen, die im Zweifelsfall eher ihre eigenen Interessen optimieren. Damit wird es für die Programmleitung fast unmöglich, ihre Themenfeldstrategie umzusetzen. Die Programmleiter haben die Aufgabe und die Verantwortung übernommen, aber sie erhielten faktisch gesehen die Kompetenz nicht dazu. Die Gefahr ist, dass man damit vielversprechende Führungskräfte im Unternehmen unwissentlich und ohne böse Absicht verbraucht. Sie sind zuerst stolz, dass sie zu Programmleitern befördert werden. Wenn sie noch unerfahren sind, merken sie erst zu spät, dass sie in dieser Struktur keine Resultate erzielen können. Sie sind den bisherigen

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18 Schnelldiagnosen

Zentrumsleitungen ein Dorn im Auge, weil sie Einfluss nehmen wollten, wo diese doch ihre eigenen Pläne haben. Kompensatorisch bauen die Programmleitungen in ihrem System 4 dann typischerweise Wasserköpfe auf, um den fehlenden Durchgriff auf ihr System 1 mit umso mehr fachlicher Kompetenz durch Studien, Expertise und Netzwerk gegenüber den Zentren zu balancieren. Wenn sie schon nicht entscheiden und anordnen können, müssen sie inhaltlich überzeugen. Außerdem blähen sie ihr System 2 auf, um über eine Vielzahl von Regelungen Einfluss nehmen zu können. Die entstehende Bürokratie wird dann zum Hauptargument der Zentren gegenüber der Unternehmensleitung, warum es die Programmleitungen eigentlich doch gar nicht braucht. Sinngemäß passiert das Gleiche im ersten Beispiel der NGO im Bereich der Arbeitslosigkeit, wo die Regionalleitungen vergeblich gegen die etablierten und finanziell nach wie vor am besten ausgestatteten Programmleitungen anrennen. Abb. 18.7 ist in diesem Fall aus Sicht einer Region zusehen. Ihre operativen Einheiten sind die Themen, respektive die einzelnen Projekte, auf die sie jedoch keinen Durchgriff haben, solange sie diese nicht selber im eigenen Land finanziert und gestartet haben. Der Weg zur Besserung Die Kur ist für beide Beispiele die gleiche: Die Neurologie muss an die geänderte Anatomie angepasst werden. Im Beispiel der Wissenschaftsorganisation bedeutet es, dass die Zentren aus juristischen Gründen zwar nach wie vor ihre Budgets und Bilanzen erstellen, diese aber keine Steuerungsrelevanz mehr für das Unternehmen haben dürfen. Die Unternehmensleitung schaut ausschließlich auf die Resultate der Programmleitungen, deren Strategien und operative Pläne. Die Mitarbeiter in den Zentren werden auf die Programme zugeteilt, helfen sich aber wenn nötig vor Ort in den Zentren zwischen den Programmen gegenseitig aus. Ihre Führungs- und Zielgespräche führen sie nicht mehr mit der Zentrums- oder Institutsleitung vor Ort, sondern mit dem Programmleiter, der ihre Leistungen auch beurteilt. Die Ergebnisse werden den Programmen zugeordnet, und die Zentren arbeiten im Wesentlichen nur noch den Programmen zu. Die Personalentwicklung, also die Frage, welcher Forscher in Zukunft in welche Programme eingebunden werden soll oder für welche Projektleitungen vorgesehen ist, findet nicht mehr in den Zentren statt, sondern zentrumsübergreifend im Programm. Das gefällt den regionalen Zentren nicht. Ohne solche Kompetenzen bleibt die neue Strategie aber Papier. Ein Teil der bisherigen Leitungsmitglieder in den Zentren übernimmt neu die Führung eines Programmes. Da die Zentren bereits in der Vergangenheit bestimmte Themenschwerpunkte und Spezialisierungen hatten, ist die Zuordnung einfach vorzunehmen. In den anderen Zentrums- und Institutsleitungen gehen einige in Pension und andere freuen sich, eine Aufgabe mit etwas weniger Verantwortung zu übernehmen oder sie wechseln in ein anderes Zentrum. Erst mit der Anpassung des Führungssystems und der Lösung der personellen Fragen kommt wieder Ruhe und Zug ins Unternehmen. Genau genommen handelt es sich bei diesem Muster nicht um Kopflosigkeit, sondern eher um Tetraplegie, also der Trennung der Verbindung zwischen Kopf und Organen im

18.7 Kopflosigkeit

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Unternehmen, die beide für sich funktionieren, aber eine willentliche Steuerung unmöglich machen. Ein ähnliches aber umgekehrtes Muster konnte man vor etwa zwanzig Jahren verbreitet antreffen: Den „Kopffüßler“. In der Zeit der „New Economy“ sollten die bisherigen ökonomischen Regeln über Bord geworfen werden. Man vermutete mit viel Zweckoptimismus neue Gesetzmäßigkeiten, nach denen die Bäume auf einmal in den Himmel wachsen konnten. Die in der Folge zu schwindelerregenden Beträgen an der Börse gehandelten Start-Up-Unternehmen bestanden hauptsächlich aus Kopf. Sie hatten keinen nennenswerten Körper. Ihr Zweck bestand darin, Erwartungen zu generieren, die an der Börse verkauft wurden. Dazu verfügten sie über große Entwicklungsabteilungen im System 4 und prominent besetzte Verwaltungsräte und Beiräte im System 5. Was sie nicht hatten, war ein System 1, also Kunden, die ihre Produkte und Dienstleistungen kauften. So wurde eine Zeit lang sehr viel Geld verdient, bis es nach dem Platzen der Dotcom-Blase auf einen Schlag wieder verloren wurde. Für die Lebensfähigkeit braucht es vor allem ein funktionierendes System 1. Visionen genügen nicht. Die in diesem Kapitel diskutierten Muster von Dysfunktionalitäten sind keine abschließende Aufzählung. Es sind häufig vorkommende Beispiele, welche die diagnostische Kraft des Modells aufzeigen sollen. In allen Beispielen hatte man vor der Diagnose die Probleme an anderen Stellen vermutet. Erst im Laufe der Arbeit mit dem Viable System Model konnte man ihre wirklichen, strukturellen Ursachen erkennen, wobei die neuralgischsten Punkte in jedem Fall bereits nach der Schnelldiagnose zu erkennen waren. In diesem Sinne gleicht das Modell einer Brille, die man sich bei Organisationsfragen aufsetzt, mit der man mehr und schärfer sieht als durch andere Brillen hindurch.

Balance von Gegenwart und Zukunft

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Eine der schwierigsten Aufgaben des Senior-Managements in der aktuellen Transformationsphase, in der sich so schnell so viel verändert, ist das Finden der richtigen Balance zwischen den Notwendigkeiten des heutigen Geschäftes und den Notwendigkeiten des zukünftigen Geschäftes. Dem Gleichgewicht zwischen dem Heute und der Zukunft sowie dem Außen und dem Innen des Unternehmens ist deshalb das letzte Kapitel gewidmet. Wir haben bereits in Abschn. 5.5 und 14.4 über den System 3–4-Homöostaten und seine Bedeutung für die Lebensfähigkeit gesprochen. Wenn er funktioniert, lernt das Unternehmen. Es erneuert sich und passt sich den Veränderungen seiner Umwelt im Gleichtakt an. Dieser Selbsterneuerungs-Mechanismus sorgt für Adaption und Evolution des Unternehmens im Sinne eines kontinuierlichen Fließgleichgewichts. Wie aber sehen nun die konkreten Mechanismen in so einem Homöostaten aus? Welche Vorgehensweisen begünstigen richtige Antworten auf die Frage, wann das Unternehmen seine Ressourcen von den heutigen auf zukünftige Prioritäten verlagern soll? Und mit welchen Strukturen findet es trotz schlechtem Wetter und fehlender Information seinen Kurs? Als Mensch können wir sofort reagieren, wenn wir mit einer unerwarteten Chance oder einer Gefahr konfrontiert sind. Wir erkennen, was los ist, überlegen die Implikationen, wägen die Optionen ab, wählen eine davon aus, handeln und korrigieren nach, wenn wir gefehlt haben. Wir sind in der Lage, blitzschnell einen unerwartet auf uns zu fliegenden Ball zu fangen oder mit viel Raffinesse unsere erste Liebe für uns zu gewinnen. Diese Funktionen sind in unser Nervensystem eingraviert, laufenteilweise  unbewusst ab und machen uns ohne unser Zutun zu hervorragenden Kybernetikern. In unseren Unternehmen ist das Nervensystem hingegen fragmentiert und es dauert deshalb unter Umständen sehr lange vom Stimulus bis zur Entscheidung für eine Aktion. Die notwendigen, neurologi-

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Pfiffner, Die dritte Dimension des Organisierens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29247-8_19

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schen Strukturen entstehen im Unternehmen nicht von selbst, sondern wir müssen sie bewusst aufbauen und gestalten. In der Praxis haben die meisten Unternehmen Mühe, diesen Mechanismus zuverlässig und auf Dauer zum Funktionieren zu bringen. Drei Probleme machen die Aufgabe schwierig: 1. Wir neigen dazu, im Neuen das Alte zu sehen. Was wir bisher gedacht, gesehen oder getan haben, ist wie eine Spur im Tiefschnee. Die Wahrscheinlichkeit, dass unser Denken dem bereits vorgespurten Weg folgt, ist viel größer, als dass es sich einen neuen Weg durch den Schnee bahnt. Einmal erstellte Verknüpfungen in unserem Gehirn gleichen diesen Spuren im Schnee, so dass unsere Wahrnehmung geprägt wird durch das, was wir bisher getan oder gesehen haben. Veränderungen nehmen wir nur mit Verzögerung wahr. Und je erfolgreicher die Vergangenheit war, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass alles, was nicht in das bewährte Bild passt, verdrängt oder gar nicht erst wahrgenommen wird. Dieses Phänomen wird auch „Wahrnehmungshysterese“ genannt. Das Problem mit dem blinden Fleck ist, dass man nicht weiß, wo man ihn hat. Leer zu werden, um Neues zu sehen und neue Antworten gelten zu lassen, fällt den meisten Führungskräften schwer. 2. Zweitens handelt es sich hier um die schwierigsten Fragestellungen, mit denen das Unternehmen konfrontiert ist, und zu denen es Entscheidungen treffen muss. Das Senior-­Management ist mit der gesamten Komplexität dieser Themen konfrontiert, in der fachliche Gesichtspunkte ebenso eine Rolle spielen, wie ökonomische, soziale oder politische Gesichtspunkte. Keine dieser Entscheidungen kann man isoliert betrachten, weder im Unternehmen noch auf der Zeitachse. Die Themen sind vernetzt und die Folgen von Entscheidungen können nur beschränkt vorhergesehen werden. Weil wir gemäß Ashbys Gesetz diese Vernetzungen und Querwirkungen nicht ignorieren dürfen, müssen viele Perspektiven berücksichtigt, und deshalb auch viele Personen aus verschiedenen Funktionen in die Lösungsfindung eingebunden werden. Das Wissen ist im Unternehmen verteilt, und die Leute reden nicht von selbst miteinander. Jeder Fachbereich arbeitet für sich. Die Leute in der Forschung und Entwicklung reden nicht mit der Marktforschung, die Leute in der Personalabteilung nicht mit denen in der IT, und die aus der einen Division nicht mit denen aus der anderen Division. Man kann sie aber auch nicht einfach zusammen in einen Raum stecken, sonst wird am Ende nur der gehört, der am lautesten schreit. Wir brauchen eine Methode, die die verteilte Intelligenz im Unternehmen nutzt. 3. Drittens muss das schnell gehen. Mit den alten Methoden analysieren und diskutieren wir uns zu Tode und handeln zu wenig und zu spät. Die zahlreichen Studien und Planungsberichte, die in den Regalen herumstehen, veralten schneller als sie Wirkung erzielen. Keiner hat Zeit, sie zu lesen. Wir müssen also die alten Planungsmethoden, die für eine weniger dynamische Umwelt geschaffen wurden, und inzwischen nicht selten zu Planungsbürokratien verkommen sind, über Bord werfen und schneller und wirksamer werden. Mit Hilfe der neuen Technologien sind wir grundsätzlich in der Lage, in Echtzeit zu steuern.

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Die einfachste Form der Balancierung von System 3 und System 4 funktioniert über Meetings. Durch die Tagesordnungen wird gesteuert, welche Meetings sich über das Jahr verteilt mit den System 3-Themen befassen und welche bewusst den System 4-Themen gewidmet werden. Auch Projekte wie ein Strategieentwicklungsprojekt fokussieren alle relevanten Funktionen und Schlüsselpersonen des Unternehmens für einige Zeit auf eine System 3–4-Frage. Das alleine wird in Zukunft aber nicht mehr genügen. Wir müssen uns auf noch komplexere Fragen einstellen, die wir noch schneller und auf umfangreichere Art werden beantworten müssen, als das mit Meetings und Projekten möglich ist. Die Gehirnkapazität des Unternehmens ist mit den herkömmlichen Methoden erschöpft. Trotzdem stehen wir erst am Anfang und nicht am Ende unserer Möglichkeiten. Zwei davon werden im Folgenden vorgestellt. Sie haben sich in der Praxis weltweit und in allen Arten von Kulturen und Unternehmen bewährt.

19.1 Beyond Dispute Wie können wir also noch bessere Antworten auf noch komplexere Fragen in noch kürzerer Zeit finden? Antworten, die alle relevanten Vernetzungen berücksichtigen und solche, die auch wirklich umgesetzt werden können? Der leistungsfähigste Computer, der uns zur Verfügung steht, ist nach wie vor unser eigenes Gehirn. Dennoch kann eine Person alleine wenig ausrichten. Sie ist ausgebildet und erfahren in ein bis zwei Fachgebieten, nimmt entsprechend ihrer Verantwortung eine gewisse Perspektive ein und unterliegt, wie wir alle, der oben beschriebenen Wahrnehmungshysterese. Um Kompetenz aus allen relevanten Fachgebieten und Perspektiven auf eine Frage zu fokussieren, müssen wir also mehrere Personen zusammenbringen. Und da wir die Lösungen auch umsetzen wollen, muss eine Willensbildung in einer kritischen Masse von Schlüsselpersonen des Unternehmens stattfinden. Wie aber bringen wir diese Leute so zusammen, dass sie ihre kollektive Intelligenz wirklich nutzen und sich einigen können? Das ist keine einfache Sache. Wenn es uns aber gelänge, zwanzig bis vierzig Gehirne so zusammenzuschalten, dass sie wie ein einziges Gehirn funktionieren, dann hätten wir einen Computer von gigantischer Leistungsfähigkeit geschaffen, der alle fachlichen, ökonomischen, sozialen und politischen Gesichtspunkte mitrechnet. Wie strukturieren wir eine große Gruppe von Personen, ohne sie in die üblichen, tödlichen Korsette von Hierarchie oder Methode zu zwingen? Denn sie sollen innerhalb weniger Tage zu einer umfassenden Antwort auf eine komplexe Frage kommen und dabei den gemeinsamen Willen entwickeln, diese Lösung auch wirklich umzusetzen. Welche Kommunikationsstruktur und welche Selbstregulierungsmechanismen sorgen dafür, dass dieses System am Ende mehr als die Summe seiner Teile produziert, anstatt wie so üblich entweder im Streit oder beim kleinsten gemeinsamen Nenner zu enden? Wie oft ist doch der Konsens die Lösung, die keiner wirklich will und die deshalb von Beginn weg zum Scheitern verurteilt ist. Welche Struktur bringt stattdessen einen Konsens im Sinne des größten, gemeinsamen Faktors aller Beteiligten hervor?

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„Beyond Dispute. The Invention of Team Syntegrity“ heißt das Buch, in dem Stafford Beer seine Interpretation von Kybernetik in Anwendung auf diese Frage beschreibt [1]. Die Beteiligten gehen dazu für zwei bis vier Tage in Klausur und folgen wie bei der Papstwahl im Konklave einem kybernetischen Protokoll, das sie bis zur Lösung ihres Themas führt. Da es in unserem Fall aber nicht nur um eine Personenwahl geht, ist der Weg zum weißen Rauch wesentlich komplexer. Die entscheidende Frage ist, wie man die Beteiligten so miteinander vernetzt, dass etwas Neues entstehen kann. Verschiedene Vernetzungsmuster führen zu ganz verschiedenen Resultaten. Das Vernetzungsmuster „Stille Post“ beispielsweise, bei dem der eine dem anderen etwas weitersagt, führt am Ende unweigerlich zu Unsinn. In den Unternehmen sind es die sogenannten „Lehmschichten“ zwischen den Rekursionsebenen, die den Inhalt von Nachrichten verändern oder blockieren. Andere Vernetzungsmuster sind dazu geeignet, eine Nachricht schnell zu verbreiten. Wenn wir hingegen Wissen und Erfahrung austauschen und zu neuen Ideen und Einsichten gelangen wollen, braucht es dafür zweiseitige Kommunikation, oder eben Konversation: Einen Prozess des gegenseitigen Lernens, Verstehens und Inspirierens. Dazu braucht es ein Vernetzungsmuster, mit dem jeder den anderen hören und wie in einer Jazz-Combo sofort auf ihn reagieren kann. Das funktioniert gut bei einer kleinen Gruppe von fünf Personen. Wie aber soll es in einer großen Gruppe von etwa dreißig Personen funktionieren? Solche Klausuren oder Konferenzen finden weltweit täglich in unzähligen Bereichen statt: Innerhalb einzelner Unternehmen, zwischen mehreren Unternehmen und in politischen Gremien und Organen. Die dafür angewandten Vorgehensweisen, Methoden und Protokolle packen die Varietät aber meistens von der falschen Seite her an. Sie zerstören sie schon zu Beginn und dann während der Klausur so drastisch, dass gar keine wirklich innovative Idee mehr Platz hat. Sie dämpfen nur, aber verstärken nicht. Die Frustrationen, die dadurch entstehen, habe ich selber in 20 Jahren mehrmals miterlebt, sei es als Teilnehmer wissenschaftlicher oder politischer Konferenzen oder von Unternehmenskonferenzen. An einer Nahost-Friedenskonferenz am Genfersee in der Schweiz kamen etwa dreißig hochrangige Vertreter der Juden und Palästinenser für vier Tage zusammen, um die Gespräche nach einer langen Pause erstmals wieder aufzunehmen. Bereits zwei Stunden nach Konferenzbeginn entstand die erste Krise, weil beide Seiten nicht mit der Agenda der Veranstaltung einverstanden waren, obwohl diese von den Organisatoren der einladenden Institution mit viel diplomatischem Fingerspitzengefühl vorbereitet worden war. Die Gäste wollten über andere Dinge reden. Mit der Gestaltung einer vorgegebenen Agenda kappen die meisten der gängigen Konferenzprotokolle die Varietät so stark, dass jeder schon vorher weiß, was am Ende dabei herauskommt. Ein erfahrener Assistent kann anhand der Tagesordnung das Protokoll der Sitzung schon schreiben, bevor diese beginnt. Und in wissenschaftlichen Konferenzen ist man irgendwann tatsächlich dazu übergegangen, die Resultate der Konferenz (die Conference Proceedings) zu publizieren, bevor die Konferenz überhaupt stattgefunden hat. In Unternehmensklausuren reiht sich üblicherweise Präsentation an Präsentation, so dass die Teilnehmenden einzig in den Pausen und abends beim Bier miteinander ins Gespräch kommen – was sich am Ende als der ergiebigste Teil der Veranstaltung heraus-

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stellt. Durch solche Protokolle kann nichts Neues entstehen. Sie replizieren nur das bestehende Denken und die Logik von gestern. Beer widmet sein Buch „Beyond Dispute“ deshalb „to the open mind“ und zitiert eingangs aus dem Book of Proverbs: „He that answereth a matter before he heareth it, it is a folly and shame unto him [2]“. Wir wollen Komplexität beherrschen und nutzen – und nicht einfach nur reduzieren. Nachdem man an der Friedenskonferenz mit viel Geschick einen Kompromiss zur Agenda gefunden hatte, trafen sich die Teilnehmenden über die nächsten Tage jeweils in einem großen, bankettähnlich hergerichteten Saal, der einen irgendwie an Versailles erinnerte. Der Vorsitz wurde klar durch eine kleine Erhöhung erkennbar gemacht. Auf den zu einem großen U angeordneten Tischen standen auf jedem Platz Mikrofone. Die Themen wurden sequenziell nach dem gleichen Muster abgehandelt: Ein Impulsreferat startete jeweils die Diskussion. Danach hörte man zuerst Einzelreden, auf die man in der Folge durch Handzeichen zu antworten versuchen durfte. Ein Moderator steuerte die Diskussion. Weil jeder am Tisch wusste, dass man bei dreißig Teilnehmenden höchstens einmal die Chance erhält, etwas zu sagen, hörte keiner mehr auf zu reden, wenn er endlich einmalan der Reihe war. Da seit seinem Handzeichen normalerweise bereits zehn Minuten vergangen waren, hatte kein Statement irgendetwas mit demjenigen des Vorredners zu tun, sondern man sprach, um sich selbst und seine Meinung klar zu positionieren. Es sprach nicht derjenige, der etwas zu sagen hatte, sondern der, der noch nicht dran gewesen ist. Der Kommunikationskanal war völlig überlastet, und es entstanden selbst bei den aufmerksamsten Teilnehmenden bereits nach kurzer Zeit Missverständnisse, Ungeduld und Ärger. Statt einer Konversation entstand ein Streitgespräch, bei dem die Mauern zwischen den Parteien immer höher gezogen wurden, je länger die Konferenz dauerte. In den Pausen gab es kleine Diskussionsrunden und Gruppierungen, in denen vermutlich das Wesentliche an dieser Konferenz entstand, so dass das offizielle Protokoll wie ein nutzloser, ja eher störender Rahmen, darum herum erschien. Ein hochrangiger und erfahrener Vertreter der jüdischen Seite, der bereits an den Camp-David-Verhandlungen Ende der 1970er-Jahre teilgenommen hatte, sagte mir in einer Pause, dass es nicht an den Menschen und an den Möglichkeiten läge, dass man nie zu tragfähigen Resultaten komme, sondern an den Protokollen dieser Veranstaltungen. Er hat sie schon so oft versagen sehen, dass er inzwischen resigniert und alle Erwartungen, wenn auch nie die Hoffnung, verloren hatte.1 Ähnliches habe ich an einer Klimakonferenz in Brasilien erlebt. Die Teilnehmenden fühlten sich nach kurzer Zeit manipuliert, weil sie vermuteten, dass die Veranstalter die Resultate der Konferenz schon im Voraus kannten und die Teilnehmenden nur brauchten, um später sagen zu können, dass sie durch die Konferenz zustande gekommen seien. Sie fühlten sich für Zwecke eingespannt, die nicht ihre eigenen waren. Etwas Gemeinsames oder Neues ist auch hier nach vier Tagen nicht entstanden. Diese alten Protokolle sind nicht auf Zusam Zur Zeit von Israels Ministerpräsidenten Jitzchak Rabin zwischen 1992 und 1995 wurde Stafford Beers Methode im Friedensprozess zwischen Israel und Palästina tatsächlich und mit großem Erfolg angewendet. Dennoch wurde die Umsetzung der Resultate mit der Ermordung Rabins 1995 verhindert.

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menarbeit ausgelegt, sondern auf Ansprachen und Präsentationen. Auch die Führungskräfte, mit denen ich über ihre Klausuren und Willensbildungsprozesse in den Firmen gesprochen habe, beurteilten die Ausbeute als zu gering, abgesehen von der Netzwerkpflege. Man versucht mit Kommunikationsprozessen aus dem 16. Jahrhundert, die Pro­ bleme des 21. Jahrhunderts zu lösen. Obwohl das den Veranstaltern bewusst ist, wählen sie lieber den etablierten Weg, um sich keine Fehler vorwerfen zu lassen. Zu groß ist die Gefahr, zum Opfer gekünstelter Kreativitätstechniken oder Computerspielereien zu werden, auf denen viele Anbieter ihre Modewellen reiten. So wird Expertise verschwendet und so werden vor allem Chancen verpasst. In so einer Klausur darf die Varietät nicht gleich von Beginn an durch vorgefertigte Kategorien in Form einer fixierten Agenda und Präsentationen zerstört werden. Statt mit Antworten beginnen wir mit der Suche nach den richtigen Fragen, denn wenn wir die Antwort schon hätten, bräuchte es gar keine Klausur. Die Teilnehmenden selber müssen die Themen finden, die aus ihrer Sicht wirklich vertieft diskutiert werden müssen. Nur so können sie ihr Wissen, ihre Perspektiven und Interessen einbringen, damit am Ende etwas Umsetzungsfähiges entsteht. Damit sich danach jeder Teilnehmende mit jedem anderen zu jedem Thema austauschen kann, muss die Konnektivität zwischen allen Teilnehmenden maximiert werden. Die Komplexität, die bei dreißig Personen dazu unter Kontrolle zu bringen ist, übersteigt unsere Vorstellungen. Sie entspricht der Anzahl funktionierender oder nicht funktionierender Beziehungen zwischen allen Personen. Nach der in Kap. 10 beschriebenen Formel sind das also zwei Zustände (die Beziehung funktioniert, oder nicht) hoch Anzahl Beziehungen. Bei dreißig Personen sind das n(n−1) Beziehungen, also lautet die Formel für die Varietät der Steuerungsaufgabe 2n(n−1) = 2870. Eine herkömmliche Methode würde unendlich lange brauchen, um dieser riesigen Varietät wirklich gerecht zu werden, oder sie setzt so massive Varietätsdämpfer wie oben beschrieben ein, die das Lösungspotenzial, das in der Varietät drinsteckt, auch gleich vollends zerstören. Um das Potenzial zu nutzen, brauchen wir maximale Konnektivität über die Zeit von wenigen Tagen. Damit sich gute Ideen und Einsichten aus einzelnen Diskussionsthemen gegenseitig befruchten und inspirieren können, muss zudem die Informationsdistanz zwischen allen Themen minimiert werden. Der Trick besteht darin, das System der dreißig Personen nicht linear, sondern dreidimensional zu vernetzen, das System also zu einem Ball zu krümmen und es so zu schließen, dass Information, Argumente und gute Ideen darin kreisen und kursieren können. Die ideale Struktur dazu fand Stafford Beer im Ikosaeder (Abb. 19.1). Es ist neben dem Würfel, Tetraeder, Oktaeder und dem Dodekaeder der komplexeste der fünf platonischen Körper. Die Symmetrie und optische Schönheit dieser regelmäßigen Polyeder lassen ihre interessanten mathematischen Eigenschaften erahnen, die wir uns zunutze machen. Das Ikosaeder wird beispielsweise als Mutter des goldenen Schnitts bezeichnet, dessen Längenverhältnisse sich zwischen allen Eckpunkten wiederholen. Es enthält zudem auch andere geometrische Formen von Bedeutung, wie zum Beispiel das von Sufisten und Jesuiten verwendete, mystische Enneagramm.

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Abb. 19.1  Das Ikosaeder – eine 3D Kommunikationsstruktur

In dieser dreidimensionalen Kommunikationsstruktur sind die Eckpunkte die Themen, die diskutiert werden sollen. Sie werden am ersten Halbtag der Klausur in einem dafür gestalteten Prozess durch die Teilnehmenden gemeinsam festgelegt. Die Verbindungen oder Streben zwischen den Eckpunkten sind die Teilnehmenden selbst, und jede Strebe repräsentiert einen Teilnehmenden. Diese verbinden sozusagen die Themen und deren Inhalte über ihre eigene Person. Es ist eine hierarchiefreie Struktur, weil es bei einer Kugel kein Oben und kein Unten gibt, und eine perfekte Form der Demokratie, weil jeder Teilnehmende die gleichen Möglichkeiten hat, das Resultat zu beeinflussen. Genau das benötigen wir in dieser Phase auch, denn wir wollen das Wissen aller gleichermaßen für die Lösung nutzen. Die Teilnehmenden werden nur dann zur Klausur eingeladen, wenn sie über relevantes Wissen verfügen, oder wenn sie als Schlüsselpersonen für die Umsetzung wichtig sind. Wir wollen, dass sie am Ende zu dieser Lösung stehen, weil sie sie selber hervorgebracht haben. Ob die demokratische Form auch für demokratische Entscheide genutzt wird, ist offen. In den meisten Unternehmen, in denen ich mit dieser Methode gearbeitet habe, behielt sich der Vorstand die Entscheidung vor, wollte vor der Entscheidung aber die integrierte Meinung seiner Schlüsselpersonen kennen. In praktisch jedem Fall wurden am Ende etwa 70  % der Vorschläge angenommen, etwa 20  % wurden überarbeitet und etwa 10  % abgelehnt oder durch etwas anderes ersetzt. Wenndem nicht so wäre, und die Schlüsselpersonen tatsächlich die Welt ganz anders sehen als der Vorstand, läuft im Unternehmen grundsätzlich etwas falsch.

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Zur Quantifizierung dieser dreidimensionalen Kommunikationsstruktur verwendet Stafford Beer die sogenannten Bavelas-Maße, die Alex Bavelas zur Zeit der Josiah Macey Gespräche entwickelt hatte, um soziale Strukturen als Netzwerke zu beschreiben, messbar und miteinander vergleichbar zu machen [3]. Das Ikosaeder erreicht dabei maximale Höchstwerte in allen Kategorien: Group Dispersion, Relative Centrality und Periphality. Mit diesen Einheiten wird gemessen, wie viele Schritte es je nach Protokoll für jeden Teilnehmer braucht, um jeden anderen Teilnehmer zu erreichen, und wie zentral oder wie peripher die Teilnehmenden in diesem Netzwerk durch das Protokoll positioniert werden. Diese Faktoren beeinflussen die Chance einzelner Teilnehmer, guten Vorschlägen Gehör zu verschaffen, die Intensität der Vernetzung und das Entstehen von Arbeitsmoral und Kampfgeist. Neben dem Schritt vom zweidimensionalen in den dreidimensionalen Raum machen wir auch den Schritt vom 90-Grad- zum 60-Grad-Winkel, der im Ikosaeder zwischen allen Streben vorkommt. Das Ikosaeder besteht aus lauter gleichseitigen Dreiecken, und darin liegt eine interessante Eigenschaft verborgen. Wir Menschen bauen normalerweise im 90-Grad-Winkel und stabilisieren unsere Architektur über Druckkräfte: Etwas wird hochgehalten, weil etwas nach unten gedrückt wird. Wenn wir um uns schauen, sind alle 90-Grad-Winkel in unserer Umgebung von Menschen gemacht. Wir leben – und denken in einem gewissen Sinne – in einem euklidischen Raum und im 90-Grad-Stil. Die Natur hingegen baut vorzugsweise im 60-Grad-Stil, weil die Evolution für die Gestaltung von Robustheit und Effizienz das gleichseitige Dreieck favorisiert. Die Schalen von Kleinstlebewesen im Meer, sogenannte Kieselalgen, werden durch diese Bauweise so stabil, dass Alfred Nobel sie dem Nitroglyzerin beigemischt hat, um es zu zähmen und robust genug für sein Dynamit zu machen. Auch unser eigenes Zellgewebe ist im 60-Grad und nicht im 90-Grad-Stil angeordnet. Richard Buckminster Fuller, der amerikanische Leonardo da Vinci der Moderne, baute mit dem 60-Grad-Prinzip geodätische Dome, die aus lauter gleichseitigen Dreiecken bestanden, und die umso stabiler wurden, je größer er sie baute. Er überwand damit die bisher maximale Größe von ungefähr 45 Metern Durchmesser eines in klassischer Art gebauten Doms, dessen Mauerwerk über Kompression stabilisiert wird. Die größten geodätischen Dome erreichen heute Durchmesser von über 200 Metern, und dies bei minimalem Materialeinsatz. Die Struktur wird dabei nicht durch Druck, sondern hauptsächlich über Zugkräfte stabilisiert, die zwischen den 60-Grad-Winkeln entstehen. Die Dreiecke transformieren sozusagen Druck in Zugkraft und umgekehrt. Fuller formulierte die Idee, dass die Natur in einem omnipräsenten Gleichgewicht zwischen Zug- und Druckkräften existiert. Dass es die beiden Kräfte gibt, wusste man schon lange. Dass sie aber in allen physischen Systemen in einer Art von Zusammenarbeit koexistieren, wusste man nicht. Sein Designprinzip, durch das eine Struktur hauptsächlich über Zugkräfte zusammengehalten wird, nannte er „Tensile Integrity“ oder „Tensegrity“. Wir können uns vorstellen, dass Druck- und Zugkräfte auch in einer diskutierenden Gruppe wirken. Sie will sich grundsätzlich verständigen und drängt deshalb zu einem gemeinsamen Punkt hin, zieht dann aber durch Argumente und Gegenargumente das Ganze

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auch immer wieder auseinander. Die Kommunikationsstruktur des Ikosaeders verteilt diese Kräfte gleichmäßig über das Ganze und sorgt damit für Stabilität und Robustheit. Man steht einerseits in jedem Thema unter dem Druck, zu einer Lösung zu kommen, aber die Struktur zerreißt die vorschnellen und oberflächlichen Lösungen immer wieder, um Tiefe zu gewinnen. Die Zugkräfte entstehen dadurch, dass jeder Teilnehmende drei verschiedene Funktionen ausübt. Er ist Mitglied in gewissen Themen, und als solches für Resultate verantwortlich. In anderen Themen ist er Kritiker, der die Diskussion der Mitglieder beobachtet, hinterfragt, kritisiert und ergänzt. Und schließlich ist er auch noch Beobachter weiterer Themen, in denen er nur zuhört und still reflektiert. Der Zwang zum Zuhören und Reflektieren gibt den Teilnehmenden die Chance, andere Sichtweisen zu verstehen und das eigene Verständnis zu erweitern. Zudem wird durch die drei verschiedenen Funktionen als Mitglied, Kritiker und Beobachter die Varietät von 12 Themen auf ein für den Einzelnen verdaubares Maß gedämpft. Tensegrität entsteht primär durch die Kritikerfunktion, die alle 12 Themen im Inneren des Ikosaeders miteinander verbindet und so die Struktur durch Zugkraft stabilisiert. Die Integration unterschiedlicher Sichtweisen durch Zugkräfte geschieht auf eine sy­ nergistische Weise, weshalb Beer seine Methode „Syntegrity“ (synergistic tensile inte­ grity) genannt hat. Die Eigenschaften des Ikosaeders bringen nämlich einen Effekt hervor, der „Reverberation“ genannt wird. Es ist der Synergie-Motor, der dafür sorgt, dass mehrere Menschen tatsächlich klüger sind als ein Einzelner – was normalerweise ja nicht unbedingt der Fall ist. Die Welt der Information funktioniert diesbezüglich anders als die Welt der Energie: Wenn man zwei Esel vor einen Karren spannt, sind die automatisch doppelt so stark wie ein einzelner Esel, aber wenn man zwei Gehirne vor eine Aufgabe setzt, sind die nicht automatisch doppelt so klug wie ein Gehirn. Um den vollen Nutzen aus dem Potenzial von 870 persönlichen Beziehungen unter dreißig Schlüsselpersonen zu ziehen, ist Reverberation nötig. Reverberation funktioniert folgendermaßen: Wenn eines der 12 Themen besprochen wird, sitzen die Mitglieder am Tisch, die Kritiker in der zweiten Reihe und die Beobachter ganz hinten im Raum. Jede Gruppe kommt in dieser Konfiguration drei Mal für jeweils eine Stunde zusammen. Die Mitglieder des Themas am Tisch werden von einem „Facilitator“ begleitet, der die Gruppe unterstützt und ihre Diskussion spiegelt und zusammenfasst, so dass die Mitglieder nichts anderes machen müssen, als nachdenken und reden. Sie müssen weder Computer bedienen noch Kreativitätstechniken folgen, sondern nur das tun, was sie immer tun: Einfach miteinander reden. Reverberation entsteht automatisch durch die Struktur, die die Gruppen so formatiert, dass in jeder Diskussion das jeweils aktuellste Wissen aus allen anderen Themendiskussionen zur Verfügung steht. Schon alleine durch die Mitglieder und die Kritiker ist in jeder Gruppe das Wissen aus allen anderen Themen mehrfach redundant präsent und für die weitere Diskussion nutzbar. Dazu gehören insbesondere die guten Ideen, guten Argumente oder zu koordinierenden Aspekte, die über das Kurzzeitgedächtnis der Teilnehmenden von einem Thema ins andere gebracht werden. Was sie in einem Thema beeindruck hat, die neuen Einsichten und Ideen, tragen sie fortwährend ins nächste Thema hinein. Sie selektieren und filtern aus allen Diskussio-

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nen das Gute, Interessante und Nützliche heraus. Jede gute Idee und jede wichtige Einsicht fängt so in der dreidimensionalen Struktur an zu fließen, wird multipliziert, wird verteilt und sucht sich wie von selbst den Platz in den Themen, wo sie einen Beitrag leisten kann. Um das bildlich darzustellen: Jemand äußert in einem Thema eine gute Idee, die von allen Mitgliedern, Kritikern und Beobachtern im Raum gehört wird. Einige davon tragen sie weiter in andere Themen hinein, von wo aus sie wiederum in andere Themen weitergetragen wird, bis sie denjenigen, von dem sie ausgegangen ist, von hinten wieder in den Nacken trifft. In der Praxis spüren die Teilnehmenden, wie sich im Laufe der Klausur alle guten Ideen multiplizieren, sich zu etwas Neuem formieren und wie die Themen wie von Geisterhand gesteuert zusammenwachsen. In Abb. 19.2 wird mit dem Kreis in der Mitte eines der 12 Themen dargestellt, das von seinen fünf Mitgliedern bearbeitet wird (dicke Streben um das Thema herum). Jedes der fünf Mitglieder ist selber Mitglied in einem zweiten Thema (großer Kreis), Kritiker in zwei weiteren Themen (kleinere Kreise) und Beobachter in nochmals vier weiteren Themen (nicht dargestellt). Mit gestrichelten Linien sind zudem die fünf Kritiker des Themas dargestellt, die ebenfalls Kritiker in einem zweiten Thema und selber Mitglied in zwei weiteren Themen sind. Wenn das Thema in der Mitte besprochen wird, stehen also alle Informationen aus den anderen Gruppen mehrfach redundant zur Verfügung. Sollte eine Idee aus einer anderen Gruppe nützlich sein, oder sollten zwei Themen inhaltlich koordiniert werden müssen, wird das jemand in die Diskussion einbringen. Der Effekt der Reverberation liegt also darin, dass sich die Themen von selbst koordinieren und sich sinnvolle Vorschläge über drei Runden hinweg von Gruppe zu Gruppe multiplizieren, ergänzen und entwickeln, ohne dass das jemand steuern würde – es steuert sich selbst.

Abb. 19.2 Reverberation

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Wie beim Viable System Model sorgt auch hier eine Struktur nach kybernetischen Grundsätzen für Selbststeuerung und Selbstkoordination, denn auch die Kommunikation in einer großen Gruppe von Menschen muss organisiert werden, damit höhere Leistungslevels möglich werden und „Control by Communication“ entstehen kann. Eine solche Klausur beginnt üblicherweise mit einer Eröffnungsfrage, die die aktuell größte Herausforderung des Unternehmens beschreibt. Dabei kann es um ganz verschiedene Dinge gehen, wie beispielsweise um die Entwicklung einer Strategie, die Gestaltung der Organisation (vgl. Abschn. 17.3 Phase B), um eine Post Merger Integration, um Kostensenkung, um eine Konfliktlösung oder um den Start eines großen Projektes. Auf Basis dieser Eröffnungsfrage werden die Teilnehmenden ausgewählt und eingeladen. Während des ersten Halbtags der Klausur dämpfen sie dann die immer noch immense Varietät der ­Eröffnungsfrage auf 12 Themen herunter, die ihrer Meinung nach diskutiert werden müssen. Anschließend diskutiert jede der 12 Gruppen mit jeweils fünf Mitgliedern, fünf Kritikern und Beobachtern ihr Thema während einer Stunde und produziert ein erstes Zwischenresultat, das von den Facilitators schriftlich festgehalten wird. Danach folgt eine zweite und dann eine dritte Runde von Diskussionen, die an die vorherigen anknüpfen und das Thema weiterentwickeln. Nach drei Runden wurde durch die Struktur 90 % der Information über alle Themen hinweg verteilt, was sich in Form des sogenannten Eigenwerts berechnen lässt [1]. Der Eigenwert ist eine immer neue Rückwendung des Systems auf sich selbst, respektive auf das, was darin steckt und ein Maß dafür, wie stark sich ein System selber berechnen, beziehungsweise in unserem Fall, sich selber beobachten und sich selber bewusst werden kann. Tatsächlich entsteht bis zum Ende einer solchen Klausur eine Art von Gruppenbewusstsein, die man im Englischen wohl als „Alignment“ ausdrücken würde. Die Gruppe hat eine zu 90 % gemeinsame Sichtweise und einen gemeinsamen Willen generiert. Am Ende liegt in jedem der 12 Themen eine Antwort auf die Eröffnungsfrage vor, die sich wie Puzzle-Bausteine zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Alle relevanten Perspektiven sind in diese Antwort eingeflossen. Das Resultat ist umsetzbar, weil es umfassend und konkret ist und von dreißig Schlüsselpersonen nicht nur verstanden, sondern auch gewollt wird. In meinen persönlichen Erfahrungen aus über zweihundert solcher Klausuren auf allen Erdteilen und in allen verschiedenen Arten von Unternehmen und Kulturen wurden die Erwartungen jedes Mal positiv übertroffen. Die Methode ist so robust, dass sie mit Topmanagern auf Konzernebene genauso funktioniert wie in Bundesministerien, in KMUs mit ganz praktisch denkenden Leuten, in wissenschaftlich orientierten NGOs oder gar mit Analphabeten. Sie ist weder abhängig von Technologie, noch von Kreativitätstechniken, besonders guten Moderatoren oder von besonders disziplinierten Mitarbeitern. Sie arbeitet mit den Menschen, die wir in unseren Unternehmen antreffen. Und sie ist fast beliebig skalierbar auf kleinere oder größere Formen. In ihrem jüngst erschienenen Buch „Cracking Complexity“ haben die Kanadier David Komlos und David Benjamin diese Methode  „the breakthrough formula for solving just about anything fast“ genannt [4].

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19.2 Der Operations Room Das Unternehmen kann sein „Outside & Then“ und sein „Inside & Now“ mit ganz einfachen Mitteln, Meetings und Projekten balancieren. Sie kann es, wo nötig, auf die aufwändigere Art tun, indem sie zur Lösung ihrer jeweils größten Herausforderungen dreißig Schlüsselpersonen für vier Tage zusammenbringt. Und dann gibt es drittens den Mittelweg, der in diesem Abschnitt vorgestellt wird. Diesen drei Formen der Balancierung ist gemeinsam, dass sie jeweils eine bestimmte Struktur etablieren, um damit von selbst ein erwünschtes Verhalten hervorzurufen. Einmal ist es die Struktur der Agenda, damit die System 4-Themen genügend Aufmerksamkeit und Platz in den Köpfen des Senior-Managements erhalten. Einmal ist es das Kommunikationsmuster, das die Diskussion einer komplexen Frage unter vielen Schlüsselpersonen möglich macht, und dieses Mal ist es eine physische Struktur: Der sogenannte Operations Room ist ein Entscheidungsraum, in dem das Senior-Management an seinen System 3-, 4- und 5-Themen arbeitet und dessen physisches Design richtige Entscheidungen begünstigt. Alle drei Strukturen nutzen die gleichen kybernetischen Prinzipien. Das Design der Räume, in denen heute die wichtigen Entscheidungen getroffen werden, stammt aus der alten Welt des 20. Jahrhunderts. Es sind repräsentative Räume mit einem großen Eichenholztisch in der Mitte und einem Beamer und einem Whiteboard an der Wand. Information wird über umfangreiche Dokumente in E-Mails und über ebenso umfangreiche Präsentationen verteilt. Die Benutzer dieser Räume sind nun aber Menschen, die ihren eigenen, neurophysiologischen Grenzen unterliegen. Es macht also keinen Sinn, sie mit Daten zu überfluten, die sie nicht verdauen können, sofern sie die Dokumente überhaupt lesen und den Präsentationen überhaupt folgen. Es ist absurd, diese Daten so zu präsentieren, dass die relevanten Muster darin versteckt bleiben. Und es ist gefährlich, mit veralteten Daten zu operieren. Und doch werden nicht selten genau diese drei Dinge gemacht. In den heutigen Boardrooms beschäftigt man sich außerdem zu oft mit der Vergangenheit. Gerade in börsenkotierten Firmen neigt man zu kurzfristigem Denken, weil gute Quartalszahlen geliefert werden müssen, damit die Aktionäre zufrieden sind und der Aktienwert der Firma stimmt. Man wird durch dieses Denken auf vergangenheitsorientierte Daten reduziert, wie Auftragseingang, Umsatz, Gewinn und Rentabilitätskennzahlen. Aber auch in anderen Unternehmenstypen beschäftigen sich Führungskräfte in diesen Räumen primär mit der Vergangenheit. Sie schauen in den Rückspiegel, um zu sehen, was in den letzten Wochen und Monaten geschehen ist. Managen kann man aber nur die Zukunft (wie nahe auch immer), und nicht die Vergangenheit (wie aktuell auch immer). Ihre Aufgabe ist es zu steuern, und dazu ist Vorschau nötig, die über das übliche Maß an Erwartungen für die nächsten drei Monate hinausgeht. Falls es im Unternehmen Planungsabteilungen gibt, die es a priori nicht geben sollte, findet man sie oft am Ende eines Astes im Organigramm, vertieft in ihre Modelle und frustriert durch ihre Unfähigkeit, das Denken der Manager zu beeinflussen. Solche Abteilungen haben üblicherweise ein Kommunikationsproblem mit der Geschäftsführung oder dem Operations Directorate. Die Herstellung von Reports, die formalen Komitees

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oder die informellen Konversationen zwischen ihnen wirken zu schwach, um wirklich Einfluss nehmen zu können. Die Abteilungen werden als Störenfriede wahrgenommen gegenüber dem, was das operative Management zu erreichen versucht. Ihre Berichte werden nicht gelesen, und die informellen Gespräche können zwar wirksam sein, aber auch der politischen Einflussnahme verdächtigt werden. Erfolg hängt dann von den persönlichen Beziehungen ab, die die Personen untereinander haben – und damit vom Zufall [5]. Solche Abteilungen versuchen in dieser Situation wenigstens mit Standards, definierten Prozessen und vorgefertigten Tools, einen Beitrag zu leisten. Am Ende ufert das in eine Planungsbürokratie aus, deren wirklicher Nutzen hinterfragt werden muss, selbst wenn alle Daten regelmäßig im System nachgeführt würden. Was wir brauchen, sind nicht unreflektierte Pläne, sondern eine durchdachte Planung. Wenn man die betroffenen Leute fragt, wie sie solche Planungsprozesse erleben, dann klagen sie, dass man halt durch diese Mühlen durch muss, aber dass man immerhin den Aufwand minimieren kann, solange die Daten vom letzten Jahr noch einigermaßen stimmen, weil da sowieso niemand mehr drauf schaut. Das mag überzeichnet sein, und doch habe ich viele größere Unternehmen gesehen, die genauso arbeiteten. Jack Welch von General Electric soll aus genau diesem Grund seine ganze strategische Planungsabteilung gestoppt haben. Er verlangte, dass die Leute denken und nicht administrieren. Er wollte kein „long-term planning“, das nur deshalb so heißt, weil es lange auf den Regalen he­ rumsteht. Anstatt routinemäßig und in Fleißarbeit Formulare nachzuführen, sollten wir automatisch erkennen, wann und wo etwas wirklich eine Neubehandlung braucht und uns den restlichen Aufwand sparen. Die Planung des Unternehmens kann nicht an eine Planungsabteilung delegiert werden, sie muss durch das Senior-Management selbst erfolgen, weil dies seine wichtigste Aufgabe ist. Wir brauchen dazu aber bessere Steuerungszentren in unseren Unternehmen, die Arbeit abnehmen, unser Denken und Verstehen hirngerecht unterstützen und uns auf die relevanten Punkte fokussieren. Einmal mehr hinken wir hier dem Stand der Technik hinterher, denn die Steuerungszentren unserer Unternehmen sind lange nicht so ausgefeilt, wie die Steuerungszentren unserer technischen Systeme. Im Vergleich zu den Steuerungszentren des Luftverkehrs sehen die Steuerungszentren der Unternehmen im Luftverkehr, also einer Fluggesellschaft oder eines Catering-Unternehmens beispielsweise, erbärmlich aus. In beiden Bereichen gilt gleichermaßen das Conant-Ashby-Theorem: Ein System kann nur soweit unter Kontrolle gebracht werden, als das Control-System Varietät hat. Oder umgekehrt: In dem Maße, in dem das Control-System ein Varietätsdefizit hat, wird das zu steuernde System außer Kontrolle sein. Wir sind technisch ausgefeilt in der Steuerung der Logistik, der Produktion oder des Flugverkehrs, aber noch nicht gut genug in der Steuerung des Unternehmens. Dieses Varietätsdefizit in der Steuerung von Unternehmen wurde erstmals während des zweiten Weltkriegs in Form von drastischer Informationsüberflutung sichtbar. Das kombinierte Vorgehen von unzähligen Land-, Wasser- und Lufttruppen in großen Schlachten produzierte einen ununterbrochenen Fluss an Berichten, die in den Hauptquartieren unkoordiniert eingingen. Aus dem sich ständig verändernden Bild heraus, das aus diesen

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Berichten entstand, mussten Entscheidungen für die Allokation von Ressourcen getroffen werden. In dieser Situation entwickelten die Briten den sogenannten „War Room“, in dem alle Truppengattungen gemeinsam auf denselben Lageplan schauten, miteinander diskutierten und Optionen simulierten, während auf den ausgebreiteten Karten die eingehenden Informationen in Echtzeit sofort sichtbar gemacht wurden [5]. Dieser erste interdisziplinäre Versuch, eine Gesamtrealität unter allen Entscheidungsträgern zu schaffen, indem diese ein gemeinsames Lage-Modell auf Basis von Echtzeitinformation entwickelten, hatte großen Einfluss auf den Verlauf der integrierten Abwehrschlacht Britanniens. Die modernen Lagezentren von Notfall- und Krisenstäben gleichen in ihrer Struktur diesen „War Rooms“. Auch Unternehmen, deren Geschäft eine aktuelle Übersicht und schnelle Reaktion erfordert, verwenden heute solche Räume. In den meisten Unternehmen finden wir hingegen nach wie vor den klassischen Boardroom vor, obwohl auch dort die Störung inzwischen zum Normalfall geworden ist. Es wäre also an der Zeit, die Logik umzudrehen, und die War Rooms nicht zum Bewältigen der Krise zu bauen, sondern um sie so zu nutzen, dass Krisen gar nicht erst entstehen. Stafford Beers kybernetische Interpretation eines solchen War Rooms nennt er den „Operations Room“. Seine Aufgabe ist es, die Balance zwischen System 3 und 4 kontinuierlich aufrecht zu erhalten. Es ist der Raum, in dem alle formalen Sitzungen des Senior-­ Managements stattfinden, und er ist ein Steuerungszentrum des Unternehmens, das permanent tätig ist und immer dann handelt, wenn etwas Relevantes passiert. Die Struktur eines solchen Raumes muss einige Prinzipien berücksichtigen, und vier Bausteine beinhalten. Diese Bausteine können ganz einfach und „lowtech“ gestaltet werden. Man findet sie in ihrer primitivsten Ausführung beispielsweise im Kommandostand eines Feuerwehreinsatzes im Dorf oder am Schützenpanzer einer Infanterie-Kompanie im Wald. Mit einfachsten Mitteln werden Übersichten und Lagepläne aufgehängt und die Kommunikationswege zusammengeführt. Auch wenn die Mittel einfach sind, können sie ihre Funktion erfüllen. Zur Zeit von Präsident Allende hat Beer mit einfachsten Mitteln einen Operations Room für die Chilenische Regierung aufgebaut. Er wurde in den 1970er-Jahren mit einem einzigen, primitiven Computer in Echtzeit betrieben und war mit seinen lernenden Filtern in der Lage, obwohl er nie ganz fertig gestellt werden konnte, die eine oder andere Krise vor dem definitiven Putsch 1972 zu verhindern [5]. Inzwischen gibt es auch zahllose „hightech“ Ausführungen von Operation Rooms wie etwa das Mission Control Center der NASA in Houston oder die Situation Rooms von Regierungen wie im Weißen Haus in Washington. Die meisten Unternehmen sind weder auf „hightech“ angewiesen, noch auf „lowtech“ beschränkt, sondern benötigen ein gesundes Mittelmaß. Die Struktur eines Operation Rooms, ob high- oder lowtech, bleibt invariant. Und die Prinzipien, nach denen er gestaltet wird, umfassen eine Sachlogik, eine Sozio-/Psychologik und eine Chronologik [6]. In der Sachlogik geht es um die Frage, welches die essenziellen Variablen sind, die man überhaupt unter Balance halten muss. Wir dürfen uns nicht zufrieden geben mit dem, was wir an Daten zur Verfügung haben, sondern müssen uns umgekehrt fragen, was wir zum Steuern wirklich brauchen und die IT dann entsprechend gestalten. Unser Marktan-

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teil ist beispielsweise relevant, ob wir ihn kennen oder nicht. Also sollten wir ihn besser kennen. Im Normalfall ist das, was wir wirklich wissen müssen, ohnehin viel weniger als das, was wir in unseren Systemen und Reports alles ansammeln. Die wirklich benötigten Größen haben wir bereits in Kap. 9 eingeführt und begründet. Sie basieren auf dem strategischen Navigationssystem von Aloys Gälweiler [7], den Erkenntnissen aus dem empirischen Strategieforschungsprogramm PIMS [8] und wurden von Fredmund Malik zu den sechs  Schlüsselgrößen des Erfolges zusammengefasst [9]: die Marktstellung (bestehend aus Marktanteil und relativem Kundennutzen), die Innovationsleistung, die Produktivität, die Attraktivität für gute Leute, die Liquidität und der Cash Flow, sowie die Profitabilität des Unternehmens. Operative Daten und finanzielle Kennzahlen alleine sind hingegen strategisch irreführend. Alleine sagen sie nichts über die Lebensfähigkeit aus – nur über die Überlebensfähigkeit, und selbst das nur für eine kurze Zeit. Kurzfristig kann man Kosten minimieren und Profite maximieren, indem man beispielsweise nötige Investitionen oder Abschreibungen aufschiebt. Man überlebt damit, erntet möglicherweise sogar steigende Aktienkurse und Boni, schadet aber der Lebensfähigkeit. Umgekehrt können große Erfolgspotenziale vorhanden sein, die vom aktuellen Management einfach nur schlecht genutzt werden, weshalb die operativen Zahlen alleine auch schlecht aussehen. Es braucht also immer beide Seiten – die operativen Informationen aus dem System 3 und die strategischen Informationen aus dem System 4, um das volle Bild zu sehen und im Sinne der Lebensfähigkeit auf Dauer richtig entscheiden zu können. Und das ist die Aufgabe des Operations Rooms: Er soll dem Senior-Management Information aus beiden Bereichen zeigen und damit die vollständige Sicht auf den Gesundheitszustand des Unternehmens als Ganzes ermöglichen. Für Non-Business-Unternehmen können diese Faktoren sinngemäß angepasst werden. Die Prinzipien der Sozio-/Psychologik sorgen dafür, dass das Interaktionsverhalten und die Eigenschaften menschlicher Wahrnehmung berücksichtigt und unterstützt werden. Sie anerkennen die limitierte Fähigkeit zur Informationsaufnahme und -verarbeitung des Menschen, nutzen aber auch seine Fähigkeit zum Erkennen von Mustern. Ein Operations Room soll das sein, was die Griechen in Latein übersetzt ein Phrontisterium genannt haben – ein Denkraum. Papier und Laptops werden deshalb aus dem Raum verbannt, weil sich die Leute sonst dahinter verstecken und die Kommunikation untergraben. Stattdessen werden große, interaktive Bildschirme an den Wänden positioniert, an denen die Benutzer gemeinsam arbeiten. Es wird viel Gewicht daraufgelegt, wie Informationen dargestellt werden. Alles was wir in der Psychologie über Wahrnehmung, Mustererkennung und Bewusstsein wissen, sagt uns, dass wir unser Urteil auf Basis relativer Größen und Formen, Farben und Bewegungen bilden sollten. Mit großen Zahlenmengen kann unser Gehirn hingegen nicht gut umgehen. Das sollte es dem Computer überlassen, der die Information gehirngerecht, in Form von Grafiken und in relativer Bewegung darstellt. Unsere Gehirne sind nicht Analysatoren, sondern sie sind Erkenner. So kann beispielsweise eine Bilanz, die selber bereits ein Vereinfachungsmuster von komplexen Inhalten für das sonst überforderte Gehirn ist, auch ergonomischer als quantifiziertes Flussdiagramm mit dickeren oder dünneren Linien oder als „Iconographic Model“ mit größeren oder kleineren Kreisen und Boxen gezeigt

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werden. Mit der Symbolisierung (Icons) und Animierung von Inhalten werden aus Daten erst aussagekräftige und handlungsrelevante Informationen. In Bezug auf die Chronologik kommt es darauf an, die Planung von fixierten Zeithorizonten, künstlichen Rhythmen und Periodisierungen unabhängig zu machen. Sie muss als permanenter Prozess aufgesetzt werden. Es genügt heute nicht mehr, alle paar Jahre einen Strategieprozess zu durchlaufen, denn die Halbwertszeit von Strategien wird je kürzer, je dynamischer das Umfeld wird. Das bedeutet nicht, dass wir laufend neue Strategien entwickeln müssen, aber wir müssen die Prämissen laufend überprüfen, die unserer Strategie zugrunde liegen. Neue strategische Überlegungen braucht es dann, wenn sich die Prämissen ändern. Und dann braucht es diese Überlegungen sofort. Auch in der operativen Planung müssen aufgrund neuer Information andauernd Pläne adaptiert werden. Gewisse Planungszyklen sind rechtlich vorgeschrieben, wie die Budgetierung, die Bilanzierung oder gewisse Versammlungszyklen. Eine funktionierende Planung hält diese Vorschriften ein, unterwirft sich aber nicht ihren bürokratischen Maßstäben und fixierten Zeithorizonten. Sie aktualisiert die Pläne dann, wenn es nötig geworden ist (vgl. Abschn. 15.1). In einem Operations Room müssen deshalb die operativen wie auch die strategischen Informationen permanent, simultan und aktuell zur Verfügung stehen, damit sie im Auge behalten werden. Vier Wände im Operations Room, der im Übrigen selber nicht viereckig sein muss, sind vier spezifischen Steuerungsthemen gewidmet (Abb. 19.3). Wie stark diese Wände durch Informationstechnologie unterstützt werden, ist wie gesagt nicht der entscheidende Punkt. Es ist aber wichtig, dass sie irrelevante Information vom Benutzer fernhalten. Das Problem in unseren Entscheidungsräumen ist nicht primär die fehlende Information und auch nicht das Fehlen von relevanter Information, sondern die Überflutung mit irrelevanter Information – oftmals noch verschlimmert durch falsch genutzte Informationstechnologie.

Abb. 19.3  Der Operations Room

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Information & Alarm Auf der ersten Wand werden die unter der Sachlogik oben aufgeführten Steuerungsgrößen angezeigt. Die fortschreitende Digitalisierung macht es immer einfacher, alle Größen im aktuellen Zustand zu zeigen. Wir dürfen heutzutage Entscheidungen nicht mehr mit Daten treffen, die die Welt zeigen, wie sie vor einem oder mehreren Monaten ausgesehen hat. Steuerung muss in einem dynamischen Umfeld in Echtzeit erfolgen, und sie kann es heute auch. In Abschn. 15.1 haben wir bereits über Synchronität gesprochen, und über das Problem, dass unsere Steuerungssysteme mit der Änderungsrate der Umwelt schon lange nicht mehr mithalten können. Bereits 1967 war der Sechstagekrieg zwischen Israel und Ägypten vorbei, bevor die UNO auch nur eine Sitzung einberufen konnte. Wir benötigen für unsere Unternehmen die gleiche Real-Time-Steuerung, die wir für unsere technischen Operationen bereits etabliert haben, beispielsweise in Form der Produktionssteuerung im Kanban-Prinzip oder der Steuerung einer U-Bahn, die Kontakt und Zugriff auf alle Züge hat und deren Reservierungssystem online verbunden ist. Mit der heutigen Technologie ist es möglich, auch das Unternehmen selbst in Echtzeit zu steuern. Zweitens müssen die Daten gefiltert werden, damit wir nicht in ihnen ertrinken. Die Logik muss umkehrt werden: Nicht die Führungskräfte sollen die Information in den Systemen oder in den Berichten suchen müssen, sondern die Systeme sollen die Führungskräfte darauf hinweisen, wenn etwas ihre Aufmerksamkeit verlangt. Wenn die Produktivität in einem Werk sinkt, soll das Steuerungssystem uns darauf hinweisen, dass wir handeln müssen und uns mit zusätzlicher Information versorgen, so dass wir aktiv werden können. Das Steuerungszentrum soll also nicht die Vergangenheit messen, sondern es soll Instabilitäten erkennen. Wenn etwas aus der Balance kommt, müssen wir uns das anschauen und handeln. Filterung ist aber immer auch Varietätsreduktion und muss daher richtig gemacht werden. Die gängigste Art zu filtern, ist das Bilden von Durchschnittswerten und Summen. Dadurch kann unter Umständen gerade das Entscheidende und wirklich Interessante aus den Daten herausgefiltert werden. Wenn beispielsweise ein Patient im Spital 40 Grad Celsius Fieber hat, der Zweite eine Normaltemperatur von 36 Grad und der dritte eine Hypothermie von 32 Grad, scheint im Durchschnitt alles bestens und in Ordnung zu sein. Wir brauchen also intelligente Filter, die Instabilitäten in den Veränderungen entdecken und unsere Aufmerksamkeit dahin lenken, wo das Management handeln muss. Moderne statistische Verfahren interpretieren die eintreffenden Daten vor dem Hintergrund des bisherigen Verhaltens eines Indikators, und sie sind in der Lage zu lernen. Eine Zeitreihe von Daten kann dabei zu einem bestimmten Zeitpunkt entweder den Erwartungen aufgrund der Vergangenheit entsprechen (keine Änderung), ein Ausreißer sein, eine unerwartete Stufenänderung anzeigen, bei der sich etwas auf einem neuen Niveau stabilisiert, oder ihre Steigung, also ihren Trend verändern. Nur bei Stufenänderungen und Trendwechseln generieren die Filter im Operations Room Alarmsignale, die die Aufmerksamkeit des Managements auf diese Entwicklungen hinlenken [10].

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Besonderes Augenmerk muss auf algedonische Information gelegt werden, also auf das Erkennen von Unerwartetem. Die meisten gängigen Reporting-Systeme filtern Überraschungen eher hinaus. Für das Senior-Management ist es aber viel wichtiger zu wissen, was unerwartet ist, als was gut oder schlecht lief. Jede Überraschung muss ernst genommen und analysiert werden, auch wenn sich ein Teil davon am Ende nur als unbedeutende Anekdote herausstellt. Besonders bedeutsam ist der überraschende und unerwartete Erfolg. Man muss ihn entdecken, sich fragen, was er bedeutet und die Chance, die sich vielleicht darin verbirgt, nutzen. Schließlich überlebt man Probleme am einfachsten, indem man sie durch Erfolge irrelevant macht. Interessant ist auch der Triple Index, den Beer für die Messung von Performance vorschlägt [5]. Er setzt sich aus den Indikatoren Aktualität, Kapazität und Potenzial zusammen. Die Aktualität umfasst das, was wir mit den heute gegebenen Mitteln und Einschränkungen tatsächlich erreichen. Die Kapazität beschreibt das, was wir erreichen könnten, wenn wir unter diesen Einschränkungen das Maximum herausholen würden. Die Potenzialität schließlich umfasst das, was wir tun sollten, um im Rahmen des Machbaren unsere Ressourcen zu entwickeln und Einschränkungen abzubauen. Die Produktivität ist dann das Verhältnis zwischen Aktualität und Kapazität. Das Verhältnis zwischen Kapazität und Potenzialität ist die Latenz, und das Verhältnis zwischen der Aktualität und der Potenzialität die Performance. Diese lässt sich auch aus dem Produkt von Produktivität und Latenz errechnen. Dieser Dreifachindex ist nützlich, weil er beide Sichtweisen von System 3 und System 4 integriert. Er zeigt im Gegensatz zu den orthodoxen Reporting-Schemen den Schaden auf, den eine Führungskraft anrichtet, wenn sie nur die Gegenwart optimiert und dabei die Marktreputation des Unternehmens zerstört, die man in drei oder vier Jahren benötigen wird. Weder die Erfolgsrechnung noch die Bilanz weisen auf diese Non-­Performance hin. Memory Die zweite Wand ist dem Gedächtnis des Unternehmens, dem „Model of Itself“ gewidmet. Sie muss ein Modell des Unternehmens zeigen, dem alles, was wir über das Unternehmen wissen, zugeordnet wird, und das uns als Navigationshilfe durch das Gedächtnis führt. Das Viable System Model eignet sich besonders gut dafür, da es alle steuerungsrelevanten Informationen umfasst, diese auf Rekursionsebenen zuordnet und in die fünf Subsysteme kategorisiert. Es bricht die Varietät damit auf eine verständliche und dem Steuerungssystem entsprechende Art auf überschaubare Einheiten herunter. Wir haben in Abschn. 16.3 bereits darüber gesprochen. Das Memorysystem brauchen wir auch, um uns Übersicht über unsere Ressourcen und über die bereits getroffenen Entscheidungen und Maßnahmen zu verschaffen. Wann immer wir etwas Genaueres über uns selber wissen wollen, können wir darauf zugreifen. Für jede Rekursionsebene finden wir darin die geltenden Regelungen und Policies, die Jahreskalender und anderen Übersichten im System 2, die Jahresziele, Budgets, Sitzungsprotokolle und operativen Planungen im System 3, die Strategie, die Funktionalstrategien und die Market-Intelligence-Berichte im System 4 sowie die Konzepte der Unternehmenspolitik und die Business Mission im System 5.

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Wenn wir planen und Optionen gegeneinander abwägen, müssen wir wissen, welche Ressourcen uns zur Verfügung stehen, damit ein Plan am Ende auch wirklich umgesetzt werden kann. Beim Planen geht es schließlich nicht um zukünftige Zustände, sondern um die Maßnahmen, die heute getroffen werden, damit die Zukunft anders wird. Jede Planung endet mit Maßnahmen oder Aktionen, die jemand erledigen muss. Wir müssen uns also erstens erinnern, was wir in der Vergangenheit bereits entschieden haben, welche Projekte, Aktionen und Maßnahmen in Umsetzung sind, was dort der aktuelle Stand ist, und wer sich worum kümmert. Daraus ergibt sich die Übersicht über die verfügbaren Ressourcen und damit die Voraussetzung für Planung und Priorisierung. Neben diesem operativen Maßnahmen-Controlling brauchen wir zweitens auch ein strategisches Controlling, das uns unsere strategischen Prämissen, Ziele und den Abstand zum Erfolg permanent vor Augen hält. Und drittens sollte ein Unternehmen Ereignisse, Themen, Chancen oder Probleme ab einer gewissen Kritikalität und Bedeutung als „Issue“ erkennen, definieren und jemandem in die Verantwortung geben. Das Memorysystem sorgt dafür, dass all diese Prämissen, Maßnahmen, Aktionen, Projekte und Issues nicht vergessen werden. Das Umsetzen einmal beschlossener Dinge ist nämlich, wie in Kap. 17 thematisiert, für viele Führungskräfte eine schwierige Sache, weil sie diese aus den Augen verlieren und vergessen. Der Operations Room unterstützt sie darin, den Fokus und die nötige Übersicht zu behalten, damit die Prioritäten richtig gesetzt werden, wenn die Ressourcen zu knapp sind – und wann sind sie das nicht? Planning & Simulation Nach dem Modell des Unternehmens selbst wird auf der nächsten Wand das Modell des Äußeren, also seiner Umwelt dargestellt. Es enthält die relevanten Komplexitätstreiber wie die aktuellen Trends in der Technologie, bei den Kunden, in der Demografie, der Politik oder Ökonomie, die auf dieses Unternehmen einwirken. Es beschreibt aber auch die Vernetzungen zwischen diesen Faktoren und ihr Wechselspiel. Wir haben die Komplexitätstreiber der Umwelt bereits in Abschn.  14.4 herausgearbeitet. Aber wie schon Saint-­ Exupéry sagte: Das Eigentliche ist unsichtbar. Es sind nicht die Treiber selbst, sondern vor allem ihre Wechselwirkungen, die den Charakter einer Situation bestimmen. Wenn es nun gelingt, die richtigen Wechselwirkungen zu erkennen, schaffen wir damit ein „Model of Totality“ dieses Unternehmens in seiner Umwelt, mit dem wir Optionen simulieren, Szenarien durchgehen, Hebelwirkungen finden und Selbst-Reflexion betreiben können, damit wir mit den falschen Dingen aufhören und die richtigen Dinge tun. Unser Gehirn ist mit der Darstellung von Wirkungskreisläufen, die zwischen den Verbindungen dieser Treiber entstehen, sehr schnell überfordert. Sie bestimmen aber, ob das System labil oder stabil ist, ob die Situation nur schwer oder ganz einfach verändert werden kann, wieviel initiale Anschubkraft an welcher Stelle nötig ist, damit sich überhaupt etwas bewegt, und in welchen Wirkungskreisläufen die mächtigen „Virtuous Circles“ oder „Vicious Circles“ verborgen sind, in denen die größte Gefahr, aber auch die größten Hebel und die besten Ansätze für strategische Stoßrichtungen liegen. Auch hier kann und muss auf Computerunterstützung zurückgegriffen werden. Der MIT-Professor

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Jay Forrester hat dazu bereits in den 1960er-Jahren „System Dynamics“ entwickelt, eine computerunterstützte Methode, mit der die Interaktion der Treiber und ihre Reaktion auf Maßnahmen des Unternehmens simuliert und quantifiziert werden, und das seither erfolgreich zur Modellierung von Industrien, Städten oder auch von globalen Themen verwendet wird. In Deutschland hat außerdem Frederic Vester in den 1970er-Jahren das vernetzte Denken populär gemacht. Sein Ansatz nennt sich Sensitivitätsmodellierung und fokussiert im Gegensatz zu System Dynamics mehr auf die Qualität der Verbindungen und Wirkungskreisläufe als auf deren Quantifizierung. Für beide Methoden gibt es inzwischen einfach zu bedienende Programme, mit denen der Führungskreis sein eigenes „Model of Totality“ erstellen kann, mit dem er Diskussionen über die Zukunft und über Optionen führt. Auch mit diesem Modell muss laufend gearbeitet werden, weil sich schon nach kurzer Zeit alles wieder ein wenig verändert hat, und vor allem weil die Gespräche während der Arbeit am Modell im Führungskreis selbst etwas bewegen. Wenn sie ihr Modell regelmäßig aktualisieren und weiter verfeinern, steigt seine Steuerungskraft gemäß dem Conant-­ Ashby-­Theorem. Das Senior-Management fängt an, seine Umwelt und sein Unternehmen darin besser zu verstehen und ein gemeinsames Bild davon zu entwickeln. Es findet mit der Zeit die Angelpunkte, von denen die maßgeblichen Änderungen ausgehen und selber aber stabil bleiben. Und sie lokalisieren immer präziser die Erfolgsfaktoren für das Unternehmen, und legen dann ihre ganze Kraft darauf. Diese Konversation macht aus Führungskräften ein Team. Das Modell kann aber nur dann ein Katalysator dafür sein, wenn es für alle im Operations Room permanent sichtbar ist, damit sich jederzeit spontane Diskussionen daran entzünden können Diese Art der kontinuierlichen Befassung mit der Zukunft ist besser, als sich auf Pro­ gnosen abzustützen, die mit großer Wahrscheinlichkeit erstens teuer und zweitens falsch sind. Unsere Welt verändert sich mit rasender Geschwindigkeit, und es entstehen Vernetzungen und Wirkungen, die vorher nicht da gewesen sind. „Prognosen sind schwierig“, soll der Physiker Nils Bohr gesagt haben, „besonders wenn es sich um die Zukunft handelt.“ Wir müssen in unserer Planung deshalb auch hier die Logik umkehren: Wir stützen uns nicht auf Prognosen ab, sondern fragen uns, wohin es führt, wenn sich die heute bereits erkennbaren Trends fortschreiben, und was wir deshalb heute tun müssen. Die Entwicklung und Vernetzung von Trends kann simuliert werden, und so entstehen Szenarien, mit deren Hilfe wir testen, wie sich strategische Stoßrichtungen auswirken, um daraus die besten Optionen zu entwickeln. Auf gewisse Szenarien ist man danach vorbereitet und für andere hat man vorbehaltene Entschlüsse und Pläne in der Schublade. Auch strategisches Handeln findet im Gleichtakt mit den Veränderungen der Gegenwart statt, denn es geht auch bei der strategischen Planung nicht um Entscheidungen, die in der Zukunft getroffen werden, sondern um die Wirkung heutiger Entscheidungen in der Zukunft. Sie findet wie die operative Planung kontinuierlich statt. Und auch in der Strategie geht es gemäß dem kybernetischen Prinzip nicht um die Präzision, sondern um die Richtung. Die Prämissen für die Szenarien und für unsere Strategie werden im Operations Room laufend im Sinne eines strategischen Monitorings oder strategischen Radars durch das

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Senior-Management aufgrund der laufenden Entwicklungen aktualisiert. Bei relevanten Veränderungen werden die Szenarien erneut diskutiert und allenfalls neue Alternativen oder Pläne durchgespielt und getestet: Was ist der Effekt, wenn statt der einen Sache eine andere Sache getan wird? Dabei hilft uns die Memory Wand, mit der wir für jede Alternative prüfen, ob wir die dazu nötigen Ressourcen besitzen. Attention Focus Die vierte Wand ist schnell erklärt. Durch sie wird die Aufmerksamkeit aller Personen auf ein bestimmtes Thema gelenkt. An dieser Wand werden Präsentationen, Bilder, Videoclips oder Internetseiten einer Sache gezeigt, um eine laufende Diskussion mit Information anzureichern. Vielleicht möchte man auch die Expertise von Fachleuten im Ausland über eine Videokonferenz in die Diskussion integrieren. Die Wand ist für vieles nutzbar und grundsätzlich eine Reserve für den Fall, dass man mehr oder andere Information benötigt. Sie soll schließlich auch zum Zeichnen und Schreiben von Hand verwendet werden können, um die Gespräche mit Skizzen und Modellen visuell zu unterstützen. Abb. 19.4 zeigt den Operations Room einer weltweit tätigen Firma mit mehreren tausend Mitarbeitern. Er wurde aufgebaut, nachdem die Diagnose des Steuerungssystems relevante Lücken im System 4 und in der System 3–4-Interaktion aufgezeigt hatte. Wie in vielen anderen Unternehmen traf man sich zwar regelmäßig mit den Divisionsleitungen zu Business-Review Meetings, befasste sich dort aber mehrheitlich mit operativen Themen. Strategische Fragen wurden systematisch durch Operatives verdrängt, auch weil man sich

Abb. 19.4  Beispiel eines Operations Room in einer Firma

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in einer starken Wachstumsphase befand. Das Management erkannte die Gefahr und handelte, indem es mit dem Operations Room eine Struktur schuf, die das Verhalten der Führungskräfte änderte. Neben den üblichen operativen Themen kamen durch die physische Struktur nun auch strategische Szenarien und Themen in den Fokus der Gespräche. Die Divisionsleitung berichtete zuerst an der einen Wand über den Stand der Geschäfte (Information & Alarm) und über den Stand der Umsetzung bereits beschlossener Maßnahmen und Projekte (Memory). Zweitens wurde an der Information & Alarm-Wand nach Unerwartetem oder Überraschendem gesucht und allfällige Änderungen in den strategischen Prämissen überprüft und diskutiert (Planning & Simulation). Wenn keine Aktionen nötig waren, wurde das Meeting beendet. Andernfalls wurden die Optionen erarbeitet und gegeneinander getestet (Simulation & Planning) und Maßnahmen beschlossen und verankert (Memory). Zwischendurch wurde, der natürlichen Art unseres manchmal sprunghaften Denkens folgend, von einer Wand zur anderen hin- und hergesprungen. Die Führungskräfte haben in diesem Raum gemeinsam an den Wänden gearbeitet. Wenn sich gewisse Fragen als besonders komplex herausgestellt haben, hat man die in Abschn. 19.1 beschriebene Methode eingesetzt, um an verschiedenen Orten auf der Welt Führungskräfte zusammen zu bringen, um sie gemeinsam am Weg in die Zukunft arbeiten zu lassen. Das Unternehmen hat sich über zehn Jahre hinweg so stark entwickelt, dass es im Konzern wegen seiner Grösse zu einer dominierenden Einheit geworden ist und deshalb später in mehrere, kleinere Unternehmen aufgeteilt wurde.

Abends an der Bar Sandra: David: Rachel: Sandra:

Marc: Rachel:

Marc:

Sandra: Marc:

Uff … das war ein langer Tag! Das kannst du laut sagen. Aber jetzt ist es geschafft. Nein, jetzt fängt die Arbeit erst an. Mir stellt sich wieder die gleiche Frage: Es geht immer um Kybernetik, Kybernetik, Kybernetik, … Wenn das wirklich so wichtig ist für unsere Gesellschaft, warum hört man denn nie davon? Ich jedenfalls habe vorher noch nie von Kybernetik gehört, außer, wenn es um den Terminator oder um Bitcoins und Spionage geht. Hat sich als Wissenschaft nie durchgesetzt. Weil sie als interdisziplinäre Wissenschaft nicht in die Kategorien der Unis reinpasst. Das ist wie mit der vorgegebenen Agenda – was nicht in die gegebenen Kategorien passt, hat keinen Platz. Und darum kann auch keiner eine akademische Karriere in der Kybernetik machen. Es gibt nur Fachzeitschriften, aber keine interdisziplinären Journals, durch die man zu akademischen Meriten kommen kann. Wie bitte? Ich habe mir für mich selber mal eine akademische Karriere überlegt. Wenn du weiterkommen willst, muss du so oft wie möglich in anerkannten Fachzeitschrif-

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ten publizieren. Da muss alles in der Tiefe der Fachexpertise hieb und sichtfest sein, damit so eine Publikation überhaupt angenommen wird. Etwas Interdisziplinäres hat da keine Chance. Also gibt es auch keine kybernetischen Lehrstühle an den Unis. Höchstens Regeltechnik für Ingenieure, weil das ja auf der Hand liegt. David: Ja, die Kybernetik ist eben eine praktische Geschichte. Irgendwie sind wir alle ja gute Kybernetiker. Als verliebte Jungs wissen wir, dass wir nicht gleich auf das Ziel losrennen dürfen, weil sich diese Systeme komplex verhalten. Also fangen wir mit großer Raffinesse an, den Steuerungsprozess mit den richtigen Rahmenbedingungen und Voraussetzungen zu gestalten, damit das gewünschte Resultat entsteht und am Schluss beide von Liebe sprechen. Rachel: Oder nimm die Künstler. Das sind High Variety Athleten. Brian Eno, das Genie der Rock- und Pop-Musik der 70er- und 80er-Jahre, sagte, dass seine Arbeit am meisten durch die Kybernetik von Stafford Beer beeinflusst worden sei. Er schreibt, dass Musik nicht dadurch entsteht, dass man ein fixiertes Ziel nachbildet, sondern dass es darum geht, den Prozess so zu gestalten, dass Musik daraus entstehen kann. Das Resultat bleibt zunächst offen, und das Ziel ist beweglich. David Bowie hatte Stafford Beer ebenfalls auf der Liste seiner fünf Bücher, die er auf eine einsame Insel mitnehmen würde. Sandra: Und trotzdem reden weder die verliebten Jungs noch die Künstler von Kybernetik. Naja, die meisten Menschen wissen ja auch nicht, dass sie Prosa sprechen können. Rachel: (lacht) Und außerdem haben die Amerikaner das Wort Kybernetik aufgegeben, nachdem sie von den Russen in der technischen Anwendung der Kybernetik überholt wurden. Ihr erinnert euch doch an den Sputnik-Schock von 1957? David: Erinnern wäre da zu viel gesagt. Rachel: Von da an wurde das Wort in Amerika vermieden. Man sprach eher über IT oder AI, also über die Anwendungen in der Informatik. In Russland ist Kybernetik hingegen zum Hype geworden. Im berühmten Roman Solaris von Stanislaw Lem von 1961, der vor ein paar Jahren übrigens neu mit George Clooney verfilmt wurde, gibt es Kybernetiker. Sandra: Was du nicht alles weißt … Rachel: Das weiß jeder Ingenieur. Ihr Manager solltet euch wohl besser mal damit befassen, statt immer nur mit ROCEs und EBITs zu jonglieren. Für euch hört die Kybernetik bei der Cybersecurity auf. David: Oder beim Cybersex. Jeder digitale Doppelgänger scheint heute mit „Cyber“ zu beginnen. Marc: Nichts gegen die Cybersecurity. Wir haben alle Hände voll zu tun in unserer Versicherung. Und es ist wirklich nicht die Technik, die den Job schwierig macht, sondern was in der Firma vor sich geht. Da muss sich was ändern, sonst nützt die beste Technologie nichts. Die macht nur alles noch schneller, was schon so nicht funktioniert. Nichts ist schlimmer, als das Falsche noch besser zu tun.

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Sandra:

Rachel:

David: Sandra: Marc:

Rachel:

David:

Marc: David:

Rachel:

Sandra:

David: Sandra:

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Ich bin jedenfalls froh, dass es am Ende eine einfache Darstellung der Steuerungsorganisation gibt. Dieses Diagramm gefällt mir: Die ganze Organisation auf einer Seite. Und das ist alles? Naja, die Arbeit steckt wohl im Inhalt des Diagramms. Die Regelkreise und Kommunikationskanäle selbst siehst du da drauf ja nicht. Die sieht man überhaupt erst, wenn sie nicht funktionieren. Von daher ist das Resultat einer Organisationsdiagnose wohl eine Menge an Maßnahmen, die an verschiedenen Ecken und Enden an der Steuerung die Kanten schleifen und Lücken füllen. Klingt fast wie in einer Schreinerei. Handwerk. Ob es so einfach ist? Immerhin muss ich jetzt nicht meiner ganzen Firma das Viable System Model erklären. Klar, es genügt, wenn du die Maßnahmen hast und mit dem Diagramm die Steuerung aufzeigst. Mehr braucht es nicht. Ich werde allerdings meinen Leuten auch das Modell selber beibringen. Ich möchte, dass sie diese Sprache lernen und verstehen, was sie warum tun. Die sind als IT-Spezialisten wie Ingenieure sowieso nahe bei diesem Denken und werden sich damit nicht schwertun. Und dann können sie ja selber weiter diagnostizieren. Das tun sie im Lernprozess vermutlich sowieso. Mir scheint, man fängt alles um sich herum automatisch an zu diagnostizieren, sobald man das Modell mal im Kopf hat. Und auch Ashbys Gesetz sieht man auf einmal überall in Aktion. Speak for yourself. Aber sagt mal, jetzt im Ernst: Ist das nicht wie so oft bei euch Managern einmal mehr einfach nichts weiter als alter Wein in neuen Schläuchen? Warum meinst Du? Steuerung und Kommunikation ist Führung. Die Steuerungsorganisation und die Kommunikationsorganisation sind nichts anderes als die Führungsorganisation. Und mit der befasst man sich doch schon lange, oder etwa nicht? Ja, aber nicht aus der Sicht der Wissenschaft, die ihr zugrunde liegt: Der Lehre von Steuerung und Kommunikation. Und dass alles, was wachsen und gedeihen will, nicht nur eine Struktur braucht, sondern eine ganz bestimmte Struktur – und eine die immer und überall gleich ist, das ist auch neu. Ich wüsste jetzt ehrlich gesagt auch kein anderes Modell, mit dem man eine Führungs- oder Steuerungsstruktur als Ganzes diagnostizieren könnte. Es gibt da eher einfach ein paar Modelle für Teilbereiche wie ein MbO und ein paar Grundsätze und Prinzipien. Und in jedem Buch findest du andere. Stimmt. Da ist auch eine ziemlich große Beliebigkeit. Jeder redet von was anderem und vom neusten Rezept. Das nervt mich jedes Mal. Da wäre etwas mehr Wissenschaft hilfreich. Aber warum interessierst du dich denn eigentlich für Management, David?

19.2  Der Operations Room

David: Sandra: David: Sandra:

Marc: Rachel:

Marc: Rachel:

Marc: Sandra: Marc: Sandra:

Marc: Rachel: Marc: Sandra:

Marc: Rachel:

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Naja, es gab ja auch immer wieder Piloten, die eine eigene Fluggesellschaft gegründet haben, oder etwa nicht? Wie Moritz Sutter mit der Crossair meinst du? Oder Nicki Lauda? Zum Beispiel. Der war ein Meister der praktischen Regeltechnik, und hat sicher daraus vieles ins Management mitgenommen. Mir war nicht bewusst, wie nahe Kommunikation und Steuerung zusammen liegen. Das heißt, es war mir vom Bauchgefühl her sehr bewusst, aber ich wusste nicht, wie damit umgehen. Mir sind inzwischen schon so einige Dinge in meiner eigenen Firma klar geworden. Ja, und Komplexität als Maßstab. Das ist auch neu. Und einleuchtend, finde ich. Vielfalt ist Stärke. Moment, Vielfalt ist erst einmal einfach Vielfalt. Ob es Stärke ist, hängt davon ab, wie du mit der Komplexität umgehst. Sie hat auch schon Unternehmen kaputt gemacht. Stimmt. Schief gelaufene Diversifikationen gibt es viele. Oder Abenteuer, die an ihrer schieren Komplexität im Voraus erkennbar zu Grunde gehen mussten, wie Edzard Reuters Technologiekonzern. Zu viel horizontale Komplexität, also unführbar. Oder später der Daimler-Chrysler-Exkurs. Okay, die Kunst liegt also darin, wo du Vielfalt vermeidest und eindämmst, und wo du sie förderst. Bisher war das Gefühlssache. Aber es stimmt schon, es hilft, ein Modell von solchen Dingen im Kopf zu haben. Wie meinst du das? Bisher konnte ich mit meinen Führungskräften nicht über so was reden. Ich konnte mein Bauchgefühl für eine Entscheidung manchmal nicht ausreichend begründen. In Zukunft kann ich das besser. Wenn alle das Gesetz von Ashby kennen, lässt sich anders diskutieren. Aber das mit den Krankheiten fand ich geschmacklos. Warum, hast du Angst vor Krankheiten? Mich stört, dass man leichtfertig mit Worten umgeht, die für einzelne Menschen eine große und schwere Bedeutung haben können. Das stört mich nicht. Ich finde, dass auch Unternehmen krank sein können, und dass man die Dinge beim Namen nennen muss. Sonst ändert sich nichts. Wir hätten keinen medizinischen Fortschritt, wenn wir keine unschönen Dinge aussprechen würden. Aber im Unterschied zur Medizin sind das Metaphern. Moment – wichtig ist doch nicht das Wort, sondern der Krankheitsmechanismus, der damit bezeichnet wird. Worte heilen nicht, nur das Verständnis von Einflussfaktoren und Zusammenhängen. Und das steckt ja hinter diesen Metaphern. Da halte ich es mit McCulloch: Don’t bite my finger – look where I am pointing.

334

Sandra:

19  Balance von Gegenwart und Zukunft

Finde ich auch. Die Dieselaffäre hätte möglicherweise verhindert werden können, wenn man bei Volkswagen rechtzeitig eine Dissoziation diagnostiziert hätte. David: Im Nachhinein sind alle immer klüger. Aber wie meinst du das? Sandra: Naja, wenn Volkswagen als technikgetriebenes Unternehmen in Funktionalbereiche gegliedert war, dann müssten gemäß dem Muster der Dissoziation entweder die 2er Systeme super funktionieren, oder dann werden Probleme auf Chefetagen hochgespült, wo sie ohne genügend Fachkompetenz entschieden werden müssen. Oder habe ich das falsch verstanden? Rachel: Nein, das stimmt schon. Du meinst, Piëch und seine Führungskräfte haben sich so verhalten, weil die Organisation sie dazu gezwungen hat? Sandra: Gezwungen würde ich nicht grad sagen, aber einen Einfluss auf die Kultur hat sie mit Sicherheit gehabt. Und dann sind es ja schließlich die Führungskräfte, die selbst die Organisation gestalten. Marc: Da gehe ich mit. Mir gefallen die Krankheitsbezeichnungen trotzdem nicht. Aber okay, manchmal muss man etwas provozieren, um eine Diskussion in Gang zu bringen. Sandra: Das ist richtig. Manager können sich keinen Wittgenstein leisten. David: Was heißt denn das jetzt schon wieder? Sandra: Der soll doch gesagt haben: Worüber man nicht reden kann, darüber soll man schweigen. Wir müssen aber handeln. Ein Manager kann nicht einfach wie ein Dichter schweigen. Rachel: Jetzt verstehe ich langsam, warum dir dieses Modell gefällt. Sandra: Aber diesen Operation Room und diese Klausur-Methode finde ich etwas überrissen. Wenn ich dreißig meiner Führungskräfte für ein paar Tage wegsperre, kann ich den Laden dicht machen. Marc: Wenn das wirklich so ist, dann müsstest du das Prinzip der Redundanz potenzieller Führung nochmals studieren. Erinnerst du dich? Sandra: Naja, ich übertreibe wohl ein wenig. Aber aufwändig ist das schon. Marc: Das kommt darauf an, im Vergleich wozu? Wenn ich mir überlege, wie viel Geld und Aufwand wir uns in den letzten zwei Jahren hätten sparen können, wenn die richtigen Leute von Anfang an miteinander geredet hätten. Ich sag‘s ja, bei uns liegt‘s nicht an der Technik … David: Eine Struktur die dafür sorgt, dass im Gesprächsdurcheinander die Dinge von selbst an ihren Platz kommen und sich Gutes multipliziert. Klingt zu schön, um wahr zu sein. Rachel: Wenn das wirklich funktioniert, ist es das beste Beispiel dafür, wie Kybernetik mit Komplexität umgeht. Marc: Den Aufwand muss man im Verhältnis zum Nutzen sehen. Rachel: Oder zu den Alternativen, die man hat. Meistens gibt es einfach keine Alternative dazu, dass man miteinander redet. Sandra: Das ist irgendwie tröstlich.

Literatur

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Rachel:

Ja, und jetzt müssen immer noch mehr Menschen miteinander reden, je komplexer alles wird. Die Zukunft is a nimma des, was si amoi gwesen is … Karl Valentin. Marc: Die Alternative sind hunderte von Sitzungen. Man redet auch, aber sequenziell und über Monate hinweg und kommt nicht vom Fleck. Aber dafür gibt es keine Kostenstelle. Kosten gibt‘s nur in Form von Gebäck, Milch und Zucker. David: (lacht) Aber wenn ich mir dreißig hochrangige UN-Funktionäre in einer Verhandlungssitzung vorstelle …. oder die dreißig Primaballerinas in einem Konzern. Da fliege ich lieber. Marc: Das bringt uns auf eine interessante Frage. Rachel: Nämlich? Marc: Was ist, wenn der eigene Chef so eine Primaballerina ist und eine solche Struktur nicht will? Chefs haben meistens ihre eigene Agenda. David: Du meinst, wenn sie eben nur an ihrer Karriere, an ihrem Bonus und an ihrer Macht interessiert sind? Die Frage habe ich gestern schon aufgeworfen. Marc: Nicht mal das. Der Eigennutz mag manchmal auch eine Rolle spielen. Aber sie sehen vielleicht die Prioritäten einfach ganz anders. Sandra: Ich halte es diesbezüglich mit Theodore Roosevelt. David: Und was hat der schon wieder gesagt? Sandra: Do what you can, with what you’ve got, where you are! Marc: Auch wieder wahr. Sandra: Das verlange ich auch von meinen Führungskräften. Ich hasse es, wenn sie herumjammern, was sie alles gerne würden aber leider nicht können. Es gibt genügend Dinge, die sie in ihrem eigenen Einflussbereich tun können, da lasse ich ihnen alle Freiheit. Ich wäre manchmal froh, wenn sie sie mehr nutzen würden. Marc: Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden. Sandra: (lacht) Darauf stoße ich an! Und wenn du mit dem Erfolg hast, was du selber anpacken kannst, dann wird dein Einfluss von selbst größer, darüber brauchst du dir keinen Kopf zu machen. Alle: Auf unser Wohl!

Literatur 1. Beer, Stafford. 1994. Beyond dispute. The invention of team syntegrity, 210–224. Chichester/ New York/Brisbane/Toronto/Singapore: Wiley. 2. Book of proverbs 18:13 King James. 3. Bavelas, Alex. 1952. Communication patterns in problem groups. In Cybernetics: Transactions of the eight conference, 1951. New York: Josiah Macy Jr. Foundation.

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19  Balance von Gegenwart und Zukunft

4. Benjamin, David, und David Komlos. 2019. Cracking complexity. The breakthrough formula for solving just about anything fast. Boston/London: Nicholas Brealey Publishing. 5. Beer, Stafford. 1972. Brain of the firm. The managerial cybernetics of organization, 2. Aufl., 193, 241 ff., 162–166. Chichester/New York/Brisbane/Toronto/Singapore: Wiley. 6. Hetzler, Sebastian. 2010. Real-Time Control für das Meistern von Komplexität. Managing Change durch kontinuierlich richtiges Entscheiden, 22, 45 ff. Frankfurt/New York: Campus. 7. Gälweiler, Aloys. 1990. Strategische Unternehmensführung, 2. Aufl., 23–52. Frankfurt/New York: Campus. 8. Buzzell, Robert D., und T. Gale Bradley. 1987. Das PIMS-Programm: Strategien und Unternehmenserfolg. Wiesbaden: Springer. 9. Malik, Fredmund. 2011. Strategie. Navigieren in der Komplexität der neuen Welt. Frankfurt/New York: Campus. 10. Hetzler, Sebastian. 2010. Real-Time Control für das Meistern von Komplexität. Managing Change durch kontinuierlich richtiges Entscheiden, 152–154. Frankfurt/New York: Campus.

Epilog: The Proof of the Pudding is in the Eating

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„We are aware that the many techniques of cybernetics … will transform our whole society. With this knowledge, we are wide awake, alert, capable of action; no longer are we blind, inert powers of fate“ (Pierre Trudeau, Kanadischer Premierminister 1968–84)

Die in diesem Buch vorgestellten Modelle und Methoden sind nicht neu. Auch nicht neu ist die Tatsache, dass die rasante Entwicklung der Technik seit den 50er-Jahren zu einer Fülle an neuen Möglichkeiten und einer riesigen Zunahme an Leistungsfähigkeit geführt hat. Die Digitalisierung ist ihr vorläufiger Kulminationspunkt, und ihre Folgen sind nicht abzusehen. Neu ist hingegen, dass wir jetzt auf diese Situation reagieren müssen. Bisher haben unsere Organisationen hauptsächlich von den Vorteilen dieser technischen Entwicklung profitiert. Seit den 50er-Jahren sind die Märkte gewachsen und haben zu geringer Arbeitslosigkeit, hohen Steuereinnahmen und viel Wohlstand in einer Wirtschaftslage geführt, die jahrzehntelang hauptsächlich von Schönwetter geprägt war. Die zwei Rezessionen in Form der Erdölkrisen in den 1970er- und 1980er-Jahren können als Verschnau­f­pausen in einer einzigartigen Phase wirtschaftlichen Aufschwungs gesehen werden. Inzwischen ist der Vorsprung der technischen Systeme gegenüber den sozialen Systemen aber schlagend geworden. In einem größeren Rahmen wurde das in der New Economy- und High-Tech-Krise Anfang des neuen Jahrtausends erstmals sichtbar, spätestens aber in der Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2008. Diese Krisen wurden durch überforderte oder falsch geleitete Steuerungssysteme in den Firmen, in den Nichtregierungsorganisationen und in den staatlichen Organisationen selbst verursacht. Auch die anhaltende Eurokrise ist letztlich auf ein Versagen der Steuerungssysteme in den Firmen und auf Staatsebene zurückzuführen, das zu deren massiven Überschul-

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Pfiffner, Die dritte Dimension des Organisierens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29247-8_20

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20  Epilog: The Proof of the Pudding is in the Eating

dung geführt hat – wohlgemerkt nicht nach schwierigen Zeiten, sondern im Gegenteil nach einer unglaublich langen Schönwetterphase. Zusammen mit allen anderen Herausforderungen ist diese Krise, in der wir noch immer stecken, weder eine Finanz- noch eine Wirtschaftskrise, sondern eine Krise der Gesellschaft und ihrer Organisationen, die in ihrem aktuellen Modus des Funktionierens an ihre Leistungsgrenzen gelangt sind. Es ist eine Krise der Steuerungssysteme. Das gilt für die Industrienationen gleichermaßen wie für die Entwicklungsländer, denn wie es P ­ eter Drucker formuliert hat: „It can be said that there are no ‚underdeveloped countries‘. There are only ‚undermanaged‘ ones“ [1]. In turbulenten Zeiten wird normalerweise der Ruf nach starken, charismatischen Leadern laut, obwohl uns die Geschichte zeigt, dass sie sich am Ende oftmals nicht als Führer, sondern als Verführer herausgestellt haben. Der Ruf nach besseren Führungskräften, nach Leadern, ist auch in diesen Tagen wieder zu hören. Und doch haben wir nur die Führungskräfte, die wir eben haben – und es besteht keine Hoffnung darauf, dass sich das jemals ändern wird. Die Alternative ist aber interessant: Wenn wir schon davon ausgehen müssen, dass unsere Gesellschaft auch mit normal begabten Führungskräften funktionieren muss, sollten wir nicht nach besseren Leuten suchen, sondern nach besseren Steuerungs- und Kommunikationssystemen um diese Leute herum, die es ihnen einfacher machen, erfolgreich zu sein. Im 21. Jahrhundert werden die Organisationen besser funktionieren müssen, wenn wir unsere Handlungsfreiheit bewahren wollen. Es braucht ein neues Funktionieren der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Organisationen – ein Funktionieren unter den heutigen Bedingungen. Es ist deshalb an der Zeit, das Feuer des Prometheus nicht nur auf die Technik, sondern auch auf unsere Managementsysteme anzuwenden. Dort wo die Negative Feedback-­Loops gut funktionieren, nämlich a priori im Bereich der unternehmerisch geführten Familienunternehmen, haben sich gute Steuerungssysteme aus der Notwendigkeit heraus und durch Talent entwickelt. Wir müssen aber die Leistungsfähigkeit all unserer Organisationen, ob groß oder klein, öffentlich oder privat, Business oder Non-Business, auf das gleiche Leistungsniveau bringen, wie es die Technik selbst erreicht hat. Die nächste Revolution wird nicht mehr eine der Maschinen sein, sondern eine Revolution der Organisationen. Ashbys Gesetz gilt auch hier: Wenn wir die technologische Entwicklung steuern und nutzen wollen, muss unser Steuerungssystem mindestens gleich viel Komplexität aufweisen – und davon sind wir heute meilenweit entfernt. Wenn die technischen Möglichkeiten und Fortschritte ungesteuert bleiben, werden sie Schaden anrichten. Sie führen zu unkontrollierter Verschmutzung, totaler Überwachung, Manipulation von Konsumenten, Gesundheitsschädigung und noch größeren Gefahren. Auf der anderen Seite können wir ihre Potenziale auch in den Dienst des Menschen stellen, denn sie führen auch zu unerreichter Effizienz, Verständigung, Wohlfahrt, Gerechtigkeit, Transparenz, Aufklärung, Wissen, und vielen weiteren guten Eigenschaften. Wenn die Potentiale richtig genutzt werden, vergrößern sie die Wahlmöglichkeiten der Menschen, statt sie zu verkleinern, wie es der ethische Imperativ Heinz von Foersters verlangt (vgl. Kap.  10). Die praktischen Probleme in Wirtschaft und Gesellschaft werden sich nur dann lösen lassen, und der technische Fortschritt wird nur dann auch gesellschaftlichen Fortschritt bringen,

20  Epilog: The Proof of the Pudding is in the Eating

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wenn wir unsere sozialen Systeme besser designen. Sie sind es, die die Technik entwickeln, zum Einsatz bringen, nutzen und regulieren. Wie gut und in wessen Sinne sie das tun, hängt von ihrer der Qualität ab. Die Forderung nach der agilen Organisation, oder nach der hierarchiefreien, innovativen, intelligenten oder produktiven Organisation ist unnötig. Wenn wir die Neurologie des Unternehmens richtig gestalten und es richtig verkabeln, entstehen diese Eigenschaften von selbst. Umgekehrt nützt es nichts, agile, innovative oder produktive Einheiten zu haben, wenn die Gesamtsteuerung und Kommunikation nicht funktioniert. Wird uns die Kybernetik hier wirklich helfen? Eine Wissenschaft, die nach einer anfänglichen Euphorie scheinbar von der Bildfläche verschwunden ist? Wenn wir nicht auf den starken Leader warten wollen, scheint es unsere beste Chance zu sein, das Rezept, das uns vor 70 Jahren den technologischen Schub ermöglicht und wunderbare neue Fähigkeiten hervorgebracht hat, auch auf unsere Organisationen anzuwenden, die ebenfalls dringend neue Fähigkeiten benötigen. Stafford Beer hat als Erster damit begonnen, die Erkenntnisse der Kybernetik, die ich im Prolog die „Rezeptur des Gelingens“ genannt habe, auf das Management sozialer Systeme zu übertragen. Für ihn als Pionier und Innovator gab es keinen vorgespurten Weg. Er mochte deshalb einen Satz aus einem Gedicht des spanischen Dichters Antonio Machado ganz besonders, den er oft rezitiert hat [2]: Caminante, no hay camino Se hace camino, al andar (Wanderer, es gibt keinen Weg. Du machst dir deinen Weg, während du gehst) Inzwischen ist der Weg zur dritten Dimension des Organisierens offen und vorgezeichnet. Wir verfügen mit dem Viable System Model erstmals über ein generisches Steuerungsmodell, wir verfügen über alle technischen Voraussetzungen und Möglichkeiten für eine komplexitätsgerechte, robuste, schnelle und agile Art der Planung, und wir verfügen über genügend praktische Erfahrung. Wir müssen und können die dritte Dimension des Organisierens jetzt organisieren. Und dennoch bleibt die wohl größte Herausforderung bestehen. Sie liegt nicht mehr darin, den Weg zu finden, sondern ihn entschlossen zu gehen. Neue Wege zu gehen, ist keine einfache Sache. Man steht einer großen Gewalt gegenüber: Dem Status quo. Er ist der Feind alles Neuen, und man tut sich persönlich einen Gefallen, wenn man beim Status quo bleibt und weiterhin das tut, was alle tun. Niemand macht einem einen Vorwurf, wenn man beim Etablierten bleibt. Wir limitieren uns deshalb paradoxerweise selbst, gerade weil wir Erfolg haben wollen. Heinz von Foerster hat das in seinem First Theorem wunderschön ausgedrückt: „The more profound the subject you ignore, the greater your chances of fame and success“ [3]. Das Evolutionsprinzip der Mutation, Selektion und Adaption wird aber mit Sicherheit auch hier wirken. Es bringt nicht nur optimierte Lösungen hervor, sondern es ist auch selbst die optimierte Lösung für Fortschritt, wie der deutsche Bioniker Ingo Rechenberg in den 1970er-Jahren bewiesen hat. Es gibt weltweit bereits viele Unternehmen, die an ihrer dritten Dimension arbeiten und neue Wege in der Steuerung und

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20  Epilog: The Proof of the Pudding is in the Eating

Kommunikation gehen. Die Erfolgreichen unter ihnen werden ihre Konkurrenten mit Sicherheit in Bedrängnis bringen und sie früher oder später verdrängen. Bis sich diese Ideen durchsetzen und das Neue selbst wieder zur Selbstverständlichkeit geworden ist, braucht es die eigene Überzeugung in die Richtigkeit des Handelns. Sie macht den Unterschied, ob man sich durch Zweifel und Schwierigkeiten aufhalten lässt oder nicht. In diesem Sinne passt an diese Stelle ein Auszug aus einem anderen Gedicht. Der amerikanische Dichter Robert Frost ging oft mit seinem Freund Edward Thomas, einem walisischen Dichter, spazieren. Dieser soll immer wieder bereut haben, dass sie nicht einen anderen Weg eingeschlagen hatten, auf dem sie die vielleicht noch schöneren Blumen und Landschaften hätten ­bestaunen können. Frost machte sich darüber lustig, dass sein Freund am Ende immer seufzte, egal welchen Weg er nahm. Wie alle wahren Dichter transformierte er diese Alltagsepisode in etwas viel Größeres, das in den letzten Zeilen von „The Road Not Taken“ steckt [4]: Two roads diverged in a wood, and I I took the one less traveled by, And that has made all the difference Wenn dieses Buch einen Beitrag zur Entwicklung der weltweit wachsenden Community leistet, die sich mit der Anwendung des Viable System Models und anderen Anwendungen der Management-Kybernetik in Konferenzen, Internetforen, Tutorials, Büchern und Artikeln beschäftigt, hat es in meinen Augen seinen Zweck erfüllt. Ich hoffe, dass es beim Leser einen Gedanken geweckt hat, der ihn nicht mehr loslässt: Was wäre, wenn mein Unternehmen so wirksam steuern und kommunizieren könnte, wie es mein eigenes Nervensystem tut, und welche fantastischen Eigenschaften könnten wir damit hervorrufen? Ich hoffe, dass er erkennt, dass die Anwendung des Viable System Models in einem gewissen Sinn zwar Raketentechnologie erfordert, aber doch selbst keine „Raketentechnologie“ ist, sondern relativ einfach und pragmatisch erfolgt. Ich freue mich über jegliche Rückmeldungen, Meinungen, Anwendungsfragen oder auch Anwendungsberichte, insbesondere von den Führungskräften, die sich dazu entschließen, die dritte Dimension des Organisierens in ihrem Einflussbereich aufzubauen und dazu jetzt … … das Handbuch weglegen und sich raus in den Verkehr wagen.

Literatur 1. Drucker, Peter. 2000. The ecological vision. Reflections on the American condition. London: Routledge. 2. Garcia-Wiedemann, Emilio J. 2014. Los Proverbios y Cantares de Antonio Machado. Granada: Editiones Dauro. 3. Von Foerster, Heinz. 2003. Understanding understanding. Essays on cybernetics and cognition, 191–197. New York: Springer. 4. Frost, Robert. 1916. Mountain interval. New York: Henry Holt and Company.

Glossar

Ashbys Gesetz (Relative) Autonomie

Algedonisches Signal

Aphorismus Autopoiese Axiom Axiom of Management (First)

Axiom of Management (Second)

Komplexität kann nur durch Komplexität absorbiert werden. Siehe Kap. 10. Die Selbstbestimmung und Handlungsfreiheit einer eigenen Existenz oder Identität, die aber mehr oder weniger stark von anderen Existenzen oder Identitäten abhängig bleibt  – deshalb „relativ“. Siehe Abschn. 5.2. Sorgt dafür, dass kritische Information, ob negativ oder positiv (Schmerz oder Freude), die übliche Reportingstruktur umgeht und ungefiltert und schnell auf der obersten Ebene ankommt. Durchstößt als einziges Signal alle Rekursionsebenen. Siehe Abschn. 15.4. Eine Einsicht. Selbstproduktion, Selbsterschaffung und -erhaltung. Siehe Abschn. 5.2. Eine glaubwürdige Grundannahme. The sum of horizontal variety disposed by all the operational elements equals the sum of vertical variety disposed on the six vertical components of corporate cohesion. Siehe Kap. 11. The variety disposed by System 3 resulting from the operation of the First Axiom equals the variety disposed by System 4. Siehe Abschn. 14.4.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Pfiffner, Die dritte Dimension des Organisierens, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29247-8

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342

Axiom of Management (Third)

Blackbox

Conant-Ashby-Theorem

Emergenz

Erfolgsentscheidend Erfolgskritisch

Essenzielle Variablen

Führungskraft

Funktionendiagramm

Information Homöostase

Glossar

The variety disposed by System 5 equals the residual variety generated by the operation of the Second Axiom. Siehe Abschn. 14.5. Ein System, dessen innerer Aufbau nicht interessiert. Eine Untersuchung und Beschreibung beschränkt sich auf das äußere Verhalten (Input/Output der Blackbox). Siehe Kap. 6. Every good regulator of a system must be a model of that system. That model must have requisite variety. In Anwendung auf Management besagt es, dass das Ergebnis jedweden Managements nicht besser sein kann, als das ihm zugrunde liegende Modell – es sei denn durch Zufall. Siehe Kap. 10. Neue Eigenschaften eines Systems, die sich nicht auf Eigenschaften seiner Elemente zurückführen lassen, sondern durch ihr Zusammenwirken entstehen. Siehe Abschn. 2.4 und Kap. 15. Erfolgskritische Aufgaben, die Einfluss auf kaufentscheidende Kriterien haben. Siehe Kap. 13. Die zwanzig Prozent aller Aufgaben, die zusammen achtzig Prozent des Erfolges des Unternehmens ausmachen. Siehe Kap. 13. Lebenswichtige Faktoren, die das Steuerungssystem gut unter Kontrolle beziehungsweise innerhalb definierter Limiten halten muss. Siehe Kap. 4, 13 und Abschn. 19.2. Manager. Jede Person, die Verantwortung für einen relevanten Beitrag an das Unternehmen trägt, unabhängig von der Anzahl Mitarbeiter, die geführt werden. Ordnet den Stellen (Personen oder Organisationseinheiten) Kompetenzen zu einzelnen Aufgaben in Form einer zweidimensionalen Matrix zu. Verknüpft die erste Dimension des Organisierens (Auf­ bau) mit der zweiten Dimension (Ablauf/Prozesse). Auch Funktionsmatrix oder Activity Distribution Chart genannt. Siehe Abschn. 16.1. „What changes us“. Ein Unterschied, der einen Unterschied macht. Siehe Kap. 10. Aufrechterhaltung eines Gleichgewichtszustandes. Stabilität der internen Umwelt eines Systems in ­einer externen, unvorhersehbaren Umwelt. Ein

Glossar

Homöostat Komplexität

Kontrolle (Selbst-)

Kybernetischer Imperativ

Law Law of Cohesion

Leadership

Management

Millersche Zahl Operative Einheit

343

Fließgleichgewicht. Siehe Kap.  10, Abschn.  14.5 und Kap. 19. Ein System in Homöostase. Verhaltensvielfalt eines Systems die dadurch entsteht, dass dessen Elemente auf verschiedene Wei­se interagieren können. Die Maßzahl von Komplexität ist Varietät. Siehe Kap. 10. Wird hier meistens im Sinne des englischen Wortes „control“ verwendet, also im Sinne von Steuerung. Sie soll wenn immer möglich im Sinne einer Selbst-Steuerung, also implizit oder intrinsisch erfolgen. Dazu ist ein Negative Feedback-Loop nötig. Sie kann aber auch explizit oder extrinsisch erfolgen (hingehen und nachschauen). Siehe Kap. 10. Handle stets so, dass die Anzahl der Wahlmöglichkeiten größer wird. Wird auch ethischer Imperativ genannt, wenn durch eine Handlung die Wahlmöglichkeit des Anderen größer wird. Von Heinz von Foerster in Anlehnung an Immanuel Kants kategorischen Imperativ formuliert. Siehe Kap. 10. Gesetze beruhen auf Axiomen. … for multiple recursions of the Viable System: The System 1 variety accessible to System 3 of recursion x equals the variety disposed by the sum of the metasystems of recursion y for every recursive pair. Autonomie darf nur in dem Maß eingeschränkt werden, wie es zur Erhaltung der Identität des Ganzen nötig ist. Das bedeutet auch, dass Entscheidungen auf der tiefstmöglichen Ebene getroffen werden. Siehe Kap. 6. Ist das gleiche wie richtiges und gutes Management. Umgekehrt führt gutes und richtiges Management automatisch zu Leadership. Die Funktion, die Wissen in Nutzen transferiert. Das Führen von Menschen und das Führen einer organisatorischen Einheit. „Sieben plus/minus Zwei“, begrenzt durch die kognitive Valenz. Siehe Abschn. 9.3. Ein Element in System 1. Mit relativer Autonomie ausgestattet, ergebnisverantwortlich, zweckerfüllend und selbststeuernd. Siehe Abschn. 5.1 und 5.2.

344

Policies

Glossar

Grundsatzaussagen, die auf viele verschiedene Situationen anwendbar sind. Beispiel: Rechtsvorfahrt im Straßenverkehr. Siehe Abschn. 5.6. Purpose The purpose of a system is what it does. Entspricht (nur) in einem funktionierenden System dem Unternehmenszweck, wie er in einer Business Mission definiert ist. Siehe Kap. 9. Principle Etwas, das man berücksichtigen, untersuchen und gründlich verstehen muss. Prinzipien sind wichtige Dinge, die wir nicht außer Acht lassen dürfen. Principle of Organization (First) Mangerial, operational and environmental varieties, diffusing through an institutional system, tend to equate; they should be designed to do so with minimum damage to people and to cost. Siehe Kap. 12. Principle of Organization (Second) The four directional channels carrying information between the management unit, the operation, and the environment must each have a higher capacity to transmit a given amount of information relevant to variety selection in a given time than the originating subsystem has to generate it in that time. Siehe Abschn. 15.1. Principle of Organization (Third) Wherever the information carried on a channel capable of distinguishing a given variety crosses a boundary, it undergoes transduction; the variety of the transducer must be at least equivalent to the variety of the channel. Siehe Abschn. 15.1. Principle of Organization (Fourth) The operation of the first three principles must be cyclically maintained through time without hiatus or lags. Siehe Abschn. 15.1. Principle of Potential Command Power resides where information resides. Siehe Kap. 7. Redundancy of Potential Command Jede Führungsstufe ist in der Führung der nächsthöheren Rekursionsebene ausgebildet. Das Kommando kann dadurch bei Bedarf an verschiedene Stellen wahrgenommen werden, je nachdem, wo die relevante Information ist. Siehe Kap. 7. Regulatory Aphorism (First) It is not necessary to enter the blackbox to un­ derstand the nature of the function it performs. Siehe Kap. 6.

Glossar

Regulatory Aphorism (Second)

Rekursivität Recursive System Theorem

Rekursionsebene Senior-Management

SIF (System in Focus)

Steuerungsfunktion

Squiggly Lines Subsidiarität

System

System 1

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It is not necessary to enter the blackbox to calculate the variety that it potentially may generate. Siehe Kap. 10. Eine wiederholte Anwendung derselben Funktion auf sich selbst. Siehe Kap. 6. In a recursive organizational structure, any viable system contains, and is contained in, a viable system. Jedes lebensfähige System ist eingebettet in ein lebensfähiges System und besteht selber aus lebensfähigen Systemen. Siehe Kap. 6. Managementebene. Die nächste Ebene, die alle Ebenen darunter beinhaltet. Siehe Kap. 6. Das Management des System in Focus. Gemeint sind die verantwortlichen Personen, die zusammen als Leitung einiger operativer Einheiten deren System 2- bis 5-Funktionen erfüllen. Das übergeordnete (Meta-)Steuerungssystem. Siehe Einführung Kap. 14. Die operative Einheit, die wir diagnostizieren und gestalten wollen. Das SIF liegt immer auf der Rekursionsebene 0. Siehe Abschn. 9.2. Das, was die Steuerung tut, unterteilt in die fünf Steuerungselemente oder Subsysteme 1 bis 5, die fünf verschiedene Steuerungsfunktionen ausüben. Siehe Kap. 4. Abhängigkeiten zwischen den Operationen. Siehe Abschn. 5.3. Organisationsprinzip, nachdem Aufgaben nur dann von einer übergeordneten (Rekursions-) Ebene übernommen werden, wenn sie von der untergeordneten, sachnahen Ebene nicht übernommen werden können. Eine Menge von Elementen, die untereinander und mit der Umwelt in Wechselbeziehungen stehen. Durch die Wechselbeziehungen ist das Ganze etwas anderes (hoffentlich mehr) als die Summe seiner Teile. Ein System wird durch einen Beobachter seinem Interesse entsprechend definiert. Umfasst alle operativen Einheiten auf einer Rekursionsebene, die gemeinsam den Zweck des Ganzen erfüllen, ergebnisverantwortlich und mit relativer

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System 2 System 3 System 4 System 3–4-Homöostat

System 5 System in Focus (SIF) Subsidiarität

Theorem Theorem (First)

Transduction

Unternehmen

Varietät

Viability

Glossar

Autonomie ausgestattet sind und sich selbst steuern. Sorgt für Koordination und Schwankungsdämpfung. Enthält auch unterstützende Funktionen. Sorgt für Optimierung des „Inside & Now“ des Unternehmens. Sorgt für das „Outside & Then“ des Unternehmens. Sorgt für das Fließgleichgewicht zwischen dem „Inside & Now“ und dem „Outside & Then“ des Unternehmens und für evolutive Anpassung an ei­ ne sich verändernde Umwelt. Sorgt für Identität und gibt Leitplanken vor. Die Rekursionsebene, die wir aktuell diagnostizieren. Aufgaben werden nur dann von einer höheren Rekursionsebene übernommen, wenn die untere, sachnahe Ebene die Aufgaben nicht selber erfüllen kann. Siehe Kap. 13. Etwas das man demonstrieren und beweisen kann. The more profound the subject you ignore, the greater your chances of fame and success (Heinz von Foerster). Ein Vorgang durch den Informationen in eine geeignete Form gebracht werden, damit sie für ein anderes System verständlich, nutzbar oder transportierbar werden. Siehe Abschn. 15.1. Steht für alle Arten von Organisationen, Business oder Non-Business, groß oder klein. Jede lebensfähige, operative Einheit wird der Einfachheit halber als Unternehmen bezeichnet. Die Anzahl unterschiedlicher Zustände, die ein System (aus Sicht eines Beobachters) annehmen kann. Maßzahl für Komplexität. Siehe Kap. 10. Lebensfähigkeit. „Able to maintain a separate existence“. Siehe Abschn. 2.4 und Kap. 4.

Literatur zum Viable System Model (chronologisch)

1. Beer, Stafford. 1972. Brain of the firm. The managerial cybernetics of organization, 2. Aufl. Chichester/New York/Brisbane/Toronto/Singapore: Wiley. 2. Beer, Stafford. 1979. The heart of enterprise. The managerial cybernetics of organization. Chichester/New York/Brisbane/Toronto/Singapore: Wiley. 3. Malik, Fredmund. 1984. Strategie des Managements komplexer Systeme. Ein Beitrag zur Management-­Kybernetik evolutionärer Systeme, 10. Aufl. Bern/Stuttgart/Wien: Haupt. 4. Beer, Stafford. 1985. Diagnosing the system for organizations. The managerial cybernetics of organization. Chichester/New York/Brisbane/Toronto/Singapore: Wiley. 5. Espejo, Raul, und Roger Harnden. 1989. The viable system model. Interpretations and applications of Stafford Beer’s VSM. Chichester/New York/Brisbane/Toronto/Singapore: Wiley. 6. Espejo, Raul, und Markus Schwaninger. 1993. Organisational fitness. Frankfurt/New York: Campus. 7. Beer, Stafford. 1994. Beyond dispute. The invention of team syntegrity. Chichester/New York/ Brisbane/Toronto/Singapore: Wiley. 8. Fuchs, Jürgen, Hrsg. 1994. Das biokybernetische Modell  – Unternehmen als Organismen. Wiesbaden: Gabler. 9. Paetzmann, Karsten. 1995. Unterstützung von Selbstorganisation durch das Controlling: Eine systemorientierte Untersuchung auf Grundlage des „Viable System Models“. Frankfurt a. M./ New York: Peter Lang. 10. Espejo, Raoul, Werner Schuhmann, und Markus Schwaninger. 1996. Organizational transformation and learning. A cybernetic approach to management. Chichester/New York/Brisbane/ Toronto/Singapore: Wiley. 11. Bachmann, Manuel, und Dieter Michel. 2001. Das Pentagramm der Komplexitätsbewältigung. Management-Kybernetik am Beispiel des Schweizer Paraplegiker-Zentrums Nottwil. Basel: Verlag Paraplegie. 12. Schwaninger, Markus. 2006. Intelligent organizations. Powerful models for systemic management. Berlin/Heidelberg: Springer. 13. Hetzler, Sebastian. 2008. „Brain supporting environments“ für Entscheide in komplexen Systemen. Ein kybernetischer Ansatz für die Gestaltung wirksamer Entscheidungsumfelder. Dissertation Universität St. Gallen, Rosch-Druck, Schlesslitz. 14. Hoverstadt, Patrick. 2008. The Fractal Organization. Creating sustainable organizations with the viable system model. Chichester: Wiley. 15. Türke, Ralf-Eckhard. 2008. Governance. Systemic foundation and framework. Heidelberg: Physica.

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Literatur zum Viable System Model (chronologisch)

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